Tallinn: Kleine Geschichte der Stadt
 9783412213404, 9783412206017

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Karsten Brüggemann Ralph Tuchtenhagen Tallinn

Karsten Brüggemann R a l p h Tu c h t e n h a g e n

Tal l i nn Kleine Geschichte der Stadt

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Auf www.boehlau-verlag.com finden Sie ergänzend zu diesem Buch eine ­P DF-Datei »Revaler/Tallinner-Repräsentanten« zum kostenlosen Download. Sie enthält ­Listen der Ordensmeister, Bürgermeister, Bischöfe, Statthalter/Gouverneure/Generalgouverneure von Reval/Tallinn sowie dänischer, schwedischer und russischer Herrscher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Vorne: Blick vom Domberg auf die St. Olaikirche in der Talliner Altstadt (Foto: Karsten Brüggemann) Hinten: Blick auf den Domberg mit der Aleksander-Nevskij-Kathedrale. Im Hintergrund links die St. Olaikirche und rechts die St. Nikolaikirche, 1920er Jahre. (Archiv Toomas Karjahärm, Tallinn) Innenklappen: Vorne: Reval im 15. Jahrhundert (© EEO, Art. Tallinn) Hinten: Plan der Stadt Reval von 1856 (Privatarchiv Eduard Kohlhof, Tallinn)

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20601-7

Inhalt 9 13 13 14 17 21 25 25 29 30

Vorwort I. Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

1. Der mächtepolitische Kontext Vorgeschichte Estlands und der Stadt Reval Die Christianisierung Nord- und Osteuropas Der dänische Kreuzzug nach Estland Die Anfänge der Hanse Zwischen Schwertbrüderorden, Dänemark und Hanse (1219–1346) Unter der Herrschaft des Deutschen Ordens (1346–1561) 2. Reval als Residenz

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Die Oberstadt (Domberg) Orden und Klöster

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3. Die Entwicklung der Unterstadt (Bürgerstadt)

38 47 49 52 58 65 69

Das Stadtbild des mittelalterlichen Reval Bevölkerungzahl und -struktur Das Revaler Stadtrecht Der städtische Rat Gilden und Zünfte Handel Nahrung, Kleidung, Wohnung – Alltag und Feststage im mittelalterlichen Reval

75 75

II. Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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1. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone (1561–1710) Die Residenzstadt auf dem Domberg (Oberstadt) Inhalt 

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89 93 95 98 106

Die Bürgerstadt (Unterstadt) Das Stadtbild Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen Handel Handwerk

108 113 117 120 124

2. Die Anfänge der russischen Herrschaft (1710–1783) Die Oberstadt unter russischer Herrschaft Das Stadtbild im 18. Jahrhundert Die Unterstadt (Bürgerstadt) 3. Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt im frühneuzeitlichen Reval

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III. Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

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1. Ein Zwischenspiel: die Statthalterschaftszeit unter Katharina II.

148 151 158 161 161 163 167 171 175 176 183 191 6  Inhalt

Reval vor den Reformen Die Reformen Katharinas II. Die Etablierung eines bürgerlichen Gesellschaftslebens 2. Reval in Krieg und Frieden Der Ausbau des Kriegshafens Der langsame Niedergang des Revaler Außenhandels Reval als russischer Kurort Lebensbedingungen in Reval 3. Aus dem Mittelalter in die Moderne. Reval auf dem Weg zur Metropole Städtebauliche Veränderungen Industrialisierung und Stadtverwaltungsreformen Aus dem deutschen Reval wird das estnische Tallinn

203 203 208 218 226 226 229 230 233 241 246 253 253 257 261 271 271 284 296 302 309 319 327

4. Reval zwischen den Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 Der revolutionäre Gewaltausbruch von 1905 Revaler Utopien – die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Krieg, Revolution und die Proklamation der Republik Estland IV. Tallinn im 20. Jahrhundert

1. Tallinn im Ersten Weltkrieg: deutsche Besatzung und estnischer Unabhängigkeitskrieg 2. Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland Tallinn zwischen Demokratie und Diktatur Lebensbedingungen in der Hauptstadt Repräsentativer Ausbau der Hauptstadt Tallinner Kulturleben 3. Tallinn im Zweiten Weltkrieg Die Umsiedlung der Deutschbalten und eine inszenierte Revolution Tallinn unter sowjetischer Herrschaft 1940/41 Tallinn unter deutscher Besatzung 1941–1944 4. Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland Wiederaufbau im Stalinismus Tallinner Kulturleben unter Hammer und Sichel Sport und Protest: Tallinn als Olympiastadt Tallinn als Ort der »Singenden Revolution« 5. Ausblick: Tallinn nach 1991 Chronologie zur Geschichte der Stadt Reval/Tallinn Bibliographie Inhalt 

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338 339 342 348

8  Inhalt

Zeichen, Abkürzungen und estnische Begriffe Abbildungsnachweise Orts- und Straßennamen Personenregister

Vorwort Tallinn, die alte Hansestadt Reval, geht in ihren Ursprüngen auf eine estnische Burg zurück, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts von Dänen erobert wurde. Sie ist heute Hauptstadt Estlands. Trotz wechselnder Oberherrschaften hat sie über Jahrhunderte ein Eigenleben geführt, das vor allem durch Handel und Handwerk geprägt war. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu Schweden und zum Russländischen Reich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert waren es die deutschen Stadtbürger, welche ihre Belange dominierten. Neben Esten und Deutschen lebten hier aber auch Schweden, Finnen, Russen und Juden. Nach dem Sturz des Zaren 1917 war Tallinn für zwei Jahrzehnte Hauptstadt der Republik Estland. Infolge des Hitler-Stalin-Paktes und der sowjetischen Annexion lag es für ein halbes Jahrhundert jenseits des Eisernen Vorhangs, doch fanden hier 1980 die olympischen Segelwettbewerbe statt. Nach der »Singenden Revolution« und dem Zusammenbruch der UdSSR wurde es wieder Hauptstadt des unabhängigen Estland, das 2004 der EU beitrat. So könnte man in einigen Sätzen die Vergangenheit der Stadt zusammenfassen. Diesen Rahmen mit Geschichte und Geschichten zu füllen, ist eine Herausforderung. Bis heute gibt es keine umfassende und verlässliche Stadtgeschichte, auf die man zurückgreifen könnte, denn die wenigen Darstellungen, die im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind, prägt eine deutsche oder estnische Perspektive, und sie folgen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Vorgaben des Historischen Materialismus. Den unterschiedlichen politischen Strömungen, Ideen, Religionen, Konfessionen und Ethnien, die in dieser Stadt am Finnischen Meerbusen zusammentrafen, werden sie meist nicht gerecht. Die vorliegende Darstellung kann diesen Mangel nicht prinzipiell beheben, ist aber doch bestrebt, die Geschichte der Stadt möglichst aus einem nicht ethnozentrischen und nicht nur sozioökonomischen Blickwinkel zu betrachten. Wir haben uns bemüht, die politische Geschichte Tallinns ebenso mit einzubeziehen wie Aspekte einer Kirchen-, Kultur- und Alltagsgeschichte. Insbesondere die Teile, die sich mit dem Kulturleben der Stadt beschäftigen, sind als Beitrag zum Jahr 2011 gedacht, in dem Tallinn als »Kulturhauptstadt Europas« fungiert. Die besondere Geschichte der Stadt und die Tatsache, dass die vorliegende »Kleine Geschichte« die erste etwas umfänglichere Gesamtdarstellung der Geschichte Tallinns in deutscher Sprache seit über hundert Jahren ist, legte es nahe, die Arbeit auf mehrere Schultern zu verteilen. Die Textteile Vorwort 

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zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit stammen aus der Feder von Ralph Tuchtenhagen, diejenigen zum 19. und 20. Jahrhundert wurden von Karsten Brüggemann verfasst. Auf eine durchgehend einheitliche Textgestaltung dieser Kapitel haben wir verzichtet. Alle anderen Teile dieses Buches sind Gemeinschaftsprodukte. Namen sind bei der Darstellung der Vergangenheit dieser Stadt ein besonderes Problem. Während Tallinn im Estnischen seit jeher so hieß, war im Deutschen bis weit über die Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinaus »Reval« gebräuchlich. Wir haben uns dafür entschieden, für die Zeit bis zum späten 19. Jahrhundert grundsätzlich den deutschen Namen für die Stadt und die deutschen Namensformen für Straßen, Plätze und andere Toponyme zu verwenden. Für die Zeit seit dem beginnenen »nationalen Erwachen« der Esten entscheidet der jeweilige Kontext, um so die quellensprachliche Parallelität der Namensformen abzubilden: Während z.B. ein deutsches Sängerfest in »Reval« stattfindet, wird sein estnisches Pendant in »Tallinn« ausgetragen. Allerdings werden zur besseren Orientierung die Parallelformen bei der ersten Nennung in einem Kapitel in Klammen genannt. In dieser Hinsicht gibt es wohl kein Verfahren, das Kritik von vorneherein ausschließt. Wir sind uns dieser Problematik wohl bewusst. Amts- und Lebensdaten einzelner Persönlichkeiten werden vor allem im Personenregister angezeigt, wobei Lebensdaten durch die üblichen Symbole (*,†) gekennzeichnet sind. Datumsangaben folgen den zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Land üblichen Kalendern. Der Julianische Kalender galt:  in deutschen protestantischen Ländern bis 1700  im Schwedischen Reich bis 1700 und 1711–1753  im Russländischen Reich bis 1918 Die Umrechnung des Julianischen auf den Gregorianischen Kalender erfolgt für das 16./17. Jahrhundert durch Addierung von 10, für das 18. Jahrhundert von 11, für das 19. Jahrhundert von 12 und für das 20. Jahrhundert von 13 Tagen.

10  Vorwort

Dank Dieses Buch wäre ohne die tatkräftige Unterstützung von Freunden, Kollegen und Mitarbeitern nicht rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr 2011 fertig geworden. Insbesondere möchten wir dem Tallinner Stadtarchivar, Dr. Juhan Kreem, danken, der den größten Teil des Manuskripts kritisch begleitet und uns viele wertvolle Hinweise gegeben hat. Auch die Kollegen Henning von Wistinghausen und Dr. Heinrich-Otto Elias haben einige Passagen kritisch kommentiert. Eduard Kohlhof stellte uns einen Stadtplan von 1855 zur Verfügung, der im hinteren inneren Umschlag abgedruckt ist. Prof. Dr. Toomas Karjahärm, Dr. Aigi Rahi-Tamm, Prof. Dr. Anna Verschik und Dr. Anton Weiss-Wendt sei für ihre Bereitschaft gedankt, rasch Antworten auf drängende Fragen zu finden. Große Hilfe bei der mühsamen Kleinarbeit an Namenslisten, redaktionellen Korrekturen und der Suche nach Daten aller Art haben uns die studentischen Hilfskräfte am Lehrstuhl für Kulturwissenschaft des Nordeuropa-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, Paula Enseleit und Anna Valvanne, geleistet. Offene Türen und Ohren fanden wir bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Estnischen Historischen Museums, des Tallinner Stadtarchivs und des Tallinner Stadtmuseums, die uns Zugang zu einem reichen Schatz von Bildmaterialien verschafft haben. Nicht zuletzt gilt unser Dank aber auch unseren Familien für die unzähligen Stunden, die sie geduldig geopfert haben, um uns den Rücken für die Fertigstellung dieses Buches frei zu halten. Tallinn und Berlin, im Juli 2010

Die Autoren

Dank 

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I.  Das mittelalterliche Reval   (13.–16. Jahrhundert) 1.  Der mächtepolitische Kontext Die Entstehung der Stadt Tallinn war durch unterschiedliche Faktoren bedingt. Einerseits existierten an der Stelle der künftigen Stadt bereits vor dem 13. Jahrhundert eine estnische Siedlung und/oder ein Handelsplatz. Andererseits war die Entstehung der Stadt Teil hochmittelalterlicher Entwicklungen, die im Wesentlichen vom Heiligen Römischen Reich und seinen Nachbarn ausgingen. Hier ist in erster Linie die europäische Kreuzzugsbewegung (Ende 11.–14. Jh.) zu nennen, die nach ihrer Konzentration auf die muslimischen Gebiete des Nahen Ostens die noch nicht christianisierten Teile des europäischen Nordostens entdeckte und hier eine Reihe von Volksstämmen unterwarf, darunter auch die der Esten. Die militärisch-religiösen Orden und Kreuzzugsheere unterstützten damit gleichzeitig die Westkirche, deren Missionsbischöfe unter militärischem Schutz allmählich ein Netz von Kirchen und Pfarreien aufbauen konnten. Der Bischof von Reval, der Schwertbrüderorden, der Deutsche Orden und die Vertreter der dänischen Krone, die alle mehr oder weniger regelmäßig in Reval residierten, waren Teil dieses größeres Kontextes von Kreuzzügen und Mission. Ein weiterer äußerer Faktor zur Entstehung Revals ist in den hochmittelalterlichen »Stadtgründungen« zu sehen – einem historischen Phänomen, an dessen Anfang schon vorhandene Siedlungen standen, die aber durch einen offiziellen Stadtgründungsakt den Charakter von Neugründungen erhielten. Konkret fiel Revals Entstehung in den Kontext von »Stadtgründungen« nach dem Typus von Lübeck, Freiburg i.Br., Leipzig, München oder Brandenburg, die alle während des 12. Jahrhunderts entstanden. Gleichzeitig stellte die Gründung Revals einen gegenüber diesen Städten relativ verspäteten Akt dar, der durch die – aus Sicht der Städtelandschaft des Heiligen Römischen Reiches – Peripherielage Revals und anderer nordosteuropäischer Städte erklärlich ist. Die Stadt gehört damit typologisch, aber auch zeitlich in eine Reihe mit anderen Städten im Ostseeraum, die ebenfalls im 13. Jahrhundert gegründet wurden und später der Hanse angehören sollten, wie z.B. Rostock, Wismar, Stralsund, Barth, Wolgast, Königsberg-Altstadt, Elbing, Kulm oder, nicht zuletzt, Riga.

Der mächtepolitische Kontext 

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Vorgeschichte Estlands und der Stadt Reval Neben den äußeren gab es natürlich auch autochthone Faktoren, die zur Gründung Revals beitrugen. Sie sind eng mit der Frühgeschichte der estnischen Volksstämme verbunden. Erste Siedlungsspuren in Estland finden sich schon seit ca. 10.000 v. Chr., nachdem sich um 12.000 v. Chr. der sog. Weichselgletscher, der während der letzten Eiszeit weite Teile Nordeuropas bedeckte, und der ihm nachfolgende Baltische Eissee (ca. 12.600–10.300 v. Chr.) von der estländischen Nordküste zurückgezogen hatten. Welche Sprache die ersten Einwohner Estlands sprachen, ist ungewiss. Eine Form des Ostseefinnischen wurde jedoch nach Auskunft der finnougrischen Sprachforschung seit ca. 3.000 v. Chr. benutzt. Die Esten als distinkte ethnische Gruppe wurden möglicherweise erstmals von dem römischen Historiker Tacitus in Kapitel 45 seiner »Germania« (98) erwähnt. Dort erscheint ein Stamm (gens) namens Aesti (auch: Aestii), der nordöstlich der Vistula (Weichsel) an der Küste des »Suebischen Meeres” (Ostsee) östlich der Suionen (Skandinavier?) und westlich der Sitonen siedelte. Tacitus beschrieb die Aesti als einen Stamm in Bräuchen und Tracht ähnlich den Sueben, ohne aber die Ähnlichkeiten näher auszuführen. Von den Sueben wusste Tacitus zu berichten, dass »Fürsten« (principes) und »Könige« (reges) über sie herrschten, Abgesandte (legationes) zu Versammlungen der suebischen Unterstämme in Hainen heiliger Wälder schickten (Kap. 39) und sich sozial nach Edlen (nobiles), Freigeborenen (ingenui), Freigelassenen (libertini) und Sklaven (servi) unterschieden (Kap. 39, 44). Gleichzeitig erwähnte Tacitus auch den Stamm der Fenni (Germania, Kap. 46), von denen er nicht wusste, ob er sie zu den Germanen oder Sarmaten zählen sollte. Sowohl Aesti als auch Fenni beschrieb Tacitus als Jäger- und Sammlerstämme, die – vor allem im Vergleich zu Römern und Westgermanen – als äußerst primitiv und wild erschienen. Aesti und Fenni in Tacitus’ »Germania« (98 n. Chr.) Kap. 45: (…): Über die Suionen hinaus liegt ein anderes, träges und fast unbewegtes Meer. (…) Dorthin setzt die Sage - und das mit Grund - die Grenze der Natur. Weiter wohnen nun am rechten Ufer des suebischen Meeres die Stämme der Aestier, die die Bräuche und Tracht der Sueben haben, ihre Sprache steht der britannischen näher. Sie verehren die Göttermutter; als Abzeichen ihres Glaubens tragen sie Amulette von Ebern. Dies macht statt Waffen und jeder Art von Schutzwehr den Verehrer der Göttin selbst inmitten der Feinde sorglos. Selten ist der Gebrauch von Eisen, häufig der von Knütteln. Weizen und die anderen

14  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Früchte bauen sie mit mehr Ausdauer an, als bei der gewöhnlichen Bequemlichkeit der Germanen zu erwarten wäre. Aber auch das Meer durchstöbern sie und sammeln allein von allen den Bernstein, den sie selbst Gles nennen, in Untiefen und unmittelbar am Ufer. (…) Kap. 46: Hier ist die Grenze von Suebien. Ob ich die Stämme der Peukiner, Veneter und Fennen den Germanen oder Sarmaten zurechnen soll, ist mir zweifelhaft, (…) Die Fennen sind von außerordentlicher Wildheit und abstoßender Armut. Sie haben weder Waffen noch Pferde, noch Wohnungen; ihre Nahrung sind Kräuter, die Kleidung Tierfelle, ihr Lager der Erdboden. Ihre einzige Hoffnung sind ihre Pfeile, für deren Spitzen sie aus Mangel an Eisen harte Knochen verwenden. Die selbe Jagd nährt sowohl Männer als Weiber; denn diese gehen überall mit und fordern ihren Anteil an der Beute. Auch für die Kinder gibt es keinen anderen Zufluchtsort vor Wild und Regengüssen, als dass man sie unter einem behelfsmäßigen Geflecht von Zweigen zudeckt. Dahin kehren die jungen Männer zurück, das ist der Zufluchtsort der Greise. Aber sie achten dies für glücklicher als am Pflug zu ächzen, sich an Häusern abzuarbeiten und eigenes und fremdes Gut unter Hoffen und Bangen umzutreiben. Ohne Sorgen gegenüber den Menschen, ohne Sorgen gegenüber den Göttern haben sie das Schwerste erreicht: dass ihnen nicht einmal etwas zu wünschen bleibt. (…) Quelle: Des Publius Cornelius Tacitus Werke. 1. Abt.: Die kleineren Schriften … auf Grundlage von H. Gutmann’s Übersetzung neu bearbeitet von Teuffel, W.S., Stuttgart 1858.

Ob Tacitus’ Darstellung, die ihrerseits aus zweiter Hand stammt, zu trauen ist, mag dahin gestellt bleiben. Tacitus hat die in Frage kommenden Gebiete selbst nie bereist. Auffällig ist auch, dass eine Reihe von Stämmen, die von der heutigen Frühgeschichtsforschung auf dem Gebiet Estlands diskutiert werden, in der Germania nicht vorkommen. Erste auch archäologisch nachweisbare Kontakte der frühen Bewohner Estlands bestanden mit Warägern (Ostwikingern), die seit Mitte des 9. Jahrhunderts in den östlichen Ostseeraum segelten, die großen russischen Flusssysteme (Volchov, Neva, Düna, Vol’ga, Dnepr, Don) für Raubzüge und Handel nutzten und auf diesen Routen das Schwarze und das Kaspische Meer erreichten, aber auch Handel mit so weit entfernten Städten wie Konstantinopel oder Bagdad trieben. Zwei kleinere Flusshandelswege führten auch durch estnisches Gebiet, und zwar einerseits auf den Flüssen Pernau (estn. Pärnu jõgi), Tennasilm (Tänassilma jõgi) und Großer Embach (Suur Emajõgi) und andererseits auf der Narva (Narva jõgi) und dem Peipussee (Peipsi Pihkva). Ab dem 10. Jahrhundert waren auch Esten unter den Handelsleuten. In altnordischen Quellen wird Eistland als ein auf der warägischen östDer mächtepolitische Kontext 

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lichen Handelsroute liegendes Gebiet erwähnt. Seine Einwohner erscheinen als eistar (sing. eistr). In altslavischen Chroniken werden sie, wie auch andere Sprecher finnischer Sprachen, als Tschuden (altslav. чудь) bezeichnet. Das spätere Reval war aber offenbar nicht Teil dieses wasserbasierten Handels. Vielmehr bildete es einen Kreuzungspunkt mehrerer Landwege, auf denen Esten, die zwischen 1000 und 1150 im Handel allgemein aktiver wurden, Waren transportierten. Für die Zeit nach 1150 kann man von einem Handelsplatz »Reval« (lat. Revala, finn. Rävälä, russ. Revel) ausgehen. Der Name taucht in der Chronik Heinrichs von Lettland mehrfach auf und bezeichnet dort sowohl den Handelsplatz wie auch die Landschaft um den Handelsplatz herum. In Quellen aus dem Herrschaftsbereich der Rus’ kommt ein konkurrierender Name »Kolyvan« vor, der erstmals 1223 erwähnt wird und nach Interpretation einiger Forscher eventuell von dem Namen für Reval abgeleitet ist, den der arabische Geograph Abu Abd Allah Muhammad al-Idrisi (lat. Dreses) im ersten Teil seiner Schrift »Reise des Sehnsüchtigen, um die Horizonte zu durchqueren« (lat. Mappae Arabicae I, 1134) verwendet, nämlich »Qlwri«. Andere Forscher führen ins Feld, dass al-Idrisi sein Wissen seinerseits von den Warägern bezogen haben könnte und »Kolyvan« die warägische Form eines estnischen Namens (Kalevan linna, »Stadt von Kalev«) gewesen sei. Für die Zeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert hat die archäologische Forschung eine soziale Differenzierung der Bevölkerung Estlands festgestellt. Danach lassen sich mindestens drei unterschiedliche Berufs- bzw. soziale Gruppen unterscheiden: 1. Land- und Viehwirte, 2. Handwerker und 3. Kaufleute. Handwerker und Kaufleute ließen sich mehr und mehr an Handelsplätzen wie Reval nieder. Dass der Handelsplatz Reval bereits vor seiner Eroberung durch die Dänen (s.u.) existierte, gilt aufgrund archäologischer Grabungen, bei denen u. a. arabische Münzen des 10. und 11. Jahrhunderts gefunden wurden, die auf Fernhandelsaktivitäten hinweisen, als weitgehend gesichert. Er bestand aus dem eigentlichen Handelsplatz, dem (alten) »Markt« (lat. forum), und einem Hafen in der Gegend des späteren Großen Marktes/Rathausplatzes nahe der damals weiter als heute ins Land hinein ragenden Ostsee. In engem Zusammenhang mit dem Handelsplatz standen die Niederlassungen warägischer und rus‘ischer Kaufleute im Nordteil der späteren Unterstadt rund um die Olaikirche (estn. Oleviste kirik) an der heutigen Pikk (dt. Langstraße) und die russische Kirche an der heutigen Olevimägi-Straße. Mehrere Straßen verbanden diese und andere Punkte des Handelsplatzes untereinander, aber auch den Handelsplatz Reval mit anderen Handelsplätzen in Estland und darüber hinaus. Der Tallinner 16  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Historiker Paul Johansen ging von einer Präsenz gotländischer Kaufleute (v.a. aus Visby) im 11. und 12. Jahrhundert aus und hielt es mit Verweis auf Entwicklungen in Visby und Novgorod für wahrscheinlich, dass mit ihnen auch deutsche Kaufleute in die Gegend von Reval kamen, besonders nachdem 1143 Lübeck gegründet worden war und sich die Handelsbeziehungen zwischen Lübeck, Visby und anderen Ostseehandelsplätzen intensivierten. Die Revaler Burg hat mit den Handelsverbindungen nur mittelbar etwas zu tun und verweist eher auf allgemeine demographische Entwicklungen. Zwischen 1050 und 1100 expandierte die Landwirtschaft in Estland. Damit verbunden war ein signifikantes Bevölkerungswachstum. Bereits befestigte Plätze wurden ausgebaut, zahlreiche neue befestigte Plätze kamen hinzu. Einer dieser befestigten Plätze war die vermutlich Mitte des 11. Jahrhunderts von Esten errichtete hölzerne Burg Lyndanisse auf einem Hügel (dem späteren Domberg), in der Nähe des Handelsplatzes auf dem Gebiet der späteren Unterstadt. Sie diente einerseits der allgemeinen Landesverteidigung, andererseits dem Schutz des Handelsplatzes der Rus’, Skandinavier, Deutschen und vermutlich auch Esten, und ersetzte möglicherweise einen Vorgänger: die Wallburg in Iru am späteren Brigittenbach (Pirita jõgi, auf dem heutigen Stadtgebiet). Die Christianisierung Nord- und Osteuropas Neben dem Handel und der Zunahme befestigter Plätze in Estland war die fortschreitende Christianisierung des Nordens und Osten Europas ein zentraler Faktor der Entstehung der Stadt Reval. Skandinavier und Slaven waren schon im 9. Jahrhundert durch Handel und politische Verbindungen mit Christen in Kontakt gekommen. 822 oder 823 beauftragte Papst Paschalis I. (817–824) Erzbischof Ebo von Reims (816–835, 840–841) mit der Christianisierung des Nordens. In der Folge führte der Benediktinermönch Ansgar im Jahre 826 eine Gruppe von Missionaren an den Hof des jütischen Königs Harald Klak (812–814, 819–827), mit dem Ziel, ganz Jütland der Kirche zuzuführen. Nachdem das Unternehmen trotz der Taufe des Königs letztendlich gescheitert war, bat der (allerdings nur in altnordischen Saga-Texten auftauchende) Svear-König Björn (rex Bern) den Frankenkaiser Ludwig den Frommen (813–840), ihm einen Missionar zu senden, der den christlichen Glauben in seinem Reich verbreiten sollte. Ansgar reiste daraufhin 829–831 erneut in den Norden und gründete um 830 in Birka, dem bedeutendsten Handelsplatz der Svear, die erste christliche Kirche Skandinaviens. Für eine Der mächtepolitische Kontext 

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umfassende Christianisierung der Svear-Gebiete reichte dies jedoch nicht aus, vielmehr regte sich heftiger Widerstand gegen den neuen Glauben; ein Mitarbeiter Ansgars wurde ermordet und die Kirche in Birka zerstört. Dennoch nahm die Christianisierung des Nordens im 9. Jahrhundert langsam organisierte Formen an. 831 ernannte Papst Gregor IV. (827–844) Ansgar zum Erzbischof und päpstlichen Legaten für die Nordleute und Slaven mit Sitz in Hammaburg (dem späteren Hamburg). Kontakte mit dem christlichen England verstärkten in der Folgezeit die Christianisierung Dänemarks. Eine zweite Missionsreise Ansgars zu den Svear (851–852) brachte allerdings wieder keinen durchschlagenden Erfolg. Ansgar traf diesmal auf einen noch entschlosseneren Widerstand als 20 Jahre zuvor. Es sollte noch rund 150 Jahre dauern, bis die christliche Mission sich in den Svear- und Götargebieten – dem späteren Schweden – durchsetzen konnte. Nach der Taufe des Svear-Königs Olav Skotkonnung (990er–1021/22) um 1008 vollzogen während des 11. Jahrhundert der Adel und die politische Führung der Landschaften und Gerichtsbezirke den Übergang zum Christentum. Dies war das Ergebnis einer Mission, die zu dieser Zeit besonders von England, aber auch von den südlichen Nachbarn Schwedens ausging. Die Rus’ nahm das Christentum offiziell 988 aus Anlass der Hochzeit Vladimirs I. von Kiev (980–1015) mit Anna von Byzanz an. Unmittelbar danach begann die byzantinische Kirche, ein Netz von Gotteshäusern und Klöstern aufzubauen, das erheblich zur inneren Strukturierung und Festigung des Kiever Reiches beitrug. Schon bald erreichte die Orthodoxie eine dominante Stellung an der Seite der getauften Rus’-Fürsten. Mit expansiven Vorstößen der Rus’-Herrscher nach Westen und Norden drang die Orthodoxie teilweise auch in neu eroberte Territorien vor. Die estnischen Gebiete wurden zwischen 1030 und 1192 immer wieder von Überfällen heimgesucht. Dabei eroberten sie 1030 u.a. die wichtige Burg und Stadt Tartu (Dorpat), die sie bis 1060 besetzt hielten. Weiter westlich und nördlich liegende estnische Gebiete gelangten jedoch nicht dauerhaft unter die Herrschaft der Rus’. Das spätere Reval lag somit auch nicht im unmittelbaren Einflussbereich der orthodoxen Mission. Die religiöse Erneuerungsbewegung des 11. und 12. Jahrhunderts und die Entstehung von Militärorden in der Zeit der Kreuzzüge führten zu Missionsbestrebungen, die sich im 12. Jahrhundert auch auf die slavischen, baltischen und ostseefinnischen Gebiete der südlichen und östlichen Ostseeküste erstreckten. Nach Auskunft der Chronik Adams von Bremen weihte der Erzbischof von Hamburg-Bremen, Adalbert I. (1043–1072), bereits 1070 den Mönch und Bischof von Birka (Schweden), Hiltinus (auch: Hiltius, Johannes) zum ersten Bischof für die Völker des Ostseeraums, darunter 18  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

auch die Völker von Hestia (Estland). Allerdings musste das damit verbundene Missionswerk wahrscheinlich schon mit dem Tod des Bischofs (1071), spätestens jedoch mit dem Tod des Erzbischofs von Hamburg-Bremen im folgenden Jahre wieder aufgegeben werden. Der nächste Vorstoß erfolgte erst im Jahre 1167, als der Erzbischof von Lund, Eskil (1137–1177), den Benediktinermönch Fulco aus dem Kloster von Moutier-la-Celle (bei Troyes) zum »Bischof der Esten« (Estonum epicopus) weihte und Papst Alexander III. (1159–1181) diesen 1170 ermächtigte, die Esten zu missionieren, Geistliche zu ordinieren und Kirchen zu bauen. 1172 schließlich rief der Papst in einem Brief an alle »Könige, Herren und Christen« in Dänemark, Norwegen, Schweden und Gotland gegen einen Erlass aller ihrer Sünden zum Krieg gegen die Esten auf. Auf diesem Hintergrund hielt sich Fulco eventuell zwischen 1172 und 1178 zweimal in Estland auf. Was er, sollte er dort gewesen sein, ausrichten konnte, bleibt hingegen völlig ungewiss. In den folgenden Jahren verlagerte sich die Missionstätigkeit zunächst ins benachbarte Livenland. Nachdem eine um 1180 begonnene friedliche Missionierung der Düna-Liven durch den vom Bremer Erzbistum entsandten Segeberger Augustiner-Chorherren Meinhard von Uexküll gescheitert war, erklärte der Papst das Livenland zum Kreuzzugsgebiet. Nach wechselnd erfolgreichen Unternehmungen schwedischer, dänischer, gotländischer und deutscher Ritterheere in den Jahren 1197 und 1198 gelang es schließlich dem vom Bremer Erzbistum entsandten Bischof Albert de Bekeshovede (auch: Albert von Bexhövede oder Buxhövden) im Jahre 1200 im Rahmen einer konzertierten Aktion von Kreuzrittern und Kaufleuten aus Gotland, Sachsen, Westfalen und den rechtselbischen Gebieten, nach Absprache mit dem rivalisierenden dänischen König Knud VI. (1182–1202) und mit dem Segen Papst Innozenz III. (1198–1216), einen Kreuzzug ins Livenland zu organisieren. Dieser führte 1201 zur Gründung von Hafen und Stadt Riga (lett. Rīga) und zur Verlegung (translatio) des Bischofssitzes von Üxküll in die neue Stadt. Bischof Albert erklärte die Stadt und ihre Umgebung zum Marienland, das seinerseits als Grundlage zur Belehnung von Kreuzrittern diente und damit zur Entstehung eines livländischen Vasallentums beitrug. Den Schutz des Landes übernahm schon bald ein von Kreuzrittern aus dem Gebiet zwischen Soest und Kassel im Jahre 1202 gegründeter Ritterorden, die fratres milicie Christi de Livonia (Brüder der Ritterschaft Christi zu Livland), die nach ihrem Mantelwappen, einem Kreuz über einem nach unten zeigenden Schwert, auch als »Schwertbrüder« bekannt wurden. Als Bischof Albert den Stauferkönig Philipp von Schwaben (1198–1208) im Jahre 1207 als Lehnsherren gewann, wurde das Livenland Lehen des Heiligen Römischen Reiches. Der mächtepolitische Kontext 

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Da Bischof Albert – u.a. mit Hilfe des Schwertbrüderordens – immer mehr Eroberungen ostseefinnischer und baltischer Gebiete auf sein eigenes Erfolgskonto buchen konnte, war der Orden gezwungen, sich weiter zu profilieren, wollte er nicht zusehen, wie sein Machtstatus gegenüber dem Bischof sank. 1208 brach er im Bündnis mit den Rigaer Kaufleuten und den TālavaLetten einen mit kürzeren Unterbrechungen 20 Jahre lang tobenden EstenKrieg vom Zaun, in den nach und nach und in wechselnden Koalitionen auch der Bischof von Riga, die Stadtrepubliken Novgorod und Pskov, das Fürstentum Polock, die Königreiche Schweden und Dänemark und die römische Kurie hineingezogen wurden: Die Rigaer Kaufleute und die Tālava-Letten rächten sich dabei für gewalttätige esthnische Übergriffe; der Orden kämpfte um Macht und Ansehen gegenüber dem Bischof, der nun um seine dominierende Stellung im Kreuzzugsland fürchten musste; die Rus’-Fürstentümer Novgorod und Pskov verteidigten vorgebliche Tributrechte gegenüber den Esten; die Krone Dänemark erhob Ansprüche auf das Estenland als Missionsgebiet des Erzbistums Lund; und die Kurie versuchte ihre Rechte auf die Zuteilung eroberter Kreuzzugsgebiete an die Kreuzfahrer zu wahren. Die Esten hatten diesen Auseinandersetzungen wenig entgegenzusetzen. Sie waren im Jahre 1208 in acht größeren und verschiedenen kleineren Ältestenbezirken organisiert, die unter einander nur lose verbunden waren. Die politischen Zentren der Ältestenbezirke, die Burgen, wurden von den nichtestnischen Kriegsparteien mehrfach belagert und zerstört. 1218 waren bis auf die Insel Saaremaa (dt. Ösel) alle estnischen Militärverbände geschlagen. Als die Römische Kurie nach der Entsendung eines Kreuzfahrerheeres unter dem Dänenkönig Valdemar II. Sejr (1202–1241) sowohl den Dänen als auch den Deutschen das Missionsrecht zugesichert hatte, zog sich der Krieg, in dessen Verlauf 1219 auch die Stadt Reval (estn. Taani linn, dän. Danskerborg, dt. Dänenburg) gegründet wurde, noch weitere 10 Jahre zwischen den Konfliktparteien hin, bis das Estenland nach einem entscheidenden Feldzug nach Ösel im Januar 1227 unter Führung des päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena schließlich nach und nach unter die Botmäßigkeit der Schwertbrüder und der Kurie gelangte. Die Christianisierung des Nordostens Europas Im 12. und 13. Jahrhundert gelangten die baltischen Länder dauerhaft unter die Herrschaft fremder Mächte. Die »Ostmeer-Heiden«, wie sie in den Gesta Danorum des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus genannt werden, unterhielten zu diesem Zeitpunkt mit ihren Nachbarn (Kareliern, Tavasten/

20  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Hämäläiset, Finnen, Warägern, Rus’, den Königreichen Dänemark und Schweden) bereits seit mehreren Jahrhunderten weit ausgreifende Handelskontakte oder waren mit ihnen in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Das Erbe dieser frühen Begegnungen übernahmen nach der Gründung Lübecks (1158/59) und dem Aufkommen der Hanse in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mehr und mehr Kaufleute, christliche Missionare und Kreuzritter aus dem Norden des Heiligen Römischen Reiches. Sie wirkten dabei eng zusammen. Der Handel mit der noch nicht christianisierten Bevölkerung im südlichen und östlichen Teil der Ostsee war für die hansischen Fahrtgemeinschaften lukrativ, aber wegen der weit verbreiteten Seeräuberei auch gefährlich. Die Kaufleute brauchten den bewaffneten Schutz der Kreuzfahrer, die ihrerseits mit Hilfe der Kirche versuchten, die ansässige baltische und ostseefinnische Bevölkerung zu christianisieren und zu unterwerfen. Wichtige geistliche Zentren der Ostmission bildeten das Erzbistum Lund und das Erzbistum Magdeburg. Hauptakteure waren die christlichen Könige von Dänemark und Schweden, der Schwertbrüder- und der Deutsche Orden. Zu den wichtigsten Kreuzzügen im Norden zählen die gegen das Wendenland (1147), nach Livland (1198–1202), gegen die Lettgaller und Selen (1208–1224), die Esten (1208–1227), die Kuren und Semgaller (1201–1290), die Prussen (1226), die Finnen und die Novgoroder Rus’ (12./13. Jh.), außerdem gegen die Litauer (13. Jh. bis 1386). Weiterführende Literatur: Rom und Byzanz im Norden. Mission und Glaubenwechsel im Ostseeraum während des 8.–14. Jahrhunderts. (hg.v. Müller-Wille, Michael), 2 Bde., Stuttgart 1997, 1999.

Der dänische Kreuzzug nach Estland Neben dem Heiligen Römischen Reich, Schweden und der römischen Kirche expandierte auch das KönigreichDänemark im Rahmen der Ostseekreuzzüge. Deren glühendster Verfechter war der Bischof von Roskilde (1158–1177) und spätere Erzbischof von Lund (1177–1201), Absalon. Den Anfang machten Kreuzzüge gegen die Liutizen (Wenden) in den Jahren 1159 bis 1185 und die Eroberung Rügens von den Ranen 1168 unter dem Ziebruder Absalons und dänischem König Valdemar I. (1154/57–1182). 1185 unterwarf Valdemars I. Sohn, Knud VI. (1182–1202), die Pomoranen. 1194-1203 eroberte er Holstein, 1201 die Stadt Lübeck. Unter seinem Bruder Valdemar II. Sejr wurde Dänemark ein vom Heiligen Römischen Reich lehnsunabhängiges Reich, das mit Ausnahme der Gebiete des Deutschen und Schwertbrüderordens die gesamte Südseite der Ostsee beherrschte. Damit war jedoch die Expansion Dänemarks keineswegs abgeschlossen. 1204 Der mächtepolitische Kontext 

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intervenierte Valdemar II. in der norwegischen Thronfolgefrage mit einer Flottenaktion, die einen dänisch-norwegischen Krieg (1204–1208) auslöste und ein Treueversprechen Norwegens gegenüber Valdemar II. nach sich zog. 1208–1213 eroberte und verlor Valdemar II. mehrfach Teile des Erzbistums Bremen und die Stadt Stade. 1216 besetzte er Hamburg. 1218 bestätigte Kaiser Friedrich II. (1220–1250) die dänische Herrschaft über Schleswig, Holstein, das gesamte Wendenland und Pommern. Höhepunkt der dänischen Expansion im Ostseeraum war jedoch die Eroberung estnischer Gebiete im Jahre 1219. Im Vorjahr hatte Bischof Albert von Riga Valdemar II. auf einem Reichstag in Schleswig um Hilfe gegen einen Einfall Novgoroder und Pskover Truppen in Livland gebeten. Papst Honorius III. (1216–1227) erklärte die daraufhin geplante dänische Invasion zum Kreuzzug, Valdemar II. sammelte eine Arme, mobilisierte eine Flotte von 1.500 Schiffen und landete bei der verlassenen estnischen Burg Lyndanisse auf dem späteren Domberg (estn. Tompea) von Reval. Den Dänenkönig begleiteten neben dänischen, slavischen und deutschen Gefolgsleuten auch Erzbischof Andreas Sunonis (Anders Sunesen) von Lund (1201–1228), Bischof Nikolaus I. von Schleswig (1192–1233), Bischof Peder Vagnsen von Aarhus (1191–1204) und der offenbar schon seit 1191 in Estland tätige Zisterziensermönch Theoderich, der von Albert von Riga zum Missionsbischof der Esten (1211–1219) bestimmt worden war. Als die Armee an Land stieg, baten die estnischen Ältesten um Verhandlungen, überreichten Geschenke und unterwarfen sich dem Dänenkönig als ihrem Oberherrn. Einige von ihnen ließen sich sogar taufen. Valdemar II. ordnete daraufhin den Bau einer Burg und einer Kirche, des späteren Doms, an. Die mitgereisten Geistlichen begannen unterdessen mit der Missionierung der Esten. Drei Tage jedoch nach der Taufe estnischer Ältester, vermutlich am Abend des 15. Juni, wurde das dänische Lager am Fuße des Burghügels von einem estnischen Heeresaufgebot überfallen. Die Schlacht konnte nur durch einen Überraschungsangriff des Lehnsmanns Valdemars II. und Fürsten von Rügen, Wizlaw I. (1221–1250), zu Gunsten der Dänen entschieden werden. Valdemar setzte in der Folge an Stelle des gefallenen Theoderich seinen Kaplan Wescelin (Wesselin) als Bischof von Reval (1219–1227) ein und unterstellte ihn dem Erzbischof von Lund. Der Legende nach fiel während der Belagerung auch der sog. Dannebrog, ein Zeichen der Gottgefälligkeit der dänischen Sache, vom Himmel.

22  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Der Dannebrog – Legende und Quellen Die Legende berichtet, dass die Dänen während der Schlacht von Lyndanisse vorwärts marschierten, solange Bischof Sunesen die Arme zum Himmel erhob, vor den Esten jedoch zurückwichen, wenn die Arme des Bischofs müde wurden und zu Boden sanken. Einige, die dies bemerkten, kamen dem Bischof zu Hilfe, stützten seine Arme, und die Dänen schritten wieder siegreich voran. Auf dem Höhepunkt der Schlacht betete Bischof Sunesen, der Herr möge ihm ein Zeichen senden. Dieses fiel in Form eines roten Tuches mit einem weißen Kreuz in dem Moment vom Himmel, als die Dänen wieder begannen, zurück zu weichen. Eine Stimme rief: »Sobald dieses Heerbanner aufgerichtet sein wird, werdet ihr siegen!« Die Dänen stürmten vorwärts und gewannen die Schlacht. Am Ende des Tages lagen tausende Esten tot auf dem Feld. Diese Legende wird in der von dem dänischen Chronisten und Humanisten Christiern Pedersen herausgegebenen Editio princeps der Gesta Danorum des Saxo Grammaticus vom Anfang der 1620er Jahre sowie in den Collectanea des Franziskanermönchs Peder Olsen (Petrus Olai), ca. 1527, überliefert. Olsen war derjenige, der das Ereignis mit der Schlacht von Lyndanisse verband. Die Legende ist vermutlich um 1500 entstanden, ausgehend von der Vorstellung, dass es sich bei der Fahne, die der nordische Unionskönig Hans ( Johann I.) bei seiner Niederlage im norddeutschen Dithmarschen im Jahre 1500 verlor, um den vom Himmel gefallenen Dannebrog gehandelt habe. Der Dannebrog taucht erstmals in einem niederländischen Wappenbuch (Gelre) von 1370–1386 auf. Dort ist eine rote Fahne mit weißem Kreuz am Wappen Valdemars IV. Atterdag zu sehen. Ein weißes Kreuz mit roter Borte, dessen Enden sich nach außen verbreitern, wurde von dem portugiesischen Christusorden verwandt, der 1318 während eines Kreuzzuges gegen die Mauren gegründet worden war. Auf dem Portugalöser, einer in Hamburg geprägten Goldmünze, waren das Christuskreuz und die Worte in hoc signo vinces abgebildet. Seit 1478 taucht der Dannebrog auch in dänischen Texten auf. Ab 1591 ließ Christian IV. (1588–1648) dänische Münzen mit einem ähnlichen Kreuz prägen, das bald als Dannebrog-Kreuz bekannt wurde. Während der Kriegshandlungen in den Unionskriegen mit Schweden im 15. Jahrhundert war der Dannebrog die dänische Hauptfahne. Nach 1625 trugen die Fahnen des dänischen Heeres in der obersten inneren Ecke ein Dannebrog-Zeichen, das im Laufe des 17. Jahrhunderts auch in der nach außen verbreiterten Form vorkam. Seit 1842 führen alle Einheiten des dänischen Heeres den Dannebrog mit einem nach außen verbreiterten Kreuz, im Gegensatz zum Kreuz der Nationalflagge und der Kriegsflagge der Flotte, wo es stets mit parallelen Seiten erscheint.

Diese in der Chronik Heinrich von Lettlands (Henricus de Lettis) überlieferten Ereignisse standen bisher im Vordergrund der meisten, vor allem deutschbaltischen Darstellungen zur Geschichte Revals, denen deshalb von Der mächtepolitische Kontext 

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dänischer Seite eine einseitige (deutschfreundliche) Darstellung vorgeworfen wurde. Durch andere Quellen kann das frühe dänische Interesse an Estland, dem nördlichen Teil Livlands, weiter verdeutlicht werden. Diesen zufolge unternahm der dänische König Knud IV. »der Heilige« (1080–1086), 1075 und in 1080er Jahren zwei Livlandzüge, darunter auch in estnische Gebiete, und legte sich den Titel eines Herzogs von Estland zu. Genau so titulierte Papst Coelestin III. (1191–1198) im Jahre 1197 auch den dänischen König Knud VI. (1182–1202). Bereits 1219 soll Valdemar II. die Burg Reval in der Nähe des Schlachtfeldes von Lyndanisse errichtet haben, die 1220 und 1223 von Esten belagert wurde, aber nicht eingenommen werden konnte. Ebenfalls 1219 verlieh der König den nach Estland mitgereisten dänischen Gefolgsleuten möglicherweise ein besonderes Ritterrecht (laut Quellen: »Regelungen«). Daraus lässt sich schließen, dass ein Vertrags- oder Schutzverhältnis zwischen dem dänischen König und den estnischen Bewohnern der Landschaft Reval bestand. Es wird weiterhin angenommen, dass die Dänen dort auch erfolgreiche Christianisierungsversuche unternommen haben.

1  Das Siegel Valdemars II. Sejr

Wie auch immer es sich tatsächlich zugetragen haben mag – die Herrschaft Valdemars II. in der Landschaft Reval währte nur kurz. Nachdem Valdemar 1223 von einem seiner norddeutschen Vasallen gefangen genommen worden war, konnte er sich 1225 nur mit dem Versprechen freikaufen, alle eroberten Gebiete außer Estland und Rügen zu räumen. Parallel dazu drang der Schwertbrüderorden seit 1224 immer weiter auf dänisch-estnisches Territorium vor. Zwar versuchte der päpstliche Legat Wilhelm von Modena diese Entwicklung durch die Schaffung eines Staates der römischen Kurie als neutraler Zone zwischen den streitenden Parteien aufzuhalten, blieb damit jedoch 24  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

erfolglos. 1227 eroberte der Schwertbrüderorden mit päpstlichem placet die Burg Lyndanisse und empfing die Herrschaft in der Landschaft Reval aus der Hand des päpstlichen Statthalters in Estland. Unmittelbar danach begann der baufreudige Herrenmeister (Ordensmeister) der Schwertbrüder, Volquin Schenk von Winterstein (1209–1236), die ersten Mauern und Türme einer steinernen Burg auf dem Domberg zu errichten (s. Textabb. 2). Ein noch im gleichen Jahr unternommener Versuch der Dänen, vielleicht aber auch päpstlicher Vasallen, die Burg zurück zu erobern, scheiterte kläglich. Die Anfänge der Hanse Der dritte äußere Faktor für die Entstehung der Stadt Reval war die Hanse. Diese entwickelte sich im 12. Jahrhundert aus Kaufmannsgenossenschaften im Nord- und Ostseeraum. Allgemein werden die Gründung der Stadt Lübeck im Jahr 1143 als erster deutscher Ostseestadt und die Erwähnung eines deutschen Kaufmannsbundes in einer Londoner Urkunde aus dem Jahre 1157 als Beginn der Hanse angesehen. Der dadurch geschaffene Ostseezugang ermöglichte Kaufleuten aus dem Heiligen Römischen Reich, den Handel zwischen den rohstoffreichen Gebieten Nordrusslands (z. B. Getreide, Holz, Wachs) und den Ländern Westeuropas mit seinen Fertigprodukten (z. B. Tuche, Waffen) zu organisieren. Für Reval ist die Gründung Lübecks von Bedeutung, weil das lübische Stadtrecht in der Folge zur Blaupause deutschrechtlicher Städte im gesamten Ostseeraum wurde, darunter auch das Stadtrecht der Revaler Unterstadt. Hintergrund für den hohen Stellenwert des Ostseezugangs über Lübeck und andere Hansestädte war die sinkende Bedeutung der alten skandinavischen Handelsrouten von der Ostsee zum Schwarzen Meer und Orient durch die Expansion des Chazaren- und des Mongolenreiches nach Westen. Der nordrussische Handel orientierte sich nun stärker über die Ostsee nach Westen. Zwischen Schwertbrüderorden, Dänemark und Hanse   (1219–1346) Nach der Übernahme der Burg von Reval konnte der Schwertbrüderorden seine de facto-Herrschaft über die Landschaft Reval und Estland zunächst behaupten, stieß in der Folgezeit aber auf den Widerstand der Ritterschaften der Reval benachbarten Landschaften Harrien und Wierland, die sich mit Der mächtepolitische Kontext 

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dem neuen Pönitentiar und Nuntius des päpstlichen Kardinallegaten Otto von St. Nikolaus in Livland und Bischof von Kaunas (1232–1236), Balduin von Alna (1232–1236), verbündeten, der von den Schwertbrüdern im August 1233 die Übergabe der Burg von Reval an Papst Gregor IX. (1227– 1241) forderte. Doch konnten die Schwertbrüder die Burg nach mehreren blutigen Auseinandersetzungen mit den harrischen und wierländischen Rittern behaupten. Unterdessen machte der dänische König beim Papst seine Ansprüche auf Reval und Estland geltend, die aber vorerst nicht verwirklicht werden konnten. In der Zwischenzeit hatten die Schwertbrüder versucht, ihre Position dadurch zu festigen, dass sie im Spätsommer oder Herbst 1230 rund 200 deutsche Gotlandfahrer aus Visby (Zahl und Herkunft sind in der Forschung umstritten), eingeladen hatten, sich in Reval nieder zu lassen. Diese siedelten sich vor allem am Fuß des Dombergs, südlich der bereits existierenden estnischen Siedlung, an und begründeten so zusammen mit den ansässigen Esten die Bürgerstadt Reval. Damit wurden die Deutschen ein bestimmendes Element in der Unterstadt. Sie siedelten nicht nur um die von ihnen zwischen 1230 und 1275 erbaute Nikolaikirche, sondern breiteten sich wahrscheinlich auch nach Osten ins estnische Zentrum aus, mit dem ihre Siedlung im Laufe der Zeit verschmolz. Reval bestand also bereits im 13. Jahrhundert aus zwei Siedlungs-, Rechts- und Verwaltungsbereichen: auf der einen Seite der Oberstadt mit der Burg und dem kurz nach der dänischen Eroberung von 1219 errichteten Dom; sie war Sitz der Landesherrschaft, der ritterlichen Vasallen und des Revaler Bischofs und unterstand dem Land- bzw. Kirchenrecht; auf der anderen Seite der Unterstadt, mit einer skandinavischen Siedlung um die 1267 erstmals erwähnte Olaikirche, den Siedlungen der Deutschen um die Nikolaikirche und der Esten um den späteren Großen (Rathaus-)Markt. Um 1236 strebte der Schwertbrüderorden die Vereinigung mit dem Deutschen Orden an, die Papst Gregor IX. (1227–1241) aber nur gegen die Herausgabe Revals an die Kurie erlauben wollte. Die langen diplomatischen Verhandlungen endeten am 7. Juli 1238 mit dem Vertrag von Stensby, durch den Dänemark seine Herrschaft über Estland zurückerlangte und in dem Reval erstmals als civitas (Bürgerstadt) auftaucht. Der Schwertbrüderorden, der 1237 im Deutschen Orden aufgegangen war, behielt nur die Landschaft Jerwen (estn. Järva). Obwohl Reval nun unter dänischer Herrschaft stand, behielt die Stadt eine deutsche Oberschicht, und da diese fast ausschließlich aus Kaufleuten bestand, war ein baldiger enger Kontakt der civitas Revaliensis zur Hanse 26  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

nicht überraschend. Dass sich die Revaler Bürgerstadt als der Hanse zugehörig betrachtete, ist erstmals für 1252 belegt. Bereits 1248, zehn Jahre nach der Wiedererrichtung der dänischen Herrschaft, hatte Erik IV. Plovpenning (1241–1250) das lübische Stadtrecht auf Reval übertragen. Aber erst 1285 wurde Reval in Urkunden ausdrücklich als Hansestadt erwähnt. Mit Revals Zugehörigkeit zur Hanse konnten wichtige Rechtssachen zwischen Revaler und anderen Hansekaufleuten nun auch vor dem hansischen Oberhof in Lübeck verhandelt werden. Damit fungierten Lübeck und die anderen Hansestädte als eine Art zweiter Oberherr für die Bürgerstadt Reval. Die Entstehung der Städtehanse Die Befriedung der Handelswege, das Ende der traditionellen Fahrgemeinschaften, die Entwicklung der Ostseestädte und das Ende des Protektorats des Römischen Kaisers während des Interregnums (1245–1273) führten zur Entstehung der sog. Städtehanse. Zusammen mit der Entwicklung der Städte, in denen ein ständiger Markt möglich war, wurden die größeren Kaufleute in den Städten ansässig. In Städte, mit denen sie Handel trieben, entsandten sie sog. »Faktoren«, und waren somit in der Lage, mehrere Handelsgeschäfte gleichzeitig von einem zentralen Punkt aus zu organisieren. Während sich allerdings im Westen Handelsvertreter und Kreditwesen rasch ausbreiteten, waren im Osten, besonders im Handel mit Novgorod und entlang der Düna, noch längere Zeit Fahrgemeinschaften und Tauschhandel üblich. Die Sesshaftwerdung der Kaufleute in den Städten führte bald dazu, dass diese wirtschaftlich potenten Stadtbewohner in den Rat und in die höchsten Positionen der Stadt aufstiegen. Gleichzeitig fanden die Kaufleute in den Städten eine neue, lokale Schutzmacht: Die Städte begannen, für die Sicherung der Handelswege und die Einhaltung der Handelsprivilegien ihrer Kaufleute in den Zielstädten zu sorgen. Zu diesem Zweck sprachen sie sich mit anderen Städten ab und schlossen Bündnisse auf den sog. Tagfahrten. Zu einer Tagfahrt konnte jede Stadt einladen, die eine bestimmte Angelegenheit zusammen mit anderen Städten regeln wollte. Als Gründungsjahr der Städtehanse wird häufig das Jahr 1241 angegeben, als Lübeck und Hamburg ihre schon seit elf Jahren bestehende enge Zusammenarbeit auf eine vertragliche Basis stellten, aus dem später der sog. Wendische Städtebund hervorging. Fünf Jahre später begannen sich Bünde westfälischer und (nieder) sächsischer Städte zu bilden. Etwa 100 Jahre später entstanden die Bünde der preußischen und livländischen Städte. Teil der Städtehanse konnte eine Stadt auf dreierlei Weise sein oder werden: Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wuchsen die Städte durch die Teilnahme ihrer Kaufleute am hansischen Handel in die Gemeinschaft hinein. Seit der Mitte des 14. Jahrhundert stellten die Städte förmliche Aufnahme- oder Wiederaufnahmeanträge. Einen dritten Weg in die Hanse beschritten vielfach die kleineren Städte, indem sie sich ohne besondere Forma-

Der mächtepolitische Kontext 

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litäten von einer der größeren Städte kooptieren ließen. Die Hansezugehörigkeit einer Stadt ging verloren durch Nichtnutzung der Privilegien, durch freiwilliges Verlassen der Hansegemeinschaft oder durch den förmlichen Ausschluss einer Stadt (»Verhansung«), der bei gravierenden Verstößen gegen die Prinzipien und Interessen der Gemeinschaft von der Städteversammlung vorgenommen werden konnte. Weiterführende Literatur: Dollinger, Philippe: Die Hanse, Stuttgart 51998. Jörgen Bracker (Hg.): Die Hanse – Lebenswirklichkeit und Mythos, 2 Bde., Hamburg 1989

Wiewohl die dänischen Könige zur Konsolidierung der Bürgerstadt von Reval erheblich beitrugen, blieb die zweite dänische Herrschaft in Estland doch insgesamt recht labil. Wiederholt kam es gewalttätigen Erhebungen der Esten gegen ihre Oberherren. Sie gipfelten im Aufstand gegen die dänischdeutsche Ritterschaft, der in der Nacht auf St. Georg (23. April) 1343 losbrach und zur Zerstörung zahlreicher Gutshöfe, Kirchen und Klöster führte. Unter Führung von vier selbst gewählten »Königen« (lat. reges, wohl eher Ältesten) belagerten die Esten Reval zwei Wochen lang. Erst durch das Eingreifen des großen Heeres des Deutschen Ordens, der einzig wirksamen militärischen Macht des Landes, konnte der Aufstand niedergeschlagen werden. Am 14. Mai 1343 lieferte es sich vor Reval mit den Esten eine blutige und verlustreiche Schlacht. Das dänische Königshaus hatte schon seit den 1320er Jahren Versuche unternommen, sich Estlands zu entledigen, war aber am Widerstand der Ritterschaften gescheitert, die kein Interesse an einer starken Landesherrschaft besaßen. Durch seine Heirat mit Helvig (†ca. 1374), der Schwester Valdemars III. (1326–1330), kam Valdemar IV. Atterdag (1340–1375) per Mitgift in den Besitz Nordjütlands und weitete seine Herrschaft nach und nach auf die Reste der in fremden Besitz gelangten dänischen Gebiete aus. Um die finanziellen Mittel und militärischen Kräfte für die neue Konzentration dänisch-königlicher Machtpolitik auf das dänische Kernland zu gewinnen, versuchte er 1341 erneut, Dänisch-Estland an den Orden zu verkaufen, scheiterte jedoch. Unter Berücksichtigung der aktuellen Machtverhältnisse hatten am 16. Mai 1343 die Ritterschaft, die Bürgerstadt und der Bischof von Reval die Burg treuhänderisch dem Orden übergeben, der damit vorübergehend die faktische Herrschaft übernahm. Nach der Niederschlagung eines weiteren großen Estenaufstands 1346 verhandelte der dänische König mit dem Deutschen Orden nochmals um den Verkauf Estlands. Ein am 29. August 1346 unterzeichneter Vertrag besiegelte schließlich den Verkauf 28  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Dänisch-Estlands an den preußischen Hochmeister des Deutschen Ordens, der seine Herrschaft am 1. November 1346 antrat. Mit der tatsächlichen Regierung betraute der Hochmeister allerdings 1347 den livländischen Landmeister. Unter der Herrschaft des Deutschen Ordens (1346–1561) Die Bürgerstadt Reval, die sich kurz vor Abschluss des Verkaufsvertrags 1345 noch einmal ihre von Valdemar IV. Atterdag erhaltenen Privilegien hatte bestätigen lassen, war zuvorderst an einer Konfirmation der bestehenden Rechte interessiert und erreichte, dass auch der amtierende Landmeister Goswin von Herike die städtischen Rechte und Freiheiten, wenn auch unter dem Vorbehalt der formalen und inhaltlichen Prüfung, am 4. November 1346 konfirmierte. Die in der Konfirmation vorbehaltene Prüfung der Stadtprivilegien brachte offensichtlich keine Nachteile, sondern eher eine Ausweitung der städtischen Freiheit. Bereits 1348 wurde die Stadt von der Heeresfolge nach Litauen und Russland entbunden. Sie musste bei Kriegszügen über See nur ein Schiff mit 25 Bewaffneten und für den Fall eines feindlichen Angriffs auf Livland ein Bürgeraufgebot stellen. Im Gegenzug trat die Bürgerstadt einen Teil der Stadtmark ab und zahlte 200 Mark zur Reparatur der Revaler Burg. Mit der Übernahme Estlands und Revals durch den Deutschen Orden festigte sich für ca. 200 Jahre das politische Gefüge. In Reval kam es selten zu mit Riga vergleichbaren Streitigkeiten mit dem Stadtherrn, was jedoch nebenbei gesagt auch an der politischen Bedeutungslosigkeit des Revaler Bischofs lag. Konflikte ergaben sich jedoch in Handelsfragen. So beschwerte sich bereits 1417 die Stadt Narva beim livländischen Landmeister des Deutschen Ordens, Siegfrid Lander von Spanheim (1415–1424), dass es von den preußischen Städten und Reval mit Gewalt vom Handel ausgeschlossen würde. Der Hochmeister wies Reval daraufhin energisch in seine Schranken, mit dem Hinweis, dass er und nicht die Revaler Bürger über die Grenzstadt zu gebieten hätte. Im Jahr darauf verlieh der Hochmeister der Stadt zudem ein Freihandelsprivileg. Weiteren Zündstoff bargen die verschiedenen Handelsembargos, die entweder von der Hanse oder vom Ordensmeister gegen Novgorod verhängt wurden. Andererseits war der Revaler Rat oft vermittelnd für den Deutschen Orden tätig, z.B. als Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre des 15. Jahrhunderts innerhalb seines livländischen Zweiges ein Konflikt zwischen den Parteien der Westfalen und der Rheinländer auftrat. Der mächtepolitische Kontext 

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2.  Reval als Residenz Die Oberstadt (Domberg) Wie bereits deutlich geworden ist, stellte die Revaler Oberstadt einen eigenen, von der Unterstadt (Bürgerstadt) getrennten Rechtsbezirk dar. Dieser bestand bis zur Stadtrechtsreform von 1879 und basierte auf der Voraussetzung, dass hier Mitglieder anderer Rechtskorporationen als in der Bürgerstadt wohnten oder residierten. Im Mittelalter war der Domberg Sitz der Vertreter der Landesherren, des estländischen Bischofs und der Mitglieder der estländischen Ritterschaften. In der Zeit der ersten dänischen Herrschaft (1219–1227) residierten auf dem Domberg als Stellvertreter des dänischen Königs der Erzbischof von Lund Andreas Sunesen und der Revaler Bischof Wescelin. Ihnen zugeordnet waren nach dem Abzug König Valdemars II. 1219 dänische Ritter, von denen jedoch nicht bekannt ist, ob sie auf dem Domberg wohnten. Als Residenzgebäude diente der dänischen Besatzungsmacht eine wahrscheinlich hölzerne Burg – in den Quellen als castrum danorum Revaliensis bezeichnet –, die eine estnische Bauernburg ersetzte und bis 1227 ausgebaut wurde. Nach dem Abzug der Dänen war sie Sitz der Kommende Reval des Schwertbrüderordens und nach dessen Auflösung 1237 des Deutschen Ordens. In dieser Zeit erhielt die Burg Befestigungen mit Türmen und Gräben. Außerdem ließ der Schwertbrüder-Herrenmeister Volquin ein steinernes Gebäude aufführen, das im Gegensatz zum Gesamtkomplex des Domberges als Großer Burg (castrum magnus) als Kleine Burg (castrum minus) bezeichnet wurde. Die durch den Vertrag von Stensby erfolgte Rückgabe der Burg an die Dänen 1238 führte zur Einsetzung eines königlichen capitaneus (Hauptmann, Statthalter) und verschiedener ihm zugeordneter Gehilfen. Dies bedingte einen weiteren Ausbau der Kleinen Burg. Es entstand ein kastellartiges Hauptgebäude im Stil der Kaiserpfalzen des Heiligen Römischen Reiches (Palas) als Sitz der Regierung, das ein Viertel des Gesamtterritoriums des Domberges einnahm (s. Textabb. 2). Daneben wurden aber auch ein Marstall, Lagerhäuser u.a. errichtet. Aussehen und innere Struktur dieses Gebäudeensembles sind nicht überliefert. Geht man von dem im Heiligen Römischen Reich im 13. Jahrhundert üblichen Typus von Gebäuden aus, so bestand der Pallas aus zwei Stockwerken. Im unteren Stockwerk waren Wohnungen für die Vasallen, evtl. auch eine Kapelle untergebracht. Im oberen Stockwerk befand sich ein großer Saal für Empfänge, Verhandlungen und Festveranstaltungen. 30  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Zwischen 1346 und 1561 bildete der Domberg wieder den Sitz der Kommende Reval des Deutschen Ordens. Dabei fungierte ein Hauskomtur als oberster Verwalter für die Belange der Oberstadt. Die Unterstadt fiel in die Zuständigkeit des Komturs als höchstem Vertreter des livländischen Landmeisters in Reval. Unmittelbar nach dem Übergang des Dombergs an den Deutschen Orden begann Goswin von Herike, die Revaler Burg weiter auszubauen. Er ließ den dänischen Palas zu einem Konventshaus umgestalten und verstärkte den bestehenden Verteidigungsgürtel weiter. Die Burg entwickelte sich in dieser Zeit zum bedeutendsten militärischen und administrativen Zentrum des estländischen Ordensterritoriums. In einer zweiten Bauphase ab 1371 wurden das südliche Vorwerk, die heutige westliche Mauerlinie, der Hauptverteidigungsturm für das Konventshaus, der »Lange Hermann«, und der nordwestliche Verteidigungsturm »Stür den Kerl« aufgeführt. Die Echauguette (Halbturm) »Pilstiker« stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Ein Zwingersystem vervollständigte die Wehranlagen. Um 1400 war der gesamte Umbau im Wesentlichen abgeschlossen. Unter dem livländischen Landmeister Wolter von Plettenberg (1494–1535) erhielt die Nordostecke der Burg noch einen »Landskrone« genannten Turm. Gleichzeitig wurde der »Lange Hermann« von 35 auf 45 m erhöht (s. Textabb. 2). Das nicht zum Viertel der Kleinen Burg gehörende Territorium des Dombergs wurde an die Vasallen auf Grundlage des Lehnsrechtes und an den Bischof von Reval vergeben. Mehrere Brände (1433, 1553, 1581, 1684) und Wiederaufbaumaßnahmen führten hier jedoch zu einer größeren Diskontinuität der Baustrukturen als bei der Burg.

2  Die Entwicklung der Revaler Burg im Mittelalter

Mit der Eroberung der estnischen Burg durch die Dänen entstand im Jahre 1219 außerdem ein Bistum Lyndanisse (dän. Lyndanisses Stift) als Suffraganbistum des dänischen Erzbistums Lund. Die enge Verbindung von poReval als Residenz 

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litisch-militärischen und religiösen Interessen der dänischen Krone und der Einfluss des Lunder Erzbistums in der Mission Estlands wurden durch diesen Akt augenfällig. Zu einer Kirchenorganisation führte die erste Dänenherrschaft allerdings noch nicht. Sie fällt in die Zeit der zweiten dänischen Herrschaft (1238–1346), als sich der aus Ribe stammende Bischof Thorkill (1238/40–1260) des Aufbaus des estländischen Kirchenwesens annahm. Thorkills Diözese umfasste die Stadt Reval und die umliegenden Ritterschaftsbezirke Harrien (Harju), Wierland (Viru) und Jerwen ( Järva). Im Gegensatz zu den livländischen Bistümern Riga, Dorpat (Tartu) und ÖselWiek (Saare-Lääne) war der Revaler Bischof nur geistlicher Hirte und nicht zugleich Landesherr. Er besaß keine ausgedehnten Territorien, sondern nur »Tafelgüter« mit einigen wenigen Dörfern, die ihm zusammen mit Stiftungen bescheidene Einkünfte sicherten. In der Unterstadt stand dem Bischof ein Visitationsrecht und zunächst auch die geistliche Gerichtsbarkeit über die Stadtgeistlichkeit zu. Am 16. September 1257 gestattete König Christoffer I. (1252–1259) der Stadt allerdings die Anwendung des lübischen Rechts auch in geistlichen Angelegenheiten. 1284 übertrug Bischof Johannes  I. (1280–1294) schließlich die gesamten iura spiritualia (Kirchenhoheit) an die Bürgerstadt. Offiziell blieb der Revaler Bischof bis 1561 Suffragan des Erzbischofs von Lund, besaß jedoch nach dem Ende der dänischen Herrschaft in Estland keinen Einfluss mehr auf die Wahl der Lunder Erzbischöfe. Das vergleichsweise kleine Revaler Domkapitel bestand aus vier Domherren (Dekan, Ökonom, Kantor und scholasticus). Es führte außerdem die Aufsicht über die 1319 erstmals erwähnte Domschule und besaß das Patronatsrecht über die Nikolaikirche, das sich in der Praxis allerdings auf die Bestätigung der Ratsbeschlüsse in den die Nikolaikirche betreffenden Angelegenheiten beschränkte. Wohl unter anderem bedingt durch die geringen Einflussmöglichkeiten gegenüber der Stadt Reval hielten sich die Bischöfe zu Beginn des 15. Jahrhunderts offenbar selten in der Stadt auf.  Nur wenige bischöfliche Urkunden aus den Jahren 1219 bis 1433 sind auf Reval bezogen datiert. Den größten Teil ihrer Amtszeit verbrachten die Bischöfe außerhalb Revals auf ihren Tafelgütern. Häufig befanden sie sich sogar außerhalb Dänisch-Estlands auf Reisen – oft in Livland, aber auch in anderen Teilen des Königreiches Dänemark oder im Heiligen Römischen Reich. Sie können deshalb für das 13. und 14. Jahrhundert nur sehr eingeschränkt als Revaler Residenten angesehen werden. Kurz nach 1433 entstand westlich der Domkirche am Rande der Steilstufe des Dombergs (Glint) der sog. »Bischofshof«, die Residenz der Revaler Bischöfe. Sie deutet auf eine stärkere Präsenz des Bischofs oder 32  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

wenigstens seiner Mitarbeiter und auf das Bedürfnis nach Repräsentation der bischöflichen Verwaltung in der Stadt hin. Der Dom, die Hauptkirche der Bischöfe von Reval, entstand vermutlich 1219 zunächst als Holzbau und ist urkundlich erstmals 1233 erwähnt. Zehn Jahre später begann der Umbau in eine Steinkirche. Im 14. Jahrhundert wurde sie nach Vorbild der gotländischen Kirchen in eine dreischiffige Basilika im gotischen Stil umgestaltet. Heutige Hinterlassenschaften aus dem Mittelalter im Innern der Kirche sind v.a. zahlreiche Grabplatten. Neben dem Dom entstand spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts das Gebäude der Domschule. Von hier führten Wege zu den Wehrtürmen am Glint. Nur sehr vorsichtig lässt sich die nationale Zusammensetzung der Bewohner auf dem Domberg beurteilen, da die Hauptquelle, das sog. »Wackenbuch« (Grundbuch) von 1575, aus der Zeit der schwedischen Herrschaft stammt. Mit dem Wechsel des Landesherrn wird auch ein Wechsel in der Zusammensetzung der Bevölkerung der Domstadt, des Sitzes des Landesherrn, einhergegangen sein, zumal bei den im Wackenbuch aufgeführten zahlreichen schwedischen Namen nicht auszuschließen ist, dass die schwedischen Schreiber deutsche Namen schlicht in schwedischer Form wiedergaben. Für die Ordenszeit kann dennoch angenommen werden, dass sich die Oberschicht nahezu komplett aus Deutschen, die Schicht der Bediensteten jedoch größtenteils aus Esten zusammensetzte. Orden und Klöster Mit größerem Recht als die Revaler Bischöfe kann man die Angehörigen der Revaler Klöster als städtische Residenten bezeichnen. Das der Heiligen Katharina von Alexandrien gewidmete Dominikanerkloster entstand wahrscheinlich 1239 zuerst auf dem Domberg und wurde von aus Dänemark kommenden Predigerbrüdern gegründet. Nachdem diese aufgrund der erwähnten Streitigkeiten zwischen dem Schwertbrüderorden und dem Heiligen Stuhl in Rom 1233 die Stadt verlassen mussten, kehrten sie 1246 zurück und gründeten ein Kloster auf freiem Feld außerhalb der Stadt am Hafen. Im 14. Jahrhundert wurde es mit der Einbeziehung der Mönchstraße (ab dem 16. Jh.: Rußstraße, estn. Vene) in die Stadtmauern und somit in die Unterstadt integriert. 1525 mussten die Dominikaner ihr Kloster wegen des Übergangs der Stadt Reval zur Reformation verlassen. 1532 zerstörte ein Brand den größten Teil der Klostergebäude. Reval als Residenz 

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Das Katharinenkloster der Dominikaner zu Reval (s. Textabb. 3) war einer der größten sakralen Bauten im Baltikum. Es bestand nach seiner Vollendung aus vier Flügeln mit einem zentralen Innenhof (Kreuzgang), die die Klosterkirche, das Dormitorium (Schlafsaal), das Refektorium (Speisesaal), die Bibliothek, eine Gebetskapelle, einen Kapitelsaal mit tief hängenden Gewölben, ein Hospital, eine Küche und einen Lagerraum beherbergten. Die erstmals 1346 als ecclesia fratrum predicatorum erwähnte, um 1400 fertig gestellte Katharinenkirche im Westflügel des Klosters bildete eine dreischiffige Hallenkirche mit acht Traversen. Zusammen mit der polygonalen Apsis hatte sie eine Länge von 67,7 m, war damit die längste Kirche in Nordestland und mit 1100 Quadratmetern Grundfläche zudem die größte Dominikanerkirche Nordeuropas. Ihr Hauptportal aus heimischem Kalkstein scheint das erste rein gotische Portal der Stadt gewesen zu sein. B Rekonstruktion des Klosters (Zustand Mitte 15. Jahrhundert) A Grundriss des Klosters (Anfang des 16. Jahrhunderts) 1 – Kirche 2 – Sakristei 3 – Kapitelhaus 4 – Bibliothek 5 – Altes Refektorium 6 – Neues oder Großes Refektorium 7 – Anbauten 8 – Dormitorien 9 – Östliches Ambulatorium 10 – Südliches Ambulatorium 11 – Westliches Ambulatorium 12 – Hof 13 – Brunnen 14 – Kornkammer

3  Das Revaler Dominkanerkloster im Mittelalter

34  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Zum Kloster gehörte auch eine im 13. Jahrhundert gegründete Schule, an der Knaben die Anfänge von Grammatik und Theologie erlernten. Der Unterricht bestand aus einem einjährigen Kurs, dem ein dreijähriges Theologiestudium folgte. Wer dieses erfolgreich absolviert hatte, konnte ein sechsjähriges Philosophiestudium und danach ein dreijähriges Studium der artes liberales (Logik, lateinische Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik) durchlaufen, das mit dem magister artium endete. Damit besaß man den Zugang zum studium generale an einer der großen europäischen Universitäten des Mittelalters (Bologna, Paris, Oxford, Cambridge, Salamanca, Padua, Prag, Krakau, Heidelberg, Freiburg, Tübingen u.a.). Das Revaler Dominikanerkloster unterhielt enge Verbindungen zu den skandinavischen, insbesondere wohl dänischen Dominikanern. Innerhalb der Stadt erfreute es sich großer Beliebtheit. Die Gilden und Mitglieder der Ritterschaften stifteten großzügig Erbschaften, Geld und andere Vermächtnisse. Die Große Gilde, die Schwarzenhäupterbruderschaft (s.u.) und weitere städtische Korporationen unterhielten in der Katharinenkirche eigene Altäre, darunter einen 1419 gestifteten Altar der Heiligen Dreifaltigkeit aus Brügge und einen 1492 gestifteten großen Marien-Flügelaltar aus Brüssel, beide aus der Hand der Schwarzenhäupter. Im Gegenzug für die materiellen Leistungen beteten die Dominikaner für die Angehörigen der Korporationen und deren Familien. Zudem fanden viele Revaler Kaufleute in der Katharinenkirche ihre letzte Ruhestätte. Davon zeugen zahlreiche Grabplatten mit Wappendarstellungen, darunter die ältesten der Stadt, die heute an der noch erhaltenen Klosterwand von St. Katharinen im sog. Katharinengang aufgestellt sind. Mit dem Revaler Bischof gerieten die Dominikaner wegen ihrer Predigttätigkeit, die zum theologischen Polarisieren neigte, und ihrer in die Revaler Bevölkerung getragenen, ausgeprägt scholastisch-gelehrten Theologie immer wieder in Konflikt. Es gehörte zur Ordenskonzeption, dass Klöster vor allem in Städten gegründet werden sollten, wo ein größeres Publikum für die Predigten und die materiellen Ressourcen für den Unterhalt der Klöster vorhanden waren. Theologie, Seelsorge und Predigttätigkeit bildeten im dominikanischen Denken eine Einheit, so dass die mit dem Bischof, vielleicht auch mit der Bevölkerung ausgetragene Konflikte wegen der Predigt ein Gegengewicht in der Seelsorge der Dominikaner gegenüber dem Revaler Adel und der Bürgerschaft darstellte. Während der Reformation wurden die theologischen Auseinandersetzungen und die materiellen Ansprüche der Dominikaner dann allerdings so heftig, dass der städtische Rat sie 1525 auswies. Reval als Residenz 

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Das Kloster der Zisterzienserinnen St. Michaelis wurde vom dänischen König Erik IV. Plovpenning, wahrscheinlich 1249, gegründet, der es von Anfang an mit zahlreichen Privilegien und Gütern ausstattete. Ab diesem Zeitpunkt entstanden mehrere Holzbauten um die Keimzelle des Klosters, die nach 1219 gegründete Wenzel-Kapelle. Diese wurde im letzten Viertel des 13.  Jahrhunderts zu einer Klosterkirche ausgebaut, die dem Heiligen Michael geweiht war und zusammen mit der Klosteranlage nach einer Erweiterung der Stadtmauer in der Revaler Unterstadt lag. Es erstreckte sich seither zu beiden Seiten der Klosterstraße (Suur-Kloostri, Väike-Kloostri) sowie zwischen Kloster-, Breit- (Lai) und Speicherstraße (Aida). Das ganze Areal wurde über Jahrhunderte einfach nur »das Kloster« genannt. Ab dem 14. Jahrhundert ging man mehr und mehr zur Steinbauweise über. Die in den Kontext der europäischen Armutsbewegung des Spätmittelalters gehörenden Zisterzienserinnen nahmen größtenteils unverheiratete Töchter des Adels auf, die es nach Kontemplation und mystischer Versenkung verlangte oder die schlicht eine standesgemäße Unterbringung benötigten. Die Beobachtung strenger Klausur im Rahmen der Benediktregel und die mit dem Eintritt ins Kloster verbundenen Dotationen zum Unterhalt der Adelstöchter, die zum Standard des europäischen Zisterzienserinnentums gehörten, erklären die relativ schlechten Beziehungen der Zisterzienserinnen zur bürgerlichen Bevölkerung Revals und gleichzeitig ihre engen Beziehungen zu den Mitgliedern der estländischen Ritterschaften auf dem Domberg. Neben den beiden innerhalb der Stadtmauern ansässigen Klöstern besaßen auch einige auswärtige Klöster Höfe in Reval. Der Hof der Zisterziensermönche von Dünamünde (später Padis) in der Mönchstraße wird zwar erst 1280 erwähnt, existierte aber wohl schon seit der ersten Dänenherrschaft. Direkt daneben lag der Hof der gotländischen Zisterzienser aus Roma/Gotland, und diesem gegenüber der Hof der Zisterzienser aus Falkenau bei Dorpat auf einem Grundstück, das ihnen 1259 vom Rat geschenkt worden war. 1521 stiftete ein nicht weiter bekannter Elert Kruse Mittel für den Bau eines Annenklosters, der aber aufgrund des Übergangs Revals zur Reformation ab Mitte der 1520er Jahre nicht mehr zur Ausführung kam. 1405 und 1407 erscheint in Revaler Quellen erstmals das Birgittenkloster, ein Tochterkloster des von der Heiligen Birgitta selbst gegründeten Klosters Vadstena (gegr. 1346) in Schweden. Das Revaler Birgittenkloster lag in Marienthal, vier Kilometer nördöstlich knapp außerhalb des Weichbilds (Stadtmark) der Stadt, in der Nähe der Küste. Die Wahl des Bauplatzes wurde vom Revaler Rat wegen seiner Ausgesetztheit gegenüber Angriffen von See her scharf kritisiert. Offenbar hat er in den Jahren 1413–1416 36  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Schritte unternommen, eine Verlegung herbeizuführen, letztlich jedoch ohne Erfolg. Gründer des Klosters waren drei Revaler Kaufleute, Heinrich Swalberch (oder Swalbart), Hinrich Huxer und Gerlich Kruse, die später in den Konvent eintraten. Der Bau war spätestens mit seiner Weihe 1436 durch den Revaler Bischof Heinrich III. von Uexküll (1420–1456) beendet. 1411 bestätigte Papst Gregor XII. (1406–1415) die Klostergründung und bestimmter die Augustinerregel zur Grundlage des Klosterlebens. Der Bauplan der Klosteranlage (s. Textabb. 4) folgte jedoch der Regel der Heiligen Birgitta. Bereits 1412 entstand mit Marienwohlde bei Lübeck ein Tochterkloster. Zum Revaler Birgittenkloster gehörten auch zwei Lagerhäuser. Die dreischiffige Hallenkirche mit sechs Traversen wurde 1436 im spätgotischen Stil vollendet.

4  Das Birgittenkloster bei Reval im Mittelalter

Reval als Residenz 

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Das Birgittenkloster nahm Personen beiderlei Geschlechts auf (monasteria mixta), jedoch hatten Frauen, meist Bürgertöchter, den Vorrang. Sie stellten auch die Äbtissin. Die Nordseite beherbergte gemäß der Regel der Heiligen Birgitta 60 Nonnen, die Südseite 25 Mönche (davon 13 Priester, 4 Diakone und 8 Laienbrüder). Die Klosterkirche wurde von beiden Geschlechtern benutzt, jedoch nicht gleichzeitig. Die Mitglieder der beiden Konvente durften nur in einem bestimmten Raum, im sog. Parlatorium, mit einander sprechen. Dieses war durch Wände unterteilt, in denen sich kleine Sprechfenster befanden. Das Birgittenkloster war zudem ein beliebtes Ziel für Pilger aus ganz Europa. Ein Haus stand speziell für diese Gäste zur Verfügung. Im Livländischen Krieg wurden das Kloster und das angrenzende Dorf während zweier russischer Überfälle, 1575 und 1577, zerstört und blieben seither Ruine.

3.  Die Entwicklung der Bürgerstadt Die Unterstadt ist, geschichtlich gesehen, die eigentliche »Stadt« Reval: Hier lebte der Großteil der Stadtbevölkerung, die meisten davon Handwerker und Kaufleute. Die Unterstadt war dem Landesherrn gegenüber – von einzelnen Kontributionen vor allem hinsichtlich der Landesverteidigung abgesehen – politisch unabhängig. Es waren lediglich geringe jährliche Zahlungen an Zins und Pacht an den Orden zu leisten, und im Falle eines feierlichen Einzuges in die Stadt musste sie dem Landesherrn huldigen. Auch in der Landesverteidigung sollte die Stadt Truppenkontingente in vertraglich geregelter Größenordnung stellen. In Rechtsfragen mit anderen Hansestädten wandte sie sich an die Stadt an Lübeck. Das Stadtbild des mittelalterlichen Reval Das Zentrum der Unterstadt bildete der Rathausplatz (estn. Raekoja plats) oder Große Markt (Suur turg), der von dem 1322 als consistorium oder theatrum erstmals erwähnten, aber wohl schon im 13. Jahrhundert errichteten Rathaus und anderen stattlichen Gebäuden umschlossen wurde. Der genaue Standort des ältesten, wahrscheinlich schon zur Zeit der Stadtrechtsverleihung (1248) bestehenden Rathauses ist unbekannt, wird aber von einigen Stadtarchäologen an der Stelle oder in der Nähe des heutigen Rathauses vermutet. Es handelte sich wohl schon damals um ein Steingebäude, wie der 1333 erwähnte Keller (cellario civitatis) nahelegt. An der jetzigen Stelle 38  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Das Birgittenkloster nahm Personen beiderlei Geschlechts auf (monasteria mixta), jedoch hatten Frauen, meist Bürgertöchter, den Vorrang. Sie stellten auch die Äbtissin. Die Nordseite beherbergte gemäß der Regel der Heiligen Birgitta 60 Nonnen, die Südseite 25 Mönche (davon 13 Priester, 4 Diakone und 8 Laienbrüder). Die Klosterkirche wurde von beiden Geschlechtern benutzt, jedoch nicht gleichzeitig. Die Mitglieder der beiden Konvente durften nur in einem bestimmten Raum, im sog. Parlatorium, mit einander sprechen. Dieses war durch Wände unterteilt, in denen sich kleine Sprechfenster befanden. Das Birgittenkloster war zudem ein beliebtes Ziel für Pilger aus ganz Europa. Ein Haus stand speziell für diese Gäste zur Verfügung. Im Livländischen Krieg wurden das Kloster und das angrenzende Dorf während zweier russischer Überfälle, 1575 und 1577, zerstört und blieben seither Ruine.

3.  Die Entwicklung der Bürgerstadt Die Unterstadt ist, geschichtlich gesehen, die eigentliche »Stadt« Reval: Hier lebte der Großteil der Stadtbevölkerung, die meisten davon Handwerker und Kaufleute. Die Unterstadt war dem Landesherrn gegenüber – von einzelnen Kontributionen vor allem hinsichtlich der Landesverteidigung abgesehen – politisch unabhängig. Es waren lediglich geringe jährliche Zahlungen an Zins und Pacht an den Orden zu leisten, und im Falle eines feierlichen Einzuges in die Stadt musste sie dem Landesherrn huldigen. Auch in der Landesverteidigung sollte die Stadt Truppenkontingente in vertraglich geregelter Größenordnung stellen. In Rechtsfragen mit anderen Hansestädten wandte sie sich an die Stadt an Lübeck. Das Stadtbild des mittelalterlichen Reval Das Zentrum der Unterstadt bildete der Rathausplatz (estn. Raekoja plats) oder Große Markt (Suur turg), der von dem 1322 als consistorium oder theatrum erstmals erwähnten, aber wohl schon im 13. Jahrhundert errichteten Rathaus und anderen stattlichen Gebäuden umschlossen wurde. Der genaue Standort des ältesten, wahrscheinlich schon zur Zeit der Stadtrechtsverleihung (1248) bestehenden Rathauses ist unbekannt, wird aber von einigen Stadtarchäologen an der Stelle oder in der Nähe des heutigen Rathauses vermutet. Es handelte sich wohl schon damals um ein Steingebäude, wie der 1333 erwähnte Keller (cellario civitatis) nahelegt. An der jetzigen Stelle 38  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

befindet es sich mit Sicherheit seit 1341. Seine bis heute sichtbare gotische Ausprägung erhielt es zwischen 1402 und 1404. Eine vierte Bauphase mit Erweiterungen im Untergeschoss setzte in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein. Westlich des Rathausplatzes, durch eine kleine Gasse (estn. Vana turu kael) verbunden, befand sich der »Alte Markt« (Vana turg), der auf historischen Zeichnungen gelegentlich auch als »Schwedischer Markt« erscheint. Er bildete den zentralen Platz der südlichen Unterstadt. Hier bestand auf der Höhe des Verbindungsweges zum Domberg vermutlich bereits in frühester Zeit ein estnischer Handelsplatz, der in seiner Infrastruktur von den 1230 gerufenen deutschen Kaufleuten übernommen wurde. Die für diesen Stadtteil zuständige Pfarrkirche, St. Nikolai (Niguliste kirik), 1316 erstmalig urkundlich erwähnt, geht in ihren Ursprüngen wahrscheinlich auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zurück und erhielt zwischen 1405 und 1420 ihr heutiges gotisches Aussehen. Sie bildete das Zentrum der vom Schwertbrüderorden nach Reval gerufenen Kaufleute, unter denen wohl auch einige Handwerker waren. Wie in vielen anderen Hansestädten ist sie dem Heiligen Nikolaus von Bavi, Bischof von Myra (†342), dem Patron der Seefahrer, gewidmet. Der Dachstuhl der Kirche diente als Warenlager. Es handelte sich also um eine typische Kaufmannskirche, im spätgotischen Stil aus Stein erbaut und mit zahlreichen Elementen einer Wehrkirche versehen. Ab dem 15. Jahrhundert wurde sie zur Basilika umgebaut. Das von St. Nikolai dominierte »Ratsviertel« gilt gleichzeitig als Keimzelle der Unterstadt als permanent besiedeltem Platz. Hier entstand ein deutscher Markt, der die skandinavischen und russischen Handelsplätze bei Reval ergänzte. Vom Alten Markt erstreckte sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Fächer kleinerer Straßen nach Westen, Süden und Südosten, die alle in Stadttore mündeten. Die wichtigste unter ihnen war der Anschluss an die bereits bestehende Verbindungsstraße zum Hafen (Strandstraße) durch die Königsstraße (Kuninga). Eine andere bedeutende Straße des Ratsviertels stellte die 1339 erstmals dokumentierte Schmiedegasse (lat. platea fabrorum) dar, die im 16. Jahrhundert als »Kannengeterstrate« (Kannengießerstraße) oder »Tinageterstrate« (Zinngießerstraße) erscheint und an der sich die hochangesehenen und in mehrere Unterkategorien zerfallenden Schmiedewerkstätten der Stadt befanden. Zwischen 1538 und 1767 verwandelte sich die Kannengießerstraße in eine Sackgasse, als im Zuge der Fortifikationsarbeiten des 16. und 17. Jahrhunderts die Schmiedepforte geschlossen wurde. Als diese wieder geöffnet war, erschien die Strasse in ihrer russischen Form als novaja ulitsa (Neue Straße). Im Deutschen hieß sie wieder Schmiedegasse, im Estnischen Harju tänav. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Bedeutende Straßen führten auch nach Nordosten in die nördliche Unterstadt, die von der Olaikirche dominiert wurde und wegen der in der Strand-(Lang)Straße (Pikk) gelegenen Gildenhäuser allgemein als »Gildenviertel« bezeichnet wurde. Die im gotischen Stil errichtete Olaikirche befand sich zwischen den beiden zentralen Straßen des Gildenviertels, der Systerngasse und der Langstraße (früher Strandstraße) am ursprünglichen Markt der Skandinavier und wurde 1267 erstmals aktenkundig, als die dänische Königinwitwe Margarete Sambiria ihr Parochialrecht über die Kirche dem Revaler Zisterzienserinnenkloster zu St. Michael überließ. Wie weit der Ursprung dieser Kirche in die Vergangenheit zurückreicht, ist unbekannt, es kann aber angenommen werden, dass sie entweder eine Gründung des dänischen Königs oder schwedischer Kaufleute ist, die hier möglicherweise schon vor der Stadtgründung hier einen Handelsplatz besaßen. Benannt ist sie nach dem norwegischen König Olav II. Haraldsson (1015–1028), der sich die Christianisierung Nordeuropas auf die Fahnen geschrieben hatte und später heilig gesprochen wurde. Er galt als Schutzpatron der Seefahrer. Ihm sind mehrere Kirchen im Ostseeraum gewidmet. Das Patronatsrecht an St. Olai ging 1249 vom König, vertreten durch seinen Hauptmann und die Vasallen, auf das Zisterzienserinnenkloster zu St. Michaelis über, das 1246 im Nordwesten der Stadt errichtet worden war. Dass der nördliche Stadtteil eine ursprünglich von Fremden besiedelte Gemeinde war, zeigt auch die erstmals 1371 erwähnte, aber wohl ältere russische Kirche, die unweit von St. Olai stand. Beide Stadtteile wurden übrigens 1265 auf Befehl Margarete Sambirias zusammengefügt und mit einer Stadtmauer umgeben. Die 1361 erstmals dokumentierte Systerngasse – die spätere Breite Straße (Lai) – gehörte zu den ältesten Straßen der Stadt. Ihren Namen erhielt sie von den Konvents-»Schwestern«, den Zisterzienser-Nonnen. In den Jahren 1364-1380 erscheint sie in den Quellen als vicus oder platea monalium (Klostergasse), 1480 als platea sororum (Schwesterngasse), im 17. Jahrhundert dann als »Systerstraße« oder »Schwestergasse«, im 18. Jahrhundert als Cisternstraße, parallel dazu aber auch schon als Breite Straße. Die Strandstraße – 1377 umbenannt in Langstraße (Pikk) – war Revals mittelalterliche Hauptstraße. Sie geht vermutlich auf die Anfänge der Unterstadt zurück und führte zum Hafen. Erstmals dokumentiert ist sie für das Jahr 1362. Ab dem 15. Jahrhundert war sie nachweislich befestigt. In den dort belegenen Geschäften wurden Gewürze, Fleisch und Getreide und andere Waren verkauft und zum Hafen transportiert. Hier waren die Große Gilde, die Schwarzenhäupter und die Olaigilde ansässig. Hier wohnten auch die vornehmsten Kaufleute und Handwerker, die Ratsherren, die Gilden- und Amtsältesten. 40  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Die zentrale und östliche Unterstadt wurde von der Heiliggeistkirche und der Mönchstraße dominiert. Die Heiliggeistkirche lag an der Grenze der Kirchspiele von St. Nikolai und St. Olai und gehörte zur St. Olai-Pfarrei. Möglicherweise existierte sie oder ihre Vorgängerin schon vor dem Jahre 1219. Ein neues Gebäude jedenfalls wurde 1360 fertig gestellt und diente wahrscheinlich seit diesem Zeitpunkt und bis zur Reformation als Ratskapelle und Siechenkirche. Sie gewann für die Identität der Revaler Esten seit der Reformation eine hohe Bedeutung. Der mit seiner Übersetzung des lutherischen Katechismus in die estnische Sprache als erster estnischsprachiger Autor in die Geschichtsschreibung eingegangene Johann Koell und der möglicherweise estnischstämmige Chronist Balthasar Rüssow wirkten hier als Pastoren. Wichtiger noch aber war die Tatsache, dass die Heiliggeistkirche nach der Reformation zur Hauptkirche der Revaler Esten wurde. In der Mönchstraße wohnten russische, wohl hauptsächlich Novgoroder Kaufleute. Man hat darüber hinaus vermutet, dass hier auch Personen lebten, die in deutsch-dänischer Perspektive aus östlicher (»russischer«) Richtung kamen, d.h. auch Finnen, Esten u.a. Die Entstehung der Straße war mit dem Bau der neuen Stadtmauer zu Beginn des 15. Jahrhunderts verbunden, dem auch der bis dahin vor der Stadtmauer liegende Handelsplatz Novgoroder Kaufleute zum Opfer fiel. Um die gleiche Zeit entstand in der Mönchstraße die russisch-orthodoxe Kirche des Wundertäters St. Nikolaj (1442 erstmals belegt), die eine Vorgängerkirche auf dem Handelsplatz der Novgoroder Kaufleute ersetzte. Auch errichteten die Novgoroder Kaufleute hier während des 15. Jahrhunderts ein Warenlager (Stapel). Die Mönchstraße war jedoch nie eine Straße für russische Kaufleute allein. Hier befanden sich im Mittelalter mehrere Patrizierhäuser in nichtrussischem Besitz und – nicht zuletzt – das Dominikanerkloster. Im Mittelalter war Tallinn eine der am besten befestigten Städte an der Ostsee. Der Bau der Befestigungsanlagen wurde in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts begonnen und dauerte rund 300 Jahre an. Da die Waffentechnik sich ständig veränderte, mussten die Befestigungen immer wieder angepasst werden. Die bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts ausgebaute mittelalterliche Stadtmauer war schließlich 2,35 km lang, 13 bis 16 m hoch, 2 bis 3 m stark und hatte 46 Türme. Sie war von 6 Toren (»Pforten«) durchbrochen, alle mit ein bis zwei Vortoren, Hängebrücken über den Wallgraben und Fallgitter. Eines der Haupttore war die Lehmpforte (Viru värav, s. Textabb. 5). Sie wurde mehrfach umgebaut, erhielt in den Jahren 1345–1355 einen Turm und 1454 zwei Spitztürme. Die ganz im Süden der Stadt liegende Schmiedepforte (Harju värav) gewann Bedeutung als Endpunkt des im 14. JahrhunDie Entwicklung der Unterstadt 

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derts angelegten Aquaedukts, das die Stadt mit Wasser versorgte (s.u.). Die Große Strandpforte (Suur Rannavärav), die wichtigste Verbindung zum Hafen, befand sich so nah am Meer, dass bei Sturm, wie es in den Ratsprotokollen heißt, die Wellen ans Tor schwappten. Heute ist nur noch das 1529 fertig gestellte Vortor mit dem 1510 begonnenen, 20 Meter hohen Kanonenturm »Dicke Margarete« (Paks Margareeta) zu sehen. Die Dicke Margarete besaß 155 Schießscharten und hatte einen Durchmesser von 25 m. Sie war zur Verteidigung der Stadt gedacht, diente als Lager für Munition und Waffen und als Gefängnis, sollte aber wohl auch Besucher der Stadt beeindrucken. Der heute bekannteste Turm der Stadtmauer ist der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandene »Kiek in de Kök« (Schau in die Küche), der seinen Namen dem Umstand verdankte, dass er durch seine Höhe von 38 Metern einen Blick in die Küchen der benachbarten Häuser ermöglichte. Er war einer der mächtigsten Türme des gesamten Ostseegebietes. Während des Livländischen Krieges (1558–1583) wurde er jedoch teilweise zerstört.

5  Die Lehmpforte (Viru värav)

Zwischen Ober- und Unterstadt bestand ebenfalls eine Mauer, die aber an zwei Stellen durchbrochen war. Diese bildeten jeweils Tore, durch die einerseits das sog. »Lange Bein« (auch: Langer Domberg, estn. Pikk Jalg), andererseits das sog. »Kurze Bein« (auch: Kurzer Domberg, Lühike Jalg) führten. Das Lange Bein war eine Reit- und Fahrstraße, die den beträchtlichen Höhenunterschied zwischen Unter- und Oberstadt überbrückte und vornehmlich für den Warentransport und berittene Standespersonen gedacht war. Das Kurze Bein, ein steiler Treppengang, diente als einfache Fußgängerverbindung. 42  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Das Weichbild der Stadt erreichte Ende des 14. Jahrhunderts seine für das Mittelalter endgültige Ausdehnung. Nach Berechnungen des Tallinner Architekturhistorikers Rein Zobel umfasste sie um 1370 ein Areal von rund 470 ha, von denen rund 260 ha auf die Unterstadt und 210 ha auf die Oberstadt entfielen. Den größten Teil der Stadtmark machten die zur Stadt gehörigen Gärten, Felder, Weiden, Pferdekoppeln und Heuschläge aus. Ein kleinerer Teil entfiel auf die Vorstädte und einzelne städtische Einrichtungen, die innerhalb der Stadtmauern keinen Platz fanden. Vor den Toren der Stadt war das Bauen mit Stein verboten, u.a. weil die Stadtmiliz solche Gebäude im Kriegsfalle nicht verteidigen und der Feind sie als Brückenköpfe für Angriffe nutzen konnte. Weil sie außerdem das Schussfeld verstellten, sollten sie im Notfall schnell niedergebrannt werden können. Die Vorstädte wurden auf diese Weise während Belagerungen durch feindliche Truppen mehrfach ein Raub der Flammen, und 1570 musste während des Livländischen Krieges auch das vor den Stadtmauern belegene Johannis-Leprosorium den strategischen Notwendigkeiten weichen. Die Stadtmark der Oberstadt schloss sich direkt an die südwestlichen Befestigungen der Oberstadt an, erstreckte sich aber auch ein Stück südlich der Unterstadt und nahm ungefähr die zwanzigfache Fläche der Oberstadt selbst ein. Neben Land- und Viehwirtschaftsflächen befand sich hier die Vorstadt Tönniesberg (auch: Antoniusberg, estn. Tõnismägi) mit dem Kalkofen und der Revaler Richtstätte auf dem »Galgenberg« (Võllamägi). Der Kalkofen diente zur Produktion von Branntkalk (Calciumoxid), der ein Hauptbestandteil für die Herstellung von Baumaterialien wie Kalkmörtel, Kalkputz oder Kalkfarbe war. Außerdem wurde er bei der Kaustifizierung von Soda und Pottasche benötigt, die ihrerseits einen wichtigen Bestandteil bei der Seifenherstellung darstellten. Die Richtstätte verfügte sowohl über einen steinernen Galgen als auch über einen Scharfrichterblock. Sie wurden beide bis 1753, als die Todesstrafe aufgehoben wurde, genutzt. Zur Richtstätte führten die Armesündergasse (Vaestepatuste) und die Rosenkranzstraße (Roosikrantsi), deren Namen darauf verweisen, wie sich die Todgeweihten auf dem Weg zur Richtstätte auf die Vollstreckung des Urteils vorbereiteten. Auf dem Tönniesberg selbst befand sich die Antoniuskapelle, deren ursprünglicher Zweck nicht mehr rekonstruierbar ist. Möglicherweise stand sie auch in Zusammenhang mit der Richtstätte. Die abgeschlagenen Häupter, je nach Verbrechen und Urteil manchmal auch andere Körperteile, wurden üblicherweise an der Pernauschen Landstraße (Pärnu maantee) auf Pfähle gesteckt und ausgestellt. Die nähere Umgebung der Richtstätte diente als Begräbnisplatz für die Hingerichteten. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Ganz in der Nähe hatte der Scharfrichter seine Wohnstätte, den sog. Scharfrichter-Garten (Timukaaed). Zu den Aufgaben des Scharfrichters gehörten neben der Hinrichtung die Folter (als Teil der gerichtlichen Voruntersuchung), die Durchführung von Körper- und Ehrenstrafen, das Abschneiden und Bestatten von Selbstmördern und die Aufsicht über die Prostituierten in den Revaler Vorstädten. Auch die Kloakenreinigung und die Abdeckerei (Tierkörperverwertung) dürften, entsprechend den europäischen Standards, in seinen Zuständigkeitsbereich gefallen sein. Die Abdeckerei und der mit ihr verbundene Verkauf von Knochen (zur Seifensiederei), verfaulten Fleisches (zur Salpetersiederei) und Häuten (für die Gerberei) sorgten in vielen europäischen Städten für das finanzielle Auskommen des Scharfrichters, während dieser die eigentlichen Hinrichtungen oft den (üblicherweise undeutschen) Henkersknechten überließ, die er dann lediglich beaufsichtigte. Enthauptungen mit dem Schwert oder Beil, die beide handwerkliches Geschick erforderten, musste er jedoch selbst durchführen. Der Scharfrichterberuf gehörte zur Gruppe der unehrenhaften Berufe (wie Bader, Geldverleiher, Gassenkehrer, Türmer, Schäfer, Prostituierte u.a.). Wer ihn ausübte, war Teil einer Art Kaste innerhalb der mittelalterlichen Ständeordnung und blieb gesellschaftlich isoliert. Die Nachkommen der Scharfrichter durften keine Schule besuchen und nur innerhalb ihres Berufsstandes heiraten. Oft fanden sich für sie keine Taufpaten. In der Kirche und in den Wirtshäusern hatten die Scharfrichter und ihre Familien auf besonderen Plätzen zu sitzen. Auch war ihnen die Jagd untersagt, ausgenommen die auf Wölfe. Das Areal der Unterstadt war ebenfalls zum größten Teil von Land- und Viehwirtschaftsflächen geprägt. Dazu kamen die erstmals 1310 erwähnten Badestuben in der Nähe der westlichen Stadtmauer vor dem Nonnentor (Nunne värav) am Badstubenturm; Wassermühlen am St. Johannisbach (Härjapea jõgi); die Fliessteinbrüche im Westen auf dem Laaksberg (Lasnamäe), von denen die Stadt Abgaben, die sog. Fliesenakzise, bezog und denen ein Stadtmaurermeister vorstand; die Reeperbahn (estn. Köismäed) nordwestlich der Stadt, wo die Reepschläger und Seiler arbeiteten und eine kleine Vorstadt bildeten; und schließlich die Ziegelei, die ein Ziegelmeister beaufsichtigte, auf der die Revaler aber auch gegen Gebühr ihr Vieh weiden lassen konnten, weswegen sie auch unter dem Namen Ziegelskoppel (Telliskopli) bekannt wurde. Im unterstädtischen Weichbild befanden sich außerdem mehrere Kirchen, deren Funktion und Zuordnung heute jedoch kaum mehr rekonstruierbar ist. Vor der Schmiedepforte lag die mit einem Friedhof versehene 44  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Barbarakapelle, die zu St. Nikolai gehörte und deren Entstehung auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts geschätzt wird. Die Kapelle existiert heute nicht mehr. Sie taucht 1525 zum letzten Mal in den Quellen auf und wurde nach Eintragungen im Kämmereibuch zwischen 1525 und 1538 abgetragen. Der Friedhof diente zur Bestattung von Personen aus der städtischen Unterschicht sowie Pest- und Hungeropfern. In den Jahren 1600–1603 wurden hier beispielsweise rund 11.000 Pesttote begraben. Nach dem Großen Nordischen Krieg mussten die Gräber jedoch den Umgestaltungen im Rahmen der städtischen Fortifikationen weichen. In der Nähe des Hafens, vor der Großen Strandpforte (Suur Rannavärav), wurde zwischen 1438 und 1455 die für Schiffer und Reisende gedachte Gertrudenkapelle der Revaler Schiffergilde errichtet. Hundert Jahre später ließ sie der städtische Rat jedoch niederreißen, weil er glaubte, sie könnte dem Feind als Stützpunkt dienen. Eine gleichnamige Kapelle wurde einige Jahre später in der Fischermaie (s.u.) errichtet, 1571 niedergebrannt, 1602 wieder aufgebaut und 1710 im Großen Nordischen Krieg endgültig zerstört. Ob die Bewohner der Fischermaie in der Zeit zwischen 1572 und 1601 einen anderen Sakralbau nutzen konnten, muss offen bleiben. Die Fischermaie bildete eine eigenständige Vorstadt. Hier trafen die von See her kommenden Reisenden und Gastkaufleute erstmals auf die Revaler Bevölkerung, hier befanden sich Wirts- und Gasthäuser, Bordelle und andere Vergnügungsstätten. In dieser erstmals 1374 in den Quellen auftauchenden Siedlung wohnten nicht nur, wie man vermuten könnte, Fischer, sondern auch Hafenarbeiter, Fuhr- und Karrleute und die sog. Mündriche. Die Fuhr- und Karrleute bildeten eine Zunft (»Schragen« von 1435) und gehörten zu den sog. Kleinen Ämtern. Die Fischer waren zunftähnlich organisiert und standen unter einem Ältermann. Die Mündriche, deren Aufgabe es war, Waren mit Booten von den Schiffen an Land oder umgekehrt zu transportieren, bildeten ebenfalls eine Zunft. Ihre Statuten (Schragen von 1505, 1531) verpflichteten sie, je zwei große und ein kleines Boot zu unterhalten, Schiffen in Not zu Hilfe zu kommen, Piraten zu bekämpfen und Waffen und Mannschaften auf die städtischen Kriegsschiffe zu transportieren. Ihre Löhne richteten sich nach der Art und Menge der Waren und Gegenstände. Sie beschäftigten zudem Hilfsarbeiter, die sie selbst bezahlen mussten. Man schätzt, dass im Durchschnitt ca. 20 Mündriche im Hafen tätig waren. Ihr Ältermann hatte im Übrigen für den Schutz und die Sauberkeit des Hafens zu sorgen. Die Erwähnung der deutschen zur See handelnden Kaufleute, die vom Schwertbrüderorden 1230 nach Reval gerufen wurden, gilt als erster Beleg Die Entwicklung der Unterstadt 

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für die Existenz eines Hafens bei Reval (»alter Hafen«). Dieser befand sich ursprünglich wohl nordöstlich außerhalb der späteren Stadtmauern. Seit Revals Aufnahme in die Hanse 1285 wuchs die Notwendigkeit, den Hafen systematisch auszubauen und in Stand zu halten. In der ersten Hälfte des 14.  Jahrhunderts entstand auf diese Weise der sog. Hanse-Hafen, der wegen der zunehmenden Versandung des alten Hafens etwas weiter von den Stadtmauern entfernt angelegt wurde. Landungsbrücken für immer größere Schiffe, v.a. für die Hansekoggen, mussten gebaut werden. Dass dies ein wichtiges Anliegen der Stadt war, geht aus einer Verlautbarung des Bischofs von Reval, Olaf (Olaus) von Roskilde (1323–1350?) vom 26. Dezember 1336 hervor, der 40 Tage Sündenablass für die Hilfe bei Bau und Unterhalt des Hafens in Aussicht stellte. Diese Maßnahme wurde später so abgewandelt, dass Ablass nur noch diejenigen empfingen, die an religiösen Feiertagen im Hafen arbeiteten. 1372 erhielt der Hafen in der Amtsperiode des Revaler Ältermannes Evehart Calle (Evert Kalle) einen Turm am nördlichen Rand der Landspitze, in der Nähe der Stelle, wo der Stadtgraben ins Meer mündete. Dieser Turm war nach der Interpretation Rein Zobels Teil der Revaler Stadtbefestigung, erfüllte aber auch und vor allem die Funktion eines Wachturms. Ebenfalls als Teil der Schutzvorrichtungen für den Hafen ist wohl das 1529 fertig gestellte Vortor der Großen Strandpforte mit der »Dicken Margarete« zu deuten. Das wichtigste Hafenbauwerk bildete das 1380 erstmals dokumentierte, nach den archäologischen Zeugnissen aber wohl schon in ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene »Bollwerk«, ein – nicht immer wirksamer – Schutzwall gegen Stürme und hohe Wellen, der an der Großen Strandpforte begann und sich ungefähr bis zur heutigen Sadama-Straße erstreckte. Als das Meer sich später zurückzog, füllte man die der Stadt zugewandten Teile des Bollwerks auf und baute dort einen Zugangsweg zu dem ins Meer erweiterten Bollwerk, so dass die Große Strandpforte später als vom Bollwerk abgerückt erschien. Überhaupt war der Rückzug des Meeres ein wichtiges Thema. Küstengebiete, die versandeten oder brackig geworden waren, wurden mit Erde aufgefüllt und bildeten später die Grundlage zur Entstehung der Alten Hafenstraße (Vana Sadam, heute Sadama). Neben dem Bollwerk sind für 1380 auch zwei Schiffswerften belegt. Außer dass sie auf Holzpfeilern errichtet waren, ist über sie allerdings nichts weiter bekannt. Ob dort die im Hansehandel weit verbreiteten Koggen, Barsen und Schuten hergestellt oder nur repariert wurden, bleibt ungewiss. Die erste Dokumentation des Revaler Seehandels stammt aus dem Jahre 1299, als in einer Urkunde der Export von Getreide von estländischen Gü46  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

tern über den Revaler Hafen nach Lübeck erwähnt wurde. Im Jahre 1346 war der Hafen bereits so weit ausgebaut, dass Reval von der Hanse Stapelrechte für Waren aus und nach Novgorod erhielt. Der Handel mit Novgorod war in den folgenden Jahrzehnten die wichtigste Einkommensquelle der Revaler Kaufleute und der Stadt. Im Jahre 1422 berichten die Revaler Ratsprotokolle, dass der Handel mit Novgorod so lebhaft war, dass ganze Schiffsflotten mit Salz Reval ansteuerten. Die Anfänge eines professionellen Hafenbetriebs zeichneten sich erst an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert ab. Das wichtigste Indiz hierfür ist der bereits erwähnte Schragen der Mündriche von 1506, der den Transport zwischen den Handelsschiffen und dem Festland regelte. Bereits seit ca. 1470 setzte der Rat »Tonnen« (Bojen) und andere Seezeichen zur besseren Orientierung der den Hafen anlaufenden Schiffe ein. 1530 organisierte er zudem einen von den Mündrichen auszuführenden Lotsen- und Rettungsdienst und ließ einen steinernen Wachturm errichten. Eine Einrichtung von existentieller Bedeutung war das sog. Aquaedukt. 1345 hatte Valdemar IV. der Unterstadt das Recht verliehen, zur Versorgung der Stadt Wasser aus verschiedenen Flüssen und Bächen auf der Stadtmark zu entnehmen und Mühlen zu bauen. Das Wasser stammte schon damals aus dem Oberen See (Ülemiste), floss ein Stück den Ochsenhaupt-Fluss entlang und mündete in einen rund 4 km langen Kanal, der am Mühlenteich des Ochsenhaupt-Flusses begann, östlich des Tönniesberges entlanglief und schließlich am Mühlenteich der Ziegenpforte (Kitse värav) endete. Von dort wurde das Wasser über die 1346–1349 angelegten Mühlenteiche der Schmiedepforte (Harju värav), Karripforte (auch: Viehpforte, Karja värav) und Lehmpforte (Viru värav) weitergeleitet. Mit Hilfe einer Schleuse konnte überflüssiges Wasser über den regulären Stadtgraben in östlicher Richtung ins Meer abgeleitet werden. Die Mühlenteiche der Stadttore waren durch Palisaden geschützt und bildeten auf diese Weise einen eingefriedeten Bezirk, den die Stadtbevölkerung, darf man den Stadtansichten Adam Olearius’ aus dem 16. Jahrhunderts trauen, auch zum Angeln oder als Pferdetränke nutzte. Bevölkerungzahl und -struktur Die Unterstadt nahm für ihre verhältnismäßig kleine Fläche (an ihrer längsten Nord-Süd-Achse maß die Stadt etwa 1  km, in der Breite weniger als 700 m) eine recht große Zahl an Menschen auf. Es sind aus der Ordenszeit Die Entwicklung der Unterstadt 

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keine Einwohnerzahlen für die gesamte Stadt vorhanden, aber für die Unterstadt existiert eine Schossliste (Liste über Einnahmen aus der Gewerbeund Immobiliensteuer) von 1538, welche rund 800 Personen umfasst, was im Vergleich zu späteren Einwohnerlisten und nach vorsichtiger Einschätzung wohl auf eine Gesamtbevölkerungszahl von etwa 5.000 Einwohnern schließen lässt. Für die Domstadt steht das »Wackenbuch« von 1575 zur Verfügung, mit dessen Hilfe sich etwa 1.000 Personen (zusammen mit Dom, Ordensschloss und anwesenden Vasallen) errechnen lassen. Die Vorstädte werden nach ihrer Größe in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf etwa 700 Bewohner geschätzt, was für die gesamte Stadt Reval zu dieser Zeit eine Bevölkerungszahl von etwa 6.700 Einwohnern ergibt. Schätzungen für die Zeit vor dem 16. Jahrhundert sind noch unsicherer. Eine Schossliste für die Unterstadt von 1372 führt rund 650 Schosspflichtige auf. Wenn man sich die Vereinfachung erlaubt und die spätere Bevölkerungsschätzung für dieses Jahr anteilig herunterrechnet, dann ergäbe dies zusammen mit der Domstadt eine Bevölkerung von knapp 5.000 Einwohnern (die Vorstädte existierten zu dieser Zeit noch nicht). Damit gehörte Reval zu den mittelgroßen europäischen Städten, demographisch weit entfernt von Großstädten mit etwa 40.000 Einwohnern wie Köln, Wien und Prag oder mit 20.000 Einwohnern wie Lübeck, Nürnberg, Bremen oder Danzig. In seiner Bevölkerungszahl vergleichbar war Reval eher mit Städten wie Göttingen, Hildesheim oder Stockholm, wobei die Zahlen durch Konjunktur, Kriege und Seuchen natürlich stark schwanken konnten. Die meisten Revaler Bürger der Ordensperiode waren deutscher Herkunft und stammten, sofern sie nicht in Reval geboren wurden, aus dem Heiligen Römischen Reich. Die Durchgangsstation und gelegentlich auch die Heimatstadt künftiger Revaler Neubürger war während des gesamten Mittelalters Lübeck. Die Fernhandel treibenden Kaufleute bildeten, über die Hansestädte verteilt, ein dichtes soziales Netz, häufig auch durch Verwandtschaft verbunden, sodass es nicht verwunderlich ist, wenn sich Mitglieder ein und derselben Familie in Reval, Lübeck und anderen Hansestädten aufhielten. Eine Untersuchung der in Revaler Bürgernamen des 14.  Jahrhunderts vorkommenden Ortsbezeichnungen ergab, dass sich etwa die Hälfte aller Ortsnamen im rheinisch-westfälischen Raum wiederfinden lassen, die andere Hälfte setzt sich hauptsächlich aus Namen aus dem gesamten norddeutschen Raum zusammen. Ein relativ deutliches soziales Unterscheidungsmerkmal der Revaler Bevölkerung bildete die ethnische Zugehörigkeit. Die erwähnte Schossliste von 1538 ergibt dabei folgendes Bild: Etwa ein Fünftel der schosspflichtigen 48  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Bevölkerung scheint schwedisch gewesen zu sein, die restlichen vier Fünftel jeweils zur Hälfte deutsch und estnisch (»undeutsch«). Von ihrer sozialen Rangordnung her bestand offenbar die gesamte Oberschicht und mehr als die Hälfte der Mittelschicht aus Deutschen. Der Rest der Mittelschicht setzte sich zu etwa einem Viertel aus Schweden und einem Fünftel aus Undeutschen zusammen. Die Unterschicht bestand zu drei Vierteln aus Esten und, von vereinzelten Deutschen abgesehen, aus Schweden. Die soziale Zuordnung richtet sich dabei nach der Höhe der Schosszahlung und nach der Wohnsituation. Eine zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallende ethnische Gruppe bildeten die stadtansässigen Russen (v.a Novgoroder). Sie sind wohl hauptsächlich den Kaufleuten zuzurechnen. Handwerker und andere Berufsgruppen sind nicht bekannt geworden. Sie wurden durch einen Ältesten vertreten und versammelten sich in einer 1371 erstmals erwähnten, dem Heiligen Nikolaus geweihten Kirche in der Nähe der Kleinen Strandpforte (Väike Rannavärav) und der Langstraße an der Stadtmauer, unweit der Olaikirche. Diese wurde vor 1422 in die Mönchstraße verlegt, wo sich auch ein Haus befand, das als Warenlager und Festsaal diente. Die Kirche bestand bis 1825, als sie auf Befehl Alexanders I. (1801–1825) abgerissen und durch einen Neubau ersetzt wurde, der bis heute steht. Finnen, Karelier und Ingrier werden wegen der räumlichen Nähe ihrer Herkunftsgebiete vermutlich auch in der Stadt anzutreffen gewesen sein. Über sie existieren jedoch keine Nachrichten, und sie wären in den Quellen wegen der engen Sprachverwandtschaft und der während des Mittelalters noch nicht ausgeprägten Rechtschreibung wahrscheinlich auch schwer von den Esten zu unterscheiden. Das Revaler Stadtrecht In der Zeit der dänischen Herrschaft wurden die Grundlagen der späteren weitgehenden Autonomie der Unterstadt gelegt. Am 15. Mai 1248 verlieh König Erik IV. Plovpenning der Stadt Reval das lübische Stadtrecht, das die Bürger mit zahlreichen Privilegien versah, eine solide Grundlage für den Seehandel mit den nordeuropäischen Städten bildete und die Entwicklung des Hafens förderte. In der gleichen Urkunde wurde den Einwohnern der Stadt Zollfreiheit innerhalb des Dänischen Reiches gewährt. Da die Urkunde die Ältermänner der Stadt Reval erwähnt, kann davon ausgegangen werden, dass 1248 bereits ein städtischer Rat existierte, der seine Tätigkeit Die Entwicklung der Unterstadt 

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auf der Grundlage bestehender Stadtrechte ausübte. Allerdings beschränkte Erik IV. die Gerichtsbarkeit des städtischen Rates durch einen königlichen Vogt. Das lübische Recht wurde 1865 in das estländische Provinzialrecht eingegliedert. Seine Geltung verlor es endgültig 1877, als das neue russische Kommunalrecht in Reval in Kraft trat. Die Amtssprache blieb allerdings bis 1889 Deutsch. Der dänische König verleiht Reval Privilegien Am 15. Mai 1248 ließ der dänische König Erik IV. Plovpenning das folgende in lateinischer Sprache abgefasste Dokument publizieren: »Erik, von Gottes Gnaden König der Dänen und Slaven und Herzog von Estland, an die Leser dieses Briefes Gottes Gruß voraus. Mit der mir übertragenen Gewalt bestätige ich unseren Bürgern zu Reval die Freiheiten, die ihnen von ihrem Herrn, König Valdemar, gewährt worden sind. Wir garantieren ihnen auch alle Rechte, die die Bürger von Lübeck besitzen. Und da diese, durch Unsere Güte, immer frei von Handelszöllen gewesen, verordne ich, dass niemand sie [die Revaler, R.T.] mit Handelszöllen belasten soll. Wir fügen hinzu, dass, sollte jemand einem anderen innerhalb der Grenzen der Stadt Schaden zufügen, diese Tat gemäß den Forderungen der Ältermänner und Unserer Männer [Vasallen, R.T.] gesühnt werden muss. Um dies zu bekräftigen, erlauben wir, diesen Brief mit Unserem Siegel zu versehen. Ausgefertigt in Vordingborg in den Iden des Jahres unseres Herrn 1248, bezeugt durch Herrn Saxus Agunsun.« Das Original dieses Dokumentes ist verschollen. Der hier deutsch wiedergegebene Text basiert auf einer Kopie in lateinischer Sprache aus dem Jahre 1347. Weiterführende Literatur: von Bunge, Friedrich Georg: Die Quellen des Revaler Stadtrechts, 2 Bde., Dorpat 1844–1846.

Nach der Übertragung des lübischen Rechts auf Reval erfuhr das Stadtrecht unter dänischer Herrschaft mehrere Erweiterungen. Am 13. August 1265 verordnete die dänische Königswitwe Margarete Sambiria im Namen ihres Sohnes Erik Klipping, für den sie als Vormundschaft regierte, dass kein königlicher Vogt mehr gegen den Willen des Rats eingesetzt werden durfte. Am 24./29 Juli 1279 verlieh das Herrscherpaar Reval das alleinige Recht auf den Gewandschnitt in Estland. Am 2. Juli 1284 beschränkte Erik V. Klipping das Recht des Detailhandels auf die Bürger der Stadt. Margarete verbot am 22. Juli desselben Jahres auch den Verkauf von Äckern und Weiden aus der Stadtmark. Am 17. Juni 1297 gestattete König Erik VI. Menved allen Revaler Bürgern in seinem Reich die Bergung ihrer Waren nach erlittenem Schiffbruch, d.h., er setzte das Strandrecht außer Kraft, das es jedem gestattet 50  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

hatte, an Land gespülte Waren an sich zu nehmen, ohne nach dem Besitzer zu fragen. Ferner sicherte er den Bewohnern des Dombergs und der Unterstadt das Holzungsrecht auf den vorgelagerten Inseln Nargen (Naissaar), Wulf (Aegna) und Karlos (Paljassaar) zu und stellte den estländischen und Revaler Getreidehandel unter seinen Schutz. Somit durfte ohne Zustimmung der Stadt kein Ausfuhrverbot verhängt werden. Um 1265 oder 1280 empfahl Königin Margarete dem Rat die Befestigung der Stadt, womit spätestens auch der bauliche Zusammenschluss der Kirchspiele von St. Olai (»Gildestadt«) und St. Nikolai (»Ratsstadt«) begann. Er wurde aber wahrscheinlich erst zwischen 1340 und 1355 vollendet. Kurz vor dem Abschluss des Vertrags, der den Verkauf Dänisch-Estlands an den Deutschen Orden festschrieb, hatte sich die Bürgerstadt 1345 noch einmal ihre Privilegien von Valdemar IV. Atterdag bestätigen lassen. Diese gestatteten Reval neben den bereits genannten Rechten auch das Recht auf die Nutzung von Wasser aus Flüssen und Bächen sowie die Anlage von Mühlen auf dem Gebiet der Revaler Stadtmark. Der livländische Landmeister behielt das Münzrecht, wenngleich die Prägung gegen eine Entschädigung von der Stadt vorgenommen wurde, was erhebliche Gewinne abwarf. Lübisches Recht Stadtrechte haben ihre Wurzeln meist im Gewohnheitsrecht der Kaufleute, in vom Grundherren verliehenen Privilegien und von der jeweiligen Gemeinschaft selbst beschlossenen Regeln (»Willkür«). Innerhalb der Grenzen der Stadt wurde den Bürgern durch das Stadtrecht die persönliche Freiheit, das Eigentumsrecht, die Unversehrtheit an Leib und Leben und eine geregelte wirtschaftliche Tätigkeit garantiert. Das lübische Recht war das Stadtrecht der Reichsstadt Lübeck. Dieses hatte sich aus dem der Stadt von Heinrich dem Löwen verliehenen Soester Stadtrecht, aber auch aus Rechtsvorstellungen des Westfälischen und Holsteiner Landrechts und den im Ostseeraum vorgefundenen Grundregeln des Seerechts der Wikinger und der Gotländischen Genossenschaft in Visby entwickelt. Es war das einzige deutsche Stadtrecht, das sich später der Romanisierung widersetzte und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts seinen deutschrechtlichen Ursprung bewahrte. Eine frühe Zusammenfassung als Kodex erfolgte 1294 auf Veranlassung des Lübecker Kanzlers Albert von Bardewik im Jahr 1294. Es wurde 1586 revidiert und von Johann Balhorn als Der Kayserlichen Freyen und des Heiligen Reichs Stadt Lübeck Statuta und Stadtrecht erstmals in hochdeutsch gedruckt. In seinem verfassungsrechtlichen Gehalt wurde es von Lübeck nur einmal durch den sog. Kassarezess modifiziert. Es galt in großen Teilen seines Verbreitungsgebiets bis um 1900, als es vom Bürgerlichen Gesetzbuch abgelöst wurde. Gegen Entscheidungen von Städten mit lübischem Recht konnte an den Oberhof Lübeck ap-

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pelliert werden. Das lübische Recht ist neben dem Magdeburger Recht eines der bedeutendsten Stadtrechte Deutschlands und fand in den meisten Hansestädten des Ostseeraums Anwendung. Weiterführende Literatur: Ebel, Wilhelm: Lübisches Recht, Bd. 1, Lübeck 1971.

Der städtische Rat Das Stadtrecht sah einen Stadtrat vor, der für Revals Justiz und Verwaltung verantwortlich zeichnete. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts vermitteln die Quellen jedoch ein recht unscharfes Bild von dessen Zusammensetzung und Tätigkeit. Deutlich wird allenfalls, dass eine gewisse Arbeitsteilung hinsichtlich der administrativen Aufgaben vorlag. Dabei zeichnen sich drei Hauptzweige der Verwaltung, nämlich Finanzen, Liegenschaften und Militär, ab. So wählten die Ratsherren aus ihren Reihen sog. Schossherren, die die Steuern einzogen und die Buchhaltung besorgten. Akzise- oder Bierherren verwahrten die für Wein und Bier eingehenden Akzisegelder. Mühlenherren kontrollierten die Stadtmühlen und deren Einkünfte. Wetteherren waren für die Erhebung und Verwahrung von Strafgeldern zuständig. Bauherren verwalteten zum Besitz der Stadt gehörige Gebäude. Wall- und Büchsenherren geboten über die städtischen Befestigungsanlagen und Feuerwaffen. Die justiziellen Funktionen des Rates lassen sich ebenfalls spezifizieren. In Kriminalsachen diente der Rat als höchste Instanz der Stadt. In Zivilsachen konnten die Angeklagten gegen Urteile des Rates hingegen Berufung einlegen und an den hansischen Oberhof in Lübeck appellieren. Der Revaler Rat war seinerseits Appellationsgericht für die Ratsgerichte der Hansestädte Narva und Wesenberg (estn. Rakvere). Außerdem diente er als Obergericht für den Revaler Gerichtsvogt, der zusammen mit dem Untervogt in geringeren Zivil- und Kriminalsachen urteilte. Aus der Instanz der Revaler Gerichtsvögte entwickelte sich vor 1550 das sog. Niedergericht, das neben den beiden Gerichtsvögten seither auch einen eigenen Sekretär beschäftigte. Das Niedergericht führte Urteile des Rates aus, diente als Instanz der gerichtlichen Voruntersuchung und nahm Polizeifunktionen wahr, wobei es auf die Stadtknechte als Exekutivorgane zurückgreifen konnte. Interne Untersuchungen oblagen dem sog. Herrenvogt, dessen Aufgabe es war, Streitigkeiten zwischen den Ratsherren zu schlichten. Mitte des 15. Jahrhunderts setzte eine Verfestigung der Ratsstrukturen ein, die die Jahrhunderte bis zur Reform der Stadtverfassung 1877 überdau52  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

ern sollte. Der jährliche Wechsel der Zusammensetzung des Rates hörte auf. Außerdem tauchen in den Quellen nun regelmäßig vier Bürgermeister und 14 Ratsherren auf, die regelmäßig im Rathaus am Großen Markt, manchmal auch in der Heiliggeistkirche (= Ratskirche), tagten. Am Großen Markt im vorderen Teil des Stadthauses war die Ratskanzlei (»Schrieverie«) untergebracht, die einem Stadtschreiber oder Sekretär, meist ein Geistlicher, unterstand. 1550 führte der Rat das Amt eines rechtsgelehrten Syndicus ein. Die soziale Zusammensetzung des Rates wandelte sich in dieser Zeit ebenfalls. Während bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts ritterbürtige Herren, vornehmlich aus Westphalen, den Rat dominierten, ergänzte dieser sich danach mehr und mehr aus angesehenen Mitgliedern der Großen Gilde (s.u.). Zu den zentralen Befugnissen des Rates gehörte das Recht, Verordnungen (»Willküren«) zu erlassen, Steuern zu erheben und die allgemeine Politik der Stadt zu bestimmen. Doch war er dabei zumeist an die Zustimmung der Stadtgemeinde gebunden, die aus den drei städtischen Gilden, der Großen Gilde, der Kanuti- und der Olaigilde, bestand. Der Rat, die Große Gilde und die beiden kleinen Gilden bildeten die drei Stände der Revaler Unterstadt. Jenseits von Rat und Stadtgemeinde existierte keine Instanz der politischen Willensbildung. Der livländische Ordensmeister besaß zwar ein nominelles Recht, Zwistigkeiten zwischen Rat und Gilden zu schlichten, mischte sich aber meist nicht ein, um eine Durchsetzung der eigenen Interessen an der Stadt (Heeresfolge, Finanzierungen) nicht zu gefährden. Gleichzeitig vermieden Rat und Gilden ihrerseits jeden Streit, um Interventionen des Ordensmeisters nicht zu provozieren. Zudem waren viele Rats- und Gildenmitglieder verwandtschaftlich miteinander verbunden. Nach außen hin vertrat der Rat die Interessen der Stadt als Ganzes. Er entsandte Vertreter (»Sendeboten«) zu den Hansetagen, den livländischen Städtetagen (des livländischen »Drittels«, später »Viertels« und »Sechstels« der Hansestädte) und livländischen Landtagen, verhandelte aber auch mit auswärtigen Potentaten. Um seinen Forderungen und Wünschen Gewicht zu verleihen, aber auch um die Stadt zu verteidigen, unterhielt die Stadt eine Stadtmiliz, die unter dem Oberbefehl des Rates stand. Sie setzte sich üblicherweise aus Reiterei und Infanterie zusammen. Die Reiterei bestand hauptsächlich aus den Mitgliedern des Rates, der Großen Gilde und der Schwarzenhäupterbruderschaft (s.u.). Die Infanterie stellten die Mitglieder der beiden kleinen Gilden. Um ihren militärischen Verpflichtungen gerecht zu werden, sollten die Kaufleute, Krämer und Handwerkermeister Harnisch, Armbrust und 100 Pfeile besitzen. Die, ärmeren, Mitglieder der sog. kleinen Ämter (s.u.) waren mit Spießen ausgerüstet. Musste die Stadt dem livländischen Ordensmeister Die Entwicklung der Unterstadt 

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Heeresfolge leisten, stellte sie diesem seit der Mitte des 15. Jahrhunderts Söldnerkontingente zur Verfügung, die unter dem Befehl städtischer Hauptleute standen, die ihrerseits dem Oberbefehl des Ordens zu gehorchen hatten. Ratsherren begleiteten ihre Söldner als Intendanten, aber auch als Befehlshaber der Revaler Kriegsschiffe, die als militärische Eskorte die Revaler Handelsschiffe schützten. Die Stadt unterhielt ein Rüsthaus (»Münsterei«) und einen Marstall, beide in der Ritterstraße (Rüütli), die von den Wall- und Büchsenherren bzw. vom städtischen Marschall und seinen Stallknechten beaufsichtigt wurden. Ein »Stadt-Armborster« verwaltete zudem die Wurfmaschinen und großen Armbrüste, mit denen sich die Stadt während der Belagerungen verteidigte. Als um 1500 mehr und mehr Geschütze aufkamen, stellte die Stadt einen Büchsengießer (»bussenschutte«, »bussengeter«) an, der für das Gießen der Geschütze und die Pulverproduktion verantwortlich zeichnete. Die Finanzen wurden in der späteren Ratsperiode von zwei Kämmerern verwaltet, die die früher auf verschiedene Ressorts verteilten Schoss-, Akzise-, Mühlen- und Strafgelder einzogen. Auch die Gebühren aus der städtischen Wage am Großen Markt flossen in die städtische Kammer. Die in der Nikolaistraße belegene Stadtmünze unter dem vom Rat bestellten Münzmeister ging auf ein Privileg der dänischen Könige zurück und verhalf der Stadt zu einer strategisch wichtigen Stellung im Finanzsystem des Hanseraums. In Reval wurden hauptsächlich lübische Pfennige, Artiger (= 1 Pfennig oder ¼ Schilling) und Schillinge, zwischen 1561 und 1570 auch Silbermünzen im Wert einer Viertelmark (»Ferdinge«, s. Textabb. 6), geprägt. Das zur Prägung erforderliche Silber kaufte der Rat gewöhnlich vom livländischen Ordensmeister.

6  Revaler Ferding, 1528

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Auch die Gefängnisse der Revaler Unterstadt fielen in die Zuständigkeit des Rates. Für Voruntersuchungen standen die Büttelei oder das Untergeschoss des Rathauses zur Verfügung, wo sich auch eine Folterkammer befand. Gewöhnliche Verbrecher sperrte man in einen Turm auf dem Grundstück des Marstalls in der Ritterstraße oder ebenfalls in die Büttelei. Schwerverbrecher kamen in den Bremerturm (»Gefangenthurm«) oder in die »Dicke Margarete« an der östlichen Stadtmauer. Verurteilte Prostituierte wurden in den Jungfrauenturm geworfen. Die seit 1284 zum Stadtrecht gehörende städtische Kirchenhoheit (iura spiritualia) berechtigten den Rat zur Aufsicht über das Kirchenvermögen, die Besetzung der Pfarrstellen und den Kirchendienst, aber auch das mit den Pfarrkirchen verbundene Schul- und Fürsorgewesen. Allerdings kam dem Bischof von Reval als kirchlichem Oberherrn in der Hierarchie des Erzbistums Lund ein nominelles Visitationsrecht zu. Ein städtisches Schulwesen existierte in der mittelalterlichen Unterstadt bis ins 15. Jahrhundert nur in dem Sinne, dass die Bürgersöhne berechtigt waren, die in der Oberstadt belegene, 1319 erstmals erwähnte und dem Revaler Domkapitel unterstehende Domschule zu besuchen, in der das klassische mittelalterliche Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Mathematik, Geometrie, Musik, Astronomie) gelehrt wurden. Das Domkapitel war sehr darauf bedacht, sein von den dänischen Königen erhaltenes Bildungsmonopol in der Gesamtstadt zu verteidigen. So entspann sich beispielsweise 1365 ein Zwist zwischen dem Revaler Bischof und dem Dominikanerkloster wegen der dominikanischen Klosterschule, der von einer Schiedskommission unter Papst Urban V. (1362–1370) gelöst werden musste. Künftig, so ließ die Kommission verlauten, hätten die Dominikaner ihre Schüler der Domschule zu übergeben. Dass die Klosterbrüder dieser Forderung gar nicht oder zumindest nicht kontinuierlich nachkamen, geht daraus hervor, dass die römische Kurie 1424 ein erneutes Verbot aussprechen musste. Ein anderer Fall hatte sich wenige Jahre zuvor ereignet, als 1413 ein nicht weiter bekannter Franciscus Witchennow eine deutsche Schreib- und Leseschule in Reval gründen wollte. Auch diese Initiative wurde vom Revaler Domkapitel unterdrückt. Andererseits unterstützte Papst Martin V. (1417– 1431) 1424 einen Antrag des Revaler Rates zur Einrichtung einer Stadtknabenschule (Lateinschule) an der Olaikirche, in der neben Latein – geht man vom hansestädtischen Standard aus – wohl vor allem Lesen, Schreiben, Rechnen und Kirchengesang unterrichtet wurden. Eine zweite Lateinschule entstand erst 1525 – unter reformatorischen Vorzeichen und auf Betreiben des Pastors der Nikolaikirche, Johann(es) Lange. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Das in der Obhut des Rates befindliche städtische Fürsorgewesen war wie die Schulen eng mit den Revaler Stadtkirchen verbunden. Während der Rat für Gelder und Personal der Fürsorgeeinrichtungen aufkam, fand die eigentliche Fürsorge in den Hospitälern statt, die zugleich als Kranken- und Armenhäuser, Altersheim und Waisenanstalt dienten. Die älteste Einrichtung dieser Art war das 1237 erstmals dokumentierte Johannis-Hospital, das südöstlich außerhalb der Stadtmauern lag und zunächst als »Haus für Leprakranke« (domus leprosorum) diente, nach dem Verschwinden des Aussatzes im 17. Jahrhundert aber als Siechenhaus (zeken) weitergeführt führte. Es ist nach allem, was bekannt ist, durch Almosen finanziert und anfangs aus Holz erbaut worden. Bereits 1370 jedoch war in einer Urkunde von einem Steinbau die Rede. 1316 wird erstmals die zur Olaikirche gehörige Heiliggeist-Kapelle erwähnt, die ursprünglich als Kapelle des Heiligengeist-Armenhospitals und als Ratskapelle fungierte, aber schon früh den Rang einer eigenständigen Kirche erlangte. Zu ihr gehörte ein seit 1353 dokumentiertes Gebäude, in dem der Revaler Ratsherr Johann von Herford 1389 ein nach römischem Muster erbautes Heiliggeist-Hospital für Alte und Kranke eröffnete, das seine Tätigkeit jedoch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einstellte. Ebenfalls vor den Stadtmauern, am Hafen, wurde zwischen 1438 und 1450 die Gertrudenkapelle errichtet, in der die Gertrudengilde sich der Pflege kranker Schiffer (Kapitäne), aber auch anderer Kranker widmete. 1487 entstand vor der Systernpforte ein weiteres Siechenhaus, das im 16. Jahrhundert in Abgrenzung zu einem 1526 erbauten neuen Siechenhaus in der Nähe der Schmiedepforte (Harju värav) seit 1506 als »Altes Siechen« (Olden Seken) bezeichnet wurde. Im Süden der Stadt, in der Schmiedegasse (Harju tänav), befand sich seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts das sog. »Rote Kloster« (Rode Kloster; Bordell), das 1522 an die St. Rochus-Bruderschaft verkauft wurde, die darin eine dem Patron der Kranken- und Siechenhäuser, St. Rochus, geweihte Siechenanstalt einrichtete. Das Rochus-Siechenhaus ist wahrscheinlich den Zerstörungen des Livländischen Krieges zum Opfer gefallen. Jedenfalls stand es zusammen mit einigen angrenzenden Häusern bis 1649 in Ruinen, als es einem Gerber namens Hans Perdekamp zur Nutzung überlassen wurde. Fast gar nichts ist über die Arbeit der St. Antonius-Brüderschaft bekannt, die wahrscheinlich die Antoniuskapelle auf dem Antonisberg nutzte, um Pockenkranke zu pflegen. Allein die Zahl der Hospitäler verweist darauf, dass die Versorgung der Armen, Kranken, Waisen und Alten einen hohen Stellenwert in der Stadt einnahm und gleichzeitig eines der zentralen Probleme der Stadt überhaupt war. 56  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Die Pflege der Kranken stand schon früh unter der Aufsicht städtischer Ärzte. Zwischen 1333 und 1348 wird erstmals ein Arzt namens Conradus medicus senior und ab 1463 ein doctor medicus Johann Molner erwähnt. Seit 1537 taucht der Titel eines Stadtphysicus auf. Seit 1424 sind auch des Öfteren städtische Wundärzte (Chirurgen) dokumentiert. Ärzte und Wundärzte kamen vor allem bei schwereren Verletzungen und Krankheiten zum Einsatz. Häufig waren Lepra (dokumentiert 13.–17. Jh.) und Syphillis (seit dem 15. Jh.). Die Pest gehörte bis ins 18. Jahrhundert zu den ständigen Begleitern des städtischen Lebens. Während der Pestepidemien ernannte der Rat spezielle Pestdoktoren, die, mit einem langen Kapuzenmantel und Schnabelmaske ausgerüstet, die Pestbeulen zu öffnen und zu versorgen hatten. Kleinere Verletzungen und Beschwerden behandelten die Aderlasser, Barbiere und Bader. Sie schröpften, ließen zur Ader, kliestierten, versorgten nasse Wunden, behandelten Hautkrankheiten und stellten Salben, Tabletten und Pflaster her. Die Barbiere bildeten seit dem 15. Jahrhundert eine eigene Zunft. Geburtshilfe leisteten zahlreiche Hebammen, die seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert sind. Unter ihnen befanden sich auch immer wieder Estinnen. Wer sich eine Behandlung beim Stadtphysicus, Chirurgen, Aderlasser, Barbier oder Bader nicht leisten konnte oder wollte, griff auf die periodisch auftauchenden Wander- und Wunderärzte (»Quacksalber«) zurück. Sie heilten vorgeblich Knochenbrüche, Hühneraugen, die Syphilis oder Hämorrhoiden, operierten Blasensteine oder zogen Zähne. – Und sie wurden von den Stadtärzten in der Regel erbittert bekämpft – nicht nur, weil sie eine Konkurrenz darstellten, sondern auch, weil sie oft mehr Schaden anrichteten als Krankheiten heilten. Zu solchen Schadensstiftern zählten die Ärzte meist auch die Scharfrichter, die sich durch ihr Handwerk jedoch ein oft recht solides Wissen der menschlichen Anatomie aneignen konnten. Mancher von ihnen fand sich in ihr vielleicht besser zurecht als einer der professionellen Heiler. Viele Scharfrichter dürften sich auch als Ross- oder allgemeine Tierärzte betätigt haben. Da Scharfrichter die Produkte der von ihnen betriebenen Abdeckerei selbst verwerten durften, verfügten sie über Hundefett, das sie zur Salbung entzündeter Gelenke bei Mensch und Pferd einsetzten. Die Herstellung und der Verkauf heiligmagischer Substanzen, die aus den Körpern von Hingerichteten gewonnen wurden, sicherte den Scharfrichtern ein zusätzliches Einkommen. So verkauften sie beispielsweise »Armesünderfett« (Menschenfett) oder Totenhände. Ob diese in den europäischen Städten recht verbreiteten Praktiken allerdings in Reval Anwendung fanden, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Eine seriösere Variante des Heilmittelverkaufs bot die 1422 erstmals urkundlich erwähnte, aber wohl ältere Ratsapotheke (estn. Raeapteek), die schon im Mittelalter gegenüber dem Rathaus (an ihrem heutigen Platz) lag und sich lange Zeit im Besitz des Rates befand, bis dieser sie im 16. Jahrhundert verpachte. Der Apotheker galt als angesehener Bürger und war von Steuern und anderen Abgaben befreit. War Not am Mann, vertrat er auch schon mal den Arzt oder die Barbiere. Das Apothekensortiment umfasste im Mittelalter mehr als man sich heutzutage vorzustellen vermag. Es bestand zu einem sehr hohen Anteil aus Heilkräutern, die der Apotheker in seinem eigenen Kräutergarten vor der Schmiedepforte zog. Man konnte aber auch Wachs, Papier und Tinte, Kerzen, Schießpulver, Stoffe, Wein, Aquavit, Kräuter und Konfekt, ab dem 16. Jahrhundert auch Tabak und Pfeifen bekommen. Beliebte Produkte waren Morsellen (süßer Gewürzkuchen) und der berühmte Clarett – eine Art Kräuterliqueur, der sich nach einem Rezept im Revaler Kämmereibuch aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus Rheinwein, Zucker, Zimt, Ingwer, Galigan, Gewürznelken, Muskat und Safran zusammensetzte. Arzneimittel der eher dubiosen Art bestanden aus zermahlenen Edelsteinen, Organen von Menschen und Tieren, Pulver aus Eichhörnchenhorn, Maiglöckchenschnaps oder Bernsteinöl. Eine hartnäckige Konkurrenz boten die Kräuterbuden auf den Revaler Marktplätzen. Denn dort wurden nicht nur Kräuter, sondern auch verschiedene giftige Substanzen und Heilsubstanzen aus dem Arsenal der weißen und schwarzen Magie verkauft. Dem Revaler Rat, der den Verkauf solcher Produkte Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte lang bekämpfte, war dagegen offenbar machtlos. Waren die Kräuterkrämer an einer Stelle vertrieben, tauchten sie an einer anderen wieder auf. Die starke Nachfrage der städtischen Bevölkerung dürfte ein zusätzlicher Grund dafür gewesen sein, dass dieser Geschäftszweig während des Mittelalters und der frühen Neuzeit nie ganz aus den Revaler Stadtmauern verschwand. Gilden und Zünfte Das berufliche und soziale Leben der Stadt wurde neben Verwandtschaft oder Nachbarschaft und städtischem Rat zu einem wesentlichen Teil durch die Berufskorporationen, die Gilden und Zünfte, bestimmt. Dabei schuf die Geselligkeit innerhalb dieser Genossenschaften eine halb berufliche, halb private Sphäre, die Vertrauen herstellen und auf diese Weise Geschäfte erleichtern, aber auch die soziale Sicherheit der Kaufmanns- und Handwer58  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

kerfamilien gewährleisten sollte. In den Gilden und Zünfte wurden Beerdigungen und Hochzeiten gemeinsam begangen, man veranstaltete Festmahle, Trinkgelage (»Drunken«) und Tanzfeste, legte Regeln für gutes Benehmen fest (bei Verstoß gingen genau angegebene Geldstrafen in die Gildenkasse) und half sich gegenseitig in Unglücksfällen. Darüber hinaus unterhielten die Gilden eigene Altäre in den Stadtkirchen und spezielle Kassen zur Versorgung der Witwen, Waisen, Alten und Armen. Die vornehmste Gilde war die Kinder- oder Große Gilde. In ihr waren die reichen und angesehenen Kaufleute der Stadt organisiert. Der Begriff »Kinder« (vgl. engl. kin) ist elliptisch zu verstehen und stand für »Kinder (= Mitglieder, Brüder) der Kaufmannschaft«. Sie nahm zu Mitgliedern nur Revaler Kaufleute an, die ein eigenes Haus in der Stadt besaßen und verheiratet waren. Auch die Ehefrauen und Witwen der Gildenbrüder galten als »Kinder« der Gilde, wenn auch ohne Mitbestimmungsrechte. Fremde konnten nur dann in die Korporation eintreten, wenn sie sich endgültig in der Stadt niedergelassen hatten und die Witwe eines ehemaligen Mitglieds der Großen Gilde heirateten. In der frühen Zeit stammten viele Mitglieder offenbar aus dem westfälischen Ritteradel und aus der Lübecker »Zirkelgesellschaft« (ritterbürtige Kaufleute). Nach und nach wurde jedoch der materielle Reichtum der Mitglieder zum entscheidenden Aufnahmekriterium. Erst als 1528 auch die Krämer zugelassen wurden, kam es zu einer Aufweichung der strikten Mitgliedskriterien. Aus den Reihen der Großen Gilde stammten zahlreiche Revaler Bürgermeister und Ratsherren. Auch sonst waren Große Gilde und Rat eng mit einander verflochten. Nicht zufällig waren das Gildenwappen und das kleine Revaler Stadtwappen identisch: Sie zeigten beide ein weißes Kreuz auf rotem Grund. An der Spitze der Großen Gilde stand ein vom Rat bestätigter, auf drei Jahre gewählter Ältermann mit zwei auf zwei Jahre gewählten Beisitzern. Üblicherweise vergingen 10 bis 20 Jahre, bis man Ältermann wurde. Die Ältermänner vertraten die Gilde nach außen, sorgten für die Einhaltung der Gildenstatuten (»Schragen«), saßen den Gildenversammlungen vor und traten als Wortführer der gesamten Stadtgemeinde gegenüber dem Rat auf. Nach Ablauf ihrer Amtszeit setzten sich die Ältermänner in den »Ort« (Ältestenbank) und bildeten dort ein Gildengremium, das sich auch aus den Reihen der jüngeren Mitglieder der Gilde, der sog. Jüngstenbank, ergänzte. Die Ältestenbank diente als Aufsichtsorgan, befand über Streit- und Prüfsachen der Großen Gilde und verhängte Strafen gegenüber Gildenmitgliedern, die die Schragenregeln verletzt hatten. Mitglieder der Ältestenbank genossen ein privilegiertes Wahlrecht. Die Jüngstenbank hingegen besaß nur Die Entwicklung der Unterstadt 

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ein Vetorecht gegen Entscheidungen innerhalb der Gilde. Schwerwiegende Beschlüsse fassten jedoch Ältesten- und Jüngstenbank gemeinsam, allerdings nach korporativ getrennten Abstimmungen. Über diese Ämter und Gremien hinaus wählten die Mitglieder der Großen Gilde aus ihren Reihen zahlreiche Beauftragte für unterschiedliche Aufgaben und Aktivitäten der Gilde, darunter solche für die Instandhaltung des Gildenhauses, für die Gildenfeste oder Delegierte für verschiedene städtische Kommissionen. Das ursprüngliche Gildenhaus, 1370 erstmals erwähnt, lag an der Gabelung von Lang- und Heiliggeiststraße (Pühavaimu) am heutigen Platz der Großen Gilde (Suurgildi plats). 1406 bis 1410 wurde auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein neues, größeres Gebäude errichtet. Seitengebäude entstanden in der Lang- und in der Breitstraße sowie im Börsengang (Börsi käik), der die beiden Straßen mit einander verband. So befand sich im Torhaus des Gildenhauses in der Langstraße eine Steuer- und Silberkammer. Eine »Brautkammer« und Dienstbotenquartiere lagen an der Breitstraße. Die Hauskirche der Großen Gilde war die Nikolaikirche, wo sie zwei Altäre, den Nothelfern St. Blasius und St. Christophorus gewidmet, unterhielten. Breiten Raum im Leben der Großen Gilde nahm die Versorgung der Mitglieder und ihrer Familien ein. 1363 entstand die sog. Tafelgilde, die ihren Namen von der in der Heiliggeistkirche aufgestellten Tafel zur Speisung der Armen ableitete. Ihr präsidierte ein Vormund, der mehrere Gehilfen (»Schaffer«) beschäftigte. Mitglied der Tafelgilde konnte nur werden, wer gleichzeitig Mitglied der Großen Gilde war. Hilfe erhielt jedoch jeder, der sie benötigte, waren es Mitglieder der Gilde oder Fremde. Die beiden sog. »kleinen Gilden«, die Kanutigilde und die Olaigilde, setzte sich aus den Meistern der Kaufmanns- und Handwerkerzünfte (»Ämter«) zusammen. Die 1326 erstmals erwähnte, aber wohl weit ältere Kanutigilde nahm kleinere Kaufleute und Krämer, Schiffskapitäne und die vornehmeren Handwerker auf. 1464 hatte sie rund 100 Mitglieder, verlor aber durch eine Pestepidemie in diesem Jahr fast die Hälfte ihrer Gildenbrüder. Auch spätere Epidemien führten immer wieder zu Mitgliederverlusten. In der Olaigilde waren die Meister der geringeren Zünfte (z.B. Fuhrmänner, Mündriche, Träger), darunter auch einige »Undeutsche« (Esten), zusammengefasst. Ihre innere Organisation glich derjenigen der Großen Gilde. Allerdings wurden sie auf den Versammlungen der Gemeinde durch die Ältestenbank vertreten; bisweilen erschienen die Mitglieder aber auch vollzählig. Die Kanutigilde besaß eine Tafelgilde nach Muster der Großen Gilde. Zwei dem Heiligen Knud geweihte Altäre in der Nikolai- und Olaikirche (1449 60  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

erstmals erwähnt) dienten als Ort der Fürbitte und Segnung. Für das Abhalten von Messen zu Ehren St. Knuds bezahlte die Kanutigilde regelmäßig einen bestimmten Geldbetrag. Kanuti- und Olaigilden im mittelalterlichen Nordeuropa Bei den Kanutigilden handelte es sich um Kaufmannsgenossenschaften, die zuerst während des 13. Jahrhunderts in Schleswig entstanden und Handel im gesamten Ostseeraum, besonders aber mit Gotland und Novgorod, betrieben. Während des Mittelalters existierten Kanutigilden vor allem im heutigen Dänemark, Süd- und östlichen Mittelschweden sowie auf Gotland, den Ǻland-Inseln und in Reval. Ihr Name geht auf einen Heiligen namens Knud zurück, der der Gilde als Patron diente. Ob damit der dänische Wikingerkönig Knud IV. (der Heilige, 1080–1086) oder der dänische Herzog und »König« der sächsischobotritischen Provinz und 1169 heilig gesprochene Knud Lavard gemeint ist, ist bis heute nicht eindeutig zu entscheiden. Die Kanutigilden standen unter dem Schutz der dänischen Könige, die selber Mitglieder der Gilden waren. 1177 verlieh der Sohn Knud Lavards, Valdemar I. (1157–1182), der nach Visby fahrenden Kanutigilde Privilegien, die zur Stärkung ihrer Handelsposition gegenüber den deutschen Gotlandfahrern beitragen sollte. Auch Knud VI. (1182–1202) unterstützte die inzwischen an mehreren Orten ansässigen Kanutigilden. Der Eroberer von Lyndanisse, Valdemar II. Sejr (1202–1241), hatte an den Kanutigilden hingegen wenig Interesse. Erst unter Erik IV. Plovpenning (1232–1250) förderte die Krone diese wieder stärker. Die Kanutigilden nahmen nicht nur Kaufleute auf, sondern auch Handwerker und Bauern, und zwar außer Dänen auch Friesen und Deutsche. Daraus lässt sich schließen, dass bis zu dieser Zeit das Bedürfnis der deutschen Kaufleute nach einer eigenen Korporation möglicherweise gering ausgeprägt war, da sie sich den skandinavischen Gilden, besonders den Kanutigilden, anschließen konnten. In Reval jedenfalls finden sich skandinavische und deutsche Mitglieder der Kanutigilde. Durch die Hanse erhielten die Kanutigilden seit dem 13. Jahrhundert erhebliche Konkurrenz. In mehreren Handelsstädten ging deshalb der Anteil der kaufmännischen Mitglieder der Kanutigilden stark zurück, und die Gilden verwandelten sich in von Handwerkern dominierte Genossenschaften. Während die Kanutigilden nach der Reformation wegen der gegen den Heiligenkult eingestellten reformierten Theologie allgemein weiter an Bedeutung verloren, konnte sich die Revaler Kanutigilde bis 1918 halten (während der deutschen Besatzung 1918/19 und während des Zweiten Weltkriegs nahm sie ihre Tätigkeit für einige Monate erneut auf ). In Dänemark und Skåne (Schweden) bestehen Kanutigilden in einer wiederbelebten Form bis auf den heutigen Tag. Als religiöse Stützpunkte dienten die im ganzen Ostseeraum verbreiteten KanutiKirchen und -Altäre. Über die Olaigilden ist aufgrund der schwachen Quellengrundlage nur wenig bekannt. Klar scheint, dass es sich ebenfalls um Kaufmannsgenossenschaften

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handelte, deren Tätigkeitsfeld im Nord- und Ostseeraum lag. Ihr Namenspatron war der norwegische König Olav II. (1015–1028), der unmittelbar nach seinem Tod Heiligenstatus erhielt und dem zahlreiche Kirchen, Legenden und bildliche Darstellungen im Ostseeraum gewidmet waren. Handelsorte im Ostseeraum, die Olavskirchen besaßen, dürften von der Olaigilde als religiöse und merkantile Stützpunkte genutzt worden sein, darunter im Ostseeraum außer Reval Novgorod, Viborg, Danzig und Helsingør, aber auch Handelsorte im Nordseegebiet wie Nidaros (Trondheim) und Avaldsnes, beide in Norwegen. Weiterführende Literatur: Anz, Christoph: Gilden im mittelalterlichen Skandinavien, Göttingen 1988.

Die unverheirateten Revaler Kaufgesellen und Kaufleute waren in der Gilde der Schwarzenhäupter (Swarte hovede) organisiert. Möglicherweise ist die Schwarzenhäupterbruderschaft bereits während der Eroberung und Christianisierung Livlands im 13. Jahrhundert entstanden. Vom 14. bis 16. Jahrhundert existieren Hinweise auf Schwarzenhäupter, die als Wachmänner und »Stallbrüder« in den Ordens- und Bischofsburgen Dienst taten. Ob diese jedoch mit der Schwarzhäupterbruderschaft gleich zu setzen sind, bleibt ungewiss. Erst das frühe 15. Jahrhundert liefert eindeutige Belege für die Existenz von Schwarzenhäupterkorporationen in mehreren Städten Livlands, darunter in Reval, Riga und Dorpat. Im übrigen Ostseeraum und darüber hinaus blieben sie weitgehend unbekannt. Schutzheilige der Schwarzenhäupter waren die Jungfrau Maria, der Patron der Böttcher, Sattler, Schmiede und Schlachter, St. Georg ( Jürgen, estn. Jüri), und der Patron der Waffenschmiede und Handwerker, St. Mauritius. Auf Mauritius, der der Überlieferung nach eine dunkle Hautfarbe hatte, geht wohl auch der Name der Bruderschaft zurück. Zudem war Mauritius der Schutzheilige des Deutschen Ordens und der wichtigsten Missionsposten für den Ostseeraum, der Erzbistümer Bremen und Magdeburg, sowie der Dominikaner, zu denen die Schwarzenhäupter in Reval und in anderen Städten enge Beziehungen pflegten. Die erfolgreichsten Mitglieder führte ihre Karriere in den Rat der Stadt. Andere fanden, sobald sie verheiratet waren, Aufnahme in der Großen Gilde. Besondere Beziehungen unterhielten die Schwarzenhäupter, im Jahre 1400 durch einen Vertrag besiegelt, zu den Dominikanern. Diese Beziehungen hatten vor allem mit der Kirche des Revaler Dominikanerklosters, St. Katharinen, zu tun, wo die Schwarzenhäupter zusammen mit der Großen Gilde eine Altarkapelle besaßen und die Mönche mit regelmäßigen Spenden bedachten. Die Dominikaner hielten ihrerseits Messen und sprachen Gebete 62  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

für das Seelenheil kranker, in Not geratener oder verstorbener Gildenbrüder. Man kann also davon ausgehen, dass es sich bei den beiderseitigen Beziehungen um eines der für das Mittelalter so typischen Treuebündnisse auf Gegenseitigkeit handelte. Der erste Schragen (Statuten) der Schwarzenhäupter aus dem Jahr 1407 war recht knapp gehalten und regelte nur die Strafen für Vergehen und unwürdiges Betragen der Brüder. Mitte des 15. Jahrhunderts bildete sich eine festere Struktur der Bruderschaft heraus. Den Vorstand bildeten Älteste. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts ist das Amt der »Erkorenen Ältesten« bekannt. Wie bei der Großen und den kleinen Gilden existierte auch bei den Schwarzenhäuptern eine Ältesten- und Jüngstenbank. Zur Bewirtung während der Drunken waren Schaffer abgestellt. Die Verbindungen zu den Dominikanern wurden von sog. »Altarvorstehern« gepflegt. Die Teilnahme der Brüder an den gemeinsamen Veranstaltungen ist in sog. Brüderbüchern verzeichnet, die heute auch als uneigentliche Mitgliederverzeichnisse gelesen werden können. Die ersten Treffen der Schwarzenhäupter fanden offenbar in angemieteten Räumen in der Langstraße statt. Ab 1531 residierte die Bruderschaft ebenfalls in der Langstraße, allerdings seit Ende des 16. Jahrhunderts in einem Gebäude, dessen Renaissancefassade noch heute bestaunt werden kann. Später kamen benachbarte Häuser und Grundstücke als Liegenschaften hinzu. Das Schwarzenhäupterhaus diente darüber hinaus als Gästehaus für Hansekaufleute und -gesellen. Die Zünfte, die auch Ämter, Werke oder Kompanien genannt wurden, sind durch ihre Schragen (Statuten) erst seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert. Viele dürften jedoch bis auf die Anfänge der Unterstadt zurückgehen. Bei allen Unterschieden im Einzelnen offenbart eine vergleichende Analyse der Schragen einige gemeinsame Züge. Sie entsprachen in vielen Aspekten dem, was aus den mitteleuropäischen Zünften bekannt ist. So lebten Lehrlinge im Haus ihrer Meister, erlernten dort die Grundzüge des Handwerks und wurden, wenn sie ausgelernt hatten, als Gesellen auf Wanderschaft geschickt. Nach ihrer Rückkehr arbeiteten sie ein weiteres Jahr in der Werkstatt ihres Meisters. Nach Anfertigung eines Meisterstücks konnten sie dann um Aufnahme in die Zunft bitten. Wollten sie selbst Meister werden, musste entweder ihr Vater Meister sein oder sie hatten die Tochter oder Witwe eines Meisters zu heiraten. Außerdem waren ein Mindestmaß an persönlichem Besitz und eine militärische Ausrüstung zum Dienst in der Stadtmiliz erforderlich. Eine Beschränkung zur Aufnahme in die Zunft bildete häufig auch die Herkunft. Unbescholtenheit und eheliche Geburt waren GrundDie Entwicklung der Unterstadt 

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voraussetzungen, in vielen Zünften aber auch die deutsche oder schwedische Abstammung. So war Esten der Zugang in die Bäcker-, Böttcher-, Goldschmiede-, Knochenhauer- und Schneiderzunft verboten. Die Kanutigilde untersagte ihnen die Aufnahme ab 1508 prinzipiell. Etwas später wurde das Verbot allerdings gelockert. Sog. Bönhasen (unzünftige Handwerker und Arbeiter) wurden in der Stadt zu keinem Zeitpunkt geduldet. Die innere Organisation der Zünfte entsprach dem Muster der Gilden. So standen den meisten Zünften Ältermänner und zwei Beisitzer vor, die für die Disziplin innerhalb der Zunft zu sorgen, Strafen zu verhängen, unlautere Konkurrenz auszuschalten und die Versammlungen und Feste der Zünfte zu präsidieren hatten. Die Werkstätten befanden sich üblicherweise im Wohnhaus. Es kamen jedoch Ausnahmen vor. Die Knochenhauer etwa arbeiteten in einem speziellen Schlacht- und Küterhaus, die Gerber auf dem sog. Gerhof, die Reepschläger und Seiler auf der Reeperbahn. Bönhasen und »unehrliche« Handwerker (s.u.) hatten vermutlich grundsätzlich in den Vorstädten zu arbeiten. Im Einzelnen lassen sich im mittelalterlichen Reval verschiedene Zünfte unterscheiden, die hauptsächlich zwei Gruppen bildeten: die vornehmeren und die niederen Zünfte. Zu den vornehmeren Zünften zählten die Bäcker (überlieferter Schragen von 1438, 1527), Böttcher (1453, 1556), Glaser und Tischler (1513, 1536), Goldschmiede (1393, 1453, 1537), Hanfspinner (1462), Knochenhauer (1394), Kürschner (1453), Maurer und Steinhauer (1402, 1459), Sattler (1459), die in zahlreiche Unterkategorien zerfallenden Schmiede mit Ausnahme der Goldschmiede (1423, 1459), Schneider (1413), Schuhmacher (1416, 1481, 1536) und Zimmerleute (1420, 1508). Die Goldschmiede genossen ein besonders hohes Ansehen, gaben sich entsprechend exklusiv und verfochten sehr strenge Aufnahmekriterien. Zeitweise bestand die Zunft aus Mitgliedern nur einer oder sehr weniger Familien. Goldschmiede wurden häufig zu Ältermännern der Kanutigilde bestimmt und bekleideten auch sonst allerlei Ehrenämter in der Stadt. Zu den niederen Zünften wurden die Fuhr- und Karrleute (1435), Träger (1529), Mündriche (1506, 1531) und wahrscheinlich auch die Fischhöker (Fisch-Kleinhändler, 1524) gerechnet. Daneben existierten weitere Kategorien von Handwerken. Die Brauer etwa gehörten zur Großen Gilde, nicht zu den Zünften. Als zunftlose Handwerker (»Bönhasen«) arbeiteten die Armborster (Armbrustbauer), Gerber, Glockengießer, Münzer, Radmacher und Töpfer. Einige Berufsgruppen wie die Leinweber, Gerichtsvollzieher, Turmwächter, Abtrittreiniger, Scharfrichter, Henkersknechte, Gefängniswärter, Totengräber, Abdecker, Barbiere, Bader u.a. wurden als »unehrlich« (ohne 64  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Ehrbarkeit) abgestempelt und als Handwerke nicht anerkannt, erfüllten jedoch wichtige Aufgaben im Alltagsleben der Stadt. Handel Reval entwickelte sich während des Mittelalters zu einer blühenden Handelsstadt, insbesondere nach Einführung des lübischen Stadtrechts 1248 und der Aufnahme in den Hanseverband im Jahre 1285. Bereits 1259 trat Reval einem Handelsvertrag mit Novgorod bei, der die Wasserstraßen als einzigen Transportweg für Waren zwischen den Hansestädten und Novgorod festlegte. Eine dänische Resolution von 1294 legte fest, dass es allen deutschen Kaufleuten gestattet war, den Handelsweg nach Novgorod über Reval und Narva zu nehmen. Damit war der Grundstein gelegt, Reval zu einem Knotenpunkt des hansischen Ostseehandels werden zu lassen. Nachdem Reval im 14. Jahrhundert Teil des gotländisch-livländischen Drittels der Hanse (mit dem Vorort Visby, später Riga) und mit der Einteilung der Hansestädte Ende des 15. Jahrhunderts in »Viertel« oder »Quartiere« Teil des »Preußisch-Livländischen Viertels« der Hanse (zusammen mit Vorort Danzig, vor Thorn, Kulm, Elbing, Königsberg, Riga, Dorpat) geworden war, erhielt die Stadt 1346 zusammen mit Riga und Pernau das Stapelrecht. Dieses verpflichtete alle mit Russland Handel treibenden Kaufleute, eine der drei Städte anzulaufen und für einen Zeitraum von drei bis acht Tagen ihre Waren auf dem Markt anzubieten. Mehrere exklusive Handelsrechte für die Revaler Kaufleute beendeten zudem den bis dahin für jeden offenen Handel in der Stadt. Die vormals wichtigste Handelsstadt der Ostsee, Visby, konnte sich nach der Plünderung durch Freibeuter der dänischen Krone 1361 und in den darauf folgenden Kriegsjahren nicht wieder zu ihrer vorherigen Vormachtstellung erheben, und als zur Jahrhundertwende 1400 auch die Vitalienbrüder aus der Ostsee verbannt werden konnten, war Reval neben Riga die wichtigste Stadt des hansischen Osthandels. Die Vitalienbrüder Die Seefahrerkorporation der Vitalienbrüder (lat. fratres Vitalienses) entstand auf dem Hintergrund eines 1375 einsetzenden Erbfolgestreits zwischen dem Königreich Dänemark und dem Herzogtum Mecklenburg. Hierbei bediente sich zunächst Mecklenburg, später aber auch Dänemark der Dienste von Kaperkapitänen, die mit der Zeit als »Vitalienbrüder« bekannt wurden. Die mit königlichen

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bzw. herzoglichen Kaperbriefen ausgestatteten Flotten überfielen in der Folge jedoch nicht nur Schiffe der jeweiligen gegnerischen Partei, sondern auch Handelsschiffe der Hanse. Die Hanse rüstete deshalb ihrerseits sog. »Friedeschiffe« aus, um sich vor Überfällen zu schützen und die Kapertätigkeit der Vitalienbrüder zu bekämpfen. Die dänische Krone unterstützte bisweilen die Hanse, bisweilen agierte sie aber auch gegen sie – je nach den aktuellen politischen Konjunkturen. Zwischen 1386 und 1390 herrschte, nachdem sich die dänische Krone und Mecklenburg von den Kaperern distanziert hatten, ein Friedensabkommen zwischen Vitalienbrüdern und Hanse. Als Mecklenburg 1390 den Konflikt mit Dänemark wieder anheizte, lebte die Kapertätigkeit der Vitalienbrüder wieder auf. Auch einzelne Hansestädte unterstützten zeitweilig Mecklenburg, indem sie Schiffen der Vitalienbrüder Schutz gewährten; v.a. die mecklenburgischen Hansestädte Rostock und Wismar. Die einstweilen neutrale Hanse wurde 1392, als die Vitalienbrüder erneut begannen, Hanseschiffe anzugreifen, ebenfalls in den Konflikt hineingezogen. 1394 kam die Hanseschifffahrt so fast völlig zum Erliegen. Als 1397 die Kalmarer Union zur Vereinigung der Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden führte und im gleichen Jahr der Herzog von Mecklenburg starb, wurde die Insel Gotland, bislang ein Brückenkopf der Mecklenburger, zum Hauptstützpunkt der Vitalienbrüder. Nun begann ein Kaperkrieg der Vitalienbrüder gegen alle Handelsschiffe, derer sie habhaft werden konnten. Ab Ende 1397 schaltete sich der Deutsche Orden in die Bekämpfung der Kapertätigkeit ein, weil diese zunehmend auch für die preußischen und livländischen Hansestädte sowie für seinen eigenen Territorialbesitz zur Bedrohung wurden. Als eine große Ordensflotte im März 1398 vor Gotland erschien, übergaben die Vitalienbrüder Gotland an den Orden. Damit hatten sie ihre wichtigste Operationsbasis verloren. Die Verfolgung der Vitalienbrüder im Nordseeraum durch hamburgische Kriegsflotten brachte weitere schwere Verluste. Dennoch ging die Kapertätigkeit noch eine Weile weiter. Erst 1435 wurde die letzte Nachricht von den Vitalienbrüdern verzeichnet. Bei den Vitalienbrüdern handelte es sich weder um gewöhnliche Seeräuber noch um eine zahlenmäßig zu vernachlässigende Gruppe. Im Jahre 1392 schätzten die Generalprokuratoren des Deutschen Ordens die Gesamtzahl der Vitalienbrüder auf rund 1.500. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht, zur Zeit der Herrschaft über Gotland, waren sie auf ca. 2.000 Mann angewachsen. Zunächst rekrutierte sich ihre Führungsschicht aus verarmten mecklenburgischen Adelsgeschlechtern. Später kamen Männer aus unterschiedlichen sozialen Milieus hinzu. Da die Bruderschaft ursprünglich mit Kaperbriefen ausgestattet worden war, blieb ihr rechtlicher Status ambivalent. Sie konnte sich darauf berufen, im Auftrag anderer – legaler – Mächte zu handeln. Andererseits wurden die Kaperbriefe von der Hanse und dem Deutschen Orden nicht als legale Dokumente anerkannt. Die Dimension des Schadens, die der Seeraub den Hansestädten zufügte, ist heute nur schwer zu bestimmen. Der Verlust von Schiffen allein bedeutete einen gewaltigen Rückschlag. Hinzu kamen Lösegeldforderungen für gefangene

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Kaufleute. Auch die Ausrüstung von Eskorten und Friedeschiffen (letztere wurden durch den sog. Pfundzoll finanziert), die Entsendung von Boten, die Zahlungen an die und Verträge mit den nicht-hansischen Landesherren, Schadensforderungen, Kosten für Ausliegerschiffe u.a.m. verursachten enorme Kosten und führten zu gewaltigen Preisanstiegen. Weiterführende Literatur: Puhle, Matthias: Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit, Frankfurt/Main 21994.

Diese dominante Stellung brachte jedoch auch allerlei Beschwernisse mit sich. Reval sah sich oft von den widersprechenden Interessen der skandinavischen Monarchien, der Engländer und der anderen Hansestädte in die Zange genommen. Die Stadt war gezwungen, Konvois mit militärischem Schutz wegen der stetigen Gefahr der Seeräuberei oder der Kapertätigkeit der skandinavischen Staaten und Englands zusammen zu stellen. Die handelspolitischen Verwicklungen brachten einen erheblichen Aufwand mit zahlreichen und kostspieligen Gesandtschaften und militärischen Auseinandersetzungen mit sich. Reval unterhielt mit vielen Städten und Ländern direkte Handelsbeziehungen, darunter Flandern, Holland, Schweden, Finnland und die meisten Ostseehansestädte. Am meisten Profit zogen die Revaler Kaufleute jedoch aus dem Transithandel zwischen den Hansestädten und Novgorod. Dieser erreichte im 15. Jahrhundert seinen Höhepunkt. In den Protokollen des Hansetages zu Stralsund 1442 beispielsweise heißt es, dass Reval eine dominante Stellung im Novgoroder Hansekontor, dem sog. Peterhof, errungen habe. Der Novgorodhandel geriet allerdings schon kurze Zeit danach in eine Krise. Nach mehreren unsicheren Jahren brach 1471 der Warenaustausch mit Novgorod durch einen Angriff des Moskauer Großfürsten Ivan III. (1462– 1505) ganz ab. 1478 eroberte der Großfürst das bis dahin unabhängige Fürstentum Novgorod. Zudem führte der Großfürst Krieg gegen den Deutschen Orden in Livland, mit dessen Territorium das Moskauer Großfürstentum nun eine gemeinsame Grenze besaß. Der Einfall Moskauer Truppen in Livland 1481 bescherte der von Flüchtlingen überfüllten Stadt einen schweren Pestausbruch. Weitere schwere Seuchenjahre folgten 1495/96 und 1519/20. Die Eroberung Novgorods durch Ivan III. brachte den Handel nicht gleich zum Erliegen. Doch als Ivan III. 1494 den Peterhof schließen ließ, hörte der Novgorodhandel für einige Jahre komplett auf. Nach einer kurzen Friedensperiode, in der das Novgoroder Handelskontor wieder eröffnet und erneut geschlossen worden war, folgte zwar 1501–1503 ein erfolgreicher Kriegszug Die Entwicklung der Unterstadt 

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des Deutschen Ordens gegen Moskau, an den sich ein bis 1558 dauernder Friede anschloss. Die Hochphase des Revaler Novgorodhandels war zu diesem Zeitpunkt jedoch längst vorbei – nicht zuletzt beeinträchtigt durch die Auswirkungen der Auflösungserscheinungen in der Kalmarer Union und eine massive Kapertätigkeit unter dem dänischen Freibeuter Søren (auch: Severin) Norby. Das Ende der Kalmarer Union (1521–1523) brachte ebenfalls keine Erleichterung. Der schwedische Merkantilismus, der unter Gustav I. Vasa (1523–1560) seine ersten Regungen zeigte, war mit einer aktiven Bekämpfung des Hansehandels verbunden und traf nicht zuletzt auch den Revaler Transithandel. Die für den Transithandel bestimmten Waren aus dem Westen umfassten Salz, Hering, Wein, Bier, Met, Hopfen, Honig, flandrische und englische Tuche, Leinwand, Gewürze, schwedische Metalle und Felle. Von diesen war Salz das weitaus profitabelste Handelsprodukt. Im Mittelalter wurde es nicht nur zur Verfeinerung oder zum Würzen der Speisen, sondern vor allem als Konservierungsmittel gebraucht. Auch galt das »weiße Gold« als Zahlungsmittel und Symbol persönlichen Wohlstands. Es stammte hauptsächlich aus Frankreich und Portugal, kleinere Mengen kamen jedoch auch aus dem Heiligen Römischen Reich, und hier besonders aus Lüneburg. Weiterverkauft wurde es vor allem nach Russland, in geringerem Umfang aber auch nach Schweden und Finnland. Die Hochphase des Salzhandels lag um das Jahr 1430, als über 100 Koggen mit Salz den Revaler Hafen anliefen. Salz gab nicht nur den Kaufleuten Brot und Arbeit: Die Mündriche luden das lose im Bauch der Koggen lagernde Salz in ihre Boote um, Träger und Fuhrleute transportierten es zur städtischen Waage, wo es von den Sackbindern »eingesackt« und von den Waagenknechten auf die Waageplattform gehievt wurde, der Salzmesser errechnete das Gewicht und bestimmte den Zoll, Träger zerkleinerten das Salz, mahlten und lagerten es im Packhaus und in den Stapelhäusern ein, russische Kaufleute kauften es dort, ließen es auf ihre Schiffe oder Karren verladen, oder es wurde an die Detailhändler und Budenbesitzer der Stadt weiterverkauft, die es dann an Einzelkunden »verhökerten«. Aus Novgorod und anderen russischen Gebieten wurden Hanf, Flachs, Talg, Wachs, Häute, Pelze und Leder nach Reval verkauft. Vieles davon ging in den Transithandel, einiges wurde aber auch in Reval selbst gebraucht. Während des 15. Jahrhunderts waren in der Stadt aus Modegründen besonders Pelze beliebt. Unter den estländischen Ausfuhrwaren sind vor allem Roggen und Hafer zu erwähnen. 1299 ist die Ausfuhr estnischen Getreides über Reval nach Lübeck erstmals dokumentiert. Aber auch Gerste, Malz, 68  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Flachs, Honig, Wachs, Butter, Teer, Garn, Seehundtran, Hermelin- und Wieselfelle, Fließsteine, Stör, Aal, Lachs und Hecht befanden sich unter den Exportprodukten. Die Ordensmeister schufen bisweilen Möglichkeiten, den estländischen Binnenhandel über Reval zu umgehen und beispielsweise Getreide der estländischen Rittergüter direkt in den Seehandel zu geben. Insgesamt hielten sich die diesbezüglichen Revaler Verluste jedoch in Grenzen. Zur Kontrolle des Handels unterhielt der Rat eine städtische Wage und Ende des 14. Jahrhunderts die Wrake (auch: Brake) – eine Kontrollstelle für Wachs, Hering, Talg, Tran und Flachs. Während des Mittelalters genoss Reval allgemein Zollfreiheit. Doch wurden zeitweise verschiedene Sonderabgaben auf den Warenverkehr eingeführt, von denen die bedeutendsten die gegen Ende des 14. Jahrhunderts aufkommende Akzise, ein Import- und Transitzoll auf Wein und Bier, und das sog. Tonnen- und Bakengeld zur Bezahlung der Seezeichen und Leuchtfeuer seit dem 16. Jahrhundert, waren. Nahrung, Kleidung, Wohnung – Alltag und Feststage   im mittelalterlichen Reval Handel und Handwerk waren existentielle Grundlagen des städtischen Lebens. Sie stellten aber nicht nur den Brot- und Gelderwerb sicher, sondern ermöglichten auch den Bau prächtiger Bürgerhäuser und einen durchaus beachtlichen Konsum von Alltags- und Luxusgütern. Gewiss, ein Teil des sauer verdienten Geldes ging in Form von Steuern, Mitgliedsbeiträgen und Schenkungen an die städtische Verwaltung, die Kirchen, Klöster, Gilden und Zünfte. Doch was übrig blieb, konnte investiert oder konsumiert werden. An erster Stelle der Konsum- und Investitionsausgaben stand die Ernährung, die die estnische Historikerin Inna Põltsam in einer Studie aus dem Jahre 2002 eingehend untersucht hat. Dabei verweist die Autorin einerseits auf die lokalen Produktionsmöglichkeiten von Lebensmitteln, die aus einer mitteleuropäischen Perspektive recht eingeschränkt erscheinen, andererseits auf den Revaler Handel, der eine gegenüber der lokalen Produktion beachtliche Vielfalt von Lebensmitteln in die Stadt brachte. Aus der landwirtschaftlichen Produktion Estlands stammten vor allem Roggen und Gerste. Die Revaler Bevölkerung hielt teilweise Haustiere (Schweine, Schafe, Ziegen, Geflügel), besaß Kräuter-, Gemüse- und Obstgärten vor der Stadt, die sie mit Bohnen, Erbsen, Rüben, Kohl, Petersilie, Knoblauch, Dill, Raute, Salbei, Äpfel, Birnen, Kirschen u.a. versorgten. Der städtische Handel (Fischhöker, Salz-, Gewürz-, Hering-, Wein-, Bierhändler u.a.) und die Handwerker (BäDie Entwicklung der Unterstadt 

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cker, Fleischer, Knochenhauer, Bierbrauer) trugen ihren Teil zur Lebensmittelversorgung durch Import und Verarbeitung von Rohwaren bei. Auf diesem Hintergrund unterschied sich der Revaler Speisezettel von dem heutiger bürgerlicher Haushalte zu Teilen deutlich. Zum alltäglichen Essen gehörten Getreideprodukte (vor allem als Brei), Gemüse und Milch. Käse und Wild waren wegen ihres hohen Preises den Reichen und Vornehmen vorbehalten. Butter kam selten vor. Stattdessen aß man gerne fettes Schweinefleisch. Auch Fisch (v.a. Hering) und Geflügel fanden ihren Weg immer wieder auf die Speisetafel. Gesüßt wurde üblicherweise mit Honig. Zucker hingegen war teuer und galt ebenso wie Oliven, Mandeln, Feigen, Zitronen, Datteln, Apfelsinen oder Walnüsse als Luxusprodukt. Auch Zutaten wie Safran, Muskatnuss, Pfeffer, Zimt, Muskat, Ingwer oder Gewürznelken waren den Wohlhabenden vorbehalten. Die Durchschnittsküche begnügte sich mit verschiedenen Senfarten, Salbei, Petersilie, Dill, Kümmel, Minze, Fenchel oder Anis. Als Genussmittel galten neben dem importierten, d.h. teuren, Wein Kräuter aller Art, die man gerne auch als Sud trank. Dieser ersetzte damals in gewisser Weise Kaffee und Tee, die in Reval erst im 17. Jahrhundert Einzug hielten. Sie wurden wie Salz und Wein als Zahlungsmittel akzeptiert. Als Konservierungsmittel für Fisch und Fleisch, aber auch als Geschmacksverfeinerer wurden vorzugsweise Salz und Essig verwendet. Andere Konservierungsmethoden waren Dörren, Säuern, Beizen und Räuchern. Die Getränkepalette stand der Speisetafel an Vielfältigkeit kaum nach. Bier diente als Alltagsgetränk, Wasser als Bier der Armen. Met und Wein wurden zu festlichen Anlässen serviert, wobei in Reval vor allem Rheinwein, Malvasier und Romanée getrunken wurden. Sie waren allein im Monopolhandel des Revaler Ratskellers erhältlich. Preiswerten Ersatz für die importierten Weine boten einheimische Fruchtweine, Glühweine, aber auch Dünnbier, verdünnter Essig u.a. Auch die Tischsitten unterschieden sich von den heutigen erheblich. Das Mahl begann mit rituellem Händewaschen und einem Gebet. Die Speisen wurden in den wohlhabenderen Haushalten auf einer Tischplatte (»Tafel«) in den Essraum getragen. Geschirr kam beim Alltagessen wenig zum Einsatz. Messer und Löffel waren üblich, wobei Messer zu Gastmahlen selbst mitgebracht werden mussten. Als Teller diente eine Scheibe Brot, manchmal kamen aber auch schon Holz- oder Zinnteller vor. Die Tischdecke diente als Serviette. Als ungehobelt galt es, mit vollem Mund zu sprechen, zu schmatzen und zu schlürfen, auf den Tisch zu spucken, in die Tischdecke zu schnäuzen, Messer als Zahnstocher zu benutzen und Knochen unter den Tisch oder gar hinter sich zu werfen. 70  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Die – übrigens im ganzen Hanseraum verbreiteten – »Gastereyen« und »Drunken« der städtischen Korporationen zeichneten sich nicht so sehr durch einen Unterschied in der Art als vielmehr in der Menge der Speisen und Getränke aus. Eine Vielzahl an Geschirr, eine ausgefallene und aufwändige Art der Zubereitung, teure und erlesene Zutaten, große Mengen kostspieliger alkoholischer Getränke, Musik und Tanz kennzeichneten ein gelungenes Festmahl, das nicht allein der Geselligkeit und dem Vergnügen galt, sondern auch als Indikator für den sozialen Stand und den Wohlstand des Gastgebers verstanden wurde. Essen und Trinken machten im Mittelalter einen wichtigen Teil des Alltags aus und belasteten die Haushaltskasse in weit höherem Maße als in späteren Zeiten. Handlanger, Facharbeiter und »geringere« Handwerker mussten, um eine zureichende Ernährung für sich, ihre Familien und die Hausgenossen zu gewährleisten, rund die Hälfte ihres Einkommens aufwenden. Dabei überschritt das Essen innerhalb eines Haushalts soziale und rechtliche Hierarchien: Handwerksmeister und Kaufleute aßen mit ihren Familien, Gesellen, Kaufgehilfen, Knechten und Mägden zusammen in einem Raum (wenn auch nicht unbedingt an einem Tisch). Bei den Gildemahlen waren Frauen jedoch in der Regel nicht zugelassen. Ausnahmen bildeten besondere Tage im Jahreslauf. Dass Essen und Trinken nicht nur alltägliche Notwendigkeiten waren, sondern auch geselligen und repräsentativen Zwecken, darunter nicht zuletzt der Zurschaustellung des persönlichen Wohlstands oder des Reichtums der städtischen Korporationen dienten, kann man an der Festkultur des mittelalterlichen Reval studieren. Gefeiert wurde häufig und ausgiebig. Der Rat richtete Gastmahle für hohe Besucher und vornehme Personen aus, hielt Totenfeiern (»Begängnisse«) für die verstorbenen Ordensmeister und Hochmeister und Willkommfeiern für die neuen Ordensmeister ab. Die Gilden begingen kurz vor Weihnachten am Thomastag (21.12.) und zu den Osterfasten (Sonntag Laetare, Fastnacht) die sog. »Hauptdrunken« (Gildenmahle) mit Tanzauszügen und Festgelagen. Im Mai folgte das Maigrafenfest, eine Art Kirmes mit Umzügen, Ausritten und Festbanketten, das sich über mehrere Wochen hinzog. Die Kirchen, die im Mittelalter weit mehr Feiertage einhielten als nach der Reformation und durch vorgeschriebene Fastenzeiten die Festkultur ex negativo förderten, richteten den »Hinkepe« (estn. Hingepäev = (Aller)seelen-Tag) und Christi Auferstehung aus. Und neben diesen großen städtischen Festen fanden natürlich das ganze Jahr über Geburts- und Totenfeiern, Firmungen, Geburtstage und Hochzeiten statt. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Investiert wurde gerne auch in die äußere Gewandung. Kleider machten schon damals Leute und gehörten im eigentlichen Sinne zum Habitus der Revaler Bürger. Dabei setzte sich das Angebot wie bei der Nahrung teils aus lokalen, teils aus importierten Produkten (Tuche, Pelze, Leder, Accesoires) zusammen. Nach einer Aufstellung für die Jahre 1312–1360 arbeiteten in der Stadt 29 Schneider und 33 Schuhmacher. Dazu kamen Kürschner, zahlreiche Tuch- und Pelzkaufleute sowie 21 Schuhhändler. Für die Verfeinerungen und Verzierungen fanden sich Färber, Gold-, Silber-, Kupfer- und Eisenschmiede, Bernsteinschleifer oder andere Spezialisten, die sich mit der Veredelung von Steinen beschäftigten. Die Frage der Mode war im Mittelalter allerdings nicht so sehr eine Frage des persönlichen oder durch die Mitmenschen geformten Geschmacks, sondern der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. Bestimmte Stoffe, Farben und Applikationen waren mit einem bestimmten gesellschaftlichen Status verbunden und in anderen Ständen und Schichten verboten. Die verwendeten Textilien bestanden in der Regel aus Leinen, Hanf, Nessel (Brennesselfasern) und Schafwolle. Schafwolle diente zur Herstellung von Oberbekleidung und war deshalb der Stoff, an dem sich die habituellen Träume des Stadtbürgers empor rankten. Je hochwertiger und feiner die Wolle verarbeitet war, desto höher war ihr Träger in der sozialen Hierarchie der Stadt einzustufen. Wer noch mehr tun wollte, leistete sich importierte, aufwändig gefärbte Tücher aus Flandern und Brabant, hüllte sich in Samt, Seide und Damast, versah seine Kleider mit teuren Schnallen und Broschen, trug eine Gugelhaube oder ein edles Kopftuch und stark verlängerte Schnabelschuhe. Im 14. und 15.  Jahrhundert standen darüber hinaus Pelze aus Russland hoch im Kurs. Überwürfe und Kopfbedeckungen erhielten Futter aus Luchs-, Leopardenund Wieselfellen. Wer weniger tief in den Säckel greifen wollte, begnügte sich mit Fuchs-, Hermelin-, Eichhörnchen- oder Wolfsfellen. Wie sehr insbesondere teure und aufwändige Kleidung auf Repräsentation und Selbstdarstellung ausgerichtet war, lässt sich an den spätmittelalterlichen Kleiderordnungen des Revaler Rates ermessen. Sie regelten das, was in der Stadt als schicklich und unschicklich galt, bis in die kleinsten Details, beschränkten die Länge der Hüte und Halskrausen, die Art, die Menge und den Wert des Zierrats (Bastarden, Bäuerinnen und Prostituierten z.B. war das Schmucktragen gänzlich untersagt) und verboten den Damen das Tragen von langen Samt-, Seiden- und Damaströcken, Perlenkragen, Kopftüchern aus Goldbrokat und edelsteinbesetzten Gürteln. Die Kürschner wurden über das Maß und die Menge der gestatteten Pelzaufsätze in Kenntnis gesetzt. Schuhmacher erhielten Anweisungen, wie weit die von ihnen gefertigten Schnabelschuhe über die Zehenspitze hinausragen durften. 72  Das mittelalterliche Reval (13.–16. Jahrhundert)

Außer in Ernährung und Kleidung drückte sich der stadtbürgerliche Wohlstand nicht zuletzt im Hausbau aus. Die ältesten Revaler Bürgerhäuser dürften allerdings recht bescheiden ausgefallen sein. Sie waren vermutlich alle in Holzbauweise errichtet und standen in ungezwungener Ordnung unterhalb des Domberges. Erst mit der allmählichen Entstehung von Straßen bildeten sich Häuserreihen, die sich zu den heute noch sichtbaren Gassen ausformten. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts war das Bauen von Häusern aus Holz innerhalb der Stadtmauern verboten. Doch der in den Quellen auftauchende Begriff für Steinhaus (hereditas lapidas) meinte zunächst nicht das Wohnhaus, sondern den zum Hause gehörenden Speicher. Um einen Unterschied zum Wohnhaus einzuführen, erweiterten die Stadtbücher später ihr begriffliches Instrumentarium und bezeichneten den Speicher als hereditas lapidea dicta kornhus (Steinhaus, genannt Kornhaus), während sie die Wohnhäuser hereditas lapidea in qua moratur oder inhabitalis (Steinhaus, in dem man wohnt) nannten. Das heutzutage als typisch empfundene Revaler Bürgerhaus entstand also erst Mitte des 14. Jahrhunderts, war aus Stein und wurde üblicherweise im gotischen Stil errichtet. In seiner inneren Struktur entsprach es dem im hansischen Raum weit verbreiteten Typus des Dielenhauses, der die Revaler Unterstadt bis ins 17. Jahrhundert hinein dominierte. Es handelte sich um Gebäude mit hohen Giebeln, die ihre schmale Seite der Straße zuwandten, dafür aber tief in das Grundstück hineinragten. Auf breiteren Grundstücken konnten auch zwei Häuser mit je eigenen Giebeln stehen, von denen das eine als Haupthaus (»Großhaus«), das andere als Nebenhaus (»Kleinhaus«) genutzt wurde. Betrat man das Haus durch die Vordertür, gelangte man in die Diele, die nicht selten das obere Stockwerk durchbrach und auf diese Weise eine hallenartige Struktur bildete. Die teils im Erdgeschoss, teils im Obergeschoss liegenden Wohnräume waren dem Hof zugewandt. Zu ihnen gehörten obligatorisch eine beheizte Wohnstube (aestuarium), eine oder mehrere unbeheizte Kammern und verschiedene kleine Schlafkammern und Abstellräume. Die Küche befand sich oft neben der Treppe im Untergeschoss. Über den Wohnräumen des Obergeschosses lagen die Speicherböden, manchmal mehrere übereinander, bis hinauf zum Dach. Wer seinen Reichtum und damit seinen sozialen Status zeigen wollte, leistete sich prächtige Portale mit aufwändigen Reliefen, Schnitzereien und Beschlägen. Im Innern der reicheren Häuser fanden sich oft prächtig verzierte Raum- und Fenstersäulen, künstlerisch gestaltete Schränke, Truhen und Treppengeländer. Glasfenster waren während des ganzen Mittelalters sehr kostspielig und galten noch im 15. Jahrhundert als besonderer Luxus. Die Entwicklung der Unterstadt 

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Ganz anders sahen die Häuser der kleineren Handwerker aus. Hier fehlte jeder Aufwand und Schnörkel. Der Bau blieb auf das Notwendigste beschränkt, die Inneneinrichtung war zweckmäßig und unprätenziös. Noch einfacher ging es in den Vorstädten zu. Hier waren überdies bis ins 19. Jahrhundert Holzhäuser vorgeschrieben, und die Einwohner konnten froh sein, wenn das Dach dicht und die Balken und Bretter nicht morsch waren. Vom Reichtum der Stadt profitierten also nicht alle. Dass schon damals die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinander klaffte und die Stadt Reval mehr war als die Summe der Kaufleute und Handwerker, die den städtischen Reichtum vor allem erzeugten, lässt sich an den Vorstädten ebenso wie an den zahlreichen Hospitälern ablesen. Trotzdem gehörte Reval im Mittelalter im europaweiten Vergleich zu den stark prosperierenden Städten. Für den Revaler Chronisten Balthasar Rüssow war Reval neben Riga nicht weniger als das Zentrum eines gelobten Landes, das man, einmal angekommen, nicht so schnell wieder verlassen wollte: sein Livland war ein Blivland (Bleibeland). Bauen dat alles was in den Lyfflendischen Steden mit den Rüssen unde mit den Lyfflendischen Adel unde Buren, solck ein drefflick Kophandel unde wandel, alse he in keinen Landen und Steden beter wesen möchte. Insunderheit auerst tho Riga unde tho Reuel, welckere Stede auer uöfftig Düdtsche myle weges van einander liggen, unde yder dersüluigen hefft solck eine herlike Nedderlage, Emporium und Stapel veler Nationen, Herschoppien unde Landen, alse in keiner Stadt an der gantzen Ostsee gefunden werdt, uthgenamen de Stadt Dantzke alleine, dardorch veler schamel Lüden Kinder, de uth Düdeschen landen hyr tho Denste gekamen sint, balde tho groter herlicheit unde Rykedom gedegen sint. (…) In Summa, Lyffland ys solck ein Landt gewesen, dat alle de yenigen, so uth Düdeschen und andern Landen darin gekamen sint, unde des Landes gelegenheit unde gude dage recht erfaren, spreken unde gedencken müsten, Lyfflandt, blyfflandt. Rüssow, Balthasar: Livländische Chronica Der Provintz Lyfflandt, Barth 1584, Vorrede.

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II. Reval in der frühen Neuzeit   (16.–18. Jahrhundert) 1558 begann der Moskauer Großfürst Zar Ivan IV. (1547–1584) einen Krieg zur Eroberung Livlands. Hintergrund dieses Angriffs war einerseits die immer deutlicher werdende militärische und innenpolitische Schwäche des Deutschen Ordens, andererseits das außenpolitische Ziel Ivans IV., Livland, das er Erbland der Rus’-Fürsten reklamierte, in das Moskauer Großfürstentum zu inkorporieren. Auch religiöse Gründe wie der Kampf gegen das aus Moskauer Sicht abgefallene westliche Christentum in Form der Lutherischen Kirche spielten eine Rolle. Während dieses von der historischen Forschung so bezeichneten »Livländischen Krieges« (1558–1583/84) zerfiel die Herrschaft des Deutschen Ordens in Livlands zusehends. Die Nachbarmächte wetteiferten darum, das entstehende Machtvakuum zu füllen. Ivans Truppen eroberten in Estland 1558 mehrere Deutschordensburgen und Städte, darunter Narva und Dorpat (Tartu). Reval wurde noch im gleichen Jahr zu einer von der Revaler Dänenpartei und vom Deutschen Orden politisch heiß umkämpften Bastion gegen den weiteren Vormarsch der Moskauer Truppen. Im Herbst 1558 schließlich standen die Moskauer erstmals selbst vor den Toren der Stadt. Frederik II. (1559–1588) kaufte dem Orden 1559 die Rechte an den Bistümern Ösel und Kurland ab, schenkte sie 1660 seinem jüngeren Bruder, Magnus von Holstein, und setzte diesen zum Bischof von Ösel ein. Dies hatte ebenfalls Folgen für Reval: Magnus erwarb noch im Juni des gleichen Jahres die Bischofswürde von Reval, so dass Burg und Dom nach über 300 Jahren (seit 1346) wieder unter dänische Herrschaft zu geraten schienen.

1. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone (1561–1710) 1560 nahm die Stadt auch Verhandlungen mit dem schwedischen König Gustav Vasa (1521–1560) wegen militärischen Beistands auf. Dieser zögerte jedoch, sich in eine Auseinandersetzung mit Moskau hineinziehen zu lassen. Erst sein Sohn, Erik XIV. (1560–1568), ging auf das Ansinnen ein und ließ sich am 4. Juni 1561 von der Ritterschaft von Harrien und Wierland und 6. Juni von der Stadt Reval huldigen. Am 2. August 1561 bestätigte er die Privilegien von Ritterschaft und Stadt und versprach als neuer Schutzherr, den Kampf gegen die Moskauer aufzunehmen. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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In der zweiten Jahreshälfte 1561 eroberten schwedische Truppen einige kleinere Städte in Estland. In dieser Zeit avancierte Reval zum Stützpunkt schwedischer Flotten- und Heeresoperationen gegen das Großfürstentum Moskau und Polen-Litauen; und in der Zeit des Siebenjährigen Nordischen Krieges zwischen Schweden, Dänemark und Lübeck (1563–1570) wurde es zum Ausfalltor für eine ausgedehnte schwedische Kapertätigkeit gegenüber dänischen und hansischen Handelsschiffen im Ostseeraum. Entsprechend litt die Stadt unter Vergeltungsaktionen und der Freibeuterei der betroffenen Mächte. Auch zwei (erfolglose) Belagerungen durch Moskauer Truppen (16.–26.3.1570, Januar bis März 1577) und die Einquartierung der zeitweise bis zu 5.000 Mann starken schwedischen Garnison machten den Revalern schwer zu schaffen. Erst als es schwedischen Truppen 1581 unter dem gerade zum Statthalter von Estland ernannten General Pontus Axel Julius de la Gardie gelang, die in der westlich von Reval gelegenen Landschaft Wiek stationierten Moskauer Truppen zu vertreiben, kam Estland vollständig unter schwedischer Kontrolle, und es kehrte etwas Ruhe in der Stadt ein. Die Stadt Reval und die Harrisch-Wierische Ritterschaft, die 1561 eine Bestätigung ihrer Privilegien erhalten hatten und einige andere Gebiets- und Personenkörperschaften fasste die schwedische Krone 1584 zu einem mit Schweden in Personalunion verbundenen »Fürstentum oder Herzogtum Ehsten« zusammen, in dem sich der schwedische Monarch als Herzog von Estland und die 1584 vereinigten Ritterschaften Estlands in einem dualistischen Herrschaftsverhältnis gegenüberstanden. Administrativ wurde das Herzogtum als eigenständige Statthalterschaft in das schwedische Gesamtreich integriert. Die administrative Binnengliederung, die Schweden nach 1561 in Estland einführte, entsprach in großen Zügen jedoch derjenigen der Ordenszeit. Die Bürgerstadt (Unterstadt) Reval spielte innerhalb des Herzogtums eine Sonderrolle, weil sich die Stadtrechte fundamental von denen der Ritterschaften unterschieden. Andererseits besaßen zahlreiche Mitglieder der Ritterschaften Stadtwohnungen in Reval, so dass die schon lange vor der schwedischen Herrschaft eingetretene rechtliche Teilung der Stadt in eine Residenz für den Adel, die Kirche und die Landesherrschaft auf der einen und eine Bürgerstadt auf der anderen Seite erhalten blieb. Obwohl die Ständeautonomie unter schwedischer Herrschaft gewahrt wurde, blieb das Verhältnis der estländischen Stände zur schwedischen Krone aufgrund des von 1561 bis 1629 fast permanenten Kriegszustandes zwischen Schweden, Moskau und Polen (seit 1569: Polen-Litauen) zunächst gespannt. Reval hatte unter vertragswidrigen Zollauflagen, Einquartierun76  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

gen und Flüchtlingen zu leiden. Gleichzeitig lavierten die estländischen Stände in Verhandlungen mit der Krone zwischen der Ausweitung ihrer Privilegien und der Aufkündigung der Treue zum Landesherrn zugunsten der Krone Polen-Litauens. Diesem Schwanken zwischen den Großmächten bereitete Gustav II. Adolf (1611–1632) in den 1610er und 1620er Jahren durch eine rasche Folge von Siegen gegen Moskau und Polen-Litauen allerdings ein Ende. 1617 schloss Schweden mit Moskau in Stolbovo einen Friedensvertrag, der die territorialen Besitzungen Schwedens im ehemals livländischen Gebiet nicht nur garantierte, sondern sogar ausweitete und dafür sorgte, dass in den kommenden knapp hundert Jahren eine ernsthafte Bedrohung der schwedischen Herrschaft in Estland durch das Moskauer Großfürstentum ausblieb. Das Ende der schwedisch-polnisch/litauischen Auseinandersetzungen kam mit dem Waffenstillstand von Altmark 1629, der einen größeren Teil Polnisch-Livlands der schwedischen Krone unterstellte und damit Estland auch nach Süden hin von einer Front- in eine Binnenprovinz verwandelte. Die späteren Ereignisse des Nordischen Krieges (1654–1661), die zur Eroberung und Besetzung mehrerer schwedischer Festungen und Städte in Liv- und Estland durch russische Truppen führten, berührten Reval nur indirekt durch Einquartierungen und Kriegskontributionen. Zu einem direkten Angriff auf Reval kam es nicht. Der Friede von Kardis (estn. Kärde, 1661) zwischen Schweden und Moskau bestätigte nur den territorialen status quo ante gemäß den Abmachungen des Friedens von Stolbovo. Auch im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) blieb Reval zunächst vom Krieg verschont. Die schwedische Armee unter Karl XII. (1697–1718) konnte einen russischen Angriff auf Narva im Jahre 1700 erfolgreich zurückschlagen. Und obwohl die russische Armee unter Peter I. (1689–1725) die Schmach von Narva versuchte zu sühnen und ab dem Sommer 1702 in Schwedisch-Livland und Ingermanland entscheidende militärische Erfolge erzielte, dauerte es bis 1706, bis die militärischen Aktionen auf Estland übergriffen und spürbar nah an Reval heranrückten. In diesem Jahr waren an größeren Städten neben Reval nur noch Riga, Pernau und Arensburg (estn. Kuressaare) in schwedischer Hand. 1710 fielen schließlich auch Riga und Reval den russischen Eroberern zum Opfer. Im Verein mit einer Pestepidemie, die die Stadt schon vor der russischen Belagerung erreicht hatte und einen hohen Blutzoll forderte, war dies das faktische Ende der schwedischen Herrschaft in der Stadt. Bis 1721, als der Friedensvertrag zu Nystad den Krieg zwischen Schweden und Russland offiziell beendete, blieben Estland und Reval russisches Besatzungsgebiet. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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Die Residenzstadt auf dem Domberg (Oberstadt) Die Oberstadt blieb in der schwedischen Zeit Sitz der Landesregierung und des Revaler Bistums. Außerdem befanden sich hier die meisten Stadtresidenzen der politischen Führungsschicht des Herzogtums Estland. Unmittelbar nach der Übernahme der Stadt nahm die schwedische Regierung bauliche Veränderungen in Angriff. Am 31. August 1561 ordnete Erik XIV. eine militärische Befestigung des gesamten Dombergs an. 1565 säkularisierte er zudem die Domkirche, d.h. er entriss sie der katholischen Kirche und übergab das Gebäude dem schwedischen Burgkommandanten. 1569 befahl Eriks Nachfolger, Johan III. (1568–1592), eine weitere Befestigung zwischen Burg und Stadt. Dies war der Beginn einer Integration des Dombergs in einen weit ausgreifenden Festungsbau der Stadt Reval, der sich bis zum Ende der schwedischen Herrschaft hinziehen sollte. Erst kurz vor dem Ausbruch des Großen Nordischen Krieges wurden die beiden zum Verteidigungssystem des Dombergs gehörenden Bastionen »Ingermanland« und »Schweden« fertig gestellt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahm man auch die Umgestaltung des mittelalterlichen Zwingers in Angriff und begann, ihn zum heute noch erkennbaren Domplatz auszubauen. Jenseits der Burg entstanden in dieser Zeit mehrere barocken Stadtpalais für die Mitglieder der schwedischen Provinzialregierung und der estländischen Ritterschaft. Über die soziale Zusammensetzung der Domberg-Bewohner kurz nach dem Beginn der schwedischen Herrschaft gibt das Revaler »Wackenbuch« (Abgaben- und Fronbuch) von 1575 Auskunft. Die darin verzeichneten Daten lassen darauf schließen, dass zu dieser Zeit rund 1.000 Personen auf dem Domberg lebten. Sie waren in ihrer Mehrzahl Mitglieder der schwedischen Provinzialregierung, der estländischen Ritterschaft und der Superintendantur (Bistum) Estland. Auch deren Bedienstete lebten größtenteils auf dem Domberg. Daneben wohnten dort wie schon in der Ordenszeit einige wenige Handwerker und Diener, die allesamt für die adligen und geistlichen Residenten arbeiteten. Eine große Feuersbrunst vom 15. Juli 1581 kostete allerdings viele Menschen das Leben, so dass die Einwohnerzahl danach deutlich gesunken sein dürfte. Ein weiterer verheerender Brand von 1684 dezimierte die inzwischen wieder gewachsene Bevölkerung erneut. Die schwedische Provinzialregierung: Die Verwaltungseinheit bzw. Reichsprovinz, die Estland unter schwedischer Herrschaft darstellte, trug zwischen 1561 und 1584 die Bezeichnung »Statthalterschaft Reval« und zwischen 1584 und 1619 den Namen »Statthalterschaft Estland«. Damit markierte die schwedisch-königliche Regierung sowohl die Zugehörigkeit Estlands 78  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

zum schwedischen Reichsverband als auch die weitgehende administrative Autonomie der Provinz Estland. 1619–1674 bildete Estland ein Gouvernement innerhalb des Generalgouvernements Livland-Estland. Von 1674 bis zum Ende der schwedischen Herrschaft (1710) existierte ein besonderes Generalgouvernement Estland. Der wechselnden territorialadministrativen Zuordnungen des Herzogtums Estland entsprachen zahlreiche Umstrukturierungen in der Provinzialverwaltung. Allen gemeinsam war, dass die schwedische Zentralregierung versuchte, einen schwedischen Zentralstaat im Kleinen zu schaffen. Was auf Reichsebene die Stockholmer Zentralbehörden leisteten, sollten auf Provinzebene die jeweiligen Unterverwaltungen bewerkstelligen. Mit dem Statthalteramt waren vor allem militärische, aber auch jurisdiktionelle, fiskalische und ziviladministrative Aufgaben verbunden. Das Gewicht dieser Aufgaben veränderte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts je nach Situation und zentralstaatlichen Erfordernissen. In der Praxis waren die Statthalter oft gezwungen, auf eigene Faust zu handeln oder die königlichen Verordnungen den regionalen Verhältnissen anzupassen oder umzudeuten. In dieser Hinsicht verschafften sich die estländischen Statthalter mehr Spielraum in ihren Entscheidungen als die späteren Gouverneure und Generalgouverneure. Gleichzeitig zogen sie dadurch nicht selten den Unmut des Königs oder der zentralen Behörden auf sich. In einigen Fällen kam es sogar zu Abberufungen von Statthaltern. Den Hintergrund dieser Konfliktstruktur bildeten die blanke Unkenntnis der örtlichen Verhältnisse oder Fehleinschätzungen der je aktuellen Lage durch die Stockholmer Regierung. Die Burg von Reval war aber nicht nur Sitz des schwedischen Statthalters, sondern auch der Lehensstatthalter. Die administrative Binnengliederung, die die königliche Regierung für Estland vorsah, folgte dem Muster der Ordensherrschaft und basierte auf acht Burglehen, die in Ausdehnung und Funktion ungefähr den früheren Ordenskomtureien oder Stiftsvogteien entsprachen und von denen Reval eines bildete (neben Narva, Weißenstein, Wesenberg, Hapsal, Lohde, Leal und Pernau). Eine zentrale Stellung in der Lehensstatthalterschaft Reval hatte der Revaler Burgvogt (auch: Schlossvogt) inne. Er fungierte zugleich als Stellvertreter des Lehensstatthalters und beaufsichtigte die Steuereintreibung und das Rechnungswesen der Revaler Burg. Neben ihm oder in seiner Person vereint arbeitete der Landvogt. Darüber hinaus waren in der Lehensstatthalter-Verwaltung mehrere Bedienstete untergeordneten Ranges beschäftigt, darunter auch solche der königlichen Amtshöfe seines Lehens außerhalb der Stadt Reval. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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Die Eroberung und Unterwerfung von Ingermanland und Kexholms län mit dem Frieden zu Stolbovo (1617) veränderte die administrativen Erfordernisse in Estland, das seit dem Friedensschluss keine Frontprovinz mehr war. Eine Verwaltungsordnung, die dieser neuen Situation Rechnung trug und eine stärkere Selbstverwaltung der Provinz zuließ, wurde nach und nach eingeführt. Mit dem Aufkommen des estländischen Gouverneursamtes (seit 1619) bzw. Generalgouverneuramtes (1674) sank das Amt des Statthalters von Reval auf den Status eines Stellvertreters des Gouverneurs und des Präsidenten des Revaler Burggerichts hreab, der zudem die Mitglieder der Schlossgerichte in den kleinen Städten Estlands zu bestimmen hatte. Im Zusammenhang mit der Güterreduktion in den Ostseeprovinzen in den 1680er Jahren erhielt der Statthalter außerdem die Würde eines Ökonomiestatthalters, der die Verwaltung und Instandhaltung der staatlichen Güter sowie deren Renten und Pachten zu kontrollieren hatte. Schließlich schuf die schwedische Regierung gegen Ende ihrer Herrschaft auch noch das Amt eines Vizegouverneurs, der dem Generalgouverneur unterstand und dem der Statthalter nachgeordnet wurde. Der Lehensstatthalter hingegen war dem estländischen Gouverneur bzw. Generalgouverneur direkt nachgeordnet. Die administrative Binnengliederung des Gouvernements Estlands (seit 1634) sah unterhalb der Gouvernementsebene – nach dem Muster der länVerwaltung im eigentlichen Schweden – einen zweistufigen Aufbau vor. Es bestand nun aus den vier Kreisen (schwed. härader) Harrien, Jerwen, Wierland und Wiek, die mit den aktuellen Selbstverwaltungseinheiten des ansässigen Adels identisch waren und mit der früheren Lehnseinteilung nur teilweise übereinstimmten. Die Kreise fungierten zugleich als Amtsbezirke der im Rahmen der ständischen Selbstverwaltung agierenden Hakenrichter und der sie kontrollierenden königlichen Kreiskommissare. Unterhalb der Kreisebene befanden sich die kirchlich selbstverwalteten, staatlicherseits durch die Kirchspielkommissare kontrollierten Kirchspiele. Der Gouverneur vertrat die königliche Gewalt in der Provinz, die allerdings durch die Privilegien und Freiheiten der Stände und der ständischen Selbstverwaltung auf Stadt-, Kreis- und Kirchspielebene begrenzt war. Um seinen Aufgaben nachkommen zu können, stand ihm eine Gouvernementsund Schlosskanzlei mit einer Reihe von Bediensteten zur Verfügung, von denen der wichtigste der Assistenzrat oder Staatssekretär (später auch: Gouvernementssekretär) war. Außerdem arbeiteten in der Kanzlei eine Reihe weiterer Sekretäre sowie Schreibpersonal und Buchhalter. Schon die Bezeichnung Gouvernementskanzlei deutet darauf hin, dass die Gouverne80  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

mentsregierung als Abbild der königlichen Zentralbehörden in der Provinz aufgefasst wurde. In der Zentralverwaltung war sie vor allem mit der Expedition (Sekretariat) der Königlichen Kanzlei in Stockholm verbunden, die u. a. für die Angelegenheiten der östlichen Randgebiete des Reiches und das östliche Ausland (Polen, Litauen, Moskau) zuständig war. Innerhalb seines Amtsbereichs besaß der Gouverneur das Verordnungsrecht für alle königlichen Ämter der Provinz und das Ernennungsrecht für alle Amtsinhaber der königlichen Gouvernementsverwaltung. Gegenüber den Amtsträgern der ritterschaftlichen Selbstverwaltung hatte er ein Bestätigungsrecht. Die zentrale Aufgabe der Gouverneure bestand nach 1619 in der Übermittlung königlicher Befehle. Der Gouverneur lud zu diesem Zweck eine Ständeabordnung ein, deren Mitglieder von der jeweiligen Korporation (Stadt, Ritterschaft) bestimmt wurden, und trug seine Agenda vor, die dann vom zuständigen Gremium der Korporation (Stadtrat, Ritterhaus) beraten wurde. Zudem durften sich die Gouverneure nicht in Streitigkeiten zwischen den Korporationen einmischen. Im Übrigen hatte die Gouvernementsregierung das Kirchen- und Schulwesen, die Justiz, das Militär und die Seefahrt zu überwachen sowie die Policey (öffentliche Ordnung und Wohlfahrt) und die fiskalischen Interessen der schwedischen Krone vor Ort durchzusetzen. Ähnlich wie die Statthalterverwaltung löste sich 1674 auch die Burgverwaltung nach Einführung des Generalgouverneursamtes vom Statthalteramt und Generalgouverneursamt. Das Amt des Burgvogtes verlor an Bedeutung. Die Burgrechnungen wurden nun vom königlichen Kämmerer durchgeführt. Das Burggericht übernahm die früheren jurisdiktionellen Kompetenzen der Burgvögte. Dem Burgvogt unterstand nur noch die Rechtspflege auf dem Revaler Domberg. Hier fungierte er auf Geheiß des Generalgouverneurs als Exekutive des Burggerichts. Zur Revaler Burgverwaltung gehörten außerdem der Burgwachtmeister, -untervogt, -profoss, und -pförtner, verschiedene »Exekutionsknechte« oder »-kerle«, die dem Burgwachtmeister unterstanden sowie eine Reihe von Handwerkern (Maurer, Bäcker, Zimmerleute, Barbiere, Wundärzte) und Küchenpersonal. Die Rechtsprechung für den Rechtsbezirk der Revaler Burg und der königlichen Güter in Estland oblag in der ersten Zeit der schwedischen Herrschaft dem schwedischen Statthalter. Später ernannte dieser jedoch immer häufiger kommissarische Richter. Daraus entwickelte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Institution des Burggerichts, dessen Protokolle ab dem Jahr 1622 erhalten sind. Die Zusammensetzung der Jury wechselte anfangs häufig. Es fanden sich darunter Gouvernements- und Burgbeamte, Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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Lehensstatthalter, Vögte, militärische Befehlshaber, Mitglieder des Domadels, der Dombürgerschaft und sogar zum Domberg gehörige Bauern. Später beschränkte die schwedische Regierung die Jury auf den Kreis der schwedischen Staatsbediensteten. Als Vorsitzende fungierten üblicherweise der Statthalter von Estland oder der Burgvogt. 1634 regelte eine königliche Gerichtsordnung Funktionsweise und personelle Zusammensetzung des Burggerichts. Ab den 1640er Jahren umfasste das Burggericht einen Gerichtspräsidenten, 4 bis 5 Assessoren, einen Sekretär, einen Notar und einen Gerichtsdiener. 1689 wurde die Zahl der Assessoren auf 6 erhöht. Der Kompetenzbereich des Burggerichts betraf alle Kriminal- und Zivilsachen auf dem Domberg und Angelegenheiten, die den Besitz der schwedischen Krone in Estland berührten. Bis 1661 hatte es auch Fragen des adligen Besitzes auf dem Domberg zu behandeln. Danach wurden diese jedoch dem ritterschaftlichen Oberlandgericht (s.u.) unterstellt. Höchste Appellationsinstanz war das Stockholmer Hofgericht. Einige Institutionen der königlichen Regierung befanden sich nicht in der Ober-, sondern in der Unterstadt. So überließ der Revaler Rat der schwedischen Garnison 1631 die renovierte ehemalige ZisterzienserinnenKlosterkirche unter dem Namen St. Michaelis (estn. Mihkli kirik) als Garnisonskirche. 1638 erhielt die schwedisch-königliche Post ein Quartier in der Unterstadt. Bis dahin war das Revaler Postwesen von Kaufleuten organisiert worden. Ab 1638 entstanden regelmäßige Postverbindungen mit Stockholm, Finnland, Riga, Narva, Dorpat, Pernau und Hapsal, aber auch mit Orten innerhalb des Gouvernements Estland, für die Reval die zentrale postalische Schaltstelle zwischen der Provinz und anderen Provinzen des Reiches bzw. mit Gebieten außerhalb des Reiches wurde. Eine königliche Postverordnung vom 23.  Dezember 1685 regelte, dass Briefe der königlichen Familie, der königlichen Räte, Kollegien, Kommissionen und Gouverneure kostenlos zu befördern waren. Im Hafen bestand eine Zollstation für die Revaler Handelsabgaben an die schwedische Krone (Lizent, Portorium, Akzise), die unter dem schwedischen Lizent-Verwalter arbeitete. Reval war nicht nur eine Residenz für die königlich-schwedische Verwaltung, sondern erhielt während der schwedischen Herrschaftsperiode auch öfter Besuch von schwedischen Monarchen. Den ersten königlichen Besuch verzeichnete die Stadt im November 1562, als Herzog Johan von Finnland auf einer Durchreise in sein Herzogtum für kurze Zeit in Reval Station machte. Ein zweites Mal weilte Johan (III.), nun als König von Schweden (1568–1592), von August bis Oktober 1589 mit einer starken schwedischen Flotte in Reval, um seinen Sohn Sigismund, König von Polen (1587–1632), 82  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

zu empfangen und darüber zu verhandeln, ob die Stadt Reval zu Schweden oder Polen gehören sollte. Nachdem sich die Stadt selbst auf die Seite Herzog Karls IX., des Bruders Johans III., geschlagen hatte, erschien dieser mit großem Gefolge, Flotte und Heer am 9. August 1600 vor der Stadt und quartierte sich in der Revaler Burg ein. Nach der Eroberung Livlands von Polen-Litauen empfing ihn die Stadt erneut am 10. April 1601, wo er sich bis zum 19. November desselben Jahres aufhielt. 1614 besuchte Gustav II. Adolf die Stadt und nahm an der Hochzeit des mit der schwedischen Krone eng verbundenen Ritters Fabian Wrangell teil. 1624 hielt sich die Königinwitwe Maria Eleonora von Brandenburg in Reval auf und besuchte eine Abendmahlsfeier in der Nikolaikirche. Am 26. Oktober 1700 traf Karl  XII. anlässlich der Verteidigung Estlands gegen den Angriff der russischen Truppen Peters I. in Reval ein. Die Ritterschaft: Am 4. Juni 1561 hatten die Adligen Estlands wie erwähnt freiwillig einen Treueid auf den schwedischen König Erik XIV. geleistet. 1584 schlossen sich die Ritterschaften von Harrien (estn. Harju), Jerwen ( Järva) und Wierland (Viru) zur Estländischen Ritterschaft zusammen. Etwas später im selben Jahr trat auch der Adel von Wiek (Lääne) einschließlich der Insel Dagö (Hiiumaa) der Estländischen Ritterschaft bei. Hauptinitiator zur Bildung einer vereinigten Estländischen Ritterschaft war neben dem Adel selbst der einflussreiche schwedische Oberbefehlshaber und Politiker Pontus Axel Julius de la Gardie gewesen. Sie hatte also auch im Interesse der schwedischen Regierung gelegen. Trotzdem verfügte die Ritterschaft (abgesehen von einigen Städten mit kommunaler Selbstverwaltung) künftig über einen Großteil der politischen Macht in Estland. Die althergebrachten Landesprivilegien wurden bei Thronbesteigungen neuer schwedischer Monarchen üblicherweise bestätigt und erneuert. Diese sahen eine weitreichende Autonomie sowohl bei der Verwaltung des Landes als auch in der Rechtsprechung über die deutsche und estnische Bevölkerung vor. Sie garantierten die Ausübung des evangelisch-lutherischen Glaubens im Rahmen des Augsburger Bekenntnisses (1530). Deutsch war Behördensprache der ritterschaftlichen Institutionen und teilweise in den schwedischen Statthalterbehörden. Zudem stellte die Estländische Ritterschaft den königlichen Statthaltern, Gouverneuren und Generalgouverneuren zwei Regierungsräte als Berater in Landesangelegenheiten zur Seite. Das zentrale politische Organ der Estländischen Ritterschaft bildete das Ritterhaus bzw. der Landtag, der sich seit etwa 1650 auf dem Revaler Domberg befand, bis eine Feuersbrunst im Juni 1684 fast alle Häuser auf dem Dom vernichtete. Ordentliche Landtage wurden alle drei Jahre ausgeschrieReval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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ben und bedurften der Zustimmung der schwedischen Provinzialregierung. Teilnahmeberechtigt waren ursprünglich nur grundbesitzliche immatrikulierte Adlige, später jedoch jeder (d.h. auch nicht in die Matrikel der Estländischen Ritterschaft aufgenommene) Besitzer eines Rittergutes. Allein die Beschlussfassung in einzelnen Angelegenheiten, die Verwaltung und teilweise die Besetzung einiger Ämter sowie das Recht, an den Wahlen zu diesen Ämtern teilzunehmen, blieben dem immatrikulierten Adel vorbehalten. Die Landtage entschieden über finanzielle Fragen, Ämterbesetzungen, Neuaufnahmen in die Matrikel bzw. Ausschlüsse aus diesen und grundsätzlich über alle wesentlichen Landesangelegenheiten, darunter auch Kirchen- und Schulwesen sowie Stiftungen. Vorsitzender des Landtags war der ehrenamtliche Ritterschaftshauptmann, der in der Regel für eine Amtszeit von drei Jahren, d.h. bis zur Einberufung des nächsten ordentlichen Landtags, gewählt wurde und dem Landtag gegenüber rechenschaftspflichtig war. Er hatte für die Wahrnehmung der Rechte, Gerechtsame und Interessen der Ritterschaft zu sorgen, war Vorsitzender des Ritterschaftsausschusses und des Kreistags, ferner in verschiedenen Kommissionen und, bis zur Justizreform von 1889, im Niederland- und Landwaisengericht tätig. Außerdem arbeitete er als Mitglied verschiedener Kommissionen und Institutionen der Gouvernementsregierung. Er musste immatrikuliertes Mitglied der Estländischen Ritterschaft sein und in Estland ein Rittergut besitzen. Unter dem Ritterschaftshauptmann arbeitete eine Ritterschaftskanzlei. Die dort beschäftigten Ritterschaftssekretäre führten Protokoll auf den Landtagen (»Landtagsdiarium«) und die ritterschaftliche Korrespondenz sowie die laufenden Geschäfte der Ritterschaft. Der Ritterschaftsausschuss setzte sich aus zwölf Landräten (Kreisdeputierten) zusammen. Er stellte das höchste Selbstverwaltungsorgan der Ritterschaft dar, fungierte aber auch – unter dem Vorsitz des Generalgouverneurs oder stellvertretend für den präsidierenden (dienstältesten) Landrat – als Estländisches Oberlandgericht, d.h. höchstes Gericht der Estländischen Ritterschaft. Er tagte während oder außerhalb des Landtages, prüfte die für die Landtagsberatung vorliegenden Sachen vorläufig, hatte schiedsrichterliche Funktionen, besetzte Ämter, die zwischen den Landtagen frei geworden waren, und konnte auch außerordentliche Landtage einberufen. Die Kreisdeputierten (von jedem Kreis drei) wurden in den vier Kreisen während des Landtags oder auf einem besonderen Kreistag aus den im Kreis besitzlichen immatrikulierten Edelleuten gewählt. Sie amtierten auf Lebenszeit. Außerdem bekleidete je ein Landrat das Amt eines Präses des Konsistoriums, des 84  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Kuratoriums der Ritter- und Domschule zu Reval und des Oberkirchenvorstehers in einem der vier Kreise. Die estländischen ritterschaftlichen jurisdiktionellen Instanzen blieben von Seiten der schwedischen Zentralregierung unangetastet, unterstanden aber dem Stockholmer Hofgericht als oberstem Revisionsgericht, das zugleich in Anlehnung an die Rechte des schwedischen Adels als forum privilegiatum fungierte. Das unter schwedischer Herrschaft eingerichtete, aus den zwölf Landräten zusammengesetzte Oberlandgericht auf dem Revaler Domberg diente als oberste Instanz der ritterschaftlichen Gerichtsbarkeit in Estland einschließlich der Stadt Narva. In Strafsachen war es in erster Instanz zuständig für Amtsdelikte aller Art, in zweiter Instanz für Berufungen aus dem Magistrat von Hapsal und Narva und dem Manngericht. In Zivilsachen bildete es die erste Instanz für Streitigkeiten über Kirchen- und Kronsvermögen, gegen die Ritterschaft sowie einzelne Adlige und Geistliche, ferner in Urheberrechtssachen. Als zweite Instanz trat es in Zivilsachen für das Niederland-, die Manngerichte (s.u.) und die Magistrate von Hapsal und Narva, als letzte Instanz in Bauernsachen ab einem gewissen Streitwert in Erscheinung. Das ebenfalls in schwedischer Zeit eingerichtete Niederlandgericht behandelte Forderungen gegen Adlige. Vorsitzender war der Ritterschaftshauptmann, Beisitzer die Mannrichter und Hakenrichter. Berufungen gingen an das Oberlandgericht. Die schon aus dem Mittelalter bekannten Mannrichter wurden in Estland bis zur Justizreform von 1889 beibehalten, wiewohl Zuständigkeit, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichts sich im Laufe der Zeit wandelten. Sie waren ehrenamtlich tätig, mussten immatrikulierte Adlige sein und wurden von der Ritterschaft auf drei Jahre gewählt. Eine juristische Ausbildung war nicht erforderlich. Dieser Kompetenzmangel wurde jedoch dadurch ausgeglichen, dass der lebenslang angestellte Sekretär rechtskundig sein musste. In Strafsachen war das Revaler Manngericht Prozess- und Vollstreckungsgericht des Harrischen Kreises, in Zivilsachen zuständig für alle Einwohner Harriens aus weltlichem Stande, ausgenommen die von den Bauernbehörden behandelten Sachen. Superintendantur/Bistum: Das Amt des Superintendenten von Estland, der auf dem Revaler Domberg residierte, fußte nicht auf der Tradition, sondern auf dem Privileg Eriks XIV. für die Ritterschaften der Lande Harrien, Wierland und Jerwen aus dem Jahre 1561. Es verlangte, dass die Ritterschaften »nicht allein bei der heilsamen lehre des euangelii, wor derselbige bey ihnen rein und aufrichtig gelehret und geprediget, sollen bleiben und Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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beharren, sondern wollen auch, dasz nach ihrer persohnen geschicklichkeit abzusetzen und andere tüchtige an ihre statt zu nehmen, unser und der stadt superintendenten zu Reual die pfarren und kerspel der lande visitiren und, wan es nötig, tüchtige praedicanten, pfarherrn und sehlsorger verordnen und einsetzen, die untüchtigen aber und falschen lehrer absetzen und abschaffen sollen.« Zu Beginn der schwedischen Herrschaft setzte Erik XIV. 1565 als Bischof von Estland den lutherischen Dompastor Magister Peter Folling (lat. Petrus Nicolai Follingius), ein. Dieser verstarb jedoch noch vor seinem Amtsantritt. Daraufhin ernannte der König den seit 1561 als Superintendenten der Stadt Reval amtierenden Magister Johann von Geldern. Damit endeten die Erfolge der schwedischen Bistumspolitik jedoch auch schon. In Estland war in der Zeit zwischen 1561 und 1617 wegen des chronischen Kriegszustandes zwischen Schweden, dem Moskauer Großfürstentum und Polen-Litauen an ein geordnetes Kirchenwesen nicht zu denken. Zwar entwickelte die schwedische Regierung in dieser Zeit mancherlei Pläne und Aktivitäten, doch konnten konkrete Maßnahmen erst nach dem Friedensschluss von Stolbovo (1617) ergriffen werden. 1627 sandte Gustav II. Adolf den Västeråser Bischof Johannes Rudbeckius als Visitator nach Estland. Dieser verfuhr mit der Provinz in der in Schweden üblichen episkopalen Selbstherrlichkeit – und durchaus den Intentionen des Königs entsprechend –, erregte damit aber den Unmut der Estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval, denn die Visitation der estländischen Kirchen durch einen Vertreter des schwedischen Episkopats bedeutete in den Augen der estländischen Stände eine Missachtung des ritterschaftlichen und städtischen Patronatsrechts. Die Schaffung eines Bistums, einer Kirchenordnung und eines Konsistoriums für Estland blieben wegen der durch Rudbeckius ausgelösten Zwistigkeiten zwischen Ritterschaft und Krone denn auch lange Projekt. Rudbeckius konnte vorerst nur durchsetzen, dass der Kirchenzehnt, der in den zurückliegenden Jahren in die Taschen der Ritterschaften geflossen war, wieder der Kirche und ihren Einrichtungen (Kirchenverwaltung, Pastoren, Kirchen, Schulen) zukam. Zudem wurde mit Hilfe des Kirchenzehnten eine Reihe neuer kirchlicher Ämter nach Vorbild der schwedischen Kirchenverfassung (Kirchenälteste, -diener, -revisoren u.a.) geschaffen. Die von Rudbeckius eingeführte Struktur brachte zudem die Einsetzung eines Bischofs für Estland und bischöflicher Ämter mit sich. Dem Bischof zugeordnet war ein Domkapitel, bestehend aus sechs Pröpsten, die jährliche Visitationen durchführten. Die estländischen Pastoren kamen einmal jährlich zu Beratungen zusammen. Niemand konnte Pastor werden, 86  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

wenn er nicht Melanchthons Loci communes und die estnische Sprache beherrschte. Diese Vorschriften wie auch andere zur Kirchendisziplin ergriffene Maßnahmen waren nach Muster der Kirchenordnung (constitutiones ecclesiasticae) des Bistums Västerås, also Rudbeckius‘ eigenem Stift, abgefasst und leiteten in Schweden wie in Estland das Zeitalter der lutherischen Orthodoxie ein. Der Adel und die Stadt, die zu Recht einen Einbruch espiskopaler Machtstrukturen in ihre überlieferten Patronatsrechte witterten, verweigerten sich zunächst Rudbeckius’ Forderungen. Alternativ zu Rudbeckius’ espiskopalem Reformprojekt schlug die Estländische Ritterschaft ein gemischtes Kirchenkonsistorium (consistorium mixtum) vor, in dem der Adel ein Mitspracherecht haben sollte. Der König wies jedoch alle entsprechenden Klagen und Gegenvorschläge ab. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen Krone und Ritterschaft erklärte die Krone das Herzogtum Estland schließlich 1641 zu einer eigenen Kirchenprovinz (ohne die Bürgerstadt Reval) unter Aufsicht eines Superintendenten mit Sitz in Reval. Der Superintendent von Estland war – entsprechend einer Klausel der schwedischen Regierungsform (dem königlichen Grundgesetz) von 1634, dass nur Schweden die höchsten Reichsämter innehaben durften – Schwede und wurde vom König ernannt. Für seine Entlohnung kamen die königliche Kammer und die estländische Ritterschaft zu etwa gleichen Teilen auf. Den estländischen Ständen war es nicht gestattet, sich in die Kirchen- und Schulpolitik des Superintendenten einzumischen. Zudem besaß der estländische Adel auch kein Jurisdiktionsrecht mehr über die Geistlichkeit. Auch die Geistlichkeit und das Gymnasium in Reval unterstanden als Stand und Institution der Kirche dem nominell 1627 gegründeten estländischen Konsistorium unter Vorsitz des Superintendenten von Reval. Diese Politik, die die Zurückdrängung des estländischen Adels und der Revaler Bürgerschaft zum Ziel hatte und die Kirche zu einem Einfallstor schwedischer Reichskirchenpolitik machte, setzte sich bis in die Zeit König Karls  XI. (1672–1697) fort und gipfelte im schwedischen Kirchengesetz von 1686, das nach Anfertigung einer deutschen Übersetzung 1689 in der estländischen Kirchenprovinz eingeführt wurde. Über die zur Anpassung an estländische Verhältnisse notwendigen Modifikationen, die zwischen Krone, estländischem Adel und estländischem Klerus heftig umstritten waren, konnte allerdings bis zum Ausbruch des Großen Nordischen Krieges (1700) keine Einigkeit erzielt werden. Während nämlich Krone und Geistlichkeit mehr Macht für sich beanspruchten, verteidigten der Provinzialadel und die Stadt Reval ihre traditionellen Vorrechte. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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Neben der Frage der Superintendantur und des Kirchenkonsistoriums wollte es die schwedische Regierung auf Dauer auch nicht bei der »heilsamen lehre des euangelii«, dem Augsburger Bekenntnis, als Klammer zwischen der Schwedisch-Lutherischen Kirche und der estländischen Provinzial- bzw. Revaler Stadtkirche belassen. 1667 erschien ein Religionsplakat, das die Beschlüsse des schwedischen Konfessionsreichstags von Uppsala 1593, den offiziellen reichskirchlichen Übergang Schwedens zum Luthertum, auch für die Ostseeprovinzen als verbindlich erklärte und außerdem noch einmal bekräftigte, dass Ausländer, die sich im Reich, also auch in den Provinzen, aufhielten, keine Glaubensfreiheit genössen, deren Kinder ohne Ausnahme auf die Augsburger Konfession zu taufen seien und ausländischen Geistlichen und Lehrern der Aufenthalt im Reichsgebiet untersagt sei. Während diese Regelungen keinen Zwist zwischen der Stadt Reval und der schwedischen Krone hervorriefen, lag ein potentieller Konflikt im ius episcopale, der Frage also, wer die Geistlichen in der Stadt einsetzen durfte – die Krone oder die Stadt. Die Stadt Reval hatte sich der schwedischen Krone freiwillig unterstellt und konnte deshalb von ihrem Schutzherrn Rücksichten auf die Tradition und die innerstädtischen Verhältnisse erwarten. Trotzdem wurden 1675 die Privilegien der schwedischen Geistlichkeit in die Ostseeprovinzen und damit auch in die Stadt Reval eingeführt. Diese verbesserten vor allem die materielle Lage der Geistlichkeit, machten sie aber auch unabhängiger vom direkten Zugriff der Bürgerstadt. Der Dom blieb unter schwedischer Herrschaft und mit lutherischer Ausrichtung die Hauptkirche des Bistums von Estland. Sie fiel 1581 einer verheerenden Feuersbrunst zum Opfer und wurde danach erst langsam wieder aufgebaut. 1684 brannte die Domkirche während eines Feuers, dass die ganze Oberstadt erfasste, erneut. Auf Billigung Karls XI. wurde noch im selben Jahr eine Kollekte im ganzen Land zum Wiederaufbau der Domkirche durchgeführt, so dass diese bereits 1686 wiedereröffnet werden konnte. Die Bischofsresidenz, die sich ursprünglich am Glint befunden hatte, scheint spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts verlegt worden zu sein und befand sich nun zwischen dem Friedhof der Domkirche und dem sog. Glockenturm (an der Ecke der heutigen Piiskopi-Straße). In der Mitte des 17. Jahrhunderts ersetzte man sie durch ein zweistöckiges Gebäude, das jedoch wie der Dom der Feuersbrunst von 1684 zum Opfer fiel. 1688 war zumindest das Erdgeschoss wieder bewohnbar. Die Renovierungsarbeiten an der Bischofsresidenz wie auch am Dom und anderer Kirchengebäude auf dem Domberg wurden von dem bekannten Revaler Zimmermann und Turmbauer Daniel Bieckel geleitet. 88  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Die Bürgerstadt (Unterstadt) Mit der mehrfach wiederholten Bestätigung der Privilegien und Rechte der Stadt (1561, 1570, 1594, 1607, 1613, 1646, 1675) anerkannte die schwedische Krone die traditionelle, auf die Hansezeit zurückgehende Rechtsautonomie und Selbstverwaltung der Unterstadt an. Rechtliche Grundlage der Stadtverfassung blieb das lübische Recht (seit 1586 in revidierter Fassung). Danach fungierte als höchstes Selbstverwaltungsorgan der städtische Rat (Magistrat), die aus Rechtsgelehrten und Kaufleuten bestehende Stadtobrigkeit und zugleich der erste Stand der Bürgergemeinde. Er bildete die oberste Recht sprechende, Gesetz gebende und Verwaltungskörperschaft der Stadt und bestand wie schon in spätmittelalterlicher Zeit aus vier Bürgermeistern, darunter jetzt aber mindestens einem Juristen, außerdem einem ebenfalls rechtsgelehrten Syndikus und vierzehn auf Lebenszeit gewählten Ratsherren (Ratmännern), darunter wiederum zwei Juristen. Der Rat rekrutierte sich aus den Kaufleuten, besonders den Ältermännern und Ältesten und den Wort führenden Jüngsten der Großen Gilde. Andere Mitglieder der Bürgerschaft waren nicht ratsfähig. Die vier Bürgermeister zusammen mit dem Syndikus bildeten das sog. Collegium Consulum, das neue Bürgermeister ernannte und ein Vorschlagsrecht bei der Besetzung vakanter Ratsstühle besaß. Zuweilen wurden ihm auch besondere Aufgaben übertragen. Vor der Wahl des Syndikus holte der Rat die Meinung der Großen und der Kanutigilde ein. Der Syndikus war ein rechtsgelehrtes Mitglied des Magistrats und gleichzeitig Direktor der städtischen Kanzlei. Er arbeitete als besonderer Kenner und beauftragter Verteidiger der städtischen Privilegien. 1687 bekam der Rat den Reformwillen des schwedischen Absolutismus in den Provinzen zu spüren, als König Karl XI. gegen den Willen des Rates das in Schweden seit 1636 existierende Amt des Justizbürgermeisters einführte. Der Justizbürgermeister trat als königlicher Commissarius neben den Revaler Ratsältesten, der auf alle seine justitiellen Zuständigkeiten verzichten musste, und wurde so ein Instrument zur Durchsetzung des politischen Willens der schwedischen Krone in den Rechtsangelegenheiten der Stadt. Indem der König als ersten Justizbürgermeister den bisherigen Ratssyndicus Fonne – von Karl XI. nobilitiert als Heinrich von Rosencron – einsetzte, griff die Krone zwar auf eines der traditionellen Ratsämter zurück, definierte es aber gleichzeitig im Sinne des zentralisierten schwedischen Machtstaates um. Die Aufgaben des Rates bestanden in der »erhalttung und propagation Göttlichen worts, Gemeiner ersprieslichkeitt und gedeilicher Wolfahrt unser lieben bürgerschafft«, d.h. der Vertretung der Stadt als juristische Person Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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nach außen hin und der Aufsicht über Finanzen, Wirtschaft, Justiz, Militär, Kirche, Bildung und Wohlfahrt der Stadt. Keinen Zugriff hatte der städtische Rat auf Bereiche und Personen, die der schwedischen Gouvernementsverwaltung (Zivilbedienstete der schwedischen Krone, schwedische Garnison) oder der estländischen Ritter- und Landschaft unterstanden. Als städtisches Untergericht unter dem Rat als städtischem Obergericht fungierte das mit zwei Ratsherren besetzte Kämmereigericht (auch: Stadtkämmerei). Das Kämmereigericht prüfte u.a. die Voraussetzungen für die Erteilung des Bürgerrechts und vereidigte die städtischen Gerichtsdiener, führte die Bauaufsicht und entschied über Bau-, Grenz- und Servituts- (Nießbrauch-)Streitigkeiten. Es hatte ferner die Voraussetzungen für die Erteilung von Schank- und Brauereikonzessionen zu prüfen, führte die Oberaufsicht über die Steuerinspektion und war Prozessgericht für Sachen der Diener des Rats und der Untergerichte. Der jüngere der beiden Ratsherren führte zudem die Aufsicht über die Undeutschen Ämter (s.u.). Dem Rat stand die Gemeinde, bestehend aus der Gesamtheit der Mitglieder der Großen, der Kanuti- und der Olaigilde, als beschlussfassendes Organ gegenüber. Die Gemeinde war in administrativer Hinsicht u.a. für die Finanzverwaltung, die Verwaltung der städtischen Landgüter (Stadtmark, Rittergüter), den Befestigungs- und Hafenbau und die städtische Miliz zuständig. Die städtische Miliz (Bürgerkompagnie), die gleichzeitig als Stadtwache diente, wurde vom Stadtkapitän geführt. Die professionellen Stadtmilizionäre waren von der direkten Zivilgerichtsbarkeit der Stadt ausgenommen und unterlagen dem Stadtkriegsgericht. Dessen Urteile mussten vom städtischen Magistrat (Rat) bestätigt werden. Der Magistrat bildete außerdem die einzige Berufungsinstanz. Strafen wurden von der Bürgerkompanie selbst vollstreckt. Eine »Bürgerwachtordnung« von 1656 sah für jedes der 4 Quartiere (1. Strandpforte und Rossmühle, 2. Markt und Systernpforte, 3.  Lehmpforte und 4. Schmiedepforte und Dunkerstr.) eine Bürgerkompanie, aus Bürgern und Handwerkern des entspre­chenden Quartiers unter Führung eines Kapitäns vor. Uniform und Bewaffnung hatte jedes Mitglied der jeweiligen Bürgerkompanie selbst zu stellen. Wie Hauptmann Schenckenberg mit seinen Mannen im   Livländischen Krieg moskovitische Kanonenkugeln sammelte   und aus den Kanonenkugeln Vögel wurden Anno 1577: »(…) Thom drüdden, hadde ock ein Erbar Radt eine Fane Harrisscher Buren, auer 400. starck, stolte unuorzagede Kerls, unde meistpart Haken-

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schütten, mit geringer besoldinge bestellet, welcker Buren Höuetman was Juo Schenckenberch, eines Müntemeisters sön van Reuel, ein freidiger behertzter yunger Man, de syn büresche Krygesvolck mit allerey befehlich unde empteren, na düdescher ordeninge un gebruke affgerichtet hadde, unde desüluigen buren, neuenst den düdeschen unde Schwedisschen Landesknechten, begerden nichts leuers, alse alle dage und nacht mit den Rüssen tho schermützelen, wo se denne ock offtmals den pryß erlanget hebben, derwegen Juo Schenckenberch van synen missgünstigen, Hannibal, unde syne Buren, Hannibals volck ys genömet worden. Dissem Hannibal, unde synem Volcke, weren de Rüssen insunderheit vyendt und gram. Ock ys disse gemelte Hannibals Fane, op de Fürbelle tho wachtende bestellet gewesen, mit solckem bedinge, dat se scholden dach und nacht by etliken rotten gude wacht holden, unde so mannigen Fürball ein yder dem Krygeauersten der Stadt bringen wörde, so mannige 3. marck, dat ys ein ordt Goldes, scholde ein yder hebben alle mahl, Unde senn se einen Fürball, op eines Börgers Huse beschlögen, dar keine wacht op dem Böne vorhanden were, seeüluigen Börgers Huß, scholden se men stracks oplopen, unde den Fürball dempen, edder uth der Luken op de Straten werpen, des scholde en desüluige Börger, de keine Wacht geholden hadde, einen haluwen daler stracks tho geuende schüldich syn, tho yeder rydt, Quia spe commodi mouemur omnes. Do sint de Kerls gantz lustich geworden, unde hebben sick mit den Fürbellen dach unde nacht geyaget, gelick alse de Knaben mit den Küselen op der straten, dat manniger, de bedröuet unde trurich was, sick darauer erquicken und lachen möste. Thom veerden, möste ein yder op synen böne natte Offen hüde, Ketelen edder Ballien, mit messe befraren, alle wege bereydt Hebben, dar mit men de Fürbelle dempen möchte, dewyle dat Water dar nicht tho denen wolde. Tho deme sint ock alle Böne in Reuel mit breden steynen flysen wol belecht, unde mit Erdrike gantz dicke bedragen gewesen, dat wenn gelick Fürbelle darup fellen, se dennoch so balde nicht dörch bernen konden. Dörch solcke vorsichtichkeit der Auerichkeit unde flytige Wacht, und do men ock in de gewanheit gekamen ys, hefft men einem Fürbal nicht mehr geachtet, alse einen Vagel in der luft. Quelle: Rüssow, Balthasar: Livländische Chronica Der Provintz Lyfflandt, Barth 1584, Kap. 95.

Die rechtliche Autonomie der Revaler Stadtmiliz führte vor allem im Verhältnis zur schwedischen Garnison, die in Privatquartieren und in den Vorstädten untergebracht waren, immer wieder zu Problemen. Konflikte zwischen den Mitgliedern der beiden militärischen Einheiten provozierten fast automatisch Konflikte zwischen der schwedischen Regierung und dem städtischen Rat und waren ein Dauerthema. Die von Rat und Gemeinde gemeinsam besorgte Finanz- und Armenverwaltung der Stadt betraf vor allem die Kontrolle der Akzisenkammer, Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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des Gemeinen Kastens (Stadtkastens) und des Gotteskastens. Die Akzisenkammer erhob die städtischen Binnenzölle (Akzise) sowie die Wach- und Soldatengelder. Der Gemeine Kasten, in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation noch synonym mit dem Gotteskasten, später jedoch von diesem getrennt und seit 1609 in der alleinigen Zuständigkeit der Gemeinde, kontrollierte alle sonstigen Einkünfte und Ausgaben der Stadt. Der Gotteskasten diente als öffentliche Kasse zur Verwaltung von Stiftungen, deren Erträge nicht direkt in zweckbestimmte, meist kirchliche Fonds flossen, und war mit Mitgliedern des städtischen Rats und der Gilden besetzt. Er verwaltete alle Gelder, die zum Unterhalt der Siechenkirche, der St. Johannis-Hospitalkirche, der Kranken-, Siechen- und Armenhäuser, der Stadtschulen, der städtischen Gefängnisse und des Getreidemagazins angewiesen wurden. Die Armenfürsorge war im sog. Armendirektorium oder Armenamt organisiert, einem Ausschuss des Rats zur Aufsicht über die Armen- und Siechenanstalten und des Spinnhauses. Die auf den 1284 erhaltenen iura spiritualia basierende Verfügungsgewalt der Stadt über das Kirchenvermögen, die Bestellung der Geistlichkeit an den städtischen Kirchen und das städtische Schulwesen blieb auch nach der Reformation, als die Kirchenordnung geistliche und weltliche Angelegenheiten zwischen dem Superintendenten auf der einen und Rat und Gemeinde auf der anderen Seite getrennt hatte, erhalten. Beim Übergang Revals unter die schwedische Oberherrschaft (1561) unterhielt die Stadt ein gut funktionierendes Kirchenwesen. 1524 hatte sie sich eine neue Kirchenordnung gegeben, ein lutherisches Stadtkonsistorium und eine eigene Superintendentur geschaffen. Das Stadtkonsistorium fungierte als Aufsichtsbehörde für alle die Kirche und das städtische Schulwesen betreffenden Angelegenheiten. Außerdem diente es als Gerichtshof in Kirchen- und Ehesachen, wobei die Beweiserhebung durch ein weltliches Gericht vorgenommen wurde. Die sog. Kircheninspektion diente als Aufsichtsorgan zur Verwaltung kirchlichökonomischer Angelegenheiten, insbesondere des Kirchenvermögens in den städtischen Kirchengemeinden. Trotz der von der schwedischen Regierung bestätigten Rechts- und Verwaltungsautonomie der Stadt und der Wahrung des lübischen Stadtrechts brachte die schwedische Herrschaft die Herauslösung Revals aus dem hansischen Rechtsverband mit sich. Zwar hatten noch am 12. Juni 1572 Revaler Sendboten auf dem Hansetag zu Lübeck erklärt, dass die Bürgerstadt Reval trotz der schwedischen Herrschaft Teil der Hanse bleiben wolle (auf diese Weise hatte die Stadt während des Livländischen Krieges von hansischen Kontributionen zur Verteidigung der Stadt gegen die Angriffe Moskaus profitiert). 92  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Doch als Johan III. am 25. August 1584 den Rechtszug der Stadt Reval nach Lübeck aufhob und alle Appellationssachen gegen Urteile des städtischen Rates, die 500  Reichstaler überstiegen, an den königlichen Hof in Stockholm verwies, war es mit der Zugehörigkeit Revals zum hansischen Rechtsverband vorbei. Formalrechtlich gesehen könnte man also die Periode 1561–1584 hinsichtlich des Verhältnisses der Stadt Reval zu Schweden so interpretieren, dass die Bürgerstadt (Unterstadt) nach ihrer Unterwerfung unter Schweden (6. Juni 1561) und der Bestätigung der städtischen Rechte und Freiheiten (Privilegien) durch Erik XIV. (2. August 1561) in rechtlicher Hinsicht Teil der Hanse blieb und nur der Domberg nach der Kapitulation und dem Abzug der Ordenstruppen (24. Juni 1561) vollständig unter schwedische Herrschaft gelangte. Dafür spricht auch, dass die schwedische Regierung vor 1584 keine Reformmaßnahmen in der Unterstadt durchgeführt hat, wohingegen sie auf dem Domberg unmittelbar nach der Kapitulation des Ordens tätig wurde. Das Stadtbild Unter schwedischer Herrschaft wuchs die Stadt in physischer Hinsicht – entsprechend der schwachen demographischen Entwicklung – nur unerheblich. Zwischen Stadtmauern und Bastionsgürtel wurde 1653 die Neue Straße (Uus) angelegt. Weitere größere Maßnahmen sind nicht überliefert. Nach außen hin erhielt die Stadt jedoch ein völlig neues Gesicht. Die Verteidigungsanlagen wurden unter schwedischer Herrschaft erheblich ausgebaut. Anstelle der alten Wälle, die bereits für das Jahr 1577 belegt sind und den Livländischen Krieg gut überstanden hatten, wurden nun die nach aktuelleren militärischen Gesichtspunkten konzipierten Fortifikationen im Stile Vaubans aufgebaut. Wälle und Ravelins prägten das Bild der befestigten Stadt, die bis zum Ende der schwedischen Herrschaft zu einer der stärksten Festungen des Schwedischen Reiches wurde. Dabei spiegelten die Namen der Bastionen den Herrschaftsanspruch der schwedischen Krone und integrierten die Stadt Reval auf symbolische Weise in den Gesamtzusammenhang des Reiches. Nach dem vollen Ausbau der Festung Reval lasen sie sich wie ein Verzeichnis der der schwedischen Krone unterstellten oder von ihr beanspruchten Territorien: »Schweden«, »Goten«, »Wenden«, »Schonen«, »Finnland«, »Karelien«, »Ingermanland«, »Estland«, »Livland«, »Pommern«, »Wismar«, »Bremen«, »Berg«, »Kleve«, »Jülich«, »Bayern«. Von allen diesen Territorien, so die Botschaft an die Revaler Bürger und ihre Feinde, war im Falle eines Angriffs auf die Stadt militärische Hilfe zu erwarten. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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Die Revaler Stadtmark veränderte sich in schwedischer Zeit nicht wesentlich. Königin Christina (1632–1654) schenkte der Stadt eine Heuwiese südwestlich der Stadtmauern, die in der volkstümlichen Sprache lange den Namen »Christinas Heuschlag« (Kristiine heinamaa) trug, offiziell aber bis 1920 Kristinental (Kristiine) hieß. Dazu kam ein Heuschlag mit der Bezeichnung »Heise Nehm«, der erstmals 1646 in den Quellen auftaucht, dessen Entstehungshintergrund jedoch nicht mehr rekonstruierbar ist. 1650 schenkte Christina dem Sekretär der estländischen Gouvernementsregierung Andreas Walwyk ein Grundstück am Ende des Tönniesbergs zu »ewigem Eigentum« und verkleinerte damit das Territorium der Domstadt. 1670 erhielt die estnische und finnische Bevölkerung mit der von Karl XI. gestifteten Karlskirche auf dem Tönniesberg ein eigenes Gotteshaus. Es brannte jedoch 1710 während des Großen Nordischen Krieges aus und wurde danach nicht mehr aufgebaut. Die Besitzverhältnisse der Unterstadt wurden zu Gunsten der Stadt geregelt, nachdem die Vormundschaftsregierung Karls XI. 1666 verordnet hatte, dass der Adel keine Häuser in der Stadt, die Bürger keine Rittergüter, die Stadt jedoch als Kommune Rittergüter erwerben durfte. Dadurch wuchs der städtische Grundbesitz nach 1666 über die mittelalterliche Stadtmark hinaus. Von weit größerer Bedeutung als diese Erweiterungen des städtischen Besitzes, war der Ausbau des Hafens. Die Bestätigung der Handelsprivilegien und des Stapelrechts im Rahmen der Revaler Stadtprivilegien durch Erik XIV. von 1561 schuf die Grundlage dafür, dass die Stadt, obwohl die schwedische Regierung sie 1584 zwang, den hansischen Rechtsverband zu verlassen, ihre traditionellen Handelsbeziehungen weiterpflegen konnte. Der Revaler Hafen war dafür eine wichtige institutionelle Voraussetzung. Allerdings wurde der Hafenbetrieb bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts durch den Livländischen Krieg und durch wiederholte strenge Winter und Unwetter stark behindert und zerstörte viele der mittelalterlichen Hafenstrukturen. Nach langen Bauarbeiten konnte 1612 schließlich eine neue Hafenmole und ein renovierter Wachturm eingeweiht werden. Eine Karte von Reval aus dem Jahre 1634 zeigt die Mole als geraden, ins Meer auslaufenden Wellenbrecher mit einem Wachturm an dessen Ende. Eine Karte von 1683, angefertigt von Paul von Essen, bestätigt dieses Bild. In den Jahren 1647 und 1648 versuchte der Rat eines der Hauptprobleme des Hafens, die Versandung, die dadurch hervorgerufen wurde, dass den Revaler Hafen leer anlaufende Schiffe ihren Stabilisierungsbalast aus Sand und Steinen im Hafenwasser löschten, in Angriff zu nehmen. Mehrere Versuche der Stadt, eine eigene Finanzierung zu Stande zu bringen und 94  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

einen geeigneten Fachmann für die Hafenreinigung zu finden, scheiterten. Schließlich nahm sich die schwedische Krone des Problems an. 1648 erteilte Königin Christina den Befehl, den Hafen zu »reparieren und auszubauen«. Das zur Verfügung gestellte Geld sollte einzig und allein diesem Zweck zu Gute kommen. Ab 1681 sollten nach dem Willen Karls XI. auch Hafengebühren zur Erhaltung des Hafenbeckens eingesetzt werden. 1685 erschien die erste Hafenordnung, die den stark zunehmenden Schiffsverkehr regulierte, der außerdem mit mehreren vermoorten Stellen im Hafen zurecht kommen musste. Die Hafenordnung sah vor, dass die Boote der Mündriche an der Mündung des Stadtgrabens zu liegen hatten, Salz von der Straße per Boot zu den weiter entfernt liegenden Schiffen und Fisch ans sog. Fischufer (Kalarand) oder die Küste beim späteren Katharinental (Kadriorg, s.u.) zu bringen war. Zwischen 1623 und 1629 kam dem Hafen eine Verordnung Gustavs II. Adolf zu Gute, nach der Reval als Pächter aller städtischen Zolleinnahmen entlang des Finnischen Meerbusen fungieren sollte. Außerdem besaßen in dieser Zeit allein Reval und Viborg (in Finnland) ein Stapelrecht. Fast gleichzeitig, zwischen 1626 und 1630, versuchte der König, den Revaler Handel dadurch zu beleben, dass er niedrige Zolltarife einführte. Dazu kam allerdings seit 1628 ein Hafenzoll (Lizent) von 2-5% auf alle Waren, die den Hafen passierten, was den Revaler Handel wiederum hemmte. 1679 wurde Revals ältester Handelsposten, das Kaufhaus des schottischen Kaufmanns Thomas Clayhills & Son, eingerichtet. Es entwickelte sich zu einem wichtigen Faktor des Revaler Handels. Neben dem Handel erhielt der Hafen seit 1638 zusätzlich an Bedeutung, als eine Seepostverbindung zwischen Reval und Stockholm eingerichtet wurde, die Postsachen und Personen transportierte. Sie wurde allerdings durch den Großen Nordischen Krieg abrupt beendet. Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen Die sozioökonomische Entwicklung Revals seit 1561 war immer weniger von den Rahmenbedingungen der Hanse, hingegen mehr und mehr von den Interessen der schwedischen Krone bestimmt. Die zahlreichen von Schweden geführten Kriege gegen das Moskauer Großfürstentum, Polen-Litauen, Brandenburg und Dänemark-Norwegen, aber auch der Zuzug von Personen aus dem schwedischen Gesamtreich wirkten sich auf die demographische Entwicklung aus. In den Revaler Handel mengte sich zunehmend eine merReval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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kantilistische Ausrichtung der schwedischen Handelspolitik. Und auch das Handwerk musste sich an die ökonomische Integrations- und Zentralisierungspolitik Schwedens anpassen. Demographie: Die Einwohnerzahl Revals unter schwedischer Herrschaft zu errechnen, steht wie in mittelalterlicher Zeit vor zahlreichen Problemen. Vor allem fehlen die Quellen. Die wenigen, die es gibt, sind meist indirekter Natur oder unzuverlässig. Schätzungen gehen davon aus, dass Reval zu Beginn des Livländischen Krieges ca. 8.000 Einwohner hatte. Während der Pest 1591 starben ca. 5.000 Einwohner. Die Pest von 1597 und die Hungersnot und Pest von 1602/03 reduzierten die Einwohnerzahl ebenfalls erheblich. Kurz vor Ausbruch des Großen Nordischen Krieges kann man von einer Einwohnerzahl von 12.000 bis 15.000 Menschen einschließlich der Angehörigen der schwedischen Garnison in der Stadt ausgehen. Von diesen überlebten den Krieg aber nur ca. 30%. Schon 1712 lebten nur noch rund 7.000 Menschen in Reval. Die Bevölkerungspolitik der Stadt wurde von unterschiedlichen Interessen geleitet. Die ansässigen Kaufleute und Handwerker waren wegen der befürchteten Berufskonkurrenz nicht daran interessiert, die Bevölkerungszahl der Stadt zu erhöhen. Der städtische Rat und die schwedische Krone sahen es jedoch als unerlässlich an, die Bevölkerung zur weiteren Entwicklung der Stadt zu mehren. Der schwedische Gouverneur von Estland Erik Oxenstierna (1646–1652) traf mit dem Rat 1648 ein entsprechendes Abkommen, das von Königin Christina konfirmiert wurde. Tatsächlich wuchs die Zahl der Stadtbürger in den kommenden Jahren bis 1710 im Mittel um 20 Personen. Das stärkste Wachstum fand in den 1680er und 1690er Jahren statt. Auch die Bevölkerung in den Vorstädten nahm während der schwedischen Periode deutlich zu. Sie übertraf in dieser Zeit jedoch noch nicht die Zahl der Stadtbürger. Die Mehrheit der Vorstadtbewohner stellten Esten, dazu kamen Finnen, Schweden, Deutsche, Niederländer, Russen und einige wenige Juden. Der deutschbaltische Historiker Heinz von zur Mühlen hat die Bevölkerung Revals für das Jahr 1688, das in den Quellen gut dokumentiert ist, nach vier sozialen Schichten gegliedert: 1. Die Oberschicht, zu der er die Mitglieder des städtischen Rates, die Pastoren, Schulprofessoren, Ärzte, Rechtsgelehrten, Schriftsteller, die Stadtbeamten und die Kaufleute der Großen Gilde zählt, insgesamt rund 1.800 Personen; 2. die Mittelschicht, zu der er die spezialisierten Handwerker der Kanutigilde und einige Dienstleute rechnet, insgesamt rund 2.700 Personen; 3. die untere Mittelschicht, zu der die gewöhnlichen Handwerker, die nicht der Kanutigilde angehörten (z.B. Zim96  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

I

Die Revaler Schwarzenhäupter. Epitaph 15. Jh. Im Hintergrund die ­älteste bisher bekannt gewordene Ansicht von Reval/Tallinn.

II

Revalia in Livonia. Aus dem Reisebericht des Adam Olearius, 1647.

III Delineatio urbis Revaliae 1630. Aus einem Album von Friedrich Amelung, 1886–1887.

IV Revalia. Ansicht von Matthäus Merian, 1652.

V

Reval: Domberg, Stadt und Hafen. Darstellung aus dem 19. Jh. Unbekannter Künstler.

VI Einfahrt in den Hafen von Reval. Gemälde von Johannes Hau.

VII Dombergpforte 1827. Gemälde von Johannes Hau. Das Bild zeigt deutlich, dass Reval zu dieser Zeit noch einen eigenen Zollbezirk ­bildete.

VIII Reval. Ansicht vom Laaksberg (Lasnamäe) aus. Gemälde aus dem 18. Jh. Unbekannter Künstler.

IX Der Große Markt von Reval. Anfang des 19. Jh.s. Unbekannter Künstler.

X Blick auf den alten Revaler Hafen. 19. Jh. Unbekannter Künstler.

merleute, Steinmetze), und andere Berufsgruppen (z.B. Kutscher, Mündriche) gehörten, insgesamt rund 2.000 Personen; und 4. die Unterschicht, die alle sonstigen Berufsgruppen umfasste, insgesamt rund 3.500 Personen. Der sprachlich-ethnischen Struktur nach setzte sich die Revaler Bevölkerung im Jahre 1688 aus 45–50% Deutschen, 10–15% Schweden und ca. 40% Esten zusammen. Deutsche und Schweden waren meist Mitglieder der Ober- und Mittelschicht. Esten, Finnen und eine nicht quantifizierbare Zahl von Russen stellten die Untere Mittelschicht und Unterschicht. Die Deutschen, die die Mehrheit der Bewohner der Unterstadt mit Bürgerrecht ausmachten, waren in der Regel Mitglieder der Großen und der Kanutigilde und der Nikolai- bzw. Olaikirche. Aber auch mehrere schwedische Kaufleute und Handwerker waren in der Kanutigilde organisiert. Abgesehen von den Amtsleuten der Krone in der Oberstadt gehörte die Mehrheit der Schweden in der Unterstadt jedoch der schwedischen Garnison an, die in Kriegszeiten bis zu 4.500 Mann (1710), d.h. bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung, ausmachen konnte und teilweise privat in der Unterstadt einquartiert war. Eine dritte Gruppe von Schweden bildeten die »Gäste« – schwedische Kaufleute, die zwar längere Zeit in Reval lebten, aber kein Bürgerrecht besaßen; darüber hinaus einzelne Handwerker und Dienstvolk, die vor allem mit den schwedischen Amtsleuten in Verbindung standen. Die schwedische Gemeinde verfügte mit der Michaeliskirche – der ehemaligen Klosterkirche der Zisterzienserinnen – über ein eigenes Kirchengebäude und einen eigenen Friedhof. Die sog. »Undeutschen« (Esten, Finnen, Liven, Letten, Kuren), waren überwiegend Angehörige der Unterschicht und wohnten mehrheitlich in den Vorstädten. Einige von ihnen kamen aber auch in der unteren Mittelschicht, v.a. in den niederen Handwerken vor, wo Undeutsche – im Gegensatz zu den höheren Handwerken – zugelassen waren. Die meisten undeutschen Handwerker waren Mitglieder der Olaigilde und besaßen eine eigene Kirchengemeinde mit Hospital und Friedhof. 1601 übergab der städtische Rat der undeutschen Gemeinde die Heiliggeistkirche zur Nutzung (sie blieb aber bis 1889 Ratskapelle). Zwischen spätestens 1613 und 1620 existierte hier auch das Hospital »Zum Heiligen Geist«. 1634 wurde der Friedhof der »Grauen«, d.h. der estnischen Bevölkerung der Fischermay (Kalamaja), eingeweiht. Später lebten dort nach der erwähnten Auflistung von 1688 auch rund 300 Finnen. Zwei Ratsdokumente aus den Jahren 1660 und 1666 berichten über weitere Bevölkerungsstrukturen in den Vorstädten. Aus einer von einer Ratskommission durchgeführten Erfassung »loser Weiber« (Prostituierter) in Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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den Vorstädten, geht hervor, dass hier zahlreiche Soldaten (der schwedischen Garnison), Seeleute, gildenlose Handwerker, Gelegenheitsarbeiter, Studenten, alleinerziehende Mütter, als Prostituierte aufgeführte Kohabitanten, also nicht mit ihrem Lebenspartner verheiratete Frauen, aber auch der Scharfrichter, der Bestatter und der Stadttrommler wohnten. Von der russischen Bevölkerung in Reval während des 15. und 17. Jahrhunderts ist aus den Quellen kaum etwas zu erfahren. Etliche von ihnen waren als Dienstboten beschäftigt. Andere hielten sich als »Gäste« nur vorübergehend in der Stadt auf, um Handel zu treiben. Handel Der Revaler Handel erlebte unter schwedischer Herrschaft eine Niedergangsperiode. Die Krone betrieb in den Städten der Provinz Estland eine merkantilistische Wirtschaftspolitik, die in letzter Konsequenz auf die Abschöpfung der städtischen Handelsgewinne in Form von Zöllen und Steuern gerichtet war. Damit schwand die Wirtschaftskraft der estländischen Städte während des 17. Jahrhunderts beträchtlich. Der schwedische Merkantilismus enthielt für Krone und Stadt aber auch andere Konfliktpotentiale. Erstrebte der schwedische Zentralstaat eine Vereinheitlichung und Systematisierung der Stadtrechte und -funktionen, so kämpften Reval und die anderen schwedischen Ostseestädte um den Erhalt ihrer überlieferten Freiheiten und Autonomien aus hansischer Tradition. Die Hanse war allerdings zu dieser Zeit längst keine Größe mehr, mit der die Hansestädte der schwedischen Stadtpolitik etwas hätten entgegensetzen können. Gleichwohl kam es aufgrund traditionaler Haltungen häufig zu Zwisten und Missverständnissen zwischen Zentralstaat und Städten. Der schwedische Zentralstaat konnte sich dabei im Verlauf des 17. Jahrhunderts behaupten. Das ist besonders an der Vereinheitlichungspolitik abzulesen. Verordnungen der schwedischen Krone von 1614, 1617 und 1636 über die Aufteilung der Städte des Schwedischen Reiches in Binnen- und Außenhandels- oder Stapelstädte betrafen auch die Städte in den Ostseeprovinzen, wenn auch in weniger strikter Form. In Est- und Livland waren noch in hansischer Zeit alle an der See gelegenen Städte sowie Dorpat als Stapelstädte angesehen worden. Die schwedische Regierung übernahm diese gewohnheitsrechtliche Vorstellung zunächst, regelte jedoch durch Verordnungen des Jahres 1643 die rechtliche Position der baltischen Städte im Detail. Als Städte mit Stapelrecht (ius emporii) galten danach neben Reval auch 98  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Narva, Pernau, Arensburg, Hapsal, Riga und Nyen, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch Ivangorod (1617–1649) und für kurze Zeit Dorpat (1646–1647). Die Stapelstädte stellten Umschlagplätze für das an Produkten und Rohstoffen reiche Hinterland dar, das nicht nur in die Provinzen, sondern weit ins russische Binnenland hineinreichte und für den schwedischen Staat wie für die Seestädte beträchtlichen Reichtum versprach. Reval sollte dabei den Russlandhandel an sich ziehen und den estländischen Wirtschaftsraum dominieren. Allerdings verlagerte sich der Russlandhandel nach der Abschnürung des Moskauer Staates von der Ostsee durch den Frieden von Stolbovo (1617) immer stärker nach Archangel‘sk, so dass die Bedeutung Revals, ebenso wie Narvas, Ivangorods und Nyens, für den russischen Transithandel abnahm. Dennoch erwirtschafteten diese Städte wenigstens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts noch Handelsüberschüsse. Das Archangel’sk-Problem versuchte die schwedische Regierung mit fiskalischen Mitteln zu lösen. Während des 17. Jahrhunderts beschränkte sie sich darauf, die Transitzölle in Reval, Narva und Nyen herabzusetzen und mit der Moskauer Regierung über den Transithandel durch die Ostseestädte zu verhandeln. Gegen den Widerstand der Städte selbst konnte sie ihre Politik nach und nach durchzusetzen, bis schließlich mit Reval im »Commercientractat« von 1648 eine formelle Regelung erreicht wurde, die zur dauerhaften Absenkung der Zölle führte. Schwieriger waren die Verhandlungen mit dem Moskauer Großfürsten, der nicht gewillt war, den lukrativen Archangel‘sk-Handel mit Engländern und Niederländern auf den schwedischen Ostseehandel umzuleiten. Die schwedische Krone profitierte deshalb vom Russlandhandel in Reval, Narva und Nyen weniger, konnte dort aber, weil ökonomische Rücksichten nicht so sehr genommen werden mussten wie etwa im Falle des durch den polnisch-litauischen Handel viel stärker prosperierenden Riga, wirtschaftspolitisch freier agieren. Motor der schwedischen Wirtschaftspolitik gegenüber Reval und den anderen schwedischen Ostseestädten war das Kommerzkollegium in Stockholm. Seine Tätigkeit richtete sich im Wesentlichen gegen niederländische Kaufleute, die einen Großteil der Exportankäufe und des Warentransports in der Ostsee besorgten. Gleichzeitig sollte es Seefahrt, Handel und Manufakturen in den Ostseeprovinzen fördern. Das bedeutete konkret, den russischen Handel nach Nyen, Narva und Reval zu ziehen, aber auch den Handel Rigas weiter auszubauen und die gewerbliche Arbeit in den Städten und im städtischen Umland zu fördern. Eine enge Zusammenarbeit mit den Städten war daher ein zentrales Anliegen. Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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In den Provinzen selbst waren für die »gute Policey« des schwedischen Staates in Wirtschafts- und Finanzfragen der Generalgouverneur und seine Verwaltung zuständig. Doch hatten sie nur ein Aufsichts- und Kontrollrecht. Die Durchführung fiskalischer und ökonomischer Einzelmaßnahmen in den Provinzen war je nach Besitztitel auf verschiedene Geschäftsträger verteilt. In Reval erfolgte die Verwaltung der ökonomischen und fiskalischen Belange der schwedischen Krone für die größeren Einnahmeposten durch Vertreter der Krone und der Stadt. Es existierte beispielsweise eine Pfundkammer, in der ein Portorienpräfekt von Seiten der Krone und zwei Portorienherren und ein Notar von Seiten der Stadt den teils für die schwedische Krone, teils für die Stadt bestimmten Portoriumszoll (Hafenzoll für über See ein- und ausgehende Waren) einzogen. Hintergrund des Portoriums war die Tatsache, dass die Provinzen Estland und Livland außerhalb des schwedischen Reichszollbezirks lagen, auch wenn sie zolladministrativ integraler Bestandteil der staatlichen Behörden waren (die oberste Zolladministration lag in Stockholm, seit 1618 zunächst beim Kammerkollegium und seit den 1670er Jahren beim Kommerzkollegium). Der schwedische Wirtschaftshistoriker Eli F. Heckscher hat deshalb von einer »partiellen Zolleinheit im baltischen Handel« gesprochen. Neben dem Portorium existierten weitere Zölle, von denen die schwedische Krone profitierte. Dazu gehörten der »Lizent« (Seezoll, seit 1629) sowie kleinere Zusatzzölle – die sogenannten »Ungelder« –, aber auch Sonderzölle, die die schwedische Regierung in Notzeiten einführte. So verhängte Gustav II. Adolf 1629 Zölle auf alle ein- und ausgehenden Waren zur Finanzierung des laufenden Krieges mit Polen-Litauen. In den 1640er Jahren versuchte die schwedische Regierung, das Zollsystem in den Ostseeprovinzen zu vereinfachen und zu vereinheitlichen. Dies gelang aber nur hinsichtlich der Höhe des Ausfuhrzolls und nur in den Städten Reval, Narva und Nyen. Dennoch schufen diese Maßnahmen ein gewisses Maß an Planungssicherheit; wohingegen außerordentliche Zölle und Abgaben ein hohes Maß an Verunsicherung der Kaufleute mit sich brachten, was für den Staat oft zu Einnahmeeinbußen aufgrund vorsichtigerer Geschäftsaktivitäten der Kaufleute führte. Doch ist es der schwedischen Regierung bis zum Übergang der Ostseeprovinzen an Russland nicht gelungen, die Zölle soweit zu vereinheitlichen, dass sie die Zollgrenzen gegenüber dem Schwedischen Reich völlig aufheben konnte. Sonderzölle kamen immer wieder vor, so z.B. der zwischen 1655 und 1668 erhobene Landzoll für alle vom Land in die Seestädte eingeführten Waren. Von den Zöllen durfte Reval wie die anderen Städte der Ostseeprovinzen einen Anteil, dessen Höhe über die Jahre hin schwankte, behalten. Gleich100  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

wohl schöpfte die schwedische Regierung die Zolleinnahmen zu erheblich Teilen ab. Sie betrugen ein Drittel bis zur Hälfte der Einnahmen des Portoriums und bis zu 100% des Lizent und wurden von einem Lizentverwalter der schwedischen Regierung für die Städte Riga, Pernau, Reval und Narva (seit 1642 auch Nyen) mit Sitz in Riga eingezogen. Allerdings machte sich hier ein dysfunktionaler Mechanismus bemerkbar, der mit den Handelsströmen und Handelszöllen zu tun hatte und für die schwedische Krone das ganze 17.  Jahrhundert über ein Problem darstellte. Wollte die Krone vom Handel der Städte in den Ostseeprovinzen profitieren, musste sie ihn mit hohen Zöllen belegen. Belegte sie die Städte mit hohen Zöllen, so provozierte sie damit eine Verlagerung der Warenströme auf andere Städte. Senkte sie die Zölle, um die Warenströme wieder zurückzulenken, fiel der Profit des Staates weniger hoch aus. Bei der Integration der Städte hinsichtlich der Handelscodes war der schwedische Zentralstaat unterschiedlich erfolgreich. Die Handelsordnungen konnten nicht völlig vereinheitlicht werden. 1626 wurden für Reval und Narva Handelsordnungen ausgearbeitet, die zwar unbestätigt blieben, aber einen ersten Schritt zur Übertragung schwedischer Modelle auf die Städte der Ostseeprovinzen darstellten. 1641/42 ergingen »Straßen-« oder »Gassenordnungen« an alle Städte der Ostseeprovinzen außer Riga, die den Kramhandel (Einzelhandel) – und damit bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen – in den Städten einer Systematisierung und Spezialisierung unterwarfen. Sie wurden 1659 und 1679 leicht verändert bestätigt. Damit zeichneten sich die Anfänge einer arbeitsteiligen, wohl auch effektiveren und, aus staatlicher Sicht, besser kontrollierbaren, städtischen Bevölkerungsstruktur ab. Obwohl die Münzprägung ein Regal war und der schwedische Staat während des 17. Jahrhunderts das schwedische Münzsystem in den Ostseeprovinzen einführte (Ingermanland, Kexholms län), oder zumindest durchsetzte, dass sich der Geldwert von Waren nach dem schwedischen Münzsystem von Reichstaler, Mark und Öre (Estland, Livland) richtete (s. Textabb. 7), konnte Reval sein noch aus dänischer Zeit stammendes Recht, Münzen zu schlagen, 1621 erneuern, allerdings nicht für alle Münzsorten. Erst 1688 wurde die Revaler Münze im Rahmen der schwedisch-absolutistischen Zentralisierungspolitik mit dem Hinweis geschlossen, die Münzen entsprächen nicht Stockholmer Normen. Sie konnte jedoch 1695 wiedereröffnet werden. Auch die Revaler Maße und Gewichte entgingen der schwedischen Vereinheitlichungspolitik.

Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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7  links: 1/6 Öre Karl X. Gustav von Schweden, 1666 / rechts: 4 Mark Karl XI. von Schweden, 1690

Jenseits der handelspolitischen Maßnahmen der schwedischen Regierung war die Entwicklung des Revaler Handels auch von internationalen Entwicklungen abhängig. Vor allem der zunehmende niederländische Einfluss machte den Revalern zu schaffen. Zwar beschränkte sich der direkte Handel der Niederländer in Reval auf die billigeren Handelswaren (die teureren Waren wurden immer noch von den deutschen Kaufleuten verkauft). Aber die niederländische Handelsflotte übernahm immer mehr Transportaufgaben. Versuche Gustavs II. Adolf, Reval zu einer konkurrenzfähigen Handelsflotte zu verhelfen, scheiterten. An massive Investitionen von Seiten der Revaler Kaufleute war angesichts der schwedischen Zollpolitik auch nicht zu denken. Auf diese Weise sank die Zahl der Schiffe der Revaler Handelsflotte während des 17. Jahrhunderts ständig. Verfügten die Revaler Bürger 1680 noch über rund 30 Handelsschiffe, so waren es 1696 nur noch 21, und am Ende des Großen Nordischen Krieges blieb ein einziges Handelsschiff übrig. Sogar die Handelsflotte der kleinen Stadt Narva scheint Ende des 17. Jahrhunderts größer gewesen zu sein als diejenige von Reval. Die Palette der Handelswaren veränderte sich gegenüber dem mittelalterlichen Handel kaum. Getreide, insbesondere Roggen und Gerste, war die Revaler Hauptexportware und diente zur Herstellung von Flax, Leinen und Hanf als Bei- und Rohprodukt. Das Exportgetreide stammte hauptsächlich aus Nordestland, von der Insel Ösel (estn. Saaremaa), zu einem geringeren Teil auch aus dem Norden der Provinz Livland. Abnehmer waren vor allem die Niederlande, besonders Amsterdam. In den 1630er und 1640er Jahren 102  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

kauften die Niederlande rund 80%, in den 1680er und 1690 sogar bis zu 95,6% (nach Arnold Soom) des über Reval gehandelten Getreides auf. Der Getreidepreis wurde von der Börse in Amsterdam, d.h. vollständig von der Nachfrage bestimmt. Aufgrund der Weltpreisentwicklung sank das Preisniveau für Getreide nach 1650, doch blieben die Einkünfte Revals wie die der anderen Städte in den schwedischen Ostseeprovinzen wegen der ständig steigenden Nachfrage auf ungefähr gleich hohem Niveau. Schweden und Finnland traten als Abnehmer des über Reval gehandelten Getreides weit zurück, wenn auch Estland von Anfang an einen großen Anteil am Getreidehandel mit Stockholm besaß. Die Ostseeprovinzen zusammen mit Finnland waren und blieben im 17. Jahrhundert die »Vorratskammern« (Fabian Wrede) des Schwedischen Reiches. Schon Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatte Schweden in Kriegszeiten und nach Missernten auf Getreide aus Estland zurückgegriffen. Seit 1631 führte die Regierung in Notzeiten regelmäßig staatliche Getreidehandelsmonopole ein. Dabei kaufte sie große Mengen Getreides aus den Ostseeprovinzen, aber auch Schweden und Finnland auf, um es entweder ins Ausland (Niederlande, Lübeck) oder in andere Teile des Reiches – vor allem Pommern und die großen Städte – weiterzuverkaufen oder zur Versorgung der staatlichen Institutionen, vor allem des Militärs, zu nutzen. Zu diesem Zweck wurden in die Ankauf- und Absatzstädte königliche Kommissare entsandt, die den Getreidehandel organisierten. Tatsächlich ist es in den Zeiten staatlicher Getreidemonopole zu beträchtlichen Getreideaufkäufen in Reval und anderen Seestädten der Ostseeprovinzen gekommen. Bis zum Verlust der Ostseeprovinzen im Großen Nordischen Krieg (1710) lavierte die schwedische Regierung dann je nach Situation zwischen einer Monopol- und Freihandelspolitik hinsichtlich des Getreidehandels. Im Übrigen rangierten die Mengen im Revaler Getreideexport trotz der überragenden Bedeutung der Getreideexporte weit unter denen anderer Ostseehäfen. Im 17. Jahrhundert führend waren Danzig, Königsberg und Stettin. Die Städte der schwedischen Ostseeprovinzen standen allesamt in der zweiten Reihe des europäischen Getreidehandels. Trotzdem hatten alle anderen Waren wie Hanf, Malz, Molkereiprodukte, Wachs, Häute und Felle eine recht geringe Bedeutung im Revaler Exporthandel. Oft waren sie sogar auf die Getreideproduktion abgestimmt. Von den Importwaren war Salz wie schon in früherer Zeit das wichtigste Handelsprodukt. Die umfangreichsten Lieferungen kamen aus Portugal und Frankreich, aber auch Lübeck und Amsterdam waren wichtige Handelspartner. Ferner verzeichnen die Zolllisten verschiedene Heringsarten, MetallproReval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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dukte aus Schweden (v.a. Stockholm), Feuerholz und Pferde aus Finnland als Einfuhrwaren. Aus den Niederlanden bezog Reval zudem Luxusgüter wie z.B. Seide, Modekleidung, Spitzen, Leinen, Schmuck, Tonpfeifen und besondere Ziegelarten. Auch Süßwaren, Früchte und Gewürze stammten in größerem Umfang aus den Niederlanden. Schießpulver, verarbeitete Gläser und Papier wurden importiert. Kaffee tauchte in Reval erstmals 1684, nur ein Jahr nach seiner Einführung in den deutschen Territorien, auf. Tee ist schon früher belegt, und gegen Ende der schwedischen Periode war der Gebrauch von Tee in der Stadt weit verbreitet. Aus Braunschweig, Brabant und den Niederlanden wurden Tabak, Salpeter, Färbemittel und Hopfen eingeführt. Brasilianisches Holz, Zinn, Eisenwaren und Feuerwaffen kamen aus Nürnberg. Ein bedeutsamer Wandel in der Importpolitik ging von der schwedischen Regierung aus. Eine Resolution Karls XI. beschränkte 1681 den Import verarbeiteter Waren, um das ansässige Handwerk zu fördern. Stattdessen verlangte sie einen innerstädtischen Verkauf lokal hergestellter, anspruchsloserer Kleidung. Eine ähnliche Verordnung erging hinsichtlich Röcken und Mänteln aus Leder oder Pelz, ausgenommen Pelze aus Russland. Der Kramhandel zeigte während der schwedischen Periode im Gegensatz zu anderen Ostseestädten noch wenig Spezialisierung. Kramhändler konnten ebenso am Vertrieb von Fernhandelswaren wie Getreide, Salz oder Wein wie von lokalen Produkten wie Bier, Tuch oder Kräutern beteiligt sein. Auch war er nicht auf eine einzige Berufsgruppe beschränkt. Auch Handwerker betätigten sich nebenher oft als Kramhändler. Die schwedische Regierung suchte zwar im Rahmen ihrer merkantilistischen Wirtschaftspolitik eine Warenspezialisierung herbeizuführen und den Kramhandel nicht hauptberuflich tätiger Kaufleute einzuschränken, um eine Arbeitsteilung zwischen den Städten des Reiches herzustellen, Konflikte zwischen den Händlern zu vermeiden und eine bessere Kontrolle der Warenströme zu erreichen. Auch die Großkaufleute hatten Interesse an einer stärkeren Spezialisierung, weil sie in den Kramhändlern, besonders im Getreide- und Salzhandel, eine ernsthafte Konkurrenz sahen. Ein von Gustav II. Adolf nicht konfirmierter Entwurf einer Handelsordnung des Revaler Rates von 1626 sah deshalb eine Einteilung der Revaler Kramhändler in folgende Zünfte (»Ämter«) vor: 1. Weinschenke, 2. Tuchkrämer, 3. Seidenkrämer, 4. Gewürzkrämer, 5. Eisenkrämer und Bauernhändler, 6. Fischhöker, 7. Gemischtwarenhandel zum Unterhalt der Witwen und Waisen. Sie ließ sich aber gegen den Widerstand der Kramhändler – und damit auch gegen den Widerstand der Krone, die innerstädtische Unruhen befürchtete – nicht durchsetzen. Nach jahre104  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

langem Streit im städtischen Rat und zwischen Großkaufleuten, Krämern und Bauernhändlern konnten sich der Rat und die Vertreter der Großen Gilde schließlich 1638 auf eine Verordnung einigen, die am 29. April 1641 als die schon erwähnte »Straßen-Nahrung- oder Particulier-HandlungsOrdnung« in Kraft trat. Sie gab den Großhandel für alle Stadtbürger frei. Allerdings durfte kein Händler jährlich mehr als 300 Last (= ca. 600.000 kg) Handelsgetreide ankaufen. Außerdem war es verboten, im Außenhandel fremdes Kapital einzusetzen. Der Kramhandel wurde in sieben »Kompanien« unterteilt: 1. Seidenkrämer, 2. Gewandschneider, 3. Krautkrämer (ohne Arzneien), 4.  Weinhändler (einschl. Bierhandel), 5.  Nürnberger Krämer (Messing, Eisenwaren, Pulver, Blei, Salz, Hanf, Flachs), 6. Bauernhändler (Salz, Eisen, Stahl, Kupfer- und Messingkessel), 7. Gemeine Höker (Lebensmittel, Talg, Kerzen, Seife, Tran, Teer, Pech). Die Bauernhändler zählten nicht zu den Bürgern und durften infolge dessen auch keinen Handel mit Personen außerhalb der Stadt, insbesondere nicht mit dem traditionell zu ihrem Kundenkreis zählenden Finnen und Schweden, treiben. Die Bierbrauerei und der Bierverkauf blieben das gesamte 17. Jahrhundert über auf mehrere Kompanien verteilt. Außerdem bestimmte eine revidierte Handelsordnung von 1645, dass jeder Händler Wein verkaufen konnte, womit die Zahl der Kompanien auf sechs schrumpfte. Die Bestimmungen des Jahres 1641 wurden im Laufe des 17. Jahrhunderts noch mehrfach revidiert, teils gelockert, teils verschärft, je nach politischer und ökonomischer Situation. Am Kern der Abmachungen von 1641 änderte sich jedoch nichts. Die Kramhändler besaßen in der Stadt sog. Buden, deren Standorte in der Handelsordnung von 1641 festgelegt waren. Hauptkunden der Kramhändler waren die Landadligen, in zweiter Linie aber auch Großkaufleute, die Waren für den Handel ins Ausland aufkauften. Eine besondere rechtliche und soziale Gruppe bildeten die »Gäste« oder »fremden Kaufleute«. Sie setzten sich hauptsächlich aus zwei Personenkategorien zusammen: einerseits den Faktoren und Kommissionären ausländischer Großkaufleute, andererseits den ambulanten Händlern oder »fremden Krämern«, wie sie im zeitgenössischen Sprachgebrauch hießen. Die »Gäste« waren in der Stadt nicht gern gesehen, weil sie den ansässigen Kaufleuten und Kramhändlern einen Teil ihres Handels wegnahmen und damit Konkurrenz darstellten. Andererseits konnte man auf ihre Dienste auch nicht verzichten, weil sie manches in die Stadt brachten, was auf anderem Wege nicht zu erhalten war. Ein anderes Problem sahen die Revaler Bürger in den fremden Sitten und anderen Konfessionen, die die »Gäste«, die aus Russland und Polen, den Ostseehansestädten, aber auch aus den NiederlanReval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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den, England und Frankreich stammten, mit nach Reval brachten. Zahlreiche Restriktionen für den Aufenthalt und den Handel in Reval waren die logische Folge: »Wintersitzer« waren verboten, d.h. Gästehandel konnte nur im Sommer betrieben werden. Die »Gäste« durften nicht untereinander handeln, Waren in der Stadt nicht längere Zeit gelagert werden. Fremdes Kapital und Warenkredite waren im Gästehandel nur nach sehr strikten Regeln einzusetzen. Außerdem schuf die Stadt mit der Waage, der Wracke (Bracke) zur Kontrolle der Warenqualität und dem Makleramt (seit 1675), das Geschäfte nicht nur vermittelte, sondern auch im städtischen Interesse überwachte, besondere Kontrollinstitutionen für den Gästehandel. Seit 1663 mussten alle Handelsprodukte im Packhaus (Kaufhaus) gekauft und verkauft werden, d.h. Einzelhandel war den »Gästen« verwehrt. Das Packhaus war gemäß der Packhausordnung Karls XI. von 1669 nur dienstags und donnerstags von 8 bis 11 Uhr geöffnet. Der letzte Punkt der erwähnten Straßenordnung von 1679, bestätigt durch Karl XI., sah vor, dass fremde Kaufleute ihre Wa­re nur an die Mitglieder der Großen Gilde en gros verkaufen durften. Der Verkauf an Krämer war ihnen verboten. Handwerk Auch das Revaler Handwerk erfuhr in schwedischer Zeit Veränderungen. Sie gingen jedoch überwiegend von den Handwerkerzünften aus. Die schwedische Regierung trat demgegenüber nur als Garant der reformierten Ordnungen auf. So konfirmierte Gustav II. Adolf am 30. März 1626 eine Bitte der Olai- und der Kanutigilde, alles Handwerk außerhalb der Gilden (sog. »Bönhasen« und »Fuscher«) unter Strafe zu stellen. Diese Resolution betraf zunächst auch das Handwerk auf den Gütern. 1629 erreichte die Estländische Ritterschaft jedoch, dass der Adel weiter Handwerker beschäftigen durfte. Diese durften jedoch nicht in Konkurrenz zu den städtischen Gildenhandwerkern stehen und mussten im Jahresdienst angestellt werden. In der schwedischen Zeit machte sich auch eine Tendenz breit, Esten von den einkömmlicheren Handelsgeschäften und Handwerken auszuschließen. Dies lässt sich eindrücklich an der Mitgliederstruktur der Olaigilde während des 17. Jahrhunderts studieren. Auch der zunehmende Gebrauch der deutschen Sprache in der Olaigilde zeigt diese Tendenz. Begründet wurde die Abweisung von Esten häufig mit dem Hinweis, die Anwärter sollten von »ehrenhafter Herkunft« sein. 106  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Die Tendenz zum Ausschluss der estnischen Handwerker aus den Gilden förderte die Entwicklung der sog. Undeutschen Ämter (auch: Niedere Ämter, Gemeine Ämter), nichtzünftiger Ämter und Zusammenschlüsse der ungelernten Arbeiter, zum Teil in ähnlichen Formen wie die zünftigen Ämter. Meister, Gesellen und Lehrlinge kamen in ihnen ebenso vor wie gewählte Ältermänner und Amtsboten. Zu den Undeutschen Ämtern gehörten die der Pelzschneider, Maurer, Zimmerleute, Fuhrleute, Mündriche, Aufschläger, Steinbrecher sowie die Stein- und Bildhauer; außerdem das der »Arbeitskerls«, zu dem man die Kornmesser, Brauer, Schlachter, Gassenbrinker (Rinnsteinreiniger), Marktfeger, Brakerkerls und Waghauskerls zählte. Sie standen bis zur Reform der Stadtordnungen 1878 politisch und juristisch unter der Kontrolle des städtischen Rates. Die zunehmende Exklusivität der und die Monopolisierung des städtischen Handwerks in den Gilden verweist auf den wachsenden Einfluss der Kanuti- und Olaigilde in schwedischer Zeit – vor allem gegenüber dem nichtkorporativen Handwerk, andererseits aber auch gegenüber dem Rat. Dies wird besonders in der Finanzpolitik deutlich. Die sinkenden Einnahmen der Stadt aus dem Handel und die außerordentlichen Kontributionen, die Schweden der Stadt neben den regulären Steuern auferlegte, führten immer wieder zu Engpässen im städtischen Haushalt. Es bürgerte sich deshalb in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ein, dass der Rat besondere Eigentumssteuern erhob, die bei den Stadtbürgern unpopulär waren und zu periodischen Unmutsäußerungen führten. So wurden die schwedischen und städtischen Steuereintreiber, Eich- und Maßmeister beschuldigt, korrupt und/oder nachlässig zu sein. Die Folge waren von den Gilden 1604 und 1612 eingeführte striktere Kontrollen der Sondersteuern, Maße und Gewichte. Interventionen solcher Art kamen während des 17. Jahrhunderts häufiger vor und zeigen, dass die Gilden sich mehr und mehr zu einer politischen Instanz entwickelten, mit der der Rat auch jenseits der üblichen Amtsgeschäfte zu rechnen hatte. Der zunehmende Einfluss der Kanuti- und Olaigilde in der städtischen Ökonomie und Politik hatte für die Gilden selbst allerdings nicht nur Vorteile. Er verschärfte auch die Konkurrenz der beiden Gilden untereinander und eröffnete dem schwedischen Zentralstaat schiedsrichterliche Interventionsmöglichkeiten. So wies eine von der Stockholmer Regierung eingesetzte Kommission 1662 ein von den Gilden gefordertes Einfuhrverbot von Industrieerzeugnissen zurück und erteilte den Handwerkern den Rat, selbst konkurrenzfähige Artikel herzustellen. Noch im gleichen Jahr publizierte die schwedische Regierung eine Hand­werkerordnung für Reval, die den Rat dazu zwang, eine Revision der meisten Amtsschragen, vor allem hinsichtlich Reval unter der Herrschaft der schwedischen Krone 

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der Besetzung der Meisterämter, durchzuführen. Als die Konflikte zwischen den beiden Gilden in den 1670er Jahren wieder eskalierten, verfügte Karl XI. 1675 sogar eine vorläufige Vereinigung der beiden Gilden. Sie wurde 1699 permanent und hatte aus Sicht der schwedischen Regierung vor allem den Vorteil, dass man nun lediglich mit einem politischen Gegenüber zu verhandeln hatte. Ansonsten reichte der schwedische Einfluss jedoch nicht sonderlich weit. Die schwedische Handwerkerordnung von 1669 galt nur für Schweden (einschließlich Finnland, Ingermanland und Kexholm län), übte allerdings in Reval – wie auch Narva –, einen indirekten Einfluss aus: Die in den 1660er Jahren revidierten Handwerkerordnungen in Narva und Reval orientierten sich weitgehend am schwedischen Vorbild. Eine Möglichkeit, dem Einfluss der Gilden im städtischen Handwerk zu entgehen, war die Einrichtung von Manufakturen. In Estland wurden während des 17. Jahrhunderts mehrere Versuche unternommen, Manufakturen zu etablieren, doch ohne größeren Erfolg. In Reval existierte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts offenbar eine kleine Kupfermühle, über die jedoch nichts weiter bekannt ist. Der Versuch, Reval während des 17. Jahrhunderts mit Hilfe einer, 1664 erstmals erwähnten, Papiermühle am Oberen See ausreichend mit Papier und Papierprodukten zu versorgen, scheiterte weitgehend. Die Papiermühle lieferte Papier nur von minderer Qualität, das wahrscheinlich aufs Land und mitunter wohl auch nach Schweden verkauft wurde. 1677 begann die Papiermanufaktur Johannes Weidenbauer, die spätere »Nordische Papier- und Zellstoffwerke AG« mit ihrer Produktion. Offenbar mit deutlich längerem Atem als ihr Vorgänger.

2. Die Anfänge der russischen Herrschaft (1710–1783) Von den direkten Wirkungen des Großen Nordischen Krieges blieb Reval bis 1710 weitgehend verschont. Natürlich lasteten wie schon während früherer Kriege Kontributionen, Einquartierungen und andere mit den militärischen Erfordernissen Schwedens zusammenhängende Härten auf Reval wie auf jeder anderen Stadt in der Nähe der Grenze zum Moskauer Großfürstentum. Den Alarmzustand rief der städtische Rat jedoch erst am 2. Januar 1710 aus, als es hieß, russische Truppen ständen neun Meilen vor der Stadt. Nachdem am 4. Januar die vorstädtische Bevölkerung in den Schutz der Revaler Bastionen geflüchtet war, geschah jedoch längere Zeit nichts. Erst am 16. Juni 1710 verhängte der Rat erneut den Alarmzustand. Am 2. August wurden zur besseren Verteidigung der Stadt 49 Häuser in den Vorstädten und die Karlskirche auf 108  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

der Besetzung der Meisterämter, durchzuführen. Als die Konflikte zwischen den beiden Gilden in den 1670er Jahren wieder eskalierten, verfügte Karl XI. 1675 sogar eine vorläufige Vereinigung der beiden Gilden. Sie wurde 1699 permanent und hatte aus Sicht der schwedischen Regierung vor allem den Vorteil, dass man nun lediglich mit einem politischen Gegenüber zu verhandeln hatte. Ansonsten reichte der schwedische Einfluss jedoch nicht sonderlich weit. Die schwedische Handwerkerordnung von 1669 galt nur für Schweden (einschließlich Finnland, Ingermanland und Kexholm län), übte allerdings in Reval – wie auch Narva –, einen indirekten Einfluss aus: Die in den 1660er Jahren revidierten Handwerkerordnungen in Narva und Reval orientierten sich weitgehend am schwedischen Vorbild. Eine Möglichkeit, dem Einfluss der Gilden im städtischen Handwerk zu entgehen, war die Einrichtung von Manufakturen. In Estland wurden während des 17. Jahrhunderts mehrere Versuche unternommen, Manufakturen zu etablieren, doch ohne größeren Erfolg. In Reval existierte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts offenbar eine kleine Kupfermühle, über die jedoch nichts weiter bekannt ist. Der Versuch, Reval während des 17. Jahrhunderts mit Hilfe einer, 1664 erstmals erwähnten, Papiermühle am Oberen See ausreichend mit Papier und Papierprodukten zu versorgen, scheiterte weitgehend. Die Papiermühle lieferte Papier nur von minderer Qualität, das wahrscheinlich aufs Land und mitunter wohl auch nach Schweden verkauft wurde. 1677 begann die Papiermanufaktur Johannes Weidenbauer, die spätere »Nordische Papier- und Zellstoffwerke AG« mit ihrer Produktion. Offenbar mit deutlich längerem Atem als ihr Vorgänger.

2. Die Anfänge der russischen Herrschaft (1710–1783) Von den direkten Wirkungen des Großen Nordischen Krieges blieb Reval bis 1710 weitgehend verschont. Natürlich lasteten wie schon während früherer Kriege Kontributionen, Einquartierungen und andere mit den militärischen Erfordernissen Schwedens zusammenhängende Härten auf Reval wie auf jeder anderen Stadt in der Nähe der Grenze zum Moskauer Großfürstentum. Den Alarmzustand rief der städtische Rat jedoch erst am 2. Januar 1710 aus, als es hieß, russische Truppen ständen neun Meilen vor der Stadt. Nachdem am 4. Januar die vorstädtische Bevölkerung in den Schutz der Revaler Bastionen geflüchtet war, geschah jedoch längere Zeit nichts. Erst am 16. Juni 1710 verhängte der Rat erneut den Alarmzustand. Am 2. August wurden zur besseren Verteidigung der Stadt 49 Häuser in den Vorstädten und die Karlskirche auf 108  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

dem Tönniesberg niedergebrannt. Die Moskauer Truppen blieben aber weiterhin aus. Stattdessen erreichte am 11. August die Pest Reval. Als russische Truppen eine knappe Woche später, am 17. August, erstmals in Sicht kamen, schienen diese schon das kleinere Übel zu sein. Die Pestepidemie verschärfte sich noch, als es den Moskauern Ende August gelang, die Wasserversorgung der Stadt zu unterbrechen. Danach dauerte es nur noch rund einen Monat, bis die schwedische Stadtgarnison, die durch die Wirkungen der Pest, wegen des Wassermangels und der russischen Belagerung zu diesem Zeitpunkt auf ca. 500 Mann zusammengeschmolzen war, nach Verhandlungen in Hark kapitulierte und über See abzog. Die von Russland bestätigten Kapitulationspunkte vom 29. September 1710 garantierten der schwedischen Generalgouvernementsregierung und Garnison freien und ehrenhaften Abzug mit Familien, Waffen und allem Hab und Gut, sie gewährten die Beibehaltung der lutherischen Konfession und Geistlichkeit, der überlieferten städtischen Privilegien und eine Bestandsgarantie für die städtischen, korporativen und stadtbürgerlichen Besitztümer. Nach der schwedischen Kapitulation besetzten russische Truppen unter General Vasilij Zotov die Stadt, beschlagnahmten mehrere Gebäude, darunter die schwedische Michaeliskirche in der Ritterstraße (Rüütli) und unterbanden den offiziellen Schriftverkehr der Stadt mit der schwedischen Krone. Als aus praktischen Gründen für die russische Besatzungsmacht wichtiges Signal, aber auch als Zeichen der Integration Revals in das Moskauer Reich ist die Wiedereinführung des Julianischen Kalenders am 25. Dezember 1710 zu werten, nachdem die schwedische Regierung im Jahre 1700 zum Gregorianischen Kalender übergegangen war (im Moskauer Reich galt weiterhin der Julianische Kalender). Weitere Maßnahmen zur Bindung Revals an Russland waren ein mit Peter I. abgestimmter Befehl General Zotovs vom April 1711, den Hafen militärisch auszubauen, so dass immer wieder vorkommende Versuche der schwedischen Kriegsflotte, die Stadt zurück zu erobern, besser zurück geschlagen werden konnten. Den vorläufigen Abschluss der Integrationsmaßnahmen bildete der Einzug Peters I. in die Stadt am 13. Dezember 1711, die von dem Befehl des russischen Stadtkommandanten begleitet war, alle Porträts des schwedischen Königs Karl XII. in der Stadt zu entfernen. Dies bedeutete mehr als nur ein in diesen Zeiten üblicher Akt der symbolischen Einnahme der Stadt durch den Herrscher. Für Peter I. war Reval ein Ort von hoher strategischer Bedeutung. Historiker haben errechnet, dass der Zar insgesamt elfmal die Stadt besuchte – mehr als jeder andere Monarch in der Geschichte Revals. Dabei lag das Hauptinteresse des Zaren auf dem Ausbau der Hafenanlagen und der Position Revals in den militärischen Konzeptionen des Moskauer Reiches. Die Anfänge der russischen Herrschaft 

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Abgesehen von den Versuchen, Reval mit Hilfe von Verordnungen in eine zu Russland gehörende Stadt zu verwandeln, bemühte sich Zar Peter I. schon früh, die Revaler Bürgerschaft durch gute Behandlung auf seine Seite zu ziehen. Am 4. November 1710 hatte der erste russische Generalgouverneur von Estland Rudolph Felix Bauer dem Rat erlaubt, die Akzise in russischer und schwedischer Münze einzutreiben, um die Wirtschafts- und Finanzkraft Revals zu erhalten. Am 1. März 1711 erließ Peter eine uneingeschränkte Generalbestätigung der Stadtprivilegien. Am 13. März folgte eine schriftliche Konfirmation, die allerdings verschiedene Modifikationen mit sich brachte, darunter den Verlust des Münzrechts und der Aufsicht über das Zeughaus, die Mühlen und die Stadttore. Zudem wurde die Gerichtshoheit der Stadt eingeschränkt. Die bis dahin stadteigenen Inseln Nargen (estn. Naissaar), Karlos (Paljassaar) und Wulf (Aegna saar) gelangten unter die direkte Aufsicht der russischen Gouvernementsbehörde. Im August 1717 erhielt der Rat das Recht zurück, an die Stadtbürger Pässe auszugeben, das ihm die schwedische Regierung zu Beginn des Krieges entzogen hatte. 1719 zwang der Zar die Stadtkompanie, ihre Waffen abzuliefern, womit nun auch die städtische Hoheit über die Stadtverteidigung verloren ging. Reval im August 1715 in der Erinnerung Friedrich Christian Webers »§ 265. Die Stadt Reval liegt theils in der lustigen Ebene und im Thal, theils an einem hohen Berg, worauf der Dohm und die Häuser der Landes-Ritterschaft stehen; Diese sind neu gebauet, sonsten aber die Häuser der Stadt uhralt und sehr verfallen. § 266. Zur Zeit der Belagerung war alles vom Lande herein geflüchtet, und zeiget das aufm Rathhause aufgehobene Register, dass in der letzten Pest fünf und funfzig tausend [= 5050, R.T.] Menschen in dieser eintzigen Stadt gestorben sind. § 267. Die Einwohner haben ihre Privilegia und ihren Gottesdienst behalten. Die Russen feyren den ihrigen in einer Kirche, welche sie schon in vorigen Zeiten hier besessen, da sie hingegen in Narva alle Teutsche Kirchen weggenommen haben. Es liegen hier zwar drey bis vier tausend Mann in Guarnison, dessen ungeachtet aber haben die Bürger die Freyheit, eine Stadt-Compagnie auf ihre Unkosten zu halten, womit sie die Haupt-Wache auf dem Marckt besetzen. Es sind drey Regierungen, der Rath, die Landes-Ritterschaft, (welche aus zwölff Land-Räthen und einem Praesidenten bestehen und die Landes-Angelegenheiten wahrnehmen) und das Gouvernement, bey welchem das forum executivum ist. Der Admiral Apraxin ist itzo General-Gouverneur von gantz Ehstland. Quelle: Weber, Friedrich Christian: Das veränderte Russland (…), Neu-Verbesserte Auflage Erster Theil, Franckfurth und Leipzig 1738 (ND Hildesheim-Zürich-New York 1992), S. 69.

110  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

In den folgenden Jahren stand das Verhältnis zwischen Stadt und Zar ganz im Zeichen der militärischen Erfordernisse. Nachdem der Hafenausbau im Februar 1714 endlich begonnen hatte, nutzte Peter I. Reval als Marinestation für Flottenangriffe auf Schweden. Dies führte allerdings auch zu einer Handelsblockade gegen Reval und zu einer Zunahme der Kapertätigkeit der Schweden gegenüber Reval anlaufende Handelsschiffe. Auch mehrere Angriffe der schwedischen Kriegsflotte auf die Stadt sind auf diesen Hintergrund zurückzuführen. Die russische Besetzung zog schon während des Krieges die Etablierung russischer Bauten und Institutionen in und in der Nähe der Stadt nach sich. Am 11. Juni 1714 wurde das sog. »Petershäuschen« auf dem Domberg eingeweiht, das der Zar während des Krieges als Stadtresidenz nutzte. Am 4. August 1716 zwang die russische Militärregierung den Rat zur endgültigen Übergabe der ehemaligen schwedischen Michaeliskirche an die russische Garnison. Sie erhielt unter den neuen Besitzern den Namen »Zur Verklärung Christi« und wurde 1732 und 1776 den russischen Gottesdienstbedürfnissen gemäß umgebaut. Weniger militärischen als Repräsentationsbedürfnissen entsprang der Bau des Schlosses Katharinenthal (Catherinenthal, estn. Kadriorg) im Westen der Stadt zwischen der Ostsee und dem Klint des Laaksbergs (Lasnamäe), eines der stattlichsten Paläste in den Ostseeprovinzen überhaupt. Der zwischen 1718 und 1723 im Barockstil errichtete Baukörper ging auf Pläne des italienischen Architekten Nicola Michetti zurück, der auch an der Planung der St. Petersburger Sommerresidenz in Peterhof beteiligt war. Katharinenthal sollte als Sommerresidenz des Zaren bei Reval dienen und war nach seiner zweiten Ehefrau Katharina benannt, einer Livländerin, die nach Peters Tod (1725) als Katharina I. den Zarenthron übernahm. Das Herrscherpaar bezog das Schloss erstmals im Vorfeld des Abschlusses des Friedensvertrags zu Nystad im Mai und Juni 1721. Auch den späteren Zaren diente es immer wieder als Residenz bei ihren Besuchen in Reval. 1722 wurde der Schlosspark in Angriff genommen. Michetti ließ hier zunächst 550 Bäume pflanzen. Die Gestaltung der Parkanlagen zog sich aber noch viele Jahre nach dem Ende der Arbeiten am Schlossgebäude hin. Um den Park herum entstanden Hütten der damaligen Bauarbeiter, die den Kern für das spätere Revaler Stadtviertel Katharinenthal darstellten. In dem zwischen Schweden und Russland geschlossenen Friedensvertrag zu Nystad (30.8./10.9.1721) wurden die schwedischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Ösel sowie die autonomen Städte Riga und Reval Russland zugesprochen. Doch verfügte das kaiserliche Russland über weite Strecken des 18. Jahrhunderts weder über die politischen, administrativen, juristischen Die Anfänge der russischen Herrschaft 

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und finanziellen Ressourcen noch über die notwendige Sachkenntnis, um die Ostseeprovinzen den zentralstaatlichen Interessen des Russländischen Reiches völlig zu unterwerfen. Peter I. bekräftigte jedenfalls zunächst die alte Ordnung: »Seine Czaarisch: Majestät versprechen daneben, daß die sämbtliche Einwohner, der Provintien Lieff- und Ehstland, wie auch Oesel, adeliche und unadeliche, und die in selbigen Provintien befindliche Städte, Magistraten, Gilden und Zünffte, bey ihren unter der Schwedischen Regierung gehabten Privilegien, Gewohnheiten, Rechten und Gerechtigkeiten beständig und unverrückt conserviret, gehandhabet und geschützet werden sollen«, hieß es in Punkt 9 des mit Schweden ausgehandelten Friedensvertrags. Und in einem schon früher (16.8.1710) erteilten Universal hatte der Zar versichert, »daß sobald nach Gottes Willen das Land unter unßere devotion völlig gebracht ist, Wir nicht allein ohne einige Innovation der im gantzen Lande und Städten bisher zu üblichen Evangelischen Religion, alle ihre alte Privilegia, Freyheiten, Rechte und immuniteten, welche unter der Schwedischen Regierung eine Zeit hero weltkündig violiret worden, nach ihrem wahren Sinn und Verstand heilig zu conserviren und zu halten gesinnet sind; sondern Wir geloben auch dieselben noch ampleren und herrlicheren nach Gelegenheit zu vermehren.« Tatsächlich profitierte Reval in rechtlicher Hinsicht zunächst von der russischen Herrschaft. Peter I. setzte die alten Ratsgeschlechter wieder in ihre ursprünglichen rechtlichen Positionen ein, bestätigte die Stadtrechte, wie sie vor den Reformen Karls XI. bestanden hatten und bewahrte damit die städtischen autonomierechtlichen Institutionen (in den nächsten zwei Jahrhunderten wurden die Rechte der Stadtregierung dann allerdings schrittweise reduziert). Gleichwohl erholten sich Reval und die anderen Ostseestädte nur langsam von den Folgen des Krieges – und zwar umso schleppender als die neue Hauptstadt des Reiches, St. Petersburg, den Fernhandel mehr und mehr an sich zog. Auch die Bevölkerungsverluste durch den Großen Nordischen Krieg, die Pest von 1710 und eine Hungersnot von 1716 waren nicht leicht zu ersetzen. Schweden gab sich während des 18. Jahrhunderts mit dem Verlust der Ostseeprovinzen, und damit auch Revals, nie ganz zufrieden. Besonders im schwedischen Militär, teilweise aber auch am Hof und im Reichstag, wurden immer wieder Überlegungen angestellt, wie die Provinzen zurückzuerobern seien. 1741 setzte sich in Schweden die Reichstagspartei der »Hüte« durch und brach einen – allerdings schlecht vorbereiteten und von Illusionen geleiteten – Krieg gegen Russland vom Zaun, der 1743 mit weiteren territorialen Verlusten im Südosten Finnlands endete. Für Reval hatte er keine direkten Konsequenzen. Anders verhielt es sich mit dem schwedisch-russischen Krieg von 1788-1790, den der schwedische König Gustav III. (1771-1792) 112  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

begonnen hatte, als russische Truppen und große Teile der russischen Ostseeflotte im russisch-österreichischen Krieg gegen das Osmanische Reich (1787–1792) gebunden waren. Neben anderen Kriegszielen war auch hier eine Rückeroberung der schwedischen Ostseeprovinzen geplant. Für Reval erhielt der Krieg insofern Bedeutung, als am 2. Mai 1790 eine schwedischrussische Seeschlacht bei Reval stattfand, bei der schwedische Einheiten unter Admiral Karl von Södermanland (dem Bruder des schwedischen Königs) versuchten, die russische Flottenbasis in Reval zu zerstören. Ungünstige Wetterverhältnisse und die gute Deckung der russischen Flotte durch die geschützte Lage des Revaler Kriegshafens ließen das Projekt jedoch scheitern. Noch im selben Jahr beendete der Friede von Värälä (14.8.1790) den für beide Seiten schmachvoll verlaufenen Krieg ohne territoriale Veränderungen. Die Oberstadt unter russischer Herrschaft Der Domberg (Oberstadt) behielt unter russischer Herrschaft seine Funktion als Sitz der estländischen Provinzialbehörden der Krone sowie der ritterschaftlichen Selbstverwaltung und der estländischen Kirchenverwaltung. Eine partielle Umgestaltung erfuhr er durch den Bau neuer Adelspaläste, die noch im Zusammenhang mit den Wiederaufbaumaßnahmen nach dem großen Brand von 1684 standen; einige davon trugen barocken Charakter, die meisten jedoch orientierten sich schon am klassizistischen Stil. Die Ausführung eines wenige Wochen nach dem Brand von 1684 entwickelten Bebauungsplans, der neben den tatsächlich gebauten Häusern eine bedeutende Erweiterung des mittelalterlichen Straßennetzes, die Errichtung von acht massiven Kanonentürmen und die völlige Umgestaltung der Adelsgrundstücke vorgesehen hatte, war dem Großen Nordischen Krieg zum Opfer gefallen. Er wurde nach dem Ende der Kriegshandlungen nicht mehr aufgenommen. 1767–1773 jedoch ließ die russische Regierung die südlichen und östlichen Teile der mittelalterlichen Burg für den Bau eines spätbarockfrühklassizistischen Schlosses nach Plänen des Jenaer Baumeisters Johann Schultz als Residenz des russischen Gouverneurs von Estland abreißen. Von den ehemals vier Burgtürmen blieb nur der bis heute stehende »Lange Hermann« vollständig erhalten. Provinzialregierung: 1710 waren Estland und Livland zunächst unter eine gemeinsame Verwaltung unter dem Günstling Peters I., Aleksandr Menšikov (*1672, †1629), gekommen. Menšikov setzte jedoch den Livländer Gerhard Johann Freiherr von Löwenwolde zum Generalbevollmächtigten der OstseeDie Anfänge der russischen Herrschaft 

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provinzen ein und überließ ihm weitgehend die administrative Reorganisation seiner »Herzogtümer«. Gleichzeitig hatte der Zar bereits 1710 Generallieutenant Bauer zum estländischen (Kriegs-)Gouverneur eingesetzt. Auf dieser Grundlage entstand im Rahmen der russischen Verwaltungsreform von 1713 das »Gouvernement Estland«. Es entsprach in seiner territorialen Ausdehnung dem schwedischen Vorgänger und bestand in dieser Form mit Ausnahme des Territoriums der Stadt Narva fort. Im Zuge der russischen Verwaltungsreform von 1719 wurde ein Generalgouvernement Estland geschaffen. 1725 erhielt es die Bezeichnung »Generalgouvernement Reval«. In Kontinuität zur schwedischen Verwaltungstradition setzte es sich aus den vier Kreisen Harrien, Jerwen, Wierland und Wiek zusammen. An der Spitze der Gouvernementsregierung in Estland stand der estländische Generalgouverneur im Range eines Feldmarschalls oder Generals, seit 1762 im Rang eines Generallieutenants. Ab 1775 regierte in Reval ein Vizegouverneur, während der Generalgouverneur (»Statthalter«) der Provinzen Estland und Livland seinen Sitz in Riga hatte. Wie unter schwedischer Herrschaft stellten der Generalgouverneur und seine Kanzlei Verbindungsglieder zur zentralen Reichsverwaltung, nunmehr in St. Petersburg, dar. Ihre Aufgabe bestand in der doppelten Anforderung, die Interessen des Zentralstaates wie der Provinzialstände, darunter auch der Stadt Reval zu wahren. Sie besaßen ein Bestätigungsrecht für sämtliche Beschlüsse der estländischen Landtage, alle Besetzungen der Ämter in der Zivilverwaltung und der Justiz der Provinz, der städtischen Ratswahlen und der Sekretariate. Dem estländischen Generalgouverneur stand ein Kollegium, bestehend aus dem Generalgouverneur selbst, dem Vizegouverneur, zwei Regierungsräten, dem Oberfiskal und zwei Sekretären, zur Seite. Für die rein administrativen Aufgaben waren zwei Generalgouvernementskanzleien, eine deutsche und eine russische, zuständig. Die deutsche Kanzlei diente der Kommunikation mit der ständischen Selbstverwaltung und dem zentralstaatlichen Justizbzw. Kammerkollegium der liv-, est- und finnländischen Angelegenheiten in St. Petersburg, das auch andere Aufgaben der früheren schwedischen Zentralverwaltung, vor allem der königlichen Kanzlei in Stockholm, wahrnahm. Ihr standen zwei deutsche, aus dem Generalgouvernement stammende Regierungsräte vor. Die russische Kanzlei diente der Kommunikation mit dem Zaren (ab 1721 auch: Kaiser), dem St. Petersburger Regierenden Senat sowie den Militär- und anderen russischen Zentralbehörden. Ihr stand der Vizegouverneur vor. Als Rechtsberater des Gouverneurs fungierte der Oberprokureur. Dieser übte gleichzeitig Funktionen als Anwalt der Krone und Exekutor der 114  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

deutschen Kanzlei aus. Unter dem Oberprokureur versahen die Kreisfiskale ihre Aufgaben. Sie waren für die Beaufsichtigung der Gerichtsordnung in den Provinzen zuständig, arbeiteten jedoch auch als Justiziare für Krone und Kirche. Peter I. hatte der estländischen Ritterschaft in ihrer Kapitulation von 1710 (Art.6) das Recht auf einen »Teutschen und Evangelischer Religion zugethanen General-Gouverneurn« zugesagt. Dieses Versprechen wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weitgehend eingehalten, wobei die estländischen (General-)Gouverneure zwischen 1713 und 1775 jedoch keineswegs immer aus der Provinz selbst, sondern auch aus dem Heiligen Römischen Reich, darüber hinaus auch aus Russland oder dem nichtdeutschen Ausland stammten. Damit war dem Versprechen zwar formal Genüge getan; ob sich aber die Intentionen der estländischen Ritterschaft darin widerspiegelten, ist durchaus zweifelhaft. Ritterschaftliche Selbstverwaltung: Wie auf vielen anderen Gebieten erlebte Estland auch in der ständischen Selbstverwaltung eine Restitution der Institutionen aus der Zeit vor den absolutistischen Reformen Karls XI. Hier ist vor allem auf die Wiedereinsetzung der Landratskollegien in Estund Livland, aber auch anderer Organe der Ritterschaften und Städte zu verweisen. Für »alles, was zum Wohle des Landes und zur Aufrechterhaltung der Privilegien gereicht« (Capitulation 1710), stand das auf dem Revaler Domberg tagende Landratskollegium seit seiner Rekonstituierung am 26.2.1715 an der Spitze der Selbstverwaltung des flachen Landes. Als Selbstverwaltungsorgan übte es wie ehedem die Kontrolle über die Justiz, das Kirchen- und Postwesen und die Güter des Landes aus, besaß aber auch einen weitgehenden Einfluss auf ihm nicht direkt unterstellte Behörden, indem es zwischen diesen und der Gouvernementsregierung vermittelte und durch seine Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und seine ständige Präsenz in Form der monatlichen »Residierungen« (Sitzungen) als das eigentliche oberste Verwaltungsorgan der Provinz Estland angesehen werden musste. Eine Zeit lang spielten die Landratskollegien sogar mit dem Gedanken, sich selbst als »Gouvernementsrat« an die Seite des Gouverneurs zu setzen. Diese Überlegungen kamen jedoch über das Stadium von Planungen nie hinaus. Das Landratskollegium wurde 1786, kurz nach der Einführung der Statthalterschaftsverfassung unter Katharina II. (1762–1796), abgeschafft, unter ihrem Sohn Paul I. (1796–1801) im Jahre 1796 jedoch wiedereingeführt. Anders als im Fall der Generalgouverneure kamen die Träger der ritterschaftlichen Selbstverwaltung in ihrer Mehrzahl aus der Provinz und nur zu Die Anfänge der russischen Herrschaft 

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einem geringeren Teil aus dem Heiligen Römischen Reich. Nur die nachgeordneten Bediensteten stammten teils aus dem estländischen, teils aus dem reichsdeutschen städtischen Bürgertum. Man sieht schon an dieser Gegenüberstellung, dass der Großteil der kaiserlichen Provinzial- und ständischen Selbstverwaltung in den Händen der einheimischen Bevölkerung verblieb – und dies umso mehr, als die Generalgouverneure, wie bereits dargelegt, nur kurz amtierten und häufig absentierten. Deutlichere Veränderungen gegenüber der schwedischen Herrschaft ergaben sich im ritterschaftlichen Gerichtswesen. 1739 wurde das Oberlandgericht in Zivilsachen dem Justizkollegium der Liv- und Estländischen Sachen in St. Petersburg als oberster Appellationsinstanz unterstellt, seit 1796 war der Regierende Senat in St. Petersburg Revisionsinstanz. Das Oberlandgericht tagte unter dem Vorsitz des Generalgouverneurs, der zumeist den präsidierenden Landrat als Vertreter bestellte. Das Niederlandgericht behielt seine in schwedischer Zeit entwickelte Form zwar bei, allerdings kamen nach 1721 als Beisitzer die Manngerichtsassessoren hinzu, während die Hakenrichter nur als Ersatzassessoren eingesetzt wurden. Das Niederlandgericht behandelte Forderungen gegen Adlige, Geistliche, Beamte und Advokaten bis zu einem Streitwert von 60 Rubel Silbermünze. 1724 wurde das Niederlandgericht auch Vormundschaftsgericht und hieß nun Niederland- und Landwaisengericht. Estländische Kirchenverwaltung: Das estländische Provinzialkonsistorium, bestehend aus den Vertretern der Revaler Geistlichkeit und der estländischen Ritterschaft, rekonstituierte sich 1721 unter Leitung des Landratspräsidenten und tagte seither einmal jährlich auf dem Revaler Domberg. Das schwedische Kirchengesetz aus dem Jahr 1686 galt weiter, so dass hier einerseits eine rechtliche Kontinuität zur schwedischen Zeit bestand, andererseits eine Reichskirche nicht mehr existierte. Dies hatte für die Stadt Reval den Nachteil, dass sie keinen weltlichen Schutzherrn (entsprechend dem schwedischen König und dem schwedischen Episkopat) mehr besaß. Andererseits genoss die Stadt in kirchlicher Hinsicht mehr Freiheit – jedenfalls so lange sich die russische Regierung nicht in die Kirchenangelegenheiten einmischte – und dies tat sie tatsächlich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein nicht. Auch der weiter amtierende estländische Bischof, der die estländischen Kirchenangelegenheiten zusammen mit der Ritterschaft verwaltete, konnte nun nicht mehr als Instrument zur Intervention der Reichskirche in die stadtkirchlichen Angelegenheiten eingesetzt werden. Die Ritterschaft wiederum, die nun zusammen mit dem Bischof als summus episcopus der estländischen Landeskirche agierte, hatte während des 18. Jahrhunderts – soweit die Quellen 116  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

dies offenlegen – kein Interesse, in die kirchlichen Belange der Stadt Reval einzugreifen. Das Stadtbild im 18. Jahrhundert Das Stadtbild wandelte sich im 18. Jahrhundert vor allem durch den Zuzug russischer Soldaten nach der Eroberung der Stadt (1710). Diese ließen sich – zum Teil illegal – in den durch Krieg und Pest verlassenen Häusern der Vorstädte nieder. Hier entstanden auch auf die Bedürfnisse des russischen Militärs abgestimmte neue Institutionen. Bereits 1715 wurde ein Marinehospital in Joachimstal gegründet. 1749 weihte man die russische Regimentskirche »Mutter Gottes zu Kazan’« in der Dörptschen Vorstadt ein. 1772 erschien ein Ukaz des kaiserlichen Senats in St. Petersburg, nach dem alle Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern liegen sollten. Auf diesem Hintergrund wurden 1774 zwei neue Friedhöfe für die deutsche Bevölkerung angelegt – der Moik-Friedhof am Oberen See und der Friedhof Ziegelskoppel auf der gleichnamigen Halbinsel nördlich der Altstadt. Das größte Augenmerk der St. Petersburger Regierung lag jedoch auf dem Ausbau des Revaler Hafens zu einem russländischen Kriegshafen. Erste Pläne in dieser Richtung tauchten schon 1712 auf. Peter I. hatte die gesamte Küste von Reval bis Pernau (Pärnu) inspiziert, um einen geeigneten Platz für eine russische Flottenstation westlich von St. Petersburg zu finden. Reval schien dafür die besten Voraussetzungen zu bieten. Am 12. Oktober 1713 erhielten der Adjutant des Zaren, Antoine Devier (António de Vieira), und der Generalmajor der zarischen Pioniertruppen, Johann Ludwig Luberas von Pott, Befehl, in Reval einen Kriegshafen anzulegen. Er wurde am 28. Januar 1714 vom Zaren offiziell proklamiert. Die eigentlichen Arbeiten zum Bau des Hafens und der Admiralität (auch: Reede) für den Bau und die Renovierung von Kriegsschiffen begannen am 2. Februar, ebenfalls im Beisein Peters I. Dabei wurde möglicherweise die bereits bestehende Mole weiter ausgebaut. Im Sommer 1715 fasste Peter I. dann überraschend den Entschluss, einen Kriegshafen in Rogerwiek (Paldiski) anzulegen, das länger eisfrei blieb und nach Einschätzung des Zaren die besseren strategischen Voraussetzungen bot. Die Arbeiten in Reval gingen jedoch währenddessen weiter. 1717 erhielt Luberas Befehl, auch den Revaler Handelshafen, vor allem die Mole, zu erweitern. Die Renovierungsarbeiten begannen noch im selben Jahr nach Entwürfen des St. Petersburger Hauptarchitekten (russ. general-architektor) Die Anfänge der russischen Herrschaft 

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Jean-Baptiste Le Blond. Instruktionen des Zaren selbst waren in die Planungsarbeiten mit eingeflossen. Nach dem Tod Le Blonds führte der Hafendirektor von Kronšlot und Reval, der Engländer Edward Lane, die Arbeiten nach modifizierten Plänen fort – wenn auch, aufgrund finanzieller Probleme und des Friedensschlusses von Nystad (30.8.1721), nach 1721 in wesentlich langsamererem Tempo. Alle verfügbaren Kräfte der Stadt, aber auch zusätzlich von Peter abgeordnete Matrosen und (ab 1722) Zwangsarbeiter wurden für den Bau des Hafens eingesetzt, insgesamt rund 250 Personen. Mit dem Hafenausbau erhielt Reval zugleich sein erstes größeres Manufakturunternehmen. Bis zu Peters I. Tod (1725) entstanden mehrere Militärbaracken und Admiralitätsgebäude am Admiralitätskanal, eine Küstenbatterie und eine Seefestung zum Schutz des Hafens in der Nähe der Mole, außerdem mehrere Wasserleitungen und eine Teerkocherei. 1723 ordnete Peter I. den Bau einer Werft und eines Leuchtturms an. Die Arbeiten in Rogerwiek hatten 1718 begonnen. Die Vorverhandlungen des Friedens von Nystad, der den Großen Nordischen Krieg beenden sollte, stellten die Fortführung der Arbeiten in Rogerwiek dann zwar kurze Zeit in Frage, weil eine der schwedischen Friedensbedingungen lautete, der Zar solle auf den Kriegshafen verzichten. Die russische Regierung blieb jedoch in diesem Punkt unnachgiebig. Aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen und finanzieller Engpässe wurden die Arbeiten allerdings erst 1724 wieder in vollem Umfang aufgenommen. In dieses Jahr scheinen auch die ersten Überlegungen zu fallen, ob Reval als Kriegshafen überhaupt weitergeführt werden sollte, wenn Rogerwiek fertiggestellt war. Der Tod des Zaren 1725 brachte jedoch alle Hafenarbeiten in Reval und Rogerwiek zu einem plötzlichen Stillstand. Erst 1727 entschied die russische Regierung, inzwischen unter Katharina I. (1725–1727), Rogerwiek aufzugeben und den Revaler Hafen weiter auszubauen, darunter vor allem die Verteidigungsanlagen. Es sollte bis 1743 dauern, als sich die russische Regierung auf Empfehlung Luberas’ dafür entschied, den Hafen von Grund auf neu zu konzipieren. Dafür sollte der alte Hafen aufgegeben und ein neuer Hafen weiter westlich entstehen, der vom Wind besser geschützt war und durch die Küstenbatterie der Insel Karlos (Paljasaar) besser verteidigt werden konnte. Außerdem beschloss Zarin Elisabeth (1741–1761), die unter ihrem Vater begonnenen Arbeiten in Rogerwiek wieder aufzunehmen. Beide Projekte zogen sich jedoch in die Länge, ohne dass in den beiden kommenden Jahrzehnten Nennenswertes geschah. Erst unter Katharina II. (1762–1796) kam wieder etwas Bewegung in die Hafenarbeiten. Der von Katharina II. 118  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

mit dem Hafenbau beauftragte Graf Burkhard Christoph von Münnich legte 1763 einen Bericht vor, der empfahl, alle verfügbaren Kräfte für die von Luberas geplante Westverschiebung des Revaler Hafens, der für 10 Linienschiffe, 10 Fregatten und einige kleinere Schiffe ausgelegt sein sollte, einzusetzen. Gleichzeitig sollte Rogerwiek, das seit 1762 den russischen Namen Baltijskij Port (dt. Baltischport) bekommen hatte, erhalten bleiben, um Schiffen bei Stürmen Schutz zu bieten. Die kaiserliche Konfirmation folgte 1765. Ob es wirklich zu einem Ausbau kam, ist unklar. Nach dem schwedisch-russischen Krieg 1788–1790 jedenfalls wurden ab 1791 Pläne für einen sehr viel größeren Kriegshafen diskutiert, der fünf von einander getrennte Molen, Befestigungsanlagen und Kanonenbatterien umfassen, 50 Linienschiffen und 20 Fregatten Platz bieten und fünf Mio. Rubel kosten sollte. Die Umsetzung gestaltete sich am Ende wesentlich bescheidener. Stattdessen wurde der Revaler Hafen im permanenten Verteidigungszustand gehalten und die Verteidigungsvorrichtungen von Baltischport nach Reval transferiert. 1797 kam eine neue Mole (sog. Westmole) für Kriegsschiffe hinzu. 1799 wurden das Hafenbecken vertieft und neue Küstenbatterien angelegt. August Wilhelm Hupel über Revals Straßen- und   »Post«-Verbindungen zu Beginn der 1770er Jahre »Unsere großen Heer- und Landstrassen sind folgende: (…) 2) Von Reval nach Narva sieht man keine Städte; der Zwischenraum von 196 Werst ist unter 9 Poststationen vertheilt, wenn man Warjel zurückgelegt hat, so vereinigt sich der Weg bey der Fockenhoffschen Postirung mit dem aus Riga kommenden gleich vorher angezeigten petersburgischen. Wer mit der Post aus Riga nach Reval reisen will, der muß über Dorpat gehen und bey Fockenhof einen Winkel machen, durch den der Weg eine ansehnliche Verlängerung erhält; oder man geht über Pernau, wo man über den beschwerlichen Sandweg noch einen größeren Winkel machen muß. Die übrigen dahin führenden nähern Landstrassen sind nicht mit Poststationen versehen. (…) 4) Von Reval nach Riga sind 6 Postirungen, und 5) Von Reval nach Habsal vier. Selten fährt man diese Straße mit der Post, daher werden hier nur sehr wenige Pferde unterhalten. (…) 7) Von Riga nach Reval geht eine große und ziemlich gerade Strasse, aber ohne Postirungen, über Lemsal, Burtneck, Karkus, Fellin und vereinigt sich hinter Oberpahlen mit der aus Dorpt kommenden Strasse.

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8) Aus Dorpt reist man gerade nach Reval auf einer großen aber nicht mit Posten versehenen Landstrasse, die sich 6 Meilen von Dorpt in zween Arme theilt, deren einer die piepsche, der andre die oberpahlsche Strasse heißt. Auf der lezten sieht man 6 Meilen hinter Oberpahlen die ehemals berühmte Stadt Weissenstein. Beyde Strassen sind sonst einander ziemlich gleich. (…) Unser im Winter von Frost starres und mit tiefen Schnee bedecktes Land erleichtert die Reisen ungemein; (…) Der wohltätige Schnee macht das Reisen bequem und erleichtert die Verführung unsrer Produkte nach den Seestädten ungemein; aber schwerbeladene Fuhren verderben bisweilen die beste Bahn; man wirft leicht um. (…) Eine reitende Post haben wir eigentlich nicht; an deren Statt bedient man sich eines leichten Fuhrwerks, welches eben so geschwinde geht, aber keine schweren Sachen aufnimmt; und weil wir auch keine ordinäre fahrende Post haben, so finden die hiesigen Fuhrleute viel Verdienst. Geld, Waaren und Briefe bringen sie von einer Stadt zur andern; und in Ansehung des letzten Punktes ist gar keine strenge Nachfrage. Quelle: Hupel, August Wilhelm: Topographische Nachrichten von Liefland, Bd.1, Riga 1774, S.526–531.

Die Unterstadt (Bürgerstadt) Formal veränderte die russische Herrschaft an der Regierung und Verwaltung der Unterstadt abgesehen von den genannten Maßnahmen in der Zeit des Großen Nordischen Krieges zunächst nichts. Die schon von den schwedischen Königen bestätigten Stadtrechte und Korporativprivilegien wurden von den russischen Zaren ebenfalls bestätigt (Peter I. 1711/1712, Katharina I. 1725, Anna I. 1730, Ivan VI. 1741, Katharina II. 1763), bevor eine neue Stadtordnung unter Katharina II. 1785 die Strukturen von Regierung und Verwaltung und im Zusammenhang damit auch einige wesentliche Punkte des Revaler Stadtrechts grundlegend veränderte. Anders sah es mit den sozialen Entwicklungen der Bürgerstadt aus. Der Große Nordische Krieg und die Pest von 1710 hatten zahlreiche Menschenleben und damit auch Arbeitskraft gekostet. Eine Aufstellung vom 20. Januar 1711 verzeichnet 4.687 Pesttote innerhalb der Stadtmauern und 4.661 in den Vorstädten. Eine zeitgenössische Zählung der bürgerlichen Bevölkerung Revals vom 10. Oktober 1711 ergab eine Zahl von 1.732 Personen in 490 Haushalten. Eine Hungersnot im Jahre 1716 brachte weitere Bevölkerungsverluste. Es sollte einige Jahrzehnte dauern, bis dieser Aderlass 120  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

ausgeglichen war. Laut Steuerrevision der russischen Regierung zählte Reval im Jahre 1782 schon eine Bevölkerung von 10.653 Personen – exklusive Mitglieder des Militärs, des Adels und der leibeigenen Dienstboten, aber inklusive der Vorstädte. Davon waren 5.697 männliche steuerpflichtige Personen, die sich aus 38% Russen, 30,5% Deutschen, 22% Esten und 9,5% Schweden zusammensetzten. Die Zahl der Handwerker umfasste 693 Steuerpflichtige in rund 270 selbständigen Handwerksbetrieben und organisiert in 31 Ämtern. Die ethnische Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung erfuhr insofern eine deutliche Veränderung als nach 1721 die Zahl der russischen Verwaltungsbeamten und Kaufleute allmählich zunahm. Ein Ratsverzeichnis aus dem Jahre 1770 beispielsweise führt 68 russische Kaufleute auf, die nach drei Einkommenskategorien gegliedert waren. Eine Sondergruppe bildete die russische Garnison, die während des Großen Nordischen Krieges (1713) eine Stärke von rund 3.000 Soldaten und 1.500 Matrosen aufwies, in Friedenszeiten aber erheblich kleiner gewesen sein dürfte. Aber nicht nur die aktiven russischen Soldaten veränderten das ethnisch-soziale Bild vor allem der Revaler Vorstädte, wo der größte Teil der russischen Garnison untergebracht war. Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges blieben viele außer Dienst gestellte Soldaten in der Stadt. Die Sozialstruktur der Revaler Bevölkerung blieb zu Beginn der russischen Herrschaft stabil. Weder Krieg noch Pest führten zu einer Aufweichung der ständischen Ordnung in der Stadt. Ein ständiger Wechsel in der sozialen, ethnischen und beruflichen Zusammensetzung der Bevölkerung ging allein in den Vorstädten vor sich – mit der gleichbleibenden Erfahrung, dass die Vorstadtbevölkerung nur über den finanziell und rechtlich aufwändigen Weg des Bürgerrechtserwerbs Teil der ständischen Bevölkerung der Stadt werden konnte. Hinsichtlich der ökonomischen Verhältnisse wurden die Karten mit dem Ende der schwedischen Vorherrschaft im Ostseeraum jedoch neu gemischt. Das Auftauchen russländischer Handels- und Kriegsschiffe in der Ostsee markierte nicht nur die fortschreitende Integration Russlands in die nordosteuropäischen Märkte, sondern auch die Bedrohung der wirtschaftlichen Machtbalance in den nordosteuropäischen Gewässern. Wie Schweden konnte das petrinische Russland zwar nicht mit einer ausformulierten Theorie des Merkantilismus aufwarten. Ja selbst die Frage, ob das petrinische Russland eine merkantilistische Wirtschaftspolitik betrieben hat, ist in der Forschung bis zum heutigen Tag umstritten. Andererseits verweisen aber die meisten wirtschaftspolitischen Maßnahmen Peters I. auf merkantilistische Die Anfänge der russischen Herrschaft 

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Vorstellungen. Man wird also so weit gehen können zu sagen, dass Russland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Version der verschiedenen Ausprägungen des europäischen Merkantilismus praktizierte. Dabei war der Profit aus dem Handel, vor allem aus dem Welthandel, ein vorrangiges Ziel des russländischen Staates, der ein teures Heer und eine zeitweise noch teurere Flotte, aber auch zahlreiche neue Zentralbehörden und Reformprojekte zu finanzieren hatte. Eine positive Handelsbilanz, die Steigerung der einheimischen Produktion und eine dezidierte Stadtpolitik spielten in Russland eine ebenso große Rolle wie in vielen anderen europäischen Staaten der Zeit. Dafür setzte Russland in typisch merkantilistischer Manier auf Außen- und Transithandel und Zolleinkünfte. Der Binnenhandel spielte nur eine marginale Rolle. Dabei erwies sich der Staat selbst als der größte und einzig bedeutende Unternehmer im Außen- und Transithandel. Wie im Schwedischen so bestand auch im Russländischen Reich eine Zweiteilung zwischen Binnen- und Seestädten. Als bedeutendste Umschlagplätze im Nordwesten und Norden fungierten die Stapelstädte St. Petersburg, Reval, Dorpat, Riga, Viborg und Fredrikshamn sowie Archangel‘sk und Kola. Die privilegierte Stellung dieser Städte machte sich in erster Linie in der Zollpolitik der russländischen Regierung bemerkbar. Während z.B. in Archangel‘sk der Zoll erhöht wurde, wurde er in St. Petersburg um 5% gegenüber anderen Städten gesenkt. Russland verwirklichte damit jene »Derivation« (Umleitung) des Handels vom Eismeer in den östlichen Ostseeraum, um den sich die schwedische Regierung über ein Jahrhundert lang nahezu erfolglos bemüht hatte. St. Petersburg sollte innerhalb des Russländischen Reiches die Position einnehmen, die Stockholm innerhalb des Schwedischen Reiches im 17. Jahrhundert behauptet hatte. Über St. Petersburg wurden gegen Ende der Regierungszeit Peters I. rund 60% des russländischen Außenhandels abgewickelt. Wichtigste Partner im Außenhandel waren die Engländer, die nun nicht mehr die beschwerliche und gefährliche Eismeerroute nach Archangel‘sk hinaufsegeln mussten, sondern die bequemen Ostseehandelswege nutzen konnten. Die Stapelstädte in den Ostseeprovinzen (Reval, Dorpat, Riga, Viborg, Fredrikshamn) waren durch Zollgrenzen von St. Petersburg getrennt. Sie wurden erst 1782 in das Reichszollgebiet integriert. Welchen Einfluss hatte die Wirtschafts- und Finanzpolitik der russländischen Regierung auf die Ostseeprovinzen, und wie wirkten die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen auf die Wirtschaftspolitik der russländischen Regierung zurück? Der russländische Merkantilismus, der sich vor allem in den ersten beiden Dritteln des 18. Jahrhunderts auf den 122  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Nordwesten des Reiches konzentrierte, zielte in den Ostseeprovinzen besonders auf die Kontrolle des Transit- und Außenhandels, denn die Ostsee stellte im 18. Jahrhundert einen Wirtschaftsraum dar, aus dem stärker exportiert als importiert wurde. Die Handelsdifferenz wurde bar bezahlt, was den Ostseeländern wichtige Devisen einbrachte. Für die russländische Handelspolitik nahmen die Städte der Ostseeprovinzen deshalb einen besonders hohen Stellenwert ein, denn hier gab es ein autonomes, auch nach dem Großen Nordischen Krieg immer noch relativ kapitalkräftiges Bürgertum, in dessen Transaktionen der russländische Staat nicht investieren musste. Auch die Gründung St. Petersburgs hatte nicht nur negative Wirkungen für die Städte in den Ostseeprovinzen. Indem die neue Hauptstadt einen großen Teil des vormaligen russländischen Eismeerhandels umlenkte, profitierten auch die anderen russländischen Stapelstädte an der Ostsee vom Transithandel. Tatsächlich waren neben St. Petersburg die Häfen Viborg, Fredrikshamn, Riga, Reval, Pernau und Narva die wichtigsten Transithäfen nicht nur für die Ostseeprovinzen selbst, sondern für den russländischen bzw. litauischen Handel insgesamt. Wie schon unter Schweden wurden die ökonomischen Angelegenheiten der Ostseeprovinzen durch die lokalen und provinzialen Zweigstellen der staatlichen Zentralbehörden kontrolliert. Als oberste Behörde in allen Kron- und Ökonomieangelegenheiten Est- und Livlands fungierte seit 1718 zunächst das Kammerkollegium (Kollegija kazennych sborov) in St. Petersburg. Nachdem dieses 1728 nach Moskau umgezogen war, wurde 1731 ein Kammerkontor für liv- und estländische Angelegenheiten mit Sitz in St. Petersburg geschaffen. Die Kameralverwaltung in den einzelnen Provinzen war leicht unterschiedlich organisiert. Sie trug jedoch bis in die Zeit Katharinas II. (1762–1796) überall den Charakter der Selbstverwaltung. In Reval existierten städtische und staatliche Finanzbehörden nebeneinander. Vielfach arbeiteten sie aber auch zusammen. So war etwa das Revaler Lizentcomtoir, das den Lizent erhob, eine rein staatliche Behörde, während das Portorium von städtischen und staatlichen Bediensteten gemeinsam verwaltet wurde. Abgaben an den Staat, wie sie unter schwedischer Herrschaft zur Belastung geworden waren, entfielen unter russischer Herrschaft weitgehend. Die Städte der Ostseeprovinzen, wie auch der grundbesitzende Adel, waren hinsichtlich der direkten Steuern steuerfrei, wenngleich durch allerlei Sonderleistungen wie Einquartierungen, Bau- und Transportkontributionen in Geld, Sachgütern und Arbeit belastet. Darüber hinaus genossen Reval, Dorpat und Riga Zollprivilegien, die, nachdem sie unter schwedischer Herrschaft stark eingeschränkt worden waren, von Peter I. in den KapitulatioDie Anfänge der russischen Herrschaft 

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nen von 1710 in dem Umfang wiederhergestellt wurden, wie sie vor der Zeit Karls XI. bestanden hatten. Die Zolleinnahmen waren wie schon in schwedischer Zeit zu unterschiedlichen Anteilen zwischen den Städten und dem Staat geteilt. Zudem wurde der staatliche Anteil an den Zolleinnahmen der Städte in den Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert leicht gesenkt, um den Städten die Möglichkeit zu geben, ihre Reparationen aus dem Großen Nordischen Krieg an den russländischen Staat zu tilgen. Nachdem 1782 die Zollgrenze zwischen den Ostseeprovinzen und dem übrigen Reich und die in den Stapelstädten bis dahin bestehenden Seezölle aufgehoben worden waren, erlitten die Städte der Ostseeprovinzen keineswegs, wie man meinen könnte, finanzielle Einbußen. Wohl aber mussten sie jetzt eine stärkere staatliche Kontrolle ihrer Finanzen hinnehmen. Bei den Handelsgütern spielte auch unter russländischer Herrschaft Getreide aus den Ostseeprovinzen eine Hauptrolle. Als problematisch erwies sich dabei jedoch, dass der gutsbesitzende Adel in Est- und Livland nach den Grundsätzen des Wirtschaftsliberalismus Raubbau an den Böden betrieb, die durch eine intensive Nutzung zugrunde gerichtet wurden und auf Dauer immer weniger abwarfen. Auch wurde ein Teil des Getreide für die Herstellung von Brandwein verwendet.

3. Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt im   frühneuzeitlichen Reval Im Jahre 1523 schrieb der führende Kopf der deutschen Reformation Martin Luther einen Brief an die »Auszerwelten lieben freunde gottis, allen Christen zu Righe, Revell und Tarbthe ynn Lieffland, meynen lieben herren und brudern in Christo«, in dem er die Stadtbürger von Riga, Reval und Dorpat ermutigte, die evangelische Botschaft anzunehmen und zu verbreiten. Auf einem Landtag der livländischen Städte, der Ritterschaften von Estland, Ösel und der Vertreter des Erzbistums Riga in Reval schlossen sie am 17. Juli 1524 einen Pakt zur Verteidigung der Reformation gegen den amtierenden Erzbischof von Riga, Johannes Blankenfeld. Dieser Akt war das Ergebnis einer intensiven theologischen und politischen Auseinandersetzung mit der Reformation in den Jahren 1523 und 1524. Zunächst waren es die jüngeren Geistlichen, die Luthers Aufruf ernst nahmen. In Reval wurde im September 1524 Johann(es) Lange, bis dahin Prämonstratensermönch in der Hansestadt Stade,  zum »evangelischen 124  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

nen von 1710 in dem Umfang wiederhergestellt wurden, wie sie vor der Zeit Karls XI. bestanden hatten. Die Zolleinnahmen waren wie schon in schwedischer Zeit zu unterschiedlichen Anteilen zwischen den Städten und dem Staat geteilt. Zudem wurde der staatliche Anteil an den Zolleinnahmen der Städte in den Ostseeprovinzen im 18. Jahrhundert leicht gesenkt, um den Städten die Möglichkeit zu geben, ihre Reparationen aus dem Großen Nordischen Krieg an den russländischen Staat zu tilgen. Nachdem 1782 die Zollgrenze zwischen den Ostseeprovinzen und dem übrigen Reich und die in den Stapelstädten bis dahin bestehenden Seezölle aufgehoben worden waren, erlitten die Städte der Ostseeprovinzen keineswegs, wie man meinen könnte, finanzielle Einbußen. Wohl aber mussten sie jetzt eine stärkere staatliche Kontrolle ihrer Finanzen hinnehmen. Bei den Handelsgütern spielte auch unter russländischer Herrschaft Getreide aus den Ostseeprovinzen eine Hauptrolle. Als problematisch erwies sich dabei jedoch, dass der gutsbesitzende Adel in Est- und Livland nach den Grundsätzen des Wirtschaftsliberalismus Raubbau an den Böden betrieb, die durch eine intensive Nutzung zugrunde gerichtet wurden und auf Dauer immer weniger abwarfen. Auch wurde ein Teil des Getreide für die Herstellung von Brandwein verwendet.

3. Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt im   frühneuzeitlichen Reval Im Jahre 1523 schrieb der führende Kopf der deutschen Reformation Martin Luther einen Brief an die »Auszerwelten lieben freunde gottis, allen Christen zu Righe, Revell und Tarbthe ynn Lieffland, meynen lieben herren und brudern in Christo«, in dem er die Stadtbürger von Riga, Reval und Dorpat ermutigte, die evangelische Botschaft anzunehmen und zu verbreiten. Auf einem Landtag der livländischen Städte, der Ritterschaften von Estland, Ösel und der Vertreter des Erzbistums Riga in Reval schlossen sie am 17. Juli 1524 einen Pakt zur Verteidigung der Reformation gegen den amtierenden Erzbischof von Riga, Johannes Blankenfeld. Dieser Akt war das Ergebnis einer intensiven theologischen und politischen Auseinandersetzung mit der Reformation in den Jahren 1523 und 1524. Zunächst waren es die jüngeren Geistlichen, die Luthers Aufruf ernst nahmen. In Reval wurde im September 1524 Johann(es) Lange, bis dahin Prämonstratensermönch in der Hansestadt Stade,  zum »evangelischen 124  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

obersten Pastor« der Nikolaikirche gewählt. Er predigte im reformatorischen Geist und schrieb an einer Neufassung des Gottesdienstes und Gemeindelebens, an einer neuen »Göttlichen christlichen Ordnung«, wie sein unveröffentlicht gebliebener Text überschrieben ist. Stark beeinflusst von Langes Theologie war der ehemalige Kaplan und (im Jahre 1523) Pastor der Olaikirche, Zacharias Hasse (Leporius). Und auch in der dritten Revaler Stadtkirche, der Heiliggeistkirche, predigte zu dieser Zeit ein reformierter Theologe, Heinrich Bockhold (auch: Boeckhold). Reval bildete damit das erste und wichtigste Zentrum der Reformation in Estland. Von hier aus verbreitete sie sich in andere estländische Städte, darunter vor allem Narva, Wesenberg (Rakvere) und Weißenstein (Paide). Neben den hauptamtlichen Pastoren traten in dieser Zeit auch radikale Laienprediger auf den Plan. Durch die in ihren Predigten laut gewordene Kritik an den kultischen Äußerlichkeiten des altkirchlichen Gottesdienstes kam es in der Folge zu Bilderstürmen und wilden Ausschreitungen, so dass die städtischen Magistrate des Öfteren einschreiten mussten. In Reval brach vor dem Hintergrund eines Konflikts zwischen dem Rat und den Dominikanern am 14. September 1524 ein Bildersturm los, dem die Inneneinrichtungen des dominikanischen Katharinenklosters sowie der Olai- und Heiliggeistkirche zum Opfer fielen. Die Verluste hielten sich aber in Grenzen, da der Revaler Rat bereits am nächsten Tag die öffentliche Ordnung wieder herstellen konnte und für die Rückerstattung der geraubten Kunstschätze sorgte. Am 9. September 1525 gingen Rat und Gilden in Reval mit der Einführung einer lutherischen Kirchenordnung offiziell zur Reformation über. Dabei hat die estnische Mediävistin Tiina Kala aufgrund der Analyse der Protokolle und Rechnungen der Revaler Gilden aus den Jahren 1524/25 zeigen können, dass vor allem soziale und wirtschaftliche Probleme die Entscheidung des Rates beeinflussten. Der Übergang zur Reformation war in erster Linie eine Entscheidung gegen die theologischen Positionen der Dominikaner, die nicht weiter aggressiv gegen Johannes Lange auftreten sollten. Allerdings bildete der Predigerorden der Dominikaner nur die Speerspitze des altkirchlichen Systems in der Stadt. Die Revaler Klöster waren aufgrund der antimonastischen Haltung vieler Reformatoren allesamt erklärte Feinde der Reformation. Auch die Vertreter des Deutschen Ordens und seine Vasallen in der Oberstadt standen zunächst auf der Seite der alten Kirche. Sie befürchteten zu Recht unabsehbare soziale Folgen, ja den Zusammenbruch der bestehenden sozialen Ordnung. Die Klöster waren Zentren der mittelalterlichen Wohlfahrt und Bildung. Mit ihrer Aufhebung war nach Ansicht Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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des Ordens ein Zusammenbruch aller Wohltätigkeit und Kultur und letztlich auch des Fürbittewesens für den Adel verbunden. Dass die lutherische Kirche diese Funktionen übernehmen konnte, war vorderhand nicht vorstellbar. Der Zorn der Stadtbürger gegen die Klöster gewann bald die Oberhand. Er richtete sich wiederum besonders gegen die Dominikaner, die angeblich Testamente unterschlugen, um sich an den Erbhinterlassenschaften der Bürger zu bereichern, was nicht nur nicht in den besitzbürgerlichen Erwartungshorizont passte, sondern darüber hinaus auch noch der ursprünglichen Armutsforderung des Ordensgründers und der Ordenshierarchen widersprach. Auch die »sittenlosen« Zustände im Zisterzienserinnenkloster St. Michaelis hatten schon in den 1480er Jahren zu Versuchen des Revaler Bischofs Simon von der Borch (1477–1492) und seines Nachfolgers Nikolaus Roddendorp (1493–1509) geführt, das Kloster zu schließen. Sie waren aber am Widerstand der Harrisch-Wierischen Ritterschaft gescheitert, aus deren Töchtern sich der Konvent zu einem erheblichen Teil rekrutierte. Die Spannungen zwischen dem Michaeliskloster und der Stadt spiegelten sich aber auch in den Klagen der Äbtissin über Einmischungen des Rates wider. Nachdem der Konflikt 1524 soweit eskaliert war, dass sogar die mit den Dominikanern eng verbundenen Schwarzenhäupter und die Große Gilde mit den Predigerbrüdern gebrochen hatten, säkularisierte der Rat im Mai 1524 einen Teil des Klostereigentums, jagte die Mönche im Januar 1525 aus der Stadt und erklärte den Revaler Dominikanerkonvent 1525 offiziell für aufgelöst. Das physische Ende des Dominikanerklosters kam mit einem Brand von 1532, der einen großen Teil der Kirchenwand zum Einsturz brachte. An einen Wiederaufbau verschwendete auf dem Höhepunkt der Revaler Reformation wohl kaum jemand einen Gedanken. Die säkularisierten Kirchengüter sollten jedoch nach einem Beschluss des Rates vom September 1525 weiterhin für kirchliche Belange eingesetzt werden. Nach dem Tod von Lange und Hasse (1531) bemühte sich die Stadt, einen Schüler Luthers zur Ordnung der kirchlichen Verhältnisse  in Reval zu berufen. Erst 1533 jedoch konnte die Stelle des Superintendenten mit dem von Luther empfohlenen Wittenberger Theologen Nikolaus Glossenius (1533–1539) besetzt werden. Auch sein Nachfolger, Magister Heinrich Bock (1540–1549), war noch ein Protegé Luthers. Im gleichen Jahre brachte ein Landtag in Wolmar (lett. Valmiera) den formalen Abschluss der Revaler Reformation, in dem sich die Magistrate von Riga, Dorpat und Reval in kirchlichen Belangen auf Luther und die Wittenberger Reformation festlegten. Die Beschlüsse von Wolmar bestimmten, dass künftig nur noch 126  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Prediger angestellt werden sollten, die »von gelehrten Leuten, als Herr Martin Luther, Herr Philipp Melanchton, verschrieben und approbiert« waren. Auch die Gottesdienstordnungen und das Schulwesen wurden den Empfehlungen der Wittenberger Reformatoren gemäß verändert und zwischen den Städten vereinheitlicht. Auf dieser Grundlage waren nun überall in Livland Predigten im reformatorischen Geist zugelassen, bis ein Kirchenkonzil eine abschließende Entscheidung über die reformatorische Theologie getroffen hatte. Die Klöster und Domkirchen sollten – mit Ausnahme der Revaler Dominikanerkirche – vorläufig katholisch bleiben. Den Klosterschwestern und –brüdern gewährte man jedoch das Recht, weiterhin in den Klöstern zu wohnen (die letzte Nonne des Michaelisklosters wurde erst 1637 begraben). Auch verwandelte der Revaler Rat zwar Mitte des 16. Jahrhunderts das Michaeliskloster in eine Mädchenschule, erhielt aber damit dessen frühere soziale Funktion – was wiederum den Interessen des Vasallenadels in der Oberstadt entgegenkam.

8  Fragment des estnisch-deutschen Katechismus von Wanradt und Koell, 1535

Parallel zur Tradition der Revaler Klosterbildung begann nach 1533 in Reval, Riga und Dorpat nach Vorbild der Bugenhagenschen Kirchenordnungen für Pommern und das Königreich Dänemark die Neugründung bzw. Reform der Stadt- und Domschulen im Sinne der Melanchthonschen reformatorischen Bildungsidee. Jeder sollte das Wort Gottes, den Katechismus und die Gesangbücher lesen können. Auch der Buchdruck profitierte von der ReKirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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formation. Die erste reformatorische Drucksache – 100 Exemplare eines Katechismus in mittelniederdeutscher und estnischer Sprache (Paralleltext), auf Initiative des Revaler Rates zusammengestellt von den estländischen reformierten Theologen Simon Wanradt und Johann Koell und gedruckt bei Hans Lufft in Wittenberg – erreichte Reval bereits 1535 (s. Textabb. 8). Allerdings wurde er wegen sprachlicher und theologischer Mängel kurze Zeit später vernichtet. 1554 erschien zudem ein in Dorpat von Johann Witten kompilierter und übersetzter und im Heiligen Römischen Reich gedruckter lutherischer Katechismus in südestnischer Sprache, der möglicherweise auch in Reval Verbreitung fand. Eine weitere Integration in den Zusammenhang der Reformation des Heiligen Römischen Reiches stellte die Entscheidung des Livländischen Landtags im Jahre 1555 dar, dem Prinzip des Augsburger Religionsfriedens cuius regio, eius religio zu folgen. Sie vollzog in einem größeren Kontext noch einmal nach, was der livländische Landtag zu Wolmar bereits 1554 postuliert hatte, dass nämlich in Livland Glaubensfreiheit in dem Sinne herrschen sollte, dass der Landesherr den Glauben frei wählen konnte und die Untertanen seinen Entschluss befolgen mussten. Insgesamt wird man sagen können, dass der Übergang Revals zum Luthertum eine »Reformation von oben« darstellte. Entscheidende Akteure waren die Theologen, der städtische Rat und die Gilden mit Unterstützung der Wittenberger Reformation. Eine Reformation mit Impulsen aus der Unter- und Mittelschicht (»von unten«) ist für Reval kaum nachweisbar. Trotz der Ausschreitungen von 1524 hat es eine den Täuferbewegungen oder dem Bauernkrieg von 1525 im Heiligen Römischen Reich vergleichbare reformatorische Volksbewegung in Reval nicht gegeben. Blickt man über Reval hinaus, so war die Reformation in den großen Städten Livlands wie auch auf dem livländischen Land einer von mehreren Faktoren der Dekomposition der livländischen Ordensherrschaft, die mit dem Livländischen Krieg (1558–1583/84) endgültig in sich zusammenfiel. Mit der Oberherrschaft des protestantischen Schweden über die Stadt Reval war die Grundlage gegeben, die Reformation erfolgreich fortzuführen. Allerdings war die schwedisch-lutherische Kirche spätestens seit 1595 eine Staatskirche und stand dem städtischen Partikularkirchenwesen skeptisch gegenüber. Dies wird schon mit der Ernennung eines Nicht-Revalers – und Nicht-Estländers – im Jahre 1565, des Åboer Bischofs Peter Folling, zum Bischof von Estland deutlich. In der Zeit des Livländischen Krieges wurde das städtische Patronatsrecht über die Kirchen (iura spiritualia) jedoch nicht prinzipiell in Frage gestellt. Und nach dem Tod Bischof Christian Michae128  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

lis Agricolas (1584–1586) – des Sohnes des finnischen Reformators Mikael Agricola – im Jahre 1586 war das estländische Bischofsamt nicht mehr besetzt worden, so dass ein möglicher Kompetenzkonflikt zwischen dem Bischof von Estland und dem Revaler Superintendenten nicht zum Tragen kam. Spätere Versuche der schwedischen Regierung, die städtische Kirchenhoheit mit Hilfe der schwedischen Kirche (Bischof Rudbeckius 1627, Bischof Jheringius 1638) einzuschränken und die Stadt dem estländischen Bischof oder gar der schwedisch-lutherischen Kirche direkt zu unterstellen, scheiterten am Widerstand des Revaler Rates und der kirchenpolitischen Eintracht von Rat und städtischer Geistlichkeit. Auch der Versuch, unter Ausnutzung eines Streites zwischen Rat und Klerus über Gelder aus dem städtischen Gotteskasten den Schiedsrichter zwischen den streitenden Parteien zu spielen, und die schwedische Kirchenordnung von 1686 in Reval einzuführen und die städtischen iura spiritualia und das Stadtkonsistorium abzuschaffen, erwiesen sich als erfolglos. Die schwedische Regierung erreichte lediglich, dass der Superintendent von Reval vor Antritt seines Amtes seine orthodoxlutherische Einstellung vor dem Erzbischof von Uppsala zu bezeugen hatte. Die Stadt blieb in Kirchenangelegenheiten unter schwedischer Herrschaft also weitgehend autonom. Nach dem Übergang Revals an Russland (1710) blieb die Stadt zwar mit wiederholten Zusicherungen der Zaren lutherisch, doch fehlte mit der Schwedisch-Lutherischen Kirche ein mächtiger Protektor der Revaler protestantischen Bevölkerung. Die Stadt war in Kirchenangelegenheiten auf sich gestellt. Dazu kam, dass nach dem Großen Nordischen Krieg das Kirchenleben nicht einfach dort anknüpfen konnte, wo es vor Kriegsausbruch geendet hatte. Die Pest von 1710 hatte zahlreiche Gemeindeglieder und Pastoren das Leben gekostet. Die Stadtkirchen litten an einem eklatanten Mangel an Geistlichen. Dieser konnte durch den Zuzug von reichsdeutschen Pastoren zwar im Laufe der Zeit ausgeglichen werden. – Aber zunächst fehlten mit den Pastoren die geistliche Betreuung der städtischen Bevölkerung und ein florierendes Kirchenleben, was durch die das gesamte 18. Jahrhundert hindurch verschleppte Wiedereröffnung der unter Schweden gegründeten Universität Dorpat (1632) und damit einer theologischen Fakultät in den russischen Ostseeprovinzen noch verschärft wurde. Die finanziellen Ressourcen der Gemeinden waren nach dem Großen Nordischen Krieg ebenfalls erschöpft. Ein kirchliches Wohlfahrts- und Bildungswesen konnte unter diesen Bedingungen nur unter Mühen aufrecht erhalten werden. Pietismus: Der bedrohliche Niedergang des Revaler Kirchenlebens im 18. Jahrhundert wurde allerdings durch zwei kirchliche Strömungen – PietisKirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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mus und Rationalismus – aufgehalten. Einige pietistisch gesinnte Pastoren, wie z.B. der Pastor der Revaler Domkirche Christoph Friedrich Mickwitz, gründeten in Reval schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine kirchliche Bildungsstätte nach dem Halleschen Modell (Hallesche Anstalten August Hermann Franckes). Sie hatten in Halle an der Saale studiert und organisierten anschließend die Brüdergemeinden in ihrer Heimat. Schon im Jahre 1729 bildete sich eine erste Herrnhuter Brüdergruppe in Wolmar (Valmiera/Livland) bei der Witwe General Ludwig Nikolaus Hallerts, Magdalena Elisabeth von Hallart. Als der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeinde, Graf Nikolaus von Zinzendorf, Reval im Jahre 1736 besuchte, existierten in der Unterstadt bereits mehrere Brüdergruppen. Zinsendorf war es auch, der den Druck einer nordestnischen Bibelübersetzung im Jahre 1739 tatkräftig unterstützte. Maßgeblich waren hierbei die Vorarbeiten der ebenfalls pietistisch gesinnten und mit Zinsendorf befreundeten estländischen Pastoren Anton Thor Helle und Heinrich Gutsleff. Helle bearbeitete zahlreiche theologische Schriften sprachlich neu und war Mitherausgeber einflussreicher pietistischer Handbücher seiner Zeit. Zu den bekanntesten Arbeiten zählten Eesti-Ma Kele Koddo- ning Kirko-Ramat (»Estländisches Haus- und Kirchenbuch«, Halle 1721) und die estnischsprachige Fassung von Johann Anastasius Freylinghausens »Compendium oder Kurtzer Begriff der gantzen christlichen Lehre in 34  Articuln« (Halle 1766), Jummala Nou Innimesse iggawesse önnistussest (Reval 1727), die er mit Gutsleff herausgab. Neben den Schriften wurden auch die von den Herrnhuter Brüdern gegründeten Gebetshäuser bei den Esten populär. Seit 1742 waren die Herrnhuter auch auf dem Revaler Domberg unter den deutschen Residenten aktiv. Dort wurden sie zwar bis 1764 von den russischen Generalgouvernementsbehörden überwacht, das konnte ihren Einfluss in der estländischen Ritterschaft jedoch nicht bremsen. Die sog. Rationalisten waren zumeist Pastoren, die – wie im Übrigen auch die Pietisten – von der Aufklärungsphilosophie beeinflusst waren. Den volksnahen und mehr auf ein aktives Gemeindeleben denn auf gelehrte Theologie setzenden Pietisten gegenüber verhielten sie sich jedoch recht hochmütig – obwohl sie bei der Erziehung und Belehrung der Gemeindemitglieder manchmal dieselben Ziele verfolgten. Die Rationalisten redigierten die orthodox-reformatorische Überlieferung im aufklärerischen Sinne, taten sich aber auch politisch hervor. So protestierten sie etwa gegen die Leibeigenschaft oder trugen durch ihre Schriften zur Modernisierung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft bei (z.B. Johann Georg Eisen oder Heinrich Johann von Jannau, die aber beide nicht in Reval tätig waren). Auch die im Jahre 1802 neueröffnete Universität zu Dorpat griff in ihrer 130  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Theologenausbildung auf die Lehren der Rationalisten zurück. Eine pietistische theologische Schule für die estländische Pastorenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich hingegen nie etablieren können. Ebenfalls unter dem Einfluss der europäischen Aufklärung, aber von ihrer Lehre und ihren Interessen her zwischen Religion, Philosophie und Politik rangierend und mit der Revaler Geistlichkeit teilweise eng verbunden, standen die in den 1770er Jahren entstandenen Revaler Freimaurerlogen »Isis« (gegr. 1773), »Zur Bruderliebe« (1777), »Zu den drei Streithämmern« (1778) und »Zur Hoffnung der Unschuld« (1789). Dieses Kapitel der Revaler Stadtgeschichte ist bisher kaum erforscht. Dabei kann die Quellenlage als gut bezeichnet werden. Protokolle, Korrespondenzen und Mitgliederverzeichnisse befinden sich im Historischen Museum Estlands (Eesti ajaloomuuseum), darunter auch die besonders aufschlussreiche Briefsammlung des Revaler Ratsapothekers Johann Burchart, der Mitglied der »Isis«-Loge war. 1794 mussten auf Befehl Katharinas II. (1762–1796) alle Freimaurerlogen im Russländischen Reich geschlossen werden. Sie lebten jedoch in Reval ab 1820 wieder auf. Schulwesen: Wie das städtische Kirchenwesen so blieb auch das städtische Schulwesen Revals in der frühen Neuzeit weitgehend in den Händen des Stadtrates. Allerdings versuchte die schwedische Krone wiederholt, ihren Einfluss geltend zu machen und für die Bedürfnisse des schwedischen Staates geeignete Ausbildungsstätten zu etablieren. Zu Beginn der schwedischen Herrschaft war die 1319 erstmals erwähnte Domschule (schola cathedralis ecclesiae) noch immer die wichtigste höhere Ausbildungsstätte Reval. Das Revaler Domkapitel hatte stets streng darauf geachtet, ein Bildungsmonopol in der Stadt zu bewahren – und zwar nicht allein für die Söhne der Oberstadt, sondern auch diejenigen der Unterstadt. Beschwerden der Bürger in der Unterstadt hatten jedoch einen Ratsentschluss erwirkt, der mit einer Bestätigung Papst Martin V. (1417–1431) vom 17. Juli 1424 die Gründung einer unterstädtischen Pfarrschule an der Olaikirche vorsah. Ob sie tatsächlich gegründet wurde, ist ungewiss. Da dort jedoch wohl eher die praktischen Kenntnisse für die künftigen Kaufleute und Handwerker von Reval vermittelt worden wären, hätte die Domschule ihren Status als einzige geistliche und höhere Bildungsanstalt der Stadt trotzdem beibehalten. Säkularisiert wurde sie erst 1765, als sie als »Akademische Ritterschule« oder »Ritterakademie« von der Domkirche abgekoppelt und der estländischen Ritterschaft übergeben wurde. Seither standen weniger die gelehrten Fächer als die militärischen und galanten Fertigkeiten des Adels im Mittelpunkt des Unterrichts. Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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Für das unterstädtische Schulwesen in nachreformatorischer Zeit grundlegend wurde die Revaler Schulordnung von 1600. Sie regelte den Unterricht an den städtischen sog. »Trivialschulen«, an denen die klassischen drei Fächer (trivium) der mittelalterlichen Scholastik – Grammatik (mit Literatur), Dialektik (mit Logik) und Rhetorik (mit Recht und Ethik) gelehrt wurden. In Reval gab es zwei Trivialschulen, die »Partikularschule« (auch: Rechen- und Schreibschule, Deutsche Schule, Große Schule) für Jungen an der Olaikirche und die »Jungfernschule« an der Heiliggeistkirche für Mädchen. Beide unterstanden dem Collegium Scholarchium, einem aus Vertretern des städtischen Rats und des Kirchenministeriums zusammengesetzten Gremiums für die städtischen Schulangelegenheiten. Die Partikularschule umfasste drei Klassen, die vom Rektor, Konrektor, Kantor sowie einem Schreib- und Rechenmeister unterrichtet wurden. Die Schulberichte vermitteln relativ wenige Informationen über Lehrinhalte und Fortschritte der Schüler. Latein wurde intensiv unterrichtet und war offenbar wenig beliebt. Ansonsten standen Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Reden auf dem Programm. Auch die Entwicklung der Schülerzahlen ist weitgehend unbekannt. Nur für das Jahr 1635 werden einmal 120–130 Knaben genannt. Die Schüler sollten nach dem Willen des Rates möglichst gleich, d.h. unabhängig von ihrem familiären Hintergrund, von Bildung und Vermögen ihrer Eltern, unterrichtet werden. Die Lehrer rekrutierten sich teils aus der Geistlichkeit, teils aus der Kaufmannschaft, teilweise handelte es sich aber auch um ausgebildete Pädagogen, oft aus Deutschland und Schweden. Sie sollten vor ihrer Einstellung eine Probestunde halten und versichern, dass sie dem Augsburgischen Bekenntnis treu bleiben und sich eines anständigen Lebenswandels befleißigen würden. Oft hatten die Lehrer Nebendienste, z.B. in den Kirchen als Kantoren oder Ärzte, zu verrichten. Auch Privatunterricht in den Häusern der Revaler Bürger und Residenten war üblich. Nicht zuletzt dienten solche Nebenbeschäftigungen zur Aufbesserung des oft kargen Gehalts und der schlechten Unterbringung der Lehrer. Andererseits war die Konkurrenz der Privatlehrer für solche Stadtschullehrer, die keine Nebentätigkeit als Privatlehrer fanden, oft der Grund dafür, dass sich die wirtschaftliche Situation der Stadtschullehrer dramatisch verschlechterte. Über die Jungfernschule ist noch weniger bekannt als über die Partikularschule. Als Unterrichtsfächer sind Christentumslehre (Katechismus) und Schreiben dokumentiert. Geht man von den Standards anderer Jungfernschulen aus, die während des 16. Jahrhunderts in vielen protestantischen Städten des Heiligen Römischen Reiches gegründet wurden, wird man 132  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

vermuten dürfen, dass hier vor allem die Forderung nach einer spezifischen Mädchenbildung gemäß Luthers Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen« (1524) umgesetzt wurde. Luther hatte darin angeraten, Sorge zu tragen, dass die Frauen »wohl ziehen und halten könnten Haus, Kinder und Gesinde«. Man wird also davon ausgehen können, dass es sich, modern gesprochen, um Hauswirtschaftsschulen handelte, in denen neben dem Katechismus und Schreiben auch Rechnen, Häkeln, Stricken und andere häusliche Fähigkeiten vermittelt wurden wie sie an Jungfernschulen im Heiligen Römischen Reich vielfach üblich waren. Neben den beiden Trivialschulen bestanden auch mehrere »Winkelund Klippschulen«, d.h. von nichtprofessionellen Lehrern unterhaltene Privatschulen, über die der städtische Rat häufig Klage führte und die er zu verbieten suchte, bis schließlich am 4. November 1696 ein königliches Verbot gegen die Eröffnung weiterer Winkel- und Klippschulen erging. Einige dieser Schulen waren jedoch trotz solcher Widerstände sehr erfolgreich. So gründete der schwedische Reichskanzler Axel Oxenstierna am 27. Mai 1631 eine Höhere Stadt-Mädchenschule für deutsche und schwedische Mädchen, vornehmlich für die stadtbürgerlichen Bildungsbedürfnisse, aber wohl nicht ganz ohne Hintergedanken für die Interessen der schwedischen Krone. Leider ist über die Oxenstierna-Schule nicht viel bekannt. Ihr war jedoch ein langes Leben beschieden. Sie wurde im Jahre 1800 in eine Höhere Töchterschule und 1916 in ein Städtisches Russisches Mädchengymnasium umgewidmet. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Revaler Bildungswesen der frühen Neuzeit war die Tätigkeit der Küster an den städtischen Kirchen. Sie arbeiteten neben ihren anderen Verpflichtungen als Katechismuslehrer und halfen den Kantoren bei der musikalischen Ausbildung der Schüler. Außer ihren Amtsaufgaben ist allerdings nur wenig über einzelne Küsterpersönlichkeiten überliefert. In der schwedischen Periode ist hier vor allem Martin Gilläus (auch: Giläus, Gylläus), der seit 1636 auf dem Domberg tätige Kirchenlehrer und –gesangsmeister der estnischen Gemeinde, zu nennen. Er wurde 1644 Assessor des Konsistoriums und verließ die Stadt 1647, um in der Gemeinde Käina als Lehrer zu arbeiten. Gilläus verfasste Texte zum Hand- und Hausbuch von Heinrich Stahell (s.u.); außerdem 38 Lieder für das Haus-, Hand- und Kirchenbuch von Abraham Winkler. Das eigentliche städtisch-königliche Gemeinschaftsprojekt in puncto höhere Bildung sollte jedoch das Revaler Gymnasium werden. Die Idee, ein städtisches Gymnasium einzurichten, bestand schon seit dem Ende des Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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16.  Jahrhunderts. 1594 hatte König Sigismund (1592–1599) ein Privileg ausgefertigt, in dem er die Stadtväter ermunterte, die Bürgerkinder in die höheren »Zuchtschulen« des Birgitten- und Michaelis- (Systern-)Klosters zu schicken. Seit 1617 tobte dann ein Streit zwischen Rat und Ritterschaft über die Nutzung des Michaelisklosters, bis König Gustav II. Adolf 1626 die Gründung eines Gymnasiums in den Gemäuern des alten Ordensgebäudes vorschlug, die am 6. Juni 1631 nach weiteren zähen Verhandlungen zwischen Rat und Ritterschaft tatsächlich erfolgte. Das Gymnasium entwickelte sich in den Folgejahren schnell zu einer nicht mehr wegzudenkenden Institution des städtischen Bildungssystems. Es diente vor allem der Ausbildung landeseigener Zivilbediensteter, Juristen und Theologen für den schwedischen Staat und die Stadt Reval. 1653 erhielt es den Status eines Königlichen Gymnasiums, seit 1725 hieß es »Stadtgymnasium Academicum«. 1633 wurde hier eine Druckerei gegründet. Ab dem 26. Oktober 1726 übte der Rektor die Zensur über alle Drucksachen in Estland aus, mit Ausnahme der theologischen. 1737–1739 bereiteten Anton Thor Helle und seine Mitarbeiter hier den Druck der ersten Übersetzung der Bibel ins Estnische vor. Der im Februar 1631 zwischen Rat und Ritterschaft geschlossene Vertrag sah die Unterstellung des Gymnasiums unter die sog. Gymnasiarchen (je vier aus Rat und Ritterschaft) und die Anstellung von »Praeceptoren« (Lehrern), darunter vier Professoren, zwei Kollegen und ein Kantor vor. Das Collegium Gymnasiarcharum, ein Ratsausschuss, fungierte als Aufsichtsorgan über das Gymnasium in Reval. Der Unterricht erfolgte in vier Klassen. Lehrgegenstände waren Latein, Griechisch, Literatur, Schreiben, Rhethorik, Mathematik und Geschichte. Ältere Schüler fungierten als Tutoren der jüngeren. Liebe und Gehorsam der Schüler gegenüber den Lehrern war eine Grundforderung des Rektorats. Begabte Schüler erhielten städtische Stipendien. Die Professoren brachten das soziale Gefüge der Stadt zunächst durcheinander. Ansprüche auf Mitsprache in den städtischen Fragen und die intellektuelle Überlegenheit oder mindestens Gleichwertigkeit gegenüber den Ratsmitgliedern, Kaufleuten, der Ritterschaft oder Geistlichkeit führten während des ganzen 17. Jahrhunderts zu Konflikten, in die die schwedische Krone immer wieder als Schlichterin eingreifen musste. Literatur und Künste: Neben den vermehrten Bildungsanstrengungen des Rates und der schwedischen Regierung brachte die frühe Neuzeit auch eine Blüte der Literatur und der Künste hervor. Grundlage für diese Entwicklung war der Buchdruck. Während sich bis zum 17. Jahrhundert die nächstgelegenen Druckereien in Stockholm und Kopenhagen befanden, wurden ab den 1630er Jahren auch Bücher in Reval selbst gedruckt. Die 134  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Buchdruckerei des Gymnasiums nahm 1633 ihre Arbeit auf, nachdem der Stockholmer königliche Buchdrucker Christoffer Reußner d.Ä. dort eine Druckerpresse eingerichtet hatte. Reußner, der Anfang des 17. Jahrhunderts in Rostock begonnen hatte, war 1608 als Drucker nach Stockholm berufen worden und erhielt 1614 ein königliches Privileg als Drucker, 1619 auch als Buchbinder. Nach mehreren Konflikten mit anderen Stockholmer Druckern und Buchbindern erwirkte er die Erlaubnis der königlichen Regierung, sich in Reval niederzulassen. Dort schloss er mit dem Gymnasium einen Vertrag ab, der die Einrichtung einer Druckerei hinter dem Gymnasiumsgebäude, auf dem Gelände des früheren Michaelisklosters, vorsah. Die Druckerpresse hatte Reußner aus Stockholm mitgebracht. Auch die übrige Einrichtung gehörte nicht dem Gymnasium, sondern Reußner persönlich. Die Gymnasialdruckerei ging nach Reußners Tod an den Ehemann seiner Tochter, Heinrich Westphal über, der sie bis in 1660er Jahre betrieb. Ab den 1660er Jahren wurde sie von Adolph Simon und schließlich von Johann Christoph Brendeken weitergeführt. Brendeken stammte aus Goslar, taucht 1674 als Drucker in Stockholm auf und wird erstmals 1676 als Drucker in Reval genannt. Er betätigte sich in der Folgezeit auch als Verleger und Buchhändler und druckte die erste Zeitung in Reval (und Estland), die »Revalische PostZeitung« (s.u.). Nach Brendekens Tod heiratete der aus Riga stammende Johann Köhler, der Ende des 17. Jahrunderts offenbar schon in Narva eine Druckerei betrieben hatte, Brendekens Witwe und übernahm aus deren Erbe die Revaler Gymnasialdruckerei, die im 18. Jahrhundert im Besitz der Familie Köhler bzw. der in die Köhler-Familie eingeheirateten Druckerfamilie Lindfors verblieb. Die Geschichte der Druckerfamilie Lindfors ist bisher kaum erforscht. Außer den Buchtiteln, die bei Lindfors herauskamen und die heute noch in einigen öffentlichen Bibliotheken zu finden sind, gilt nur als gesichert, dass die Gymnasialdruckerei seit 1769 unter dem Namen »Buchdruckerei Köhlers Erben« weitergeführt, etwas später den Namen »mit Lindforsschen Schriften« annahm und im 19. Jahrhundert schließlich als »Buch- und Steindruckerei von Lindfors Erben« firmierte. Sie hat offenbar bis zum Zweiten Weltkrieg publiziert. Die Literatur der frühen Neuzeit in Reval ist stark geprägt von kirchlichen Drucken, wie sie die Reformation hervorbrachte, darunter Übersetzungen von Teilen der Bibel, Katechismen, Gesangs- und Hausbücher, Erbauungsliteratur und religiöse Dichtungen. Die frühesten geistlichen Drucke in Reval gehen jedoch auf die vorreformatorische Zeit zurück und sind schon ab 1470 bezeugt. Unter den prominenten Einzelwerken der Reformationszeit sind ein Gesangbuch als zweiter Teil des vierbändigen »Hand- und Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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Hausbuchs« (Reval 1632), die »Anführung zur Ehstnischen Sprache« (Reval 1637) und eine Predigtsammlung (»Leyen-Spiegel«, Reval 1641–1649) des estländischen Pastors und geistlichen Schriftstellers Heinrich Stahell; Stahell selbst war allerdings nicht in Reval tätig. Ferner sind das Revaler Kirchenbuch von 1740, das Revaler Gesangbuch von 1705 und eine Sammlung geistlicher Lieder der evangelisch-lutherischen Kirche von 1771 zu nennen. Von zentraler Bedeutung war die Übersetzung des Neuen Testaments ins Estnische (Meie Issanda Jesusse Kristusse Uus Testament/»Neues Testament unseres Herrn Jesus Christus«, Reval 1715), das eine zwölfseitige deutschsprachige Vorrede enthält, die die Editionsgeschichte der 23 frühesten bis 1700 erschienenen estnischsprachigen Bücher nachzeichnet und damit gleichzeitig eine frühe estnische Literaturgeschichte darstellt. Die estnischsprachige Bibelgesamtausgabe, Piibli Ramat, se on keik se Jummala Sanna (»Bibel oder die ganze Heilige Schrift«), 1739 in Reval in großer Auflage erschienen, von Zinsendorff (s.o.) finanziert, und von den Pastoren Anton Thor Helle, Heinrich Gutsleff und anderen in die nordestnische Sprache übersetzt, trug entscheidend zur Entwicklung der estnischen Schriftsprache bei. Helles umfangreiche »Kurtzgefasste Anweisung zur Ehstnischen Sprache« von 1732 hatte dazu die Grundlage gelegt. Neben der geistlichen Literatur spielten unter den Revaler Drucken Gelegenheitsdichtungen, amtliche Verlautbarungen, Flugblätter und Zeitungen eine Rolle. Dieses Spektrum setzte sich im 18. Jahrhundert fort, wenn auch unter leicht veränderten Vorzeichen. Neben der lutherischen Kirchenliteratur fanden sich nun auch Drucke pietistischen Inhalts. Außerdem kam zunehmend mehr weltliches Schrifttum hinzu, das sich mit den drängenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen der Zeit beschäftigte, darunter nicht zuletzt auch die von dem aus Erfurt stammenden Geschichts- und Philosophieprofessor Ernst August Wilhelm Hörschelmann gegründeten und seit 1772 erscheinenden »Revalschen Wöchentlichen Nachrichten (1853–1917: »Estländische Gouvernementszeitung). Alle diese Schriften standen jedoch nun unter der Zensur der russischen Gouvernementsbehörden. Unter den Vertretern der weltlichen Literatur ist der in Sachsen geborene Pastorensohn und Absolvent der Leipziger Thomasschule Paul Fleming (*1609, †1640) hervorzuheben. Er wurde wesentlich von seinen Universitätslehrern in Leipzig, dem Komponisten und Thomaskantor Johann Hermann Schein und dem Theologen Adam Olearius, sowie durch seine Bekanntschaft mit einem der bedeutendsten Barockdichter deutscher Sprache, Martin Opitz, geprägt. Während er mit Adam Olearius als Reisedichter der 136  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

letztlich erfolglosen schleswig-holsteinischen Gesandtschaft nach Russland (1633–1635) und Persien (1636–1639) teilnahm, die den Orienthandel der Herzogtümer Schleswig und Holstein in Gang bringen sollte, lernte er bei einem mehrere Monate langen Aufenthalt in Reval 1635 die Kaufmannstochter Elsabe Niehusen kennen. Während seiner Abwesenheit von Reval wurde ihm diese jedoch untreu, und Fleming heiratete 1639 nach seiner Rückkehr aus Russland deren jüngere Schwester Anna. Gleichzeitig wurde ihm die Stelle eines Revaler Stadtphysicus (Arztes) angeboten. Um den Beruf angemessen ausüben zu können, studierte er 1640 an der Universität Leiden. Auf der Rückreise nach Reval starb Fleming jedoch in Hamburg. Fleming begann seine Dichterlaufbahn mit Gelegenheitsgedichten, die sein Vater zusammen mit eigenen Leichenpredigten drucken ließ. Ab 1630 kamen erste selbständige Drucke in lateinischer und deutscher Sprache heraus. Die Stadt Reval und die ihre nähere Umgebung spielten in Flemings Dichtungen eine prominente Rolle. Estländische Landschaften, Städte, Flüsse, Freunde und die Töchter Niehusen waren immer wieder Thema seiner Texte. Daneben sind allgemeine philosophische und theologische Überlegungen typische Inhalte. Fleming gilt in der deutschsprachigen Literaturgeschichte als Meister der Sonettform, die er als erster effektvoll einsetzte. »Mit kurtzem/ es war zu mitten des Aprils/ als ich einst nach gehaltenem Mittagsmahl umb mich ein wenig zu ergehen aus Revall/ da wir die Zeit stille lagen/ in den anmutigen Koppel spazierte/ von dessen Gegend ein lustiges absehen in einen Meerbusen der Ostsee/ und umbliegendes Gepüsch war. Zwar von niemande/ als einem der Knaben vergleitet: Aber/ wie jener sagte/ niemaln weniger alleine/ als da ich so alleine war. Und bedünkte mich der Ort bequem zu seyn/ allda ich meine Gedancken außlassen/ und ihnen desto mehr und freyer nachhengen köndte. Paul Fleming: Gedichte Auff des Ehrnvesten und Wolgelahrten Herrn Reineri Brockmans/ Der Griechischen Sprache Professorn am Gymnasio zu Revall/ Und der Ehrbarn/ VielEhren und Tugendreichen Jungfrawen Dorotheen Temme/ Hochzeit, in: Ders.: Deutsche Gedichte (hg. v. Meid, Volker), Stuttgart 1986, S. 10–38.

Neben geistlichen Gebrauchstexten und der weltlichen Dichtung Flemings hat besonders die Chronistik Bedeutung erlangt. Dabei steht die »Chronica der Prouintz Lyfflandt« des Pastors der Revaler Heiliggeistkirche, Balthasar Rüssow am Anfang einer Reihe längerer und kürzerer Annalen. Die Erstauflage erschien 1678 in der Druckerei Anton Ferber in Rostock. Sie umfasste die Zeit von den »grüwliken düsternissen der affgöderye« im vorchristliKirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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chen Livland bis ins Jahr 1577. Nach dem überwältigenden Erfolg der ersten Auflage erschien im folgenden Jahr eine leicht überarbeitete »Nye Lyfflendische Chronica«, ebenfalls bei Ferber. 1584 schließlich, nach dem Ende des Livländischen Krieges, kam eine dritte, stark ergänzte Auflage heraus, die die Geschichte Revals zwischen 1577 und 1583, die Rüssow als Augenzeuge miterlebt hatte, darstellte. Rüssow hatte im Stettiner Pädagogium 1558–1562 klassische Sprachen und Theologie studiert und war 1563–1567 Hilfspastor und Lehrer an der Heiliggeistkirche. Es ist in der Forschung diskutiert worden, ob Rüssow estnischer Herkunft war, was sich jedoch nicht einwandfrei nachweisen ließ. Wäre dies der Fall, böte seine Karriere ein seltenes Beispiel für den Aufstieg eines Esten über Standes- und ethnische Grenzen hinweg in einen der angesehensten Berufe der Stadt. Ein anderes bedeutendes chronistisches Werk war die »Liefländische Historia« des Pastors Christian Kelch, die 1695 in der Buchhandlung Johann Mehner in Reval (gedruckt in Rudolphstadt bei Heinrich Urban) erschien. Kelch hatte das Stettiner Pädagogium 1668-1675 besucht, eine Zeit lang als Gymnasialprofessor in Berlin unterrichtet und in Frankfurt/Oder und Rostock Geschichte und Theologie studiert. 1682 übernahm er eine Pastorenstelle im estländischen Kirchspiel St. Johannis ( Järva-Jaani). 1697 wechselte er nach St. Jacobi (Viru-Jaagupi). 1706 wurde er zum Propst und 1710 schließlich zum Oberpastor der Nikolaikirche in Reval berufen, starb jedoch noch vor Amtsantritt an der Pest. Wie Rüssow setzte er sich stark für die Belange der estnischen Bevölkerung und für die estnische Sprache ein. In seiner »Historia« schilderte Kelch die Geschichte Est- und Livlands von den Anfängen bis 1690 und ergänzte somit Rüssows Chronik für das 17. Jahrhundert. Eine erst 1875 gedruckte »Continuation« umfasste außerdem die Jahre 1690 bis 1707. Als Sonderfall der chronistischen Literatur des 17. Jahrhunderts ist die Reisebeschreibung von Olearius »Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Reise« (Schleswig 1647) zu interpretieren, in der der Autor u.a. seinen sechswöchigen Aufenthalt in Reval im Jahre 1633 beschreibt und damit wichtige Informationen über das Stadtleben zu dieser Zeit gegeben hat. Ein Exemplar des Werkes schenkte Olearius dem Revaler Rat noch im Erscheinungsjahr seiner »Beschreibung«. Neben der Chronistik ist für das 17. Jahrhundert das Aufkommen von Periodica bedeutsam geworden. Abgesehen von den in Reval seit der Reformation verbreiteten Nachrichtenbriefen und Flugblättern sowie vereinzelten »Relationen« (Mitteilungen) erhielt Reval mit der vom Revaler Postmeister Carl Philipp Grubb herausgegebenen Revalischen Post-Zeitung (erhaltene 138  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Exemplare 1675–1678, 1689–1710) auch seine erste reguläre Zeitung. Sie scheint in den Jahren 1690–1691 neben der Rigischen Rundschau sogar die einzige Zeitung gewesen zu sein, die im Schwedischen Reich überhaupt existierte. Außer den in Reval selbst gedruckten Schriften gelangte natürlich auch eine Menge auswertiger Literatur in die Stadt. Neben dem Bedarf der Geistlichen und der Ratsherren hat hier insbesondere die Gründung von Schulen dazu geführt, dass der Buchhandel seit dem 16. Jahrhundert aufblühte und die Bibliotheken an Umfang rasch zunahmen. Texte für die Lehranstalten wurden in den Zentren des Buchhandels des Heiligen Römischen Reiches, hauptsächlich Lübeck und Nürnberg, beschafft, teilweise auch aus Riga, wo ab 1588 eine Druckerei existierte. Riga wurde im 18. Jahrhundert zu einem wichtigen Zentrum des Buchhandels für Reval, nachdem Johann Friedrich Hartknoch dort in den 1760er Jahren eine Buchhandlung eröffnet hatte, die für den gesamten Ostseeraum von herausragender Bedeutung wurde. Die Direktimporte aus Deutschland ließen seit dieser Zeit merklich nach. Neben dem en gros-Buchhandel boten die seit dem späten 15. Jahrhundert nachweisbaren Wanderbuchhändler eine Versorgung der Revaler Leser mit der neuesten Literatur vor Ort. Im 16. und 17. Jahrhundert erweiterten die Revaler Drucker und Buchbinder das lokale Angebot. Professionelle Revaler Buchhändler sind seit dem Ende des 18 Jahrhunderts nachweisbar. Trotz der bedeutenden Ausweitung des Buchmarktes in der frühen Neuzeit blieb Lesen eine recht exklusive Angelegenheit. Die Stadt Reval besaß zwar während der schwedischen Zeit mehrere Bibliotheken, die wohl auch von Mitgliedern einzelner Korporationen genutzt werden konnten. Leihbibliotheken im modernen Sinne kamen jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts auf. Die Kirchenbibliothek von St. Nikolai und die Ratsbibliothek bestanden in schwedischer und russischer Zeit weiter. Ihre Bestände reichten bis auf das Mittelalter zurück, wobei die Nikolaikirche den kleineren, das Rathaus den größeren Teil der Bibliothek des ehemaligen Dominikanerklosters übernommen hatten. Die Ratsbibliothek verwalteten die städtischen Notare. Sie diente vor allem internen Zwecken der Ratsarbeit, mag aber den Ratsherren und Ratsbedienten gelegentlich auch als Leihbibliothek zugänglich gewesen sein. Die 1552 gegründete Bibliothek der Olaikirche erfüllte in schwedischer Zeit die Funktionen einer von der geistlichen und politischen Elite frequentierten Stadtbibliothek und erhielt dafür Gelder vom Konsistorium und vom Rat. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand durch gelegentliche Schenkungen von Lehrern und Schülern und aus von schwedischen Bibliotheken überlassenen Dubletten die Bibliothek Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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des Gymnasiums. 1727 erhielt auch die Domschule eine eigene Bibliothek. Auch die Buchhandlungen trugen zur Entwicklung des Bibliothekswesens bei. Seit 1772 verliehen sie gegen Gebühren und riefen damit die ersten Revaler Leihbibliotheken ins Leben. Die Kirchen-, Schul- und Ratsbibliotheken zählten zu ihren Beständen keineswegs nur geistliche, didaktische oder amtliche Texte, sondern auch Werke römischer ( Juvenal, Valerius Maximus, Ovid) und humanistischer Autoren (Dominicus Nanus, Marcus Antonius Coccius), berühmte Chroniken (Hartmann Schedel, Werner Rolewinck, Jacobus de Voragine) und naturwissenschaftliche Abhandlungen (Ptolemäus, Johannes Schöner, Petrus Apianus, Sebastian Münzer). Im 18. Jahrhundert finden sich u.a. Werke von Voltaire, Daniel Defoe, Vergil und Horaz. Ein städtisches Theaterleben ist vor dem 18. Jahrhundert nicht entstanden. Wandertruppen (z.B. Michael Brübel 1680) besuchten Reval zwar immer wieder, doch führte dies nicht zu einer dauerhaften Verankerung des Theaters als städtischer Kulturinstitution. Eine Ausnahme bildete das seit den 1630er Jahren dokumentierte Marionettentheater der Wandertruppe Jacob Wigandt, das regelmäßig in der Stadt spielte. Die Aufführungen wurden durch den Großen Nordischen Krieg unterbrochen, ab 1740 aber wieder aufgenommen. Mit dem 1784–1795 von August Friedrich Ferdinand von Kotzebue geleiteten »Liebhabertheater« nahm erstmals ein Theaterbetrieb im eigentlichen Sinne des Wortes in der Stadt seine Arbeit auf. Kotzebue fungierte dabei zugleich als Autor für sein eigenes Theater. Auch die Oper kam spät nach Reval. Als erster Versuch in dieser Richtung kann die Aufführung der Sing-Commödie Die beständige Argenia des Revaler Gymnasialkantors Johann Valentin Meder im Saal des Gymnasiums im Jahre 1680 interpretiert werden. Meder hatte in Leipzig studiert, war als Sänger in Eisenach tätig gewesen und hatte mit Dietrich Buxtehude in Lübeck zusammen gearbeitet. Die Revaler Kantorenstelle versah er von 1674 bis 1685. Später arbeitete er als Kapellmeister an der Marienkirche in Danzig, als Domkantor in Königsberg und als Organist in Riga. Auch in Stockholm war er gelegentlich tätig. Leider sind heute viele seiner Werke verloren. Der ersten Opernaufführung unter Meder folgten weitere, teils unter Meder, teils unter anderen Musikern. Es blieb aber lange Zeit bei Einzelveranstaltungen. So besuchten in den 1740er Jahren Operntruppen von Guiseppe Scolari und Johann Peter Hilferding die Stadt. 1775–1777 wurden Opern von Giovanni Battista Pergolesi, Niccolò Piccinni und Baldassare Galuppi durch die italienische Truppe Cesari im Saal der Großen Gilde aufgeführt. 1777–1780 folgten Singspiele von Carl Christian Agthe u.a. Komponisten, evtl. auch Friedrich Ludwig Bendas »Der Barbier von Sevilla« und »Ariadne auf 140  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

Naxos« durch die St. Petersburger Truppe von Ernst Nathanael Hündeberg im Saal der Großen oder der Kanuti-Gilde. Von Juni bis September 1795 schließlich führte die aus Lübeck und Braunschweig stammende Truppe von Louise Caroline Tilly im Saal der Kanuti-Gilde unter anderem Wolfgang Amadeus Mozarts »Zauberflöte« und »Don Giovanni«, Valentin Martín y Solers »Lilla (Una cosa rara)«, Carl Ditters von Dittersdorfs »Doktor und Apotheker«, »Hieronymus Knicker« und »Hocus-Pocus«, Paul Wranitzkys »Oberon«, Giovanni Paisiellos »Eifersucht auf der Probe« (Le vane gelosie), André-Erneste-Modeste Grétrys »Das Urtheil des Midas« (Le Jugement de Midas) und »Richard Löwenherz« (Richard Coeur-de-Lion) auf. Das Revaler Musikleben außerhalb der Oper beschränkte sich in der frühen Neuzeit auf die Kirchenmusik und die schon für das 15. Jahrhundert bezeugten »Instrumentisten« der Ratskapelle (Zinker, Posaunisten, Trompeter, Gambisten, Pfeifer, Pauker und Spielleute), die zu städtischen Festlichkeiten und zu den Drunken der Schwarzenhäupter aufspielten, aber auch für eher praktische Zwecke der städtischen Repräsentation (publicis actibus) bereit standen. Auch der Domberg beschäftigte Instrumentisten, die allerdings immer wieder in Konkurrenz zur Ratskapelle traten, bis der Rat 1641 deren Auftritte in der Unterstadt verbot. Die Kirchenmusik war ein fester Bestandteil des städtischen Musiklebens. Die Nikolai- und die Olaikirche besaßen je eigene, im Ausland ausgebildete Kantoren, die nicht nur für die Gottesdienstmusik zuständig waren, sondern auch als Musiklehrer an den Revaler Schulen unterrichteten, die Orgel spielten und die Chöre der Partikularschule und des Gymnasiums leiteten. Es ist jedoch im Einzelnen nicht bekannt, welche Musik in den Revaler Kirchen der frühen Neuzeit aufgeführt wurden. Die Revaler Architektur und Bildende Kunst der schwedischen Zeit war anfangs noch stark von der Tradition der Renaissance geprägt. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts stand sie ganz im Zeichen des zeitgenössischen Barock, der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, also noch bis in die russische Zeit, maßgeblich blieb. Entscheidend vermittelt wurde die barocke Kunstauffassung über Schweden. Diese orientierte sich in ihrer Formsprache stark an der niederländischen und norddeutschen, eher auf die einfacheren und nüchtern-praktischen Bedürfnisse des hansestädtischen Bürgertums als an der aufwändigeren und auf Repräsentation bedachten Barockbaukunst des süddeutschen Adels. Wenn von Revaler Renaissance-Malerei die Rede ist, muss vor allem der Name Michel Sittow genannt werden. Sittow entstammte einer Revaler Maler- und Kunsttischlerfamilie, war 1484 zu Hans Memling nach Brügge gegangen, um seine beim Vater begonnene Malerlehre fortzusetzen, arbeitete Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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1492–1504 am kastilischen Hof und in mehreren spanischen Städten, bevor er 1506 nach Reval zurückkehrte. 1507 wurde er wie sein Vater Mitglied der Kanutigilde. In den Jahren 1514 bis 1517 erhielt er Aufträge in Dänemark, den spanischen Niederlanden und erneut in Spanien. Nachdem er 1517 wieder in seiner Heimatstadt eingetroffen war, gelang ihm ein rascher Aufstieg in der städtischen sozialen Hierarchie. 1523 wurde er Ältermann der Kanutigilde. Noch im gleichen Jahr ging er zur Reformation über. Zwei Jahre später, auf dem Höhepunkt der Revaler Reformation, starb er jedoch an der Pest und wurde in der Nikolaikirche beigesetzt. Sittow gilt als einer der technisch erfahrendsten Künstler Europas im frühen 16. Jahrhundert. Häufig malte er Porträts (darunter auch viele Frauenporträts) und Heiligenbilder. Aber auch Buchminiaturen und Altargemälde gehörten zu seinem Repertoire. Welche Werke in Reval entstanden sind, ist heute in den meisten Fällen nicht mehr nachzuvollziehen. Der von den Schwarzenhäuptern bei dem Brügger Maler Adriaen Isenbrant in Auftrag gegebene, zwischen 1510 und 1515 entstandene sog. Antoniusaltar, der sich heute im Museum der Nikolaikirche befindet, wurde von Sittow ergänzt. In der frühen Revaler Barockmalerei sind der aus Lübeck stammende Hans Hembsen (auch: Embsing) und sein Sohn, Albrecht Hembsen als Epitaphmaler im Dom und in der Heiliggeistkirche bekannt geworden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdienen der ebenfalls aus Lübeck stammende und in Riga gestorbene Johann Aken, der zuvor in Schweden und Straßburg tätige Jacob Henrik Elbfasi, der Lübecker David Graff, Matthias Artz aus Breslau, Ernst Wilhelm Londicer und Lüdert Sotjé Erwähnung. Auf Aken gehen mehrere großflächige Gemälde im Revaler Rathaus zurück. Elbfasi, Londicer und Sotjé haben sich besonders als Porträtisten der Revaler Residenten und bürgerlichen Oberschicht hervorgetan. Um die Wende zum 18. Jahrhundert erlangten Johann Cassel aus Hamburg und der in Lübeck geborene Londicer-Schüler Johann Heinrich Wedekind Berühmtheit. Beide waren Porträtisten. Wedekind hatte, bevor er nach Reval kam, am schwedischen Hof, in Göteborg und Narva sowie in St. Petersburg als Hofmaler Peters des Großen gewirkt. Von seiner Hand stammen mehrere bekannte Porträts der schwedischen Königs- und der russischen Zarenfamilie. In der Bildhauerei taten sich die Steinmetzen Dionysius Passeri, Matthias Dus (Daus), Matz Tomason, Heinrich, Hans und Jakob Tam (Dam) sowie Johann Georg Heroldt hervor. In der Holzschnitzerei sind Andreas Michaelson und Franz Hoppenstätt zu nennen, die beide eindrucksvolle Epitaphschnitzereien in der Nikolaikirche hinterlassen haben. Der in Kopenhagen geborene Elert Thiele (auch: Diel) widmete sich der Holzorna142  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

mentik im Revaler Rathaus und in den Revaler Kirchen; ebenso der Kleinornamentiker Joachim Armbrust. Der bedeutendste Holzschnitzmeister war jedoch zweifellos der aus Königsberg stammende, außerzünftig arbeitende Christian Ackermann, der in Reval Altare, Kanzeln, Epitaphe und andere Werke von hoher künstlerischer Qualität hinterließ. Er hat Bedeutung über Reval hinaus für die gesamte nordeuropäische Schnitzkunst erlangt. Fürsorgewesen: Die frühneuzeitliche Revaler Armen- und Krankenfürsorge, die wie das Bildungswesen und die Kultur dem Rat und den Kirchen unterstand, erfuhr in schwedischer Zeit eine Neuerung, als der Rat 1621 beschloss, die Kirchenschulen-Armengüter zusammen zu legen und als einen einzigen Rechnungsposten zu behandeln. Daraus entstand der sog. »Gotteskasten« zur Finanzierung der städtischen mildtätigen Einrichtungen, der Stadtschulen, städtischen Gefängnisse und des Getreidemagazins. Er wurde von Mitgliedern des Rates und der Gilden verwaltet. Beihilfeberechtigt waren gemäß der mittelalterlichen Tradition alle Armen der Stadt, nicht jedoch auswärtige Arme, die sich in der Stadt aufhielten. Ergänzt wurde die Institution des Gotteskastens durch die Gründung der »Revaler städtischen Prediger-Witwen- und Waisenkasse« (1652), die die Angehörigen der Revaler Geistlichkeit an der Nikolai-, Olai-, Heiliggeist- und der schwedischen Michaeliskirche versorgte. Die Domkirche besaß ihr eigenes Fürsorgewesen. Während des Großen Nordischen Krieges wurden neue Regelungen getroffen. Eine Verordnung vom 14. Dezember 1709 spiegelte die Auffassungen der Siechenhauskommission des Rates über die Armenfürsorge – allerdings unter dem Druck der Ereignisse des Großen Nordischen Krieges – auf folgende Weise wieder: In die Hospitäler (Siechenhäuser) waren nur deutsche Arme aufzunehmen. Geldspenden durften nur in Gegenwart der Armen in einer geschlossenen Büchse gesammelt werden, und es sollte »Ordinair eine Tafel« gedeckt werden, d.h. alle Armen sollten zusammen speisen. Die undeutschen Armen hatten zur Armentafel keinen Zutritt und waren auf private Mildtätigkeit angewiesen. Unter russischer Herrschaft ergänzten neue korporative Kassen die finanzielle Absicherung der Armenfürsorge. So wurden z.B. 1757 eine »Kasse für arme und notleidende Genossen der Gold- und Silberarbeiter-Gesellen« und 1768 eine Witwenkasse der Großen Gilde gegründet. Die Krankheiten in den Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit hingen in wesentlichem Maße mit Problemen der Hygiene zusammen. Das Beieinanderleben von Menschen auf engstem Raum bei unzureichenden Kenntnissen über die Folgen mangelnder Sauberkeit und entsprechenden Vorkehrungen und Behandlungsmethoden führte oft zu verheerenden Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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Seuchen, die in Reval für die schwedische Zeit mindestens zehnmal (1561, 1566, 1570, 1580, 1591, 1603, 1623, 1657, 1697, 1710) nachweisbar sind. Soweit man dies heute rekonstruieren kann, waren Typhus und Pest die häufigsten Krankheiten. Auch die seit 1498 belegte Syphilis kam öfter vor. Andere Epidemien sind im Einzelnen nicht mehr zu identifizieren, sondern tauchen in den Quellen unspezifiziert einfach als »Fieber«, »Schweiß« oder »Pestilenz« auf. Seuchen wurden üblicherweise in den Revaler Hospitälern behandelt. Gleichzeitig dienten die Hospitäler aber auch zur Speisung, Aufnahme und Bekleidung der Armen, Beherbergung der Fremden, Pflege der Alten und Bestattung der Toten. Den schon im Mittelalter gegründeten Hospitälern, dem Johannis-Siechenhaus (um 1237), Heiliggeist-Siechenhaus (vor 1363) und dem Patron der Kranken- und Siechenhäuser, St. Rochus, geweihten Hospital in der Schmiedestraße (Harju tänav), waren allerdings während der frühen Neuzeit unterschiedliche Schicksale beschieden. Das Johannishospital wurde 1570, während des Livländischen Krieges, aus militärischen Gründen niedergebrannt und erst 1648 wieder aufgebaut. Das Heiliggeisthospital scheint in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschlossen worden zu sein. Über das Rochushospital existieren keine Nachrichten. Nach der Reformation sind andererseits auch neue Einrichtungen zu verzeichnen. Nach 1524 muss nach Auskunft der Quellen ein Hospital im ehemaligen Dominkanerkloster bestanden haben, in dem u.a. Geschlechtskrankheiten behandelt wurden. Es brannte allerdings 1532 aus. 1526 gründete der Rat die sog. »Neue Siechen« in der Nähe der Schmiedepforte (Harju värav). 1655 entstand das Domhospital mit Versorgungsländereien in Järveküll am Oberen See (Ülemiste), das Königin Christina dem Hospital »zu ewigem Besitz« geschenkt hatte. Der Große Nordische Krieg schuf weiteren Bedarf an Krankenkäusern. So diente das Domhospital ab 1705 als Militärhospital. Bereits 1704 war ein Hospital für die Untermeister des Schuhmacher-Amtes gegründet worden. 1710 entstand ein Militärhospital in der Kirchenstraße (seit 1959: Adamsoni). Die medizinische Versorgung durch Ärzte setzte die mittelalterliche Tradition weitgehend fort. Offenbar gab es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts immer nur einen einzigen Stadtphysicus. Einzelne Namen dieser Ärzte, wie Matthäus Friesner (1558) oder Gebhard Himselius, sind bekannt, über ihre Tätigkeit erfährt man jedoch aus den Quellen nur wenig. Über Himselius weiß man immerhin, dass er aus Magdeburg stammte, in Tangermünde Medizin studiert hatte und dort Conrector der Hochschule und Doctor der Medicin gewesen war. Er wurde 1632 als Mathematiklehrer nach Reval be144  Reval in der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert)

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rufen, wirkte 1633 in Abo, kehrte aber 1634 wieder nach Reval zurück und wurde nun zum Stadtphysicus und Director der Stadtbefestigungen ernannt. Er hinterließ eine »Kometologie« und »Calendaria«, außerdem ein Werk über Fortificationswesen (»Militärische Architectur”, gedr. Reval 1647). Erst in der Zeit des Großen Nordischen Krieges wurde die Zahl der Ärzte aufgrund der vielen Kriegsopfer erhöht. Eine Notiz aus dem Jahre 1710 erwähnt die drei »Doctoren« Enzelius, Mylius und Happel. Der Domberg besaß eigene Ärzte, die 1646 erstmals in den Quellen Erwähnung finden. Für das Jahr 1684 erscheint ein Arzt namens P. Juchius auf dem Domberg. Ende des 17. Jahrhunderts erhielt die schwedische Garnison einen eigenen Militärarzt, der auch in der Zeit des Großen Nordischen Krieges arbeitete. Was die Ärzte nicht behandeln wollten oder konnten, übernahmen andere Berufsgruppen des Medizininalgewerbes. Von diesen waren die seit 1424 belegten städtischen Wundärzte (Chirurgen) die wichtigste (für das Jahr 1616 erwähnt z.B. der niederländische Gesandte Anthonis Goeteeris in seinem »Journal van de legatie ghedaen in de Jaren 1615 ende 1616« einen Revaler Stadtchirurgus). Auch die ebenfalls aus mittelalterlicher Zeit bekannten Aderlasser, Barbiere und Bader waren während der frühen Neuzeit weiter tätig. Manche von ihnen übten auch Doppelberufe aus, so dass einige Revaler Lehrer und Apotheker gleichzeitig als Ärzte beschäftigt waren. Hinzu kamen zahlreiche, von den professionellen Medizinern bekämpfte Wander- und Wunderärzte (»Quacksalber«). Die Apotheken erlebten in der frühen Neuzeit einen gewissen Aufschwung. Die Ratsapotheke wurde 1582 an den ungarischen Adligen Johann Burchart Belavary de Sikava verpachtet. 1689 verkaufte die Familie Burchart die Apotheke an den Rat, was darauf hindeutet, dass sie zwischenzeitlich in den Besitz der Burcharts übergegangen sein muss. Doch blieben die Burcharts weiterhin (bis 1911) als Apotheker tätig. Sie waren eine der einflussreichsten Familien der Stadt. Manche ihrer Mitglieder betätigten sich auch als Ärzte. In ihrer Apotheke wurden während der frühen Neuzeit nicht nur Arzneien, sondern Süßigkeiten, Marzipan, Gebäck, Papier, Wachs, Gewürze, Spielkarten und Tabak verkauft. Die Familie Burchart sicherte sich zudem das Privileg, jährlich 400 Liter Cognac aus Frankreich zollfrei einführen zu dürfen. Neben der Ratsapotheke entstanden in der frühen Neuzeit weitere Apotheken. Zwischen 1656 und 1695 bestand die von dem aus Mecklenburg stammenden Apotheker Johannes Frank (Franck(e)) gegründete sog. »Kleine Apotheke«. 1683 öffnete die mit königlichen Privilegien ausgestatKirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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tete »Königliche« oder (zweite) »Kleine Apotheke« ihre Tore. 1723 kam die Apotheke des russischen Marine-Hospitals hinzu. Hygiene im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval Eine spezielle Hygienegeschichte der Stadt Reval in Mittelalter und früher Neuzeit ist noch nicht geschrieben worden. Und es dürfte angesichts der schwierigen Quellenlage auch nicht einfach sein, eine solche zu konzipieren. Da Reval jedoch Teil der mittel- und westeuropäischen Kultur war, lässt sich vermuten, dass die dort üblichen Muster wenigstens teilweise auch auf Reval zutrafen. Baden und Waschen war in Reval wie auch in anderen Hansestädten bis in die frühe Neuzeit hinein durchaus üblich. Zwei »Badestuben« befanden sich bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts außerhalb der Stadtmauern, eine neben dem Zisterzienserinnenkloster am Nonnentor, die andere unterhalb des nördlichen Dombergs, am sog. »Glint«. Auch in den Vorstädten gab es mehrere Badestuben. Hier konnte man nicht nur Dampfbäder nehmen, sondern sich vom Bader auch die Haare und den Bart schneiden, sich klistieren oder schröpfen lassen. Für einen Aufschlag kümmerten sich besondere Damen liebevoll um speziellere Körperteile – offenbar so intensiv, dass die Badehäuser im 15. Jahrhundert wegen der grassierenden Syphilis zeitweise geschlossen werden mussten. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wandelte sich jedoch die Vorstellung von Hygiene und Sauberkeit. Wasser galt nun als schädlich, weil, wie der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek (*1632, †1723) 1675 beobachtet hatte, sich im Wasser schädliche Substanzen oder »Mikroben« befanden, die – so glaubte man – durch die Haut in den Körper gelangten. Man rieb sich das Gesicht und z.T. den Körper mit sauberen, parfümierten Tüchern ab, wechselte häufiger die Wäsche und puderte sich die Haare mit parfümierten Pulvern. Hatte man im Mittelalter das Hemd einmal pro Monat gewechselt, so wechselte man es im späten 17. Jh. zweimal pro Woche. Weiße Wäsche und Wohlgeruch, ordentliche und der Mode entsprechende Kleidung wurden mit Sauberkeit und Gesundheit gleichgesetzt. Übler Geruch galt als unsauber und schädlich. Das »gemeine Volk«, das sich nicht genug Wäsche leisten konnte, um sie mehrmals täglich zu wechseln, dürfte tatsächlich recht streng gerochen haben. Man sollte aber nicht unterschätzen, dass selbst trockene Abreibungen, »Katzenwäsche« und frische Kleidung ein gewisses Maß an Sauberkeit gewährleisteten. Ab ca. 1720/30 wandelte sich der Sauberkeitsbegriff erneut. Wasser galt nun nicht mehr als schädlich. Vollbäder wurden zur Entspannung, Schönheitspflege und zu medizinischen Zwecken genommen. Dies galt zunächst vor allem für den Adel und das wohlhabende Bürgertum. Bidets, kupferne oder marmorne Badewannen, Nachtstühle und Wasserklosetts gehörten mehr und mehr zum normalen Inventar des Adels. Gleichzeitig erhielten immer mehr Häuser reicher Bürger und Adliger direkte Wasserzuleitungen, die privates Baden ermöglichten. Ein Vollbad war in damaliger Zeit allerdings mit einem gewaltigen Aufwand ver-

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bunden. Gewaltige Mengen Wasser mussten in Kübeln vom nächsten Brunnen herangeschleppt und dann in großen Töpfen auf dem Herd erhitzt werden. Das heiße Wasser musste rasch in eine Wanne geschüttet werden, bevor es auskühlte. Die Wanne wurde vom Kupferschmied aus einem sehr großen Stück Blech getrieben, war entsprechend teuer und nahm mehr Platz ein als in einem kleinbürgerlichen (Handwerker-)Haushalt zur Verfügung stand – weil das Haus mit der eigenen Familie, den zeitweise beschäftigten Gesellen und evtl. der einen oder anderen Kuh voll belegt war. Wer sich ein Vollbad nicht leisten konnte, wusch sich wahrscheinlich mit Hilfe eines Waschlappens und solcher Gefäße, die gleichzeitig zum Wäschewaschen und Geschirrspülen dienten. Große Keramik-, Zinn- oder Kupferschüsseln tauchen in den Nachlassinventaren Revals immer wieder auf – wenn auch nicht als »Waschschüsseln«. Eine Einrichtung von zeitloser Gestalt blieben die »stillen Orte«. In den Adelshäusern gab es sog. Kack- oder Nachtstühle, aber auch Erker, in denen man sich auf ein Brett mit Loch setzte. Die Fäkalien fielen dann vermutlich auf eine Art Misthaufen, der auch die Abfälle und Abwässer der Küche aufnahm. In Reval gibt es mehrere Beispiele für solche Erker. Das bekannteste dürfte der Erker sein, der im heutigen »Kiek in den Kök«-Museum zu bewundern ist. Die Bürger und das einfache Volk mussten sich mit bescheideneren Varianten solcher Nachtstühle begnügen oder sich umstandslos direkt mit dem Misthaufen anfreunden. Weiterführende Literatur: Vigarello, Georges: Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt/M. 1992.

Kirche, Bildung, Kultur und Wohlfahrt 

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III.  REVAL VOM SPÄTEN 18. BIS ZUM FRÜHEN   20. JAHRHUNDERT 1. Ein Zwischenspiel: die Statthalterschaftszeit   unter Katharina II. Der erste massive Eingriff der russischen Macht in das ständische Gefüge Revals erfolgte in den 1780er Jahren unter Katharina II. (1762–1796, *1729, †1796). Zwar waren auch die vorangegangenen Jahrhunderte nicht ohne Folgen für die traditionell oligarchisch-autonome Herrschaftsstruktur Revals geblieben, denn schon unter den Schweden hatte die Stadt im Ernstfall dem Staat letztlich wenig entgegenzusetzen gehabt. Die Einführung der russischen Städteordnung in diese althergebrachten Strukturen jedoch galt der späteren deutschbaltischen Historiographie stets als Sündenfall St. Petersburgs, als Vorbote kommenden Unheils – die sog. »Russifizierungsperiode« am Ende des 19. Jahrhunderts. Man wird den russischen Herrschern jedoch nicht absprechen können, im Interesse einer effizienteren einheitlichen Verwaltung des Reiches gehandelt zu haben, wobei nicht zuletzt die Praxis der anderen europäischen multiethnischen Großreiche partiell Vorbildfunktion hatte. So brachten die 1780er Jahre nicht nur der russischen Ostseeküste Umwälzungen. Der europäische Kontext verweist sowohl auf die Reformen Josephs II. in der Habsburgermonarchie als auch auf die Französische Revolution. Katharina II. führte nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung des Pugačev-Aufstands 1773/74, der gezeigt hatte, wie verletzlich das Reich an der Peripherie war, eine Reform der russischen Provinzialverwaltung durch. Dies mündete in die Gouvernementsreform von 1775, an der mit dem aus Wesenberg stammenden Novgoroder Gouverneur Jakob Johann von Sievers und dem estländischen Landrat Gustav Reinhold von Ulrich auch zwei Estländer mitgearbeitet hatten. Mit der reichsweiten Städteordnung von 1785 sollte schließlich die Präsenz des Staates in der Lokalverwaltung erhöht und zugleich die Eigeninitiative der Bürgergesellschaften gefördert werden. Hiervon blieben die baltischen Ostseestädte nicht ausgenommen. Reval vor den Reformen Noch zu Beginn der 1780er Jahre war in Reval alles beim Alten. Die Stadt bestand aus mehreren Welten, der nicht nur administrativ, sondern auch 148  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

mental strikt voneinander getrennten Ober- und Unterstadt, sowie einer rechtlich geschiedenen Einwohnerschaft, die nach den Angaben der Steuerrevision von 1782 10.653 Personen beiderlei Geschlechts umfasste, von denen 6.740 innerhalb der Stadtmauern lebten. Unter den männlichen Einwohnern zählten 774 Personen zur Oberschicht der Ratsfamilien, die eine kleine, auch verwandtschaftlich eng untereinander verbundene Elite bildeten. Hinzu kamen die staatlichen und städtischen Beamten, die Kaufleute, deren Zahl aufgrund des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt ständig sank, sowie die Literaten (Pastoren, Lehrer und Juristen). 693 Personen zählten zur sozialen Gruppe der zünftigen Handwerker, wobei diese Erhebung die Söhne und Hausgenossen in beiden Kategorien hinzuzählte. Auf dem Domberg lebten 26 Kaufleute und 320 Bürger, wobei die Anzahl der hier Grund besitzenden Adligen nicht erfasst wurde. Diese das politische und wirtschaftliche Leben der Stadt dominierenden Gruppen waren – bis auf 78 russische Kaufleute – fast ausschließlich deutscher Herkunft. Abgesehen von 2.088 russischen Bauern, die Peter I. in Katharinental (Kadriorg) angesiedelt hatte, waren die übrigen registrierten Einwohner zu ungefähr zwei Dritteln Esten und zu einem Drittel Schweden. Außerhalb dieser Erhebung blieben vor allem die Soldaten und Matrosen der Garnison sowie die zahlreichen russischen Wanderarbeiter, die z.B. als Gärtner (»Grünkerls«) saisonal tätig waren. Sie alle gehörten zum Erscheinungsbild der Stadt, ohne dass sie je die Möglichkeit hatten, den rechtlichen Status des Bürgers zu erhalten. Aufgrund der Katharinentalschen Bauern – sie unterstanden jedoch der staatlichen Domänenverwaltung in St. Petersburg – stellten damals unter den erfassten männlichen Einwohnern die Russen die stärkste ethnische Gruppe in Reval (38%), gefolgt von den Deutschen (30,5%), Esten (22%) und Schweden (9,5%). Insgesamt bildete die Stadt mehrere auch äußerlich voneinander geschiedene konzentrische Kreise. In der Altstadt standen die Steinhäuser der Kaufleute und zünftigen Handwerker sowie die Militäranlagen der Festungsstadt. Hierauf folgten die rechtlich zum Teil zur Stadt, zum Teil zum Dom gehörenden Vorstädte mit ihren eher bescheidenen Häusern, die schon aus militärischen Gründen aus Holz sein mussten, um im Kriegsfall rasch freies Schussfeld schaffen zu können. Dort wohnten neben den estnischen und schwedischen Gewer­betrei­benden sowie den russischen Kaufleuten auch die sesshaft gewordenen Soldaten der Garnison, von denen vor allem die Offiziere über Hausbesitz verfügen konnten. Schließlich gehörte noch die Stadtmark zum Revalschen Territorium, darunter das Stadtgut Habers, die Landhäuser (»Höfchen«) der Bürger und Katharinental. Die Statthalterschaftszeit unter Katharina II. 

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An der Oberfläche präsentierte sich Reval als traditionsreiche Handelsstadt deutscher Prägung, doch gärte es zwischen den einzelnen Gliedern des sozialpolitischen Gefüges, nicht zuletzt aufgrund der Konkurrenzsituation im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs. Immerhin hatte der Staat 1770 die Getreideausfuhr freigegeben, sodass Reval einstweilen von Ausfuhrverboten verschont blieb. Die Freude darüber hielt der Professor an der Domschule Franz Ulrich Albaum in einem anonymen Plädoyer für freien Getreidehandel fest: »Kaum öffnete sich das Meer, als täglich auf unserer Rhede fremde Schiffe ankamen, die hier Getraide einladeten. Innerhalb einiger Tage des Mai waren über fünfzig Schiffe angekommen – und so eine Menge war etwas so seltenes, daß niemand sich eines ähnlichen Vorfalles erinnern konnte«. Insgesamt aber wurde Revals Export trotzdem in den meisten Jahren nicht nur von St. Petersburg und Riga, sondern sogar von Narva und Pernau übertroffen, da das eigene Kapital zur Marktdominanz nicht ausreichte. Vergeblich schlugen die Firmen Duborgh, Clayhills, Oom und Frese dem Rat 1773 vor, Beteiligungen von ausländischem Kapital am Getreidehandel zu gestatten. Als Importhafen hingegen stand Reval nach der Hauptstadt und Riga noch auf dem dritten Platz. Die anlandenden Schiffe mussten jedoch oft ohne Ladung weiterreisen, da Reval über kein ausreichendes Angebot an Exportwaren verfügte. Die Transportverbindungen ins agrarische Hinterland waren einfach zu schlecht, da die Stadt nicht wie Riga an einem schiffbaren Fluss lag. Hieraus erklärt sich die Hartnäckigkeit, mit der in Kaufmannskreisen Revals bis in das 19. Jahrhundert hinein von einem Kanal geträumt wurde, der den Peipussee mit der Revaler Bucht verbinden sollte. So blieb Reval Handelshafen für das unmittelbare Hinterland und – aufgrund seines länger eisfreien Hafens – für den Transit nach St. Petersburg. Es kam immer wieder zu Klagen der Bauerhändler-Kom­panie gegen die Großhändler, die den Statuten zufolge auf die Vermittlungsdienste der ersteren angewiesen waren, allerdings der Verlockung nicht entsagen konnten, direkt bei den Gutsbesitzern einzukaufen. Sehr zum Unmut der Bauerhändler tat der Magistrat nichts zu ihrer Unterstützung. 1777 organisierte die Kompanie gar eine schlagkräftige Truppe, setzte sie unter Alkohol und nahm eine Reihe von eigenmächtigen Beschlagnahmungen und Durchsuchungen vor, bis der Rat diese »gröblichsten Exzesse« dann doch abstellte. Somit schien die Führung der Stadt mit dem Einhalten der Regeln gerade dann überfordert zu sein, wenn der wirtschaftliche Erfolg der sie tragenden sozialen Gruppe der Großhändler gefährdet schien. Auch die Gilden waren wenig davon angetan, wie der Magistrat offensichtliche Fälle von Korruption und Unterschlagung in seinen einander verwandtschaftlich eng verbunde150  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

nen Reihen schleifen ließ. In diesen internen Konfliktherd platzte 1783 die Bombe der von oben verordneten revolutionären Umgestaltung der Stadtverwaltung. Die Reformen Katharinas II. Zunächst war 1782 das gesamte Zollwesen der Stadt, mithin eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen, staatlicher Verwaltung unterstellt worden. Da nun die Zollgrenze zum übrigen Russland aufgehoben wurde, galt auch in den Ostseeprovinzen ein Schutzzollsystem, welches vor allem die russische Produktion gegenüber dem Import konkurrenzfähig machen sollte. Zwar wurde das Staatsmonopol auf Branntwein- und Salzhandel nicht an die Ostseeküste ausgedehnt, doch machte den Revaler Händlern die nun legalisierte billigere russische Konkurrenz zu schaffen. Immerhin erhielt Reval eine fixierte jährliche Zahlung aus den Zolleinnahmen, wofür die Stadt jedoch ihre Finanzen offen legen musste. Für manch einen lag genau hierin die staatliche Anmaßung. 1783 wurde als weitere Reform die Kopfsteuer eingeführt. Zuvor hatte die Stadt in Form der Quartierstellung nur indirekt Abgaben entrichten müssen, war aber dafür stets entschädigt worden. Nun wurden individuelle Steuerklassen eingeführt, die kaum mit der hergebrachten Differenzierung der Revaler Bürger in Einklang zu bringen waren. Die drei Steuergilden der Kaufleute hatten eine jährliche Vermögenssteuer von 1% zu zahlen; während die nicht vermögenssteuerpflichtigen männlichen Seelen eine Kopfsteuer bezahlen mussten, waren Adlige, Kronsbedienstete, Literaten und Ausländer nicht steuerpflichtig. Während Steuer und weitere Abgaben die Vermögenden kaum belasteten, summierten sie sich für die unteren Schichten erheblich. Das eigentlich Revolutionäre an der neuen fiskalischen Ordnung war jedoch, dass von nun an jeder dem zuvor exklusiven Kaufmannstand angehören konnte – er musste nur erklären, sich der Vermögenssteuer unterziehen zu wollen. Man kann sich das Entsetzen des Magistrats gut vorstellen, als sich Ende 1785 zwei Katharinentaler Bauern als Kaufleute einschreiben wollten. Die alte Ordnung wankte somit schon aufgrund der neuen Steuerregelung. Ende 1783 trat die Statthalterschaftsverfassung in den Ostseeprovinzen in Kraft. Bereits seit 1775 unterstand das Gouvernement Estland dem in Riga residierenden Generalgouverneur George Browne (1762–1792, *1698, †1792). Während aber seither in Reval ein Vizegouverneur saß, wurde diesem nun ein Statthalter bzw. Gouverneur vorgeschaltet. An der UnterDie Statthalterschaftszeit unter Katharina II. 

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stellung unter den Generalgouverneur in Riga änderte sich nichts. Die neu geschaffenen Institutionen des Kameralhofs und des Kollegiums der Allgemeinen Fürsorge waren für finanzielle und sozialpolitische Angelegenheiten zuständig; der alte, zuvor als Kriminalgericht unanfechtbare Magistrat fand sich auf die Funktion als erste gerichtliche Instanz degradiert, ihm blieben Bagatellfälle. Für die studierten Juristen im Revaler Rat war dies ein harter Schlag. Als zweite und dritte Instanz galten der Gouvernementsmagistrat und der Gerichtshof. Letztinstanzlich entschied der Senat bzw. der Kaiser in St. Petersburg. Im November 1783 kam es zur feierlichen Wahl der neuen Positionen in den Statthalterschaftsinstitutionen, wobei erstmals auch Bürger wahlberechtigt waren, die keiner Gilde angehörten. Im Dezember ernannte die Regierung Vertreter der städtischen Elite zum Zollamtsdirektor und Kreisanwalt. Russische Namen tauchten nur unter den aufsichtsführenden Staatsanwälten (Prokureuren) und den Beamten des Kameralhofs auf, womit die Regierung freilich ihre primären Interessen deutlich machte. Im Beisein des orthodoxen Erzbischofs von St. Petersburg, Novgorod und Reval, Gabriel, wurde die Statthalterschaft am 10. Dezember 1783 feierlich eröffnet. Rat und Bürgerschaft nahmen an einem Hochamt in der russischen Kathedrale teil, worauf »die Canonen von den Wällen mit 101 Schuß gelöset wurden und Hochdieselben sich mit dem Herrn Archimandriten Nicolay und dem Protodiacono Theophan sich nach der Kaiserl. Regierung auf dem Schloß erhoben, selbige durch Bespritzung mit dem heiligen Weihwasser in eigener Person im Namen Ihro Kaiserl. Mayt. einweiheten«. Eine neue Zeitrechnung in der Revaler Geschichte hatte begonnen. In vielerlei Hinsicht war die neue Ordnung pragmatisch. Vor allem Kameralhof, Zollamt und der Magistrat gingen nach einigem Kompetenzgerangel erfinderisch mit den neuen Möglichkeiten um. Der neue Zollrat handhabte nach anfänglich forschem Auftreten in Bezug auf die nun erforderliche Prüfung der städtischen Finanzen letztere zunehmend lax, nachdem ihm der Rat einen Teil des Stadtguts Habers zur Pacht überlassen hatte. In Bezug auf die Sozialarbeit hatte Browne in seinem Bestreben, neue und alte Institutionen miteinander zu harmonisieren, beschieden, dass alle bisherigen Stiftungen und Fürsorgeeinrichtungen selbständig weiterarbeiten sollten, da weder Stadt noch Ritterschaft daran interessiert waren, dem Kollegium der allgemeinen Fürsorge Rechenschaft abzulegen. Letzteres verfügte nicht nur über ein von der Krone gestelltes Stammkapital von 15.000 Rbl., sondern auch über einen Sonderfonds von 7.000 Rbl., in den Katharina II. eine Revaler Schenkung aus Anlass der Hochzeit des Thronfolgers Paul überführt 152  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

hatte. Mit diesem Grundvermögen betrieb das Kollegium Armenpflege und war vor allem bestrebt, die Gesundheitsfürsorge zu verbessern. Gesundheitspflege. Das alte städtische Hospital an der Dörptschen Straße diente hauptsächlich als Armenspital und betrieb seit 1785 eine in der Hafenstadt dringend notwendige »Salivationsanstalt« für venerische Krankheiten. Im städtischen Siechenhaus sollen noch 1787 unleidliche Zustände geherrscht haben, wie wir einem Schreiben des Stadtphysikus Bluhm entnehmen. In einem engen Raum lägen »wohl 30 Kranke« zusammen, »durch einander Skorbutische, Lungensüchtige, Wassersüchtige, Krätzige, Venerische … kurzum der Inbegriff aller Krankheiten«. Das Kollegium aber eröffnete unter Leitung von Georg Ludwig Knobloch 1785 zunächst an der Karripforte (Karja värav), im Jahr darauf weiter außerhalb auf dem Gelände des Anfang der 1770er Jahre errichteten Marinehospitals in Joachimstal ( Juhkental) das erste moderne Krankenhaus der Stadt. Es wurde später für 30 Patienten ausgebaut und erhielt getrennte Abteilungen für Geistes- und venerische Krankheiten. Die Patienten wurden hier von medizinischem Personal betreut und bei Bedürftigkeit auch umsonst behandelt, sodass das Haus als »Freispital« (estn. priihospidal) bekannt wurde; auch die Einrichtung einer eigenen Apotheke 1802 diente in erster Linie der Versorgung derjenigen, die sich die Preise der Privatapotheken nicht leisten konnten. Syphilis in Reval Ein besonders Problem der Hafen- und Garnisonsstadt war die Häufigkeit venerischer Erkrankungen. Hierzu schrieb der Revaler Arzt August Spindler rückblickend: »Schließlich sah sich die russische Militärverwaltung im Interesse ihrer Soldaten veranlaßt, Schritte zu ergreifen, zur Einschränkung der Ansteckungsgefahr mit Syphilis durch die Zivilbevölkerung: Im Jahre 1748 macht der PlatzMajor Schwobedskoy drauf aufmerksam, daß ›unter dem gemeinen Volk sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts viele lue venerea laborierten, dabei frei auf der Gasse herumgingen, auf welche Weise aber Garnisonsleute angesteckt werden können durch den täglichen Umgang mit solchen infizierten Leuten. Deshalb ergeht an den Magistrat die generalgouvernementliche Verordnung, die Sache zu untersuchen und verdächtige Personen im Hospital unterzubringen wie auch ferner unter genauer ärztlicher Aufsicht zu halten, damit den hieraus erwachsenden Übeln zeitig vorgebeugt werde‹. Die anempfohlenen Maßnahmen scheinen aber ungenügend gewesen zu sein, denn bis zum Jahre 1751 hatten sich die Erkrankungen derart gemehrt, daß der Platz im Garnisonslazaret nicht mehr ausreichte, und der Gouverneur, Fürst Dolgorukoff, verlangte, daß der Magistrat der Stadt ein besonderes Haus zur Unterbringung der infizierten Soldaten anweise und zwar bald ›weil solche Krankheiten einen baldigen coux requirieren‹.

Die Statthalterschaftszeit unter Katharina II. 

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Ein solches Haus mag damals angewiesen worden sein; genügende Räume zur Behandlung syphilitischer Frauen wollte die Stadt aber durchaus nicht zur Verfügung stellen, versuchte es vielmehr, diese Pflicht der Hafenverwaltung zuzuschieben, welches Ansinnen vom Admiralitätskollegium in einem Schreiben vom Jahre 1794 zurückgewiesen wird: es habe keinen Ort noch Fond zur Kur der von der Lustseuchen angesteckten Weiber, die Sorge dafür liege der Stadt ob. Deshalb wird der Rat gebeten, ›dafür Sorge zu tragen, daß in Zukunft soviel immer möglich, durch die Aufsicht der Polizei über den Lebenswandel herrenloser weiblicher Dienstboten … durch Visitationen und andere Polizei-Maßnahmen die Ansteckung verhütet … und dieses den Truppen Sr. Kaiserlichen Majestät so nachteilige Übel allhier ausgerottet werden könne‹. So kommt es im Interesse des in Reval garnisonierenden Militärs schließlich im Jahre 1797 zur Einführung der Kontrolle der Prostitution. Die Estländische Medizinalverwaltung ersucht den Rat der Stadt ›um Ergreifung aller Polizey-Maßregeln zur Ausfindigmachung aller der Ansteckung verdächtigen Weibspersonen, wie auch die Verwaltung zu benachrichtigen, damit diese Weibspersonen alsdann besichtigt werden können, wozu der Revalsche Kreisarzt, Hofrat Körber ernannt worden ist‹. Die krank befundenen Frauenzimmer werden im Hospital des ›Kollegiums der Allgemeinen Fürsorge‹ untergebracht, in welchem zu diesem Zweck eine Abteilung eingerichtet wird. Diese mit ihren 17 Betten für weibliche Kranke genügte bald nicht mehr; deshalb wird im Jahre 1854 befohlen, syphilitische Frauenzimmer, die dort keinen Platz mehr finden, im Kriegshospital unentgeltlich aufzunehmen. Später geriet diese letztere Maßregel in Vergessenheit und Syphilitiker fanden einzig und allein im Hospital des ›Kollegiums der Allgemeinen Fürsorge‹ Aufnahme – soweit dort Platz war, d. h. Männer bis zu 20, Frauen bis 17«. Quelle: Spindler, August: Geschichte der Syphilis in Reval, in: Archiv für Dermatologie und Syphilis 128 (1921), S. 79–99, hier S. 93f.

Veränderungen des politischen Gefüges. Mit der russischen Stadtordnung vom April 1785 wurde das Bürgerrecht auf die nicht-deutschen wirtschaftlich selbständigen Einwohner ausgeweitet. Der Stadtbürger war in erster Linie Staatsbürger, dessen Eid auf die Kaiserin nun an die Stelle des Bürgereids der Stadt trat. Um die erstrebte weitgehende Gewerbefreiheit zu fördern, wollte der Gesetzgeber alle traditionellen ständischen Schranken einreißen und den sozialen Status der Selbstbestimmung des Individuums überlassen. Bei der Einschreibung von Kaufleuten in die drei Steuergilden blieb der reale Besitz der Person ausdrücklich ungeprüft. Die Wahl der meisten städtischen Ämter Revals, bei der allein die Kaufleute der I. und II. Steuergilde, also die Fernund Großkaufleute, aktives und passives Wahlrecht hatten, verlief in sechs Wahlkurien, deren Kategorien nicht trennungsscharf waren. Der Spezialist für die Statthalterschaftszeit in Reval Otto-Heinrich Elias schrieb: »Im All154  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

gemeinen Stadtrat saßen demnach die Vertreter völlig unvergleichbarer, sich überschneidender Gruppen in disproportionaler Anzahl; sie entschieden nicht mehrheitlich, sondern nach Kurialstimmen«. Das Alltagsgeschäft erledigte jedoch der sog. Sechsstimmige Stadtrat, der aus je einem Vertreter jeder Wahlkurie zusammengesetzt war, wobei das Stadthaupt als Primus inter pares mit der entscheidenden Stimme bei Stimmengleichheit fungierte. Das Polizeiwesen war direkt staatlicher Aufsicht unterstellt. Als potentieller Gegenspieler des Stadthaupts wurde der Stadtvogt (bzw. Stadthauptmann) installiert, der verantwortlich war für die Stadtwache, die Gesundheitspolizei, das Feuerschutzwesen, den Straßenbau, das Quartiers- und Maklerwesen, die Vorratshaltung, Maße und Gewichte sowie für die Verwaltung der Kronsgebäude. Der erste Stadtvogt war aber mit Major a. D. Georg Gustav von Essen ein Vertreter der alten Elite. So blieben nennenswerte Konflikte offenbar aus. Immerhin wurde die Polizeibehörde von der Stadt unterhalten und der Wachdienst weiterhin von städtischen Soldaten gestellt. Unter Essen erhielt Reval sogar erstmals eine Straßenbeleuchtung aus Hanföllaternen, die aber nur ein eher schummriges Licht verbreiteten. Im April 1786 wählten die Kaufleute der I. und II. Steuergilde ein neues Stadthaupt. Die Wahl fiel auf den Tuchhändler Wilhelm Hetling, der einer alten Ratsfamilie angehörte, sich aber auf seinem neuen Posten vor allem dank seines diplomatischen Geschicks bewährte. Noch war der alte Magistrat um den Wortführenden Bürgermeister Joachim Dehn nicht gewillt zurückzutreten, obgleich der ihn deckende Generalgouverneur Browne für seine Versuche, die alten Strukturen zu bewahren, aus Petersburg zurechtgewiesen worden war. Als Browne im Juni 1786 Reval besuchte, kam es beinahe zum Eklat um die Frage, wer von den beiden Männern im Festzug voranschreiten sollte. Erst der estländische Zivilgouverneur Georg Friedrich von Grotenhielm (1783–1786, *1721, †1798) fand die salomonische Lösung: Hetling und Dehn sollten gemeinsam eine Kutsche benutzen. Allerdings soll Dehn diesen Kompromiss erst akzeptiert haben, nachdem Hetling ihm angedroht hatte, er werde ihm die auf dem Markt angetretenen Bürger-Kompanien auf den Hals hetzen. Letztlich waren es aber nur die alten Magistratsmitglieder, die an ihrer Würde hingen. Die Atmosphäre in der Stadt hatte sich gewandelt. Als der Rat dem Narvaer Großhändler Christoph Witte das Bürgerrecht mit dem traditionellen Argument versagte, er sei unverheiratet, ließ Witte diese Entscheidung vom Gerichtshof kassieren. Die Zeit arbeitete gegen die alten Strukturen. Nachdem im Oktober 1786 beide Gilden für aufgelöst erklärt wurden, und nach langem Rechtsstreit die Stadtgemeinde 1788 als Rechtsnachfolgerin bestimmt wurde, schlug auch die finale Stunde Die Statthalterschaftszeit unter Katharina II. 

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des alten Magistrats, dessen letzte Sitzung am 7. Januar 1787 stattfand. Am Tag darauf erhielt Hetling schließlich dessen Schlüssel, Registraturen und Archive. Unter Hetlings Regie scheint es eine Annäherung der Stände gegeben zu haben; im Sechsstimmigen Stadtrat gab es 1790 bis 1792 sogar eine Mehrheit für die Handwerker als Ergebnis einer Wahl, die weiterhin durch die Großkaufleute bestimmt wurde. Zugleich machten die nicht-deutschen neuen Stadtbürger keine Anstalten, sich ihrem Rechtsstatus entsprechend in die Stadtverwaltung einzuschalten. Als es 1787 zur Wahl des Repräsentanten der »Beisassen« im Stadtrat kam, erklärten deren Vertreter, »daß sie von diesem allen kein Begriff noch Idee der Sache hätten, damit auch nie zu rechte kommen würden«. Die von Katharina erteilten Partizipationsrechte für die unteren Schichten blieben somit im Falle Revals folgenlos, woran neben der schlechten Schulbildung nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Situation schuld war. Gleichwohl konnten, wie wir aus Testamenten wissen, gerade in dieser Zeit einzelne estnische Fuhrunternehmer zu einem fast schon bürgerlichen Wohlstand aufsteigen. Elias zufolge blieben hinter »der Barriere deutschen Rechts, deutscher Amtssprache und einer traditionellen, durch persönliche Verflechtung erzeugten Exklusivität« die traditionellen Führungsschichten der Stadt unter sich. Ende der Reformen. Die neue Ordnung stand und fiel jedoch mit der Zarin. Als Paul I. (1796–1801, *1754, †1801) seiner Mutter auf den Thron folgte, wurden die Karten neu gemischt. Dem in seiner Ordnungs- und Regelwut »konsequenten Pedanten« (M. Stadelmann) ging es um eine symbolische Distanzierung von seiner Mutter, aber er hatte auch die zerrütteten Staatsfinanzen zu ordnen und sah seine Vorstellungen von einem wohlgeordneten Staat durch Ineffizienz und Nepotismus gefährdet. Für die Reorganisation der alten Stadtverwaltung mag aber auch der Schock der Französischen Revolution ursächlich gewesen sein. Doch stellte Paul nicht einfach den alten Zustand per Federstrich wieder her, sondern unterwarf auch die Ostseeprovinzen der Pflicht, Rekruten zu stellen. Für je 500 Seelen war ein Soldat abzustellen, wobei sich Kaufleute und Handwerker von der Gestellungspflicht freikaufen konnten. Zudem änderte Paul weder die Steuergesetzgebung noch die Zoll- und Handelsordnung, sodass das militärische und fiskalische Interesse des Staates eher noch stärker betont wurde als unter Katharina. Die Wiedereinsetzung des alten ständischen Magistrats und der Gilden brachte zudem der Staatskasse den Vorteil, dass 129 Beamte entlassen werden konnten. Von den zuvor neu installierten Strukturen blieben nur die mit der Verwaltung des Krons­eigentums befassten Behörden, der Gouverne156  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

mentsprokureur und das Kollegium der Allgemeinen Fürsorge. Als Kontrollinstanz der Ratsfinanzen blieb der Kameralhof bestehen. Auch personell gab es keinen Bruch. Hetling, der allerdings bereits 1798 starb, wurde Präsidierender Bürgermeister und der in den letzten Jahren zu Reichtum gekommene Kaufmann Johann Friedrich Jürgens Ratsmitglied. Jürgens’ spektakulärer Aufstieg in diesen Jahren war untypisch für den klassischen Revaler Kaufmann und erfolgte nach Ansicht von Elias hart am Rande zur Wirtschaftskriminalität, doch dürfte sein Speditions- und Kommissionshandelshaus zeitweilig in ganz Russland seines Gleichen gesucht haben – bis zum Konkurs 1802. Einem anonymen Zeitgenossen zufolge gereichte es dem neuen Rat darüber hinaus zum Ruhme, besser für die Straßenreinigung gesorgt zu haben: Zuvor war der »zusammengefegte Koth wochenlang an den Häusern aufgeschüttet« liegen geblieben; wer über den Rathausplatz gehen wollte, watete »bis über die Knöchel in einem Morast«. Bei der Frage der Erteilung des Bürgerrechts legte der Magistrat zunächst strenge Maßstäbe an und führte dessen Aberkennung als Strafe bei Handelsvergehen ein. Zwar war diese Maßnahme einseitig gegen nicht-deutsche Neubürger gerichtet, doch scheint man nach 1800 die restriktive Vergabe aufgegeben und sich mit der Tatsache abgefunden zu haben, auch Russen aufzunehmen. In anderen Bereichen änderte sich wenig. Das 1785 eingeführte neue Handwerkerstatut hatte den Zunftzwang theoretisch auch in den Ostseeprovinzen aufgehoben, doch hatte nicht einmal die Auflösung der Kanutigilde auf die Beharrungskraft dieser Tradition Einfluss. Auch ein Ukas von Pauls Sohn Alexander I. (1801–1825, *1877, †1825) aus dem Jahre 1803, der Handwerkern ohne Gehilfen die Tätigkeit außerhalb der Zünfte ge­stattete, blieb weitgehend folgenlos. Nicht ausbleiben konnten Konflikte beim Polizeiwesen, das wieder in städtische Hoheit fiel. Der neue Festungskommandeur Generalleutnant Graf de Castro Lazerda, ein Spanier in russischen Diensten, ließ keine Gelegenheit aus, sich beim Rat über verdreckte Straßen, weidendes Vieh in den Festungsanlagen, defekte Feuerspritzen und »luetische Weiber« in den vorstädtischen Krügen zu beschweren. In der Folge verlor die Stadt die Polizeihoheit wieder, die nun einem neu ernannten Militärgouverneur erteilt wurde. Ihm, der direkt dem Generalgouverneur unterstand, wurden in der Folge weitgehende Vollmachten erteilt, zu denen nicht nur die Frage der Einquartierung, sondern auch die Festlegung der Preise zählte. Seit 1805 unterstanden Unterstadt und Dom somit einer gemeinsamen Polizeiverwaltung, sodass es einem Kriminellen von nun an nicht mehr möglich war, durch die Flucht auf den Domberg wertvolle Zeit zu gewinnen: Das alte, umständliche Verfahren, wonach der Unterstadtvogt Die Statthalterschaftszeit unter Katharina II. 

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sich mit dem Schlossvogt ins Einvernehmen zu setzen hatte, gehörte nun der Vergangenheit an. Allerdings entzog sich der nach wie vor durch den Schlossvogt und die Ritterschaft verwaltete Domberg in administrativer Hinsicht weiterhin der Kompetenz des städtischen Magistrats. Die Etablierung eines bürgerlichen Gesellschaftslebens Auch in kultureller Hinsicht hatte sich Reval verändert. Unter maßgeblichem Einfluss August von Kotzebues wurde 1784 ein Liebhabertheater begründet (s. Kasten), an dem sich auch zahlreiche Damen beteiligten. So »manche gute Gattin und stille, sanfte Tochter« sei hier »in eine galante Dame und Theaterprinzessin verwandelt worden«, schrieb der Anonymus. Dieser Umstand stellte nicht nur die herrschenden Moralvorstellungen auf die Probe, sondern führte offenbar auch zu Verwirrungen des Herzens – und zu gescheiterten Ehen. So hinterließ Gouvernementsprokureur Ivan N. Rep’ev, ein ausgesprochener Theaterliebhaber, Schillerübersetzer und – wie viele Mitglieder der Liebhaberbühne – Freimaurer, bei seiner überstürzten Abreise im Sommer 1791 nicht nur beträchtliche Schulden, sondern auch den gehörnten Gouvernementssekretär Wilck, dessen Frau er kurzerhand mit in die Hauptstadt nahm. Die Herren der Schöpfung entdeckten in dieser Zeit die angenehmen Seiten des Gesellschaftslebens, indem sie erste Klubs nach englischem Vorbild gründeten. Seit 1777 wurde im (bereits seit 1700 bestehenden) ältesten Revaler Kaffeehaus »Stadt Hamburg« an der Nikolaikirche donnerstags und samstags »Club gehalten«, während sich im »London« Beamte die Zeit mit Spielen vertrieben. Der Prozess der sozialen Integration der oberen Stände, der sich in den folgenden Jahren vollzog, wurzelte nicht zuletzt in der Statthalterschaftszeit und ihren egalisierenden Tendenzen. Seit 1781 fanden sich die Kaufleute, Beamte und Professoren in der »Bürgerlichen Klubbe« (seit 1797 »Erholung«) ein, die auf 50, später 100 Mitglieder begrenzt und zumindest in den ersten Jahren Adligen und Militärs verschlossen blieb. Offen für letztere war die im Haus der Schwarzenhäupter seit 1782 abgehaltene »Abendgesellschaft«, die zunächst neue Mitglieder ohne große Formalitäten aufnahm, wenn auch Handwerker – wie in der »Klubbe« – keinen Zutritt hatten. In ihrem Haus, so beschrieb es der anonyme Zeitgenosse, hätten sich junge Adlige mit dem »Volk« gemein gemacht und versucht, sich so britisch wie möglich zu geben. 1792 entstand aus der »Abendgesellschaft« der Klub »Einigkeit«, der nun aber seine Mitglieder über Neuaufnahmen 158  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

ballotieren ließ. Schließlich war seit 1783 ein »adlicher Club« auf dem Domberg aktiv, der 1788 in die »Societät auf dem Dom« transformiert wurde und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den »Actienklub«. Man darf davon ausgehen, dass damals der Stand entscheidend war, nicht die Nationalität. So fanden sich vor allem in den bürgerlichen Klubs auch russische Offiziere und Beamte, während Esten höchstens als Bedienung auftraten. Die ausgeschlossenen Handwerker wiederum waren zur Gründung eines eigenen Klubs gezwungen: Seit 1789 hielten sie in der Kanutigilde monatlich »Picnic« und gründeten 1801 den Klub »Harmonie«, der auch für Vertreter anderer Stände offen gehalten wurde. Allerdings blieb nach dem Ende der »Einigkeit« 1820, als zahlreiche Adlige und Militärs sich dem »Actienklub« anschlossen, der nun weiter bestehende »Schwarzenhäupterklub« die ständisch am weitesten geöffnete gesellschaftliche Institution Revals. Ständisch geöffnet, aber doch dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, agierten die Freimaurerlogen, denen viele Mitglieder der »Bürgerlichen Klubbe« angehörten. Beide Kreise engagierten sich auch auf dem Gebiet der Wohlfahrt, wobei die Protokollbücher der Loge »Isis« erkennen lassen, dass vor allem verarmte Vertreter der Mittelschichten wie Pastoren- oder Beamtenwitwen unterstützt wurden. August von Kotzebue und das Theater in Reval 1781 gelangte Kotzebue auf Vermittlung des preußischen Gesandten Graf Görz, eines Freundes seines Vaters, nach St. Petersburg, wo er als Privatsekretär des Direktors des deutschen Theaters Friedrich Wilhelm von Bauer Anstellung fand – als Nachfolger von Jacob Michael Reinhold Lenz. Als Bauer 1783 starb, ging Kotzebue in den Staatsdienst nach Reval, wo er als studierter Jurist zunächst Assessor am Gerichtshof für Zivilsachen war und seit 1785 als Präsident des Gouvernementsmagistrats in den erblichen Dienstadelsstand versetzt wurde. 1784 begann Kotzebue, in Reval ein Liebhabertheater zu organisieren, woran sich zahlreiche jüngere Literaten und Beamte beteiligten. Die Erlöse des Unterfangens gingen an die Armen, und der Latein-Professor des Revaler Gymnasiums, Friedrich Gustav Arvelius, veröffentlichte 1790 auf Anregung Kotzebues »Ramma Josepi Hädda- ja Abbi-Ramatu«, ein Ratgeber für das einfache Volk. Von diesem Buch sollen auf Kosten des Theatervereins 10.000 Exemplare an die Bauern verteilt worden sein. Kotzebue schrieb und inszenierte in Reval sein Melodrama »Menschenhass und Reue« (1789), mit dem er europaweit einen hohen Bekanntheitsgrad erlangen sollte. Er reiste viel, war kurzfristig 1798 Direktor des Wiener Hoftheaters und später auch des Deutschen Theaters in St. Petersburg. Nach Kotzebues Weggang aus Reval 1795 etablierte sich eine neue Truppe in der Stadt: Louise

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Caroline Tilly war mit ihren Schauspielern recht erfolglos in St. Petersburg gewesen, bevor sie aus Geldknappheit Zwischenstation in Reval machte. Ihre »Operistengesellschaft« wurde hier wohlwollend aufgenommen, sodass sie drei Monate blieb. In der Kanutigilde gaben sie Mozarts »Zauberflöte« und den »Don Giovanni«. Obgleich Mme. Tilly bald abreiste, blieb der Kern ihrer Truppe in Reval, wo somit der Übergang zu einem professionellen ständigen Ensemble eingeleitet wurde. Ein solches zu organisieren gelang 1804 mit den »Deutschen Schauspielern zu Reval«. Drei Jahre später wurde eine Aktiengesellschaft gegründet sowie ein aus Adligen und Literaten bestehendes Theaterkomitee ins Leben gerufen. Sie ließen schließlich ein Haus in der Breit-Straße bauen, das am 1. Februar 1809 eröffnet wurde und bis 1902 Bestand hatte. Für kurze Zeit kehrte Kotzebue übrigens 1812/13 als Direktor nach Reval zurück. Heute befindet sich in diesem Haus das Estnische Puppen- und Jugendtheater. Literatur: Elias, Otto-Heinrich: August von Kotzebue als politischer Dichter, in: Bosse, Heinrich (Hg.), Baltische Literaturen in der Goethezeit, Würzburg 2010 (im Druck); Pappel, Kristel: Von der Wandertruppe zum ständigen Theater. Schwierigkeiten des Übergangs im Tallinner (Revaler) Musiktheater 1795–1809, in: Loos, Helmut; Möller, Eberhard (Hgg.), Die Oper als Institution in Mittel- und Osteuropa, Chemnitz 1998, S. 3–13.

Man darf davon ausgehen, dass das Klubleben sich der Verfeinerung der Sitten verschrieb, wofür neben regelmäßigen Konzertveranstaltungen auch die jeweiligen Bibliotheken ihren Anteil hatten. Letztere boten lokale, deutsche und russische Zeitungen, aber auch Literatur: Der Revaler Buchhändler Johann Jacob Illig stiftete der »Abendgesellschaft« 1787 mehrere hundert Bücher. Als ein Ältermann der Kanutigilde 1801 den Gouverneur um die Erlaubnis für die Gründung der »Harmonie« bat, machte er in krasser Form deutlich, welche moralischen Gefahren außerhalb des Klubs auf den rechtschaffenen Mann lauerten, suchte er seine Unterhaltung »in den Wirtshäusern der Revaler Vorstadt«. Dort, »wo kein Auge der Polizei ihn bewacht«, lasse sich mancher »zu Schwelgerey, zu Händeln, und zur Ausgelassenheit verführen«, Handlungen also, »die ihn den andern Tag erröthen machen, und die er nicht würde begangen haben wenn er in Gesellschaft von Männern gewesen wäre deren Achtung ihm nicht gleichgültig ist«. Allerdings blieben Skandale auch in den bürgerlichen Klubs nicht aus. Trotz Verbots wurde zum Teil um höchste Einsätze gespielt: 1791 soll Kammerherr Magnus Baron Tiesenhausen über 20.000 Rbl. beim Billard verspielt haben – in einer Nacht. Auch Kotzebue war kein Kind von Traurigkeit: Nachdem es im Dezember 1796 zwischen ihm und Kollegiensekretär Carl Friedrich Strahlborn zu Tätlichkeiten gekommen war, erwog die »Bürgerliche Klubbe« seinen Ausschluss. Allerdings gelang es dem Dichter, 160  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

in einer Verteidigungsrede die Klubbrüder für sich einzunehmen, sodass er mit 53 gegen 37 Stimmen Mitglied bleiben durfte. In gewisser Weise war das Klubleben auch eine Einübung demokratischer Praktiken. Zudem beförderte es nicht zuletzt die Integration der Frauen in die Öffentlichkeit, die, selbst wenn sie nur als Gäste auf Bällen und Maskeraden willkommen waren, sich außerhalb des traditionellen Familien­rahmens freier bewegen konnten.

2.  Reval in Krieg und Frieden Dass Reval und die Ostseeprovinzen für das Russländische Reich eine im Kriegsfalle verwundbare Flanke waren, machte der schwedisch-russische Krieg 1788–1790 deutlich. Dieser Krieg war von Gustav III. (1771–1792, *1746, †1792) mit dem Ziel vom Zaun gebrochen worden, die Ergebnisse des Großen Nordischen Kriegs in dem Moment zu revidieren, als Katharina II. mit Teilen ihrer Ostseeflotte gegen das Osmanische Reich engagiert war. Im Mai 1790 kam es zur Seeschlacht bei Reval, nachdem ein Geschwader unter Kapitän Olof Rudolf Cederström im März bei Baltischport (Paldiski) gelandet war und dessen Geschütze gefechts­untauglich gemacht hatte. Ziel der Schweden unter Admiral Otto Henrik Nordenskjöld war die in Reval stationierte russische Flotte unter Admiral Vasilij Ja. Čičagov, die sie am 2. Mai attackierten. Später wurde kolportiert, die überlegenen Schweden hätten bereits Einladungen für die Revaler Bürger zur Siegesfeier im Schloss Katharinental drucken lassen, doch war es ihnen aufgrund des starken Windes nicht gelungen, entscheidende Treffer zu landen. So konnte Čičagov von ruhigerem Gewässer aus zwei gegnerische Schiffe versenken. Daraufhin zogen sich die Schweden zurück. Der Frieden von Värälä besiegelte den territorialen Status quo. Der Ausbau des Kriegshafens Die lange hinausgezögerte grundsätzliche Entscheidung, anstelle des Hafens von Baltischport Reval auszubauen, war 1783 gefallen. In Folge des Krieges gegen Schweden wurden die staatlichen Verteidigungsmaßnahmen in Reval verstärkt. Einem 1791 ausgearbeiteten Plan zufolge sollte für 50 Schlachtschiffe und 20 Fregatten Platz geschaffen werden, wofür innerhalb von elf Jahren fünf Millionen Rbl. hätten verbaut werden sollen. Herzstück des so nie umgesetzten Plans war eine riesige Dammanlage, die fünf einzelne HaReval in Krieg und Frieden 

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in einer Verteidigungsrede die Klubbrüder für sich einzunehmen, sodass er mit 53 gegen 37 Stimmen Mitglied bleiben durfte. In gewisser Weise war das Klubleben auch eine Einübung demokratischer Praktiken. Zudem beförderte es nicht zuletzt die Integration der Frauen in die Öffentlichkeit, die, selbst wenn sie nur als Gäste auf Bällen und Maskeraden willkommen waren, sich außerhalb des traditionellen Familien­rahmens freier bewegen konnten.

2.  Reval in Krieg und Frieden Dass Reval und die Ostseeprovinzen für das Russländische Reich eine im Kriegsfalle verwundbare Flanke waren, machte der schwedisch-russische Krieg 1788–1790 deutlich. Dieser Krieg war von Gustav III. (1771–1792, *1746, †1792) mit dem Ziel vom Zaun gebrochen worden, die Ergebnisse des Großen Nordischen Kriegs in dem Moment zu revidieren, als Katharina II. mit Teilen ihrer Ostseeflotte gegen das Osmanische Reich engagiert war. Im Mai 1790 kam es zur Seeschlacht bei Reval, nachdem ein Geschwader unter Kapitän Olof Rudolf Cederström im März bei Baltischport (Paldiski) gelandet war und dessen Geschütze gefechts­untauglich gemacht hatte. Ziel der Schweden unter Admiral Otto Henrik Nordenskjöld war die in Reval stationierte russische Flotte unter Admiral Vasilij Ja. Čičagov, die sie am 2. Mai attackierten. Später wurde kolportiert, die überlegenen Schweden hätten bereits Einladungen für die Revaler Bürger zur Siegesfeier im Schloss Katharinental drucken lassen, doch war es ihnen aufgrund des starken Windes nicht gelungen, entscheidende Treffer zu landen. So konnte Čičagov von ruhigerem Gewässer aus zwei gegnerische Schiffe versenken. Daraufhin zogen sich die Schweden zurück. Der Frieden von Värälä besiegelte den territorialen Status quo. Der Ausbau des Kriegshafens Die lange hinausgezögerte grundsätzliche Entscheidung, anstelle des Hafens von Baltischport Reval auszubauen, war 1783 gefallen. In Folge des Krieges gegen Schweden wurden die staatlichen Verteidigungsmaßnahmen in Reval verstärkt. Einem 1791 ausgearbeiteten Plan zufolge sollte für 50 Schlachtschiffe und 20 Fregatten Platz geschaffen werden, wofür innerhalb von elf Jahren fünf Millionen Rbl. hätten verbaut werden sollen. Herzstück des so nie umgesetzten Plans war eine riesige Dammanlage, die fünf einzelne HaReval in Krieg und Frieden 

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fenbecken geschützt hätte. Seit 1792 war Admiral Aleksej G. Spiridov als Hafenkommandant und später Militärgouverneur dafür zuständig, Reval zu einer modernen Flottenbasis zu machen. Unter Paul I. wurden die Arbeiten beschleunigt, sodass eine erste Mole 1797 fertig gestellt werden konnte. Allerdings war auch die Stadt aktiv geworden, die ein Interesse daran hatte, die Belastungen durch die Quartierstellung, die während des Krieges deutlich geworden waren, zu verringern: Für 439.028 Rbl. hatte sie auf dem Laaksberg (Lasnamäe) sieben große Kasernen errichten lassen, die Platz für 5.000 bis 7.000 Mann boten. Allerdings erwiesen sich die Gebäude aufgrund der Feuchtigkeit als unbewohnbar; bereits 1824 wurden sie zum Teil abgerissen. Das Problem blieb damit ungelöst, und die Soldaten bevölkerten wie bisher die Vorstädte. Als im Frühjahr 1801 ein britisches Geschwader unter Admiral Horatio Nelson auf Reede vor Reval lag und jeden Augenblick mit einem Angriff gerechnet werden musste, wurden sämtliche Einheiten der russischen Armee in den Ostseeprovinzen an die Küste verlagert. Am Strand von Reval patrouillierten Kosakeneinheiten. Nach dieser Episode schritt der Ausbau des Hafens auch unter Alexander I. voran, auch wenn ein weiterer Plan von 1802, den Ausbau am französischen Hafen Toulon auszurichten, aus finanziellen Gründen verworfen wurde. Aber man vertiefte das Hafenbecken und baute 1807 eine Küstenschutzbatterie mit 24 Geschützen. Tatsächlich lag die britische Flotte 1809 erneut vor Reval, ohne dass es jedoch zu Kampfhandlungen gekommen wäre. Gleichwohl galt die Seefestung Reval bei Ausbruch des »Vaterländischen Kriegs« gegen Napoleon als nicht wirklich verteidigungsbereit. Der Staat hatte sich wohlweislich darauf verlegt, die Düna-Linie in Liv- und Kurland zu verstärken, um das Eindringen des Feindes auf dem Landwege zu erschweren – St. Petersburg blieb unbedroht. Trotzdem wurde die russische Flotte im Revaler Hafen (15 Schlachtschiffe und 1 Transportschiff ) gefechtsbereit gemacht und 610 Lazarettbetten vorbereitet. Zudem mobilisierte die Stadt die meist aus Zunftmeistern bestehende Stadtgarde, die nun in aller Eile ausgebildet wurde. Zu ihrem Schutz waren zwei Garnisonsbataillone zurückgelassen worden, die übrigen Soldaten standen an der Front. Übrigens war Reval einer der Sammelpunkte der Russisch-Deutschen Legion des Freiherrn vom und zum Stein, die aus meist preußischen, aber auch einigen holländischen und bayerischen Kriegsgefangenen zusammengestellt werden sollte. Die im Sommer begonnene Formierung litt allerdings an einem Mangel an Offizieren, der in Reval von einigen Deutschbalten behoben wurde, bevor die Legion im Oktober 1812 nach Finnland abkommandiert wurde. 162  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

So blieb Reval 1812 von direkten Kriegsfolgen verschont. Die gegen England verhängte Kontinentalsperre, an der Alexander I. seit dem Frieden von Tilsit 1807 teilzunehmen verpflichtet war (und die erst 1810 gelockert wurde), hatte jedoch ihre Spuren im Außenhandel der Stadt hinterlassen. Vor allem im ersten Jahr der Blockade wurde im außenpolitischen Interesse des Reiches der Revaler Hafen von den Behörden scharf kontrolliert. Während 1806 noch 150 ausländische Handelsschiffe Reval anliefen, sank deren Zahl 1807 auf 82 und im Jahr darauf auf gerade einmal acht; zudem brachte die auf der Ostsee dominante britische Flotte zahlreiche russische Schiffe auf. Die Folgen waren auch für die Bevölkerung zu spüren, da sich das Leben merklich verteuerte und vor allem Salz knapp wurde. Der langsame Niedergang des Revaler Außenhandels Die wirtschaftliche Situation Revals hatte sich am Ende des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt deshalb wieder belebt, weil sich in der Stadt immer mehr Manufakturen und Industriebetriebe ansiedelten. Neben äußeren Einflüssen war es aber stets die Handelspolitik St. Petersburgs, von der Revals Zustand abhing. So konnte Reval 1793 seinen Anteil am Baumwollimport des Reiches auf 34% steigern, woraufhin der Kaufmann Christian Frese in Katharinental eine erste Kattunmanufaktur errichtete. Nach der Einführung einer neuen Zollordnung 1798 musste sie geschlossen werden, da von nun an Waren, deren Zoll nach ihrem Wert berechnet wurde (wie es bei Tuchen üblich war), nur über St. Petersburg und Riga eingeführt werden durften. Eine weitere Kattunmanufaktur musste wegen der Kontinentalsperre Napoleons aufgeben. Zugleich aber wurde die Fayence- und Möbelproduktion in Reval aufgenommen, und in verschiedenen Betrieben der Stadt produzierte man Kerzen, Essig, Farben, Stärke, Schokolade, Spiegel u.a. Allerdings überlebten nicht alle neuen Produktionszweige die Kontinentalsperre. Gleich nach ihrer Aufhebung gründete Johann Gottlieb Clementz auf dem Strietberg (auch Streitberg oder Marienberg, estn. Maarjamäe) eine Zuckerfabrik, die mit der Weiterverarbeitung des aus Amerika eingeführten Rohzuckers erfolgreich war. Nachdem ein weiteres protektionistisches Zollstatut 1822 dessen Import zu teuer gemacht hatte, führte Clementz Zucker aus St. Petersburg ein und beschränkte sich auf den Lokalhandel, bis dieser Handel aufgrund von neuen Zöllen 1837 unrentabel wurde. Tatsächlich waren die Tariferhöhungen und Einfuhrbeschränkungen des Statuts von 1822 ein herber Schlag für die Ankurbelung des Revaler Außenhandels. Bereits Reval in Krieg und Frieden 

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1819 hatte das Finanzministerium in einer Regelung für den »europäischen Handel« die Zollämter in vier Klassen eingeteilt. Wie das kurländische Libau (Liepāja) gehörte Reval zu den »Hauptzollämtern« der 2. Klasse, während Riga wie St. Petersburg und Archangel’sk als »Niederlagezollämter« der 1. Klasse nun den Vorteil genossen, Waren länger unverzollt lagern lassen zu dürfen. Zudem konnten Waren, die für Häfen der 1. Klasse bestimmt waren, nicht mehr in solchen der 2. Klasse verzollt werden. Letzteres schränkte Revals wichtige saisonale Transitfunktion nach St. Petersburg ein. In der Außenhandelsstatistik Revals machten sich aber vor allem die protektionistischen Tarife von 1822 bemerkbar, als im Vergleich zum Boomjahr 1814 der Import um mehr als das Achtfache und der Export sogar um mehr als das Dreißigfache einbrachen. Kein Wunder, dass der Rat die Situation als sehr ernst empfand. In einem Gesuch an den estländischen Zivilgouverneur Gotthard Wilhelm von Budberg (1818–1832, *1766, †1832) bat der Präsidierende Bürgermeister Karl Johann Salemann unter Darstellung der zunehmenden Verarmung Revals im September 1823 um Abhilfe: Beinahe alle ausländischen Waren, auch wenn sie für Reval bestimmt seien, müssten in Riga verzollt werden. Daher habe »selbst der schöne der Stadt Reval von der Natur gegebene Hafen für Revals Einwohner fast gar keine Bedeutung mehr, kann hier nur sehr wenig Handel en gros mehr stattfinden und muß sogar der Bedarf des Ortes über Petersburg und Riga kommen und der hiesige Einwohner statt sein ausländisches Bedürfniß auf dem wohlfeilen ihm vor den Augen liegenden Wege zur See zu erhalten, davon auch die Provision des Peterburger oder Rigaschen Kaufmanns und den schweren Landtransport von dort hieher bezahlen«. Sehr deutlich wird in dieser Stellungnahme, dass man in Reval die Einbeziehung in die handelspolitischen Strukturen des Russländischen Reiches immer noch als Einschränkung des traditionellen »natürlichen« Handelsnetzes empfand. Zumindest in der Perspektive der Revalenser selbst spielte noch ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle – die skandalöse Revaler Zollaffäre von 1817 (s. Kasten). Ob diese, erst 1820 vom Staatsrat (auch: Reichsrat) in St. Petersburg mit harten Strafen für die Verantwortlichen abgeschlossene Untersuchung ursächlich dafür verantwortlich zu machen ist, dass das Zollstatut von 1822 keinerlei Ausnahmeregelungen für Reval vorsah, ist unklar. Zumindest indirekt ergibt sich aus den Quellen aber eine Kausalität zwischen den Vorfällen von 1817 und den Einfuhrbeschränkungen. In einer Eingabe an das Finanzministerium vom Januar 1826 schreibt der Rat, »biß zum Jahr 1817« sei der Stadt »die völlige Bereinigung auch solcher hieher gelangten Waare gestattet« gewesen, welche nicht nach Reval, sondern 164  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

nach »anderen Orten des Reichs« gelangen sollte. »Durch die nur einigen einzelnen Individuen, aber gewiß nicht unserer Stadt und ihrer Einwohner zur Last fallende Schuld wurde diese früher beym hiesigen Zoll gestattet gewesene gänzliche Bereinigung solcher Waaren verbothen (…) Eine ganze Reihe von Jahren hat unsere Stadt für die Schuld einzelner Individuen büßen müssen, und wir können nicht umhin, in tiefster Unterthänigkeit zu bitten, daß unser Allergnädigster Monarch diese uns drückende Schmach von uns heben« möge. Immerhin hatte der neue Kaiser Nikolaus  I. (1825–1855, *1796, †1855) ein offenes Ohr für die Klagen seiner Revalenser und verfügte zumindest eine zolltechnische Gleichstellung mit Riga. Die Revaler Zollaffäre von 1817 Schon der anonyme Autor der 1800 erschienenen »Briefe aus Reval« machte eine ganz einfache Rechnung auf: Angesichts der »Willkühr in der Auslegung der Zollgesetze« und der »Leichtigkeit, mit der man den Zoll betrügen kann (…) überzeugt man sich bald, dass es einem Kaufmann äusserst schwer fallen muss, seinen Handel mit Vortheil zu treiben, und dass eine solche Verfassung nach und nach eine leichtsinnige Denkungsart herbeiziehe, und das moralische Gefühl immer mehr unterdrücke. Daher kann man sich sogar, ohne verdiente Verachtung zu befürchten, erdreisten, in Gesellschaften zu behaupten: gegenwärtig könne keiner sich im Wohlstande erhalten, wenn er nicht aufhöre ein ehrlicher Mann zu seyn, und ein Schurke werde«. Zweifellos sah der russische Staat die Männer, die ihn 1817 um erhebliche Summen prellen wollten, als solche Schurken an. Was war passiert? Am 17. April 1817 wurde im Revaler Hafen die Ladung des englischen Schiffes »Allert« gelöscht. Baumwolle aus London sollte von den Revaler Kaufleuten Peter Gottlieb Lohmann und Diedrich Rodde nach St. Petersburg transferiert werden. Mit fingierten Warenbezeichnungen prellten die Übeltäter den Staat um mehr als 100.000 Rbl. Zu ihnen zählten ehrbare Vertreter der Revaler Oberschicht aus Kaufmannschaft und Zollwesen. Wahrscheinlich ging der Betrug von den Kaufleuten aus, d.h. von Lohmann, seinem Kommis Jakob Friedrich Baumann sowie Roddes Kommis Adolf Gottlieb Riesenkampff – alle drei Kaufleute der I. Steuergilde. Sie waren mit den Zollbeamten Staatsrat Peter Freiherr von Bellingshausen und Hofrat Friedrich Freiherr von Danckelmann übereingekommen, sich den »Gewinn« zu teilen, und fertigten eine falsche Warendeklaration an, die der des Deutschen nicht mächtige englische Kapitän unterschrieb. Ein niederer Zollbeamter lieferte den Behörden jedoch erste Hinweise. Eine Untersuchung des Finanzministeriums führte noch im Juni 1817 zur Amtsenthebung der Hauptverdächtigen. Die Kaufleute Lohmann, Baumann und Riesenkampff waren jedoch rechtzeitig gewarnt worden und konnten fliehen. Alexander  I. ließ Milde walten und verurteilte die Angeklagten nur zur »Ansiedlung« in Sibirien, nicht zur Zwangsarbeit. Auch Rodde, dem keine di-

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rekte Beteiligung nachgewiesen werden konnte, musste zehn Jahre in Arensburg auf Ösel unter Polizeiaufsicht leben – offenbar verdankte er diesen ungewöhnlichen Verbannungsort einem teuer bezahlten Schreibfehler: eigentlich sollte er ins sibirische Orenburg verbannt werden. Man darf davon ausgehen, dass in der verwandtschaftlich und geschäftlich eng miteinander verbundenen Revaler Oberschicht dieser Skandal erhebliches Aufsehen verursacht hat. Ob das Geschäftsgebaren sich in der Folge verbessert hat, sei dahingestellt. Quelle: Wistinghausen, Henning von: Die Revaler Zollaffäre von 1817. Eine historischgenealogische Miszelle, in: Jürgen von Hehn u.a. (Hgg.): Reval und die baltischen Länder, Marburg/Lahn 1980, S. 375–413.

Der Revaler Außenhandel blieb Spielball der staatlichen Wirtschaftspolitik und durfte sich höchstens über kleine Gunsterweisungen freuen. Und die große baltische Schwesterstadt Riga war für Reval schon immer in erster Linie eine ernste Konkurrentin gewesen. Erneut wurde 1826 eine Revaler Wunschliste in St. Petersburg vorgelegt, die das erwähnte Kanalprojekt vom Peipussee in die Revaler Bucht anführte. Daneben wurde aber auch deutlich, wie sehr sich Reval mit seiner Position als Ausfuhrhafen des Gouvernements Estland im Grunde abgefunden hatte. Man bat um zollfreie Ausfuhr der Landesprodukte wie Getreide, Branntwein, Flachs, Hanf, Leinsaat, Butter, Holz, Häute und Wolle und wollte das Verbot, Branntwein nach Finnland zu liefern, aufgehoben wissen. In diesem Zusammenhang ist es nur zu verständlich, dass die Zahl der privilegierten Gildekaufleute in Reval kontinuierlich abnahm. Es verblieben nur noch wenige Außenhandelshäuser. Während 1810 noch 267 Bürger zu den Gildekaufleuten zählten, sank ihre Zahl bis 1830 auf 129, um erst in den 1850er Jahren wieder anzusteigen. Viele von ihnen sattelten einfach auf Kleinhandel um oder zogen es vor, ihre Geschäfte nach St. Petersburg, Moskau oder Riga zu verlagern. Seit der russischen Gildenreform von 1824, mit der das Recht, Handel zu treiben und Unternehmen zu gründen, auch auf die Bauern ausgeweitet wurde, wuchs zudem auf lange Sicht die Konkurrenz durch estnische Kleinhändler. Denn im Gouvernement Estland waren die Bauern bereits 1816 rechtlich befreit worden, auch wenn dies noch keine Freizügigkeit mit sich gebracht hatte und das Land zunächst in den Händen der meist deutschen Gutsbesitzer verblieben war. Insgesamt wurde Reval aber mehr und mehr zu einem Zentrum des Klein- und Binnenhandels für lokale Bedürfnisse. Dabei lag Mitte der 1820er Jahre der Einzelhandel nicht nur in den Vorstädten, sondern auch in der Altstadt zum großen Teil in russischen Händen. 62 der 106 Verkaufs166  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

buden der Altstadt gehörten russischen, 43 deutschen Kaufleuten. Während letztere als Bäcker und Textilhändler dominierten, aber auch Galanterie- und Kurzwaren, Wein, Gewürze und Bücher feilboten, beherrschten die Russen den Handel mit Pelz-, Leder- und Eisenwaren. Gaststätten und Traktierstuben waren traditionell fast ausschließlich in deutscher Hand, doch gab es zwei Herbergen in russischem Besitz: eine nahe der russischen Kirche in der Mauerstraße und eine weitere, die »Orlowsche«, am Beginn der Narvaschen Chaussee, wo auch Billard gespielt wurde. In Bezug auf die Handwerker lässt sich mit Blick auf die neue Handwerksordnung von 1822 sagen, dass die Zünfte keine Zwangskörperschaften mehr waren. Sofern Unzünftige es ohne Gehilfen bewerkstelligen konnten, war es ihnen gestattet, Produkte zünftiger Gewerbe herzustellen; nur Bäcker, Schlosser und Fleischer blieben an die Zünfte gebunden. Der größte Arbeitgeber Revals blieb die Admiralität, in deren Werkstätten die Flotte instand gehalten wurde; mit dem Aufkommen der Dampfschiffe verlor sie jedoch zusehends an Bedeutung, da Russland seine modernen Kriegsschiffe in Kronstadt konzentrierte. In Reval wurde es ruhig. Als der Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl seine Eindrücke zu Beginn der 1840er Jahre schilderte, betonte er, dass die Revalenser das »dolce far niente eben so gut wie die Italiener zu würdigen« wüssten. »Indem unser Dreigespann die kaufende und verkaufende Menge des besetzten Marktes durchbrach, glaubten wir, da Alles stand und uns anschaute, den ganzen Handel von Rewal auf einige Minuten unterbrochen zu haben. Doch bald gewahrten wir unseren Irrthum; denn drei Viertel jener Menge bestanden aus Müßigen aller Klassen, während das letzte Viertel sich eben nicht in seinen Geschäften beeilen zu müssen glaubte. (…) Die uns begegnenden, sparsam beladenen Fuhrwagen bewegen sich eben so langsam fort wie der Handel der Stadt«. Zu dieser Zeit aber war die Stadt dank der von Kohl festgestellten »wohltuenden Rewalschen Ruhe« bereits für eine ganz neue Klientel attraktiv geworden. Reval als russischer Kurort Mit der Eröffnung der von Benedikt Georg Witt 1813 in Katharinental errichteten ersten Meeresbadeanstalt Revals entwickelte sich ein neuer Wirtschaftszweig, der zunächst vor allem das gehobene Publikum aus St. Petersburg anzog: Seit Mitte der 1820er Jahre wurde die Stadt zu einem im ganzen Reich bekannten Kur- und Erholungsort. Hierbei mag vor allem der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass deutsche Ärzte in Russland einen herReval in Krieg und Frieden 

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vorragenden Ruf genossen und in Reval Absolventen der Medizinischen Fakultät der 1802 neu eröffneten Universität Dorpat (Tartu) vertreten waren. Hinzu kam eine romantische Begeisterung der gebildeten Schichten für alles Mittelalterliche und »Nordische«, was der Petersburger nun in Reval quasi vor der Haustür in Augenschein nehmen konnte. Einer der bekanntesten Journalisten der Ära Nikolaus’  I., Faddej V. Bulgarin (Tadeusz Bułharyn), der das Gut Karlova bei Dorpat besaß, betonte in einem längeren Artikel über »Reval im Sommer 1835«, wer noch keine ausländische Stadt aus der Hansezeit gesehen habe, der könne auch keine rechte Freude an den damals ungemein populären Romanen Walter Scotts empfinden: »Und weil heutzutage alles Gotische, alles Ritterliche in Mode ist, von Damenarmbändern bis zur Literatur, rate ich Ihnen, nach Reval zu fahren und sich an diesem alten ritterlichen und hanseatischen Nestchen zu erfreuen, das wie ein Wunder während der grausamen nördlichen Kriege erhalten geblieben ist. Sie genießen dort nicht nur den Anblick lebendigen Altertums, sondern auch die frische, staunenswerte natürliche Landschaft, atmen frische Meeresluft, stärken Ihre Nerven in den Meereswellen, und vor allem erholen Sie sich von all den Dingen, Sorgen und Mühen des Alltags. (…) Nachdem Sie einen Sommer in Reval verbracht haben, werden sie mir auf ewig dankbar sein«. Reval war zu Beginn der 1820er Jahre dank eines der ersten Bestsellers der russischen Literatur reichsweit bekannt geworden: Alexander A. BestuževMarlinskijs »Reise nach Reval« (1821). Zugleich hatte der Autor in zahlreichen Novellen wie z.B. »Das Turnier von Reval« livländisches Mittelalter literarisch als Teil der russischen historischen Erfahrung konzipiert. Den »Puschkin der Prosa« hatte ursprünglich sein sozialpolitisches Interesse an die Ostsee geführt, gehörte er doch einer Gruppe junger Offiziere an, die von Alexander I. Reformen erwarteten. Doch wurden die Bauern nicht landesweit befreit, sondern nur in den Ostseeprovinzen – abgesehen von Ritterburgen boten diese dem staunenden russischen Betrachter somit auch die ersten freien Bauern auf russischem Boden. Bestužev aber präsentierte seinen Landsleuten einen Wegbegleiter für die Reise an die Ostseeküste und machte deutlich, dass Reval ein Stück Europa im Russländischen Reich darstellte. Gesteigert wurde Revals Attraktivität nach dem Scheitern des sog. »Dekabristenaufstands« im Dezember 1825 gegen den neuen Kaiser Nikolaus I., der in Reaktion darauf seinen Untertanen Auslandsreisen erschwerte. 1827 publizierte der einflussreiche Schriftsteller und Journalist Pavel P. Svin’in eigene Reiseeindrücke von Reval, das er »Hauptstadt der Schönheit Nordrusslands« nannte. Das Interesse an einem ruhigen, abgeschiedenen Ort der Sommerfrische bekam einen neuen Hintergrund: An der Revaler 168  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Bucht ließ sich freier diskutieren als in der stärker kontrollierten Hauptstadt. So wurde Aleksandr S. Griboedovs Stück »Verstand schafft Leiden« erstmals vollständig in Reval gezeigt – in deutscher Übersetzung. Reval wurde zu dieser Zeit zu einem Zentrum der russischen Kultur, nicht zuletzt dank der Überführung der Petersburger Institution des literarischen Salons der Witwe des Hofhistoriographen Nikolaj M. Karamzin, Ekaterina A. Karamzina, nach Reval. Die in Reval als uneheliche Tochter des Fürsten Andrej I. Vjazemskij geborene Karamzina trug den Geburtsnamen »Kolyvanova« nach dem alten russischen Namen der Stadt und war berühmt als die »verborgene Liebe« des jungen Aleksandr S. Puškin. Im Haus des Zuckerfabrikanten Clementz traf sich seit 1826 sommers die geistige und kulturelle Elite der russischen Hauptstadt an der Revaler Bucht. Nachdem auch Nikolaus I. die Stadt samt Familie mehrfach zur Erholung besucht hatte und 1833 ein erster Reiseführer über Reval auf Französisch erschienen war (»Manuel-Guide de Reval et des Environs. Orné de vues«, russ. 1839) blieb die Stadt bis zum Ende der 1830er Jahre bei den Petersburgern en vogue. 1843 hieß es in der »Literaturnaja gazeta«, »noch vor kurzem« sei es geradezu Pflicht gewesen, den Sommer in Reval zu verbringen. Kranke und vor allem Gesunde seien dorthin gefahren und hätten die Stadt in ein »lärmendes Eckchen Petersburgs« verwandelt. Auch Bulgarin beschrieb eine veränderte Stadt, die im Sommer auf einmal Petersburg oder gar Paris glich. Hier hörte man auf einmal sogar französische Worte,

9  Wittscher Salon, 19. Jahrhundert Reval in Krieg und Frieden 

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deren man sich in den Ostseeprovinzen nach Ansicht des Spötters Bulgarin eigentlich nur in Mädchenpensionaten bediente. Auch das Bild änderte sich: Vor den vergleichsweise bescheidenen Sommerhäuschen standen überall »livrierte Lakaien«, in allen Richtungen fuhren »prächtige Kut­schen« vorbei und eine »Vielzahl von Damen spazierte in eleganten Kleidern durch den Park«. Selbst die hier üblichen kläffenden Wachhunde waren nach dem Bericht des aufmerksamen Flaneurs im Sommer durch kleine Schoßhündchen ersetzt worden – und aus den Fenstern erklangen Harfenlaute und Arien. Svin’in beschrieb die Verwandlung Katharinentals in den Petersburger Sommergarten. Familie Witt hatte zudem einen weiteren Erwerbszweig entdeckt – in ihrem Hause fanden die beliebtesten Bälle und Konzerte der Sommersaison statt. [ Ein weiterer Ton kam hinzu. Schon Svin’in hatte seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Spuren der hanseatischen Vergangenheit oder der sprichwörtlichen »deutschen Ordnung« gerichtet. Indem er seine Reise am Petersburger Schloss Katharinenhof beginnen ließ, von wo aus die Straße nach Katharinental führte, verdeutlichte er eine neue Qualität Revals: ihre enge Beziehung zu Peter I., dessen Gattin Katharina I. (1725–1727, *1684, †1727) beide Schlossanlagen gewidmet waren. In den Reisebeschreibungen wird Reval nun zu einem Er­innerungs­ort für den ersten russischen Imperator. Sei es, dass der auf Peter zurückgehende Kriegshafen gelobt oder der Pokal im Schwarzenhäupterhaus beschrieben wird, aus dem der Kaiser einst getrunken hatte, seien es die eigenhändig von ihm gesetzten Steine am Schloss Katharinental oder die im Schlosspark von ihm gepflanzten Kastanien – überall entdeckte man Zeugen der petrinischen Vergangenheit an der Ostsee. Die Topographie der Toten in den Kirchen wiederum hatte für russische Betrachter ihren eigenen Reiz. Denn unter all den Epitaphen deutschbaltischer Adelsgeschlechter, mit denen z.B. die Ritter- und Domkirche geschmückt war, fanden sich auch Namen von Personen, die in der russischen Geschichte einen guten Klang hatten. Das von Giacomo Quarenghi gestaltete und von Katharina II. finanzierte Grabmal des russischen Admirals schottischer Abstammung Samuel Greigh, der sich in den Türkenkriegen und im Krieg gegen Schweden ausgezeichnet hatte, während dessen er auf Reede vor Reval starb, war hier ein prachtvoller Ausgangspunkt. Bewundert wurden die in der Domkirche beigesetzten Ferdinand Graf Tiesenhausen, der als Flügeladjutant Alexanders I. bei Austerlitz gefallen war, sowie der berühmte Weltumsegler Adam Johann von Krusenstern. Die bemerkenswerteste Revaler Sehenswürdigkeit der Zeit aber war eine seltsame Mischung aus nicht ganz so heldenhafter russischer Vergangenheit 170  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

und Revaler Legenden: das Grab des Kommandierenden der russischen Truppen in der verlorenen Schlacht um Narva 1700, Feldmarschall Charles Eugène de Croÿ. Sein Leichnam war nach seinem Tod 1702 auch nach mehr als einem Jahrhundert immer noch vollständig erhalten und 1818 zur Besichtigung in einer Kapelle der Nikolaikirche freigegeben worden. Croÿ wurde zu einer Revaler Reliquie. »Jeder Fremde«, schrieb noch Werner Bergengruen in seinem »Tod von Reval«, der nach Reval kommt und all die Schätze der Nikolaikirche keines Blickes würdigt – »den seligen Herzog läßt er nicht unbesucht«. Für den russischen Besucher galt Croÿ aber eben auch als enger Vertrauter Peters  I. Daher konnte aus der schillernden Figur des Feldmarschalls, dessen kostspieliger Lebenswandel als schwedischer Kriegsgefangener in Reval dazu geführt hatte, dass ihm nach seinem überraschenden Tod ein standesgemäßes kostspieliges Begräbnis verwehrt wurde, eine Art Ikone des frühen Tourismus in Reval werden. Schon bald jedoch war die zur Attraktion gewordene mumifizierte Leiche derartig abgegriffen, dass man nach dem Zeugnis eines Touristen in den 1840er Jahren nur noch »mit Entsetzen« dabei zusehen konnte, wie der Kirchendiener zur Freude der Besucher die Leiche entblößte. Erst 1879 wurde de Croÿ schließlich doch noch ein richtiges Begräbnis zuteil. Lebensbedingungen in Reval Abgesehen von der neu entdeckten »russischen« Seite Revals verdanken wir diesen Schilderungen auch ein lebhaftes Bild von den Lebensbedingungen der Stadt. Bulgarin schrieb, er könne niemandem raten, zu Fuß durch die Stadt zu gehen, da die Straßen schmutzig und unbegehbar seien. Mit einer Equipage durch die Stadt zu fahren, sei aber eigentlich unmöglich. Abgesehen von »zweieinhalb etwas breiteren Straßen« seien die übrigen »so eng, krumm und kurvig, dass Sie sich da hineinzwängen müssen, wie in ein Schneckenhaus«. Dieses Labyrinth enger Straßen wurde zum Topos der Beschreibungen der Altstadt bei den russischen Zeitgenossen, die Reval freilich an Grundriss und Planung St. Petersburgs maßen. Schon Bestužev aber konnte vermelden, dass die Stadt sich des Verkehrsproblems annahm: Da man in den überaus schmalen Gassen keine Kutsche wenden konnte, war es Vorschrift, Glöckchen mit sich zu führen, um unliebsame Zusammenstöße zu vermeiden. Auch Gouverneur und Stadt wussten um die Fährnisse der mittelalterlichen Stadtstruktur. Schon Militärgouverneur Spiridov hatte den Umbau der Straßen verlangt, sodass die Gehsteige aus ihrer Mitte an den Reval in Krieg und Frieden 

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Rand verschoben worden wären. Magistrat und Gilden widersetzten sich jedoch dem dafür als notwendig erachteten Abriss der Buden und Beischläge, d.h. der weit in die Straßen hineinragenden Stufen, die zu einem offenen Vorbau des Hauses führten. Diese Beischläge hatten an beiden Seiten der Haustür Sitze, auf denen sich im Sommer das altstädtische Familienleben abspielte. Erst 1825 erließ der baltische Generalgouverneur Marquis Filippo Paulucci (1812/17–1829, *1779, †1849) eine Bauordnung, die regulierend eingriff. Von nun an waren in der Altstadt Buden und Beischläge verboten. Paulucci ritt selbst durch die Straßen der Stadt, wie sich der Historiker Johann Gotthard von Hansen erinnerte, »und ließ von Leuten seiner Begleitung an diesem und jedem Ausbau mit schwarzer Oelfarbe das Jahr bezeichnen, in dem das alte und seinem Schönheitssinn widerstrebende oder den Verkehr hindernde Gebäude (…) für immer verschwinden sollte«. Fußgänger blieben aber auf die Mittelsteine angewiesen, die etwas ebener waren als die übrigen spitzen Pflastersteine. Der Zustand der Straßen – vor allem auch in den Vorstädten – dürfte sich aber kaum vor Mitte des Jahrhunderts gebessert haben. 1849 wurde auf Anordnung des estländischen Gouverneurs Johann Christoph von Grünewaldt (1842–1859, *1796, †1862) eine Spezialabteilung der Stadtverwaltung gegründet, die sich um den Zustand der Vorstadtstraßen zu kümmern hatte, wofür die dortigen Immobilienbesitzer mit einer Sonderabgabe belegt wurden. 1852 begann man in der Unterstadt damit, die damals moderne Technik des Kopfsteinpflasters anzuwenden, welche auch bald auf den größeren Vorstadtstraßen genutzt wurde. Straßen zu pflastern setzte aber voraus, dass sie nicht mehr ständig aufgerissen werden mussten, um die Wasser- und Kanalisationsleitungen zu reinigen oder zu reparieren. Bereits 1817 hatte man damit begonnen, das alte Wasserleitungsnetz zu rekonstruieren und mit einer Abdeckung zu versehen. Diese Arbeiten waren jedoch teuer und zogen sich hin. 1841 schlugen die Gilden vor, die alten Holzrohre durch solche aus Blei zu ersetzen. Zu diesem Zweck gründete ein Großkaufmann Meyer im folgenden Jahr eine Bleigießerei, deren Rohre in den Jahren 1843 bis 1860 verlegt wurden. Zugleich wurden auch die hölzernen Abwasserleitungen durch gewölbte Kanäle aus Stein erneuert, wobei die Häuser einen eigenen Anschluss erhielten. Dass der Rat zumindest 1813 und 1856 verbieten musste, Abwässer einfach auf die Straße zu schütten, zeigt jedoch, wie hartnäckig die alten Praktiken üblich blieben. Zugleich war die Lage der Vorstädte weiterhin fatal: Der für ihre Wasserversorgung vorgesehene Härjapea Fluss, der vom Oberen See (Ülemiste järv) in die Revaler Bucht floss, wurde 1862 kurzerhand zum Abwasserkanal erklärt. In der Folge wurde die 172  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Verschmutzung des Flusses durch Abwässer der Gerbereien, Färbereien, Bäder, Krankenhäuser und Schlachthöfe immer wieder thematisiert. Dass die medizinische Forschung die Qualität des Trinkwassers ursächlich für die Verbreitung von Epidemien verantwortlich machte, setzte sich erst in den folgenden Jahrzehnten allgemein durch. Die Cholera in Reval Im Frühjahr 1831 brach in Russland eine Choleraepidemie aus, die im Mai nach Riga kam, von wo aus sie erstmals auch Estland erreichte. Ende Juli verbreitete sie sich in Reval wohl über die Wasserleitungen und wütete bis in den September hinein. Die meisten Opfer forderte sie in den Vorstädten und unter den Soldaten der Garnison. Insgesamt erkrankten 1831 in Reval 758 Menschen (davon 263 Soldaten), wovon 468 (263) starben. Damit lag die Letalität bei über 60%, was ausgesprochen hoch war; bei dieser Krankheit, die im schlimmsten Fall binnen Stunden zum Tod führte, war man noch weitgehend hilflos. Eine weitere Cholerawelle traf Reval im Sommer 1848, als 1.029 Menschen erkrankten (davon 509 Soldaten), von denen 498 (238) starben, was immer noch eine Sterberate von über 48% bedeutete. Unter den Opfern waren vor allem Kinder unter fünf Jahren und Alte. Nur aufgrund der vielen Todesfälle unter den Soldaten weist die Statistik mehr männliche als weibliche Opfer aus. Schon vor dem Krimkrieg war die Cholera in Riga 1852 erneut aufgetaucht, wahrscheinlich von Soldaten eingeschleppt. Im Juni 1853 meldete auch Estland erste Krankheitsfälle; diesmal starben von 677  Erkrankten 374 (55,2%). In Riga gab es zur selben Zeit über 1.200 Todesfälle unter Zivilisten und 137 unter Soldaten, und auch Reval hatte den Höhepunkt noch nicht erreicht. Es ist bekannt, dass im Krimkrieg mehr Menschen an der Cholera starben, als an den direkten Einwirkungen des Krieges. 1854 verlangte sie in Reval 944 Opfer bei 1.676 Erkrankten (56,3%). Ein letztes Mal traf die Cholera Reval 1871/72 in zwei Wellen, von März bis September und von Dezember bis Januar. Insgesamt erlagen der Seuche 100 der 291 Erkrankten. Zugleich lag in Dorpat die Sterblichkeit noch bei über 50%. Von den 34 Erkrankten im Jahre 1873 starb nur noch eine Person. Abgesehen von zwei Erkrankungen 1894 und zwei Toten (bei drei Erkrankungen) 1909 blieb Reval von der Krankheit verschont, während andere estnische Städte noch weitaus stärker betroffen waren. Die Investitionen in eine moderne Wasserversorgung seit den 1880er Jahren haben sich für Reval ausgezahlt. Quelle: Vortrag von Tiit Rosenberg (Universität Tartu) zur Cholera in Estland, der voraussichtlich 2011 im 6. Band der Zeitschrift »Forschungen zur baltischen Geschichte« auf Deutsch erscheinen wird.

Der russische Literaturhistoriker Aleksander P. Miljukov, der Reval Ende der 1840er Jahre besuchte, bekannte, dass man ihn vor der Enge und dem Reval in Krieg und Frieden 

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Gestank der Altstadt gewarnt habe. Er hingegen fand nicht nur den Anblick Revals von See her geradezu neapolitanisch – ein typischer Vergleich zu der Zeit auch in der deutschen Literatur –, sondern versicherte seinen Lesern, dass die engen, von hohen altertümlichen Häusern umrahmten Straßen Reval erst seinen »besonderen Charakter« verliehen. Die Stadt stecke voller Leben, auch wenn hier viel weniger Menschen unterwegs seien als in St. Petersburg. Anstelle des Geklappers der Kutschen höre man überall Klavierspiel – »aus jedem Haus erschallen die Töne alter deutscher Walzer«. Er empfand die Stadt wie eine deutsche Küche mit einer tüchtigen Hausfrau, die alles ungeachtet der Enge gemütlich und sauber einzurichten wisse. Daher konnte seiner Ansicht nach keine Rede davon sein, dass es dort übel rieche, im Gegenteil. Miljukov schwärmte von der angenehmen Mischung von »Bier und geröstetem Kaffee«, deren Duft durch die Straßen der alten Hansestadt zog. Vielleicht hatte Miljukov einfach das Glück einer frischen Brise, welche die Ausdünstungen der Altstadt während seiner Anwesenheit in alle Winde zerstreute. Auch Reval fiel unter den Senatsbeschluss von 1809, demzufolge im Reich nur noch nach einem Katalog von bestimmten klassizistischen Fassadentypen gebaut werden durfte. Die Tätigkeit von Carl Ludwig Engel, dem Schöpfer des Senatsplatzes in Helsinki, als Stadtbaumeister Revals von 1808 bis 1814 hat mit Ausnahme des Stadtpalais der Adelsfamilie Kaulbars auf dem Domberg, in dem sich heute die Kanzlei des Justizkanzlers befindet, kaum Spuren im Stadtbild hinterlassen. In dieser Krisenzeit wurde ohnehin wenig gebaut. Zudem waren seit Pauluccis Bauordnung Hansen zufolge alle neuen Häuser »in einem Kasernenstyl« angelegt. Zugleich wurde seither darauf geachtet, dass die Vorstadtbebauung sich an einem mehr oder weniger virtuellen Straßennetz orientierte; auch wurde vornehmlich in der Altstadt die Straßenbeleuchtung erneuert. Zuvor hatten die Leuchten an Seilen gehangen, die zwischen den Häusern gespannt waren. Zum Verdruss der Nachtwächter hatten ihnen kleine Jungs (unter ihnen offensichtlich auch Hansen) gerne den Streich gespielt, die Seile zu lösen, sodass die Lampen auf den Boden sanken und nur noch den unteren Teil der Straße beleuchteten. Nun wurden sie auf Holzsäulen am Straßenrand bzw. direkt an den Steinhäusern befestigt. Seit 1846 stieg die Stadt auf Spiritus als Brennmaterial um, das immerhin nicht teurer war als das zuvor verwendete Hanföl und erheblich heller leuchtete. Erhebliche Mittel verschlang in dieser Zeit auch die umfassende Renovierung der Olaikirche, die 1820 einem Brand zum Opfer gefallen war und mit Unterstützung der Staatskasse erst 1840 wieder in neuem Glanz 174  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

erstrahlte. Aber auch während des Wiederaufbaus, als der Gottesdienst in die Große Gilde verlegt werden musste, war es offensichtlich möglich, den abgebrannten Turm als Aussichtsplattform zu benutzen. Bulgarin jedenfalls entschädigte der Ausblick »im Überfluss« für alle Mühen des Altstadtspaziergangs. Zudem galt der Turm von St. Olai, der einst 159 m gemessen haben soll, immer noch als eines der höchsten Gebäude der Welt, was kaum je einer der russischen Reisenden zu erwähnen vergaß. So sicherte sich schließlich das Russländische Reich einen Platz auf den damaligen Rekordlisten. Schon Miljukov jedoch ahnte die bevorstehenden Veränderungen im Antlitz der Stadt. Nach einem Spaziergang über den nahezu menschenleeren Domberg – der Adel pflegte den Sommer ja auf seinen Landgütern zu verbringen – erklärte er ihn zum »verlassenen Nest des verstorbenen Rittertums«, das in seinen eigenen Denkmälern vor sich hin vegetiere. Auch wenn dieser Teil seiner Prognose etwas voreilig war, hatte er in einem anderen Punkt Recht: Bald schon, so prophezeite er weitsichtig, werde es auf den alten Wällen einladende Park­anlagen geben. Städtebauliche Änderungen ließen in der Tat nicht lange auf sich warten. Die Stadt begann, über die Wallanlagen hinaus zu wachsen.

3. Aus dem Mittelalter in die Moderne.   Reval auf dem Weg zur Metropole Wie in vielen anderen europäischen Städten auch war die Aufhebung des Festungsstatus für Reval (1857) von entscheidender Bedeutung auf dem Weg zu einer modernen Metropole. Dabei waren noch während des Krimkriegs 1853–1856 einige der mittlerweile aufgegebenen Befestigungsanlagen prophylaktisch wieder aktiviert worden. Frankreich und England hatten damals eine Flotte von 80 Kriegsschiffen in der Ostsee stationiert, die sich jedoch weitgehend auf die Blockade des Handels beschränkten. Immerhin stand mehrfach ein Angriff auf Reval zu befürchten, das seit Februar 1854 unter Kriegsrecht stand. Noch im Frühjahr wurde die zwischen Stadt und Meer gelegene Fischermay (Kalamaja) an der Reeperbahn mit ihren pittoresken Holzhäusern und Gärten auf Anordnung der Militärbehörden niedergerissen. Die bereits in den 1830er Jahren errichtete »Westbatterie«-Kaserne am Ufer wurde sorgfältig befestigt. Zwar endete die Blockade aufgrund des Eisgangs im Oktober, doch beeilten sich England und Frankreich selbige im folgenden Frühjahr erneut zu errichten, was den Revaler Seehandel zum Erliegen brachte und zu einer erheblichen Teuerung führte. Zu nennenswerten Reval auf dem Weg zur Metropole 

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erstrahlte. Aber auch während des Wiederaufbaus, als der Gottesdienst in die Große Gilde verlegt werden musste, war es offensichtlich möglich, den abgebrannten Turm als Aussichtsplattform zu benutzen. Bulgarin jedenfalls entschädigte der Ausblick »im Überfluss« für alle Mühen des Altstadtspaziergangs. Zudem galt der Turm von St. Olai, der einst 159 m gemessen haben soll, immer noch als eines der höchsten Gebäude der Welt, was kaum je einer der russischen Reisenden zu erwähnen vergaß. So sicherte sich schließlich das Russländische Reich einen Platz auf den damaligen Rekordlisten. Schon Miljukov jedoch ahnte die bevorstehenden Veränderungen im Antlitz der Stadt. Nach einem Spaziergang über den nahezu menschenleeren Domberg – der Adel pflegte den Sommer ja auf seinen Landgütern zu verbringen – erklärte er ihn zum »verlassenen Nest des verstorbenen Rittertums«, das in seinen eigenen Denkmälern vor sich hin vegetiere. Auch wenn dieser Teil seiner Prognose etwas voreilig war, hatte er in einem anderen Punkt Recht: Bald schon, so prophezeite er weitsichtig, werde es auf den alten Wällen einladende Park­anlagen geben. Städtebauliche Änderungen ließen in der Tat nicht lange auf sich warten. Die Stadt begann, über die Wallanlagen hinaus zu wachsen.

3. Aus dem Mittelalter in die Moderne.   Reval auf dem Weg zur Metropole Wie in vielen anderen europäischen Städten auch war die Aufhebung des Festungsstatus für Reval (1857) von entscheidender Bedeutung auf dem Weg zu einer modernen Metropole. Dabei waren noch während des Krimkriegs 1853–1856 einige der mittlerweile aufgegebenen Befestigungsanlagen prophylaktisch wieder aktiviert worden. Frankreich und England hatten damals eine Flotte von 80 Kriegsschiffen in der Ostsee stationiert, die sich jedoch weitgehend auf die Blockade des Handels beschränkten. Immerhin stand mehrfach ein Angriff auf Reval zu befürchten, das seit Februar 1854 unter Kriegsrecht stand. Noch im Frühjahr wurde die zwischen Stadt und Meer gelegene Fischermay (Kalamaja) an der Reeperbahn mit ihren pittoresken Holzhäusern und Gärten auf Anordnung der Militärbehörden niedergerissen. Die bereits in den 1830er Jahren errichtete »Westbatterie«-Kaserne am Ufer wurde sorgfältig befestigt. Zwar endete die Blockade aufgrund des Eisgangs im Oktober, doch beeilten sich England und Frankreich selbige im folgenden Frühjahr erneut zu errichten, was den Revaler Seehandel zum Erliegen brachte und zu einer erheblichen Teuerung führte. Zu nennenswerten Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Kampfhandlungen kam es aber auch in diesem Jahr nicht, wie ein Augenzeuge sich erinnerte: »Wohl drohte die feindliche Flotte mit einigen nach Marienberg, der damaligen Zuckerfabrik, gezielten Schüssen, deren zwei schön polierte Kugeln, die als Rarität nach Petersburg geschickt wurden, weder dort noch sonstwo Schaden anrichteten«. Dafür – kein Krieg ohne technische Innovation – war Reval von nun an per Telegraf mit der Hauptstadt verbunden. Nach dem Frieden von Paris setzte die neue Regierung von Alexander II. (1855–1881, *1818, †1881) die Erfahrungen des Kriegs in Reformen des Verteidigungswesens um. Hierzu zählte auch die Aufgabe der alten städtischen Festungswerke, die noch auf der Karte (s. Umschlag) von 1856 zu erkennen sind. Gerade in Anbetracht der sozialen Segregation der städtischen Einwohnerschaft Revals, deren (deutsche) Elite in der von Mauern umgebenen Altstadt lebte, war die Schleifung der Wälle durchaus von symbolischer Bedeutung. Zwar änderte sich an der Verteilung von Arm und Reich grundsätzlich wenig. Aber die Stadt reagierte auf die Anforderungen der Zeit, in der Zirkulation und Kommunikation innerhalb der eigenen Grenzen genauso zum notwendigen Attribut des Wachstums wurden wie gewisse Mindeststandards an Lebensqualität. Vor allem aber wurde sie zu einem Bevölkerungsmagnet. Seitdem die estländische Bauerverordnung aus dem Jahre 1856, die neue russische Passordnung von 1863 und die Landgemeindeordnung aus demselben Jahr den Bauern mehr Bewegungsfreiheit verschafft und die Einführung der Gewerbeordnung von 1866 das Handwerk freigegeben hatten, bot sich die Stadt als Auffangbecken für den demographischen Zuwachs an, den das Gouvernement in diesen Jahren verzeichnete. Lebten 1871 knapp 30.000 Einwohner in Reval, waren es 1913 über 115.000. In Bezug auf die schiere Größe und das Tempo des Wachstums blieb Reval zwar hinter Riga zurück, dessen Bevölkerungszahl von gut 100.000 (1867) bis 1913 auf eine halbe Million wuchs. Trotzdem konnte die Vervierfachung der Einwohnerzahl in gerade einmal vierzig Jahren nicht ohne Einfluss auf die äußere Gestaltung Revals bleiben. Die Aufhebung des Festungsstatus war hierfür die wichtigste Voraussetzung. Städtebauliche Veränderungen Nachdem 1858 das Areal der landseitigen Stadtmauer feierlich den zivilen Autoritäten in Unterstadt und Dom übergeben worden war, gelangten 1864 bis 1867 auch die seeseitigen Anlagen an die Stadt. Damit konnte das Zen176  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

trum die mittelalterlichen Mauern überspringen, was aber auch bedeutete, die infrastrukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts waren einige der alten und baufälligen Tore wie die Kleine Strandpforte und die Türme der Großen Strand- und der Karripforte abgerissen worden. Um den Verkehr zwischen Altstadt und den Vorstädten über die nun nutzlos gewordenen Wallanlagen zu ermöglichen, mussten Verbindungen geschaffen werden und damit auch weitere Durchbrüche in der Stadtmauer. Während im Südosten die dichte Bebauung der Altstadt im Laufe der Jahre bis an die verlängerte Pernausche Straße fortgesetzt wurde, entstanden vor allem unterhalb des Dombergs weitläufige Parkanlagen. So wurde aus dem Patkull-Graben ein nach dem städtischen Gärtner Johann Schnell benannter Teich (Snelli tiik), der im Winter zur beliebten Eislaufanlage wurde, an die der Park des Estländischen Gartenbauvereins grenzte. Im Westen der Altstadt wurde hingegen Raum geschaffen für repräsentative Bauten, deren weiträumige Anlage einen merklichen Kontrast zur Enge der Altstadt setzte. In den Worten des Lokalhistorikers Axel von Gernet: »Die Wälle wurden grösstentheils niedergelegt und teilweise zu Promenaden umgeschaffen, die Schweden- und Ingermanlanndbastion (im Süden) und die Schonenbastion im Norden zu prächtigen Anlagen umgewandelt. Die Gräben sind theils in Privatbesitz übergegangen, theils sind sie zugeschüttet und das auf diese Weise gewonnene Territorium zur Anlage grosser Bauwerke benutzt worden, wie denn überhaupt das Bauwesen Revals, seitdem der wirth­schaftliche Aufschwung der Stadt begann, grosse Dimensionen angenommen hat: unbebaute Plätze wurden bebaut, alte Häuser müssen Neubauten weichen, es entstehen zahlreiche fundamentale und stylvolle Gebäude«. Auch aus der »Westbatterie« wurde 1864 eine Kaserne, bevor 1920 dort das »Patarei«-Gefängnis einzog. Einstweilen wurden Kriminelle traditionsgemäß in der »Dicken Margarethe« verwahrt. Ende des 19. Jahrhunderts waren nur noch 26 der einst 46 mittelalterlichen Türme erhalten. Der Gedanke, sie als historische Denkmäler zu bewahren, kam indes erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Noch 1870 hatte der Rat erklärt, dass die Stadt an der Erhaltung der Stadtmauer keinerlei Interesse habe und höchstens die Große Strandpforte und der Turm Kiek in de Kök bewahrt werden könnten. Nach einem 1869 erstellten Plan wurden zunächst die Kanonengasse, die Große Klosterstraße und die Kleine Karristrasse über den Festungsstreifen mit den zugeschütteten Wallgräben geführt und die Mauer abgetragen. Wie aufwändig sich diese Arbeiten gestalteten, zeigt der Umbau der Lehmstraße (Viru tänav), der allein von 1888 bis 1899 dauerte. Letztere mündete nun in den Russischen Markt, der erst allmählich Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Form annahm und von dem 1873 errichteten Spritzenhaus und dem etwas älteren Haus der Kaufmannsfamilie Rotermann mit seinen Läden im Erdgeschoss (vgl. Taf. XI) gesäumt wurde. Südlich hiervon befand sich im ehemaligen Festungsstreifen vor der Karripforte der Neue oder Viktualienmarkt. Der Rathausplatz war für das Markttreiben schon längst zu klein geworden und für die Fuhrleute durch die engen Straßen schlecht zu erreichen. Die Einweihung des Neuen Markts zog sich indes noch bis Oktober 1896 hin. Damals standen auf diesem Areal schon die 1883 fertig gestellte Petri-Realschule (Max Höppener, Carl Gustav Jacoby) und das Bezirksgericht (Erwin Bernhardt, 1894). Auch der Domberg wurde unter der Regie des Ältermanns der Domgilde, Hans Heinrich Falck, über die in Parks umgewandelten Bastionen mit neuen Straßen zu den Vorstädten hin geöffnet. Die 1868 fertig gestellte Neue Promenade als Teil einer Ringstraße um die Altstadt herum wurde seit 1870 von der neoromanischen estnischen Karlskirche (Otto Pius Hippius) gekrönt. Bei aller Energie, die in den Umbau der Wallanlagen gesteckt wurde, konnte nicht alles gleichzeitig geschehen. Der Heumarkt z.B., am Fuß der Bastion Ingermanland vor der ehemaligen Schmiedepforte am Beginn der Neuen Promenade gelegen, blieb nach dem vom Gouvernementsarchitekten Christoph August Gabler geleiteten Bau der estnischen Johanniskirche 1867 für ein halbes Jahrhundert nahezu unverändert. Verkehr. Einen weiteren modernen Akzent im Stadtbild setzte in diesen Jahren die am 24. Oktober 1870 eröffnete Eisenbahnverbindung von Baltischport über Reval nach St. Petersburg. Dieser Anschluss an das reichsweite Eisenbahnnetz war ökonomisch von erheblicher Schubwirkung, auch wenn die Stadt trotz vieler Pläne bis zum Ende des Zarenreichs keine direkte Verbindung mit Zentralrussland erhielt. Die Eisenbahn machte somit den Ausbau der Stadt letztlich erst möglich, wodurch sich eine Kette von weiteren Veränderungen ergab. Denn zugleich lockten Revals entstehende Fabriken, der Hafen sowie die Eisenbahnbetriebe selbst immer mehr Arbeitskräfte an. Industrialisierung und Urbanisierung waren hier aufs engste miteinander verbunden. Das wussten auch die Betreiber des Bahnprojekts, die sich unter der Leitung des Ritterschaftshauptmanns Alexander Freiherr von der Pahlen in der Baltischen Eisenbahn-Aktiengesellschaft zusammentaten, nachdem ein erster Antrag in St. Petersburg 1858 gescheitert war. Das bewilligte Projekt kam ohne staatliche Garantien aus, stellte der Regierung aber nach 20 Jahren den Kauf in Aussicht – was angesichts der enormen Staatsschulden der Bahngesellschaft 1893 auch geschah. Wesentlich für die weitere Stadtentwicklung war, dass der Magistrat in Abänderung der ursprünglichen Streckenführung durchsetzten konnte, 178  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

10  Die Karlskirche, ca. 1892

anstelle einer Station in der noch recht menschenleeren südlichen Vorstadt einen Kopfbahnhof in unmittelbarer Nähe von Altstadt und Hafen zu errichten. Hier erwies es sich nun als Vorteil, dass Teile der Fischermay im Krimkrieg abgerissen worden waren. Für den Bau des 1871 fertig gestellten Bahnhofs (Rudolf von Knüpffer) brauchten so keine größeren Bereinigungsarbeiten durchgeführt werden, da die Gegend auch nach gut 15 Jahren noch kaum wieder aufgebaut worden war. Der für die Streckenführung notwendige langsame Abstieg vom Laaksberg, über den die Schienen aus dem Osten gelegt wurden, brachte Reval schließlich die charakteristische Halbkreistrasse, welche beinahe die ganze Innenstadt umschloss. Sie sollte für die weitere Entwicklung der Stadt schon deswegen bedeutsam werden, weil sich an ihr neue Industriebetriebe wie die Meyersche Chemiefabrik, die EisenbahnWerkstätten, aber auch eine technische Berufsschule für Eisenbahnarbeiter ansiedelten (nach dieser Schule heißt die am Bahndamm entlang führende Straße noch heute »Tehnika«). Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Aber nicht nur der moderne Fernverkehr wurde in die Stadt integriert, sondern auch erste Ansätze eines öffentlichen Nahverkehrssystems. Noch in den 1820er Jahren war Reval mit ein paar Kutschen ausgekommen, die auf dem Rathaus- und dem Heumarkt auf Kunden warteten. Deren Zahl war seit den 1850er Jahren gestiegen, da von nun an diesem Beruf keine Beschränkungen mehr auferlegt wurden. In den 1880er Jahren sah die Stadtverwaltung die Notwendigkeit, für ein fahrplanmäßiges Verkehrsmittel zu sorgen und begann, nach dem Vorbild Rigas, wo seit 1882 eine Pferdebahn verkehrte, nach geeigneten Konzessionären zu suchen. Im April 1888 übernahm eine Gruppe von adligen deutschbaltischen Geschäftsleuten den Betrieb dreier Linien. Schon im August fuhr die erste Pferdebahn für fünf Kopeken alle zehn Minuten die Narvsche Straße vom Russischen Markt nach Katharinental hinunter, noch im selben Jahr wurde eine zweite Linie eröffnet, welche die Dörptsche Straße bediente. Beide Linien wurden nach der Fertigstellung der verlängerten Lehmstraße bis zum Alten Markt in der Altstadt erweitert. Liebevoll von den Revalensern nach dem russischen kon’ (Pferd) »konka« genannt, erfreute sich dieses für die Zeit unerhört schnelle Verkehrsmittel rasch wachsender Beliebtheit. Vor allem die Linie nach Katharinental wurde in den ersten Jahren von über 1.500 Personen pro Tag genutzt, wobei eine Geschwindigkeit von 12 km/h gerade noch als zulässig

11  Sommerwaggon der »Konka«, ca. 1895 180  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

galt. Trotz dieses Erfolges rissen die Beschwerden der Fuhrleute wegen der Konkurrenz und der Hausbesitzer wegen des Lärms nicht ab, weshalb die geplante dritte Linie vom Alten Markt zum Bahnhof doch nicht gebaut wurde. Erst als die Konzession 1898 in belgische Hände überging, wurde das Liniennetz erweitert: Seit 1901 führte eine dritte Linie vom Russischen Markt über den Heumarkt zur Pernauschen Straße. Vor dem Ersten Weltkrieg nutzten nahezu 6.000 Menschen täglich eine der drei Linien. Der Baltische Bahnhof jedoch blieb bis zur Schließung der Pferdebahn in den Kriegs- und Re­vo­lutions­jahren 1917/18 ohne Anschluss. Lebensverhältnisse. Dank der Errichtung eines modernen Gaswerks durch die Rigaer Firma Weir & Co wurde die Straßenbeleuchtung schon in den 1860er Jahren modernisiert. Bereits 1865 gab es 232 Gaslaternen in der Altstadt sowie den größeren Straßen der Vorstädte. Erst Ende der 1870er Jahre stieg auch der Domberg auf Gas um. Zugleich übernahm die Stadt das Gaswerk und legte Gasleitungen auch in die Vorstädte. Hier ersetzte zunächst meist Petroleum den Spiritus, bevor das Netz der Gaslaternen bis zum Ersten Weltkrieg ständig erweitert wurde. Unter den Bedingungen der wachsenden Stadt war es nicht einfach, die langsam reifende Erkenntnis umzusetzen, die Stadt habe ihren Bürgern schon aus Gründen der Epidemieprophylaxe gewisse Grundstandards an Lebensqualität zu bieten. So begann Reval mit Hilfe von Konzessionären in den 1860er Jahren mit dem Umbau der städtischen Wasserversorgung. 1867 stellte Weir & Co auch ein Wasserwerk fertig, dessen Kapazitäten allerdings begrenzt waren. Es versorgte neben der Altstadt nur die Häuser entlang der Dörptschen Straße, öffentliche Brunnen und Hydranten, den Hafen sowie das Gaswerk. Schon wenige Jahre später mehrten sich die Klagen über den zu niedrigen Wasserdruck und die trübe Qualität des Produkts. Zugleich blieben die wachsenden Vorstädte von diesem System ausgeschlossen – und die Polizei verbot in den 1880er Jahren mehrfach, das Wasser des mittlerweile zur Kloake gewordenen Flusses Härjapea zu nutzen. Mit Hilfe des neu errichteten Wasserturms am Antoniusberg (Tõnismägi) und einer neuen Pumpstation wurde in den Jahren 1881 bis 1883 das mittlerweile von der Stadt betriebene System ausgebaut. Die knapp 10 km Rohrleitung wurden bis 1915 auf über 80  km erweitert, sodass nun auch Domberg und Vorstädte, immerhin über 40% der Häuser der Stadt, versorgt waren. Nur der in stürmischen Zeiten vom Oberen See in das System gelangende Schlamm und die vor allem im Sommer zuweilen spürbare Wasserknappheit machten deutlich, dass auch das erweiterte Netz die Stadt nicht adäquat versorgen konnte. Trotz zahlreicher Untersuchungen und Projekte, die den Einbau Reval auf dem Weg zur Metropole 

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von Filtern und den verstärkten Gebrauch des Grundwassers vorsahen, geschah nichts. Parallel zur Erneuerung der Wasserversorgung verlegte man in den Jahren 1872 bis 1894 zumindest in der Altstadt auch ein neues Kanalisationsnetz, wobei die alten steinernen Kanäle erneuert bzw. mit Keramikrohren ersetzt wurden. Noch 1872 war es auf dem Domberg üblich, die Abwässer einfach in offenen Kanälen »hinunterzuspülen«, bevor auch hier zu Beginn der 1880er Jahre der Aufbau eines Abwasser- und Wassersystems einsetzte. Zugleich wurden auch die Vorstädte an das Kanalisationsnetz angeschlossen. Allerdings wurden weiterhin die Abwässer zum Teil in die Härjapea geleitet, die erst 1923 wenigstens abgedeckt wurde. Für die Verlegung von Keramikrohen wurden die Grundbesitzer zu Kasse gebeten, welche die Hälfte der Kosten selbst zahlen mussten und die andere Hälfte für 6% Zinsen der Stadt liehen. Immerhin kam Reval somit 1905 auf ein Kanalisationsnetz von 46  km, das bis 1915 auf knapp 70  km ausgeweitet wurde und tatsächlich dafür sorgte, dass die Bevölkerung vor größeren Epidemien verschont blieb. Die Stadt verfügte am Vorabend des Ersten Weltkriegs somit über ein leidlich modernes Kanalisationswesen. Das schleichende Problem der Wasserverschmutzung machte zu dieser Zeit zwar nicht nur Reval zu schaffen. Eine moderne Kläranlage erhielt die Stadt aber erst in den 1920er Jahren. Ebenso fehlte der Stadt ein modernen Ansprüchen genügendes Krankenhaus. Noch immer war das Ende des 18. Jahrhunderts eingerichtete und seither Stück für Stück erweiterte Hospital des Kollegiums der Allgemeinen Fürsorge in Joachimstal die einzige zentrale Einrichtung, die aber vom Staat, nicht von der Stadt getragen wurde. An einer ganzen Reihe von spezialisierten Privatkliniken leistete eine große Zahl von Ärzten zwar viel für das Gesundheitswesen insgesamt, zumal sich hier oft Stiftungen und Wohltätigkeitsvereine auch für die Ärmsten engagierten. Es fehlte aber weiterhin an einer allen zugänglichen Grundversorgung. Das Haus des Kollegiums verfügte 1850 über 85 Betten, aus denen im Laufe der Zeit immerhin 300 wurden. Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten hier nach einer Statistik von 1917 schließlich sechs Ärzte, vier Feldscher, zwei Geburtshelferinnen, zehn Schwestern und ein Apotheker mit seinem Assistenten. Trotzdem beklagte sich Dr. August F. Spindler, der Autor dieser Statistik, wortreich darüber, dass es in ganz Reval, einer Stadt mit 135.000 Einwohnern und 1.700 polizeilich registrierten Prostituierten, nur jene 15 Betten für weibliche Patienten mit Geschlechtskrankheiten im Hospital des Kollegiums gab: »Dort liegen in einem Raum Prostituierte und ehrliche Frauen aus dem Dorf mit ihren Kindern«. 182  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Industrialisierung und Stadtverwaltungsreformen Wirtschaftsboom. Dass Reval Provinzhauptstadt des Russländischen Reiches war, bekam der Bürger bis weit in das 19. Jahrhundert hinein kaum zu spüren. Die russischen Ostseeprovinzen lebten ein vergleichsweise abgeschottetes Leben, das nach dem Experiment mit der Statthalterschaftsverfassung unter Katharina II. wieder in den gewohnten ständisch-tradi­tionellen Bahnen verlief. Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz vollzog sich aber eine profitable Integration des Revaler Handels in den russischen Markt. Der meist eisfreie Revaler Hafen wurde vor allem in den Wintermonaten wieder zu einem Vorhafen St. Petersburgs und erlebte binnen kürzester Zeit einen rasanten Aufschwung vor allem dank seiner Funktion als Importhafen: Revals Import übertraf den Export stets um ein Vielfaches. Ein Großteil der Importwaren – 1913 mehr als zwei Drittel – wurde dabei in die russischen Gouvernements transferiert. Hatte der Transithandelsumschlag Mitte der 1860er Jahre noch bei 1.117.000 Rbl. gelegen, stieg er 1871 auf 12.780.000, 1873 auf 28.750.000 und 1880 sogar auf 131.310.000 Rbl. Eingeführt wurde vor allem Baumwolle, womit die Narvaer Manufaktur Kränholm (Kreenholm) beliefert wurde, aber auch Rohstoffe wie Steinkohle und Erz sowie Halbfabrikate aus Großbritannien und dem Deutschen Reich. Unter den Ausfuhrwaren rangierte Getreide an erster Stelle, das zunehmend aus Sibirien stammte. Vor allem Finnland wurde aus Reval mit Mehl versorgt; zu den übrigen Exportwaren zählten Salz, Spiritus, Papier und Strömlinge, die berühmten Revaler »Killlos« oder »Kilki«. Bis zur Jahrhundertwende wurde auch estnische Butter ausgeführt; jedoch hatten die günstigen Eisenbahntarife zur Folge, dass auch die billigere sibirische Butter über Reval in den Export ging. Ihre Rolle als Lebensmittelexporthafen verlor die Stadt allerdings zu­nehmend, da ein Kühlhaus fehlte. Zudem waren die südlicher gelegenen Häfen Livlands (Riga) und Kurlands (Windau, lett. Ventspils) besser an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen, was sich vor allem nach Fertigstellung der Transsibirischen Eisenbahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkbar machte. Während 1900 54,6% des russischen Butterexports über Reval liefen, waren es 1903 nur noch 1,9%. In den Hochzeiten nach 1906 lief aber weiterhin bis zu einem Drittel der gesamtrussischen Ausfuhr an Rohstoffen und Halbfabrikaten über Reval. Trotzdem waren andere Handelshäfen in einer besseren Position, da der Staat dort investierte, während er Reval in erster Linie als Kriegshafen sah. Die Bahnverbindung seit 1870 belebte auch die lokale Industrie, so gab es 1881 allein sieben Maschinenfabriken und Metallgießereien sowie u.a. Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Seidensiedereien, Baumwollspinnereien, aber auch Zellulose-, Spiritus-, Zündhölzer- und Tapetenfabriken. Während die erhöhten Einfuhrzölle in den 1880er Jahren die Revaler Außenhandelsbilanz reduzierten (weshalb der Hafen ausgebaut, ein Elevator errichtet und 1895 ein erster Eisbrecher erworben wurde), förderten sie die weitere industrielle Konzentration in der Stadt: Waggonfabrik »Dvigatel’«, Krullsche Maschinenfabrik (später Generatorenwerke »Volta«), die Wiegandsche Maschi­nen­fabrik (später »Ilmarine«), die Baltische Textilfabrik sowie die Luthersche Möbelfabrik, die sogar ein Schwesterunternehmen in London besaß. 1899 zählte die Stadt bereits über 100 Industriebetriebe und bald 8.000 Arbeiter. Der Kampf um die Kunden wurde auch auf dem heimischen Markt erbittert geführt. So hatte die 1832 gegründete Brauerei Pfaff 1893/94 zwar die modernste Malzfabrik des Zarenreiches errichtet. Der Konkurrenz der seit 1896 bei Reval beheimateten Brauerei Sack (Saku), die 1830 auf dem gleichnamigen Gut nahe der Stadt gegründet worden war, konnte Pfaff jedoch nichts entgegensetzen. Auch die Umbenennung 1907 in Revalia verhinderte die Übernahme durch Sack nicht, das – gestützt vom Bankhaus Scheel – den Markt mit billigerem Bier belieferte. Nach den Wirren der Revolution von 1905 (s.u.) erlebte Reval vor dem Ersten Weltkrieg eine kurze, aber heftige Phase des Aufschwungs. Es wurde 1909 zum zentralen Ort für den russischen Kriegsschiffbau erklärt, woraufhin der Staat seit 1912 den Bau der Seefestung »Imperator Peter der Große« zum Schutz der Hauptstadt vorantrieb. Vor allem die Insel Nargen (Naissaar) bildete das Zentrum der dritten Verteidigungslinie, die über den Finnischen Meerbusen zur Halbinsel Porkkala reichte und von der Helsinki vorgelagerten Inselfestung Sveaborg (finn. Suomenlinna) flankiert wurde. Ende Juli 1914 legte Kaiser Nikolaus II. (1894–1917, *1868, †1918) höchstpersönlich den Grundstein für den Bau eines Kriegshafens auf der Halbinsel Paljassaar. Ein 1912 errichtetes großes Wohn- und Geschäftshaus an der Bäcker Straße (Pagari tänav) in der Altstadt wurde noch 1917 angekauft, um dort den Hauptstab der Seefestung einzurichten – es kam später in den Besitz des estnischen Verteidigungsministeriums und später herrschte hier der KGB. 1913 setzte unter Einsatz französischen Kapitals der Kriegsschiffsbau im großen Maßstab ein. Hierfür gründete man die Russisch-Baltischen Schiffsbauwerke (Schneider-Creusot) und verlegte die Libauer Boecker AG (auch: Becker) unter der Regie der Normand-Werft aus Le Havre nach Reval. 1916 waren über 15.000 Arbeiter allein im Hafen tätig, der sich dank der Werften nun bis an die Spitze der Halbinsel Ziegelskoppel (Kopli) hinzog. Damit war Reval endgültig zum größten Industriezentrum des estnischen Sprachraums geworden und hatte Narva mit seiner Textilindustrie hinter sich gelassen. 184  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Kaufleute und Handwerker in Reval Die soziale Exklusivität des Kaufmannstandes wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgebrochen. Es gab nun in Reval gildische und nicht-gildische Kaufleute. Zwar wurde noch 1860 der Wunsch einiger deutscher nicht-gildischer Kaufleute nach der Gründung einer eigenen Korporation vom Magistrat abgelehnt, doch war dies letztlich nur Ausdruck des schwelenden Konflikts und der zunehmenden Schwäche der Großen Gilde; die russischen Kaufleute verfügten ohnehin schon über eigene Berufs­organisationen. Mit der 1872 erfolgten Gründung des Revaler Börsenvereins (nach dem seit 1816 bestehenden Rigaer Vorbild) wurde diesem Umstand schließlich Rechnung getragen. Ihm konnte jeder Kaufmann der I. und II. Steuergilde beitreten. Exklusivität wurde nicht mehr nach Herkunft und Tradition gewährt, sondern in Relation zur jeweiligen individuellen wirtschaftlichen Potenz. Nach den Angaben der Volkszählung von 1871 gab es in Reval 195 Kaufleute, darunter auch 14 Frauen, die als »Kauffrauen« oder »Kommissionärinnen« geführt wurden. Zudem waren 96 Kleinhändler und Trödler, ihre 32 Hilfskräfte sowie 74 »Hökerinnnen« in der Stadt registriert, wie auch 305 nicht-selbständige Kaufleute. Insgesamt waren – ohne den Domberg – 825 Personen im weitesten Sinne im Handel tätig, davon 181 weiblichen Geschlechts. Interessanterweise waren 32% der selbständigen Kaufleute Revals Russen. Esten machten 52% der Trödler und Kleinhändler aus. Damit drängten sie den russischen Anteil am Kleinhandel, der 1823 noch fast 70% betragen hatte, auf 29% zurück. Nach wie vor stellten die Deutschen die Mehrheit der selbständigen Kaufleute (62%). Folgt man den Angaben der gesamtrussischen Volkszählung von 1897 (in der die sozialen Kategorien nicht ganz mit denen von 1871 übereinstimmen), hatte sich der Anteil der im Handel tätigen Personen von 29,3% (1871) auf 32,7% erhöht, was für eine Verdichtung des Geschäftsnetzes angesichts der steigenden Bevölkerungszahl spricht. Da dieser Zuwachs vor allem Esten nach Reval brachte, überrascht es nicht, dass im selben Zeitraum die Zahl der männlichen estnischen Handeltreibenden von 81 auf 719, also um 788% stieg, wogegen der deutsche und russische Zuwachs (38 bzw. 35%) vernachlässigbar scheint: Ihr jeweiliger Anteil an den Handeltreibenden sank dementsprechend von 57 auf 33% bzw. von 27 auf 33%, während der Anteil der Esten von 12 auf 42% stieg. Auch waren mittlerweile 50 Esten beiderlei Geschlechts in den »Kaufmannstand« eingetreten. Während die Deutschen weiterhin im Finanzwesen, Kommissions- und Textilhandel, bei Haushalts- und Metallwaren, sowie im Buch- und Kunsthandel führend waren, dominierten die Russen den Handel mit Pelz- und Lederwaren. Esten machten ihre Geschäfte vor allem mit Landwirtschaftsprodukten. Auch bei den Handwerkern brachen die alten sozialen Hierarchien weg. Noch 1844 hatte es die Kanutigilde abgelehnt, Gesellen, wie es in einem Antrag hieß, zu ihrer »Versittlichung« bei Abendgesellschaften zuzulassen. Knapp zwanzig Jahre später wurde es ihnen gestattet. Im Handwerkerstatut von 1866 wurde

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endgültig jedermann ohne Unterschied der Religion, des Standes oder Berufs die »freie Ausübung jeglichen Handwerks und Anlage von Gewerbe-Anstalten« gestattet. Der ehemalige Zunftmeister war nun frei, seinen Betrieb auszubauen und zum Kleinindustriellen zu werden. Aus den Zünften wurden spätestens nach der Stadtreform von 1877 (s.u.) reine Berufsverbände, die Große sowie die Kanutigilde wandelten sich zu Geselligkeits- und Wohltätigkeitsorganisationen. Nach den Angaben von 1871 gab es ungefähr 4.000 Handwerker in der Stadt, wobei nur noch gut ein Viertel von ihnen zünftig organisiert war. Zu ihnen gehörten nun auch Bart- und Haarschneiderinnen, sowie Bäckerinnen und Schusterinnen. Zugleich machte dem traditionellen Handwerk die zunehmende industrielle Produktion etwa durch Brotfabriken oder mechanisierte Druckpressen ernsthafte Konkurrenz. Den Fleischern wurde nach der Fertigstellung des Revaler Schlachthauses 1894 verboten, Tiere zu schlachten. Während von 1871 bis 1901 die Einwohnerzahl um das Doppelte anstieg, wuchs die Zahl der Handwerker nur auf ca. 6.000. Bei diesem Zuwachs handelte es sich v.a. um Fuhrleute, aber auch um Bauarbeiter, Schmiede und Schlosser, die auch in den Fabriken gebraucht wurden. Zur gleichen Zeit stieg die Zahl der Industriearbeiter von einigen 100 auf 10.000. Nach den zur Verfügung stehenden Zahlen waren 1913 zwar gut 8.000 Handwerker in Reval tätig; zeitgleich wanderten aber viele von ihnen in die nun boomende Hafenindustrie ab. Allein von 1913 auf 1914 dürfte sich die Zahl der Handwerker um knapp ein Drittel verringert haben. Literatur: Pistohlkors, Gert v., Plakans, Andrejs, Kaegbein, Paul (Hgg.): Bevölkerungs­ver­ schiebungen und sozialer Wandel in den baltischen Provinzen Russlands 1850–1914, Lüneburg 1995.

Reval und die russische Stadtreform. Zu den wesentlichen Veränderungen in der städtischen Politik, welche den Einfluss St. Petersburgs manifestierten, zählte vor allem die Einführung der russischen Stadtreform von 1870 sieben Jahre später in den Ostseeprovinzen. Mit ihr endete die oligarchische Herrschaft des sich durch Kooptation ergänzenden Magistrats und der wenigen »ratsfähigen« Familien. An ihre Stelle trat eine gewählte Stadtverordnetenversammlung (gorodskaja duma) mit ihrem Exekutivorgan, dem Stadtamt (gorodskaja uprava); beiden stand das Stadthaupt (gorodskaja golova) vor. Wählen durften aber nur männliche Steuerzahler über 25 Jahre – besitzende Frauen sowie Institutionen und Körperschaften konnten sich vertreten lassen –, die nach ihrer Steuerleistung in drei Kurien geteilt wurden, von denen jede ein Drittel der 72 Stadtverordneten bestimmte. Als Zugeständnis an die besonderen Verhältnisse in den Ostseeprovinzen war auch den Literaten das Wahlrecht gegen eine Abgabe zugestanden worden. Bei den ersten Wahlen Ende 1877 waren somit 86 Bürger in der 1., 281 in der 2. und 1.610 in der 186  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

3. Kurie wahlberechtigt. Zwar hatten die Deutschen die 1. und 2. Kurie für sich, doch fanden sich in der 3. auch schon zahlreiche wohlhabende Russen und Esten als wahlberechtigt wieder. Gemeinsam mit einigen Vertretern der liberalen deutschen Elite bildeten sie einen Oppositionsblock zur »Ratspartei«, der nur in der 3. Kurie mit einer eigenen Wahlliste antrat, die aus zwölf Deutschen und je sechs Russen und Esten bestand. Tatsächlich gelang es diesem Block, alle 24 Abgeordneten der 3. Kurie zu stellen. Das Stadtamt wurde jedoch mit Vertretern der »Ratspartei« besetzt. Erstes Stadthaupt Revals wurde der populäre ehemalige Ratssyndikus Oskar Riesemann, der in der 3. Kurie auf beiden Listen gestanden hatte und mit 98,8% der Stimmen gewählt worden war. Riesemann jedoch war nur wenige Monate im Amt, bevor er im April 1878 – wahrscheinlich aus Gesundheitsgründen – zurücktrat und durch Alexander Baron Uexküll abgelöst wurde. Man hat schon in dieser ersten Wahl den »Nationalitätenkampf« der späteren Jahre heraufziehen sehen, doch scheint mehr für die Einschätzung zu sprechen, dass 1877 die ständisch orientierte Auseinandersetzung mit der alten Elite stadtpolitisch weitaus entscheidender war. Diese Ablehnung der Ratsherrschaft verband die estnischen und russischen Eliten mit ihren deutschen Kollegen mehr, als dass sie von nationalpolitischen Erwägungen befeuert worden wäre. Auf der anderen Seite scheinen die erfahrenen Stadtpolitiker der Ratspartei nach zunächst deutlich artikulierter Skepsis die Arbeit der Opposition akzeptiert zu haben: Nach den Wahlen von 1881, bei dem die dritte Kurie erneut an den Oppositionsblock ging, wurde dessen estnischer Führer Thomas Jakobson in das Stadtamt gewählt. Auch der estnische Abgeordnete Heinrich Rosenthal erinnerte sich, dass ihm bei seinem Ausscheiden aus der Stadtduma 1889 der Dank des Hauses ausgesprochen wurde »mit Eintragung ins Protokoll«. Zugleich war die Stadtduma immer noch eine Elitenveranstaltung. Nach Schätzungen des amerikanischen Historikers Bradley D. Woodworth waren selbst von den deutschen Einwohnern Revals, die immer noch unangefochten an der Spitze der Wohlstandspyramide der Stadt standen, nur knapp 10% wahlberechtigt. Insgesamt lagen die Geschicke der Stadt 1877 in den Händen von weniger als 5% der Bevölkerung, was aber im Vergleich zur traditionellen Praxis durchaus als Partizipationsexplosion gedeutet werden kann. Gouverneur Šachovskoj. Das entscheidende Signal des »Nationali­ tätenkampfes« ging hingegen Mitte der 1880er Jahre von einem Vertreter des Staates aus. Mit Fürst Sergej V. Šachovskoj (1885–1894, *1852, †1894), der 1885 vom neuen Kaiser Alexander III. (1881–1894, *1845, †1894) zum estländischen Gouverneur bestimmt wurde, mischte sich der Staat wieder Reval auf dem Weg zur Metropole 

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massiv in die Belange der Provinz und ihrer Hauptstadt ein. Es war diese Politik der »Russifizierung«, wie sie ihre Gegner schnell perhorreszierten, die dafür sorgte, dass die in Reval 1877 eingeleitete politische Zusammenarbeit von Deutschen mit ihren russischen und estnischen Partnern nicht mehr weitergeführt wurde. Noch die Wahlen von 1881 hatten darauf hingedeutet, dass die gemischtnationale Opposition auf Dauer angelegt schien: neben 18 Russen und Esten wurden erneut sechs oppositionell eingestellte Deutsche gewählt. Und diese Opposition war durchaus aktiv. Unter ihren Vertretern tat sich neben dem in St. Petersburg geborenen Jakobson vor allem der Pädagoge Aleksandr A. Čumikov hervor. Niemand hat sich in den 1880er und 1890er Jahren in der Stadtduma so häufig zu Wort gemeldet, wie diese beiden wichtigsten Oppositionspolitiker, denen ihre hervorragende Beherrschung des Deutschen zugute kam. Denn noch war Deutsch Sprache der Stadtverwaltung, was auch nach der Verordnung von 1877 zumindest vorübergehend Geltung behielt. Genau hier setzte Šachovskoj an. Er war des Deutschen nicht mächtig, obgleich dies zuvor auch in St. Petersburg stets als Voraussetzung für Gouverneure in den Ostseeprovinzen angesehen worden war. Alexander III. zog in dieser Frage, die für ihn eine Frage der staatlichen Integrität des Imperiums war, andere Saiten auf. Im Februar 1885 unterzeichnete er einen Ukaz, der den ausschließlichen Gebrauch des Russischen in allen staatlichen Behörden der Provinzen forderte. Der nun folgende, aus heutiger Sicht bizarre »Sprachenstreit« förderte eine gehörige Portion Halsstarrigkeit auf beiden Seiten zutage. Šachovskoj verweigerte sich nach seiner Ankunft im April 1885 der Praxis seines Vorgängers, Viktor P. Polivanov (1875–1885, *?, †1889), auf Deutsch verfasste Schreiben der Stadtverwaltung entgegenzunehmen und selbst in Russisch zu antworten, denn er sah dies als offenen Gesetzesbruch an. Auf den Kompromissvorschlag des seit 1883 amtierenden Stadthaupts Thomas Wilhelm Greiffenhagen, der sich bereit erklärte, seinen deutschen Schreiben eine russische Übersetzung beizufügen, ging der Fürst nicht ein. Dies wiederum interpretierte die Ratspartei als Gesetzesbruch. Schließlich setzte Alexander auf Šachovskojs Betreiben Anfang August Greiffenhagen, der eigentlich gut Russisch konnte, ab. Doch damit nicht genug. 1887 forderte Šachovskoj, dass alle gewählten Stadtverwaltungen der Ostseeprovinzen sich auch in ihren internen Amtsgeschäften des Russischen zu befleißigen hätten. Er ließ sogar Angaben über die Russischkenntnisse der Stadtverordneten zusammenstellen, wobei im Falle Revals immerhin herauskam, dass 65,3% (47 Personen) die Staatssprache gut beherrschten, 16,7% (12) geringe und nur 15,3% (11) gar keine Kenntnisse besaßen. Triumphierend konterte 188  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

er das mögliche Gegenargument, nicht alle Abgeordneten könnten Russisch, mit dem Hinweis, dass es auch solche gebe, die des Deutschen nicht mächtig waren. Seine Initiative hatte in St. Petersburg Erfolg: Seit Ende 1889 mussten die Stadtverwaltungen der Ostseeprovinzen ihre Arbeit auf Russisch erledigen. Zudem ließ der Gouverneur die Ausnahmeregelung des Wahlrechts für Literaten kassieren. Tatsächlich hat man sich in Reval mit den neuen Verhältnissen zumindest nach außen hin rasch arrangiert. Greiffenhagens Nachfolger wurde mit Victor von Maydell ein Mitglied des Oppositionsblocks von 1878, der bei der Wahl zur Stadtduma Ende 1885 offiziell bestätigt wurde und bis 1894 im Amt blieb. Zwar hatte Šachovskoj zunächst einen Ministeriumsbeamten haben wollen und später sogar Jakobson vorgeschlagen, doch stießen beide Vorschläge auf den Widerstand des Innenministeriums. So blieb es bei Maydell, der lange Jahre als Eisenbahningenieur im Süden Russlands tätig gewesen und somit der Staatssprache mächtig war. Allerdings verhinderte er trotz eindeutiger Anweisungen aus der Gouvernementskanzlei nicht, dass die Stadtverordneten auf einer Sitzung im September 1885 ihre Sympathie für Greiffenhagen offen zeigen konnten. Trotz dieser Solidaritätskundgebung zeigt seine lange Amtszeit, dass Gouverneur und Bürgermeister von nun an offensichtlich miteinander umzugehen lernten. Die aktive Teilnahme an der Eröffnungszeremonie der ersten Pferdebahnlinie im August 1888 an der Seite des Bürgermeisters ließ sich Šachovskoj zumindest nicht nehmen. 1889 schließlich wurde der endgültige Schlussstrich unter das mittelalterliche Erbe Revals gezogen. Der alte Magistrat, der als juristische Instanz nach 1877 provisorisch weiter ex­istiert hatte, wurde aufgelöst, und der Domberg administrativ mit der Unterstadt vereinigt. Eine wirkliche politische Entmachtung der deutschen Eliten war jedoch nicht zu verzeichnen, widersprach sie doch auch den Interessen des Staates an ruhigen Verhältnissen in den nicht-russischen Grenzregionen des Imperiums. Šachovskoj, der angetreten war, »die Macht der fremdländischen Ordnung« in den Ostseeprovinzen zu stürzen, war zudem kein Taktiker. Er setzte einseitig auf die russische Karte, womit er aber das Konzept der traditionellen ständischen Solidarität zwischen deutschbaltischer Elite und der russischen Krone aufkündigte, das bislang Ruhe und Ordnung garantiert hatte. Die oppositionelle Zusammenarbeit einiger deutschbaltischer Stadtverordneter mit Esten und Russen, die damals wohl die einzige Chance darstellte, wollte man das politische Monopol der Deutschen brechen, kam jedenfalls nicht zufällig 1885 zum Erliegen. Bei den Wahlen am Ende des Jahres war kein deutscher Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Name mehr auf den Listen des russisch-estnischen Blocks vertreten. Zwar entschied dieser die Wahlen in der 3. Kurie erneut für sich, doch blieben die 1. und 2. Kurie fest in deutscher Hand – und damit die Stadtverwaltung. Šachovskoj konnte sich zwar in der Stadtduma bei vielen Fragen auf die Unterstützung Čumikovs und Jakobsons verlassen, durchsetzen konnte er seine Politik auf diesem Wege jedoch nicht. Auch wenn es noch weitere Gründe gab, dürfte Šachovskojs Vorgehen mit dafür verantwortlich zu machen sein, dass diese Konfrontation auf ethnischer Grundlage bis zum Ersten Weltkrieg Konstante der städtischen Politik blieb. Da die Sitzungssprache aber seit 1889 Russisch war, trafen sich von nun an die deutschen Abgeordneten vor den Sitzungen, um ihre Politik abzustimmen, so wie es die Esten und Russen vorher gemacht hatten, als noch auf Deutsch verhandelt wurde. Alexanders III. Stadtreform. Šachovskojs endgültige Niederlage in Reval besiegelte niemand anders als Alexander III. selbst. Im Juni 1892 erging eine weitere Reform der Stadtverwaltung, die diesmal zeitgleich auch in den Ostseeprovinzen eingeführt wurde. Sie hob das Kuriensystem bei der Wahl der Stadtverordneten auf, was immerhin jeder Stimme die gleiche Bedeutung zuwies; zugleich führte sie aber einen reinen Besitzzensus ein, der nun wieder die Deutschen bevorzugte. Hierdurch wurde die Zahl der Wähler der nur mehr 60 Abgeordneten erheblich eingeschränkt. Während 1889 noch 2.784 Personen wahlberechtigt waren, fiel ihre Zahl auf 1.352. Vor allem die ehe­maligen Wähler der 3. Kurie waren nun ausgeschlossen. Bezogen auf die Einwohnerzahl betrug der Anteil der Wähler nur noch knapp 3%. Zudem schränkte die Staatsmacht die relative Unabhängigkeit der Stadtverwaltungen erheblich ein. Hatten sich die Gouverneure zuvor darauf beschränkt, ihre Entscheidungen auf ihre Konformität mit den Reichsgesetzen zu prüfen, mussten nun alle Beschlüsse, die so entscheidende Themen wie den städtischen Besitz, lokale Steuern, Schulordnungen, Gesundheits- und Vereinswesen, Stadtplanung, Budget usw. betrafen, den Gouverneuren vorgelegt werden. Tatsächlich blieben die Deutschbalten so eine weitere Dekade an der Macht, doch war gewährleistet, dass die Städte kaum mehr gegen den Willen der Regierung agieren konnten. Die Lust an der Politik war nun aber selbst den wenigen Wahlberechtigten vergangen. Die Wahlbeteiligung, die schon 1889 nur 35,8% betragen hatte, fiel nach einer zwischenzeitlichen leichten Steigerung 1892 (45,3%) auf den Niedrigstwert von 33,2% – nur 511 der 1.538 Berechtigten gaben 1896 überhaupt noch ihre Stimme ab. Damals fanden sich neben Čumikov und Jakobson wohl nur noch der orthodoxe estnischstämmige Priester Karp Tiisik, der von Šachovskoj als Vertreter des Klerus benannt worden 190  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

war, als nicht-deutsche Abgeordnete in der Stadtduma wieder. Innenpolitisch hatte sich die Lage aber entspannt. Der nach dem unerwarteten Tod Šachovskojs im Oktober 1894 zum neuen Gouverneur ernannte Evstafij N. Skalon (1894–1902, *1845, †1902) suchte eher Kooperation denn Konflikt und hielt sich aus lokalen Angelegenheiten weitgehend heraus. Nach dem Regierungswechsel in St. Petersburg im November 1894 begann unter Nikolaus II. eine Phase der Stagnation in der Innenpolitik, sodass auch aus dieser Richtung einstweilen keine weiteren Veränderungen zu erwarten waren. Vor diesem Hintergrund war die Entwicklung nach der Jahrhundertwende in Reval selbst spektakulär, denn es bahnte sich ein Machtwechsel an. 1900 waren bereits neun Esten und vier Russen bei einer Wahlbeteiligung von immerhin wieder 44,4% von nun 1.697 Wählern in die Stadtverordnetenversammlung gewählt worden. Bemerkenswerterweise stellten die Esten in einem der städtischen Wahlbezirke (Ziegelskoppel/Fischermay, estn. Kopli/ Kalamaja) bereits die meisten Wähler. Schließlich gelang bei den Wahlen Ende 1904 die Sensation: Bei einer Wahlbeteiligung von 61,9% (von 2.031 Wählern) gewann die Opposition vier der sechs Wahlkreise. Ein Wahlkreis (Katharinental) ging unentschieden aus, während die deutsche Partei nur im Zentrum siegte. Somit zogen 37 Esten, fünf Russen und ein Deutscher als Mehrheitsfraktion in die Duma ein. In einem klugen Schachzug im beginnenden Revolutionsjahr 1905 hatten sich die Sieger auf die Kandidatur von Erast G. Giacintov als Stadthaupt geeinigt. Giacintov war ein Russe, der bereits seit 25 Jahren im Gouvernement als Beamter diente, sich in den lokalen Verhältnissen bestens zurechtfand und zudem Sympathien für die Esten hegte. Russen und Esten hofften nicht zu Unrecht, dass die Kandidatur eines russischen Beamten weder bei der Regierung noch bei den Deutschbalten Widerstand erregen würde. Giacintov wurde am 19. Januar 1905 gewählt und am 5. März vom Kaiser bestätigt. Die Jahrhunderte währende Vormachtstellung der Deutschen in der alten Hansestadt war gebrochen. Wie konnte das geschehen? Aus dem deutschen Reval wird das estnische Tallinn Demographie. Schon 1844 gab es mehr Esten in der Stadt als Deutsche. Seit den 1860er Jahren stellten sie auch die absolute Mehrheit und erreichten bei der Zählung von 1871 51,8%. Anhand der Tabelle ist ersichtlich, dass die Zahl der Deutschen seit 1871 nahezu stabil blieb, weshalb ihr Anteil an der Stadtbevölkerung vor dem Ersten Weltkrieg auf ganze 10% sank. Wie stark der Zustrom der Esten war, lässt sich auch daran erkennen, dass sich zwar die Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Zahl der Russen seit 1871 mehr als vervierfacht hatte, ihr Anteil jedoch bei 11% stagnierte. Einwohner Revals nach ihrer ethnischen Zuordnung 1820–1913 ohne Militärpersonal (Prozent) 1820 1871 1881 1897 1913

Esten

Deutsche

Russen

Gesamt

4.486 (34,8) 15.097 (51,8) 26.324 (57,4) 40.406 (68,7) 83.133 (71,6)

5.540 (42,9) 10.020 (34,4) 12.737 (27,8) 10.297 (17,5) 12.424 (10,7)

2.304 (17,9) 3.300 (11,3) 5.111 (11,1) 6.008 (10,2) 13.275 (11,4)

12.902 29.162 45.880 58.810 116.132

Quelle: Pullat, Raimo (Hg.), Tallinna ajalugu XIX sajandi 60-ndate algusest 1965. aastani, Tallinn 1969, S. 36, 39. 1820 und 1871 wurden Juden als Deutsche gezählt (1820: 36 Personen, 1871: 412 Personen).

Für den Sieg über die Deutschen 1904 war das mittlerweile deutliche demographische Übergewicht der Esten jedoch nicht von Belang. Entscheidend war die Akkumulation von Wohlstand in estnischen Händen, die sich in den Wählerlisten spiegelte. Signifikant war dieser ökonomische Wandel beim Grundbesitz. Noch 1871 befanden sich gerade einmal 351 der 1.915 Grundstücke in estnischer Hand (18,3%), während knapp zwei Drittel deutschen Besitzern gehörten. Nimmt man den Wert des Besitzes zur Grundlage, waren sogar 83,8% deutsch, 11,3% russisch und nur 2,6% estnisch. Bei den estnischen Immobilienbesitzern handelte es sich zumeist um Städter der ersten Generation, die in den Vorstädten vor allem an der Dörptschen Straße lebten. Demgegenüber waren in der Innenstadt nur zwei Grundstücke auf Esten eingetragen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber waren von den 3.020 Immobilien der Stadt bereits 64% in estnischem Besitz, während der Anteil der Deutschen auf ein Viertel gesunken war. In der Altstadt befanden sich bereits 39 Grundstücke in estnischem Besitz, wobei zuweilen eine Person – wie z.B. der Schriftsteller und Herausgeber der Zeitung »Valgus«, Jakob Kõrv – mehrere Immobilien besaß. Vor den 192  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Wahlen von 1904 war es durchaus auch zu kreativer Ausnutzung der geltenden Regelungen gekommen, an denen vor allem der damals einzige in Reval praktizierende estnische Anwalt, der spätere Bürgermeister Revals und erste Außenminister Estlands, Jaan Poska, beteiligt war. Man sorgte dafür, dass als Wahlbevollmächtigte für reiche Witwen oder Kinder gezielt Esten eingesetzt wurden und estnische Neubürger vornehmlich Grund im Wahlbezirk Ziegelskoppel/Fischermay erwarben. In diesem Stadtteil hinter dem Bahnhof hatte es 1871 noch kaum estnischen Grundbesitz gegeben. 1900 übertraf er hier den deutschen, sodass erstmals ein städtischer Wahlkreis mehrheitlich in estnischen Händen war. Ein weiterer Indikator für die zunehmende Präsenz der Esten in der Stadt war ihr Vereins­leben – hier folgten sie dem Vorbild der Deutschen. Deutsches Vereinsleben. Die Verdichtung zivilgesellschaftlicher Gruppenbildung durch die Netzwerke der Vereine hatte unter den Deutschen Revals schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend sozial übergreifenden Charakter angenommen. Die Vermischung der Stände geschah in Wohltätigkeits- und Gesangsvereinen oder in der 1842 gegründeten »Estländischen Literärischen Gesellschaft«, die auf dem Domberg residierte, aber allen offen stand, die sich für Kultur und Geschichte der Ostseeprovinzen interessierten. In einer Festschrift zum 75. Jubiläum der 1854 gegründeten »Revaler Liedertafel« wurde extra betont, die Mitglieder seien nach Stimme und Notenkenntnissen ausgewählt worden und nicht etwa nach ihrer Herkunft. Wohl nicht zufällig galten ihrem Autor die Tage des Krimkriegs als Initialzündung für die Vereinsgründung, denn damals mussten die Gilden, die Schwarzenhäupter, die Zünfte und die russischen Kaufleute Bürgerwachen stellen, »die zu je sechs Mann mit einem der Gildebrüder an der Spitze die Stadtteile abschreiten und jede verdächtige Person verhaften sollten«. Nach der Sperrstunde um acht Uhr abends lag die ganze Stadt finster da, »unermüdlich von spähenden Patrouillen durchzogen«. Müde von der verantwortungsvollen Aufgabe versammelte man sich zu später Stunde in den gastlichen Stätten »Lotto« und »Seegrön«, um »mit einem steifen Grog die Glieder zu erwärmen«. Zwangsläufig habe man dabei das eine oder andere Lied zum Besten gegeben. So sei die damals geborene Idee der Gründung einer »Liedertafel« schließlich in die Tat umgesetzt worden, wenn auch zunächst – man bedenke die strengen Auswahlkriterien – nur mit zwölf Mitgliedern. Gemeinsam gesungen wurde in Reval bereits seit den 1820er Jahren, als der Sachse Joachim Hagen, der als Kotzebues Hauslehrer nach Estland gekommen war, als Organist der Olaikirche und Gesangslehrer am GouverneReval auf dem Weg zur Metropole 

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ments-Gymnasium erste Chöre gründete, darunter auch einen estnischen. Unter aktiver Teilnahme der Schwarzenhäupter wurde 1848 der »Revaler Verein für Männergesang« gegründet, der später mit der »Liedertafel« koexistierte. Er war maßgeblich für das Baltische Sängerfest verantwortlich, das 1857 in Reval stattfand. Hier wurde eine öffentlichkeitswirksame Tradition begründet, die später von den Esten übernommen wurde. Wichtig war im deutschen Falle vor allem, dass diese Feste die gemeinsamen deutschen Wurzeln betonten, wodurch die traditionellen Differenzen der Est-, Liv- und Kurländer, die vor allem in den Ritterschaften repräsentiert waren, in den Hintergrund traten. Das 1. Baltische Sängerfest in Reval (27. Juni bis 3. Juli 1857) »Am Sonnabend [den 29. Juni] erwartete man die beiden Petersburger Vereine und die Helsingforser. In vielen mit bunten Flaggen geschmückten Böten zog man dem Dampfschiff ›Mentschikoff‹ entgegen, welches vor dem Hafen Anker geworfen hatte. (…) Die Helsingforser Sänger aber blieben aus. – Im Ganzen betrug die Zahl der fremden und einheimischen Sänger jetzt 202«. Neben Reval waren Dorpat, St. Petersburg, Pernau, Riga und Narva vertreten. Am Sonntag trafen sich die Teilnehmer auf dem Rathausmarkt, wo die Sänger einen Kreis bildeten: »kräftig ertönte jetzt Luthers herrlicher Choral ›Ein feste Burg ist unser Gott, Ein’ gute Wehr und Waffen‹. Es wurde ein wahrhaft erhebender Anblick. Tausende von Menschen bedeckten den Platz, alle Fenster waren besetzt, selbst die Dächer starrten von Menschen; aber Alles war still, Jeder lauschte mit entblößtem Haupte dem Gesange«. Am Montag gab es ein Konzert mit weltlicher Musik in Katharinental, wo durchaus auch patriotische Melodien wie »Das deutsche Lied« (Wenn sich der Geist auf Andachtsschwingen...) oder »Was ist des Deutschen Vaterland?« zum Vortrag kamen, bevor am Ende die obligatorische russische Nationalhymne erklang. Aus Anlass des Geburtstags der Kaiserin-Mutter gab es abschließend noch ein großes Feuerwerk. Am Dienstag fand das große Festdiner statt. »Die Festhalle war inwendig mit Eichenlaub, Blumen und Lyra’s sehr schön decoriert; im Hintergrunde prangte das Bild unseres allergnädigsten Kaisers in Lebensgröße, von Fahnen und Wappen umgeben; über ihm schwebte der Reichsadler.« Am Mittwochabend veranstalteten die fremden Vereine den Gastgebern zu Ehren einen Fackelzug. »Man versammelte sich zu diesem Zwecke auf dem russischen Markte vor der Lehmpforte und zog mit Musik und allen Fahnen, gegen 200 Mann stark, durch die von Menschen wimmelnden Straßen auf den großen Markt. Hier bildeten die Fackelträger einen großen Kreis, in der Mitte waren die Fahnen, das Musikcorps und ein Chor von Sängern. Die Letzten sangen ein Abschiedslied; einer der fremden Festgenossen begab sich zur Plattform des festlich erleuchteten und geschmückten Rathhauses, wo alle Autoritäten des Landes und

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der Stadt sich versammelt hatten, dankte den Obrigkeiten für ihre dem Feste erwiesene Unterstützung und brachte ein Hoch auf ihr Wohl aus«. Nach einem kräftigen »Gaudeamus igitur« auf dem Markt ging der Zug zur Börsenhalle, »um auch dort noch dem Festcomité für seine Bemühungen zu danken. Dabei wurde der Wunsch ausgesprochen, es möge dieses Sängerfest nachhaltige Wirkungen für die Zukunft haben«. Quelle: Plaesterer, Artur: 75 Jahre Revaler Liedertafel 1854–1929, Reval 1929, S. 46–50.

Emanzipation der Esten. In den 1860er Jahren belebte sich auch das estnische Vereinswesen, wobei die Vorbildfunktion der deutschen Vereine unübersehbar war. Auch waren Deutsche an den ersten estnischen Vereinsgründungen unmittelbar beteiligt, weswegen letztere in dieser Phase nicht als national exklusive Gemeinschaften gelten können. Zudem war das Deutsche weiterhin zwangsläufig Umgangssprache derjenigen Esten, die sich in die städtische Gesellschaft integrieren wollten. So wurde z.B. der estnische Musikverein »Estonia«, dem sich 1865 Angehörige des bereits zwei Jahre zuvor gegründeten ersten estnischen Gesangsvereins »Revalia« anschlossen, nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell von Revaler Deutschen unterstützt. Ihr erster Präsident war der Jurist Roman von Antropoff, der auch den »Revaler Verein für Männergesang« finanzierte und sich zudem als Gründer eines Kammer­musikvereins einen Namen machte. Zugleich etablierten die Esten auch eine Tradition eigener Sänger- bzw Liederfeste (estn. laulupidu). Johann Voldemar Jannsen, einer der wichtigsten Wegbereiter ihrer kulturellen Emanzipation und Begründer der ersten estnischsprachigen Wochenzeitung, des seit 1857 zunächst in Pernau, später in Dorpat erscheinenden »Postimees« (Postbote), hatte sowohl 1857 als auch 1866 an den Baltischen Sängerfesten teilgenommen. Seither bemühte er sich, etwas Vergleichbares auch für die Esten zu organisieren. Für 1869 war es ihm gelungen, die Erlaubnis dafür zu erlangen, zum 50. Jahrestag der Bauernbefreiung in Livland das erste estnische Liederfest in Dorpat bzw. Tartu auszurichten, wo auch das zweite Liederfest zehn Jahre später stattfand. Die livländische Uni­versitätsstadt wurde in diesen Jahren zum kulturellen Zentrum der estnischen nationalen Bewegung. Hier wurde 1871 auch der »Estnische Literatenverein« (Eesti kirjameeste selts) gegründet, der in erster Linie das deutsche Wissensmonopol brechen wollte. Zu diesem Zweck wurden »nützliche« Bücher auf Estnisch herausgegeben, um auch dem einfachen Volk »den Geist zu erleuchten«, wie es in der Satzung hieß. Vorbild für diesen Verein waren freilich die deutschbaltischen gelehrten Gesellschaften in Reval, Riga und Mitau. Reval auf dem Weg zur Metropole 

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Estnische Musik sowie das gedruckte estnische Wort in Presse und Literatur oder einfach nur die Schilder estnischer Geschäfte in den Straßen der Stadt verstärkten auch den visuellen Erfahrungsraum der eigenen Sprache. In Reval bzw. Tallinn wurden erste estnische Buchläden in den 1870er Jahren eröffnet, hinzu kamen estnische Druckereien. 1903 gab es 35 Buchläden und 1907 wurde eine öffentliche Stadtbibliothek eröffnet, die pro Tag immerhin im Schnitt 150 Kunden anzog. Wer Städter werden wollte, musste sich nicht mehr notgedrungen in die deutsche Welt integrieren. Von nun an gab es alternative Wege, die zunehmend attraktiver wurden. Allerdings blieb auch der estnische Weg von Differenzen und Konflikten nicht verschont. Denn bereits das zweite estnische Liederfest 1879 war nach den Worten Rosenthals nicht mehr durch das »Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit« gekennzeichnet wie noch das erste, sondern hatte »statt gefestigter Einigkeit eine bedeutende Spaltung unter den Volksgenossen« gezeigt, den, wie er es in der Rückschau nannte, »aufkeimenden Parteigeist«. Um diesen Eindruck nicht noch stärker werden zu lassen, wurde Rosenthal mit der Organisation eines dritten Festes bereits im nächsten Jahr beauftragt, das in Tallinn stattfinden sollte. Mit dem 25. Thronjubiläum Alexanders II. wurde ein Anlass gefunden, der auch das Innenministerium bewog, die Erlaubnis rasch zu erteilen. Als Schwiegersohn Jannsens stand Rosenthal, der damals schon Stadtverordneter Tallinns war, in einer eher deutschfreundlichen Tradition, während innerhalb der estnischen Eman­zipations­bewegung die Richtung von Carl Robert Jakobson eher für eine engere Zusammenarbeit mit dem kaiserlichen Russland stand. Diese Spannungen wurden durch die Wahl des Ehrenvorsitzenden des Liederfestes, die nach der Absage Riesemanns schließlich auf den Arzt und hohen Verwaltungsbeamten Carl von Wistinghausen fiel, eher verstärkt. Jakobson hatte schon 1879 die organisatorische Beihilfe der Dorpater Deutschen nicht gepasst, genauso wie er gegen den kirchlich-protestantischen Geist des Programms wetterte. Nun plante er aus Anlass des Thronjubiläums in jeder Kreisstadt kleinere Feste zu veranstalten, um potentielle Teilnehmer von der Fahrt nach Tallinn abzuhalten. Letztlich setzte sich aber der Gedanke eines gemeinsamen Festes durch, auch wenn die Teilnehmerzahl mit knapp 800 Sängern erheblich unter der Zahl des Vorjahres lag (knapp 1.300). Immerhin hatte die Eisenbahn aus diesem Anlass ihre Preise für die Teilnehmer um 30% gesenkt, aber vermutlich machte sich hier bemerkbar, dass die Provinz Estland ärmer war als Livland. Auch die Tallinner estnische Gesellschaft war am Ende der 1870er Jahre in einem Umbruch. Die »Estonia« hatte mit dem Umstand zu kämpfen, 196  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

dass die sog. passiven Mitglieder, d.h. zumeist Deutsche, die den Verein finanziell unterstützten, nach und nach austraten. Dies lag auch daran, dass sich die »Estonia« mehr und mehr zu einem estnischen Geselligkeitsverein entwickelte und ihre kulturellen Ansprüche schon aus Geldmangel vernachlässigte. Zwar existierte sie weiter, doch genoss sie bis zur Mitte der 1890er Jahre einen eher zweifelhaften Ruf, auch weil die muntere Herrengesellschaft, die dem Kartenspiel wie dem Alkoholgenuss frönte, sich Gerüchten zufolge zuweilen von leichten Mädchen unterhalten ließ. Bereits 1876/77 war es auf Initiative einiger ehemaliger estnischer Mitglieder zu einer Vereinsneugründung gekommen: »Lootus« (Hoffnung). Auch dieser Verein wurde im Hintergrund u.a. von Julius von Gernet, einem Mitglied des Oppositionsblocks bei den Wahlen 1877, unterstützt. Hier versammelten sich estnische Bedienstete der Gouvernements- wie der Stadtverwaltung, Kaufleute und die geschäftliche Elite sowie auch Handwerker. Neben der gepflegten Geselligkeit war es dem Verein ein Anliegen, estnische Kultur zu fördern und gehobene Unterhaltung zu bieten. Daher stellte er seine Räumlichkeiten an der Narvschen Straße z.B. für die ersten regelmäßigen estnischen Theateraufführungen in Tallinn zur Verfügung und unterstützte Rosenthal 1880 bei der Organisation des estnischen Liederfests. Mit Recht hebt Woodworth hervor, dass es zu dieser Zeit nur wenige estnische Intellektuelle in Tallinn gab. Dass die beiden führenden nichtdeutschen Stadtpolitiker dieser Jahre, Čumikov und Jakobson, nicht von dort stammten, mag die Schwierigkeit illustrieren, hier Leitfiguren für die Esten zu rekrutieren. Dafür war eine wirtschaftliche Elite im Entstehen, welche über die »Lootus« nun für den finanziellen Rückhalt des Liederfestes sorgte. Dank der zahlreichen ökonomisch orientierten estnischen Organisationen, vor allem der 1897 gegründeten »Tallinner Gesellschaft für gegenseitigen Kredit« (Tallinna Vastastikkune Krediidiühing), wurde die Stadt zum Magnet für estnische Geschäftsleute. Wie sehr aufkommender Wohlstand unter den Tallinner Esten konzentriert war, zeigt auch das Beispiel des Alexanderschulkomitees. Dieses wohl wichtigste Projekt der estnischen Nationalbewegung sammelte Geld für die Gründung eines estnischsprachigen Gymnasiums. Aus Tallinn erhielt es mehr als 11% der in einem Zeitraum von über zehn Jahren zusammengetragenen Summe, auch wenn dort gerade einmal gut drei Prozent aller Esten lebten. Als 1888 eine entsprechende Schule bei Oberpahlen (Põltsamaa) eröffnet wurde, hatte ihre Unterrichtssprache jedoch bereits das Russische zu sein.

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Das 3. estnische Liederfest in Tallinn (11.–13. Juni 1880) Heinrich Rosenthal schrieb in seinen Erinnerungen auch über die Tage des Liederfestes. Schon am Bahnhof wurden die ankommenden Chöre mit Fahnen und der Nationalhymne empfangen. Am Mittag des 11. Juni 1880 trafen sich alle im Haus der »Lootus«, wo »Festpräsident, Kammerherr von Wistinghausen, alle Erschienenen mit einer herzlichen, von warmem Gefühle eingegebenen, längeren Rede in estnischer Sprache begrüsste, zum Schluss an jede einzelne Gruppe entsprechende Worte richtete und mit einem Hoch auf seine Majestät den Kaiser endete. Darauf wurde mit großer Begeisterung die Nationalhymne unter Musikbegleitung gesungen«. Am folgenden Tag versammelte man sich wieder bei der »Lootus«, woraufhin sich ein Umzug von der Narvschen Straße zur estnischen Karlskirche anschloss, wo ein Gottesdienst unter offenem Himmel abgehalten wurde. Um 16 Uhr begann auf dem Festplatz in Katharinental das »Massenkonzert«, bei dem unter anderem Jakob Hurt und Rudolf Kallas, die als Folkloristen und Theologen großen Anteil an der kulturellen Entwicklung der Esten in dieser Zeit hatten, den Kaiser und die Musik allgemein hochleben ließen. Der Abend des Festbanketts mit 600 Gästen im Marineclub war erfüllt von feierlichen und launigen Reden – und von den Klängen der mehrfach vorgetragenen Nationalhymne. Am folgenden Tag fand mit leichter Verspätung aufgrund eines Gewitters das Chorkonzert statt. Vor allem das finnische Marschlied: Eesti pojad, edasi (Estensöhne, vorwärts) habe »allgemeine Begeisterung« hervorgerufen und musste mehrmals wiederholt werden. Schließlich folgte »die Nationalhymne, welche bei bengalischer Beleuchtung unter allgemeinem Fahnenschwenken ebenfalls viele Male gesungen wurde. Die Begeisterung der Anwesenden, sowohl des Publikums, als auch der Sänger und Spieler legte sich aber nicht sobald. Es wurde wiederum das Eesti pojad, edasi, und dann wieder die Nationalhymne verlangt. (…) Bis spät in die Nacht hinein konnten noch die schlichten, ansprechenden Lieder auf dem Festplatz vernommen werden«. Quelle: Rosenthal, Heinrich: Kulturbestrebungen des estnischen Volkes während eines Menschenalters 1869-1900, Reval 1912, S. 239–243.

Trotz der von oben angeordneten zunehmenden Präsenz des Russischen in den Ostseeprovinzen muss die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gerade in den Städten in erster Linie unter dem Aspekt der »Estifizierung« des öffentlichen Raumes gesehen werden. Dazu gehörte auch, dass das Liederfest noch zweimal in Tallinn abgehalten wurde. Das insgesamt sechste war 1896 der Thronbesteigung Nikolaus’  II. gewidmet, während das siebte erst wieder 1910 stattfand, als ein direkter Bezug zu den damaligen Feierlichkeiten aus Anlass des 200. Jahrestages des Anschlusses Est- und Livlands an das 198  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Russländische Reich jedoch vermieden wurde. Zwar blieb Tartu das geistige Zentrum der estnischen Nationalbewegung in diesen Jahren, doch lief Tallinn ihm mit der Jahrhundertwende zunehmend den Rang ab, wenn es um die Artikulation politischer Forderungen ging. Nach den Worten des estnischen Diplomaten und Publizisten Eduard Laaman repräsentierte Tartu die »Starre akademischer Zirkel«, während Tallinns Symbol die »Dynamik der Massen« geworden war. Letzteres ist an den Liederfesten deutlich abzulesen: Während 1880 ungefähr 10.000 Zuschauer die Konzerte besuchten, nahmen 1910 bereits genauso viele Menschen aktiv an ihnen teil; die Zuschauerzahl war auf 35.000 gestiegen. Zudem nahmen 1910 nicht nur Gäste aus Livland, Finnland und den angrenzenden russischen Gouvernements teil, sondern auch estnische Chöre aus zentralrussischen Regionen, in die viele Esten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgewandert waren. Um 1900 machte sich eine junge Generation estnischer Aktivisten in der Gesellschaft Tallinns bemerkbar, die ein akademisches Studium absolviert hatten und nun auch die politische Sphäre der Stadt für die Bevölkerungsmehrheit zu reklamieren suchten. Zu ihnen gehörten neben dem bereits erwähnten Rechtsanwalt Poska die studierten Juristen Konstantin Päts und Jaan Teemant. Päts gründete, nachdem er aus Tartu nach Tallinn umgezogen war und einige Zeit bei Poska gearbeitet hatte, gemeinsam mit dem Schriftsteller und Journalisten Eduard Vilde den »Teataja« (Bote) als erste estnische Tageszeitung der Gouvernementshauptstadt. Ziel dieses Organs war es unter anderem, die städtischen Esten davon zu überzeugen, dass die Deutschen die lokale Vormacht nicht auf ewig gepachtet hätten. Schließlich besaß man nach Ansicht des Blattes nicht nur das demokratische Recht der Mehrheit, sondern auch die Reife, die Stadtverwaltung in eigener Regie zu übernehmen. Diese Form der politischen Agitation erreichte mit den Stadtverordnetenwahlen von 1904 ihr Ziel. Kurz zuvor hieß es noch spöttisch in der deutschen Presse, die Esten würden nach einem Sieg die Boulevards abholzen und in Heuwiesen verwandeln. Von nun an waren Esten an führender Stelle für die Geschicke der Stadt verantwortlich. Für die Rolle, die Päts mittlerweile in Tallinn spielte, ist es symptomatisch, dass nach dem Wahlsieg deutsche Beobachter damit rechneten, Päts würde sich zum Bürgermeister wählen lassen. Der Coup, anstelle eines »radikalen« Esten den Russen Giacintov zur Wahl zu stellen, ging auf. Mit der estnisch-russischen Mehrheit im Rücken wurde Päts Giacintovs Stellvertreter und Poska Vorsitzender der Stadtduma. In einem halben Jahrhundert hatten sich das Gesicht Revals und die in ihm herrschende Atmosphäre gewandelt. Die drei Nationalitäten hatten sich Reval auf dem Weg zur Metropole 

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seit Mitte der 1880er Jahre in ihre exklusiven sozialen Sphären zurückgezogen, was Grenzgänger nicht ausschloss, aber doch nicht als Regel zuließ. Es gab am Beginn des 20. Jahrhunderts drei estnische und je zwei russische und deutsche Tageszeitungen, die ihr jeweils eigenes Publikum bedienten und einen eigenen Kommunikationsraum kreierten. Zugleich gab es mehr als 100 Vereine, doch fixierten gerade sie die nationalen Grenzen mehr als dass sie diese auflösten, was gerade auch für die geselligen Klubs galt. Während sich die Deutschen, die sich von zwei Seiten bedrängt fühlten, und die Esten, die die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen begannen, voneinander weg bewegten, und ihre eigenen Milieus zurückzogen, stellte sich die Lage für die Russen allerdings etwas anders dar. Russen in Reval. Eine der ersten Regungen russischen gesellschaftlichen Lebens in Reval war der seit 1858 bestehende Revaler russische Musikverein »Gusli«. Seine Mitglieder beteiligten sich 1866 am 3. Baltischen Sängerfest, das nach einem Abstecher nach Riga 1861 wieder in Reval stattfand. 1885 jedoch, als zum 5. Baltischen Sängerfest erneut nach Reval geladen werden sollte, kam es – der »Sprachenstreit« zwischen Bürgermeister Greiffenhagen und Gouverneur Šachovskoj erreichte gerade seinen Höhepunkt – zum Eklat. Zwar gehen die Versionen der Beteiligten auseinander, doch ging es vornehmlich um Fragen des Programms. Dahinter lag freilich das von Šachovskoj nach Reval getragene slawophile Ideal der russischen Kulturhoheit im ganzen Imperium. Während die deutsche Seite behauptete, »Gusli« habe ultimativ ihre Teilnahme davon abhängig gemacht, in jeder Abteilung des Festes auftreten zu dürfen, erklärten die Russen, sie hätten nur ein paar Lieder singen wollen. Wie dem auch sei, an der von »Gusli« vorgeschlagenen Ouvertüre aus Glinkas »Ein Leben für den Zaren« konnte es nicht liegen, denn diese hatte die »Liedertafel« selbst schon zum Besten gegeben, zuletzt 1883 aus Anlass der Krönung Alexanders  III. Aber nach dem von »Gusli« erbetenen Eingreifen Šachovskojs in den Streit wurde das Sängerfest einfach abgesagt. Auch die »Estonia« hatte sich mittlerweile von der geplanten Veranstaltung zurückgezogen. In der deutschen Literatur hieß es zur Begründung lapidar, der Gouverneur habe damals Versammlungen von Deutschen nicht gern gesehen. »Gusli« geriet aber auch zwischen die innerrussischen Fronten. Die russische Gemeinschaft Revals, die an der »Gusli« vor allem auch das Unterhaltungsangebot inklusive des Kartenspiels geschätzt hatte, sah sich seit der Ankunft des neuen Gouverneurs mit den Ansprüchen eines gesellschaftlichen Lebens konfrontiert, welches die nun immer zahlreicher nach Reval strömenden russischen Beamten erwarteten. Šachovskoj krempelte »Gusli« 200  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

zunächst zu einem gesellschaftspolitisch orientierten »Klub« um, der sich aber nun für seine traditionelle Klientel als zu unattraktiv erwies, der Musik und Kartenspiel fehlten. Die neuen Beamten wiederum, die ohnehin meist nur wenige Jahre blieben, waren von der fremden und unrussischen Atmosphäre der Revaler Gesellschaft irritiert, denn sie trafen hier auf Landsleute, die sprachlich und kulturell längst eher deutsch bzw. estnisch akkulturiert waren. Šachovskoj gründete daher 1888 die »Russische gesellschaftliche Versammlung« (russ. Russkoe obščestvennoe sobranie, ROS), welche nach seinen Vorstellungen nicht nur einen gemeinsamen kommunikativen Raum des »russischen Elements« der Stadt schaffen, sondern auch unter den »nüchtern« denkenden Nicht-Russen »Werke der russischen Kunst und Literatur« bekannt machen sollte, um sie dadurch »der russischen Gesellschaft anzunähern«. Damit spielte der Gouverneur auf den für ihn verblüffenden Umstand an, dass es in der Garnisons- und Gouvernementsstadt Reval keine russischen Buchläden, Bibliotheken oder Theater gab, in der sich der interessierte Bürger über russische Kultur informieren konnte. Im Grunde aber wollte Šachovskoj vor allem die Revaler Russen zu »Russen« erziehen. So klagte er 1890 dem Innenministerium, es gebe in Reval Russen, die sich nicht trauten, sich als »Russe« zu bezeichnen. Selbst der Ältermann der russischen Kaufmannschaft spreche nur gebrochen Russisch mit einem starken deutschen Akzent: »So verdeutschten die russischen Revalenser (…). Über ihre unglaubliche Ignoranz in Bezug auf alles, was die russische Geschichte, die russische Literatur und Kunst betrifft, werde ich schon gar nichts mehr sagen, dafür aber kennen sie alle Schiller und Goethe auswendig und singen deutsche Lieder.« Selbst die »Gusli«, deren Gründung 1858 Šachovskoj als eine patriotische Tat größten Wagemuts beschrieb, hätte sich schließlich dem germanisierenden Druck beugen müssen und damit begonnen, deutsche Lieder zu singen. Erst im Umgang mit ihm selbst und seiner Entourage hätten die lokalen Russen gelernt, »russisch zu denken und zu fühlen«. Was Šachovskoj predigte, war der Kulturkampf gegen alles Deutsche, für den er nur allzu gern die lokalen Russen mobilisieren wollte. Immerhin erhielt er für seine ROS in den Jahren 1891 bis 1893 jährlich 3.000 Rbl. aus der Staatskasse, wodurch die »Nationswerdung« der Revaler Russen zu einem staatlich geförderten Kulturprojekt wurde. Zudem erreichte er, dass die Stadt der ROS südöstlich der Altstadt ein Grundstück zur Verfügung stellte. Für den Bau des Vereinshauses, in dem sich heute die zentrale Stadtbibliothek befindet, gab Šachovskoj selbst 3.000 Rbl. aus eigener Tasche, doch erlebte er dessen Fertigstellung Anfang 1895 nicht mehr. Sein Experiment der »Russifizierung« der Revaler Russen muss als weitgehend gescheitert angeReval auf dem Weg zur Metropole 

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sehen werden, denn trotz steigender Zahlen von russischen Bürgern hatte die ROS nie mehr als 150 Mitglieder – die »Gusli« verband schon Ende der 1860er Jahre über 200 Menschen. Die 1892 begründete russische Tageszeitung »Revel’skie Izvestija« (Revaler Nachrichten) träumte im Juni 1894 davon, dass die ROS etwas »einfacher« und »zugänglicher« wäre; hier machte sich freilich auch bemerkbar, dass die Revaler Russen meist keine akademische Ausbildung genossen hatten wie die zugezogenen Beamten. Am Ende resignierten nach dem Tod ihres Mentors selbst Šachovskojs Mitstreiter. Wenn die Russen »ihren« Verein nicht frequentierten, so folgerte ein Vertrauter des Gouverneurs, könnten sie auch keinen »moralischen Einfluss« auf die »deutsche kultivierte Gesellschaft« ausüben, zumal sie sich doch immer nur wieder dem Karten- und dem Billardspiel hingäben. Die »Gusli« wurde allerdings wieder musikalisch aktiv, und seit 1898 traf sich in den Räumen der ROS der »Russische Literaturkreis«, der sich zunehmender Attraktivität erfreute und sich in den letzten Jahren des Zarenreichs als das kulturelle Zentrum der Revaler Russen etablierte. Während die Russen mit sich selbst beschäftigt waren, setzten sich die Esten mit ihrer deutsch dominierten Vergangenheit auseinander. Gerade für die Generation der in den 1880er Jahren Geborenen, die nach 1918 die estnische Unabhängigkeit tragen sollte, war die Entdeckung der eigenen Vergangenheit mit Hilfe der Literatur von eminenter Bedeutung. Auch auf diesem Gebiet war der »Teataja« aktiv, indem er Eduard Vildes historische Romane, die vom Leid der Esten unter der Leibeigenschaft erzählten, als Fortsetzungsromane veröffentlichte. Marta Sillaots, eine spätere Lehrerin, Schriftstellerin und Übersetzerin, erinnerte sich, wie sie Vildes Romae als 15-, 16-jähriges Mädchen verschlang: Der Hass, der Schmerz, die Bitterkeit und das Mitleid, die sie beim Lesen dieser Romane verspürte, hätten aus ihr erst »eine bewusste Estin« gemacht. So sei es vielen ihrer Altersgenossen ergangen, schrieb sie in ihren Ende der 1930er Jahre erschienenen Erinnerungen. Als Vildes »Als die Männer von Anija nach Tallinn kamen« (estn.: Kui Anija mehed käisid Tallinnasse) 1903 im »Teataja« als Fortsetzungsroman erschien, war es im Grunde nicht mehr vorstellbar, dass sich etwas wiederholen könnte, was über Jahrhunderte zur Realität Revals gehört hatte: Deutsche »Herren« züchtigen in aller Öffentlichkeit »ihre« estnischen Bauern. Vilde aber erinnerte in seinem Roman an eine derartige Begebenheit aus dem Juli 1858, die noch kein halbes Jahrhundert her war. Damals hatte der Vizegouverneur Robert Gottlieb Freiherr von Rosen eine Delegation von estnischen Bauern, die sich über die ihrer Ansicht nach widergesetzlichen Arbeitsforderungen ihres Gutsherrn beschwerten, auf den Schlossplatz be202  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

fohlen. Anstelle ihnen dort, wie versprochen, die Gesetzeslage zu erklären, ließ er sie jedoch abführen und außerhalb der Stadtmauern auf dem Russischen Markt mit Birkenruten prügeln. Der Anführer erhielt 300 Schläge und dürfte für sein Leben gezeichnet gewesen sein. Der menschenverachtende Alltag des Feudalismus war zwar gerade in der Stadt längst Geschichte, doch wurde die ihn prägende Konfrontation durch das sich entwickelnde ethnische Bewusstsein der Esten im Kontext der Rückschau in die jüngere Vergangenheit eher noch angeheizt. Demgegenüber schien der Nationalitätenkampf, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung der Revaler Stadtpolitik war, ohne die Anwendung von Gewalt auszukommen. Die Revolution von 1905 sprach dieser Hoffnung jedoch Hohn.

4.  Reval zwischen den Russischen Revolutionen   von 1905 und 1917 Die Zugehörigkeit Revals zum Russländischen Reich wurde nie deutlicher als in den Krisenjahren der russischen Autokratie. Damals wurden die Ostseeprovinzen in den Überlebenskampf eines durch den verlustreichen Krieg gegen Japan in die Defensive gezwungenen Regimes und die dadurch evozierten Turbulenzen hineingezogen. Allerdings erhielten Letztere in Est-, Liv- und Kurland aufgrund der hier herrschenden national- und sozialpolitischen Trennlinie eine eigene Dynamik. Der Ausbruch der ersten russischen Revolution von 1905 fiel in Reval zufälligerweise mit dem Amtsantritt der neuen estnisch-russisch dominierten Stadtverwaltung zusammen, die sogleich mit einer unerhörten Bewährungsprobe konfrontiert wurde. Der revolutionäre Gewaltausbruch von 1905 Auch in Reval hatte der St. Petersburger »Blutsonntag« mit mehr als 1.000 Toten am 9. Januar 1905 dafür gesorgt, dass die Arbeiter der Stadt sich an den landesweit organisierten Massenstreiks beteiligten. Am 12. Januar legten ca. 12.000 von ihnen die Arbeit nieder. Dabei war dies nicht der erste Streik in Revaler Fabriken. Bereits seit Ende der 1870er Jahre hatte es immer wieder größere oder kleinere Arbeitskämpfe gegeben, zunächst bei den Druckern, später bei den Hafenarbeitern, die in den 1880er Jahren mehrfach für höhere Löhne streikten. 1896 legte ein Streik der Kutscher und Fuhrleute Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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fohlen. Anstelle ihnen dort, wie versprochen, die Gesetzeslage zu erklären, ließ er sie jedoch abführen und außerhalb der Stadtmauern auf dem Russischen Markt mit Birkenruten prügeln. Der Anführer erhielt 300 Schläge und dürfte für sein Leben gezeichnet gewesen sein. Der menschenverachtende Alltag des Feudalismus war zwar gerade in der Stadt längst Geschichte, doch wurde die ihn prägende Konfrontation durch das sich entwickelnde ethnische Bewusstsein der Esten im Kontext der Rückschau in die jüngere Vergangenheit eher noch angeheizt. Demgegenüber schien der Nationalitätenkampf, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Tagesordnung der Revaler Stadtpolitik war, ohne die Anwendung von Gewalt auszukommen. Die Revolution von 1905 sprach dieser Hoffnung jedoch Hohn.

4.  Reval zwischen den Russischen Revolutionen   von 1905 und 1917 Die Zugehörigkeit Revals zum Russländischen Reich wurde nie deutlicher als in den Krisenjahren der russischen Autokratie. Damals wurden die Ostseeprovinzen in den Überlebenskampf eines durch den verlustreichen Krieg gegen Japan in die Defensive gezwungenen Regimes und die dadurch evozierten Turbulenzen hineingezogen. Allerdings erhielten Letztere in Est-, Liv- und Kurland aufgrund der hier herrschenden national- und sozialpolitischen Trennlinie eine eigene Dynamik. Der Ausbruch der ersten russischen Revolution von 1905 fiel in Reval zufälligerweise mit dem Amtsantritt der neuen estnisch-russisch dominierten Stadtverwaltung zusammen, die sogleich mit einer unerhörten Bewährungsprobe konfrontiert wurde. Der revolutionäre Gewaltausbruch von 1905 Auch in Reval hatte der St. Petersburger »Blutsonntag« mit mehr als 1.000 Toten am 9. Januar 1905 dafür gesorgt, dass die Arbeiter der Stadt sich an den landesweit organisierten Massenstreiks beteiligten. Am 12. Januar legten ca. 12.000 von ihnen die Arbeit nieder. Dabei war dies nicht der erste Streik in Revaler Fabriken. Bereits seit Ende der 1870er Jahre hatte es immer wieder größere oder kleinere Arbeitskämpfe gegeben, zunächst bei den Druckern, später bei den Hafenarbeitern, die in den 1880er Jahren mehrfach für höhere Löhne streikten. 1896 legte ein Streik der Kutscher und Fuhrleute Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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den innerstädtischen Verkehr lahm. Als im Frühjahr 1899 die Arbeiter der »Dvigatel’« Maschinenfabrik in den Ausstand traten, wurde ihre Forderung nach mehr Lohn erst bei der Wiederaufnahme des Streiks im November erfüllt, an der sich über 2.000 Menschen beteiligten. Von der sowjetischen Forschung ist immer wieder pflichtschuldig betont worden, wie wesentlich die Anwesenheit des späteren sowjetischen Staatschefs Michail I. Kalinin für die Koordination der Revaler Arbeiterbewegung gewesen sei. Tatsächlich war es damals Usus, als besonders gefährlich eingeschätzte Rädelsführer aus dem russischen Zentrum in die ruhigeren Randgebiete auszuweisen; so gelangte auch Kalinin als frühes Mitglied der 1898 gegründeten Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) über Tiflis 1901 nach Reval, wo der gelernte Dreher zunächst bei »Volta«, später in den Eisenbahnwerkstätten tätig war und seine illegale politische Arbeit fortsetzte. Seinen Kontakten nach St. Petersburg dürfte es zu verdanken sein, dass Lenins Zeitung »Iskra« in Reval ins Estnische über­setzt und in Flugblättern unter den Arbeitern verteilt wurde. Ende 1904, also bereits nach Kalinins erneuter Verhaftung, wurde auch eine erste Filiale der RSDRP in Reval gegründet. Im Januar 1905 riss die Streikbewegung in Reval im Gegensatz zu früheren Arbeitskämpfen nicht so schnell ab. Bei Zusammenstößen mit Truppen kamen einige Arbeiter zu Tode. Erst am 25. Januar schien die Lage wieder unter Kontrolle zu sein, bevor im Februar erneut Arbeitsniederlegungen erfolgten. Eine von der neuen Stadtregierung eingesetzte Untersuchungskommission, die sich zu den Gründen des Streiks äußern sollte, fand schließlich heraus, dass ein Arbeiter von seinem jährlichen Durchschnittslohn von 210 Rbl. kaum existieren konnte. Der Bericht erklärte eine solche Exi­stenz für nicht vorstellbar, zumal an diesem Verdienst im Schnitt noch eine Frau und zwei Kinder hingen. Also hatte der Streik durchaus seine Berechtigung. Es war, als würden die Stadtverordneten mit einer Realität konfrontiert, die sie selbst schon lange hinter sich gelassen hatten. Die Forderung nach Lohnerhöhung blieb Anfang 1905 zwar unerfüllt, doch erklärten sich die Arbeitgeber im Februar zumindest bereit, den üblichen 11,5-Stunden Arbeitstag auf neun bis zehn Stunden zu verkürzen. Als im März Nachrichten von Unruhen auf dem Lande Reval erreichten, wurde die Lage jedoch immer angespannter. Zwischenfälle in den Fabriken häuften sich, auch wenn die Arbeit murrend fortgesetzt wurde. Die Nervosität hingegen wuchs. Am 18. März stattete ein Oberstleutnant der Gendarmerie Krüger den Gymnasien der Stadt einen Besuch ab, um den Direktoren in Anbe­tracht der nahenden Revolution zu raten, ihre Schüler für sieben Tage nach Hause zu schicken. 204  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

In einem offiziellen Bericht an die Regierung hieß es, der Krüger sei wohl verrückt geworden. Als eine Gruppe von einigen Hundert estnischen Arbeitern am 1. Mai von berittener Polizei daran gehindert wurde, nach einer Versammlung in Katharinental die Narvsche Straße Richtung Stadt einzuschlagen, waren wieder einige Verletzte zu beklagen. Die Polizei soll mit einiger Brutalität gegen die Demonstranten vorgegangen sein: Wer nicht rechtzeitig zur Seite springen konnte, so hieß es in einem von über tausend Personen unterzeichneten Protestschreiben an die Stadtduma, sei von den Reitern von hinten von den Beinen geholt oder auf die Bürgersteige gedrängt worden. Dort seien Männer, Frauen und sogar Kinder mit der Nagaika geschlagen wurden, bis sie zu Boden fielen. Die Stadtregierung befand sich in einer vertrackten Situation, da sie den im Wahlkampf formulierten Ansprüchen auf Gerechtigkeit für die Esten und auf eigene Führungsstärke nun gerecht werden musste. Die Vermittlung zwischen den Interessen der streikenden estnischen Arbeiter und dem Machtanspruch des Zarenregimes kam aber der Quadratur des Kreises gleich. Während Teemant erfolgreich darauf drängte, die Untersuchung der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstration nicht dem Gouverneur zu überlassen, erklärte jener, Aleksej A. Lopuchin (1905; *1864, †1928), lapidar, die Polizei hätte sich am 1. Mai vorbildlich verhalten. Beliebt machte sich der ehemalige Direktor des Polizeidepartements im St. Petersburger Innenministerium dadurch nicht. Dass dieser Lopuchin ein halbes Jahr später ausgerechnet wegen Begünstigung der Revolutionäre zurücktreten musste, gehört zu den Ironien dieses Jahres. Tatsächlich konnte er für sich zumindest die Absicht in Anspruch nehmen, er habe im Oktober unter Druck gehandelt und einen weiteren Gewaltausbruch verhindern wollen. Was war geschehen? Am 13./14. Oktober hatte eine weitere Streikwelle bei »Volta« und bei den Eisenbahnern begonnen. Dieser Streik erfasste bald die ganze Stadt, und da diesmal auch das Gaswerk abgeschaltet wurde, fiel die Straßenbeleuchtung aus. Plünderer zogen durch die Stadt, zerstörten die Schaufenster der Baltischen Bank und raubten Läden aus. Zugleich wurde der provisorische Bau des Deutschen Theaters am Neuen Markt in Brand gesteckt, der das alte, 1809 errichtete Gebäude an der Breit-Straße, das 1902 ein Opfer der Flammen geworden war, ersetzte. Da ein Großteil der Truppen nach St. Petersburg abgezogen worden war, um, wie es hieß, die Zarenpaläste zu schützen, blieben der Polizei zu wenige Einsatzkräfte. In Reaktion auf diese Ereignisse tagte die Stadtduma die nächsten Tage permanent, wobei in erster Linie die estnischen und russischen Abgeordneten präsent waren; aus Angst vor Gewalt zogen Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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es viele Deutsche vor, zu Hause zu bleiben. Für die neue Stadtregierung war es pikant, dass die Forderungen der Arbeiter nun politisch geworden waren – womit sie manch einem Stadtverordneten eigentlich aus der Seele gesprochen haben dürften. Die Stadtduma solle sich beim Gouverneur u.a. für die Freilassung der »politischen Gefangenen« einsetzen, die Armee aus dem Stadtbild entfernen und den Kaiser auffordern, eine frei gewählte Volksversammlung und die allgemeinen Freiheitsrechte zu gewähren. Nur dann würden die Arbeiter die Ordnung in den Straßen der Stadt garantieren. Nach einer Diskussion mit Arbeitervertretern gelang es Giacintov und Päts, Lopuchin zumindest zur Freilassung von zwölf Arbeitern zu bewegen – genau dieser Schritt sollte ihm wenige Tage später seine Abberufung einbringen. Immerhin verlief die Nacht unter dem Schutz von Arbeitermilizen aber ruhig. Doch am 16. Oktober erschienen Arbeitervertreter in der Stadtduma und erhöhten ihre Forderungen: Finanzhilfe für Arbeitslose, Waffen für die Sicherung der öffentlichen Ordnung sowie die Veröffentlichung der Korrespondenz mit dem Gouverneur. Zwar beschloss die Duma, die Wachdienste der Arbeiter für zehn Tage zu entlohnen, doch lag die Erfüllung der übrigen Forderung nicht in ihrer Macht. Lopuchin aber verweigerte sich jeglichen Zugeständnissen, da er frische Truppen erwartete. Zugleich fand auf dem Neuen Markt eine behördlicherseits bewilligte Demonstration statt, die sich bis in die Abendstunden hinzog, da man auf Neuigkeiten aus den Gesprächen der Arbeitervertreter mit der Stadtduma wartete. Plötzlich wurde die Versammlung von einer über hundert Mann starken Armeeeinheit umzingelt, die eigentlich das nahe Bezirksgericht schützen sollte und nun ohne Vorwarnung fünf Salven auf die unbewaffneten Menschen abgab. »In den ersten Minuten war es gefährlich den Verwundeten zu helfen«, hieß es in einer St. Petersburger sozialdemokratischen Zeitung, »denn die Soldaten setzten ihre Angriffe auf die Menge auch nach den Salven fort und schossen auf einzelne Personen, woraufhin sie mit Bajonetten und Gewehrkolben die Verwundeten erledigten, die Ermordeten ausraubten und niemanden an den Ort des Massakers heran ließen. (…) Nach anderthalb Stunden hatte sich der Platz in ein Schlachtfeld verwandelt, das von in Blut schwimmenden Leichen übersät war. Bislang hat noch niemand verstanden, wie es zu diesem unerhörten Verbrechen kommen konnte. Der Gouverneur beschuldigt den betrunkenen Offizier und der betrunkene Offizier beschuldigt den Gouverneur, und beide verweisen auf ein unglückliches Telefon, das ein böser Witzbold benutzt haben soll, um sich zu amüsieren«. Tatsächlich hatte aber Lopuchin selbst den Truppen

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den Befehl gegeben, »rücksichtslos von den Waffen Gebrauch« zu machen. Im Ergebnis waren 94 Tote und über 100 Verwundete zu beklagen. In Reaktion hierauf trat Giacintov von seinem Posten als Bürgermeister zurück; offiziell wurden gesundheitliche Gründe geltend gemacht, aber es war wohl eine Art Nervenzusammenbruch angesichts der blutigen Ereignisse. Sein Amt wurde kommissarisch von Päts übernommen. Die Beerdigung der Opfer am 20. Oktober wurde dank der mehreren zehntausend Teilnehmer zu einer mächtigen Demonstration gegen die autokratische Willkür. Die Stadtduma wies sogleich 5.000 Rbl. für die Hinterbliebenen an, wovon die Verwundeten allerdings auch ihre Krankenhauskosten zu begleichen hatten. Am Tag nach dem Blutbad in Reval verkündete Nikolaus II. das »Oktobermanifest«, das aus dem Zarenreich eine konstitutionelle Monarchie machen sollte, bürgerliche Freiheiten garantierte und die Bildung von Parteien gestattete. Seine Veröffentlichung ging in Reval zwar in der Bestürzung über die Vorfälle auf dem Neuen Markt unter, doch brachen nun auch hier die »Tage der Freiheit« an mit öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und einer bislang nicht gekannten Offenheit in der Presse. In Tartu spaltete sich Ende November die estnische nationale Bewegung in die nationalkonservative Fortschrittspartei von Jaan Tõnisson und die radikaleren Sozialdemokraten, zu denen auch Teemant zählte. Zugleich gründeten auch die Deutschbalten Estlands eine politische Organisation, die »Konstitutionelle Partei in Estland«. Nach der Abberufung Lopuchins wegen der Befreiung der zwölf »Revolutionäre« wurde am 10. Dezember das Kriegsrecht ausgerufen, woraufhin Ritterschaftshauptmann Eduard Freiherr von Dellingshausen in St. Petersburg zusätzliche Truppen anforderte. Unter den Bedingungen des Kriegsrechts wurde die politische Tätigkeit mit Hilfe des Militärs weitgehend unterbunden, die politische Presse, darunter der »Teataja«, verboten. Am 14. Dezember wurde Eugen Erbe, der bereits vor 1904 im Stadtamt gesessen hatte und diesen Posten als einziger Deutscher behalten hatte, zum provisorischen Bürgermeister gewählt. Die estnischen Mitglieder der Stadtregierung wurden für abgesetzt erklärt, einzig Poska blieb im Amt. Päts und Teemant flohen als Arbeiter verkleidet nach Livland. Bolschewistische Agitatoren aus Reval trugen mit Hilfe von Arbeitertrupps die Gewalt auf das Land. Nach Angaben Dellingshausens sind bis 1907 in der Provinz Estland 57 Gutshöfe in Flammen aufgegangen, bevor die Armee diesen Unruhen schließlich ein blutiges Ende bereitete.

Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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Revaler Utopien – die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Die Zeit zwischen den Revolutionen war eine Phase der Umorientierung, welche jedoch nicht von ihrem Ende her gedacht werden sollte. Die unterschiedlichen Milieus der städtischen Gesellschaft versuchten sich in ihren jeweiligen Sphären an einem multikulturellen Modus vivendi, an einem kontrollierten Nebeneinander. Aber auch innerhalb der nationalen Gruppen differenzierte sich das Publikum, was am Zuwachs der Tagespresse abgelesen werden kann. Aus den sieben Tageszeitungen um die Jahrhundertwende wurden 1913 sieben estnische, vier deutsche und drei russische, zudem 15 estnische und drei deutsche Zeitschriften. Dabei verdankte sich der Frieden, der nach 1905/06 allmählich in die traumatisierte Stadt einkehrte, nicht zuletzt der Kontinuität in Bezug auf ihre politische Führung. Bereits am 1. März 1906 fanden neue Bürgermeisterwahlen statt, die Amtsinhaber Erbe zunächst in einer äußerst knappen Entscheidung gegen einen jungen Esten namens Karlson verlor, doch annullierte der neue Gouverneur Petr P. Bašilov (1906–1907, *1859, †1919) die Wahl und forderte Neuwahlen. Im April setzte sich schließlich Voldemar Lender durch, der bereits unter Giacintov im Stadtamt gesessen hatte. Für Lender, der nun erstes estnisches Stadthaupt Revals wurde, sprach, dass er als Student der Mathematik und des Ingenieurswesens längere Zeit in St. Petersburg gelebt hatte und, wie sich Bašilov ausdrückte, »außerhalb der Politik« stand. Lender sei »ausschließlich mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Stadt beschäftigt« und bei jeder Gelegenheit habe er, Bašilov, mit dem neuen Bürgermeister »im vertraulichen Gespräch eine Einigung im Interesse der Bewahrung der staatlichen Grundlagen« erzielt. In der Perspektive der Revaler Gendarmerie freilich hatte Lender den Gouverneur völlig auf seine Seite gezogen, war aber ohnehin nur das ausführende Organ Poskas. In dieser Beurteilung stimmte auch Dellingshausen mit der Gendarmerie überein, doch hielt er genau diesen Umstand für den eigentlichen Hintergrund der Protektion, die Lender im Schloss genoss: Dort nämlich galt Poska als erklärter und vertrauenswürdiger Gegner der Revolution. Wie dem auch sei, die Kooperation zwischen russischem Gouverneur und estnischem Stadthaupt war bis in das Jahr 1917 hinein gewährleistet, denn als Lender im Sommer 1913 zurücktrat, um sich seiner eigenen Baufirma zu widmen, wurde Poska sein Nachfolger. Zwar war nach den Erinnerungen von Lenders Frau Elfriede, einer bekannten Pädagogin, das Verhältnis Poskas zu Bašilovs Nachfolger Izmail V. Korostovec (1907–1915, *1863, †1933) etwas unterkühlt, doch hatte Poska schon aufgrund seines 208  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

orthodoxen Glaubens und seiner früheren Anwaltstätigkeit in St. Petersburg gute Kontakte zur russischen Hochbürokratie. Die städtische Gesellschaft nutzte die neuen Freiheiten, die der Zar seinen Untertanen nach dem Schock der Revolution gewährte, weidlich aus. Die ethnischen Milieus jedoch blieben weiterhin unter sich. Ein politischer Annäherungsversuch zwischen Vertretern der Ritterschaft und einigen Esten (u.a. Tõnisson und Poska), war im Krisenjahr 1905 gescheitert; von nun an herrschte eine Art Burgfrieden, doch trieb jede der nationalen Gruppen ihre eigenen Projekte voran. Vor allem die Schulbildung muss als Priorität der Stadtverwaltung in dieser Zeit angesehen werden. Während eine Umfrage noch 1907 ergab, dass über 26% der Kinder im Schulalter nicht zur Schule gingen, tendierte diese Zahl 1916 gegen Null. Dabei hat das estnische Stadtamt durchaus auch den Deutschen Unterstützung gewährt, wie beispielsweise im Falle des Neubaus des 1910 eröffneten Deutschen Theaters, das nach einem internationalen Wettbewerb von den Petersburger Architekten Nikolaj Vasil’ev und Aleksej Bubyr’ im nationalromantischen Stil errichtet wurde. Konsolidierung der deutschen Gesellschaft. Vor allem die von der Revolution erschütterte deutsche Gesellschaft suchte aber in erster Linie Halt bei sich selbst. Ende 1906 verzeichnete die später als »Deutscher Verein in Estland« konstituierte Gemeinschaft über 2.300 Mitglieder, schon im Jahr darauf über 3.300. Vornehmliches praktisches Ziel des Vereins war die nun vom Kaiser gebilligte Wiederherstellung des deutschsprachigen Schulunterrichts. So kehrte die weiterhin von der Ritterschaft getragene Domschule 1906 wieder zur deutschen Unterrichtssprache zurück, nachdem diese traditionsreiche Institution aufgrund der Einführung des Russischen in den Schulen der Region zu Beginn der 1890er Jahre geschlossen worden war. Der Verein selbst trug das Mädchen-Gymnasium und die Hansaschule, während seine Schulkommission von Alexander Eggers, dem Direktor der Domschule, geleitet wurde. Man rückte enger zusammen und versuchte, seine Position als Elite der städtischen Gesellschaft vor allem auf dem Bildungssektor zu bewahren. So sehr diese neue, explizit ethnisch und nicht mehr ständisch definierte deutsche Gesellschaft Revals im Rückblick gern als patriotische Aktion dargestellt wurde, war sie doch auch ein defensiver Ausdruck der Unsicherheit, die mit der Revolution Einzug hielt. Der mentale Prozess, von der führenden Schicht zur nationalen Minderheit zu werden, drückte sich in dieser neuen Form des Zusammenschlusses genauso aus wie die Hoffnung auf Solidarität ohne ständische Konflikte innerhalb der ethnischen Gruppe. Der Rückgang der Mitgliederzahlen vor dem Ersten Weltkrieg deutet wiedeReval zwischen den Russischen Revolutionen 

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rum darauf hin, dass die politische Agenda des Vorsitzenden Eduard Freiherr von Stackelberg, der nicht nur alle Deutschen Russlands zusammenschließen wollte, sondern auch Kontakte mit dem Alldeutschen Verband suchte, nicht überall auf Gegenliebe stieß. Symptomatisch für die Unsicherheit im deutschen Milieu war das Scheitern aller Pläne, ein weiteres Baltisches Sängerfest auszurichten. Aufgrund von Terminschwierigkeiten im Jubiläumsjahr 1910 war die Veranstaltung auf 1911 verlegt worden. Als dieses Unterfangen zu scheitern drohte, zeigten die dafür wesentlichen Gründe, wie sensibel die Präsentation deutscher Kultur in Reval mittlerweile geworden war. Zunächst hatte Gouverneur Korostovec zwar Tischreden auf Deutsch erlaubt – die Nationalhymne müsse aber selbstverständlich auf Russisch erklingen –, sich aber die Benennung einer verantwortlichen Person erbeten, die für die Vermeidung politischer Themen geradestehen würde. Da man davon ausging, dass die Entscheidung über die inhaltliche Qualität einer Rede »einem vom Gouverneur dem Feste zuatachierten Beamten überlassen« wird, war niemand zu dieser Verpflichtung bereit. Die Vertreter der Musikvereine sprachen von einer depressiven Stimmung und von einer russischen »Animosität gegen alle Fremdstämmigen und deren Kulturbestrebungen«. Über die Konsequenzen im Falle des Sängerfestes waren sich die beiden ausrichtenden Vereine jedoch nicht einig. Während die »Liedertafel« die Durchführung des Sängerfestes 1911 befürwortete, sprach sich der »Verein für Männergesang« bei einer Mitgliederbefragung deutlich dagegen aus. Allein wollte die »Liedertafel« dieses Fest jedoch in keinem Fall ausrichten, um nicht »eine Zersplitterung in der deutschen Gesellschaft« heraufzubeschwören: Das Ziel, den »inneren Halt der deutschen Gesellschaft« durch das Sängerfest zu demonstrieren, könne so leider nicht mehr erreicht werden. Dafür fuhr die »Liedertafel« 1912 unter der Leitung ihres langjährigen Dirigenten, des estnischen Komponisten Konstantin Türnpu, auf eine Konzertreise durch das Deutsche Reich. Dass die »Liedertafel« musikalisch von einem Esten geleitet wurde, darf übrigens nicht als idyllische multikulturelle Nische im Kulturbetrieb missverstanden werden; der u.a. in Berlin ausgebildete Türnpu hatte sich auf die Arbeit mit deutschen Chören spezialisiert (wofür er estnischerseits kritisiert wurde) und begann erst während des Krieges, als der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache verboten war, einen estnischen Männerchor zu leiten. Abgesehen von einem »Fest des deutschen Liedes« aus Anlass des 60. Jahrestages der »Liedertafel« im Mai 1914 gab es bis zum Ende des Zarenreiches keine größeren deutschen Sängerfeste mehr in Reval. Estnische Aspirationen. Eines der bedeutendsten estnischen Projekte in Tallinn hatte ebenfalls mit Musik zu tun. 1913 wurde als nationalkulturelles 210  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Repräsentationsobjekt das nach einem Entwurf der finnischen Architekten Armas Lindgren und Wiwi Lönn errichtete »Estonia« Theater- und Konzerthaus eröffnet. Es verband Neoklassizismus mit Elementen des Jugendstils, wodurch es sich vom benachbarten, unter betonter Verwendung von Naturstein konzipierten Deutschen Theater demonstrativ unterschied. Wohl aus diesem Grund hatte das von dessen Architekten Vasil’ev und Bubyr’ eingereichte nationalromantische Jugendstil-Projekt keine Chance. Der rationalere finnische Entwurf wurde vorgezogen. Die Idee zu diesem Prestigebau war seit 1902 von verschiedenen estnischen Vereinen erörtert worden, doch scheiterte ein erster Bewilligungsantrag im folgenden Jahr. Zwar hatte die damals noch deutsche Stadtregierung ein zentrumsnahes Grundstück hinter dem Neuen Markt bereits bewilligt, doch erklärte Gouverneur Aleksej V. Bellegarde (1902–1905, *1861, †1942), nach geltendem Gesetz dürften mehrere Vereine nicht gemeinsam Grund besitzen. Erst als 1904 die »Estonia« das Projekt in Alleinregie übernahm, wurde die Grundstücksvergabe bewilligt. Seit Dezember 1906 unterhielt der Verein eine professionelle Theatertruppe nicht zuletzt, um für die Übernahme des geplanten Baus vorbereitet zu sein. Dieser wurde mit der Grundsteinlegung während des estnischen Liederfestes 1910 feierlich begonnen, ein symbolischer Meilenstein, der auch durch die Konflikte mit Korostovec nicht beeinträchtigt wurde. Wie so oft ging es bei diesen Konflikten um Fragen der gebührenden Präsenz des Russischen in kulturellen Manifestationen der nicht-russischen Kulturen des Imperiums. Der Gouverneur ereiferte sich über Diskrepanzen in der russischen Übersetzung der für das Programm gewählten estnischen Lieder und über den Umstand, dass die Worte »orthodoxer Zar« in der estnischen Version der russischen Nationalhymne fehlten, welche natürlich zuerst zur Aufführung zu bringen war. Auch hatten nach Ansicht des Gouverneurs auf den Festmedaillen estnische Wörter ohne russische Begleitung nichts zu suchen. Als Kompromiss wurde die Beschriftung weggelassen. Trotz mancher Obstruktion des Gouverneurs diente die Bebauung des ehemaligen Festungsstreifens in diesen Jahren verstärkt der estnischen nationalen Repräsentation: Die »Tallinner Gesellschaft für gegenseitigen Kredit«, die an der Finanzierung des Theaters führend beteiligt war, errichtete sich zugleich ein eigenes Haus nur wenige Meter vom Theatergebäude entfernt. Korostovec, der nicht gerade als Freund der Esten galt, und sich mächtig darüber aufregte, dass der orthodoxe Oberpriester Tiisik während der Einweihungszeremonie des Theaters nur estnisch sprach, war weitsichtig genug, um zu erkennen, dass sich die Esten hier eine eigene Bank und ein Parlament bauten – so utopisch dies damals auch noch schien. Mit ShakesReval zwischen den Russischen Revolutionen 

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peares »Hamlet« nahm das »Estonia«-Theater seinen Spielplan Ende 1913 auf. Den Erinnerungen von Marta Sillaots zufolge wurde es auch für Esten vom Lande zu einer Attraktion, denn sie wollten sehen, wozu Esten fähig waren. Keine sechs Jahre später tagte hier aber bereits die demokratisch gewählte estnische Verfassunggebende Versammlung. Russische Bestrebungen. Noch war Reval, noch war Tallinn integraler Bestandteil des Russländischen Reiches. Diese Zugehörigkeit auch kulturell zu manifestieren, war die russische Utopie des späten Zarenreiches in Bezug auf die Ostseeprovinzen. Diese Vision einer imperialen Einheitskultur symbolisierte im Falle Revals das bis heute sichtbarste Erbe der Zeit Šachovskojs, die 1900 fertig gestellte Aleksandr-Nevskij-Kathedrale (Michail T. Preobraženskij) (Tafel XX). Alle Versuche jedoch, den in der russischen nationalistischen Presse beschworenen »russischen Grundlagen« nach den Ereignissen der Revolutionsjahre 1905/06 in estländischer Politik, Gesellschaft und Kultur zu mehr Nachdruck zu verhelfen, schlugen fehl oder verfingen sich im Kompetenzgerangel der verschiedenen Instanzen. Weder wurden, wie es Ministerpräsident Petr A. Stolypin gefordert hatte, mehr russische Beamte in Reval, Riga und Mitau eingesetzt, noch stieg die Zahl der Anhänger des orthodoxen Glaubens. Es wäre jedoch verfehlt, das Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten in Reval nur unter dem Aspekt der Konfrontation zu sehen. Genauso wie das deutsche Wirtschaftsbürgertum beste Kontakte zu russischen Kaufleuten pflegte, war der deutschbaltische Adel in die Welt des St. Petersburger Hofs integriert. Genauso wie Russen und Juden im deutschen bzw. estnischen Milieu der Stadt verkehrten, studierten immer mehr Esten an russischen Universitäten. Die orthodoxe Aleksandr-Nevskij-Kathedrale Der Kontrast zwischen diesem im Stil der Moskauer Sakralarchitektur des 16. Jahrhunderts ausgeführten fünfkuppeligen, reich verzierten Kirchenbau und den vergleichsweise spröden Formen der benachbarten klassizistischen Gebäude auf dem Domberg könnte größer nicht sein. Es war ein politischer Bau, der jedoch nicht etwa einem Sonderwunsch Gouverneur Šachovskojs entsprang, sondern sich nahtlos in die Repräsentations­be­mühun­gen der Romanov-Dynastie jener Jahre vor allem in den nicht-russischen Städten des Russländischen Reichs wie Riga, Warschau oder Baku einfügte. Die alte Revaler orthodoxe Hauptkirche war eine noch von Peter I. während des Großen Nordischen Krieges 1716 umgewidmete ehemalige schwedische Garnisonskirche inmitten der engen Altstadt, die für die Prachtentfaltung von Staatsmacht und -kirche ungeeignet erschien. Immerhin lebten 1881 ca. 9.000 Orthodoxe (davon gut 5.000 Russen) in Reval, ein

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Drittel der Bevölkerung. In einem von Šachovskoj verfassten Spendenaufruf für einen Neubau hieß es, als »segensreiches Omen des Triumphes der Orthodoxie« sollte das Kreuz einer russischen Kirche über der Stadt erstrahlen. Dabei war die Ortswahl entscheidende Voraussetzung ihrer Wirksamkeit. Zwar zeigte sich die Stadtverwaltung bereit, ein Gelände außerhalb der Altstadt zur Verfügung zu stellen, doch bestand das von Šachovskoj geleitete Baukomitee auf dem Domberg als einzig würdigem Standort. Dass die Ritterschaft genau an dieser Stelle zuvor ein Martin-Luther-Denkmal geplant hatte, besaß nur noch symbolische Bedeutung. Nun wurde der Domberg für die Orthodoxie beansprucht. Im August 1893 wurde die Baustelle in direkter Nachbarschaft von Schloss und Domkirche geweiht und der Domberg, das Zentrum der deutschen feudalen Herrschaft und des Luthertums, zugleich aber auch legendäres Grab des estnischen epischen Helden Kalev, symbolisch mit einer Prozession für die orthodoxe Kirche in Besitz genommen. Als am 20. August 1895 Šachovskojs Nachfolger Skalon bei der Grundsteinlegung der Kathedrale pathetisch erklärte, dass es zwischen Sibirien und den Ufern der Ostsee und vom Weißen zum Schwarzen Meer keinen Ort in Russland gab, von dem aus keine Spenden für die AleksandrNevskij-Kathedrale eingegangen seien, erklärte er den Bau zu einem allrussischen Projekt, da das »feinfühlige Herz« des russischen Volkes das »moralische und religiöse Bedürfnis« seiner »Landsleute« verstehe und ihnen gerne zu Hilfe eile. Der estnische orthodoxe Oberpriester Tiisik erklärte kurz vor der Fertigstellung des Baus 1900 »dass die neue Kathedrale dem Domberg neues Leben einhaucht und unser Domberg wie der Moskauer Kreml zu einem heiligen Ort wird, an dem man sich zum Gebet versammelt«. Nach Ansicht des Regierungsanzeigers befestigte die Kirche endgültig den »Sieg der Orthodoxie und des russischen Staatswesens an der baltischen Küste«. Literatur: Brüggemann, Karsten: Wie der Revaler Domberg zum Moskauer Kreml wurde: Zur lokalen Repräsentation imperialer Herrschaft im späten Zarenreich, in: Baberowski, Jörg u.a. (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/M. 2008, S. 172–195

Ein Denkmal für Peter I. 1910 artikulierte sich aus Anlass des 200. Jahrestages des Anschlusses Est- und Livlands an das Russländische Reich die Utopie des friedlichen Zusammenlebens unter russischem Szepter. Mit Hilfe der Errichtung eines Denkmals für Peter I. wollte die Estländische Ritterschaft, unterstützt von der estnisch-russischen Stadtregierung, die Loyalität der Stadt zum Reich demonstrieren. Es wundert nicht, dass auch in Riga eine derartige Initiative gestartet wurde. Doch war in Riga die Lokalverwaltung weiterhin fest in deutschen Händen und die Stadt ökonomisch stark genug, die finanziellen Lasten allein zu stemmen. In Reval brauchte es eine reichsweite Spendenaktion, für die sich der Kaiser bereit erklärte, als Schirmherr zu funReval zwischen den Russischen Revolutionen 

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gieren. Schon um eine »ethnische Gemeinsamkeit« in dieser Initiative zu erreichen, wurde Gouverneur Korostovec mit der Durchführung des Projekts beauftragt. Er schrieb Stolypin im Mai 1908, Deutsche und Esten würden am liebsten jeder für sich ein Denkmal bauen; doch habe man verstanden, dass es nur um eine gemeinsame Erinnerung an den großen Zaren gehen könne. Bei allen Differenzen war es trotzdem ein Beweis für die Funktionsfähigkeit der multiethnischen Metropole, ein Projekt dieser Größenordnung auf die Beine zu stellen. Dabei betonte jede der beteiligten Gruppen eine eigene Erinnerung, die in der Figur Peters I. in Stein gegossen wurde. Vor allem die Haltung der konservativen deutschen Eliten in der Ritterschaft war konsequent: Peter als Garant der ständischen Privilegien gebührte jeglicher Lobpreis. Für die deutschen Wirtschaftseliten des aufstrebenden Bürgertums symbolisierte der Kaiser den zweihundertjährigen Frieden unter russischer Herrschaft sowie die »Europäisierung« Russlands und die Bewahrung des lutherischen Glaubens. Beide Gruppen sahen in der Verklärung Peters das Vorbild für eine in ihren Augen ideale russische Herrschaft: Frieden sichern, Eigenarten bewahren und ansonsten die Provinzen in Ruhe lassen. Es war allen klar, dass eine Loyalitätsadresse an den russischen Kaiser letztlich dem Umstand Rechnung trug, dass die eigene privilegierte Position ohne Rückendeckung aus St. Petersburg nicht haltbar war. Für die estnische Bevölkerungsmehrheit wiederum musste die historische Erinnerung an Peter I. eher negativ ausfallen, schon weil er mit der

12  Das Denkmal Peter des Großen dem Petersplatz, ca. 1910 214  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

deutschbaltischen Eigenständigkeit ein ihren aktuellen Bestrebungen konträres Konzept unterstützt hatte. Die Stadtregierung wiederum dürfte mit der Errichtung des Denkmals in erster Linie die Strategie verfolgt haben, nach 1905 um Vertrauen und Sympathie in höchsten Kreisen zu werben. Und gewährte die Stadtordnung nicht die eigene Vorherrschaft in der Stadt? Die Figur des Imperators als »Europäisierer« wiederum mag auch der eigenen Klientel vermittelbar gewesen sein. Demgegenüber sahen die Russen in Peter vor allem den Eroberer der Ostseeküste – und genau diese Interpretation überwog letzten Endes auch in der semiotischen Aussage des Denkmals, welches den persönlichen Geschmack des Kaisers traf. Nikolaus II. hatte das Ergebnis eines Wettbewerbs annullieren lassen und dem Bildhauer Leopold Bernstamm, der in St. Petersburg studiert und bereits Denkmäler für Puškin, Dostoevskij und Gončarov errichtet hatte, den Auftrag erteilt. Auf dem Revaler Heumarkt wurde nach Bernstamms Entwurf eine gut fünf Meter hohe Figur auf einen sechs Meter hohen Sockel gestellt, die die Uniform des Preobraženskij-Regiments trug. Das Monument zeigte alle Insignien des erfolgreichen und weitsichtigen Feldherrn, der dem Imperium die Ostseeküste unterworfen hatte. Der reichsweiten Bedeutung der Denkmalserrichtung entsprach, dass Korostovec die Organisation der Eröffnungszeremonie leitete. Der Stadt blieb nur, am Abend vor der Eröffnung Ende September den Heumarkt in »Petersplatz« (russ. Petrovskaja ploščad’, estn. Peetriplats) umzubenennen, sodass die »Eroberung« auch toponymisch deutlich wurde. Bürgermeister Lender hielt aus diesem Anlass eine feierliche Ansprache an den (abwesenden) Nikolaus II. So muss dieses Denkmal als ein imperiales Projekt angesehen werden, das sich dem lokalen Kontext nur unwesentlich anpasste. Bereits das Ritual der Einsegnung des Standortes auf dem Heumarkt durch den Orthodoxen Klerus hatte das Interpretationsmodell der Regierung unterstrichen: Auf Wunsch des Kaisers fand die Kreuzprozession von der Nev­skij-Kathedrale zum Heumarkt am 27. Juni 1909 statt, dem 200. Jahrestag des Sieges Peters gegen Karl XII. bei Poltava. Die anwesenden Vertreter der Gouvernementswie der Stadtverwaltung und der Ritterschaft hatten dabei unter dem Läuten der Kirchenglocken und dem Salut der im Hafen liegenden Schiffe die Knie zu beugen. Die Stadt hatte sich hier ein steinernes Zeugnis ihrer Zugehörigkeit zum Russländischen Reich gebaut. War dies der Grund dafür, dass russischen Zeitungsberichten zufolge keine richtige Feststimmung aufkam und viele Plätze auf der Tribüne der zahlenden Gäste der Eröffnungszeremonie leer blieben? Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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Die offiziellen Feierlichkeiten, die mit einem Gottesdienst in der NevskijKathedrale im Beisein von Großfürst Konstantin Konstantinovič eingeleitet wurden, trugen einen betont russischen Charakter. Auf dem Petersplatz sangen Kinder die russische Hymne, Lieder über das alte Russland, die Wolga und den Sieg über die Schweden bei Poltava. Bei der Enthüllung läuteten die Glocken der Stadt, bevor im Anschluss der Großfürst die Esten, Russen und Deutschen – an jeweils getrennten Orten – begrüßte. Offenbar machte sich auch die Regierung keine Illusionen mehr über die Weiterexistenz der traditionellen ständischen Gesellschaft. Dann war das Jubeljahr vorbei. Die Peter-Statue jedoch wurde von den Esten bereits zwölf Jahre später eingeschmolzen. Während Peters bronzener Kopf vor dem Peter-Häuschen in Katharinental aufgestellt wurde, soll der Rest des Denkmals buchstäblich zu Geld gemacht und für estnische Markstücke wiederverwendet worden sein. Der Kopf wurde wohl im Zweiten Weltkrieg zerstört. Reval als Metropole. Es gab noch eine weitere Revaler Utopie in diesen letzten Vorkriegsjahren, die man eine großstädtische nennen könnte, denn es ging um die Neugestaltung der Provinzhauptstadt zu einer Metropole von europäischem Format. Das schnelle und chaotische Wachstum der Stadt – allein zwischen 1900 und 1913 verdoppelte sich die Einwohnerzahl – erforderte mehr zentrale Planung als bisher, da zuvor allein der Bogen der Eisenbahntrasse dem Ausbau Revals so etwas wie Form verliehen hatte. Zudem machte sich hier, anders als etwa in Helsinki oder Riga, die zahlenmäßige Schwäche eines repräsentationsbedürftigen wohlhabenden Bürgertums bemerkbar, weshalb es keine auf Privatinitiative hin errichtete Jugendstil-Viertel in den Vorstädten gab. Das Fehlen einer gründerzeitlichen »Neustadt« bedingte nach damaliger Anschauung den provinziellen Charakter Revals. Nachdem die Einwohnerzahl die Marke 100.000 überschritten hatte, rief man 1912 einen internationalen Architektenwettbewerb aus, um erstmals einen Entwicklungsplan für das gesamte Stadtgebiet aufzustellen. Dabei hatten die eingereichten Entwürfe von ca. 300.000 Einwohnern auszugehen, die man Mitte der 1930er Jahre zu erreichen gedachte (tatsächlich blieb die Einwohnerzahl bis zum Zweiten Weltkrieg jedoch unter 150.000). Zum Sieger kürte die Jury den finnischen Architekten Eliel Saarinen, dessen Plan bei vollständiger Umsetzung sogar für 650.000 Einwohner angelegt war. Einer der Vorteile von Saarinens Entwurf lag in seiner Flexibilität, da er jederzeit an den tatsächlichen Bevölkerungszuwachs angepasst werden konnte. Zudem überzeugte Saarinens Prinzip der »organischen Dezentralisation«, das die Aufteilung des Vorstadtgürtels in mehrere geschlossene Einheiten vorsah, sodass jeder Bezirk Wohneinheiten, Industriebetriebe, Schulen, Ein216  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

kaufsmöglichkeiten sowie Unterhaltungs- und Kultureinrichtungen vorsah. Die Altstadt sollte Saarinen zufolge als Ensemble bewahrt bleiben, doch wären alle zentralen Funktionen ausgelagert worden. Während ihre Bewohner in die neue »City« umziehen würden, böte das historische Zentrum Platz für Arbeiterfamilien.

13  Das Rathaus von Reval/Tallinn. Eliel Saariens Entwurf im Architekturwettbewerb von 1912, Ansicht von Norden

Auch die Stadtverwaltung sah die Notwendigkeit, zentrale Funktionen für die Gesamtstadt aus dem alten Zentrum auszugliedern. 1910 wurde entschieden, ein neues Rathaus vor der Stadtmauer zu errichten. Als Standort wurde das der Lehmpforte (Viru värav) vorgelagerte Areal zwischen Russischem und Neuem Markt vorgesehen, wo heute das Hotel Viru steht. Diesen Wettbewerb hatte Saarinen allerdings verloren; die 1912 neu gewählte Stadtverwaltung jedoch trug nicht nur dem Ausgang des Stadtplanungswettbewerbs Rechnung, sondern hatte sich auch vor einer öffentlichen Meinung zu verantworten, die den siegreichen Entwurf des Revaler Architekten Alexander Jaron, der dem Kieler Rathaus nachempfunden war, aufgrund des ihm innewohnenden »deutschen Geistes« einhellig ablehnte. In der estnischen Presse diskutierte man höchstens die Frage, ob Saarinens Gesamtplan in seinen Maßstäben nicht für Tallinn zu prächtig und zu gigantisch ausgefallen war. Da Saarinen das Rathaus in seinen Gesamtplan bereits seinem eigenen Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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Entwurf gemäß eingefügt hatte, entschied das neue Stadtamt, auch den Rathausbau dem Finnen anzuvertrauen. So wäre in unmittelbarer Nachbarschaft des estnischen Nationaltheaters und der Bank auch das Tallinner Rathaus errichtet worden. Aber der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die Ausführung. Krieg, Revolution und die Proklamation der Republik Estland Der Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Russland brachte vor allem für die deutschen Einwohner Revals erhebliche Einschränkungen. Von dem Verbot, die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit zu gebrauchen, waren deutsche Zeitungen und Vereine betroffen, aber auch die Schulen, für die mit Beginn des Schuljahres 1916/17 ein Verbot der deutschen Unterrichts­ sprache erlassen wurde. Die antideutsche Propaganda mancher zentraler russischer Presseorgane erzeugte ein erhebliches Misstrauen, das sich gerade auch in den Ostseeprovinzen verbreitete. Denunziationen von »Spionen«, die meist unberechtigt waren, heizten die Spannungen derartig an, dass die Regierung ernsthafte Schritte unternehmen musste, um die antideutsche Hysterie zu unterbinden. Im Verlauf des Krieges erwies es sich jedoch als immer schwieriger, die Hetze gegen den »inneren Feind« zu beeinflussen, während zugleich die Esten sich im Kampf gegen die Deutschen als wahre Patrioten beweisen wollten, um so womöglich eine größere Autonomie zu erlangen. Während das Gespenst des estnischen Separatismus in der Perspektive der Regierung nahe legte, die traditionellen Bande mit den bewährten, loyalen deutschbaltischen Institutionen neu zu knüpfen, sahen sich Letztere mit der Aussicht auf den endgültigen Machtverlust in den Ostseeprovinzen konfrontiert. Auch in Reval beteiligte sich die deutsche Oberschicht daher an Wohltätigkeitsveranstaltungen, unterstützte das russische Rote Kreuz und ließ es an Loyalitätsbekundungen zum russischen Kaiser nicht fehlen. Revals Versorgungslage wurde über die kriegsbedingten Engpässe hinaus durch die zahlreichen Flüchtlinge aus Liv- und Kurland verschärft, nachdem 1915 die deutschen Truppen bis an die Düna vorgedrungen waren. In der Stadt, die ohnehin aufgrund des Zuzugs von Werftarbeitern aus allen Nähten platzte, stiegen Mieten und Lebenshaltungskosten. Vor allem aufgrund des russischen Elements unter den Arbeitern und Soldaten sei die Stadt nach den Erinnerungen von Sillaots »fremdartig« geworden, Schlangen vor allem für Zucker und Petroleum seien an der Tagesordnung gewesen, doch habe noch 218  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

eine gewisse »Gleichgültigkeit« gegenüber dem Krieg geherrscht. 1915 und vor allem 1916 erzeugten Streiks in den großen Fabriken aber zusätzliche Spannungen: Reval als Seefestung spürte die Nöte der Front genauso wie die des Hinterlandes. Anfang 1917 wurde zudem eine neue Stadtduma gewählt, wobei erstmals eine estnische »Partei der Parteilosen« antrat – wenn auch ohne größeren Erfolg –, die Macht des alten estnisch-russischen Blocks zu brechen. Noch bevor das Wahlergebnis offiziell bestätigt werden konnte, brach jedoch in St. Petersburg die Februarrevolution aus. Nachrichten von den Ereignissen in der Hauptstadt, wo sich Soldaten geweigert hatten, auf demonstrierende Arbeiter zu schießen, verbreiteten sich über den Telegraf wie ein Lauffeuer. Am 1. März begann auch in Reval eine Streikwelle in der Boecker-Werft, der sich im Laufe des Tages die Arbeiter der anderen größeren Industriebetriebe anschlossen: Am Abend hatten 18.000 von ihnen die Arbeit niedergelegt. Im Rahmen des Generalstreiks am nächsten Tag fanden sich schließlich an die 30.000 Menschen zu einer Kundgebung auf dem Neuen Markt ein. Die Revolution hatte Reval erreicht: Matrosen übernahmen das Kommando auf den Kriegsschiffen und Arbeiter stürmten das Gefängnis in der »Dicken Margarethe«. Gouvernements- und Polizeiämter wurden geplündert und ihre Akten verbrannt, während Arbeitermilizen versuchten, die Flammen unter Kontrolle zu bringen. Die Revolution 1917 in Tallinn Marta Sillaots war seit Herbst 1916 im Tallinner Hauptpostamt beschäftigt, welches von einem strengen Russen namens Aleksandrov geleitet wurde. Hier erfuhr sie als eine der ersten von der Abdankung Nikolaus’ II. im März 1917. Noch am selben Tag hätten sich einige ihrer Kolleginnen rote Bändchen an die Bluse geheftet. »All die Umzüge, Demonstrationen und roten Banner, die Tallinn im Winter und Frühjahr 1917 sah! Diese improvisierten Meetings, die es an jeder Straßenecke gab!... All die Dispute, die ständig organisiert wurden!... Die Russen mit ihrem Redevirus steckten die Esten an, die Redebeiträge hatten kein Ende. Wenn (…) ein Matrose und ein Soldat oder ein Soldat und ein estnischer Arbeiter Meinungsverschiedenheiten hatten, dann stieg derjenige der Streitenden, der besser mit Worten umgehen konnte, auf eine Treppenstufe, hob sich auf einen Laternenposten oder sprang auf einen Lastwagen – und schon war das Meeting im Gange, die Zuhörer sammelten sich in Trauben um den Redner, man rief ›richtig!‹ und ›hurra!‹, manchmal auch ›nieder damit!‹ und genoss die ›Freiheit‹ bis zur Besinnungslosigkeit. (…) Die Tallinner Beamtenschaft – darunter auch die von Post und Telegraf – war von Anfang an gegen den Sowjet; Grund hierfür war wohl in erster Linie die Überheblichkeit der byzantinischen Bürokratie,

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der traditionell-pejorative Blick des russischen Staatsdieners auf die Vertreter der ›Unterschichten‹. Die estnischen Beamten hatten einen anderen und viel wichtigern Grund: ihr wachsendes nationales Selbstbewusstsein, das sich durch die Intoleranz des russischen Arbeiter- und Soldatensowjets gegenüber dem Estentum provoziert fühlte. In der nationalen Frage vertrat der feuerrote Tallinner Sowjet genau denselben Standpunkt wie der ehemalige Gouverneur Korostovec – und in dieser Frage waren auch die russischen Beamten in Tallinn mit dem Sowjet einer Meinung, deren Gesinnung auch durch das an der Brust getragene rote Band nicht verändert wurde. Wenn es um das Estentum ging, arbeiteten die russischen Beamten mit dem Sowjet Hand in Hand. (…) Der Landesbewohner war für den Russischen Beamten ein ›čuchna‹ [von russ. čuchonec, pejorative Bezeichnung für alle Ostseefinnen; K.B.], für den russischen Bolschewiken aber ein ›Reaktionär‹; das Wort ›Estland‹ versetzte den Herzen beider einen Stich – keiner wollte etwas vom Recht der Esten hören, im eigenen Heim über die lebenswichtigen Fragen selbst zu entscheiden. Ich werde nie vergessen, mit welchen Blicken mich meine russischen Kolleginnen ansahen, als ich aus Anlass der ersten Sitzung des estnischen Maapäev am 1. Juli ein Bändchen in den estnischen Nationalfarben auf der Brust trug; man wagte aber kaum, etwas zu sagen, und begnügte sich mit einem Schmunzeln: ›all dies‹ war ja nach Ansicht der Russen nur vorübergehend, diese ›Unordnung‹ konnte nicht lange dauern – so gab man mir indirekt zu verstehen.« Quelle: Sillaots, Marta: Sealtpoolt künniseid, Tallinn 2009, S. 118f.

In dieser Situation berief Bürgermeister Poska eine gemeinsame Sitzung der alten und der neu gewählten Stadtverordneten ein, auf der ein zehnköpfiges Komitee gebildet wurde. Letzteres wurde geleitet von Poska und dem Stadtrat Gavriil Beljagin, einem Streichholzfabrikanten, der bereits seit 1904 in der Stadtduma saß und unter Lender stellvertretender Bürgermeister gewesen war. In diesen revolutionären Wochen sah sich die neue Stadtverwaltung jedoch mit der wachsenden Konkurrenz des Arbeiter- und Soldatensowjets konfrontiert, der sich nach dem Vorbild ähnlicher Gremien aus dem Jahre 1905 gebildet hatte. Während in den ersten Tagen das Exekutivkomitee des Sowjets noch mit im Rathaus saß, setzte sich unter seinen Deputierten zunehmend die Ansicht durch, dass die Stadt kein Gremium brauchen könnte, das nur von reichen Hausbesitzern gewählt worden war. Zudem bestand der Sowjet zum überwiegenden Teil aus russischen Soldaten und Arbeitern sowie aus lettischen Flüchtlingen, die sich in Reval kaum zurechtfanden. So forderte das Exekutivkomitee des Sowjets die gesellschaftlichen Organisationen der Stadt zunächst auf, ihre Vertreter zu entsenden, da es möglichst für alle Schichten sprechen wollte. Die höchst biederen zwölf Bürger, welche die russischen Organisationen daraufhin entsandten, oder den Vertreter der 220  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

Estländischen Ritterschaft betrachteten die übrigen Delegierten jedoch mit höchstem Argwohn. Der Umstand, dass der Sowjet mit der Armee über die einzige faktische Macht in der Stadt verfügte, sprach für die Suche nach einem Kompromiss. Aber auch der Vorschlag Poskas, Vertreter des Sowjets in die Stadtduma aufzunehmen, wurde erst nach langen Verhandlungen akzeptiert. Tatsächlich fanden jedoch nur wenige Sowjetdelegierte den Weg in das Rathaus. Der Sowjet verstand sich mehr und mehr als Organ der revolutionären Demokratie für ganz Estland. Aber auch als solches bekam er es bald mit Poska zu tun, der als Bürgermeister der estländischen Hauptstadt Anfang März von der Provisorischen Regierung in St. Petersburg zum Gouvernementskommissar ernannt worden war. Nun wechselte er vom Rathaus in das Schloss auf dem Domberg, um den Gouverneur abzulösen. Zum ersten Mal war die Provinz Estland damit unter der nominellen Führung eines Esten. Mit Beljagin übernahm ein Russe die Funktion des Bürgermeisters von Reval. Zugleich mit der Ernennung Poskas hatte die bürgerliche Regierung Russlands zwei weitere Weichen gestellt: Zum einen wurde der Zuschnitt der drei Ostseeprovinzen so geändert, dass das Gouvernement Estland von nun an das gesamte Siedlungsgebiet der Esten umfasste, ihm also Nordlivland angeschlossen wurde. Zum anderen wurde dem Gouvernementskommissar mit dem Maapäev (Landtag) ein gewähltes Organ an die Seite gestellt. Auch wenn dessen Wahl auf dem Land nur indirekt über Wahlmänner erfolgte, spielte Besitz für das Wahlrecht keine Rolle, welches zudem erstmals auch Frauen erhielten. Der Sowjet erkannte die Herausforderung und bemühte sich, die Legitimität dieses neuen Gremiums zu untergraben, wofür er auch die direkte Konfrontation mit Poska nicht scheute. Aber die eigenmächtige Erklärung des Tallinner Sowjets zum höchsten Gremium der Provinz wurde zunächst nicht einmal von den anderen Sowjets in Narva und Tartu anerkannt; eine Absetzung Poskas war vor allem unter den Esten unpopulär. Die Losung »Alle Macht den Sowjets«, mit denen schließlich die bolschewistische Fraktion der RSDRP in die Oktoberrevolution zog, bekam auch in Tallinn erst im Sommer 1917 wieder Auftrieb, nachdem ein Armeeputsch in Petersburg gescheitert war und die Deutschen in Riga einmarschiert waren. Die Gerüchte, die kriegswichtigen Fabriken und Industrieanlagen würden ins Innere Russlands evakuiert, ließ auch die estnischen Arbeiter eine rasche Beendigung des Krieges fordern, wodurch sie automatisch zu Anhängern der Bolschewiki wurden. Diese Radikalisierung der Stimmung hatte bei den Wahlen zu einer neuen Stadtduma im August zu einer Machtverschiebung zugunsten der Partei Lenins geführt. Diese Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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Neuwahlen trugen dem Umstand Rechnung, dass mit der Februarrevolution Russland eine Demokratie geworden war, weshalb die Städteordnung flugs revidiert worden war. Nach freiem, gleichem, geheimen und direktem Wahlrecht erhielten die Bolschewiki bei einer Wahlbeteiligung von 68% der knapp 105.000 Wahlberechtigten 31 der 101 zu vergebenen Sitze. Auf die estnischen Sozialrevolutionäre entfielen 22, ein estnischer Block erhielt 18 und die estnischen Sozialdemokraten (Menschewiki) 12 Mandate. Jüdische, polnische sowie lettisch-litauische Parteien erhielten je einen Sitz, während der Bund der deutschen Organisationen mit fünf Abgeordneten vertreten war. Zum Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung wurde mit Jaan Anvelt am 24. August im Saal der Realschule der führende estnische Bolschewik gewählt, zu seinen Stellvertretern je ein Sozialrevolutionär und Menschewik. Da keine Einigung erzielt werden konnte, wer den Bürgermeister stellen durfte, verzichtete man auf die Wahl. Dafür sollten die neu gewählten Mitglieder des Stadtamts einen Vorsitzenden wählen. Da in diesem Gremium neben zwei Sozialrevolutionären, einem Menschewik und einem Vertreter der Arbeitspartei fünf Bolschewiki saßen, wurde mit Voldemar Vöölmann einer der ihren gewählt. Einer der ersten Beschlüsse der neuen Stadtduma war die Einführung des Estnischen als Amtssprache, was der gesetzestreue Beljagin noch zu verhindern gewusst hatte. Tallinn erlebte in den Spätsommer- und Herbsttagen des Jahres 1917 die Gegensätze der Revolution. Die bolschewistischen Führer hatten das noble Hotel »Goldener Löwe« in der Schmiedestraße zur ihrer »Kommune« erklärt. Im Kaiserlichen Palais Katharinental tagten Ende September die revolutionären Organe des Sowjets, die Truppen- und Arbeiterkomitees sowie das Zentralbüro der Gewerkschaften, um der Forderung »Alle Macht den Sowjets« Nachdruck zu verleihen und zu erklären, dass dies mit allen Mitteln der Soldaten der Festung auch durchgesetzt werde. Als jedoch kurz darauf die Nachricht eintraf, dass die deutschen Truppen die Estland vorgelagerten Inseln besetzt hätten, brach die revolutionäre Ordnung wieder zusammen. Einige russische Truppeneinheiten gerieten in Panik und zogen sich nach Russland zurück. Auf den Straßen der Stadt herrschte Chaos, das sich Anfang Oktober in der Plünderung der Schnapsbuden entlud. Manche Straße war tagelang von Glassplittern übersäht. Je mehr die Macht in der Stadt in die Hände des Sowjets überging, desto schlechter wurde die Versorgungslage, nicht zuletzt, weil nun auch aus den Kaffeehäusern Brot und Kuchen verschwanden. Im Oktober seien sogar Kartoffeln zur Delikatesse geworden, erinnerte sich Sillaots. Einzig schwarzbraune und saure Nudeln seien nach langem Schlangestehen noch erhältlich gewesen. Geheizt wurde 222  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

mit Torf. Nach der Oktoberrevolution begann eine Zeit des Abwartens, der Angst und des Hungers. Sillaots beschrieb die Lage im Hauptpostamt, wo bolschewistische Kommissare nun jeden Schritt überwachten, bis die Angestellten in einen »konterrevolutionären« Streik traten, der mit einem Kompromiss beigelegt wurde – schließlich brauchten auch die neuen Machthaber erfahrene Spezialisten, um zumindest die Verbindung mit der Hauptstadt aufrechtzuerhalten. Oft sei auch der neue starke Mann Anvelt im Amt gewesen, um sich in langen Verhandlungen Anweisungen aus Petrograd zu holen und den Angestellten lange Reden zu halten. »Er hinterließ den Eindruck eines äußerst nervösen, unausgeglichenen Menschen; er war auch kein begnadeter Redner; der Blick aus seinen fanatischen Augen war fahrig und ausweichend«. Vor allem den Frauen machte er Angst. Überall fürchtete man, mit Soldaten in Kontakt zu kommen. Häufige Durchsuchungen verbreiteten Unsicherheit. Essen aufzutreiben glich einem Lotteriegewinn. Viele Geschäfte hatten geschlossen. Erhard Dehio, Präses des Börsenkomitees, schrieb im Januar 1918: »Außerdem täglich wachsende Unsicherheit. Fräulein v. Igelström wurde um neun Uhr abends auf dem Langen Domberg ihres Armbandes und ihrer Ringe beraubt. Bei Arthur Koch sind gestern abend mehrere Leute auf dem Speicher eingebrochen, haben sich dort eine Menge Kleider, Pelze etc. bereitgelegt und sind dann auch nach unten gegangen. Als Arthur Koch um halb elf Uhr zu Bett gehen wollte, überraschte er die Bande im Korridor, er wurde sofort beschossen und hat eine Revolverkugel in die Seite bekommen«. Unter Vöölmanns Leitung bestand die alte Stadtverwaltung bis Anfang März 1918, als die deutsche Okkupationsmacht die Kontrolle übernahm. Nach der Oktoberrevolution hatte er sich erfolgreich der Entmachtung durch den Sowjet widersetzt, für den ohnehin wichtiger war, die Amtsgeschäfte Poskas auf dem Schloss zu übernehmen. Wie in Petrograd verlief auch in Reval die Machtübernahme unblutig. Sie geschah am 27. Oktober 1917, als zwei Bevollmächtigte des Sowjet-Exekutivkomitees unter Leitung von Viktor Kingissepp vor Poska traten, »sich sehr still und höflich vorstellten und erklärten, sie seien gekommen, um zu übernehmen«, wie Eduard Laaman in seiner Poska-Biographie schrieb. Poska habe Kingissepp sogar noch unterzeichnen lassen, dass diese »Übernahme« das Resultat eines »Staatsstreichs« sei. Einige Tage später lösten die Bolschewiki schließlich auch den Maapäev auf. Vöölmann fungierte weiterhin als Bürgermeister, als er am 24. Februar 1918 eine Sitzung des von seinen eigenen Parteigenossen Ende Januar offiziell aufgelösten Stadtrats einberief. Die meisten Bolschewiki waren zu Reval zwischen den Russischen Revolutionen 

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diesem Zeitpunkt jedoch bereits auf der Flucht, nachdem sie in der Nacht zuvor erfahren hatten, dass Estland infolge der abgebrochenen Verhandlungen in Brest-Litovsk den deutschen Truppen überlassen worden sei. Die sog. Vogelfrei-Erklärung der Bolschewiki, nach der zahlreiche Vertreter des deutschbaltischen Adels wie z.B. Dellingshausen und auch einige führende Esten im Januar verhaftet und nach Petrograd bzw. ins sibirische Krasnojarsk verschleppt worden waren, war nicht ohne Eindruck auf diese Verhandlungen und die Entscheidung der deutschen Führung gewesen, Estland zu besetzen. Seitdem am 18. Februar bekannt geworden war, dass die Deutschen bereits Dünaburg (lett. Daugavpils, russ. Dvinsk) besetzt hatten, hielt es die russischen Soldaten nicht mehr in der Stadt; die Aufrufe des Sowjets, diese Nachricht sei eine »Provokation der Bourgeoisie«, waren vergeblich. Allerdings schlossen die Bolschewiki noch am 20. Februar das letzte nicht gleichgeschaltete estnische Blatt, den »Sotsiaaldemokraat«, wegen der »Falschmeldungen« von der bevorstehenden deutschen Okkupation. Im Telegrafenamt konnte Sillaots hingegen den Vormarsch anhand der nach und nach abreißenden Verbindungen genau verfolgen. Am 24. Februar kam die letzte Meldung aus Tartu: »Jetzt dringen die Deutschen in die Post ein. Lebt wo–«. Nun traten aber auch die kurz zuvor entmachteten und untergetauchten Vertreter des Maapäev wieder auf den Plan, der sich kurz vor seiner Auflösung noch zur höchsten legitimen Macht in Estland erklärt hatte. Am Nachmittag des 24. Februar, in dem kurzen Machtvakuum zwischen der Flucht der Bolschewiki und der Ankunft der deutschen Truppen, bildete sich im Bankgebäude in der Nähe des »Estonia«-Theaters ein provisorisches Machtzentrum. Dorthin begaben sich auch die drei Mitglieder des vom Maapäev bestimmten »Rettungskomitees«, zu denen auch Päts zählte, in einem mit der estnischen Trikolore geschmückten Wagen. In Pärnu (Pernau), wo der Machtwechsel aufgrund der vorrückenden deutschen Truppen eher stattgefunden hatte, war bereits am Abend des 23. Februar im Namen des »Rettungskomitees« die Republik ausgerufen worden. In Tallinn jedoch blieb in diesem Sinne auch am 24. Februar – dem heutigen estnischen Unabhängigkeitstag – alles ruhig. Dem estnischen Historiker Ago Pajur zufolge wurde das Unabhängigkeitsmanifest in Tallinn erstmals »am Morgen des 25. Februar verlesen«, woraufhin »auf Befehl des Rettungskomitees (...) in den Schulen Festakte und in den Kirchen Gottesdienste abgehalten« wurden. Letztere fanden nur in den estnischen Gemeinden – d.h. in der Karls- und Johanneskirche – sowie in der orthodoxen Verklärungskathedrale statt. Die deutschen Pastoren hätten sich damit entschuldigt, »dass das Manifest noch 224  Reval vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

nicht ins Deutsche über­setzt worden sei. (…) Am Mittag wurde im Stadtzentrum zu Ehren der staatlichen Unabhängigkeit Estlands eine Militärparade organisiert, an der die Einheiten des 3. Estnischen Regiments teilnahmen. Die Parade wurde auf der Treppe der Realschule vom Premierminister der Provisorischen Regierung Konstantin Päts abgenommen, der den vor der Realschule versammelten Menschen auch das Unabhängigkeitsmanifest verlas«. Am Morgen hatten viele ältere Herren, wie Sillaots beobachtete, bei der Lektüre des überall ausgehängten Manifests ergriffen ihren Hut gezogen. Später sah sie die ersten deutschen Truppen: »Viele Soldaten hatten Blumen an ihrer Brust, die Offiziere hielten ganze Sträuße in ihren Händen. (…) An der Rosenkranzstr. begrüßten deutsche Frauen die Ankommenden mit hysterischen Schreien (…) und fröhlichem Geschnatter. Die Deutschen antworteten wortkarg und lustlos«. Aus anderer Perspektive schrieb Dehio: »Alle guten Elemente der Stadt waren in heller Freude, auch die Esten, soweit sie nicht Bolschewiken waren. (…) Ich sah zum ersten Mal deutsche Soldaten in der feldgrauen Kriegsuniform und mit dem Stahlhelm. Man wusste wirklich nicht, war es Traum oder Wirklichkeit!« Von der Erklärung der Unabhängigkeit, die der alten Hansestadt nun den Titel einer Hauptstadt der Republik Estland eintrug, ließen sich die deutschen Militärs nicht weiter beeindrucken. Anfang März gelangte auch die Zivilverwaltung unter ihre Aufsicht.

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IV. TALLINN IM 20. JAHRHUNDERT 1. Tallinn im Ersten Weltkrieg: deutsche Besatzung und   estnischer Unabhängigkeitskrieg Mit der deutschen Besatzung kam auch »deutsche Ordnung« nach Tallinn, die jedoch nicht für die Bevölkerungsmehrheit galt. Nur gegen Bestechungsgelder habe man notwendige Papiere erhalten können, klagte Sillaots. Überhaupt habe sich das Verhalten der deutschen Soldaten, die nach russischem Vorbild Soldatenräte gebildet hatten, kaum von dem der Russen unterschieden. Wichtige Gebäude der Stadt, wie das Hauptpostamt oder das Schlossareal auf dem Domberg waren verwüstet. Der Hunger sei unter deutscher Besatzung sogar noch schlimmer geworden, da alle Landesprodukte nach Deutschland verfrachtet wurden. Estnische Zeitungen wurden gleichgeschaltet oder verboten, estnische Politiker verhaftet und in Lager geschickt. Nachdem der öffentliche Gebrauch des Deutschen seit Kriegsausbruch verboten worden war, durften Briefe nun nur noch auf Deutsch geschrieben und mussten in einem offenen Umschlag verschickt werden, um die Militärzensur zu vereinfachen. Auch die Lokalverwaltung war in den Händen der Armee. In Reval wurde der Präses des Börsenkomitees, Erhard Dehio, zum Bürgermeister ernannt. Dehios Erinnerungen an diese Zeit sehen freilich anders aus als die von Sillaots. Er beschrieb, wie Generalleutnant Adolf von Seckendorff am 25. Februar eine Parade vor dem Rathaus abhielt, vom Pferde aus eine kurze Ansprache hielt und ein Hoch auf Kaiser Wilhelm II. ausrief. »Zum ersten Mal nach vielen Jahren erklangen wieder deutsche Worte öffentlich in unserer Stadt«. Er selbst ließ es sich nicht nehmen, die schwarz-weiß-rote Fahne auf den Turm des Rathauses zu setzen. Im Einvernehmen mit Seckendorff bildete er in den nächsten Tagen eine Stadtverwaltung, der auf ausdrückliche Weisung aus Berlin auch einige Esten angehören sollten. Tatsächlich wandte sich Dehio u.a. an Päts und Poska, die jedoch deutlich machten, dass sie als 1917 gewählte Stadtverordnete keinesfalls in ein von der deutschen Militärverwaltung ernanntes Gremium eintreten würden. Schließlich kam er mit einigen ehemaligen städtischen Beamten überein, die allerdings dem politischen Leben eher fern standen. Später wurde einem Hauptmann Schmidt, im Zivilberuf Stadtsenator in Lüneburg, die Funktion des Stadthauptmanns übertragen, woraufhin Dehio als »ehrenamtlicher Bürgermeister« wieder in das zweite Glied rückte. Schmidt richtete die Revaler Stadtverwaltung 226  Tallinn im 20. Jahrhundert

»nach deutschen Methoden und Erfahrungen« ein und kümmerte sich um die Ernährung der Bevölkerung, wobei, wie Dehios Sohn Walter resümierte, »nicht immer geschickt die reichsdeutschen Rationierungsmethoden« angewandt wurden. Dass die Militärverwaltung auch »Zuschüsse für das deutsche Mutterland herauswirtschaften« wollte, habe schließlich doch »zu gewissen Spannungen« geführt. Vergleicht man Dehios Aussagen mit denen von Sillaots, kommt die Diskrepanz der Einschätzungen zutage; dass sich Dehio im Nachhinein kritisch über die Einführung des Deutschen in allen Schulen Revals äußerte, da dies »in fataler Weise« an die gerade einmal 20 Jahre zurückliegende Einführung des Russischen erinnerte, illustriert wiederum die Distanz, die bald zwischen deutschen Militärs und deutschbaltischen Verantwortlichen in Fragen der Lokaladministration auftrat. Aber auch in Kenntnis der zunehmend bedenklich klingenden Nachrichten von der Westfront hätten weite baltische Kreise mit Zuversicht »in eine deutsche Zukunft ihrer Heimat« geblickt. Und die Wiedereröffnung der Dorpater Universität als deutsche Hochschule im September wurde bei aller Enttäuschung über die Weigerung der Esten mitzumachen doch weitgehend begrüßt. Das Ende dieser »deutschen Zukunft« ließ nicht auf sich warten: Nach dem 11. November traten Schmidt und Dehio von ihren Posten zurück. Noch unter dem Schutz – bzw. der Kontrolle – deutscher Offiziere übernahmen am 12. November Vertreter der alten Stadtverwaltung die Amtsgeschäfte, bevor am 28. November mit Aleksander Hellat ein Sozialdemokrat Bürgermeister wurde, der 1917 bereits Milizchef gewesen war. Zugleich war die estnische Provisorische Regierung unter Berufung auf das Manifest vom 24. Februar angetreten, das Land zu regieren. Nach der Rückkehr des designierten Premierministers Päts aus deutscher Gefangenschaft ließ sie sich am 27. November von den Abgeordneten des Maapäev im Amt bestätigen. Angesichts marodierender deutscher Truppen auf dem Rückzug, eines aktiven bolschewistischen Potentials in den Städten und der anhaltenden Versorgungskrise war dies kein leichtes Unterfangen. Die Fabriken standen still, Arbeiter demonstrierten und der Rat der Volkskommissare in Moskau fühlte sich nicht mehr an den Frieden von Brest-Litovsk gebunden. Über die baltischen Küstenländer planten die Bolschewiki, die Weltrevolution nach Europa zu tragen. Als am 28. November die Rote Armee Narva attackierte, bat Päts seine Ministerkollegen aus Angst vor einem Putsch die nächsten Nächte nicht zu Hause zu schlafen. Verzweifelte Aufrufe an »jeden tapferen Mann«, sich freiwillig bei der im Entstehen begriffenen Armee zu melden, gingen ins Tallinn im Ersten Weltkrieg 

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Leere. Nach über vier Jahren Krieg war es für die neue Regierung schwer, Truppen zu mobilisieren. Auch eine Zwangsmobilisierung brachte keine Resultate. Am 18. Dezember erklärte Päts der Regierung, von 2.500 an die Ostfront geschickten Männern seien nur 500 dort geblieben. Nicht einmal die angedrohten 15 Jahre Zwangsarbeit für Deserteure hatten Wirkung, da der Armeeführung die Sanktionsmöglichkeiten fehlten. Ernüchtert zog Päts das Fazit, dass der estnische Bauer offensichtlich nicht bereit sei, für den Städter zu kämpfen. Die Idee der nationalen Unabhängigkeit genoss auf dem Land keineswegs Vertrauen. Und die Städter? Der Befehlshaber der Ostfront, Generalmajor Aleksander Tõnisson, wunderte sich bei einem Besuch in Tallinn Ende Dezember darüber, wie viele wehrfähige Männer sich dort wie in einem »Ameisenhaufen« tummelten, und der neue Oberbefehlshaber der estnischen Armee, Oberst Johan Laidoner – erst Ende Januar 1919 zum Generalmajor befördert –, erklärte vor dem Maapäev, dass eine Verteidigung selbst mit ausländischer Hilfe nur dann Sinn mache, wenn das Land selbst aktiv würde: »Wenn die Interessen des Bürgertums in Gefahr sind, dann müssen die bürgerlichen Elemente selbst an die Front gehen«. Laidoners Einsatz ist es zu verdanken, dass ein britisches Geschwader unter Konteradmiral Edwyn Alexander-Sinclair in estnischen Gewässern Flagge zeigte. Die Rote Armee jedoch drang langsam aber scheinbar unaufhaltsam auch über die Weihnachtsfeiertage vor, die Sillaots als die bedrückendsten ihres Lebens empfand. Zum Jahreswechsel war die Rote Armee nur noch gut 30 km von Tallinn entfernt. Tallinn blieb Hauptstadt einer demokratischen Republik. Der Gegenangriff im Januar 1919 war erfolgreich. Dies hing allerdings weniger mit dem bei Eisgang ohnehin tatenlosen britischen Geschwader oder den ausländischen Hilfstruppen zusammen, die inzwischen aus Finnland eingetroffen waren. Vielmehr hatte sich die Rote Armee aus strategischen Erwägungen auf die Eroberung Rigas konzentriert und den Flügel, der auf Tallinn vorstoßen sollte, »verenden« lassen, wie sich ein sowjetischer Militärhistoriker ausdrückte. Die zunächst vornehmlich aus Scout- und Partisanenregimentern, aus Gymnasiasten und Mitgliedern von Sportvereinen bestehende estnische Armee, der sich neben den Finnen noch dänische und schwedische Freiwillige, aber auch das aus den Deutschen Estlands zusammengesetzte »Baltenregiment« sowie das russische »Nordkorps« angeschlossen hatten, erreichte in weniger als zwei Wochen Tartu und Narva, stieß aber im Süden auf heftigen Widerstand. Als Laidoner Ende Mai schließlich die Befreiung des estnischen Territoriums verkündete, konnte er dies bereits unter dem donnernden Applaus der im April demokratisch gewählten estnischen Ver228  Tallinn im 20. Jahrhundert

fassunggebenden Versammlung tun. Letztere hielt ihre ersten Sitzungen, wie von Korostovec vorhergesehen, im »Estonia«-Theater ab. Der Krieg war mit der demokratischen Konsolidierung Estlands noch nicht zu Ende. Er kulminierte im Juni in der siegreichen Schlacht bei Wenden (lett. Cēsis) gegen die Baltische Landeswehr, die mit den noch in Lettland stationierten deutschen Truppen kooperierte, und führte Laidoners Armee an der Seite der aus dem »Nordkorps« hervorgegangenen weißen russischen »Nordwest-Armee« unter General Nikolaj N. Judenič im Oktober bis vor die Tore Petrograds. Von der Neva aus setzte die von Kriegskommissar Lev D. Trockij geführte Rote Armee Anfang November zum Gegenangriff an, der in langwierige Kämpfe am Narva-Fluss im Dezember mündete und in einer verheerenden Typhusepidemie im Grenzgebiet endete. Erst mit dem Friedensschluss von Tartu am 2. Januar 1920 herrschte Frieden. Ziviler Aufbau ging aber seit dem Frühjahr 1919 mit militärischer Verteidigung, die nur noch auf fremdem Territorium und an der Grenze geleistet werden musste, Hand in Hand. Nicht zuletzt aufgrund der Friedenssehnsucht der Bevölkerung hatte die Provisorische Regierung Päts bei den Wahlen eine herbe Niederlage einstecken müssen. Päts’ Bauernbund erhielt nur magere 6,5% der Stimmen, während die estnischen Sozialdemokraten (33,2%) gemeinsam mit der Arbeitspartei (25,1%) über die absolute Mehrheit verfügten.

2. Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland Wie viele andere der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Nationalstaaten in Ostmitteleruopa gab sich auch Estland zunächst eine ultrademokratische Verfassung mit einem Staatsoberhaupt (»Staatsälterster«), das als quasi-Ministerpräsident Primus inter pares war. Als Reaktion auf die Machtlosigkeit der nach 1905 eingeführten parlamentarischen Strukturen im Zarenreich sah die estnische Verfassung von 1920 ein starkes Abgeordnetenhaus als eigentlichen Souverän vor. Das fragmentierte Parteiensystem bei einer zahlenmäßig kleinen politischen Elite führte jedoch zu häufigen Regierungswechseln. Diese Instabilität ließ spätestens in Zeiten der Weltwirtschaftskrise Rufe nach einer starken Exekutive laut werden. Von dieser Stimmung profitierte eine zunächst unpolitische Vereinigung der Veteranen des Uanbhängigkeitskrieges, die sich seit 1929 zu einer pointiert anti-marxistischen nationalen Organisation wandelte. Die »Freiheitskämpfer« – im Volksmund nach der Abkürzung ihrer estnischen BeTallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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fassunggebenden Versammlung tun. Letztere hielt ihre ersten Sitzungen, wie von Korostovec vorhergesehen, im »Estonia«-Theater ab. Der Krieg war mit der demokratischen Konsolidierung Estlands noch nicht zu Ende. Er kulminierte im Juni in der siegreichen Schlacht bei Wenden (lett. Cēsis) gegen die Baltische Landeswehr, die mit den noch in Lettland stationierten deutschen Truppen kooperierte, und führte Laidoners Armee an der Seite der aus dem »Nordkorps« hervorgegangenen weißen russischen »Nordwest-Armee« unter General Nikolaj N. Judenič im Oktober bis vor die Tore Petrograds. Von der Neva aus setzte die von Kriegskommissar Lev D. Trockij geführte Rote Armee Anfang November zum Gegenangriff an, der in langwierige Kämpfe am Narva-Fluss im Dezember mündete und in einer verheerenden Typhusepidemie im Grenzgebiet endete. Erst mit dem Friedensschluss von Tartu am 2. Januar 1920 herrschte Frieden. Ziviler Aufbau ging aber seit dem Frühjahr 1919 mit militärischer Verteidigung, die nur noch auf fremdem Territorium und an der Grenze geleistet werden musste, Hand in Hand. Nicht zuletzt aufgrund der Friedenssehnsucht der Bevölkerung hatte die Provisorische Regierung Päts bei den Wahlen eine herbe Niederlage einstecken müssen. Päts’ Bauernbund erhielt nur magere 6,5% der Stimmen, während die estnischen Sozialdemokraten (33,2%) gemeinsam mit der Arbeitspartei (25,1%) über die absolute Mehrheit verfügten.

2. Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland Wie viele andere der nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Nationalstaaten in Ostmitteleruopa gab sich auch Estland zunächst eine ultrademokratische Verfassung mit einem Staatsoberhaupt (»Staatsälterster«), das als quasi-Ministerpräsident Primus inter pares war. Als Reaktion auf die Machtlosigkeit der nach 1905 eingeführten parlamentarischen Strukturen im Zarenreich sah die estnische Verfassung von 1920 ein starkes Abgeordnetenhaus als eigentlichen Souverän vor. Das fragmentierte Parteiensystem bei einer zahlenmäßig kleinen politischen Elite führte jedoch zu häufigen Regierungswechseln. Diese Instabilität ließ spätestens in Zeiten der Weltwirtschaftskrise Rufe nach einer starken Exekutive laut werden. Von dieser Stimmung profitierte eine zunächst unpolitische Vereinigung der Veteranen des Uanbhängigkeitskrieges, die sich seit 1929 zu einer pointiert anti-marxistischen nationalen Organisation wandelte. Die »Freiheitskämpfer« – im Volksmund nach der Abkürzung ihrer estnischen BeTallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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zeichnung Vapsid genannt – traten nun für eine präsidiale Verfassung ein, forderten Mehrheitswahlen und prangerten bei jeder Gelegenheit die herrschende Korruption an. Eine ihrer Hochburgen war Tallinn. Mit großer Mehrheit wurde bei einer Volksabstimmung im Oktober 1933 der Entwurf des nun als »Estnischer Bund der Freiheitskämpfer« auftretenden Verbandes für eine Verfassungsänderung angenommen, die das Parlament zugunsten eines starken Präsidenten entmachtete. Auf die Kommunalwahlen im Januar 1934, bei denen die »Freiheitskämpfer« in den Städten – wie auch in Tallinn – über 40%, auf dem Lande jedoch nur gut 10% erhalten hatten, sollten Präsidentschaftswahlen folgen, bei denen ihrem Kandidaten über 50% der Stimmen prognostiziert wurden. Um dieser vermeintlichen Machtübernahme zuvorzukommen, erklärte Konstantin Päts als damals bereits nach der neuen Verfassung amtierendes Staatsoberhaupt mit Unterstützung des Oberbefehlshabers Laidoner am 12. März 1934 den Notstand. Dieser Putsch der beiden Gründungsväter der Republik ließ das politische Leben der Republik ersterben. Das Parlament wurde aufgelöst und die Vapsid wurden wie alle anderen Parteien verboten. Die Gründung der Einheitsparteil des »Vaterlandbundes« war Ausdruck der antidemokratischen Grundtendenzen der Zeit. Die Jahre 1934 bis 1940 gelten daher in Estland als die »schweigende Zeit« (vaikiv ajastu). Das an korporatistischen Ideen nach dem Vorbild des italienischen Faschismus orientierte autoritäre Regime Päts kam jedoch ohne gewaltsamen politischen Terror aus – 1938 wurden selbst die inhaftierten estnischen Kommunisten und manche Vapsid amnestiert – und erreichte durch Protektionismus eine wirtschaftliche Erholung. Mit einer 1937 per Volksabstimmung bestätigten neuen Verfassung wollte Päts zu demokratischen Formen zurückkehren, doch potenzierte er letztlich nur seine präsidialen Vollmachten. Die Tätigkeit oppositioneller Parteien blieb verboten, auch wenn die gleichgeschaltete Presse hier und da Möglichkeiten einer öffentlichen Diskussion nicht von vorneherein erstickte. Diese im europäischen Kontext moderate Form einer Präsidialdiktatur isolierte das Land jedoch von seinen Nachbarn, v.a. vom weiterhin demokratischen Finnland. Dies war mit Sicherheit eine Einschränkung der politischen Manövrierfähigkeit des Landes, die sich dann in den Jahren 1939/40 nachteilig auswirken sollte. Tallinn zwischen Demokratie und Diktatur Wie in der Verfassunggebenden Versammlung dominierten linke Parteien auch die Tallinner Stadtpolitik. Den ersten Wahlen zur Stadtverordneten230  Tallinn im 20. Jahrhundert

versammlung am 25. Mai 1919 litten aufgrund des Krieges unter einer extrem niedrigen Wahlbeteiligung bei einer auf ca. 100.000 Personen gesunkenen Bevölkerung. Es siegte die Arbeitspartei mit einem leichten Vorsprung vor den Sozialdemokraten. Mit den Sozialrevolutionären kam die radikale sozialistische Alternative auf den dritten Platz vor der Deutschen Partei. Nachdem Hellat Innenminister der neuen Regierungskoalition geworden war, übernahm der Ingenieur Anton Uesson von der Arbeitspartei dessen Amt. Er sollte bis 1934 auf diesem Posten und letztlich bis 1940 an verantwortlicher Stelle in Tallinn als Ausdruck personeller Kontinuität tätig bleiben. Wesentlich war, dass die nächsten Wahlen 1921 und 1923 eine unter Tarnnamen antretende radikale kommu­nistische Gruppe zur sträksten Fraktion machten. Viele ihrer Abgeordneten jedoch wurden, wenn sie nicht nach Sowjet-Russland flohen, verhaftet, weshalb von stabilen Verhältnissen keine Rede sein konnte. Die Kommunisten waren auch auf der Straße präsent, standen aber unter scharfer Beobachtung. Zum 1. Mai 1922 riefen sie zu einer Demonstration auf, in deren Verlauf es an der Narvaer Chaussee zu einem Feuergefecht zwischen Staatsschutzbeamten und zwei illegalen Kommunisten kam, von denen einer festgenommen wurde. Um der sicheren Todesstrafe zu entgehen, verriet dieser Untergrundaktivist den Aufenthaltsort des kommunistischen Führers Viktor Kingissepp, der am 3. Mai verhaftet und noch am selben Abend hingerichtet wurde. Später im Mai folgte der sog. »Prozess der 115 Kommunisten«, von denen ein großer Teil Abgeordnete des Parlaments oder verschiedener Lokalverwaltungsorgane waren. Nach einer weiteren Veraftungswelle Anfang 1921 standen im November 149 Personen vor Gericht, von denen einer zum Tode und 39 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt wurden. Dies war die unmittelbare Vorgeschichte des von der Komintern inspirierten Putschversuchs in Tallinn am 1. Dezember 1924 (s. Kasten). Nach seinem Scheitern wurde kommunistische Aktivität in ganz Estland vollends in den Untergrund gedrängt. Die kommunistischen Mandate in der Tallinner Stadtverordnetenversammlung wurden auf die übrigen Fraktionen verteilt. Trotzdem blieb Tallinn die Wirtschaftskrise hindurch bis in die frühen 1930er Jahre hinein links. Doch dann setzte der Siegeszug der rechtspopulistischen Vapsid ein, die bei den Lokalwahlen vom Januar 1934 erdrutschartig 46,1% der Stimmen erhielten. Nach dem Staatsstreich von Konstantin Päts am 12. März wurde dieser Sieg jedoch annulliert, die Partei verboten.

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Der 1. Dezember 1924 Camilla von Stackelberg beschrieb in ihren Erinnerungen, wie sie und ihr Mann Ricko am frühen Morgen des 1. Dezember in ihrer Wohnung in Kopli wie stets um diese Zeit das Motorrad eines benachbarten Esten hörten. An diesem Tag jedoch heute es nicht auf zu knattern, bis Ricko, der im »Baltenregiment« gedient hatte, aufschrie: »›Das ist ja gar kein Motorrad! Hör doch – das ist Maschinengewehrfeuer!‹ Tatsächlich begannen im selben Augenblick die Dachziegeln von unseren Häusern herunterzuprasseln. Wir stürzten ans Fenster, sahen Menschen geduckt und ängstlich die Hauswände entlanglaufen, wie um Deckung zu suchen. Im Handumdrehen war Ricko angezogen und stürzte heraus, um nachzusehen, was los sei. Er riet mir noch, Eßvorräte einzupacken – man könne nicht wissen, was komme«. Der Spuk war rasch vorbei, aber der Schreck fuhr der Bevölkerung doch in die Glieder. Der Putsch war lange im Voraus geplant worden. Während die estnische Kommission der Komintern zu den Aktivposten in der Sowjetunion zählte, übernahm Anvelt die Koordination vor Ort. Der Aktionsplan für den 1. Dezember sah den Beginn für 5:15 Uhr vor, aber die Aufständischen scheiterten schon daran, die führenden Figuren des Staates, den Staatsältesten Friedrich Akel und den Innenminister Karl Einbund (Eenpalu) zu beseitigen: Akel gelang es, sich in seiner Residenz gegenüber der Nevskij-Kathedrale (die heutige Residenz des deutschen Botschafters) zu verschanzen und Einbunds Attentäter liefen panisch auseinander, nachdem sie ihre Granaten geworfen hatten. Auch der Trupp, der das Kriegsministerium besetzten sollte, scheiterte. Professioneller gingen die Besetzer des Posthauses und des Baltischen Bahnhofs vor. Beide Gebäude gelangten in ihre Hände, wobei sie am Bahnhof den zufällig anwesenden Transportminister Karl Kark kurzerhand erschossen. Anderen Aufständischen gelang es, in die Militärschule Tondi einzudringen, doch konnten die Kadetten den Angriff erfolgreich zurückschlagen. Die stärkste Waffe der Aufständischen, der Überraschungseffekt, zerstob angesichts der Tatsache, dass sich die Tallinner Arbeiter nicht wie erhofft anschlossen. So war es für die Staatsmacht relativ leicht, die Initiative zu übernehmen und die vielleicht 200-250 aktiven Aufständischen voneinander zu isolieren. Als die Regierung um 9:30 Uhr den Notstand ausrief und den nach dem Unabhängigkeitskrieg zurückgetretenen General Laidoner als Oberbefehlshaber reaktivierte, war der Baltische Bahnhof bereits wieder in der Hand einiger Unteroffiziere und die Post durch General Ernst Põdder befreit. Insgesamt starben am 1. Dezember 21 Menschen auf Regierungsseite; 21 Soldaten und 16 Privatpersonen wurden verletzt. Auf Seiten der Aufständischen fanden zwölf Personen den Tod. Die Aktion war in der Perspektive Moskaus einer der letzten Versuche, der Weltrevolution gewaltsam auf die Sprünge zu helfen – und zugleich das verlorene baltische Küstengebiet wieder unter Kontrolle zu bringen. Einen spürbaren kommunistischen Untergrund hat es daraufhin in Estland nicht mehr gegeben, was ein sowjetischer Autor in das schöne Bild packte, die Kommunisten seien von

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nun an »noch tiefer in den Untergrund« gedrängt worden. Viele dürften es aber nicht gewesen sein, zumindest jagten sie dem Staat keinen besonderen Schrecken mehr ein. Die meisten der 1924/25 inhaftierten Kommunisten kamen 1938 aufgrund einer staatlichen Amnestie frei. Als die Sowjetmacht 1940 einmarschierte, gab es noch 130 Kommunisten in Estland. Quelle: Stackelberg, Camilla v.: Verwehte Blätter. Erinnerungen aus dem alten Baltikum, München 1995.

Der Putsch vom März 1934 markierte das Ende der demokratischen Phase der estnischen Republik in der Zwischenkriegszeit. Päts und Oberbefehlshaber Laidoner erfreuten sich als Symbolfiguren des Unabhängigkeitskriegs großer Popularität, die durch einen moderaten Personenkult in der Folge noch zu steigern versucht wurde. Die Tallinner Stadtverordnetenversammlung setzte ihre Arbeit ohne die gewählten Vertreter der »Freiheitskrieger« fort. Der Bürgermeister wurde nun aber auf Vorschlag des Innenministers ernannt. Dieses Amt erhielt am 1. Mai 1934 General Jaan Soots, der im Unabhängigkeitskrieg Laidoners Stabschef gewesen war. Sein Vorgänger Uesson wurde Vize-Bürgermeister. Nach einem Dekret über die Stadtverwaltungen von 1938 wurde das Tallinner Stadtparlament von 101 auf 60 Mitglieder verkleinert und aus dem Bürgermeister ein »Oberbürgermeister«, der einen Stellvertreter aus dem Kreis der Stadträte benennen durfte. Nach den Wahlen vom Oktober 1939 wurde General Aleksander Tõnisson zum neuen Ober­ bürgermeister ernannt, Uesson blieb Stellvertreter. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Juni 1940 wurde Tõnisson »auf eigenen Wunsch«, wie es hieß, entlassen und ein Jahr später erschossen. Uesson starb 1942 in einem Gefängnis in Sverdlovsk. Lebensbedingungen in der Hauptstadt Wirtschaftliche Erholung. Nach fünfeinhalb Jahren Krieg hatte Tallinn bald das Schlimmste überstanden. Die gebürtige Livländerin Camilla von Stackelberg besuchte nach ihrer Rückkehr ins Baltikum im Juni 1921 den Neuen Markt, der sie »in wahre Begeisterung versetzte: Fässer voller Butter, riesige Bütten mit saurem Schmand und Quark, der hier ›Tworok‹ hieß! Berge von Eiern, ganze Schweine und Rinder, Fische in allen Größen, silberne Killos in Fässern, goldschimmernde geräucherte Strömlinge auf eisernen Stäben«. In ökonomischer Hinsicht war aber ein Umdenken vonnöten, Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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denn nach einer kurzen Phase des Booms infolge des estnisch-sowjetischen Friedensschlusses im Februar 1920, als die Sowjetunion ihren Außenhandel samt Geldwäsche über Estland abwickelte, brach der traditionelle russische Markt endgültig weg. Die sowjetische Kaufkraft war gering, und der staatlich gelenkte Außenhandel lief seit 1923 verstärkt über Leningrad, wie die alte Hauptstadt seit 1924 hieß, oder Riga. Seither lagen die gigantischen Industrieanlagen im Tallinner Hafen brach oder wurden mit staatlichen Aufträgen am Leben erhalten, doch versiegten auch Letztere seit Mitte der 1920er Jahre, da der Staat sich nun von der Großindustrie verabschiedete. Die Anlagen kamen in staatliche Hand oder wurden von kleineren Betrieben übernommen. In der ehemaligen Meyer’schen Chemiefabrik entstanden so zahlreiche kleinere Unternehmen. Am besten adaptierte sich die Textil- und Papierindustrie an die Bedürfnisse des Binnenmarktes, doch war es die industrielle Lebensmittelproduktion, die die höchsten Zuwachsraten erzielte. Die Rotermann-Brotfabrik in Tallinn setzte hier Maßstäbe beim alltäglichen Bedarf, doch entstand 1921 mit der Firma »Kawe« (seit 1948: »Kalev«) auch eine hauptstädtische Süßwarenindustrie. Ihre Vorläufer reichen übrigens bis in das Jahr 1806 zurück, als Lorenz Cavietzel an der Langstraße eine Konditorei eröffnete, die seit den 1860er Jahren in den Besitz der Familie Stude gelangte und vor allem für ihre Marzipanfiguren berühmt war. Der Weltwirtschaftskrise fielen zahlreiche der noch verbliebenen größeren Betriebe zum Opfer. Auf ihrem Höchststand waren die Arbeitslosenzahlen für Tallinn auf über 16.000 Anfang 1933 gestiegen. Schließlich aber stabilisierte sich der Binnenmarkt nicht nur, sondern weitete sich auch merklich aus, wovon auch Tallinn profitierte. Der Tallinner Hafen blieb vor allem Importhafen; der seit der Mitte der 1920er Jahre erheblich sinkende Anteil an Lebensmittelimporten zeigt die Umstellungsleistung der heimischen Produktion. Ende der 1930er Jahre bestand dann der estnische Export zu über 40% aus Landwirtschafterzeugnissen, gefolgt von Rohstoffen und Halbfabrikaten. Zugleich dominierten in Estland nicht hergestellte Fertigprodukte den Import. Die wichtigsten Handelspartner Tallinns blieben Großbritannien und das Deutsche Reich. Das eigentliche Handelsherz der Stadt schlug weiterhin zwischen dem Rathausplatz, dem Neuen Markt und dem nach und nach bebauten ehemaligen Peterplatz, der nun Vabaduse plats (seit 1933 Vabaduse väljak), also Freiheitsplatz hieß, von dem das 1910 errichtete Peter-Denkmal 1922 entfernt worden war. Die vom Rathaus- zum Russischen Markt führende Viru Straße, zu Deutsch weiterhin Lehmstraße, war v. Stackelberg zufolge eine der »größten Geschäftsstraßen der Stadt«. 234  Tallinn im 20. Jahrhundert

Deutschbalten in Estland Nach der Gründung der Republik Estland stand die ethnische Minderheit der Deutschen vor der Frage, ob man sich an die neuen Umstände anpassen oder ausreisen sollte. Mit der Gründung des »Baltenregiments« und dem Eintritt Hermann Kochs als deutscher Volksminister in die Regierung nahm zumindest ein Teil von ihnen die neue Rolle an. 1919 wurden die Funktionen Kochs jedoch an einen Volkssekretär im Bildungsministerium übertragen. Die aufgelöste Ritterschaft war in den »Estländischen gemeinnützigen Verein« übergegangen und der »Verband deutscher Vereine« als Dachorganisation der meisten deutschen Gemeinschaften gegründet worden. Die Verfassung von 1920 sah für die ethnischen Minderheiten das auf Konzepten der österreichischen Sozialdemokratie beruhende Institut der nationalen Kulturautonomie vor, zu dessen Verwirklichung es allerdings erst nach dem niedergeschlagenen Putsch von 1924 kam. Als Vater des im Februar 1925 beschlossenen Gesetzes über die Kulturselbstverwaltung der nationalen Minderheiten, das auch als »immaterielle Kompensation« der Verluste bezeichnet worden ist, welche die Deutschen Estlands durch die Agrarreform von 1919 erlitten hatten, gilt Werner Hasselblatt. Das Gesetz ermöglichte es nationalen Minderheiten mit über 3.000 Mitgliedern, die Staatsbürger sein mussten, sich als öffentlich-rechtliche Körperschaft (»Kulturverwaltung«) zu konstituieren, welche alle Bereiche des kulturellen Lebens, damit in erster Linie das Schulwesen, eigengesetzlich und mit Hilfe selbst erhobener Steuern gestalten konnte. Der kirchliche Bereich blieb entgegen dem Wunsch der Initiatoren jedoch außerhalb dieses Rahmengesetzes. Die Zugehörigkeit zur Kulturverwaltung, die vom Status her den regionalen Kreisverwaltungen entsprach, beruhte auf einem freiwilligen Eintrag in ein Nationalkataster. Der Sitz der Kulturverwaltung befand sich im Ungern-Sternberg’schen Stadthaus (erbaut 1865 bis 1868 nach Plänen von Martin Gropius) auf dem Domberg, wo 1911 bis 1947 auch das Estländische Provinzialmuseum untergebracht war. Heute dient es als Sitz der Estnischen Akademie der Wissenschaften. Zu Beginn der 1930er Jahre machte sich der Einfluss der NS-Bewegung vor allem unter der jüngeren Generation der Deutschbalten bemerkbar. Der »Deutsche Klub« traf sich zweimal monatlich im Schwarzenhäupterhaus, um über die nationalsozialistischen Ideen zu diskutieren, doch hatte er selbst bei seinem Verbot im Februar 1933 nur 128 Mitglieder. Trotzdem blieb die Hoffnung, ein starkes Deutsches Reich würde einen positiven Einfluss auf die Lage der Deutschen in Estland haben, auch wenn die ältere Generation eine Verschlechterung des Verhältnisses zu den Esten befürchtete. Als 1934 in Folge des Putsches von Päts die Parteien aufgelöst wurden, blieb die Kulturverwaltung die einzige politische Vertretung der deutschen Minderheit. Eine Verwaltungsreform aus demselben Jahr beschränkte zwar ihre Rechte, doch galt dies auch für alle anderen Selbstverwaltungsorgane des Landes. Sie blieb auch nach der neuen Verfassung von 1938 intakt, selbst wenn estnischerseits nun die Auflösung dieses »Staates im Staate« gefordert wurde und man die Gefahr betonte, die Deutschen im Lande

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seien Werkzeuge Hitlers. Im Gegensatz zu Lettland blieben Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben der Deutschen, die vor allem im Bankgewerbe (Bankhaus Scheel & Co, Revaler Aktienbank) einflussreich blieben und Beteiligungen an Industriebetrieben hielten, weitestgehend aus. Die Selbstverwaltung der Deutschen hing hingegen immer mehr an der finanziellen Unterstützung aus dem Deutschen Reich: Dies betraf vor allem die Schulen, die Presse, die Kirchenorgane und Vereine, aber auch die Kulturverwaltung selbst. Aber erst die »Umsiedlung« machte deutschem Leben 1939/40 in Tallinn ein Ende. Literatur: Maier, Konrad (Hg.): Estland und seine Minderheiten. Esten, Deutsche und Russen im 19. und 20. Jahrhundert, Lüneburg 1995.

Demographie und Wohnungsbau. Die Einwohnerzahl der Stadt wuchs zwar allmählich an, doch blieb eine Schätzung von 1924, binnen 30 Jahren werde Tallinn 300.000 Einwohner haben, zu ehrgeizig. Erst 1938 wurden mit knapp 145.000 Einwohnern die Zahlen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erreicht; zählt man den praktisch schon damals zu Tallinn gehörenden Vorort Nõmme hinzu, der offiziell erst im Sommer 1940 eingemeindet wurde, kann man von 160.000 Einwohnern ausgehen. In Nõmme wohnten vor allem Beamte, Geschäftsleute und Vertreter der Intelligenz wie Sillaots, aber auch manche Arbeiter, die alle nach Tallinn pendelten: 1939 war Nõmme mit über 20.000 Einwohnern immerhin die viertgrößte Stadt des Landes.

1922 1934

1922 1934

Einwohner Tallinns 1922 und 1934 nach Nationalität Esten Russen Deutsche Andere Unbekannt 102.568 7.513 6.904 5.283 151 (83,8) (6,2) (5,6) (4,3) (0,1) 117.918 7.888 6.575 5.043 368 (85,6) (5,7) (4,8) (3,6) (0,3) Einwohner Nõmmes 1922 und 1934 nach Nationalität Esten Russen Deutsche Andere Unbekannt 3.794 675 400 269 12 (73,67) (13,11) (7,77) (5,22) (0,23) 12.734 1.022 869 430 50 (84,3) (6.77) (5,75) (2,8) (0,33)

Gesamt 122.419 137.792 Gesamt 5.150 15.105

Quelle: Pullat, Raimo (Hg.): Tallinna ajalugu XIX sajandi 60-ndate algusest 1965. aastani, Tallinn 1969, S. 162f.

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Der Wohnungsbau lief langsam an und wurde meist von Privatleuten getragen, doch musste dafür Ende der 1920er Jahre eine noch aus dem Krieg stammende Maßnahme zur Deckelung der Mieten aufgehoben werden. Während 1923, in Folge eines im Jahr zuvor aufgelegten staatlichen Wohnungsbauprogramms, 78 neue Wohnhäuser gebaut wurden, waren es auf dem Höhepunkt der Bautätigkeit 1932 immerhin 316 mit mehr als 1.800 Wohnungen. Die Mieten aber blieben im europäischen Vergleich hoch und sanken erst nach 1931. Die Presse fand heraus, dass ein Tallinner Textilarbeiter noch 1933 100 Arbeitsstunden für seine Miete aufwenden musste, während sein schwedischer Kollege nur 27 Stunden brauchte. Gab ein Tallinner Tramschaffner 21% seines Lohnes für die Miete aus, waren es in Stockholm nur 14%. Bezahlbarer Wohnraum war knapp: 1930 beklagte der Sozialdemokrat Mihkel Martna, einer der prominentesten Advokaten der seit 1922 existierenden Wohnungsbaugenossenschaften, dass es für fünf potentielle Mieter nur vier Wohnungen gebe. Zudem seien die neu gebauten meist größeren Wohnungen inklusive der Genossenschaftsbauten für Arbeiter kaum erschwinglich. 1934 bestanden noch über 60% der Wohnungen aus nur einem Zimmer (1922: 75,2%). Statistische Angaben zur »Wohnungskrankheit«, wie man die Tuberkulose nannte, zeigen, dass 1921/22 von den 400-500 Erkrankten keine 10% ein eigenes Zimmer hatten, und mehr als die Hälfte nicht einmal ein Bett für sich allein. Insgesamt ist es für den Wohnungsbau in Tallinn bezeichnend, dass abgesehen vom neuen Zentrum in der Region um den Freiheitsplatz und der Pärnu mnt. (Pernausche Landstraße) die höchsten Häuser nach wie vor im Bereich der Altstadt zu finden waren (im Schnitt 2,6 Stockwerke). Die meisten Häuser waren noch 1934 höchstens zweigeschossig (92%), doch wuchs die Zahl der drei- und mehrgeschossigen Bauten von 1922 bis 1934 um 48,4%, woran man allerdings ihre geringe Zahl vor 1922 erkennen kann. Die Belegung der Einzimmerwohnungen sank in derselben Zeit von 3 auf 2,5  Menschen, während die Zweizimmerwohnungen 1934 statistisch gesehen von nur 1,5 Personen bewohnt wurden. Doch noch 1937 kam eine Untersuchung der Wohnbedingungen von Loharbeitern zu dem Schluss, dass über die Hälfte von ihnen in überbelegten Räumen lebten (mehr als zwei Personen pro Zimmer). Weiterhin dominierte Holz als Grundmaterial von über drei Vierteln der Häuser. Gerade einmal 5% verfügten über ein aus Stein gebautes Treppenhaus, auch wenn dieser Typ, der eine rationale Umsetzung der Feuerschutzbestimmungen erlaubte, als »Tallinner Haus« bekannt und in den 1930er Jahren oft realisiert wurde. Gebaut wurde vor allem im Südwesten und Süden der Stadt, wobei die Eisenbahntrasse kein Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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Hindernis mehr darstellte. Neue mehrstöckige Genossenschaftshäuser fanden sich vor allem am Polizeigarten zwischen der Tartu mnt. und Narva mnt. (Dorpater und Narvaer Landstraße), doch handelte es sich dabei eher um Wohnungen für Staatsangestellte. Gesundheitswesen. Zwar blieb die Tuberkulose in den 1920er Jahren und auch darüber hinaus Todesursache Nr. 1, aber die ärztliche Versorgung verbesserte sich zusehends. 1935 nahm das Krankenhaus der Allgemeinen Krankenkasse am Tõnismägi (Antoniusberg) mit 110 Betten seine Arbeit auf; 1939 konnte die Kasse am selben Ort eine moderne Poliklinik mit 170  Betten eröffnen. Das alte Zentralkrankenhaus in Juhkental ( Joachimstal) vergrößerte seine Kapazität auf 300 Betten. So verfügte die Stadt 1935 über 2.238 Betten (1920: 1.134), von denen die Hälfte staatlich und ein Drittel städtisch waren. Damit gab es 1935 16,2 Betten je 100 Einwohner (1920: 10,7). Gab es 1920 14,4 Ärzte pro 10.000 Einwohner, waren es 1940 schon 27,5, obgleich im Zuge der »Umsiedlung« 59 deutsche Ärzte Tallinn verlassen hatten. Auch die Wasserversorgung wurde in den 1920er Jahren verbessert. Die Arbeiten an einem Filtriersystem für das Wasser des Ülemiste Sees (Oberer See) wurden 1924 von einer britischen Firma übernommen. An den Kosten beteiligte sich die Tallinner Zellulosefabrik, die im Gegenzug einen eigenen Zugang zum Wasser erhielt. Zudem wurden die Wasserreservoire modernisiert, neue Pumpwerke gebaut und schließlich 1927 ein modernes Klärwerk errichtet. Das städtische Abwasserkanalsystem wuchs von 77,85 km 1926 auf 129,60 km 1939. Ein besonderes Problem stellte die Kloake des Härjapea Flusses dar. Vor allem an warmen Tagen muss der Gestank erheblich gewesen sein, und nach Regenfällen schwappte die Brühe über die Ufer direkt in die Keller der Häuser. Als Notlösung waren einige Abschnitte mit Planken überdeckt worden, doch verabschiedete die Stadtregierung erst 1927 ein Projekt, das aus dem Fluss einen unterirdischen Abwasserkanal machen sollte. Aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten konnte es jedoch erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre abgeschlossen werden. Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Eines der Dauerthemen der Jahre nach dem Krieg war die Frage des öffentlichen Verkehrs und der Anschluss des Baltischen Bahnhofs: Sollte dafür die alte Trasse der Pferdetram durch die Viru Straße am Rathausmarkt vorbei verlängert, d.h. ein »Durchbruch« durch die Altstadt gebahnt werden? Auch Stadtarchitekt Eugen Habermann, der 1909 im Dresdener Büro von Fritz Schumacher gearbeitet hatte, 1913 Bauleiter am »Estonia«-Theater war und im Jahr darauf sein Amt antrat, befürwortete zunächst diese Idee, doch häufte sich die Kritik an den 238  Tallinn im 20. Jahrhundert

dafür notwendigen Abbruchmaßnahmen in der Altstadt. Die Stadtregierung hatte sich schon 1924 prinzipiell für den Erhalt von deren »historischem Antlitz« ausgesprochen, und seit 1925 gab es ein staatliches Denkmalschutzgesetz, das auch den partiellen Schutz der Altstadt vorsah. Als ein von Habermanns Nachfolger Anton Soans erstellter Generalplan 1927 erneut den Durchbruch zur Errichtung einer Tramverbindung vorsah, entschied die Stadtverordnetenversammlung, diesen Plan nur unter dessen ausdrücklichem Ausschluss abzusegnen: Bürgermeister Uesson war ein erklärter Gegner dieser Linienführung. Damit war die unmittelbare Gefahr für das Straßennetz und den Gebäudebestand der Altstadt vorbei, auch wenn in den 1930er Jahren das Thema immer wieder aufkam. Manche Visionen propagierten dafür die Überbrückung der Vene (Russstr.), andere hingegen zogen noch 1940 eine Untertunnelung der Pikk (Langstr.) vor. Die alte Pferdetram war 1918 aus Pferdemangel eingestellt worden; der Rechtsstreit um die noch von der bolschewistischen Stadtregierung verstaatlichten »Tramways de Réval« zog sich jedoch bis 1927 hin, als der Staat der Hauptstadt 12 Mio. Estnische Mark zur Entschädigung der belgischen Konzessionäre lieh. Aber die Zeit der »Konka« war vorbei. Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs war auf Initiative der großen Werften eine »Dampftram« von der Russisch-Baltischen und der Boecker-Werft am Ende der Halbinsel Kopli (Ziegelskoppel) in die Nähe des Baltischen Bahnhofs gebaut worden, um den Transport der Arbeiter zu gewährleisten. Als die Großbetriebe Mitte der 1920er Jahre ihre Tätigkeit endgültig einstellten, kam diese Trasse in Besitz der Stadt, die sie in den Jahren 1926 bis 1931 wieder mit den alten dampfbetriebenen Waggons in Betrieb nahm. Inzwischen war 1921 wieder ein geregelter, allerdings mit Benzin betriebener Straßenbahnverkehr in Tallinn eingerichtet worden. Zunächst fuhren Waggons auf der Linie von Katharinental über den Vabaduse väljak zum Bahnübergang an der Pärnu mnt. (verlängert 1927); ab 1924 auch auf der Tartu mnt. Im Beisein Uessons wurde im Oktober 1925 schließlich die erste elektrische Straßenbahn zwischen Katharinental und dem Russischen Markt eingeweiht. Zwischen 1925 und 1939 stieg die Zahl der Fahrgäste von vier auf 14 Mio. an, während der subventionierte Fahrpreis bei 10 Cent blieb. Ab 1928 erhielten die drei Linien erstmals Nummern; die Ende 1931 wieder eröffnete Kopli-Linie wurde 1932 bis an den Baltischen Bahnhof herangeführt. Eine Verbindung des Bahnhofs mit dem übrigen städtischen Straßenbahnnetz kam aber immer noch nicht zustande. Diese Lücke im Verkehrsnetz füllte sukzessive der seit 1922 eingeführte Busverkehr, der sich Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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zunächst auch durch die engen Gassen der Altstadt zwängte. Von Beginn an bedienten Busse auch Siedlungen außerhalb des Stadtgebiets, wobei sie in Konkurrenz zu der seit 1924 verkehrenden Vorortbahn nach Nõmme traten. Der Busverkehr blieb jedoch zunächst in privaten Händen. Erst 1937 eröffnete die Stadt eine erste eigene Buslinie zur Entlastung der Kopli-Tram. Privatverkehr in Tallinn Das erste Automobil war 1896 in der Stadt demonstriert worden, doch dürfte ein russischer Offizier namens Fedorov der erste gewesen sein, der 1902 einen gebrauchten Clement Panhard stolz sein eigen nannte. 1908 sollen bereits sechs Automobile die Straßen der Stadt belebt haben – während zugleich in Helsinki bereits 75 verkehrten. 1922 gab es in Tallinn 192 Automobile, aber immer noch 588 Droschken sowie 3.600 registrierte Fahrräder. Der Beruf des Taxifahrers galt vor allem für junge Männer vom Land, die in der Stadt ihr Glück suchten, als prestigeträchtig. Es gab aber auch – wie in Berlin oder Paris – ehemalige zarische Offiziere und Adlige unter den Chauffeuren. 1928 nahm mit Magda Vitisman die erste Frau diesen Beruf auf, doch wurde ihr Gesuch, aufgrund des Ärgers mit ihren männlichen Kollegen einen eigenen Halteplatz zugewiesen zu bekommen, abgeschlagen. Im selben Jahr stellte die Stadt die ersten 24 Verkehrszeichen auf, aus denen bis 1932 250 wurden. Der zunehmende Verkehr dekorierte nicht nur die Straßen mit neuen Symbolen, sondern brachte auch der Polizei neue Aufgaben. Als sie 1932 eine Namensliste all derjenigen zusammenstellte, die in den letzten Jahren wiederholt dabei erwischt wurden, zu schnell zu fahren, fanden sich darauf 17 Namen. Angeführt wurde diese Liste von einem Dr. Krause, der als Entschuldigung angab, er habe es immer so eilig, zu seinen Patienten zu kommen. Es ist bezeichnend, dass es 1928 in Tallinn mehr Taxen pro Kopf der Bevölkerung gegeben haben soll als in Berlin. Zurzeit der Wirtschaftskrise stieg aber die Zahl der Fahrräder auf die Rekordzahl von 8.688 (1931), während die Zahl der Taxen von gut 500 auf unter 400 sank, bevor sie Mitte der 1930er Jahre auf 250 limitiert wurde. Nun mussten sich die Chauffeure auch schärferen Verhaltensregeln beugen und den Alkoholgenuss einstellen. Noch 1931 konnte es vorkommen, dass Fahrer in Erwartung ihrer Kunden auf dem Rathausmarkt Fußball spielten. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs machte ihnen aber genauso zu schaffen wie die zunehmende Zahl an Privatautos, deren Besitzer vor längeren Fahrten Zeitungsanzeigen schalteten, um Mitfahrer zu werben. Das Auto verdrängte nun aber endgültig die Droschken. Noch 1933 sah die Verkehrsordnung vor, dass ein Motorfahrzeug ihnen in engen Straßen Vorfahrt gewähren musste; sechs Jahre später hatte das Auto Vorfahrt. Mittlerweile mehrten sich auch die Klagen über Lärm und Gestank der Pferde. Der Geruchssinn der Städter hatte sich so sehr verändert, dass nun die ländlichen Düfte in Vergessenheit gerieten und zu stören

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begannen, während die Autoabgase zunehmend zum Alltag gehörten. Das Taxi blieb während der Zwischenkriegszeit ein Elitengefährt. Wer wie z.B. ein Busfahrer Mitte der 1930er Jahre ca. 100 bis 120 Kronen im Monat verdiente, überlegte sich gut, 45 Cent pro laufendem Kilometer auszugeben. Literatur: Paramonov, Riho: Tallinna taksojuhtide sotsiaalajalugu (1918–1940), BA-Thesis, Tallinn 2009.

Repräsentativer Ausbau der Hauptstadt Es war symbolisch, dass die junge Republik sich rasch eine würdige Repräsentation auf dem Domberg schuf. Der Weiße Saal des Schlosses, in dem schon die Verfassunggebende Versammlung ihre regulären Sitzungen abgehalten hatte, war viel zu klein. Von 1920 bis 1922 wurde in die Ruinen des 1917 abgebrannten Konventgebäudes des Schlosses die Staatsversammlung gebaut. Der Entwurf stammte von Herbert Johanson und dem Tallinner Stadtarchitekten Habermann. Von außen traditionalistisch in die Umgebung eingefügt, ist das Gebäude vor allem innen aufsehenerregend als vermutlich einziges expressionistisches Parlament der Welt. Mit seiner zitronengelben Decke, den ultramarinblauen Wänden und den rostbraunen Fensternischen schockierte dieses Gebäude die Tallinner bei seiner Eröffnung jedoch nachhaltig; auch die Vorstellung, es handle sich nur um ein Provisorium, konnte daran nichts ändern. Dieses Haus wird bis heute für die Parlamentssitzungen genutzt. Die Befürchtung, Tallinn ähnele von seiner städtebaulichen Substanz her gerade im Vergleich zu Helsinki immer noch einer Provinzstadt, war nicht von der Hand zu weisen und zieht sich durch die Diskussion der gesamten Zwischenkriegszeit. Dabei war die Bebauung auch der Magistralen mit höchstens zweigeschossigen Holzbauten für diese kritische Einschätzung wesentlich. Aber wie baut man Hauptstädte? Saarinens Plan für ein »GroßTallinn« aus der Vorkriegszeit, der den Traum von prächtiger hauptstädtischer Urbanität verhieß, wurde im Laufe der Zeit ad acta gelegt, zumal das tatsächliche Bevölkerungswachstum den 1912/13 angelegten Maßstäben nicht nachkam. So lassen sich zur Baugeschichte Tallinns in der Zwischenkriegszeit zwei Dinge behaupten: Einerseits erhielt der Bau von staatlichen Repräsentationsobjekten erst unter dem autoritären Regime Päts durch den Gesetzgeber neue Impulse; andererseits blieben die meisten repräsentativen Projekte bis 1940 im Planungsstadium – weder wurde der Domberg umTallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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gestaltet oder ein Unabhängigkeitsdenkmal errichtet noch ein nationales Kunstmuseum gebaut. Bereits vor dem Krieg stand ein größeres und modernes Rathaus ganz oben auf der Wunschliste der Stadtoberen. Ende der 1930er Jahre gab es immerhin einen im Ergebnis eines Architektenwettbewerbs vorgelegten Entwurf. Schon 1929 hatte die städtische Bauabteilung im Rahmen eines Bebauungsplanes für den Bereich vom Neuen zum Russischen Markt an der schon vor dem Krieg vorgesehen Stelle ein erkennbar vom Stockholmer Stadshuset beeinflusstes Gebäude vorgesehen. 1935 entwarf Johanson ein funktionalistisches, 12-stöckiges Hochhaus aus Kalkstein, das zwar bestürzte Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorrief, aber doch viel vom dreieinhalb Jahrzehnte später an fast gleicher Stelle errichteten Hotel »Viru« vorwegnahm. Wohl in Reaktion auf die ablehnende Haltung zu diesem »Kasten« in der Presse enthielt die Ausschreibung des 1936 gestarteten nationalen Wettbewerbs die Weisung, das neue Rathaus dürfe nicht mit dem Antlitz der Altstadt kontrastieren. Das Siegermodell verfügte neben drei verschieden hohen Gebäudeflügeln über einen besonderen vertikalen Akzent in einer wohl dem Empire State Building nachempfundenen Nadel auf dem höchsten Punkt des Ensembles. Erneut am Stadshuset orientiert, erfreute sich jedoch der unprämierte Entwurf von Edgar Kuusik, der in eklektizistischer Weise die europäische Rathausarchitektur in einer Mischung aus Gotik und Renaissance zusammenführte, der größten Beliebtheit beim Publikum. Den Auftrag, einen endgültigen Entwurf vorzulegen, erhielt schließlich doch Kuusik. Zur Bestürzung von Bürgermeister Soots verweigerte das Wirtschaftsministerium jedoch die dringend erforderliche finanzielle Hilfe, und das Verkehrsministerium gab zu bedenken, dass die größte freie Fläche der Hauptstadt vielleicht doch nicht durch ein neues Rathaus eingeengt werden sollte. So blieb es beim Projekt. Schon Saarinens »Groß-Tallinn« sah breite und schnurgerade Magistralen vor. Forciert wurde der Umbau der von Holzbauten gesäumten Narva mnt. zu einer modernen Verkehrsader durch ein 1936 verabschiedetes »Gesetz über den Tallinner Baugrundstücke-Fonds«, das die Enteignung von Grundbesitz erlaubte, wenn dessen Bebauung etwa aus hygienischen, verkehrs- oder sicherheitstechnischen bis hin zu rein städtebaulichen Gründen den Anforderungen nicht entsprach. Auch wenn in der Folge einige Enteignungsverfahren ohne größere Proteste durchgezogen wurden, wurde der Umbau erst in der späten Sowjetzeit begonnen. Demgegenüber war es die Region des Vabaduse väljak und der Pärnu mnt., in der in den 1930er Jahren »Urbanität« tatsächlich kreiert wurde. 242  Tallinn im 20. Jahrhundert

1935 erließ die Regierung eine Ergänzung zum noch aus russischer Zeit stammenden Baugesetz, die Tallinn zu einer »hauptstädtischeren Erscheinung« verhelfen sollte. Um ein einheitliches Straßenbild zu erreichen, konnte der Gesetzgeber nun etwa gegen Willkür bei der Zahl der Stockwerke einschreiten. Zudem begünstigte das neue Gesetz aus wirtschaftlichen Gründen den bislang vernachlässigten Bau von Steinhäusern: Die eigene Holzproduktion sollte lieber in den Export als in den Hausbau gehen, zumal die eigene Backsteinindustrie aus Mangel an Absatzmärkten nicht ausgelastet sei, und Steinhäuser nun mal besseren Feuerschutz gewähren. Somit nahm der Staat der Stadt »die Kompetenz über das Erscheinungsbild der Hauptstadt im Wesentlichen« ab (A. Fülberth), da nun auch die Fassadengestaltung vorgeschrieben werden konnte. In Kombination mit dem erwähnten Enteignungsgesetz nahm nun vor allem die Bebauung der Pärnu mnt. Form an. Hier wurden in den Jahren bis 1940 eine ganze Reihe von Wohn- und Geschäftshäusern errichtet, die in Tallinn schon deshalb einmalig sind, weil sie alle erkennbar einer Periode angehören und stilistisch einigermaßen vergleichbar sind. Für eine einheitliche Lösung der Gestaltung des Vabaduse väljak war es jedoch schon zu spät. Der Platz war seit 1918 als Ort von Massenveranstaltungen und Paraden genutzt worden. Mitte der 1930er Jahre hatte man aber bereits Fakten geschaffen, denn seit 1926 stand auf der Südseite das Kino »Gloria Palace« (das heutige Russische Theater), das aufgrund seiner historizistischen Fassade und vergleichsweise geringen Größe mit dem bevorzugten Repräsentationsstil der 1930er Jahre nichts mehr gemein hatte. 1932 wurde auf dem benachbarten Grundstück zur Roosikrantsi Straße das Gebäude der EKA-Versicherung errichtet, das mit seinem Hamburg nachempfundenen Backstein­expres­sionismus in Tallinn bis heute, da es der Stadtverwaltung als Rathaus-Ersatz dient, eher exotisch wirkt. Auf der bis dahin weitgehend unbebauten Nordseite des Platzes errichteten die Architekten Soans und Kuusik 1934 das funktionalistische »Kunsthaus« mit seiner charakteristischen gerahmten Fensterfassade. 1937 wurde das neoklassizistische Gebäude der Hausbesitzer-Bank EEKS an der Ecke zur Harju (Schmiedestraße) fertig gestellt, das mit dem ihm schräg gegenüberliegenden Hotel »Grand Palace« den Schlussstein der stilistisch weit gefächerten Platzbebauung darstellte. Dass die Westseite des Platzes einstweilen unbebaut blieb, hatte mit der Idee zu tun, hier ein dem Freiheitskrieg gewidmetes Nationaldenkmal zu errichten, was jedoch erst 2009 umgesetzt werden sollte. Ein Obelisk mitten auf dem Platz würde aber in direkte Konkurrenz zum Turm der Johanneskirche treten, dem ersten für Esten gebauten Gotteshaus der Stadt. Trotzdem Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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14  Das EEKS-Haus auf dem Vabaduse väljak, Ende der 1930er Jahre

siegte in einem 1937 durchgeführten internen Wettbewerb der Architektenkammer ein pompöser Entwurf mit einem von einer Reiterstatue gekrönten 67 m hohen Obelisken, der von einem monumental-monotonen Flachdachbau im Pseudoklassizismus der Zeit umrahmt wurde. Die Architekten Alar Kotli und Ernst Kesa schlossen den Platz zur Pärnu mnt. gänzlich ab, womit das Schicksal der Johanneskirche besiegelt war. Die Ereignisse des Jahres 1940 machten diesen Plan jedoch zunichte. Verändert hatte sich vor allem die Welt des Dombergs, der nun tatsächlich zum »verlassenen Nest des verstorbenen Rittertums« wurde, als das ihn Miljukov am Ende der 1840er Jahre bereits wahrgenommen hatte. Die Entmachtung der Deutschbalten konnte nirgendwo sonst so gut nachvollzogen werden. Durch die Agrarreform um ihr Gut gebracht, waren viele Adelsfamilien gezwungen, in ihre Stadthäuser umzuziehen. Carl Mothander, ein Schwede, der im estnischen Unabhängigkeitskrieg schwedische Freiwilligeneinheiten kommandiert hatte und später in eine der ältesten Familien des baltischen Adels einheiratete, lebte mit seiner Frau Benita von Wrangell in einem Haus am Ende des Langen Dombergs, direkt an der Nevskij-Kathedrale. In seinen Erinnerungen beschrieb er liebevoll »Onkel Hermann«, den alten Bruder seiner Schwiegermutter: »In seinem weißen rohseidenen Gewand mit dem roten Fez auf dem imposanten weißgelockten Haupt, die lange Pfeife im Mund, war der alte Mann ein tableau vivant, das, umrahmt 244  Tallinn im 20. Jahrhundert

von blühenden Obstbäumen, den Betrachter an Spitzwegs idyllischen Pinselstrich denken ließ. Hier, im Sonnenschein, genoß er im Sommer sein ›dolce far niente‹, von dem Tag an, als ihn die Enteignung seines stolzen [Gutes] Kuckers für immer an das alte Familienpalais auf dem Domberg fesselte. Stolz und unbeugsam weigerte er sich, die Rechtmäßigkeit dessen, was in seinen Augen nie etwas anderes als Raub gewesen war, anzuerkennen und lehnte den Gedanken mit Verachtung ab, von Gnaden der neuen Republik einen kleinen Teil des gewaltig großen Gutes zu behalten.« Der estnische Staat hatte den Domberg schon mit dem Parlamentsbau im Schloss in Besitz genommen. Das Haus auf der anderen Seite der NevskijKathedrale, in dem Ende des 19. Jahrhunderts Isabella von Ungern-Sternberg ihren literarischen Salon abgehalten hatte, wurde zur Residenz des Staatsältesten, nachdem sein letzter Besitzer Helmuth von Lilienfeld es 1921 dem Staat verkauft hatte. Das ehemalige Ritterschaftshaus stand im Dienst des Außenministeriums. Die Frage der Domkirche war nach heftigen Konflikten mit ihrer deutschen Gemeinde im Sinne der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche gelöst worden, die hier ihren »natürlichen« Bischofssitz sah. Der Dom war über Jahrhunderte im Besitz der Ritterschaft gewesen und nach deren Auflösung von der deutschen Gemeinde übernommen worden. Letztere wollte sich dieses Symbol vergangener Bedeutung auch nicht nehmen lassen, nachdem das Gotteshaus vom Innenministerium auf Antrag des Konsistoriums und von Bischof Jakob Kukk 1925, wie es in deutschen Quellen heißt, »enteignet« wurde. Der Streit um den Besitz des Doms schlug international Wellen und beruhigte sich auch nicht, als im November 1926 der Protest der Gemeinde vom obersten Gericht mit der Begründung abgewiesen wurde, der estnische Staat sei Rechtsnachfolger der Ritterschaften. Als die Gemeinde sich weigerte, die Schlüssel zum Dom zu überreichen, musste die Kirche von der Polizei am 19. Februar 1927 aufgebrochen werden. Während die deutsche Gemeinde nun in die Nikolaikirche umzog, ließ Bischof Kukk als »Modernisierungsmaßnahme« die Epitaphe der deutschbaltischen Familien von den Kirchenwänden entfernen; sie wurden aus kulturhistorischen Gründen im Jahr darauf jedoch teilweise wieder angebracht. Die Prozesse um die Besitzrechte endeten hingegen erst 1934. »Fremd« blieb im estnischen Blick somit vor allem die Nevskij-Kathedrale, die der profilierte Kunstkritiker und Regisseur Hanno Kompus eine »fremde, klotzige und geschmacklose Masse« nannte, die der Residenz des Staatsältesten den Blick auf das Schloss versperre. Das allein war natürlich kein Grund für den Abriss, doch brachten vier Abgeordnete unterschiedlicher Parteien im Oktober 1928 einen Gesetzesentwurf vor die Staatsversammlung, mit dessen Hilfe die Nevskij-Kathedrale »liTallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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quidiert« werden sollte, da sie »in schreiendem Widerspruch zum architektonischen Charakter der übrigen Bauten der Hauptstadt« stehe. Bald jedoch stellte sich heraus, dass ein Abriss viel zu kostspielig war, und auch im Hinblick auf die kommenden Parlaments­wahlen erhielt die Initiative keine größere Resonanz. Mit General Laidoner und Bischof Kukk hatten die Abrissgegner, unter ihnen auch der prominente deutschbaltische Politiker Werner Hasselblatt, eine starke öffentliche Lobby; nur zwei der aktuellen Regierungsmitglieder sprachen sich dezidiert für den Abriss aus. Von den zahlreichen Umbauplänen sei der kreative Versuch des Architekten Karl Burman erwähnt, die Kathedrale zu einer »interkonfessionellen Gedächtniskirche« oder gar einem »Pantheon der Unabhängigkeit« umzubauen, wobei die hierzu überlieferten Skizzen stark an den späteren Stalinschen »Zuckerbäckerstil« gemahnen. Die tatsächlich realisierten Umbauten hielten sich in Grenzen. Auch die Idee, Tunnel und Lifte durch den Domberg zu bauen, sei es, um Touristen schneller und bequemer auf die Aussichtsplattformen der Oberstadt zu hieven, sei es, um als Luftschutzbunker parallel nutzbar zu sein, blieb auf dem Papier. Gebaut wurde schließlich zumindest ein repräsentatives Gebäude: die von Kotli entworfene und 1938 eingeweihte Präsidentenkanzlei in Katharinental. Schon 1929 hatte der Besuch des schwedischen Königs Gustav V. die Verantwortlichen in Tallinn auf den Umstand hingewiesen, dass die Stadt keine geeignete Unterkunft für derartig hochrangige Besucher hatte. So lagerte man damals kurzerhand die Bestände des Estnischen Kunstmuseums aus dem Palais Katharinental in das ehemalige Lokal »Linden« an der Narva mnt. aus, quartierte den Gast im Palais ein und entschied daraufhin, die Residenz des Staatsoberhaupts vom Domberg nach Katharinental zu verlegen. Päts legte dann 1937 den Grundstein für ein neobarockes Kanzleigebäude direkt hinter dem Schloss, das im Jahr darauf fertig wurde. Fernab vom Domberg, der als Parlamentssitz wegen der Aufhebung der Demokratie nach dem März 1934 vorerst keine politische Rolle mehr spielte, schuf Kotli mit der Kanzlei ein neues Machtzentrum, das seinerseits souverän genug war, mit der Symbolik der Vorgängermacht in einen architektonischen Dialog zu treten. Somit wurde auch der Zaren-Park architektonisch »estifiziert«. Tallinner Kulturleben Für das geistige Umfeld der Hauptstadt der jungen Republik spielte es weiterhin eine wesentliche Rolle, dass die nationale Universität – und damit das eigentliche geistige Zentrum – in Tartu angesiedelt war. Natürlich war der 246  Tallinn im 20. Jahrhundert

Ausbau der estnischsprachigen Bildung für die Republik von erstrangiger Bedeutung, und auch Tallinn profitierte von dieser Notwendigkeit. So legte die Eröffnung der Technischen Hochschule 1936, die aus einer Vereinigung des seit 1918/20 existierenden Tallinner Technikums und der Technischen Fakultät der Tartuer Universität hervorging, den Grundstock der dann 1938 in Tallinner Technische Universität umbenannten Einrichtung. Seit 1932 saß diese Einrichtung im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Russisch-Baltischen Werft in Kopli, womit sie allerdings vom innenstädtischen Bereich isoliert war. Das 1919 gegründete Lehrerseminar (1928–1937: »Pedagoogium«), das als Vorläufer der heutigen Tallinner Universität gilt, bildete Grundschullehrer aus. Es befand sich zwar an zentralem Ort in der Vene Straße, doch so sehr seine Absolventen dem eigenstaatlichen Schulwesen Impulse gaben, war seine Rolle als höhere Bildungsinstitution für die Stadt nicht mit der zu vergleichen, die der Universität in Tartu zukam. Aber auch die Hauptstadt hatte ihre kulturpolitischen Höhepunkte, zu denen vor allem die mitlerweile traditionellen Liederfeste gehörten. Alle vier Veranstaltungen der Zwischenkriegszeit (1923, 1928, 1933 und 1938) fanden in Tallinn statt. Nachdem 1923 noch eine primitive Holzbühne in Kadriorg aufgestellt worden war, auf der damals bereits über 10.000 Menschen sangen, wurde für das IX. Allgemeine Liederfest 1928 eine eigene Bühne im neoklassizistischen Stil errichtet, die 15.000 Menschen fasste und erst in den 1960er Jahren durch einen Neubau ersetzt wurde. Gerade unter Päts wurden die Liederfeste zu einem zentralen Ausdruck der estnischen Identität. Zudem kam diesen Massenfesten eine hohe politische Bedeutung zu, was schon allein daran abgelesen werden kann, dass die politische Elite stets eine maßgebliche Rolle spielte. Seit 1933 wurden die Liederfeste auch im estnischen Rundfunk übertragen, der 1926 begann, aus einem kleinen Studio in der Altstadt zu senden, bevor es später in das »Estonia«-Theater umzog. Da es in Tallinn nach 1918 keine intellektuelle Einrichtung als gesellschaftliches Zentrum gab, und es auch an Räumen für feierliche Veranstaltungen mangelte, taten sich 1924 zahlreiche Geschäftsleute und Personen des öffentlichen Lebens – darunter auch Päts und Laidoner – zusammen, um mit Hilfe einer Spendenaktion ein »Gesellschaftshaus« (Seltskondlik maja) zu errichten. Im April 1925 konnte es am Rande der Altstadt eröffnet werden; für die Innenausstattung im »Nationalstil« zeichnete Architekt Kuusik verantwortlich. Der große Hauptsaal wurde bei Staatsbesuchen für Empfänge genutzt und diente der von Laidoner gegründeten Gesellschaft »Central«, der die hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes angehörten, als Versammlungsort. Zahlreiche weitere Kulturvereine konnTallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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ten hier ihre Büros einrichten. Die Stadt kam dem »Gesellschaftshaus« mit den Abgaben etwa für Alkoholausschank entgegen, sodass das Restaurant günstige Mittag­essen anbieten konnte. Das Haus bot auch Tanzabende an, bei denen das damals beliebte Ensemble »The Murphy Band« auf geschlossenen Gesellschaften trotz offizieller Sperrstunde bis in die frühen Morgenstunden aufspielen konnte. Populär waren auch Ringerwettkämpfe. Bezeichnenderweise hatte sogar das »Estonia«-Theater solche Veranstaltungen im Programm seines Innenhofs; im Theater gab es neben dem Vereinsrestaurant zudem ein Kasino. Schon allen aufgrund seiner Größe war das Haus eines der Zentren des Tallinner Nachtlebens, hier wurde alles geboten. Größere Festgesellschaften fanden häufig hier statt, gerade auch bei ausländischem Besuch. Zuweilen gab es in allen drei Sälen zeitgleich Tanzmusik. Mit dem hier erwirtschafteten Profit bediente das »Estonia« die Interessen des klassischen Kulturbetriebs, denn in erster Linie wurde es zur führenden Sprechbühne des Landes. Hanno Kompus als Dramaturg und Regisseur sowie Ants Lauter als beliebter Schauspieler und Regisseur drückten ihr ihren Stempel auf. Im »Estonia« hatte 1928 auch die erste estnische Oper Premiere: Evald Aavas »Vikerlased« (Die Wikinger). Das nebenan gelegene Deutsche Theater, das mit dem »Dramakeller« ebenfalls ein Lokal unterhielt, vermietete seine Bühne zeitweilig an das Estnische Dramastudio, aus dem 1937 das Estnische Dramatheater wurde, welches nach der »Umsiedlung« der Deutschbalten das Haus übernahm. Daneben gab es noch das beliebte »Arbeitertheater«, das zunächst eng mit dem Dramastudio zusammenarbeitete, sich aber später eine eigene Truppe zusammenstellte und 1930 in das alte Vereinshaus der »Estonia« einzog. »Siuru« und Tammsaare: Literatur in Tallinn Das literarische Leben der jungen Republik hatte sein Zentrum in Tartu. Hierhin zog 1925 der drei Jahre zuvor in Tallinn gegründete Estnische Schriftstellerverband um. Allerdings hatte sich bereits 1917 eine Gruppe junger Literaten in Tallinn zusammengeschlossen, um das darniederliegende Verlagsleben zu erneuern. Vom russischen Symbolismus beeinflusst, gab sich die Gruppe, der Friedebert Tuglas, Marie Under, Artur Adson, August Gailit, Henrik Visnapuu und Johannes Semper angehörten, den Namen des mythischen Feuervogels »Siuru«. Ein im September 1917 im »Estonia«-Theater durchgeführter Literaturabend wurde ein vor allem finanzieller Erfolg, sodass die Gruppe ihre Verlagstätigkeit fortsetzen konnte. Mit einem ersten Almanach und einigen Einzelveröffentlichungen stellte die Gruppe 1917 ein Sechstel der literarischen Produktion im Lande.

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im Lande. Ihre Mitglieder lebten das Leben der Bohéme, trugen weiße Chrysantemen am Revers und setzten dem blutrünstigen Getöse der Kriegszeit den Lobpreis der menschlichen Schaffungskraft und der Natur entgegen. Nach internen Konflikten löste sich »Siuru« 1919 auf. So sehr der Gruppe in diesen politisch bewegten Jahren ihr künstlerisches Selbstverständnis, ohne explizites »Programm« aufzutreten und im Grunde unpolitisch zu sein, auch vorgeworfen wurde, muss doch festgehalten werden, wie wesentlich ihr Verdienst hinsichtlich der Etablierung eines Marktes für Belletristik und Posie in der Gründungsphase Estlands war. Die Mitglieder von »Siuru« wurden zu führenden Figuren der estnischen Literatur in der Zwischenkriegszeit. Under z.B., die in Tallinn blieb, setzte die Tradition weiblicher estnischer Dichterinnen fort, veröffentlichte ihre Gedichte und übersetzte u.a. Werke des deutschen Expressionismus. Auch andere bekannte Schriftsteller schrieben ihre Werke in der Hauptstadt. Anton Hansen Tammsaare war 1919 nach Tallinn gezogen. Vor allem mit seinem fünfbändigen Roman »Tõde ja õigus« (Wahrheit und Recht, 1926–1933) erschrieb er sich den Rang des größten lebenden Schriftstellers des Landes. Die in seinem Hauptwerk geschilderte Lebensgeschichte des vom Land stammenden Indrek Paas, der nach seiner Übersiedlung nach Tallinn in die Wirren der Revolution von 1905 gerät, am Ende seines Lebens jedoch – schon zur Zeit der Republik – wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt, spiegelte die Geschichte der Esten bis in die späten 1920er Jahre. Ein weiterer Vertreter des Realismus, Mait Metsanurk, der an Popularität Tammsaare kaum nachstand, im Gegensatz zu diesem aber die Öffentlichkeit suchte, verdankte seinen Erfolg ebenfalls der Schilderung der jüngsten Vergangenheit. So betrachtete er in seinen Romanen »Valge pilv« (Die weiße Wolke, 1925) und »Punane tuul« (Der rote Wind, 1928) die Zeit der Revolution und des Freiheitskrieges, thematisierte aber auch die Sinnsuche eines kommunistischen Untergrundkämpfers in seinem Werk »Jäljetu haud« (Das spurlose Grab, 1926). Sehr erfolgreich war auch sein historischer Roman »Ümera jõel« (An der Ümera, 1934), in dem er den Freiheitskampf der Esten im 13. Jahrhundert als Sujet wählte. Daneben gab es in den 1920er Jahren auch eine gesellschaftskritische Richtung eher linksstehender Autoren, die sich 1926 bis 1929 um den Almanach »Aktsioon« scharten. Letzterer ist mit dem Namen Aleksander Antson verbunden, der wiederum als erfolgreicher Leichtathlet – Olympiateilnahme in Paris 1924 – sich auch um den Arbeitersport verdient gemacht hat. Nach 1934 wurde der Wunsch des Regimes wesentlich, Tallinns steigende Attraktivität auch in der Kulturszene zu nutzen, um Politik und Kultur zum Zwecke der nationalen Kohäsion in Einklang zu bringen. 1935 wurde in diesem Sinne das »Jahr des estnischen Buchs« zelebriert aus Anlass der 500-Jahrfeier des ersten gedruckten estnischen Katechismus. Der Verlag »Kultuurikoondis«, an dessen Leitung auch Gailit und Visnapuu beteiligt waren, publizierte neben Belletristik auch die Kulturzeitschrift »Varamu« (Schatzkammer). Als

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Gegengründung zum Tartuer Schriftstellerverband wiederum darf man die eher linksorientierte Gruppe »Tallinna kirjanike koondis« (Tallinner Schriftstellervereinigung) bezeichnen, unter deren Mitgliedern Rudolf Sirge erwähnt sei, der in seinem Roman »Must suvi« (Der schwarze Sommer, 1936) in Anspielung auf die Popularität nationalsozialistischer Ideen unter den Deutschbalten die deutsche Okkupation Estlands 1918 behandelte. Eine Aufführung der Dramafassung durch das »Estnische Dramastudio« im Deutschen Theater in Tallinn wurde auf Betreiben der Deutschen abgesetzt. Einige Mitglieder der Gruppe, wie Johannes Vares (Künstlername: Barbarus) und Nigol Andresen, aber auch Semper traten 1940 der von den Sowjets installierten Übergangsregierung bei. Literatur: Hasselblatt, Cornelius: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin & New York 2006.

Die »Goldenen Zwanziger«. Getanzt wurde in den 1920er Jahren überall. Populär waren Veranstaltungen wie »Five o’clock tea dancing«, durch die sich vor allem das Café »Marcelle« an der Nordseite des Rathausplatzes eine treue Anhängerschar erwarb. Hier fand 1926 der erste Charleston-Abend, 1930 die erste Nummernrevue mit einer weiblichen Tanzgruppe und 1931 der erste Tanzmarathon statt. Hier hatte aber auch die »Murphy Band«, die ursprünglich aus Schuljungen deutschbaltischer Herkunft bestand, 1925 erste Auftritte, bevor sie im Jahr darauf zur Hausband im »Estonia« wurde. Unter der Leitung von Kurt Strobel unterhielt sie ihr Publikum mit Gassenhauern wie »Yes, Sir, that’s my baby«, »Ich hab’ das Fräulein Helen baden seh’n« oder »Ramona«. Aber auch Modeschauen erfreuten sich wachsender Beliebtheit, und erneut setzte das »Marcelle« die Trends: 1929 veranstaltete es eine Modewoche, in der die neuesten Kollektionen aus Paris, Wien und London präsentiert wurden. Schon bald wurden aus solchen Veranstaltungen Reklameschauen für die Kosmetik- und Tabakindustrie. Bereits 1923 wurde die erste »Miss Estonia« gewählt. Der Alkoholverkauf war während der Kriegszeit verboten und seit 1918 in der Hand der Stadt. Im Juli 1920 wurde jedoch schon aus fiskalischen Gründen der Verkauf wieder erlaubt, aber erst zum 1. Januar 1926 völlig freigegeben. Weiterhin gab es Gaststätten, denen Alkoholausschank verboten war. Dieses Verbot senkte jedoch nicht nur die Einnahmen der Stadtkasse, sondern führte dazu, dass es in einigen Stadtteilen keinen gesetzlichen Alkoholausschank mehr gab, was die Attraktivität von geschmuggeltem Schnaps förderte. Zu den berüchtigten Etablissements der Zeit gehörte die »Koppel« am Bahnhof, das »Must Kass« (Schwarze Katze) im Kino »Grand Marina« am Mere Boulevard sowie das »Café Anglais« an der Westseite 250  Tallinn im 20. Jahrhundert

des Rathausmarkts. Sämtliche drittklassigen Gästehäuser der Stadt sollen sich zu Beginn der 1920er Jahre als Bordelle über Wasser gehalten haben, doch mussten sich auch höher eingestufte Etablissements dieses Vorwurfs gelegentlich erwehren. Was für die einen zusätzliche Einnahmequelle war, wurde von Sittenwächtern als Nest von Glücksspiel, Prostitution und – seit dem Ende der 1920er Jahre – zunehmend auch des Kokainhandels verurteilt. Die Prostitution behauptete sich in den Hinterhöfen und dunklen Gassen um den Rathausplatz, der Kokainhandel war am Russischen Markt konzentriert. Für die Stadt bedeutete der Verkauf von illegalem Schnaps jedoch die Hauptgefahr für die Einnahmen. Kontrollen waren an der Tagesordnung. Bald begann der Siegeszug des bereits erwähnten »Linden« an der Narva mnt. 1926 bescherte es der Stadt mit 1,3 Mio. Mark die höchsten Einnahmen aus der Alkoholsteuer. Seit 1924 gab es im Kellergeschoss eine »Amerikanische Bar«, d.h. einem Tresen mit Barhockern und – aus Riga eingeführten – baaridaamid, die nach Angaben der hauptstädtischen Presse »zu allem bereit« waren. Zur Freude des Stadtsäckels blühte offenbar das Geschäft. Später jedoch fand man in der Bar eine Tür, die direkt ins Treppenhaus und zu Privatzimmern führte, sodass der Prostitutionsverdacht überdeutlich im Raum stand. 1928 musste der Besitzer auf Druck der Stadt seine Bar aufgeben; das Restaurant allein scheint die Kosten nicht gedeckt zu haben, denn das »Linden« wurde im Mai 1929 geschlossen. Nun konnten aus Anlass des Besuchs von Gustav V. die Bestände des Estnischen Kunstmuseums in Kadriorg hierher überführt wurden. Ab sofort übernahm das im Kino »Gloria-Palast« am Freiheitsplatz gelegene, vor allem auf ausländische Gäste zielende Nobel-Restaurant »Dancing Palace Gloria« die Rolle des größten Steuerzahlers unter den Etablissements der Stadt. Mit Beginn der Unabhängigkeitszeit waren die meisten Hotels und Restaurants in estnische Hände übergegangen. Interessanterweise war das traditionsreichste Hotel der Stadt, der »Goldene Löwe«/»Kuldne Lõvi« in der Harju Straße, bereits seit den 1870er Jahren im Besitz von Esten. Zu Beginn des Jahrhunderts stand eine GmbH hinter den Eigentümern, die auch nach 1918 in veränderter Form das Heft in der Hand behielt. 1924 wurden die Pachtrechte an Johannes Janson und Richard Devid übergeben, die Betreiber des erfolgreichen und renommierten Hotels »St. Petersburg«. Im Zuge der Wirtschaftskrise mussten aber zahlreiche Etablissements ihre Besitzer wechseln oder gar schließen, so z.B. 1932 das »Europa« in der Viru Straße (wo 1995 das erste McDonalds-Restaurant Tallinns eröffnet wurde). Daran konnten auch die finnischen Touristen nichts ändern, die seit der Mitte der 1920er Jahre schon aufgrund der Prohibition im eigenen Land nach Tallinn Tallinn als Hauptstadt der Republik Estland 

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fuhren. Ihre Zahl stieg von zunächst 4.000 im Jahr auf 14.000 1929/30, doch sank sie 1932 auf knapp 5.600: In Finnland war Alkohol nun billiger als in Tallinn. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden viele Hotels wie das nun »Bristol« genannte »Petersburg« oder das »Kuld Lõvi« nach internationalen Standards modernisiert, um mit den gestiegenen Ansprüchen der ausländischen Gäste Schritt zu halten. Ab 1934 hatten viele der erstrangigen Tallinner Etablissments als »Nachtrestaurant« bis sechs Uhr morgens geöffnet. Unter dem autoritären Regime machte sich ein gesitteteres Klime in den Etablissements der Stadt bereit. Selbst die typische Tallinner (Un)sitte, in Restaurants theatralisch Selbstmord zu begehen, nahm ab, wie der finnische Historiker Kalervo Hovi in seiner amüsanten Geschichte der Tallinner Restaurantkultur schreibt. Gewalt blieb den Kneipen am Stadtrand vorbehalten und die Prostituierten waren registriert; nur der Verkauf von illegalem Alkohol und das eigenmächtige Ignorieren der Sperrstunde bereitete den Ordnungshütern weiterhin Sorge. Typisch für die späten 1930er Jahre war die Herausbildung einer »europäischen Kaffeekultur«, die es so zuvor höchstens in der Universitätsstadt Tartu gegeben hatte. Gleich drei Cafés am Freiheitsplatz traten in Konkurrenz um den Kunden: das traditionsreiche »Feischner« an der Mündung der Harju Straße, das »Corso« (im EKAHaus, später »Harju«) und das »Kultas« (im Gebäude der HausbesitzerBank). Vor allem Letzteres setzte Standards, denn sein Besitzer Nikolai Kultas hatte in Brünn gelernt und in Wien und Prag gearbeitet. Seine Kellner trugen eine einheitliche Uniform, zuweilen auch Volkstracht, sprachen mehrere Sprachen und waren von ausgesuchter Höflichkeit. So traf sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Elite meist hier, während das »Fleischner« vor allem Künstler und Intellektuelle anzog und die Beamten im »Corso« saßen. Zum kulinarischen Zentrum stieg das bereits 1878 gegründete »Du Nord« in der Rataskaevu Straße auf, vor allem nachdem es unter Evald Palli zum »Nachtrestaurant« wurde. Hier fanden seit 1936 wöchentlich »Kerzenscheinabende« statt, die sich großer Popularität erfreuten. Ausländische Touristen waren begeistert von dem »slawischen Charme« der Küche und den französischen Spirituosen. Diese letzte Phase einer kultivierten hauptstädtischen Boheme, die in gewisser Weise auch als Surrogat für die politische Entmündigung der Gesellschaft unter Päts einzuordnen ist, war jedoch nur von kurzer Dauer. Schon seit Kriegsbeginn im Herbst 1939 drohten nicht nur höhere Preise aufgrund der im Oktober verhängten Zuckerrationierung. Die wachsende politische Unsicherheit nach dem sog. Stützpunktvertrag mit der UdSSR, in dessen 252  Tallinn im 20. Jahrhundert

Folge 25.000 Soldaten der Roten Armee in Estland stationiert wurden, machte deutlich, dass Estlands politische Stabilität am seidenen Faden hing und es zum Spielball der Großmächte und ihrer Diktatoren Hitler und Stalin geworden war. Gleich nach der sowjetischen Besatzung im Juni 1940 wurde der Alkoholausschank für einen Monat verboten und die Polizei beauftragt, nach 23 Uhr für Ruhe auf den Straßen zu sorgen. Bis November wurden die Etablissements verstaatlicht. Die bürgerliche Kultur wurde zunächst nur zur Zielscheibe der Propaganda, aber im Juni 1941 wurden die meisten der ehemaligen Restaurantbesitzer wie z.B. Richard Devid und Evald Palli nach Sibirien deportiert. Beide starben 1942.

3. Tallinn im Zweiten Weltkrieg Die Umsiedlung der Deutschbalten und eine   inszenierte Revolution Die erste Bevölkerungsgruppe Tallinns, die direkt von dem am 23. August 1939 geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt getroffen wurde, waren die Deutschbalten. Am 28. September hatte der Kreml im Geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-so­wje­tischen Grenz- und Freundschaftsvertrags der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus der sowjetischen »Interessensphäre« im Baltikum zugestimmt. Bereits am 6./7. Oktober trafen erste deutsche Schiffe in Tallinn und Pärnu ein, um die Deutschen abzuholen. Am 8. Oktober, einem Sonntag, wurde die Nachricht von der bevorstehenden Ausreise der Deutschen verbreitet, die die meisten völlig überraschte. Selbst Premierminister Eenpalu soll auf die Kunde vom Exodus der deutschen Bevölkerung nur ausgerufen haben: »Das ist Estlands Ende«. Die unmittelbar davon Betroffenen standen wie unter Schock. Beide Seiten aber wussten, um was es ging, v. Stackelberg schrieb: »Alles, was Generationen aufgebaut hatten, was wir liebten und was unser Leben bedeutete, war zerstört. Hätte nicht auf der anderen Seite der sichere Untergang durch die Sowjetunion gedroht, wäre wohl nichts in der Lage gewesen, uns zur Annahme dieses Beschlusses zu bewegen. Aber wir hatten keine Wahl: untergehen oder das Land verlassen und damit das Leben und unseren Kindern eine Zukunft retten«. Viele Esten hätten ihre Verzweiflung offen gezeigt, schließlich ahnten sie, vor wem die Deutschen »heim ins Reich« geholt wurden. Bald bildeten sich lange Schlangen vor dem Haus der Kulturselbstverwaltung auf dem Domberg, wo die Umsiedlungserlaubnis nach dem Nationalkataster erteilt wurde. Die Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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Folge 25.000 Soldaten der Roten Armee in Estland stationiert wurden, machte deutlich, dass Estlands politische Stabilität am seidenen Faden hing und es zum Spielball der Großmächte und ihrer Diktatoren Hitler und Stalin geworden war. Gleich nach der sowjetischen Besatzung im Juni 1940 wurde der Alkoholausschank für einen Monat verboten und die Polizei beauftragt, nach 23 Uhr für Ruhe auf den Straßen zu sorgen. Bis November wurden die Etablissements verstaatlicht. Die bürgerliche Kultur wurde zunächst nur zur Zielscheibe der Propaganda, aber im Juni 1941 wurden die meisten der ehemaligen Restaurantbesitzer wie z.B. Richard Devid und Evald Palli nach Sibirien deportiert. Beide starben 1942.

3. Tallinn im Zweiten Weltkrieg Die Umsiedlung der Deutschbalten und eine   inszenierte Revolution Die erste Bevölkerungsgruppe Tallinns, die direkt von dem am 23. August 1939 geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt getroffen wurde, waren die Deutschbalten. Am 28. September hatte der Kreml im Geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-so­wje­tischen Grenz- und Freundschaftsvertrags der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus der sowjetischen »Interessensphäre« im Baltikum zugestimmt. Bereits am 6./7. Oktober trafen erste deutsche Schiffe in Tallinn und Pärnu ein, um die Deutschen abzuholen. Am 8. Oktober, einem Sonntag, wurde die Nachricht von der bevorstehenden Ausreise der Deutschen verbreitet, die die meisten völlig überraschte. Selbst Premierminister Eenpalu soll auf die Kunde vom Exodus der deutschen Bevölkerung nur ausgerufen haben: »Das ist Estlands Ende«. Die unmittelbar davon Betroffenen standen wie unter Schock. Beide Seiten aber wussten, um was es ging, v. Stackelberg schrieb: »Alles, was Generationen aufgebaut hatten, was wir liebten und was unser Leben bedeutete, war zerstört. Hätte nicht auf der anderen Seite der sichere Untergang durch die Sowjetunion gedroht, wäre wohl nichts in der Lage gewesen, uns zur Annahme dieses Beschlusses zu bewegen. Aber wir hatten keine Wahl: untergehen oder das Land verlassen und damit das Leben und unseren Kindern eine Zukunft retten«. Viele Esten hätten ihre Verzweiflung offen gezeigt, schließlich ahnten sie, vor wem die Deutschen »heim ins Reich« geholt wurden. Bald bildeten sich lange Schlangen vor dem Haus der Kulturselbstverwaltung auf dem Domberg, wo die Umsiedlungserlaubnis nach dem Nationalkataster erteilt wurde. Die Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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Entlassung aus der Staatsbürgerschaft geschah oft erst am Kai unmittelbar vor der Abreise. Binnen kurzem musste eine effektive Organisation der mit der Umsiedlung von weit über 10.000 Personen verbundenen rein praktischen Fragen aus dem Boden gestampft, zugleich Panik vermieden und doch vor allem in Fragen des Besitzes der Umsiedler alles korrekt registriert werden. Da die Menschen nur wenig Bargeld mitnehmen durften, wurde gekauft, was es zu kaufen gab, zugleich aber viele andere Dinge, oft mit großem Erinnerungswert, für wenig Geld verkauft. Koffer oder andere Verpackungsgegenstände waren in ganz Reval Mangelware. Am 18. Oktober verließ die »Utlandshörn« als erstes Schiff den Tallinner Hafen und transportierte die Deutschen in den »Warthegau« auf besetztem polnischem Territorium. Zum 1. Januar 1940 stellte die Kulturselbstverwaltung ihre Arbeit ein, deren Führung im März das Land verließ; im Mai gab auch der »Verband deutscher Vereine« seine Tätigkeit auf. Am 18. Mai verließ der KdF-Luxusdampfer »Der Deutsche« mit knapp 500 Umsiedlern als letztes Schiff Tallinn. Noch hielten sich aber gut 4.000 Personen, die im deutschen Nationalkataster eingetragen waren, in Estland auf. Sie sollten erst mit der »Nachumsiedlung« 1940/41, der sich auch viele Esten anschlossen, das Land verlassen. Manche Drehbücher schreibt nur die Realität: Am selben Morgen des 18.  Oktober 1939, als das erste Schiff mit Umsiedlern Tallinn verließ, betraten die ersten sowjetischen Truppen infolge des Stützpunktvertrags estnischen Boden. Auf der Tallinner Reede hatten sich bereits einige Tage zuvor mehrere Kriegsschiffe gezeigt, um das Land während des Einmarsches der Truppen von See her zu sperren. Die Umsiedlung lief somit vor den wachsamen Augen der Roten Flotte ab, womit deutlich wurde, wer das Schicksal des Landes in Zukunft zu bestimmen gedachte. Zwar hatte in den estnischsowjetischen Verhandlungen verhindert werden können, dass die UdSSR den Tallinner Hafen komplett für ihre Zwecke in Beschlag nahm, doch musste ihr ein Nutzungsrecht für zwei Jahre zugesichert werden. Von nun an war es nicht ausgeschlossen, sowjetische Matrosen beim Altstadtbummel in Tallinn zu sehen, auch wenn sie meist in ihren Kasernen zu bleiben hatten. Ihre Überraschung über die trotz der Kriegszeit vergleichsweise reichhaltigen Auslagen der Geschäfte war groß. Das ihnen in der eigenen Propaganda vermittelte Bild von der »faschistischen Cliquenherrschaft« und der unterdrückten Arbeiterklasse hatte mit der Realität nichts zu tun. Wohlweislich bemühte sich die Armeeführung, ihren Soldaten diesen Kulturschock zu ersparen. Was folgte, war stetiger diplomatischer Druck seitens des Kreml, der zudem Fakten schuf, indem er die gerade bezogenen Stützpunkte ausbauen 254  Tallinn im 20. Jahrhundert

ließ und von estnischem Boden aus in den »Winterkrieg« gegen Finnland eingriff, was die von der estnischen Führung proklamierte Neutralität zur Farce werden ließ. Als am 2. Februar 1940 ein sowjetisches Kriegsschiff in Tallinner Hafen ein estnisches Flugzeug beschoss, konnte man sich nur mit bitterer Ironie helfen: Die Sowjets schießen Salut zu Ehren des vor 20 Jahren abgeschlossenen Friedens von Tartu. Im April waren insgesamt über 30.000 Rotarmisten in Estland stationiert. Moskau forderte angesichts des deutschen Vormarsches nach Dänemark und Norwegen, die Verteidigung Tallinns komplett zu über­nehmen. Im Schatten des deutschen Sieges über Frankreich folgte im Juni die sowjetische Okkupation. Dem durch die sowjetische Seeblockade und mit erhöhter militärischer Präsenz an den Grenzen Nachdruck verliehenen sowjetischen Ultimatum vom 16. Juni hatte Estland nichts entgegenzusetzen, zumal militärischer Widerstand gegen die Übermacht sinnlos erschien. Moskau forderte freien Durchmarsch für die Rote Armee und die Bildung einer prosowjetischen Regierung. Am folgenden Tag wurden die Bedingungen diktiert, denen zufolge auch die Hauptstadt als Stationierungsort der nun insgesamt 90.000 Mann vorgesehen war: Allein die Flotte verlangte über 60 Gebäude in der Hauptstadt, darunter das Kriegsministerium, Verwaltungsgebäude, Fabriken, Hafeneinrichtungen und eine ganze Reihe neuer Wohnhäuser. Die politische Kontrolle übernahm der aus Moskau entsandte Vertraute Stalins, Andrej A. Ždanov. Das unabhängige Estland hatte mit dessen Ankunft faktisch aufgehört zu existieren. Die Sowjetunion aber verbesserte auf Kosten der baltischen Staaten ihre strategische Position in der zukünftigen Auseinandersetzung mit dem Berliner Vertragspartner. Noch hofften auch manche Esten, dass sich die Moskauer Aktion auf das militärische Moment im laufenden Krieg beschränken möge. In Tallinn ereignete sich indes ein Schauspiel, das diese Hoffnungen rasch als Illusion entlarvte, der sowjetischen Sichtweise hingegen als »spontane sozialistische Revolution« galt, in der das estnische Volk seinen innigen Wunsch ausgedrückt habe, sich der sowjetischen Völkerfamilie anzuschließen. Am 21. Juni wurden Demonstrationen der Werktätigen organisiert, die im Grunde illegal waren, da die Rote Armee ein Versammlungsverbot verfügt hatte. In Tallinn zogen Demonstranten – die Zahlenangaben schwanken von 2.000 bis 40.000 – vom Vabaduse väljak zum Regierungssitz auf den Domberg. Der Zug bewegte sich dann weiter in Richtung Altstadt, wo er vor der sowjetischen Botschaft Ždanov hochleben ließ. Während die Demonstranten auf dem Weg zur Präsidentenkanzlei in Katharinental »Nieder mit Päts« riefen, hielten ihnen die ihren Weg säumenden Menschen »Es lebe Päts« entgegen. Fotos zeigen, dass der Zug von gepanzerten FahrzeuTallinn im Zweiten Weltkrieg 

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gen der Roten Armee begleitet wurde. Man weiß bis heute nicht genau, wie viele »echte« Arbeiter, freiwillig gekommene linksgerichtete Esten mitmarschierten und wie viele der Demonstranten in zivil gekleidete Soldaten bzw. Bedienstete der Stützpunkte waren. Gegen 18 Uhr am 21. Juni traf der von Ždanov zum neuen Ministerpräsidenten ernannte Arzt und linksorientierte Poet Johannes Vares bei Päts ein, der die ihm vorgelegte Kabinettsliste nicht zuletzt in der Hoffnung auf eine baldige Beruhigung der Lage absegnete. Die Vares-Regierung bestand aus einer Reihe von Sozialisten und linksgerichteten Intellektuellen wie dem Tartuer Geschichtsprofessor Hans Kruus, der schon 1919 als Abgeordneter der estnischen Sozialrevolutionäre in der Verfassunggebenden Versammlung gesessen hatte. Es ist bezeichnend, dass die auf ungefähr 130 Mitglieder geschrumpfte illegale Estnische Kommunistische Partei (EKP) erst Anfang Juli überhaupt wieder legalisiert wurde: Ihre Stunde war in Moskaus Dramaturgie noch nicht gekommen; zunächst musste die Sowjetisierung des Baltikums gesichert werden. Allerdings wollte der Kreml um jeden Preis vermeiden, dass dieses Projekt als ferngesteuert erschien. Die formalen Konsequenzen des Einmarsches waren aber zunächst unklar. Anfang Juli kam Ždanov mit neuen Instruktionen aus Moskau und ließ Wahlen zur Staatsversammlung ausrufen, die am 14. und 15. Juli stattfanden: Ein neues Parlament als Ausdruck des »Volkswillens« sollte um die Aufnahme in die Sowjetunion bitten. Diese Wahlen waren jedoch – wie bereits zuvor unter der Päts-Diktatur – eine Farce, da die Beteiligung oppositioneller Kandidaten nahezu unterbunden wurde. Bei einer Wahlbeteiligung von 84% stimmten über 92% für die Kandidaten des Wahlblocks »Union des werktätigen Volkes«, dessen Programm von Ždanov jedoch so allgemein abgefasst war, dass man mit etwas gutem Willen durchaus zustimmen konnte. Die ja auch von der sowjetischen Verfassung von 1936 gewährten bürgerlichen Freiheiten waren genauso enthalten wie das Versprechen, die Nationalkultur zu fördern. Die mittlerweile gleichgeschaltete Presse erklärte indes jeden, der nicht wählen ging, zum »Feind des Volkes«, und in den Wahllokalen sorgten Rotarmisten für Ordnung. Zu Zwischenfällen kam es nicht. Nur während eines Fußballspiels zwischen den Nationalmannschaften Estlands und Lettlands am 18. Juli im Tallinner Kadriorg-Stadion gab es spontane patriotische Demonstrationen, als wohl zum letzten Mal bei öffentlichen Veranstaltungen die Nationalhymnen gespielt wurden und die estnische und lettische Fahnen neben der sowjetischen hingen. Wenige Tage vor seiner Verstaatlichung betonte auch das »Päevaleht« (Tageblatt), dass noch nie eine lettische Mannschaft in Tallinn so ge256  Tallinn im 20. Jahrhundert

feiert worden sei wie an diesem Tag, erklärte diesen Umstand aber mit dem »sportlichen Auftreten« der lettischen Mannschaft (die 2:1 verlor). Erst nach den Wahlen eröffnete Ždanov der Regierung zu ihrer Überraschung, dass nun der Anschluss an die Sowjetunion erklärt werden müsse. Dies übernahmen die Kommunisten, die an die Spitze des gerade gewählten Parlaments gesetzt wurden, welches am 21. Juli die Sowjetmacht für errichtet erklärte. Erst jetzt übernahm Premier Vares offiziell die Amtsgeschäfte von Päts, der nach dem 21. Juni ohnehin nur noch eine Art »Puppenpräsident« (S. Zetterberg) gewesen war. Vares’ aktive Rolle war mit dieser Beförderung allerdings auch erfüllt; 1946 beging er Selbstmord. Am 23. Juli dekretierte das Parlament den »Wunsch der estnischen Werktätigen«, in die UdSSR aufgenommen zu werden. Dieser Akt wurde schließlich am 6. August vom Obersten Sowjet in Moskau feierlich vollzogen. Tallinn unter sowjetischer Herrschaft 1940/41 In Tallinn regierte nun nach offizieller Rhetorik das Volk, doch herrschte die Sowjetmacht ohne Sowjets, also ohne ihre »von unten« gewählten Vertretungsorgane. Die Macht in den Kommunen wurde von den neuen Herren gestellt. Am 27. Juli übernahm der Gewerkschaftsaktivist Aleksander Kiidelmaa das Amt des Bürgermeisters, das erst Anfang 1941 in »Vorsitzender des Exekutivkomitees des Tallinner Arbeitersowjets« umbenannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hieß der Amtsinhaber aber bereits Kristjan Seaver, der am Putschversuch von 1924 beteiligt gewesen und erst am 21. Juni 1940 von den Demonstranten aus dem Gefängnis befreit worden war. Die Stadtverordnetenversammlung, so heißt es in einer Geschichte der Stadt aus dem Jahre 1969, habe in »natürlich neuer, demokratischer Zusammensetzung« weitergearbeitet. Nur Personen, die sich nicht »kompromittiert« hatten – ein auslegungsfähiger Begriff – wurden einstweilen weiter beschäftigt, es fehlte ja an erfahrenen Kadern. Reguläre Wahlen der Administrativorgane auf lokaler Ebene fanden erst 1948 statt. Das neue Regime konnte sich seiner neuen Untertanen zuvor noch nicht sicher sein. Regimetreuen Darstel­lungen zufolge waren Anfang 1941 alle Banken und mehr als 900 Industriebetriebe verstaatlicht. Solche Texte pflegen den positiven Einfluss der nun überall gegründeten Parteizellen – aus den gut 130 Kommunisten des Landes im Juni 1940 wurden im Februar 1941 2.107 und im März 3.732 – auf sämtliche Aspekte des Arbeiteralltags zu betonen, selbst wenn ca. ein Viertel der neuen Mitglieder kein Estnisch sprach. Andere Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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dechiffrierten die Abkürzung des neuen Staatsnamens Estnische SSR – Eesti Nõukogude Sotsialistlik Vabariik (ENSV) – bald als »Erst Hunger, dann Elend« (Enne nälg, siis viletsus). Vor allem die Einführung des Rubels im November 1940 bei einem Wechselkurs von 1,25 Rbl. zu einer Estnischen Krone war in erster Linie ein Geschenk an die im Land stationierten Rotarmisten, war doch die Krone zuvor noch 10-15 Rbl. wert. Da zudem alle Bankersparnisse über 1.000 Rbl. verstaatlicht wurden, brachten schon die ersten Monate eine erhebliche Verschlechterung der Lage vor allem für die Mittel- und Oberschichten. Partielle Lohnerhöhungen, die von Preissteigerungen begleitet waren, fingen dies nicht auf. Die Regierung jubilierte, dass nun keine Luxushäuser mehr gebaut würden und Frauen auf ihre Silberfüchse verzichten müssten; die Anreden »Herr«, »Frau« oder »Fräulein« waren von nun an tabu und durch das gewöhnungsbedürftige »Bürger« (kodanik) zu ersetzen. Die neuen Machtorgane betrieben Klientelwirtschaft. So wurden über 130 m2 große Wohnungen noch im Herbst 1940 verstaatlicht, Privathäuser Mitte 1941. Im November 1940 wurde als Mittel gegen die nicht zuletzt durch den »Import« von Offiziellen aus dem Inneren der UdSSR verursachte Wohnungsknappheit das »nicht-werktätige Element« aus den Städten verbannt. Dies galt in erheblichem Maße für Tallinn, wo sich die neuen Institutionen ballten. Noch im Juli begann der Terror gegenüber Repräsentanten der politischen und sozialen Elite der Republik. Am 17. Juli wurde General Laidoner verhaftet, am 30. Juli Päts. Beide wurden mit ihren Familien ins Innere der Sowjetunion deportiert. Laidoner starb 1953 in einem Lager in Vladimir, Päts 1956 in einer Irrenanstalt in Kalinin (Tver’). Bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden über 7.500 Personen des öffentlichen Lebens verhaftet, allen voran – wenn sie nicht zuvor Selbstmord begingen – Angehörige der Politischen Polizei, der Ministerien, Armee und Banken, aber auch Mitglieder der ehemaligen antibolschewistischen weißen russischen Streitkräfte, die als Emigranten in Estland lebten. Besondere Aufmerksamkeit richteten die nachtragenden sowjetischen Organe auch auf alle Beteiligten am erwähnten Prozess gegen Viktor Kingissepp 1922. In ziemlich genau zwölf Monaten wurden 80% der ehemaligen Staatsoberhäupter, zwei Drittel der Minister, darunter zehn der elf letzten Minister, die Hälfte der letzten Staatsversammlungsabgeordneten und fast die Hälfte der letzten Lokalverwaltungsleiter verhaftet. Die überwiegende Mehrheit der während dieses »schrecklichen Jahres« Verhafteten wurde entweder noch kurz vor Kriegsbeginn erschossen oder starb später im sowjetischen GULag. Seit Ende 1940 sammelten die sowjetischen Sicherheitsorgane belastendes Material über ganze Kategorien potentieller Feinde und ihrer Familien. 258  Tallinn im 20. Jahrhundert

Anfang Mai 1941 begannen die Vorbereitungen für die »Säuberung« der baltischen Sowjetrepubliken von »antisowjetischen«, »kriminellen« oder »sozial gefährlichen Elementen«, wobei für Estland 14.471 Namen aufgelistet wurden. Die Massendeporation vom 14.–16. Juni sollte die Sowjetisierung sichern und das Hinterland eines möglichen Kriegs von potentiellen Gegnern »säubern«. In Tallinn wurde für diese Aktion das Parteiaktiv herangezogen. Der Vorsitzende des Tallinner Exekutivkomitees Seaver persönlich überzeugte sich davon, dass genügend Transportmittel zur Verfügung standen. Am späten Abend trafen sich die Aktivisten im ehemaligen Kino »Grand Marina«, das nun als Haus der Roten Armee diente. Die Verhaftungsaktion begann um ein Uhr in der Früh. Den Verhafteten blieb eine Stunde, um ihre Sachen zu packen; an der Verladestation wurden die Familien getrennt. Insgesamt wurden bis Anfang Juli wohl 10.700 Menschen aus Estland in das Innere der Sowjetunion deportiert, darunter 1.867 aus Tallinn und 460 aus Nõmme. Unter den Deportierten befand sich ein knappes Drittel Kinder unter 14 Jahren. Ihre »Schuld« bestand darin, dass sie einer Familie angehörten, die die Behörden als »gefährlich« einstuften, sei es, weil ein Mitglied bereits zuvor verhaftet worden war – Sippenhaft war in der Sowjetunion gängiges Druckmittel –, sei es, weil ein Mitglied vor Juni 1940 im weitesten Sinne öffentlich tätig gewesen war. Im Juni 1941 wurden Familien verhaftet, deren Mitglieder im Staatsdienst standen oder der Wirtschaftselite angehörten. Unter den Deportierten befanden sich aber auch mehr als 430 Juden, die in erster Linie als »Zionisten« oder als »Bourgeois« verhaftet wurden. Damit wurden über 10% der jüdischen Bevölkerung Estlands von den Sowjets deportiert; proportional gesehen zehnmal mehr als bei den Esten. In Anbetracht der folgenden Jahre unter der NS-Herrschaft rettete die Deportation vielen von ihnen das Leben. Juden in Estland Erst seit dem 19. Jahrhundert lässt sich eine dauerhafte jüdische Bevölkerung auf estnischem Boden nachweisen. Vor allem ehemalige Soldaten (»Kantonisten«) und Handwerker gründeten 1830 die erste jüdische Gemeinde in Reval mit ca. 40 Mitgliedern. Erst nach der Aufhebung des jüdischen »Ansiedlungsrayons« in Russländischen Reich für bestimmte Kategorien, wie z.B. Kaufleute oder entlassene Soldaten (1865), wurden auch in anderen Städten Gemeinden gegründet; so 1867 in Dorpat, wo Juden später auch als Studenten und Lehrkräfte an der Universität wirkten. 1883 erhielt Reval, das in den 1870er Jahren bereits über ein Gebetshaus und eine Schule verfügte, nach Plänen von Nikolai Thamm eine Syna-

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goge (1944 zerstört). Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ca. 5.000 Juden auf dem Gebiet des heutigen Estland, wobei die meisten von ihnen in Dorpat lebten, das damals zum Gouvernement Livland gehörte. In der Republik Estland sank die Zahl der jüdischen Bürger von 4.566 (1922) auf 4.434 Personen 1934. Fast alle lebten in den Städten, allerdings war nun Tallinn das jüdische Zentrum (1934: 2.203 in Tallinn, 920 in Tartu). Nach Angaben des jüdischen Kulturrats waren 1935 30% der Juden im Handel tätig, während sich ein knappes Viertel im Dienstleistungsgewerbe seinen Lebensunterhalt verdiente. Nur 5% konnten der großen Geschäftswelt zugerechnet werden, 30% waren Handwerker und Arbeiter, knapp 10% freiberuflich tätig. Hierunter fielen auch mehr als 80 Ärzte, die immerhin wohl 10% der gesamten Ärzteschaft des Landes ausmachten. Die Tallinner Juden verfügten seit 1918 über eine nach dem zionistischen Lyriker Chaim Nachman Bialik benannte Literatur- und Theatergesellschaft. 1923 wurde ein jüdisches Gymnasium begründet, das im Jahr darauf ein neues Haus erhielt, welches in Anwesenheit des damaligen Staatsältesten Päts eröffnet wurde. Die jüdische Minderheit profitierte wie die Deutschbalten vom 1925 verabschiedeten Gesetz über die Kulturautonomie. Mit 3.045 estnischen Staatsbürgern unter den Juden des Landes wurde im Jahr darauf eine eigene Kulturselbstverwaltung ins Leben gerufen, der bis 1940 Hirsch (Grigori) Eisenstadt vorstand. Eisenstadt war ein wohlhabender Geschäftsmann, der das jüdische kulturelle Leben in Tallinn auch finanziell unterstützte. Seine Wertschätzung außerhalb der Gemeinde läßt sich daran ablesen, dass ihm die gesamte hauptstädtische Presse 1935 zu seinem 50. Geburtstag gratulierte. 1940 floh er nach Russland, von wo aus er 1944 zurückkehrte, aber wegen »jüdischem Nationalismus« 1950 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Nach seiner Rehablilitierung 1954 lebte er in Riga. Die jüdische Gemeinde Tallinns wurde in der Zwischenkriegszeit von Dr. Aba Gomer geleitet, der unter der deutschen Besatzung ermordet wurde. Gern wird darauf verwiesen, dass Estland kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eines der letzten Länder war, das noch jüdische Flüchtlinge aus Zentraleuropa aufnahm. Für das tolerante Klima in Estland ist es zudem bemerkenswert, dass 1934 an der Universität Tartu ein Lehrstuhl für jüdische Studien eingerichtet wurde. Allerdings gab es kaum Personen jüdischer Abstammung im höheren Staatsdienst. Während dieser Umstand eventuell die Bereitschaft einiger weniger Juden erklären mag, unter den Sowjets Karriere zu machen, gilt insgesamt doch die Beobachtung der Zerstörung des jüdischen öffentlichen Lebens inklusive der Kulturautonomie durch die neuen Herren im Sommer 1940. Entgegen dem vor allem von den Nationalsozialisten ausgenutzten Mythos der »jüdisch-bolschewistischen« Verschwörung mussten gerade auch jüdische Bürger unter sowjetischer Herrschaft um ihre Existenz fürchten. Literatur: Weiss-Wendt, Anton: Thanks to the Germans! Jewish Cultural Autonomy in Interwar Estonia, in: East European Jewish Affairs 38 (2008), S. 89–104.

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Tallinn unter deutscher Besatzung 1941–1944 Nur eine Woche nach den sowjetischen Deportationen begann die »Operation Barabarossa«, und am 7. Juli erreichte die Wehrmacht estnischen Boden. Aufgrund der anfänglichen sowjetischen Luftüberlegenheit gelangte sie aber erst einen Monat später bei Kunda an den Finnischen Meerbusen, um den Verteidigern Tallinns die Landverbindung nach Leningrad abzuschneiden. Noch am 8. August flog die Rote Armee von der Insel Saaremaa (Ösel) aus ihren ersten Luftangriff auf Berlin. Nach harten Kämpfen wurde am 26./27.  August mit dem Abzug aus Tallinn begonnen. Evakuiert wurden auch ca. 150 Schiffe der Baltischen Flotte, die aber vor der Halbinsel Juminda auf ein von Deutschen und Finnen gelegtes Minenfeld fuhren, wodurch 55 Schiffe versenkt wurden und mindestens 6.000 Menschen starben. Unterstützt von den Freiwilligenabteilungen des estnischen Omakaitse (Selbstschutz) eroberten die Deutschen am 28. August die Stadt. Tallinn war von der Roten Armee gezielt zerstört worden: Wichtige Industriebetriebe, der Bahnhof, das Eisenbahndepot, das Militärkrankenhaus sowie die Wasserversorgung und das Elektrizi­täts­werk waren funktionsuntüchtig; insgesamt gingen 389 Gebäude in Flammen auf, darunter 110 Wohnhäuser. Die Hoffnung vieler Esten auf Restauration der Unabhängigkeit blieb unter der deutschen Militärverwaltung unerfüllt. Daher hielt die Freude über die neuen Besatzer, die das Land von den Kommunisten befreit hatten, nicht allzu lange an. Mitte September riefen die Deutschen eine sog. landeseigene Verwaltung ins Leben, die unter Leitung des »Ersten Landesdirektors« Hjalmar Mäe als Primus inter pares einer Reihe von deutschfreundlich gesinnten Esten vorstand. Von den fünf »Direktoren« waren drei, darunter Mäe, in den Jahren 1939–1941 ins Reich umgesiedelt. Ihre Befugnisse wurden jedoch auch nach der Einführung der Zivilverwaltung im Generalbezirk Estland Ende 1941 nicht erweitert, sodass sie zu einer reinen Erfüllungsgehilfin der Deutschen wurde. Rasch stellte sich zudem heraus, wie unpopulär vor allem die Person Mäes in weiten Kreisen der Bevölkerung war, nachdem er in einer Radioansprache Päts und Laidoner kritisiert hatte. Mäe hatte vor 1934 zu den führenden Vapsid gehört und war 1935 zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. 1938 amnestiert, eta­blierte er sich als Geschäftsmann und pflegte schon vor seiner Umsiedlung Verbindungen im Berliner Außenministerium, die ihn 1941 in sein Amt als Landesdirektor hievten. Als solcher unterstand er dem Generalkommissar für Estland, SA-Ober­ gruppenführer Karl Litzmann, der wiederum dem in Riga ansässigen Reichskommissar Ostland Hinrich Lohse unterstellt war. Die Fäden der zivilen Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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Macht liefen zumindest theoretisch beim Reichsminister für die besetzten Ostgebiete zusammen: Alfred Rosenberg – einem gebürtigen Revalenser, der an der Petri-Realschule gelernt und nach einem Studium der Architektur in Riga und Moskau für kurze Zeit als Zeichenlehrer am Revaler GustavAdolf-Gymnasium gearbeitet hatte und Ende 1918 nach Deutschland ging. An der Spitze der Tallinner Stadtverwaltung stand bis 1943 als Regionalkommissar Reval-Stadt und Bürgermeister SA-Obersturmbann­führer Walter Mentzel, der zuvor stellvertretender Bürgermeister in Kiel gewesen war. Später wurde er von SA-Oberführer Karl Walter abgelöst, der wohl aus einer deutschbaltischen Familie stammte. Oberbürgermeister bzw. seit Dezember 1941 Erster Bürgermeister war der Este Artur Terras, der im Sommer während des Vormarsches der deutschen Truppen den nordestnischen Omakaitse befehligt hatte. Er blieb bis September 1944 im Amt. Trotz des estnischen Anteils an der Administration konnte das NS-Regime in Estland ideologisch kaum Fuß fassen, sieht man einmal vom Antibolschewismus ab. Die Stimmungsberichte des Sicherheitsdienstes (SD) erwähnen anglophile Strömungen in der Bevölkerung, der bald ausländische, insbesondere finnische Radiosendungen zur wichtigsten Informationsquelle wurden. Zwar war im Gegensatz zum sowjetischen Experiment die kulturelle Nähe zu den Deutschen bei den Esten ungleich größer, doch blieb der historische Antagonismus eine Quelle oppositioneller Stimmungen. Zum Maßstab der Bewertung wurde das im Rückblick als Oase der Stabilität und Sicherheit erscheinende Regime Päts, während dem es ja auch wirtschaftlich bergauf gegangen war. Im Alltag unter der deutschen Besatzung machte sich demgegenüber die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes immer mehr bemerkbar. Da die Ernährungsnormen der Esten deutlich unter denen der Deutschen lagen, fühlten sie sich als Bürger zweiter Klasse. In diesen Fragen hatte aber nicht einmal Litzmann Mitspracherecht. Estland wurde als besetztes sowjetisches Gebiet behandelt, was auch bedeutete, dass die Verstaatlichungen der Sowjetmacht etwa in der Industrie nicht aufgehoben wurden. Die Macht in Estland lag bei der Armee und den Himmler unterstellten Sicherheitsorganen, die auf dem Domberg residierten; Litzmann hingegen, als Untergebener Rosenbergs, war auch geographisch abseits – er saß im Zarenpalais Katharinental. Für die »Säuberung« des estnischen Territoriums war das von SS-Standartenführer Martin Sandberger geleitete »Sonderkommando 1a« der dem RSHA unterstellten »Einsatzgruppe A« der Heeresgruppe Nord zuständig. Im Dezember wurde das Sonderkommando in »Sicherheitspolizei und SD Estland« umbenannt, einer Struktur, der Sandberger bis 1943 vorstand 262  Tallinn im 20. Jahrhundert

und die am Tõnismägi untergebracht war. Sie wurde im Mai 1942 in eine deutsche »Gruppe A« und eine estnische »Gruppe B« unterteilt, wobei letztere mit ca. 870 Mann personell weitaus stärker besetzt war. Sandberger schätzte wie Litzmann die Esten als Kooperationspartner: Nach eigenen Worten strebte er »ein enges, außerdienstliches, kameradschaftliches Verhältnis« mit ihnen an. Von allen Völkern der Region galten die Esten zwar als die »rassisch besten Elemente« (Reinhard Heydrich) und zu über 50% als »eindeutschungsfähig«. Dies änderte nichts am grundsätzlichen Ziel der Ausbeutung der personellen und ökonomischen Ressourcen des Landes für die deutsche Kriegsführung. Nach offiziellen Angaben sind bis Mitte 1942 knapp 18.900 Personen von den deutschen Sicherheitsorganen inhaftiert worden. 94% von ihnen wurden »kommunistischer Aktivitäten« verdächtigt. 40% der Inhaftierten wurden jedoch wieder freigelassen, während die übrigen zu etwa gleichen Teilen entweder in Lager gesteckt oder hingerichtet wurden. Insgesamt sind unter deutscher Herrschaft ca. 7.800 Einwohner des Landes Opfer von Repressionen geworden, bei denen es sich zu 70% um Esten, zu 15% um Russen, zu knapp 12% um Juden und zu 3% um Roma handelte. Für Tallinn aber ist hervorzuheben, dass die Stadt binnen weniger Jahre nach der deutschen Minderheit auch seine jüdischen Einwohner verlor. Es ist unklar, wie viele der wahrscheinlich um die 2.000 Juden der Stadt zum Zeitpunkt des deutschen Einmarsches noch verblieben und wie viele seit Juni 1940 aus der UdSSR hinzugekommen waren. Einige waren im Juni 1941 in die Sowjetunion deportiert worden, andere hatten sich der Evakuation der sowjetischen Institutionen angeschlossen oder waren in die Rote Armee mobilisiert worden, wieder andere waren erst unmittelbar vor dem Einmarsch der Wehrmacht Ende August geflohen. Nur wenige erlebten in Tallinn die Einführung der »Nürnberger Gesetze« und des »Judensterns« durch die Militärbehörden und verließen die Stadt erst nach der Anordnung vom 15. September, derzufolge sich Juden innerhalb von 24 Stunden aus dem Küstengebiet zu entfernen hatten. Nach Sandbergers eigenem Bericht waren Ende 1941 963 Juden in Estland ermordet worden; die Forschung geht davon aus, dass unter ihnen über 660 Juden aus Tallinn waren. Dass Estland daraufhin von den Deutschen als »judenfrei« deklariert werden konnte, lag an der geringen Zahl der Juden, die sich im Sommer 1941 noch im Lande aufhielten. Den Deutschen war es hier nicht gelungen, die lokale Bevölkerung zu Pogromen anzustacheln. Auch die Verhörprotokolle der in Tallinn arretierten Juden, die von den Esten der »Omakaitse« oder des SD vernommen wurden, zeigen, dass zwar Jüdischsein für die Verhaftung Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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ausreichte. In den Verhören jedoch war dieses Attribut nicht entscheidend: Die estnischen Untersuchungsleiter versuchten zunächst grundsätzlich zu beweisen, dass die verhafteten Personen in irgendeiner Weise in Opposition zum estnischen Staat standen. Erst nachdem auch Feindschaft dem neuen Regime gegenüber nicht bewiesen werden konnte, wurde die jüdische Abstammung zum kriminellen Vergehen erklärt. Dieser Logik entkamen freilich nur wenige. Im Gegensatz zur jüdischen Bevölkerung wurden die nichtsesshaften Roma aus dem ganzen Land zunächst im Lager Harku bei Tallinn inhaftiert und zur Zwangsarbeit herangezogen; 243 von ihnen wurden Ende Oktober 1942 erschossen. Im Februar 1943 wurden die verbliebenen Roma Estlands in einer von Sandberger angeordneten »Zigeuneraktion« in Tallinner Lager konzentriert, wobei die Arbeitsunfähigen unter ihnen im »Arbeits- und Erziehungslager« Jägala, ca. 30 km. östlich von Tallinn gelegen, erschossen wurden. Im März 1944 waren nach offiziellen Angaben noch 31 Roma am Leben, von denen wohl kaum jemand die nächsten Monate überlebte. In Jägala bzw. an der Exekutionsstelle Kalevi-Liiva wurden im Herbst 1942 auch ca. 1.500 zumeist jüdische Gefangene aus Theresienstadt, Berlin und Frankfurt am Main erschossen. Später verbrachte man bis zu 10.000 Juden aus den lettischen und litauischen Ghettos nach Estland. Insgesamt fanden mindestens 8.500 europäische und estnische Juden in den Lagern des Landes den Tod. Unter ihnen befanden sich auch knapp 300 Juden aus Frankreich, die im Mai 1944 ins Tallinner »Arbeits- und Erziehungslager« (PatareiZentralgefängnis) kamen. Ende August wurden ca. 40 Überlebende nach Stutthof bei Danzig verbracht. Von ihnen kehrte nur noch die Hälfte nach dem Krieg in ihre Heimat zurück. Das KZ Klooga bei Tallinn Klooga, das alte Gut Lodenseee, befindet sich ca. 40 km südwestlich von Tallinn. Wahrscheinlich seit Sommer 1942 war hier ein Lager für ungefähr 100 sowjetische Kriegsgefangene eingerichtet worden, bewacht von der »Omakaitse«. Zum September 1943 wurde das Lager für ca. 2.000 jüdische Insassen erweitert; Ende Oktober gab es hier ca. 1.500 Juden, von denen zumindest ein Teil aus dem litauischen Kaunas kam. Im Winter 1943/44, als die Front näher rückte, wurden Russen und ingrische Finnen hierher evakuiert, die im Lager für Kriegsgefangene untergebracht wurden und im KZ arbeiteten. Das KZ, ein Nebenlager des Stammlagers Vaivara im nordöstlichen Estland, war nur für Juden gedacht. Sie waren meist über Riga in das Lagernetz von Vaivara eingespeist worden. Zwischen November 1943 und Juni 1944 befanden sich hier zwischen 1.842 und 2.168 Juden.

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Im Sommer 1944 waren mehr als die Hälfte Frauen. Sie mussten Beton produzieren, Baracken bauen, im Sägewerk arbeiten und für die Operation »Todt« (OT) Signalminen für U-Boote herstellen. Zudem wurden die Häftlinge in Schneiderei, Tischlerei, Holzschuhfabrik, Schlosserei und Schmiede eingesetzt. Außerhalb des Lagers wurden sie von Männern des 287. Estnischen Polizeibataillons bewacht. Die Behandlung seitens der deutschen OT- und SS-Aufseher im Lager, unter ihnen auch Frauen, sei brutal gewesen, berichten Überlebende; der OT-Leiter Kurt Stache soll Gefangene ausgepeitscht oder seinen Hund auf sie gehetzt haben. Im Sommer 1944 begannen die Deutschen, die in Vaivara verbliebenen gut 3.000 Lagerinsassen nach Stutthof zu evakuieren. Vor ihrer Einschiffung wurden sie zum Teil in Klooga untergebracht. Da das KZ jedoch bald voll war, wurde ihnen das ca. 15 km südlich von Tallinn gelegene Lagedi zugewiesen. Von dort wurden sie bald nach Stutthof evakuiert. Am 22. August wurden etwa 500 Juden aus Klooga nach Lagedi gebracht, um Panzergräben für die Verteidigung Tallinns auszuheben. Doch die Rote Armee drang unaufhaltsam vor. Am 18. September wurden auf einer Waldlichtung bei Jägala 426 von ihnen erschossen. Zugleich fand in Klooga eine der größten Massenerschießungen auf estnischem Boden statt. Am 19. September wurden die verbliebenen Insassen, mindestens 1.500 Menschen, um fünf Uhr zum Morgenappell vor den Frauenbaracken aufgestellt, wo ihnen verkündet wurde, man werde sie nach Deutschland evakuieren. Nach zwei Stunden wurden gut 300 Männer von einem SS-Kommando unter Hauptsturmbannführer Walter Schwarze ausgewählt, um bei den Vorbereitungen der Evakuation zu helfen. Tatsächlich mussten sie unter estnischer Bewachung jedoch Holz in den Wald schleppen. Im Laufe des Vormittags stießen einige SDLeute aus Tallinn hinzu – das Exekutionskommando. Wie sich ein Überlebender erinnerte, bekamen die immer noch auf dem Appellplatz Wartenden, die ihre kümmerlichen Besitztümer vor sich hatten legen müssen, Mittags eine »sehr gute Suppe«, von der auch für die in den Wald geschickten Männer etwas aufgehoben werden sollte. Selbst ein Schwein war geschlachtet worden, angeblich als Wegzehrung. Wer gegessen hatte, musste sich, Männer und Frauen getrennt, in Gruppen zu je 100 Personen einreihen. Um halb drei hörte man Schüsse aus dem Wald. Panik brach aus. Einige Gefangene rannten um ihr Leben, einige konnten in eine Barracke flüchten, wo manche unterm Dach Zuflucht suchten. 87 von ihnen wurden erschossen. Mittlerweile waren die Lagertore durch Lastwagen versperrt worden. Gegen 16 Uhr mussten einige Männer zwei Fässer mit Diesel auf einen Wagen hieven. Gegen 17 Uhr wurde damit begonnen, nacheinander Gruppen von 50–100 Männern an den frisch errichteten Scheiterhaufen im Wald zu führen, die Frauen mussten bis 21 Uhr ausharren. Die Menschen mussten sich in dichten Reihen nebeneinander auf die Holzbohlen legen. Dann wurden sie mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet, woraufhin eine weitere Reihe Scheite auf die Leichen gelegt wurde. Die Haufen bestanden aus bis acht bis zehn Reihen von Leichen. Später sah man Rauch aus dem Wald aufsteigen. Man darf davon ausgehen, dass die

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Deutschen töteten, während die Esten die Szene absicherten – und zumindest 18 Flüchtende erschossen. Die meisten der Gefangenen sind jedoch am Scheiterhaufen ermordet worden. 133 wurden in eine Baracke getrieben, wo sie erschossen wurden, bevor das Gebäude in Brand gesteckt wurde. Einige Häftlinge harrten unter dem Dach der Männerbaracke fünf Tage aus. Seit dem 24. September war Klooga in sowjetischen Händen. Insgesamt 108 Überlebende wurden gezählt. Am 20. September wurden in Klooga mindestens 1.784 Personen ermordet, unter ihnen auch 150 Kriegsgefangene. Klooga wurde zu einem frühen Synonym für den Nazi-Terror. Die Deutschen konnten die Spuren des Massakers nicht verwischen, sodass die Rotarmisten noch den Rauch der Scheiterhaufen sehen konnten, als sie das Lager befreiten. Zudem war Klooga das erste KZ, das von westlichen Journalisten unmittelbar nach der Befreiung besichtigt werden konnte. Eine vom britischen Marineattache in Moskau geleitete Delegation, die die estnische Hauptstadt besuchte, bekam Klooga als erstes zu Gesicht. Unter den Journalisten befanden sich u.a. Harrison Salisbury, später Mitherausgeber der »New York Times«, und der spätere Literaturnobelpreisträger Graham Greene. Literatur: Weiss-Wendt, Anton: Murder Without Hatred. Estonians and the Holocaust, Syracuse 2009.

Alltag und Widerstand. Tallinn war in den Kriegsjahren zu einer Stadt der Alten, Frauen und Kinder geworden. Nach dem Exodus der Deutschen und der Ermordung der Juden wurden unter deutscher Besatzung zudem die estnischen Schweden in ihre historische Heimat evakuiert. Glaubt man den Statistiken der Zeit, lebten am 1. Juni 1941 187.712 Menschen in der Stadt. Nach sowjetischer Deportation und den ersten Monaten der deutschen Besatzung waren es am 1. Dezember nur noch 140.917, wobei in der Altersgruppe der 20 bis 29-jährigen ein signifikanter Unterschied zwischen Männern (5.557) und Frauen (14.625) zu registrieren war. Am 1. Januar 1944 war die Einwohnerzahl auf 133.281 gesunken. Lebensmittel gab es auf Karten – oder auf dem Schwarzen Markt. An freien Tagen fuhren viele Städter aufs Land, um Kleider oder andere Gegenstände gegen Essen einzutauschen. Nach den Erinnerungen einer deutschbaltischen Umsiedlerin, die – was eigentlich verboten war – ihrem nach Reval versetzten Ehemann inkognito folgen konnte, da sie eine Arbeitsstelle in ihrer Heimatstadt erhalten hatte, war die Stimmung im Allgemeinen nicht deutschenfeindlich, zumindest nicht, wenn Esten wussten, dass eine Deutsche zuhörte. Aber es habe eine »kommunistische Unterströmung« gegeben: »Wand an Wand mit uns hauste ein junger Russe, der völlig unbeschwert Abend für Abend sein Grammophon die Internationale schmettern ließ, womit er ja im Grunde Kopf und Kra266  Tallinn im 20. Jahrhundert

gen riskierte. Unsere Wohngegend zwischen Fischhafen und Gefängnis war ziemlich ›rot‹. Als wir uns – einmal und nie wieder – bei Fliegeralarm in den Luftschutzkeller hinunter begaben, mußten wir viel Deutschfeindliches mitanhören«, schreib Valentine von Krause, geb. Eberhardt. Sie habe sich zwar weiterhin sicher gefühlt, doch berichtete sie auch von anti-deutscher Gewalt: »Seltene Eskalationen von Deutschenhaß bezeugten die gelegentlichen nächtlichen Morde an deutschen Landsern in den schwarz verdunkelten Gassen der Altstadt: ein Dolch in der Brust und ein Femezeichen sollten auf eine ›Hinrichtung‹ hinweisen«. Spätestens Ende 1942 mehren sich in den Stimmungsberichten des SD die Befürchtungen, die Rote Armee könne zurückkommen, sollte die Deutschen ihr »Kriegsglück« verlassen; schon aus diesem Grunde gab es eine Interessenskongruenz, die größere Sabotageakte gegen die Deutschen nicht erlaubte. Krause zufolge gaben es auch die Deutschen bald auf, »bessere Tage« zu erwarten. »Wenn wir in London Steine klopfen«, sei eine stehende Redensart unter den Militärs gewesen, die jeder verstanden habe, »der nicht borniert war«. Allerdings sei dieser Spruch eine Untertreibung gewesen, »denn die sibirischen Steine lagen erheblich näher als die von London. Aber das mochte man nicht zuende denken«. Demgegenüber hielt die nationale Widerstandsbewegung Kontakt zu den 1940 nach Schweden gefürchteten Exil-Politikern. Diesen »Kampf für die Wiederherstellung der Republik« verschrieb sich auch der Schriftsteller Jaan Kross, der seit Herbst 1943 im Büro des Generalinspekteurs der estnischen SS-Einheiten Johannes Soodla als Dolmetscher tätig war, von wo aus er Exilkreise mit Informationen versorgte. Wichtigste politische Figur in Tallinn aber war Jüri Uluots, der letzte Ministerpräsident der Päts-Ära, der 1940/41 einer Verhaftung durch die Sowjets entgangen war. Die Deutschen wollten ihn schon 1941 auf ihre Seite ziehen, doch blieb er bei seinen Forderungen nach einer größeren Autonomie für Estland. Anfang 1944, als die Front immer näher rückte, rief er jedoch in einer Radioansprache zur Verteidigung des Vaterlands auf, der knapp 40.000 Männer in die deutschen Freiwilligeneinheiten der Waffen-SS folgten. Unabhängig von Uluots hatte sich im Februar/März 1944 ein »Nationalkomitee der Estnischen Republik« im Untergrund formiert, das jedoch durch Verhaftungen des SD erheblich geschwächt wurde. Am 20. April traf eine illegale Versammlung in Tallinn den Beschluss, in Abwesenheit des Präsidenten verfassungsgemäß Ministerpräsident Uluots mit den Aufgaben des Staatsoberhaupts zu betrauen. Gemeinsam mit dem »Nationalkomitee« wurde schließlich eine Regierung einberufen, deren erstes Manifest vor Journalisten in Schweden verlesen wurde. Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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Kurz vor seiner Flucht nach Schweden übergab der krebskranke Uluots am 18.  September das Amt des Ministerpräsidenten an den Vorsitzenden des »Nationalkomitees« Otto Tief, einem ehe­maligen Parlamentarier und Minister. Der Abzug der Deutschen aus Estland stand unmittelbar bevor, und am 22. September war Tallinn wieder in der Hand der Roten Armee. Die blau-schwarz-weiße Fahne Estlands wehte nur kurz auf dem Langen Hermann. Den meisten Mitgliedern dieser Regierung und des »Nationalkomitees« gelang es nicht mehr, das Land zu verlassen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass den sowjetischen Organen bei der Festnahme der Minister der Tief-Regierung nicht nur erbeutete deutsche Geheimdienstinformationen dienten, sondern auch britische. Noch funktionierte die Anti-HitlerKoalition. Damit war aber auch das Schicksal der estnischen Mitarbeiter bei der deutschen »Abwehr« besiegelt, die für das »Nationalkomitee« Kontakt zur britischen Botschaft in Stockholm aufgenommen hatten. Erst in sowjetischer Haft mussten sie erkennen, dass die Atlantik-Charta in Bezug auf das Baltikum keine Gültigkeit hatte. Kriegszerstörungen. Tallinn lag seit Anfang März 1944 in Schutt und Asche. Zwar war es nicht so zerstört wie Narva, dessen barocke Altstadt am 6. März von der sowjetischen Luftwaffe dem Boden gleich gemacht worden war. Aber der Luftangriff in der Nacht vom 9. auf den 10. März hatte auch in Tallinn erhebliche Zerstörungen angerichtet. In zwei Wellen warfen einem Polizeibericht zufolge 300 Flugzeuge über 3.000 Spreng- und Brandbomben ab, die eine Spur der Verwüstung in der Stadt legten. Krause erinnerte sich: »Noch ehe ich den Mantel abgelegt hatte, ertönten die Sirenen. Und gleichzeitig schwebte drüben über dem Theater ein sogenannter Christbaum auf und erfüllte auch unsere Zimmer mit seinem kalten Licht. Das war ein Novum bei den Russen«. Tatsächlich berichten fast alle Erinnerungen von diesen Zielmarken, die ja auch von den Alliierten bei den Bombenangriffen auf deutsche Städte verwendet wurden. Es hatte schon zuvor vereinzelte Luftangriffe gegeben, und im Februar waren Selbstschutzmaßnahmen im Falle eines Angriffs bekanntgegeben worden. Noch nie waren die Angriffe jedoch mit einer derartigen Wucht erfolgt – und noch nie schon so früh am Abend. Allerdings konnte diesmal niemand die Sirenen für Fehlalarm halten, den es auch schon gegeben hatte. Am 9. März ertönten sie erst unmittelbar vor dem Angriff. Mittlerweile hatte sich der Himmel blutrot gefärbt, als Krause und ihr Mann Wolfram den Heimweg zum Domberg riskierten, wo sie im Baranoffschen Haus an der Kohtu (Gerichtstraße) direkt über dem Langen Domberg wohnten. »Aus der Schmiedestraße schlugen Flammen, links brannte es 268  Tallinn im 20. Jahrhundert

lichterloh, ein Sturm peitschte das knöcheltiefe Wasser auf dem Freiheitsplatz, das einem kaputten Hydranten entströmen mochte. Kein Mensch war zu sehen. Wir rannten um unser Leben. In der Gerichtsstraße Dunkelheit und Stille. Im Gang vor unserem Zimmer müssen wir über Scharen verängstigter Nachbarn steigen, auch unsere Scheiben sind zertrümmert. Als wir uns anschicken, die Läden zu schließen, merken wir, daß die Nikolaikirche getroffen ist und brennt. Wir können uns nicht von dem makabren Schauspiel lösen, das unmittelbar vor uns abläuft. Vor dem Hintergrund der brennenden Vorstädte, der sonstigen Feuer hier und da ringsum, sehen wir die Flammen aus dem Kirchenschiff schlagen, den Turm ergreifen, das Dach. Mit einer grünen Stichflamme lodert das Kupferdach auf – und dann ist das meiste vorbei«.

15  Die zerstörte Nikolaikirche, 1944

Bis heute sind an der Harju Straße die Wunden zu sehen, die diese eine Nacht geschlagen hat. Die einst beidseitige Bebauung ist auf der Seite zur Nikolaikirche einem Grünzug gewichen, auf dem heute im Winter eine Schlittschuhbahn um Kunden buhlt. Hier standen bis zur Bombennacht das Hotel »Kuld Lõvi« und das Kino »Amor«, in dem am Abend des 9. März der Tobis-Hit »Immer nur… Du!« mit Johannes Heesters und Dora Komar lief. Zerstört wurde ebenfalls das »Estonia«-Theater, in dem an diesem Abend Tallinn im Zweiten Weltkrieg 

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das erste estnische Ballett »Kratt« (Der Kobold) von Eduard Tubin gezeigt wurde, das seine Tallinner Erstaufführung gerade erst am 24. Februar erlebt hatte. Auch das Gebäude des »Arbeitertheaters« wurde vernichtet. Das Kunstmuseum an der Narva mnt., die damals Adolf-Hitler-Str. hieß, sowie das Zentral- und das Stadtarchiv brannten ebenfalls aus. Das Rathaus verlor seinen Turm und das auf dem Rathausplatz stehende Waghaus, um dessen Erhalt es schon in der Zwischenkriegszeit erbitterte Diskussionen gegeben hatte, lag in Ruinen. Der spätere Tallinner Chefarchitekt Dmitri Bruns erinnerte sich an die Fläche vor dem »Estonia«-Theater, die nahezu leer gewesen sei: »Auf diesem riesigen Territorium standen zwischen aufgetürmten Ruinen die Wände einzelner abgebrannter Häuser«. Dasselbe Bild habe sich südlich der Altstadt und in der Gegend des heutigen Markts geboten, »allerdings ohne eine einzige erhaltene Wand«: hier hatte die Bebauung aus Holzhäusern bestanden. Der Hafen bzw. kriegswichtige Betriebe kamen verhältnismäßig ungeschoren davon. Hauptziel des Angriffs dürfte die Verbreitung von Angst und Schrecken gewesen sein. Nach später ergänzten Angaben der Polizei sind 750 bis 800 Menschen ums Leben gekommen, ca. 20.000 Personen wurden obdachlos. Völlig zerstört wurden über 1.400 Wohnhäuser; über 5.000 Gebäude waren beschädigt. Entscheidend zu dieser hohen Zerstörungsquote trug der Umstand bei, dass neben der Stromversorgung auch eine der zentralen Wasserleitungen beschädigt war, sodass die ohnehin überforderte Feuerwehr nicht genügend Löschwasser zur Verfügung hatte. Die Aufräumarbeiten wurden entscheidend dadurch behindert, dass die deutschen und estnischen Amtsstellen sich gegenseitig lähmten: Am 28. April hob Litzmann sämtliche Anordnungen, die Mäe Terras erteilt hatte, auf. In den wenigen verbleibenden Monaten unter deutscher Besatzung kamen die Aufräumarbeiten im allgemeinen Chaos des bevorstehenden Rückzugs über Sofortmaßnahmen nicht hinaus. Nicht nur die obdachlos gewordene Bevölkerung flüchtete in den nächsten Wochen aufs Land. Die sowjetische Propaganda bemühte sich allerdings schon 1944, die Zerstörungen den »Faschisten« in die Schuhe zu schieben. Die »Märzbombardierungen« wurden zu einem Tabu, als die Sowjetmacht sich verlorenes Terrain zurückeroberte und die drei baltischen Staaten hinter den allmählich über Europa niedergehenden Eisernen Vorhang zog.

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4. Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland Wiederaufbau im Stalinismus Am 6. Oktober 1944 verkündete die Regierung der Estnischen SSR, dass in der Hauptstadt alle medizinischen Einrichtungen ihre Arbeit wieder aufgenommen hätten. Gas-, Wasser- und in eingeschränktem Maße auch das E-Werk seien in Betrieb genommen worden. Zugleich wurden Lebensmittelkarten eingeführt und die Wiederaufnahme des Schulbetriebs in Aussicht gestellt. In der Presse hieß es, ein Bau- und Reparaturtrust mit 506 Arbeitern habe damit begonnen, zerbrochene Glasscheiben zu ersetzen und weniger zerstörte Wohnhäuser wieder bewohnbar zu machen. Die Parks würden gesäubert, wobei die Stadt auch die Friedhöfe nicht vergessen würde. Auch seien die Hotels »Bristol« und »Palace« wieder »bewohnbar« – für wen, erfuhr der Leser nicht; wahrscheinlich wurden hier zunächst die aus der übrigen Sowjetunion abkommandierten Parteikader untergebracht. Beheizt aber waren dieser Meldung zufolge ohnehin nur Fabrikanlagen, Kantinen und Bäckereien. Vordringlich war es, die Trümmer des Kriegs zu beseitigen. Nach sozialistischer Tradition wurden die Einwohner an mehreren Sonntagen hintereinander zu Aufräumarbeiten herangezogen. Der Leiter einer auf dem Rathausmarkt zum Abriss des Waghauses eingesetzten Aufräumbrigade des Volkskommissariats für Finanzen, ein Genosse Anderson, erklärte dabei nicht ohne Stolz, dass seine Leute sich schon beim Aufräumen Leningrads den Ruf einer »Stoßbrigade« erarbeitet hatten. Und Genossin Valeria Bauer ergänzte, »wir Tallinner« könnten so »unsere Liebe zu unserer Heimatstadt« zeigen. Zudem verlangte sie, genau darüber Buch zu führen, wer bereit war, seine Freizeit zu opfern und wer nicht. So wurde der neue Geist der gesellschaftlichen Kontrolle aus der gerade noch von der Wehrmacht belagerten »Wiege der Revolution« in das nun »befreite« Tallinn hineingetragen. Wer hier in der Presse porträtiert wurde, waren die im Sommer 1941 aus Estland in die UdSSR Evakuierten, die nun zurückkehrten. Ihre Ankunft mit dem ersten Direktzug aus Leningrad wurde Ende Oktober in der Presse als große Wiedersehenszeremonie nach drei Jahren Trennung gefeiert, wodurch ein sowjetischer Erlebniszusammenhang konstruiert wurde, der freilich auch für die Evakuierten erst vier Jahre bestand. Die Heimkehrer aber hatten nur Gutes zu berichten: »Es ging uns nicht schlecht in Leningrad. Schau selbst – die Zimmer im großen Hotel ›Oktober‹, Wanne, Telefon, Radio. Trotzdem zog es einen nach Hause. Wie schön, dass der Domberg und der Lange HerTallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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mann noch stehen«. Der Tenor dieser Berichte war klar: Die sowjetische Heimat hatte sich gebührend um die Flüchtlinge gekümmert, die auch auf der Flucht ihre Verbundenheit mit Tallinn nicht verloren hatten. Nun aber, wo die rote Flagge wieder auf dem Langen Hermann wehte, konnte alles nur besser werden. Allerdings ging die städtische Architekturverwaltung im Mai 1945 davon aus, dass trotz der Sonntagsarbeiten noch mindestens 780.000 Arbeitsstunden benötigt wurden; zum »Tag der Arbeit« war gefordert worden, zumindest die Hauptstraßen von Schutt zu befreien, was somit nach acht Monaten offenbar noch nicht geschafft war. Dabei wurden sowohl die Aufräumarbeiten als auch die Versorgung der Stadt mit Heizmaterial durch den Mangel an Pferde- und Motortransport erschwert. Bis zum Ende der 1950er Jahre sollen so über zwei Millionen Arbeitsstunden zusammengekommen sein. Nach der Rückkehr der Roten Armee übernahm die EKP wieder die Kontrolle über die Stadt. Die Zahl der Parteimitglieder in der Stadt betrug schon Ende 1944 1.372, doch dürfte es sich dabei meist um die zurückgekehrten Evakuierten und russische Kader gehandelt haben. Ende 1945 hatte sich diese Zahl verdoppelt und lag 1951 schon bei über 8.000 Personen; in den späten 1960er Jahren gab es über 20.000 Parteimitglieder in Tallinn, gut 6% der Bevölkerung. Die städtischen Parteigremien stellten eine Parallelstruktur zur eigentlichen (erst 1948 gewählten) Stadtverwaltung dar. Persönliche Überschneidungen waren keine Seltenheit. Kiidelmaa wurde Anfang 1945 als Vorsitzender des Exekutivkomitees des Tallinner Stadtsowjets abgelöst. Im September trat der alte Kommunist und Russland-Este Aleksander Hendrikson dieses Amt an, das er bis 1961 ausführte. Hendrikson war bereits 1918 als Rotarmist mit der Roten Flotte vor den Deutschen geflohen. Später fuhr er zur See und leitete zur Zeit der Stalinschen Säuberungen Ende der 1930er Jahre, denen auch zahlreiche estnische Kommunisten wie etwa Anvelt zum Opfer gefallen waren, eine Sowchose hinter dem Ural. 1944 wurde er als stellvertretender ZK-Sekretär für Industrie nach Tallinn abkommandiert, bevor er in die Stadtverwaltung ging. Bereits zu dieser Zeit wurden erste Mittel für den Denkmalschutz bereitgestellt. Zu den geschützten Gebäuden zählten neben den Kirchen und Repräsentationsbauten der Altstadt auch einige mittelalterliche Wohnhäuser (seit 1966 stand das Gesamtensemble unter Denkmalschutz). Tallinn gehörte wie Narva zu den 32 Städten der UdSSR, deren Wiederaufbau als prioritär angesehen wurde. Für die Republikführung war vor allem der Wiederaufbau des »Estonia«-Theaters, der »Herd der nationalen Kultur der Estnischen SSR«, von erstrangiger Bedeutung. Schließlich musste die 272  Tallinn im 20. Jahrhundert

Sowjetmacht, die das Theater – woran sich die Einwohner trotz aller gegenteiligen Propaganda durchaus noch erinnerten – gerade erst zerstört hatte, es schon deshalb wieder aufbauen, weil sie die Esten auf ihre Seite ziehen wollte. Diese Investition war in erster Linie ein symbolisches Prestigeprojekt für die Partei in einem Land, in dem der bewaffnete Widerstand gegen die Sowjetisierung durch die sog. Waldbrüder, Partisanen, die sich in die Wälder und Moore zurückgezogen hatten, noch lange nicht verraucht war. Es war zynisch, dass man den Wiederaufbau des Theaters zu einem »Volksbau« erklärte: Den Schutt, den die sowjetischen Bomber verursacht hatten, musten die Tallinner selbst beseitigen. Tatsächlich wurde das Theater nach Plänen von Päts’ Haus- und Hofarchitekt Alar Kotli rasch wiederhergestellt. 1946 wurde der Konzert-, 1947 der Theaterbetrieb wieder aufgenommen. Konzeptionell nahm der Staat, dem das Gebäude nun gehörte, einige Änderungen vor. Einrichtungen wie das Restaurant, die großen Säle oder das Kasino, mit denen Kultur zuvor finanziert worden war, hatten nach Auffassung der stalinistischen Kulturpuristen in einem »Tempel der Kunst« nichts zu suchen. Kotli ließ die Südfassade nahezu unverändert, doch wurde die im Krieg stärker zerstörte Nordfassade zur Altstadt hin mit neoklassizistischen Säulen neu strukturiert. Er übernahm hier ein Zierelement, das Lindgren und Lönn schon bei der Nordfassade genutzt hatten, doch ging es vor allem darum, den Jugendstil des Originals verschwinden zu lassen, der in den 1940er Jahren ja nicht nur in der sowjetischen Architektur verpönt war. Der Theatersaal erhielt als Ausdruck des utopischen Gehalts des sozialistischen Realismus ein stalinistisches Deckengemälde, eine Apotheose des blühenden Sozialismus, in dem auch die Verherrlichung des Triumphs des Estnischen Schützenkorps der Roten Armee nicht fehlen durfte. Stadtplanung. Das Gelände vor dem Theater sollte bis zur Liivalaia (Breite Sandstraße) vollkommen neu gestaltet werden. Dem estnischen Architekturhistoriker Mart Kalm zufolge wären die Bulldozer wohl auch dann angerückt, wenn die Zerstörung nicht so groß gewesen wäre. In Stalins Reich hatte die ideale sozialistische Stadt ein wichtiges Vorbild: Das »Neue Moskau«, genauer den Generalplan der sowjetischen Hauptstadt aus dem Jahre 1935. Planung war das A und O im sowjetischen System und galt auch für die Architektur. Das »Gesicht der Stadt« sollte »Monumentalität, Einfachheit, Geschlossenheit und Schönheit« zeigen – Vorgaben, die in der Praxis der Architektur unter Stalin vorzugsweise durch neoklassizistische Formen umgesetzt wurden. Die »Anatomie der Stadt« wiederum lief auf ein repräsentatives Zentrum sowie eine Kombination von Radial- und Ringstraßen Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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hinaus. Die Form, d.h. die Architektur, sollte den Inhalt, d.h. die sozialistische Lebensweise, ermöglichen und prägen. Eine »schöne« Stadt im sowjetischen Sinne bestand aus Grünflächen, einem »Park für Kultur und Erholung«, sie musste aber auch über einen kompositorischen Angelpunkt, etwa einen zentralen Platz oder eine Hauptstraße verfügen. Hier sollten sich architektonisch wertvolle öffentliche Gebäude gruppieren, um der Stadt eine Silhouette zu schenken. Gleichzeitig sollte das Zentrum aber auch als repräsentative Kulisse und Versammlungsort für Aufmärsche dienen. Der dem »Estonia«-Theater nördlich und östlich vorgelagerte Raum mit seinem ursprünglich recht chaotischen Straßennetz stellte daher die bevorzugte Spielwiese für die neue Architektur nach dem Krieg dar. Hier sah bereits der erste Tallinner Generalplan aus dem Jahre 1945 gewaltige Veränderungen vor, schließlich brauchte auch die Hauptstadt der ESSR repräsentative Räume für die Selbstdarstellung des Regimes. Dieser Plan verfolgte als Grundprinzipien des Wiederaufbaus die Weiterentwicklung der Radialstruktur des Straßennetzes sowie eine Öffnung der Stadt zum Meer. Für den Generalplan zeichneten drei Männer verantwortlich, deren Lebenswege unterschiedlicher nicht sein konnten. Die nur auf den ersten Blick überraschende Kontinuität zum bürgerlichen Staat verkörperte der ehemalige Tallinner Stadtarchitekt Soans, der wie sein Kollege Kotli den Wiederaufbau des Landes maßgeblich mitgestaltete. Kalm wies darauf hin, dass diese personelle Kontinuität nicht allein dem Kadermangel geschuldet war, sondern auch dem für alle autoritären Regime der Zeit charakteristischen Hang zu neoklassizistischen Formen zu verdanken war. Viele estnische Architekten der Zwischenkriegszeit hatten ihre Diplome im Deutschen Reich erhalten, sodass es im Nachhinein nicht wundert, dass etwa das 1950 errichtete Gebäude des Ölschiefer- und Chemieindustrieministeriums (das heutige Sozialministerium an der Gonsiori Straße) dem Berliner Reichsluftfahrtministerium gleicht – Architekt Peeter Tarvas war Absolvent der Technischen Universität Brünn (1940). Strenge Fassaden­gliederung nach deutschem Beispiel war den Gralshütern der stalinistischen Architektur aber immer noch lieber als »formalistische« Experimente. Trotzdem waren Soans für die Ausarbeitung des Generalplans zwei politisch vertrauenswürdige Kollegen beigeordnet worden: Der junge Harald Arman, der am Tallinner Technikum ausgebildet worden war und in der Roten Armee gedient hatte, sowie der in Moskau geborene und studierte Este Otto Keppe. Bald zog das Regime die ideologischen Schrauben wieder an. Im Frühjahr 1949 wurden im Zuge einer weiteren Massendeportation über 20.000 Menschen aus Estland deportiert. Darunter befanden sich »nur« gut 1.000 Per274  Tallinn im 20. Jahrhundert

sonen aus Tallinn, was sich dadurch erklärt, dass diese Operation »Priboi« in erster Linie dem bewaffneten Widerstand der Waldbrüder die Grundlage nehmen und die Kollektivierung der Landwirtschaft durchsetzen sollte. Daher traf sie vor allem die Landbevölkerung. Es folgte aber im März 1950 das VIII. Plenum der Estnischen Kommunistischen Partei, das einen politischen Umschwung zum Abschluss brachte, der zahlreichen Esten ohne stärkeren Rückhalt in Moskau, darunter den sog. »Junikommunisten« des Sommers 1940 und den »Veteranen« des Untergrundkampfes im bürgerlichen Estland, ihre Führungspositionen kostete. Auch Parteichef Nikolai Karotamm wurde durch den Russland-Esten Johannes Käbin ersetzt. Diese Säuberung ohne Todesurteile beließ viele Spezialisten in Amt und Würden, auch wenn es kosmetische Änderungen gab. Während Arman als Leiter der Architekturverwaltung der ESSR Karriere machte, ersetzte Keppe 1950 Kotli als Vorsitzenden des Estnischen Architektenverbandes. Kotli blieb allerdings Keppes Stellvertreter. Aus dem Verband hinausgeworfen wurde damals nur der Architekt des Rathausentwurfs von 1936, Edgar Kuusik. Als die Hauptstadt der Estnischen SSR 1950 ihre obligatorischen Denkmäler für Lenin (am neu geschaffenen Lenin Boulevard vor dem nie gebauten Präsidium der Akademie der Wissenschaften) und Stalin (vor dem Baltischen Bahnhof, vgl. Taf. XIII) erhielt, war es symptomatisch, dass die »bürgerlichen« Architekten Kotli und Tarvas die Podeste entwerfen durften, während die Führerfiguren jeweils dutzendfach in der UdSSR aufgestellte Typenprojekte (Nikolaj Tomskij) waren. Vor allem Arman setzte im Wiederaufbau der Hauptstadt Akzente, denn mit seinem Namen ist der Plan der Umgestaltung des Raums vor dem »Estonia«-Theater zu einem »Kulturzentrum« verbunden. Auch unter der Sowjetherrschaft kam ein komplexer Plan nur selten zur Vollendung. Die wichtigsten Strukturelemente des Umbaus prägen dieses Viertel aber bis heute. Parallel zum Estonia Boulevard wurde der bereits erwähnte Lenin Boulevard (heute: Rävala) gezogen. Von hier aus zog man mit Hilfe eines Grünstreifens eine Sichtachse zum Theatergebäude, an deren anderen Ende das Lenin-Denkmal stand. Aber weder das dem Theater gegenüber stehende Akademiepräsidium – es wäre Tallinns erstes Kuppelgebäude gewesen – noch der geplante Springbrunnen vor dem Theater wurden je gebaut. Dafür entstand am Lenin Boulevard Anfang der 1950er Jahre das Haus der Wissenschaftler mit seinen Luxuswohnungen, die sogar Dienerzimmer enthielten. Zugleich stellte man ein ursprünglich für die Akademieinstitute errichtetes Gebäude am Grünstreifen fertig, dessen karge Gestaltung und die Proportion seiner Fenster erneut auf den Geschmack der deutschen ArchiTallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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tektur der 1930er Jahre verwies – Architekt Enn Kaar hatte sein Studium 1940 in Berlin abgeschlossen. Wie beim raschen Wiederaufbau des Theaters zeigte sich das System auch mit diesem »Kulturzentrum« zumindest potentiell als Vollender so mancher nationaler Träume der Zwischenkriegszeit, denn all die damals ungebaut gebliebenen nationalen Kulturtempel hätten hier ihren Platz gefunden: vom Kunstmuseum über das Polytechnikum bis hin zur Staatsbibliothek. Nachdem beschlossen worden war, das Polytechnikum im Neubaugebiet Mustamäe anzusiedeln, wurde an dessen Stelle 1963 die Akademiebibliothek errichtet. Anstelle des neoklassizistischen Akademiepräsidiums mit Säulenportikus und Türmchen samt schlanker Spitze erhob sich hinter dem Lenin-Denkmal seit 1968 das zweckdienliche Gebäude des Zentralkomitees der estnischen KP – das heutige Außen­mi­niste­rium. Wie schon in den 1930er Jahren sollte der alte Russische Markt, der nun Viru väljak hieß (seit 1949 für einige Jahre Stalini väljak), zum Administrativzentrum und zum Paradeplatz der Stadt ausgebaut werden. Der in Võidu väljak (Siegesplatz) umbenannte Vabaduse väljak war dafür zu stark bebaut – oder soll man sagen: zu wenig zerstört. Das 1944 vernichtete Gebäude des Neuen Marktes wurde 1947 abgerissen, um einer Grünanlage Platz zu machen, dem heutigen Tammsaare-Park. Anstelle eines Rathauses dachte man nun jedoch an ein pompöses, möglichst im »Zuckerbäckerstil« zu bauendes »Haus der Sowjets«, das vor allem für die Ministerien der ESSR gedacht war – aus dem städtischen Zentrum wäre somit ein vom Staat beanspruchter Raum geworden. Um den Platz zum Park hin zu öffnen, sollte sich dieses Gebäude an der Ostseite des Areals erheben. Der erste Entwurf stammte von dem Leningrader Architekten Oleg Ljalin, der extra dafür nach Tallinn geschickt worden war. Legendär ist die Bemerkung Stalins auf ein ihm vorgestelltes Wiederaufbauprojekt für Tallinn: »Aber wo ist denn hier eine Turmspitze?« Ljalins Projekt hätte diese Spitze dem Stadtbild eingefügt, wenn auch auf eine etwas gezwungene Weise. Denn vor einem sechsstöckigen Massivbau, dessen eingearbeitete Säulen je so viele Backsteine benötigt hätten wie ein Wohnhaus, sollte ein 15-stöckiger Zuckerbäckerturm mit der von Stalin so sehr geliebten goldenen Spitze mit dem fünfzackigen Stern als Markierung einer sowjetischen Republikhauptstadt dienen. Nur war Stalin zum Zeitpunkt der Vorstellung dieses Plans Anfang 1954 bereits tot, sodass eine ganze Reihe von estnischen Architekten sich gegen diesen Bau aussprach. Ein Gegenentwurf, an dem auch Kotli beteiligt war, erhielt allerdings einige Grundprinzipien des Ljalin-Projekts (inklusive der Turmspitze), doch in einer sparsameren Variante. In der Folge wurde dieses Projekt nicht mehr erwähnt. 276  Tallinn im 20. Jahrhundert

16  Der Stalin-Platz und das »Estonia«-Theater ,1954

Der zerstörte Raum um die Nikolai­kirche und die Harju Straße wurde auf der Kirchenseite 1948 zu einer Grünfläche umge­staltet, indem die Ruinen einfach zugeschüttet wurden. Dies widersprach zwar dem Charakter einer dicht bebauten mittel­al­terlichen Festungsstadt, doch war an einen Wiederaufbau nicht zu denken. An der Ecke zur Niguliste (Nikolaistraße) wurde ein dreistöckiges Wohnhaus errichtet, dessen Historismus das Gebäude in die freilich eher gotische Umgebung einfügen sollte. Die Elemente des niederländischen Manierismus aus dem 16. Jahrhundert, mit denen die Giebelfassade an der Ecke spielt, sind aber für Tallinn fremd und erinnern höchstens an das Schwarzenhäupterhaus; aus ideologischen Gründen war in der Sowjetzeit jedoch nicht daran zu denken, gotische Elemente in der Architektur zu nutzen. Während hier die Fassade mit ihrer vertikalen Gestaltung immerhin noch die alten Grundstücksgrenzen erkennen lässt, war das gegenüber an der Harju Straße liegende, 1963 fertig gestellte »Haus des Schriftstellers« das erste moderne Gebäude der Altstadt, dessen Fassade sich mit ihrer betonten horizontalen Struktur über mehrere ehemalige Grundstücke erstreckt – und somit einen spürbaren Bruch mit der traditionellen Altstadtarchitektur darstellt. Die sowjetische Moderne schlug sich somit auf den Ruinen des Krieges eine Bresche in die gewachsene Struktur des alten Stadtzentrums. Öffentlicher Verkehr. Die alte Idee, den öffentlichen Verkehr durch die Altstadt zu leiten, wurde aufgegeben. Anfang 1948 entschied man, den Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Ausbau des Straßenbahnnetzes nur begrenzt voranzutreiben, dafür aber Trolleybusse einzuführen. Die Stadt hatte schon 1945 erfolglos versucht, 25 neue Tramwaggons aus Kaliningrad, dem alten Königsberg, zu erhalten. Daher war man auf eigene Kapazitäten angewiesen, sollte der zum Teil über 30  Jahre alte Waggonpark erneuert werden. Nun wurde beschlossen, die Straßenbahn in 15 Jahren einzustellen, doch konnte immerhin durchgesetzt werden, endlich die Verbindung des Stadtzentrums mit dem Baltischen Bahnhof zu bauen. Zum 35. Jahrestag der Oktoberrevolution in November 1953 wurde diese lang geplante Trasse, die nördlich um die Altstadt herumführt, feierlich eröffnet. Während aber in Riga bereits unmittelbar nach dem Krieg und in Vilnius 1956 erste Trolleybuslinien eingerichtet wurden, erhielt Tallinn seine ersten Oberleitungsmasten erst 1962. Pünktlich zum 25. Jahrestag der Gründung der Estnischen SSR im Juli 1965 fuhren schließlich die ersten Trolleys durch die Stadt. Wichtig wurde dieses neue Verkehrsmittel vor allem aufgrund des nun doch zügigen Wachstums der Stadt, die in jenem Jahr bereits 327.818 Einwohner zählte. War 1948 noch geplant worden, die ersten Trolleys von Pirita aus zum Baltischen Bahnhof fahren zu lassen, um den Werktätigen ein wenig Erholung ans Herz zu legen, galt dies in den 1960er Jahren, als Pirita sommers mit dem Bus erreichbar war, nur mehr als Luxus. Die ersten Trolleys wurden gebraucht, um die Anbindung der neuen Trabantenstädte an das Zentrum zu gewährleisten. Das erste größere dieser Neubaugebiete, das für Zehntausende von Menschen geplant wurde, war Mustamäe. Demographie und Wohnungsbau. Typenbauprojekte sind keine Erfindung der sowjetischen Architektur, aber sie haben die Qualität eines alltagsgeschichtlichen Erinnerungsortes, schon weil sie sich von Magdeburg bis Magadan gleichen. Auch Tallinn macht hier keine Ausnahme. Eine industrialisierte Bauweise versprach den eklatanten Wohnungsmangel zu beheben, der aus dem Umstand des Bevölkerungszuwachses der Stadt erwuchs – abgesehen vom natürlichen Zuwachs von ca. 2.000 Menschen per anno zogen jährlich noch bis zu 9.000 Menschen zu, die vor allem dank der forcierten Ansiedlung von Industrie Arbeit fanden. Diesen Neubürgern musste nun aber irgendwie Wohnraum zur Verfügung gestellt werden. Dieser Zuzug nach dem Krieg speiste sich aber im Gegensatz zu früher nicht aus der ländlichen Umgebung der Stadt, sondern aus den übrigen Sowjetrepubliken. Dies zeigt auch die demographische Verteilung der Nationalitäten in Tallinn: Hatten die Esten 1934 noch 85,6% der Bevölkerung gestellt, sank dieser Anteil nach den Angaben der ersten Nachkriegserhebung 1959 auf 60,2%. Bis 1989 war er sogar auf unter 50% gesunken. 278  Tallinn im 20. Jahrhundert

Einwohner Tallinns 1959–1989 nach Nationalität Gesamt

Esten

Russen

Ukrainer Weißrussen

Juden

1959

279.900

169.700 (60,2%)

90.600 (32,2%)

7.300 (2,6%)

3.700 (1,3%)

3.700 (1,3%)

1970

362.500

201.900 (55,7%)

127.199 (35,0%)

13.300 (3,7%)

7.200 (1,9%)

3.800 (1,0%)

1979

428.500

222.800 (51,9%)

162.00 (38,0%)

17.500 (4,1%)

10.300 (2,4%)

3.700 (0,9%)

1989

479.000

227.200 (47,4%)

197.200 (41,2%)

22.900 (4,8%)

12.600 (2,6%)

3.600 (0,8%)

Quelle: Entsüklopeedia Tallinn, Bd. 2, Tallinn 2004, S. 121.

Neuer Wohnraum ließ auf sich warten. Der Beschluss der EKP von 1957, binnen 12 Jahren dieses Problem zu lösen, ließ aber immerhin die Absicht erkennen, etwas zu tun. Zwar gab es 1960 tatsächlich schon mehr Quadratmeter Wohnfläche als vor dem Krieg; auf jeden Einwohner entfielen jedoch nur 10,6 m2, während es vor 1940 noch 13,6 m2 gewesen waren. Große Fortschritte waren somit auch 15 Jahre nach Kriegsende noch nicht erzielt worden, hatte diese Korrelation doch erst 1950 mit 9,1 m2 ihrem Tiefststand erreicht. Auch in Tallinn gab es nun – wenn auch längst nicht im selben Ausmaß – das vor allem in Moskau und Leningrad verbreitete Phänomen der »Kommunalka«, der Gemeinschaftswohnung, in der sich mehrere Familien Küche und Bad teilten. Der ständige Zuzug machte den Wohnungsbau aber zu einer Sysiphusarbeit: Bei allen Anstrengungen seit den 1960er Jahren gelang es bis 1970 zwar, den Vorkriegsstand mit 13,8 m2 leicht zu übertreffen, doch brachte erst die spätere Entwicklung spürbare Verbesserungen, als 1990 immerhin 19,1 m2 erreicht waren – auch wenn der Plan 21,4 m2 vorgesehen hatte. Bei diesem Plan handelte es sich um den zweiten Generalplan Tallinns nach dem Krieg, der 1968 abgeschlossen, aber erst vier Jahre später von der Republiksführung bestätigt wurde. Auf einem der hier vorgesehen drei Neubaugebiete setzte der Wohnungsbau tatsächlich aber schon zu Beginn der 1960er Jahre ein. Das erste Haus in Mustamäe, südwestlich des Zentrums gelegen, war 1962 bezugsfertig. In diesem, in neun sog. »Mikrorajons« unterteilten Gebiet mit ca. 470 Häusern lebten nach dem vorläufigen Abschluss der Bauarbeiten 1972 an die 90.000 Menschen; nachdem einige »Turmhäuser« als architektonischer Akzent hinzugebaut worden waren, stieg die Einwohnerzahl auf 110.000. Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Der damalige Tallinner Chefarchitekt Bruns hat die wesentlichen Charakteristika eines Mikro­rayons folgendermaßen beschrieben: Straßen werden nicht immer von den Fassaden der Häuser gesäumt; Häuser können auch quer zur Straße stehen, denn vorangiges Ziel sind bessere Lichtverhältnisse in den Wohnungen; Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe befinden sich nicht im Erdgeschoss der zur Straße ausgerichteten Wohnhäuser, sondern in eigenständigen Baukomplexen im Zentrum des Rayons oder direkt an den Stationen des öffentlichen Nahverkehrs; Fußwege sind nicht an Straßen gebunden und bilden ein eigenes Netz. Im Vergleich zu ähnlich angelegten Neubaugebieten in Westeuropa fällt im sowjetischen Bereich die schiere Größe und vor allem die stilistische Eintönigkeit und Farblosigkeit der Typenbauten auf. Da die Baukombinate an Diversifizierung ihrer Produktion nicht interessiert waren, blieben Anregungen der Architekten hinsichtlich der Gestalt der Häuser ungehört. Als ältestes der Tallinner Neubaubezirke ist Mustamäe stark von den klassischen vierstöckigen Gebäuden geprägt, deren erste Exemplare noch komplett nach Moskauer Vorbildern ge­staltet worden waren. Nach heutigen Maßstäben müssen diese Häuser als hoffnungs­los rück­ständig gelten. Sie boten nur mikroskopisch kleine Küchen, da der Arbeiter ja in den Kantinen essen würde, und sie verfügten über Durchgangszimmer, um einen Gebrauch als »Kommunalka« zu verhindern – ein Problem, das, wie gesagt, in Tallinn weniger akut war als in den russischen Städten. Auch im Tallinner Fall aber war der Gedanke an solche unabhängigen Wohnregionen recht alt, da schon Saarinens »Groß-Tallinn« ähnlich konzipiert war. Wie bei Saarinen waren auch die seit den 1960er Jahren in Tallinn errichteten Mikrorayons selbständige Einheiten, die über ihre eigenen Kindergärten und Schulen sowie über Einkaufsmöglichkeiten, medizinische Versorgung und Kultureinrichtungen verfügten. Ganz wie es dem finnischen Architekten vorgeschwebt haben mag, besaß Mustamäe mit dem Polytechnischen Institut (der heutigen Technischen Universität) auch eine wichtige Hochschuleinrichtung, um das Angebot an Arbeitsplätzen für die Anwohner zu diversifizieren. Der »Mustamäe-Walzer« Als Mustamäe gebaut wurde, war die Zeit des stalinistischen Terrors vorbei, und die gesamte Sowjetunion erlebte unter Parteichef Nikita Chruščev eine Zeit der Hoffnung auf ein friedliches Leben unter den Bedingungen des entwickelten Sozialismus. In der Zeit des »Tauwetters« war der Bau von Mustamäe sichtbares Zeichen des Fortschrittsglaubens; die Wohnungen in den nach dem Parteichef »Chruščevki« genannten Häusern waren hell, vergleichsweise geräumig und

280  Tallinn im 20. Jahrhundert

modern ausgestattet. Die Wandmosaiken der Häuser zeigten Kosmonauten und erfolgreiche Sportler, deren Motto »schneller, höher, weiter« auf einmal auch für das Regime zu gelten schien. Eine Wohung in Mustamäe war begehrt. Im berühmten Schlager »Mustamäe-Walzer« (Mustamäe valss) hieß es: »Ich lebte mit der Schwiegermutter in einem Erkerzimmer / Das Glück schien mir aus den Händen zu gleiten. / Tag und Nacht, zu Hause und auf der Arbeit / Dachte ich an Mustamäe. // Nun lebe ich in Mustamäe, die Wohnung ist ehrlich und gut / Für dieses Glück muss ich Fortuna danken (…)«. Gerade für junge Familien war es eine Erlösung, endlich in der eigenen Wohung ein neues Leben anzufangen, zumal hier in den ersten Jahren auch vor allem Esten lebten. Später entstanden Parodien dieses Liedes, in denen es hieß: »Nun lebe ich in Mustamäe, unter und über mir wohnt Ivan, wofür ich die Partei nur loben kann«. Die in Mustamäe aufgewachsene Literaturprofessorin der Tallinner Universität Piret Viires beschreibt, wie dieser modernistische Ort der sowjetischen Utopie auch die ersten postmodernen literarischen Texte der estnischen Literatur inspiriert hat. In Mati Unts »Sügisball« (Herbstball) ist Mustamäe zugleich Glück und Bedrohung, ein geheimnisvoller, aber auch separierender und fragmentierter städtischer Raum. Für die Autorin selbst jedoch ist das heutige Mustamäe nur noch ein Schatten seiner selbst, eine Parodie seiner ursprünglichen Idee (weswegen »Sügisball« 2007 wohl in Lasnamäe verfilmt wurde). Die Wandmosaiken mit den Kosmonauten fallen auseinander und einst modische Restaurants stehen leer. Die ganze Region verwandle sich in ein Ghetto, wo in der wurmstichigen städtischen Umwelt die Menschen immer noch ihre »kleinen Inseln«, ihre Wohnungen hüten. »Mustamäe stellt ein kollabierendes Utopia dar, eine Stadt der Sonne, die einst ein Traum war, sich aber in eine entstellte und verformte Realität verwandelt hat«. Was einst postmodernistische Texte inspirierte, sei heute paradoxerweise verstummt. Viires wehrt sich jedoch dagegen, in Mustamäe nur Vergänglichkeit zu sehen. Für sie bleibt es »eine Erinnerung an lange gerade Straßen, an den Abendhimmel über den Hochhäusern und an das helle Sommerlicht, das seine Reflexe auf den weiten Flächen der Plattenbauten hinterlässt«. Quelle: Viires, Piret: Mustamäe-Metarmorphoses, in: Sarapik, Virve, Tüür, Kadri (Hgg.), Koht ja paik / Place and Location. Studies in Environmental Aesthetics and Semiotics III, Tallinn 2003, S. 395–403.

In den Jahren 1972–1978 wurde westlich von Mustamäe als weiterer Neubaubezirk Õismäe errichtet. In einem auf 40.000 Einwohner angelegten Wohngebiet setzte man die alte städtebauliche Idee der »Ringstadt« um. Es handelt sich um ein kompaktes Areal, das relativ schnell fertig war. Probleme wie in Mustamäe, wo das eigentliche Rayonzentrum nie gebaut worden ist, wo Einkaufsmöglichkeiten erst viel später entstanden und erst nach und nach die Infrastruktur komplettiert wurde, gab es hier nicht. Die schöne Idee des Mikrorayons, der über eine eigene Schule verfügt, damit der Schulweg Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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nicht über große Verkehrsadern führt, hatte in Tallinn das Problem zu lösen, dass eigentlich zwei Schulen, eine russische und eine estnische, notwendig waren. Zumindest in den ersten Rayons in Mustamäe, die nach sowjetischen Plänen errichtet wurden, hatte man darauf keine Rücksicht genommen. In Õismäe wiederum gruppieren sich die Schulen und Kindergärten idyllisch um einen im Zentrum des Rings künstlich angelegten See. Ein erster Häuserring beseht aus achtstöckigen Häusern, deren Reihe von einigen Turmbauten unterbrochen wird; hinter der Ringstraße, die auch den Nahverkehr in das Viertel bringt, folgen noch einige vierstöckige Bauten. Aus der Luft betrachtet stellt diese ideale sozrealistische Siedlung eine Rosenblüte dar, wie Reiseführer in der Sowjetzeit nicht müde wurden zu betonen.

17  Õismäe, 1980er Jahre

Gerade im Vergleich zum nie abgeschlossenen Neubaugebiet Lasnamäe im Osten der Stadt, mit dessen Bau 1978 begonnen wurde, gilt Õismäe heute als der lebenswerteste der drei »Berge«, wie die Tallinner Trabantenstädte aufgrund ihrer estnischen Namen heißen. Während die Ableitungen von Mustamäe – Schwarzer Berg und Õismäe – Blütenberg eindeutig sind, ist sie bei Lasnamäe, dem alten Laaksberg, unklar; die umgangssprachliche russifizierte Variante Lasnagorsk wiederum verweist auf den hohen Anteil an russischsprachigen Bürgern, die hier leben. Lasnamäe war schon im Pla282  Tallinn im 20. Jahrhundert

nungsstadium gigantisch angelegt: Es sollte Schlafstätte für bis zu 200.000 Einwohner sein. Zwei in das Kalksteinmassiv gesprengte sechsspurige Magistralen sollten die Verbindung mit dem Zentrum herstellen, doch kam nur eine davon zur Ausführung. Die ursprünglich als »Oktoberprospekt« geplante Straße (heute: Laagna tee), im Volksmund »Kanal« genannt, musste mit Sprengungen, die in der ganzen Stadt zu hören waren, gebahnt werden. Kalm zufolge stellen die unbehauenen Kalksteinwände, welche den »Kanal« an seinem westlichen Ende rahmen, den emotionalsten Teil der gesamten eintönigen Anlage aus der sowjetischen Stagnationszeit dar. Bis heute liegt ein unbebauter Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen. Hier sollte einst eine »Schnelltram« fahren. Der öffentliche Nahverkehr bindet diesen Stadtteil, in dem nicht ganz die Hälfte der Tallinner lebt, weiterhin mit Bussen und Trolleys an. In Zeiten sinkender Einwohnerzahlen (siehe Tabelle S. 313) ist nicht daran zu denken, Lasnamäe dem ursprünglichen Plan entsprechend weiter zu erschließen. Es gibt immer noch mitten auf dem riesigen Areal unbebaute – und ungepflegte – Flächen von der Größe ganzer Dörfer, wo der Durchreisende sich bereits außerhalb der Stadt wähnt, die heute zum Teil von riesigen Einkaufszentren überbrückt werden. Lasnamäes Problem war, dass es zu einer Zeit errichtet wurde, in der die Sowjetunion ökonomisch schwächelte und ihr Zerfall schließlich auch die verstaubten sowjetischen Utopien im Wohnungsbau entzauberte. Seit den 1970er Jahren wurden in Tallinn jährlich zwischen 250.000 und 270.000 m2 an neuer Wohnfläche gebaut. 1987 begann diese Zahl dramatisch zu sinken und 1989 kamen nur noch 139.000 m2 hinzu. Statistisch gesehen hatte sich seit 1960 der Wohnraum der Stadt nahezu verdreifacht, während sich die Einwohnerzahl nicht einmal verdoppelte. Die Ausführung der Bauten und ihre Pflege wiederum ließ vieles zu wünschen übrig. Dieser Befund gilt auch für die Denkmäler des Sowjetregimes. Seit 1960 stand auf der Anhöhe Maarjamäe auf dem Weg nach Pirita ein 35 Meter hoher Obelisk (Mart Port), der den Opfern des »Eiszuges« gewidmet war, d.h. der Evakuation der Roten Flotte aus Tallinn Anfang 1918. 1941 waren hier Rotarmisten beigesetzt worden, deren Leichen aber unter der NS-Besetzung entfernt wurden, um für deutsche und estnische Gefallene Platz zu schaffen. Nachdem dieser deutsche Friedhof 1944 dem Erdboden gleichgemacht worden war, begannen in den frühen 1970er Jahren nach einem Entwurf von Alan Murdmaa die Arbeiten für eine monumentale Gedenkstätte, der erneut viele Gräber zum Opfer fielen (heute befindet sich auf dem Areal ein Deutscher Soldatenfriedhof ). 1975 konnte ein von Tribünen eingerahmter Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Zeremonienplatz mit Blick auf das Meer eingeweiht werden, dessen Hauptelement zwei in mächtige Dolomitblöcke eingravierte Hände sind, die ein ewiges Feuer schützten. Gewidmet war das Monument den für die (sowjetische) Freiheit Gefallenen. Estland erhielt somit sein schon in der Zwischenkriegszeit ersehntes Freiheitsmonument, aber die hier gepriesene »Freiheit« war eine andere. Tatsächlich ist der Komplex in all seiner modernistischen Monumentalität frei von eindeutig sowjetischer Symbolik. Trotzdem trauert heute angesichts der langsam verfallenden Anlage wohl niemand der als zweite Ausbaustufe geplanten »Freiluftkathedrale« hinterher, die sich den Laaksberg hinaufziehen sollte. Tallinner Kulturleben unter Hammer und Sichel Im September 1944 war Tallinn eine ausgeblutete Stadt. Den größten Aderlass für ihr Kulturleben brachte die Massenflucht vor der Roten Armee, in deren Verlauf sich nicht nur die politische Elite nach Deutschland oder über die Ostsee nach Schweden rettete. Auch zahlreiche Schriftsteller und Künstler wählten das Exil. Für die Situation in der Heimat ist es symptomatisch, dass bis in die 1960er Jahre hinein die literarische Produktion der Emigranten umfangreicher und weitaus vielfältiger war. Den im Lande Verbliebenen blieb nur die Anpassung an das neue Regime. Stalinistische Kulturpolitik. Nach 1945 herrschte in der ganzen Sowjetunion zunächst ein entspannteres kulturpolitisches Klima, das sich in Estland gerade auch vor dem Hintergrund der deutschen Besatzungszeit z.B. in Hinblick auf die Unterhaltungsmusik zeigte. Jazz amerikanischer Prägung im Stil eines Glenn Miller etwa war schon aus Gründen der noch leidlich funktionierenden Anti-Hitler-Koalition kein Tabu, wovon Tallinner Musiker wie die in den 1940er Jahren populäre Band »Kuldne Seitse« (Die Goldene Sieben) profitierten. Sowjetischer Jazz war in den 1930er Jahren in eine vom Regime als erbauliche Unterhaltungsform gebilligte »Estrade« gegossen worden. Dass selbst das Estnische Schützenkorps der Roten Armee über ein Jazzorchester verfügte, das während der Feiern zum 5. Jahrestag der ESSR im Sommer 1945 in Tallinn ein Freilichtkonzert gab, galt als Sensation, wie sich der Komponist und Saxofonist der »Kuldne Seitse«, Valter Ojakäär, erinnerte. Da die Musiker in beigen Uniformen auftraten, konnte man sie fast für Amerikaner halten. Unter den Mitgliedern des Orchesters war auch Raimond Valgre, ein Sänger und Komponist, der bereits vor dem Krieg in Tallinn aufgetreten war, aber seine größten Erfolge in den letzten Sommern der Friedenszeit 284  Tallinn im 20. Jahrhundert

in Pärnu hatte feiern können. Einstweilen war seine leichte Unterhaltungsmusik noch gefragt, vor allem im Radio, in Restaurants und auf Tanzabenden. Das Radio bot Vorkriegsmusikern wie z.B. Konstantin Paalse, einem der Gründungsmitglieder der »Murphy Band«, deren Bandleader Strobel 1939 umgesiedelt war, einen Unterschlupf. Valgre, der dank des Dienstes in der Roten Armee gut beleumundet war, komponierte für das im September 1944 gegründete Jazzorchester des Estnischen Radios, das zum großen Teil aus ehemaligen Musikern des deutschen »Landessenders Reval« bestand. Noch waren direkte Bezüge zur »bürgerlichen« Republik keineswegs verpönt: Im Dezember 1946 war es tatsächlich möglich, den 20. Geburtstag des Estnischen Radios feierlich im renovierten »Estonia«-Konzertsaal mit einem Programm zu begehen, das nur wenige Jahre später unweigerlich als anti-sowjetisch und »bürgerlich nationalistisch« kriminalisiert worden wäre. So aber verwies nur das berühmte »Lied über die Heimat« des sowjetischen Starkomponisten Isaak Dunaevskij auf den neuen Kontext, während sogar Musik des in den Westen geflüchteten Komponisten Eduard Tubin unbeanstandet zur Aufführung gelangte. Das Regime gab sich alle Mühe, kulturpolitisch Sympathien zu gewinnen. So wurden die sterblichen Überreste der 1886 in Kronstadt beigesetzten Dichterin des estnischen nationalen Erwachens Lydia Koidula an ihrem 60. Todestag im August 1946 feierlich nach Tallinn überführt. Eine Prozession, an der die erste Garde der 1941 im Lande verbliebenen bzw. in die UdSSR evakuierten Schriftsteller teilnahm, darunter auch die einstigen Minister der Übergangsregierung von 1940 Vares, Andresen und Semper. Wie in der Architektur war die personelle Kontinuität im kulturellen Bereich nach 1944 zunächst recht hoch. Semper hatte sogleich nach seiner Rückkehr nach Tallinn gemeinsam mit dem unter der deutschen Besatzung verbliebenen Tuglas im September 1944 das Kulturblatt »Sirp ja vasar« (Sichel und Hammer) aus der Taufe gehoben, das bis heute unter dem verkürzten Titel »Sirp« erscheint. Semper war auch Autor der von Gustav Ernesaks komponierten Hymne des neuen Staates, die – abgesehen von der pflichtschuldigen Reverenz an Stalin in der ursprünglichen Version – ohne den für andere Sowjetrepubliken charakteristischen Hinweis auf das »brüderliche russische Volk« auskam, dafür aber das »tapfere Volk der Kalevs« zum Schutz des »Heimatlands« aufforderte. Zwar ließ die Ideologie des »Sowjetpatriotismus« theoretisch kein anders Heimatland als die UdSSR zu, doch war dies letztlich eine Frage der individuellen Interpretation. Semper war indes wie seine Kollegen nur kurz an der sowjetestnischen Kulturpolitik führend beteiligt. Seit Ende der 1940er Jahre führte der Kreml Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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einen erbitterten Kampf gegen nicht konforme, »dekadente«, »formalistische« oder »bürgerlich nationalistische« Strömungen. Dieser spätstalinistischen Hexenjagd fielen bekanntlich so prominente russische Schriftsteller und Komponisten wie Anna Achmatova, Michail Soščenko, Sergej Prokov’ev und Dmitrij Šostakovič zum Opfer, nicht zuletzt aufgrund eines verschämten Antisemitismus, der unter der Chiffre des »Kampfes gegen den Kosmopolitismus« daherkam. Diese Kampagne erkor sich ihre kulturpolitischen Zielscheiben auch in Estland. Als Folge der erwähnten Märzdeportationen verbreitete sich im ganzen Land die Angst vor weiteren Maßnahmen als wirkungsvoller Kontrollmechanismus. Nach dem Partei-Plenum im März 1950 wurden u.a. Semper, Tuglas und Metsanurk aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; Kruus und Andresen verloren ihre hohen Posten. Ein Ausschluss aus dem Verband bedeutete faktisch ein Arbeitsverbot, sodass die Betroffenen sich nicht einmal mehr mit den für viele Schriftsteller der Zeit typischen, weil ideologisch unverfänglichen Klassikerübersetzungen über Wasser halten konnten. Musiker hatten es, wenn sie sich an ein von »dekadenten« westlichen oder estnischen »bürgerlichen« Einflüssen freies Repertoire hielten, einfacher. So konnte z.B. Paalse, der seine Arbeit beim Radio aufgrund seiner Vergangenheit schon 1949 verloren hatte, im wieder eröffneten Restaurant »Du Nord« in der Altstadt weiterhin auftreten. Fortführung kultureller Traditionen. Die Wandlungen der sowjetischen Kulturpolitik sind anhand der estnischen Liederfeste deutlich abzulesen. 1947, beim ersten Nachkriegsfest, durfte noch auf die Kontinuität der estnischen Kultur verwiesen werden, indem ganz offiziell das 12. Liederfest ausgerichtet wurde. Drei Jahre später war den Behörden der Kontrast offenbar doch zu deutlich: Es konnte nicht angehen, aus Anlass des 10. Jubiläums der Estnischen SSR bereits das 13. Liederfest zu feiern. So behalf man sich »auf Wunsch der Werktätigen« mit der Bezeichnung »Allgemeines Liederfest der Estnischen SSSR 1950«. Auch im Programm gab es wesentliche Änderungen. Natürlich war schon 1947 sowjetisches Dekor – Fahnen, Losungen, Führerporträits – dominierend. Die Teilnehmerzahl von über 25.000 übertraf pflichtgemäß die des Festes von 1938. Die Hymnen der UdSSR und der ESSR waren omnipräsent. Aber die Eröffnungsansprachen betonten die genuine estnische Tradition dieser Veranstaltungen, die freilich erst von der Revolution 1940 in »volksnahe« Bahnen geleitet worden sei. So setze das Liederfest die stalinistische Losung »sozialistisch im Inhalt, national in der Form« für die estnische Kultur um. Das musikalische Programm war aber 1947 nicht nur überwiegend estnisch, sondern auch mehrheitlich traditionell. Zudem erlebte an beiden Konzerttagen Ernesaks neue Vertonung ei286  Tallinn im 20. Jahrhundert

nes Gedichts von Koidula »Mu isamaa on minu arm« (Mein Vaterland ist meine Liebe), deren Worte bereits aus Anlass des ersten Liederfestes 1869 erklungen waren, eine umjubelte Premiere. Im Anschluss an das Fest wurde die eindeutige Dominanz estnischer Lieder jedoch kritisch angemerkt. Die reiche estnische Chortradition, so schrieb ein Moskauer Musikwissenschaftler im »Sirp ja vasar« den politisch Verantwortlichen freundlich ins Stammbuch, könne durch den Einbezug russischer Musik nur gewinnen. Kurz vor dem nächsten Fest führte das Mätz-Plenum 1950 zur Verhaftung zahlreicher Mitglieder des Organisationskomitees. Zu den auftretenden Chören zählten in diesem Jahr auch russische Bergbauarbeiter und Soldaten. Auch estnische Chöre trugen zahlreiche Lieder auf Russisch vor, und es gab keinen Block, in dem nicht dem Sowjetsystem oder seinem Führer gehuldigt worden wäre. Das Fest begann mit einer »Kantate auf Stalin« (Aleksandr Aleksandrov) und endete mit Dunaevskijs »Lied über die Heimat« sowie dem Schlussakkord »Ruhm der Sowjetmacht« (Vladimir Zacharov). Ernesaks’ Hymne war nicht mehr vertreten, auch wenn er selbst an der Organisation führend beteiligt war. Die stalinistische Orthodoxie hatte sich durchgesetzt.

18  Estnisches Allgemeines Liederfest 1955

Die drei Liederfeste von 1955 bis 1965 spiegelen dann die Veränderungen in der UdSSR nach Stalins Tod im März 1953 wider. Noch 1955 wurde weiterhin Wert auf ideologische Repräsentation gelegt. Während die DekoraTallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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tion anstelle der Dominanz des Diktators die Partei und das Quartett MarxEngels-Lenin-Stalin in den Vordergrund schob, wurde Ernesaks weiterhin als »Stalinpreisträger« aufgeführt. Erstmals traten russische Laienchöre neben den Soldatenensembles auf, doch war das Programm in ideologischer Hinsicht etwas gemäßigter, obgleich nur gut die Hälfte der Stücke von estnischen Autoren stammte. Fünf Jahre später machte sich das »Tauwetter« auch in Tallinn öffentlich bemerkbar. Damals wurde die von Kotli entworfene, 30.000 Sängerinnen und Sängern Platz bietende neue Liederfestbühne eingeweht, die mit ihrer gewaltigen Muschel eine verbesserte Akustik bot, aber auch die Bewegung von Massenchören auf der Bühne entscheidend erleichterte (vgl. Taf. XIV). Diesmal allerdings machte das Wetter den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung, sodass der erste Tag abgebrochen werden musste. Am zweiten Tag wurde das ganze Programm in einem achtstündigen Marathonkonzert durchgesungen, doch hörten die Chöre nicht einfach programmgemäß mit Dunaevskijs »Lied über die Heimat« auf, sondern begannen diesmal, Ernesaks noch immer aus dem Programm verbanntes »Mu isamaa« zu singen. Der Komponist trat schließlich selbst ans Dirigentenpult und führte diesen höchst angespannten Moment zu einem extrem emotionalen Ende. Fünf Jahre später stand dieses Lied dann wie selbstverständlich als offizieller Schlussakt auf dem Programm. Dunaevskijs sowjetischer Heimatbegriff war damit in Estland singend an seine Grenzen geführt und durch Koidulas nationalromantischen abgelöst worden. Heute wird gern erzählt, man sei fortan nur deshalb zu den Liederfesten gegangen, um dieses eine Lied zu singen, das stets mehrfach wiederholt wurde. Damit war endgültig nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt dieser Feste national. 1969 wurde an der neuen Bühne sogar ein von Murdmaa entworfener Gedenkstein aus Anlass der 100-jährigen Tradition der Liederfeste errichtet. Eigentlich war eine schleichende »Singende Revolution« bereits seit den 1960er Jahren im Gange. Die Repräsentation der regionalen ethnischen Eigenarten war in der Sowjetunion nicht ungewöhnlich. Unter Beteiligung Armans und unter Federführung von Karl Tihase wurde seit 1950 an der alten, im Grunde noch aus der Zarenzeit stammenden Idee eines estnischen Freiluftmuseums gearbeitet, die seit 1957 im Südwesten Tallinns an der Kopli Bucht auf dem Gelände des ehemaligen Sommergutes Rocca al Mare umgesetzt werden konnte. Als das Museum 1964 seine Pforten für Besucher öffnete, verfügte es auf 66 ha über zahlreiche Beispiele der bäuerlichen Architektur des 19. Jahrhunderts und setzte somit auch ein Zeichen dafür, wie estnische Geschichte unter den ideologischen Bedingungen des Historischen Materialismus geschrie288  Tallinn im 20. Jahrhundert

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Reklametafel der Rotermannschen Fabriken, ca. 1900.

XII Blick auf die Altstadt mit der St. Nikolaikirche und der zerstörten Harju (Schmiede-) Straße, 1945.

XIII Das 1950 errichtete ­Stalindenkmal am Fuße der Altstadt ­gegenüber dem ­Baltischen Bahnhof, 1954.

XIV Das Allgemeine Liederfest 1965 aus Anlass des 25. Jahrestags der Gründung der Estnischen SSR, 17. Juli 1965. Blick auf die von Alar Kotli 1960 errichtete Tribüne.

XV Blick auf die Altstadt und den Domberg von der St. Olaikirche aus.

XVI Die Große Strandpforte mit der Dicken Margarete und der St. Olai­ kirche im Hintergrund.

XVII Blick auf die Rüütli (Ritter-) Straße mit der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Hintergrund.

XVIII Das Café »Maiasmokk« (Leckermaul); links das Gebäude der Großen Gilde, in dem sich heute eine Filiale des Estnischen Historischen Museums befindet, rechts die Heiliggeistkirche.

XIX Blick auf das Rathaus von der Viru (Lehm-) Straße aus.

XX Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale.

XXI Das sowjetische Denkmal zu Ehren der bei der »Befreiung« Tallinns 1944 Gefallenen (›Bronzener Soldat‹) nach seiner Versetzung auf den Militärfriedhof im Mai 2007.

XXII Die 2009 eingeweihte »Siegessäule« auf dem Vabaduse (Freiheits-) Platz.

ben werden konnte: als Geschichte der (von den deutschen Gutsbesitzern unterdrückten) Bauern. Erneut wurde somit das Prinzip des »national in der Form, sozialistisch im Inhalt« zugunsten eines explizit estnischen Inhalts unterlaufen. Hinweise auf die notorisch wichtige historische Rolle des freundlichen russischen Nachbarn, der den Esten den Weg zu Kultur und Identität gewiesen habe, konnten so geflissentlich marginalisiert werden. Einen eigenständigen Weg suchte und fand aber auch die estnische Literatur. Ende der 1950er Jahre wurden die meisten in den Jahren um 1950 angegriffenen Schriftsteller rehabilitiert. Friedebert Tuglas z.B. durfte die Herausgabe seiner »Ausgewählten Werke« in acht Bänden (1957–1962) erleben. Die literarische Produktion nahm zu und griff auch die drängendsten Themen der jüngsten Vergangenheit auf. Rudolf Sirge beschrieb in seinem Roman »Maa ja rahvas« (Land und Volk, 1956), der bis 1976 vier Auflagen erlebte, die Ereignisse des Jahres 1940/41 auf dem Land, wobei er seine Kritik an den Deportationen nicht verhehlte. Zudem gelangten die Vorkriegswerke etwa von Tammsaare wieder in den Verkauf. Neben den Klassikern trat nun auch eine jüngere Generation hervor, so debütierte Jaan Kross 1958 nach seiner Rückkehr aus sowjetischen Lagern mit einem Gedichtband, in dem er seine Erfahrungen in Sibirien verarbeitete. In den 1960er Jahren machten einige vom Staatsverlag zu Kassetten vereinigte Erstlingswerke von später so bekannten Dichtern und Schriftstellern wie Paul-Eerik Rummo, Jaan Kaplinski und Viivi Luik Furore. Hier wurde ein neuer Ton angeschlagen, der sich um die Regeln des »Sozialistischen Realismus« wenig kümmerte und im Wissen um die Zensur einen eigenen Weg zum auch zwischen den Zeilen lesenden Publikum bahnte. Warnschüsse des Regimes, wie eine gezielte Aktion gegen Jaan Kross 1962, verliefen im Sande. Terror als Mittel der Disziplinierung der Bevölkerung hatte ausgedient. Eine vor allem auf die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache ausgerichtete Dichtung, die aber zugleich »humorvoll und beklemmend, satirisch und todernst« sein konnte und gesellschaftliche Veränderungen seismographisch registrierte, machte den Schauspieler des Estnischen Dramatheaters Juhan Viiding zum »Genie« der 1970er Jahre (C. Hasselblatt). Unter den Sowjetrepubliken nahm Estland in Bezug auf die pro Kopf erschienenen Bücher unangefochten den Spitzenplatz ein, auch wenn 1965 nur 70% und 1985 nur 64% davon auch auf Estnisch erschien. Traditionell umfasste die estnische Buchproduktion viel übersetzte Literatur. In diesem Kontext wurde das Land zu einem »Schaufenster« der Sowjetunion, denn nachdem der Stalinismus es mit Gewalt nicht hatte gleichschalten können, wurden die Zügel bedingt locker gelassen. 1957 begann erstmals in der Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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UdSSR in Tallinn die Herausgabe einer Sammlung mit Werken von Bertolt Brecht. Auch Kafkas »Prozess« erschien erstmals in der Sowjetunion 1966 auf Estnisch. Selbst Dostoevskijs Werke waren leichter zu bekommen, und 1968 erschien die erste sowjetische Einzelausgabe von Michail Bulgakovs »Meister und Margarita« in Tallinn. Ab 1957 machte eine Taschenbuchreihe der in Tallinn erscheinenden Literaturzeitschrift »Looming« ausländische Literatur schon aufgrund des Vertriebs über die Pressekioske einfacher erhältlich. Hier erschienen zwar auch estnische und russische Werke, doch war vor allem der Zufluss an moderner westlicher Literatur für die 1960er Jahre wesentlich: Asimov, de Beauvoir, Beckett, Böll, Calvino, Camus, Capote, Dürrenmatt, Faulkner, Frisch, Golding, Greene, Hochhuth, Kafka, McCullers, Mrożek, Salinger und Sartre erschienen zum Teil erstmals in der UdSSR in Estland. Auch im Bereich der bildenden Kunst wurde Tallinn in den 1960er Jahren zum dritten Zentrum nach Moskau und Leningrad. Unter Begriffen wie »geometrische« oder »experimentelle« Kunst konnten abstrakte Arbeiten gezeigt werden, die mit dem sowjetischen Kanon wenig gemein hatten. Öffnung nach Westen und Anpassung an den Osten. In diesen Jahren fand eine sukzessive Öffnung der längst nicht mehr hermetisch abgeriegelten Sowjetunon statt. 1957 wurde Tallinn für ausländische Besucher freigegeben, seit 1965 bestand ein regelmäßiger Fährverkehr mit Helsinki. Während 1956 gerade einmal 212 Touristen aus Finnland kamen, waren es 1966 14.800 und 1983 um die 80.000, die sich freilich auch des billigen Alkohols wegen ein Visum besorgten. Aus diesem Grunde ließ die sowjetische Reiseagentur »Inturist« in Tallinn ein – für sozialistische Verhältnisse – Luxushotel errichten. Die Aussicht, ohne allzu sehr auf die Kosten zu schauen, ein derartiges Vorzeigeprojekt noch dazu von einer finnischen Firma errichten zu lassen, ließ die Stadtplaner sogar den Viru väljak opfern, der eigentlich zum zentralen öffentlichen Raum der Stadt hatte werden sollen. Das 1972 nach einem Entwurf von Henno Sepmann und Mart Port errichtete 22-stöckige »Hotel Viru« versperrte aber den Blick von der Grünanlage am »Estonia«Theater auf den Platz und machte ihn für Repräsentationszwecke nutzlos; bis zur Umgestaltung Anfang des 21. Jahrhunderts nutzte man ihn als Taxistand und für Imbissbuden. Das Hotel mit seinen über 800 Plätzen ließ die Zahl der Touristen im ersten Jahr um 43% steigen und gab der Stadt einen ersten Hauch westlichen Charmes, auch wenn die Preise gesalzen und die Überwachung durch die »Organe« stets gewährleistet war. Die finnischen »Wodka-Touristen« störte das nicht; und die sich rasch entwickelnde Schwarzmarksubkultur, die bis zu den Hotelangestellten reichte und die von 290  Tallinn im 20. Jahrhundert

Kaugummi über Jeans bis zur neuesten »Led Zeppelin«-LP alles Westliche aufsog, profitierte auch. Tallinn blickte nun immer mehr auf den kapitalistischen Nachbarn im Norden, was nicht nur am wachsenden Besucherstrom lag. Finnland wurde auch informationstechnisch für die Esten aufgrund der Sprachverwandtschaft zur Brücke zum Westen: Sie konnten die finnischen Medien ohne allzu große Mühe verstehen, was bald nicht nur für Radiosendungen galt. Das sowjetische Regime förderte aus Gründen der Propaganda die Verbreitung des neuen Mediums Fernsehen. Bereits vom Liederfest 1955 hatte das neu gegründete Estnische Fernsehen probeweise berichtet. Zwar ging es zunächst nur an zwei Tagen in der Woche für je zwei Stunden auf Sendung, doch verdichtete sich das Programm zusehends. Allerdings sank der Anteil estnischsprachiger Sendungen bis 1980 auf 17%, während das Radio fast aussschließlich estnischsprachig blieb. Wesentlich aber war, dass auch in Finnland 1957 der Fernsehbetrieb aufgenommen wurde, der von Beginn an in ganz Nordestland verfolgt werden konnte: Die Dächer der Tallinner Altstadt waren damals durch einen nach Norden ausgerichteten wilden Antennenwald gekennzeichnet. Im politischen Sinne war es wesentlich, dass Esten somit nicht nur etwas von den Ereignissen in Prag im Sommer 1968 hörten – nein, sie sahen mit ihren eigenen Augen die sowjetischen Panzer in den Straßen der tschechoslowakischen Hauptstadt, auch wenn die finnischen TV-Nachrichten Rücksicht auf Moskau nahmen. Dank des finnischen Fernsehens waren die Esten 1986 über die Folgen des GAUs in Tschernobyl schon informiert, als die Kreml-Führung noch tagelang schwieg. In kulturpolitischer Hinsicht waren für die sowjetische Mär vom unterdrückten einfachen Mann im Westen jedoch westliche Soap-operas und finnische Werbesendungen weitaus prekärer. Sie untergruben in elementarer Weise den ohnehin nicht allzu sehr verankerten Glauben an das Arbeiter- und Bauernparadies. Und wenn die Nachrichtensendungen der ausländischen Radiostationen wie »Voice of America« oder »Radio Free Europe« auch zum Teil lokal gestört wurden, machte sich das Regime kaum die Mühe, den Empfang der äußerst populären Musiksendungen zu verhindern. Jazz und Rock’n’roll gelangten so unbehelligt durch den Eisernen Vorhang. Dabei darf nicht übersehen werden, dass viele Esten unter dem sowjetischen Regime Karriere machten. Wissenschaftliche Untersuchungen zur gesellschaftlichen Anapassung und persönlichen Laufbahnen sind zwar nach wie vor Mangelware, doch sei hier die gleichwohl untypische Karriere von Georg Ots geschildert, der zu einem der beliebtesten Sänger und dem wohl bekanntesten Esten der Sowjetunion wurde. Ots, der eigentlich Ingenieur werden wollte, Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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war im Sommer 1941 in die Rote Armee mobilisiert und evakuiert worden. Als Sohn eines bekannten Opernsängers begann er aber während des Krieges in der »Estnischen Kulturbrigade« der Roten Armee zu singen. 1944 nach Tallinn zurückgekehrt, trat er neben seinem Studium am Konservatorium mit dem Chor der »Estonia«-Oper auf, wo er zu Beginn der 1950er Jahre seine Solokarriere startete. Zu seinen gefeierten Rollen zählten u.a. Eugen Onegin (Stalinpreis 1950), Escamillo, Don Giovanni, Papageno und der Figaro, doch hatte er den größten Erfolg in der Titelrolle von Artur Rubinsteins »Dämon«; durch die Verfilmung dieser Oper 1960 kam übrigens das ihr zugrunde liegende Gedicht Michail Lermontovs in der Sowjetunion wieder zu Ehren. Ots trat nun auf vielen sowjetischen Bühnen auf, darunter auch im Moskauer Bolschoi-Theater. Seinen Durchbruch beim breiten Publikum erreichte er 1958 mit der Hauptrolle in der Verfilmung von Imre Kálmáns Operette »Die Zirkusprinzessin« (Mister Iks). Von nun an wurden seine Aufnahmen auch im sowjetischen Radio gespielt, wobei er sein Repertoire um populäre russische Schlager erweiterte. Er wurde zu einem landesweiten Star, was mit dem Titel »Volkskünstler der UdSSR« 1960 auch staatlicherseits anerkannt wurde. Seine Popularität erreichte in den 1960er Jahren sogar Finnland, wo er auch persönlich auftreten durfte. Beim estnischen und finnischen Publikum war der »Saaremaa-Walzer« (Saaremaa valss) sein wohl beliebtestes Lied – eine der letzten Kompositionen Raimond Valgres für den Estnischen Rundfunk, die jedoch 1949 aufgrund der kulturpolitischen Eiszeit nicht aufgenommen werden konnte. Ots trug so zur Rehabilitation Valgres bei und machte estnische Komponisten in der ganzen Union bekannt. Als russische Gesangsstimme im Film »Die letzte Reliquie« (Viimne reliikvia, 1969) machte Ots diese estnische Produktion auch in der übrigen Sowjetunion zu einem riesigen Erfolg – mit knapp 45 Millionen Zuschauern nahm sie 1971 im sowjetischen Verleih den zweiten Platz ein. Dieser nach einem Roman von Eduard Bornhöhe gedrehte Film handelt von einer Intrige zur Zeit des Livländischen Krieges, in der Kampfszenen, verschlagene Mönche, schöne Edelfrauen und ein estnischer Robin Hood ihren Auftritt haben. Die Tallinner Altstadt und ein Modell des St. Brigittenklosters – die Innenaufnahmen wurden in der Nikolaikirche gedreht – stellen die Kulisse. Die von Paul-Eerik Rummo verfassten Liedtexte wurden sehr populär, nicht zuletzt deshalb, weil es im sowjetischen Kontext opportun war, mittelalterliche Esten »Die Güter brennen, die Deutschen sterben« singen zu lassen. Nahm man aber Zeilen wie »Fliehe, freies Kind« hinzu, und übertrug die mittelalterliche Situation auf die Gegenwart, war die kleine Frechheit ins Gesicht der Autoritäten perfekt. Überhaupt waren mittelalterliche Themen 292  Tallinn im 20. Jahrhundert

populär. Auch Jaan Kross hatte mit seinem vierbändigen Roman »Das Leben des Balthasar Rüssow« (Kolme katku vahel, 1970–1980), der das Leben des Revaler Heiliggeist-Pastoren und livländischen Chronisten nachzeichnet, großen Erfolg, beschrieb er seinen »Pall«, der wie der Autor selbst aus der Kalamaja stammte, doch als bewussten Esten, der seinen sozialen Aufstieg in der deutschen Stadt eben nicht dadurch erkaufte, dass er sein Estentum vergaß. In einer Verfilmung des ersten Teils für das Estnische Fernsehen 1970 spielte Georg Ots die Hauptrolle. Das Tallinn-Bild in der Sowjetunion Das Baltikum galt in der Sowjetunion spätestens seit der Periode des »Tauwetters« als »unser Westen«. Vor allem das Kino, das Tallinns mittelalterliche Altstadt als Kulisse für das »Europa« verschiedenster Epochen besetzte, verbreitete dieses Image. Tallinn stellte Frankreich (»Drei Musketiere«), England (»Der Hund von Baskerville«) oder den Ort Güllen in einer Verfilmung von Dürrenmatts »Besuch der alten Dame« dar. Auch Andrej Tarkovskij fand in der alten Industriearchitektur Tallinns das geheimisvolle »Tor zur Zone« für seinen Klassiker »Stalker«. Für die sowjetischen Touristen war die Stadt mit ihren engen Gässchen und den gemütlichen Cafés, in denen man sitzen bleiben durfte, wenn man sein Tässchen ausgetrunken hatte, der »Westen«, den ihnen ihr Pass erlaubte. Der begehrte Likör »Vana Tallinn« (Altes Tallinn) wurde zum Symbol dieses märchenhaft-verbotenen »Europas«, das sich hier noch erhalten hatte. Die das Straßenbild dominierenden lateinischen Buchstaben und der spezifische Akzent, mit dem Esten Russisch sprechen, vervollständigte diese Empfindung vom »eigenen Ausland«. So wurde aus Tallinn im sowjetischen Kontext ein Magnet voller Ambivalenz: obgleich Hautptstadt einer Sowjetrepublik, ließ es sich hier freier atmen. Diese Mischung aus politischer Peripherie und europäischem Erbe zog Schriftsteller an, denen die Welt des sozialistischen Realismus zu eng war. Vasilij Aksënov ließ in »Fahrkarte zu den Sternen« (Svëzdnyj bilet, 1961) seine jungen Moskauer Helden, die ein in der damaligen Literatur selten anzutreffendes authentisches Russisch sprachen und westliche Musik liebten, nicht in den Weiten Sibiriens am Aufbau des Sozialismus mithelfen, sondern schickte sie in den Urlaub nach Tallinn, wo sie sich in den modernistischen Cafés der Stadt und am Strand von Pirita vergnügten. Diese Novelle wurde unter dem Titel »Mein jüngerer Bruder« (Moj mladšij brat, 1962) auch verfilmt, wobei als pittoreske Kulisse die Umzüge des estnischen Liederfests hinzukamen, um die kulturelle Fremdheit noch weiter zu steigern. Aksënov ließ die Novelle »Es ist Zeit, mein Freund, es ist Zeit« (Pora, moj drug, pora, 1964) folgen, in der vor allem der in vielen poetischen und zum Teil grotesken Sprachbildern beschriebenen Tallinner Altstadt ein eigenständiger Part zukommt.

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Während Aksënov nur seine Helden nach Tallinn schickte, suchte Sergej Dovlatov selbst eine Möglichkeit, sich an der Ostsee der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Von 1972 bis 1975 arbeitete er als Journalist in Tallinn, worüber er die Novellensammlung »Kompromiss« (Kompromis, 1981) schrieb, die freilich erst im Exil erscheinen konnte. Dovlatov war nicht an den Sehenswürdigkeiten der Stadt interessiert, sondern an ihrer »unerwarteten Gleichgültigkeit« ihm gegenüber. Ihm gefielen die Mündi-Bar in der Altstadt, das Gastspiel Oscar Petersons, der Whisky und das Hippodrom, aber vor allem, dass er sein Honorar an dem Tag erhielt, an dem seine Artikel gedruckt wurden, was er als einen der »blendenden Vorteile des Westens« bezeichnete. Dovlatov zufolge war Tallinn keineswegs zu sehr »Miniatur« oder gar »überzuckert«. Es sei eine sehr reale, eine vertikale und introvertierte Stadt: »Schaust Du Dir die gotischen Türme an, denkst Du über Dich nach«. Bei Dovlatov markiert Tallinn, die »unsowjetischste Stadt des Baltikums«, die Grenze zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Als sein Buch jedoch auch vom estnischen Staatsverlag kurz vor der Drucklegung abgelehnt wurde, siegte für ihn auch hier das Sowjetische. Zwei Jahre später folgte er Aksënov ins amerikanische Exil. Quelle: Aksjonow, Wassili: Fahrkarte zu den Sternen, Köln 1962; Ders.: Es ist Zeit, mein Freund, es ist Zeit, Stuttgart 1967; Dowlatow, Sergej: Der Kompromiss, Zürich 2008.

Die Jazzmetropole. Einen ganz eigenen Charakter nahm die Tallinner Jazzszene an. Nachdem die kulturpolitische Hexenjagd des Spätstalinismus das Saxofon als »westlich-dekadent« verdammt hatte, entwickelte sich aus bescheidenen Anfängen eine lebendige Subkultur, die für die ganze Sowjetunion Bedeutung erhielt. Die Geschichte der legendären Tallinner Jazzfestivals wird auf das Jahr 1949 zurückgeführt, doch waren dies eher private Treffen. Erst ab 1956 wuchsen diese nun meist jährlich veranstalteten gemeinsamen Auftritte zu größeren Veranstaltungen heran, an denen seit 1958 auch Ensembles aus Tartu teilnahmen. Der Jazz war nicht nur urkapitalistisch, sondern aufgrund seiner Improvisationslust für die Funktionäre unkontrollierbar. 1959 traten bereits Künstler aus Leningrad auf, und 1960 kamen Gäste aus dem ukrainischen L’vov (ukr. L’viv). 1961 war erstmals auch Moskau vertreten. Mit dem Auftritt des gefeierten schwedischen Pianisten Jan Johansson auf dem Festival 1966 erreichte dieses wahrhaft internationales Niveau, was für die Sowjetunion ein Novum war und Tallinn zu einer Pilgerstätte für Jazzenthusiasten werden ließ. Doch die Sensation, die Tallinn zur Legende werden ließ, ereignete sich erst im folgenden Jahr. »Tallinn-67« war pflichtschuldigst dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet – und war in gewissem Sinne revolutionär. Damals trat neben Johansson und weiteren schwedischen und finnischen 294  Tallinn im 20. Jahrhundert

Bands auch das renommierte »American Jazz Quartett« unter der Leitung von Charles Lloyd (u.a. mit Keith Jarrett) auf. Zwar war es bis zur letzten Minute nicht sicher, ob dieser Auftritt in der Kalev-Sporthalle auch tatsächlich zustande kommen würde, doch wurde er ein riesiger Erfolg. Am Ende wurden exakt 8:20 Minuten Ovation gemessen und »Columbia« produzierte 1970 sogar eine LP. Auch die sowjetische Plattenfirma »Melodija« veröffentlichte 1967 ein Doppelalbum inklusive eines Stücks der Amerikaner. Den Gralshütern der sowjetischen Kultur aber war diese Charmeoffensive des Westens angesichts der angespannten außenpolitischen Lage (Vietnam, Nahost) wohl doch zuviel. Zudem waren nicht nur Ensembles aus Moskau und Leningrad, sondern auch aus Baku, Chabarovsk, Kalinin (Tver’), Kujbyšev (Samara), L’vov, Novosibirsk, Riga, Tblisi, Tula und Vilnius vertreten, dazu zahlreiche Journalisten aus dem Westen. Man fürchtete nicht zu Unrecht, den sowjetischen Jazz nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen, zumal es nach Tallinner Vorbild bereits ähnliche Veranstaltungen in Moskau (1964) und Leningrad (1965) gegeben hatte. Allein, es gab auch unter dem seit 1964 amtierenden Staats- und Parteichef Leonid Brežnev kein offizielles Verbot. Nur der in der Stadtverwaltung für die Organisation der Festivals verantwortliche deutschstämmige Funktionär Heinrich Schultz verlor seinen Posten. Das für September 1968 geplante Festival fand jedoch nicht statt, obgleich es im Frühjahr sogar estnische Vorentscheidungen gegeben hatte. Einen Monat nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag war an ein internationales Jazz-Festival in Tallinn nicht zu denken. Ein weiterer Versuch, die Tradition des Jazz in Tallinn wiederzubeleben ergab sich im Zusammenhang mit den nach Tallinn vergebenen Olympischen Spielen. 1976 wurde in der »Kalev«-Sporthalle die »RhythmusRalley ’76« organisiert, die schon ihrem Namen nach die zugrunde liegende Absicht verschleiern sollte. Dabei wurden die Auftritte verschiedener Ensembles, darunter auch aus Riga und Moskau, von Interviews mit bekannten Sportlern eingerahmt. Zwar sollte das dem Jazz entwöhnte Publikum mit der Popgruppe »Apelsin« gelockt werden, doch ging der Plan nicht auf. Das Zuschauerinteresse war nicht so groß wie erhofft, und eine weitere »Rhythmus-Ralley« kam nie zustande. Als zu Beginn der 1980er Jahre unter dem Namen »Tudengijazz« (Studentenjazz) tatsächlich ein weiteres Festival organisiert wurde, hatte sich die offizielle Haltung zum Jazz gewandelt: Die von Rock und Punk begeisterte Jugend sollte nun mit dem Jazz in geordnete Bahnen des musikalischen Vergnügens geführt werden, wofür der Komsomol als Initiator zu sorgen hatte. Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Sport und Protest: Tallinn als Olympiastadt Vorbereitung der Spiele. Im Sommer 1980 fanden die olympischen Segelregatten in Tallinn statt. Ihre Planung und Durchführung ist vor allem mit Ivar Kallion verbunden, der von 1971 bis 1979 Vorsitzender des Tallinner Exekutivkomitees und damit Bürgermeister der Stadt war. Maßgeblich beteiligt waren für die Tallinner Stadtverwaltung zudem Kallions Stellvertreter Oleg Sapožnin und der stellvertretende Ministerratsvorsitzende der ESSR Arnold Green, der vor allem für die Kommunikation mit Moskau zuständig war. Kallion beantragte bereits unmittelbar nach dem Beschluss des sowjetischen Olympischen Komitees vom September 1971, sich für die Ausrichtung der Spiele 1980 zu bewerben, die Segelregatten nach Tallinn zu vergeben. Lange vor der endgültigen Entscheidung begann die Stadt mit den Vorbereitungen, zu denen neben einigen Werbefilmen in erster Linie die Planung solcher Bauten gehörte, die auch ohne die Olympischen Spiele errichtet werden sollten. Die einzige Ausnahme war das Segelsportzentrum in Pirita, das aber ebenfalls auf einen Gebrauch nach den Spielen angelegt war. Neben der durch eine Reihe von internationalen Regatten ausgewiesenen organisatorischen Erfahrung Tallinns und den Qualitäten des Segelreviers waren diese Vorbereitungen ausschlaggebend gegenüber der innersowjetischen Konkurrenz – Leningrad, Riga, Klaipėda, Odessa, Sevastopol’ und Soči. Ende 1973 gab Moskau bekannt, dass die Segelwettbewerbe in Tallinn stattfinden würden, sollten die Spiele in die UdSSR vergeben werden. Der erste Schritt war damit getan. Im Oktober 1974 entschied das IOC die Moskauer Bewerbung positiv. Nun konnten die Vorbereitungen mit dem konkreten Ziel vor Augen weitergehen. Die zu diesem Zeitpunkt bereits fortgeschrittenen Planungen für das Segelsportzentrum hatten entscheidende Impulse durch eine abenteuerliche Fahrt dreier mit dem Projekt betreuter Personen nach Kiel erhalten. Einer der drei, Stadtarchitekt Bruns, hatte bereits zuvor Kontakte zu Hamburger Architekten knüpfen können, die diese Reise erst ermöglichten. Bruns und seine Kollegen schlossen sich im Mai 1972 einer sowjetischen Delegation an, die einem Fussballspiel zwischen der BRD und der UdSSR (3:1) aus Anlass der Eröffnung des Münchener Olym­piastadions beiwohnen wollten. Auf eigene Faust und auf Kosten der Hamburger Kollegen reisten die Tallinner nach Norden, wo sie in Hamburg einen Vortrag hielten und in Kiel das Olympiazentrum Schilksee inspizierten. Abgesehen davon, dass sich aus diesen Kontakten 1977 auch die bis heute bestehende Städtepartnerschaft zwischen Kiel und Tallinn entwickeln sollte, hatten die Verantwortlichen 296  Tallinn im 20. Jahrhundert

nun einen genauen Überblick über die bevorstehende Arbeit. Im Mai 1973 wurde ein Architekturwettbewerb für das Segelzentrum in Pirita ausgeschrieben, aus dem die markante Arbeit eines jungen Teams als Sieger hervorging, dem allerdings später erfahrenere Kollegen mit Henno Sepmann an der Spitze vorgesetzt wurden. Der Grundstein für dieses Projekt, das auch das Olympische Dorf in From eines später als Hotel zu nutzenden Komplexes vorsah, wurde im Mai 1976 gelegt. Die Planung für die gesamten Bauvorhaben lag in den Händen von Bruns, dem Architekten Lorenz Haljak und der Ingenieurin Reet Jalak. Die Finanzierung war dabei bis Ende 1974 unklar, sodass die Planungen am Ende ein Volumen von 600 Millionen Rubel umfassten. Enthalten war hierin auch der Plan einer Schnelltramm inklusive der Untertunnelung der Altstadt, um für die Verhandlungen Kürzungsmöglichkeiten zu haben. Im Juni 1974 hatte Tallinn eine hochrangige Delegation unter Leitung des Krupp-Aufsichtsratsvorsitzenden und IOC-Mitglieds Berthold Beitz (*1913) zu Gast. Bruns’ Erinnerungen zufolge zeigte sich Beitz von den Planungen für das Olympiazentrum begeistert, äußerte aber den Wunsch, am 24. Juni morgens ein Orgelkonzert im Dom hören zu können. Auch wenn die traditionelle Johannisnacht in der Sowjetunion kein offizieller Feiertag war, erwies es sich doch als schwierig, einen Organisten aufzutreiben, der auf eine allzu intensive Feier verzichten würde, doch erklärte sich schließlich Rolf Uusväli bereit. Beitz sei von nun an überzeugt gewesen, dass Tallinn die Regatten erfolgreich durchführen würde, erinnerte sich Bruns. Tatsächlich war Beitz’ Unterstützung auch für ein weiteres Projekt der Olympiabewerbung von Vorteil: Unter den während der deutschen Besatzung nach Deutschland verbrachten Beständen des Tallinner Stadtarchivs befanden sich viele Dokumente, die für eine sachgerechte Restauration der historischen Altstadt notwendig waren. Beitz ließ einen Mikrofilm der gewünschten Archivalien anfertigen und schickte ihn in die Sowjetunion. Bruns bezeichnete dies als den ersten Tallinner Olympiasieg. Tallinn wurde so für wenige Sommertage tatsächlich zum »Schaufenster« der Sowjetunion. Einer internen Anweisung zufolge sollten bei den Spielen an der Ostsee, die unter dem Moto des 40. Geburtstags der ESSR stattfanden, drei Themen propagandistisch herausgestrichen werden: Die Olympiade als »Instrument des Friedens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit der Völker«, was gut in die Strategie des Kreml passte, die Ostsee zum »Meer des Friedens« zu erklären. Zudem sollte auf Tallinner Straßen Moskau als »Olympiastadt« und »Herz« der UdSSR propagiert werden. Drittens ging es darum, die »Entwicklung unserer Republik« und der BruTallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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derrepubliken in ein positives Licht zu rücken: Tallinn sollte Werbung für den Sozialismus à la Sowjetunion machen. Schließlich rechnete man mit Zehntausenden von Besuchern gerade auch aus den kapitalistischen Ländern. Dass die Gästezahl deutlich niedriger war als veranschlagt, ist bekannt. Als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 boykottierten einige NATO-Länder, allen voran die USA und die BRD, die Moskauer Sommerspiele, während andere, wie etwa Frankreich und Großbritannien, ihren Sportlern die Teilnahme freistellten. Schon seit der Vergabe der Segelwettbewerbe nach Tallinn hatten estnische Emigrantenorganisationen die westlichen Regierungen aufgefordert, die Olympiade »auf besetztem Boden« nicht zu unterstützen. Im Ergebnis des Boykotts nahmen nur 23 Staaten an den sechs Segelwettbewerben teil (1976 in Kingston: 40), von denen 17 unter ihrer Landesfahne aufliefen, die übrigen – Dänemark, Irland, Italien, Niederlande, Schweiz, Spanien – unter der olympischen Flagge. Immerhin errangen die Esten bei »ihren« Spielen einen symbolischen Sieg: Für den Finnen Esko Rechardt, der die Goldmedaille in der Finn-Klasse errang, erklang die finnische Nationalhymne, deren Melodie mit der estnischen identisch ist. Der Streit, ob es notwendig gewesen sei, die olympischen Regatten unter den Bedingungen der Fremdherrschaft durchzuführen, hält bis heute an. Ein gewichtiges Argument pro Olympia stellt dabei heraus, dass man sich dadurch zahlreiche Persönlichkeiten in der kapitalistischen Welt zu wertvollen Freunden gemacht hätte, da ja Sportfunktionäre wie Beitz oft zugleich Hobbyskipper und Wirtschaftskapitäne seien. Zudem hätten über zwei Miliarden Fernsehzuschauer auf diesem Wege erstmals von Estland und seiner politischen Lage gehört. Wesentlich aber waren wohl die gigantischen Investitionen aus dem Unionsbudget, die in Tallinn verbaut wurden. So sind zusätzlich zu den vom Fünfjahresplan vorgesehenen Geldern 223 Milionen Rbl. (über 300 Millionen Euro) in die Stadt geflossen und zahlreiche notwendige Bauten schneller errichtet worden, als es ohne Olympiade möglich gewesen wäre. Zu diesen von diversen Unionsministerien finanzierten Projekten gehörten der neue Passagierhafen, der Fernsehturm, der Flughafen und der Ausbau der Straße Leningrad-Tallinn-Riga. Zudem erhielt Tallinn ein neues Hauptpostamt gegenüber dem Hotel »Viru«, ein weiteres, 27-stöckiges Hotel mit dem sprechenden Namen »Olüm­pia« sowie einen Ausbau der Straße nach Pirita, der eine neue Brücke über den Fluss einschloss. Pirita wurde um eine Telefonzentrale, ein Strandzentrum und den Ausbau der Klosterruine St. Brigitten zu einer Freiluftbühne bereichert, was Moskauer Funktionäre erbost 298  Tallinn im 20. Jahrhundert

haben soll – für die erste Olympiade in einem sozialistischen Land bauen die Esten ein Kloster! Hinzu kam die massive Stadthalle am Tallinner Hafen, die einen Saal für knapp 5.000 und eine 1981 fertiggestellte Eissporthalle für 3.000 Zuschauer umfasst. Ihrer Form nach an einen flachen Majatempel gemahnend, versperrte sie nicht den Seeblick auf die Altstadt und erinnerte entfernt an die Bastionen der Schwedenzeit. Olympia brachte zudem zahlreiche Neubaukomplexe an der Narva mnt., Verwaltungsgebäude und einige neue Cafés, darunter eines im Neitsitorn (Mägde- oder Mädchenturm) an der Stadtmauer. Im Zuge der von polnischen Restauratoren mit Hilfe der von Beitz beschafften Archivmaterialien durchgeführten Altstadtsanierung wurden über 430 Gebäude renoviert und neu angestrichen. In der »Dicken Margarete« (vgl. Taf. XVI) wurde ein Schifffahrtsmuseum eingerichtet und in einem alten Klostergarten ein Museum für angewandte Kunst. Auch die Nikolaikirche, die seit den 1950er Jahren renoviert wurde, erhielt 1974 einen Turm und wurde in ein Museum und Konzertsaal umgebaut, der nach einem Feuerschaden erst Anfang der 1980er Jahre eröffnet wurde. Zuletzt wurde auch das Kanalisationssystem der Stadt von Grund auf erneuert, um die in die Tallinner Bucht geleiteten Abwässer modernen Standards gemäß zu reinigen. An vielen der für diesen gewaltigen Umfang notwendigen einfacheren Arbeiten waren zudem nach sozialistischer Tradition die Tallinner selbst beteiligt: Mehr als 190.000 Menschen sollen insgesamt 1,175 Millionen Stunden gearbeitet haben. Olympia und der anti-sowjetische Protest. In Estland gab es keine wirklich einflussreiche Dissidentenbewegung, die gegen die Spiele mobilisiert hätte. Die nach Moskau gelangten Stimmungsberichte sprechen jedoch von Beginn an von »anti-sowjetischen« Ansichten im Land. Was nach dem Krieg als schädliche Überreste aus der burgeoisen Vergangenheit abgetan werden konnte, wurde jedoch chronisch – und das vor allem bei der Jugend. Sei es nun die 1945 in einer Tallinner Schule aufgedeckte »Widerstandsgruppe« namens »Altes Kamtschatka«, deren Aufmüpfigkeit sich in ungebührlichen Fragen an die Lehrer erschöpfte, seien es die zahlreichen Sympathieäußerungen von Schülern oder Studenten für die Ungarn und Tschechen 1956 bzw. 1968, oder sei es die 1961 in der Tallinner Realschule gegründete »Allgemeindemokratische Schülerpartei«, deren Mitglieder den Komsomol boykottierten – all diese Formen des Jugendprotestes zeigten, wie wenig Anklang die Ideologie bei Teilen der nachwachsenden Generation fand. Im August 1957 ereignete sich in einem Nahverkehrszug Tallinn – Pääsküla der erste in den Akten des Moskauer Politbüros nachgewiesene Gewaltakt in den baltischen Sowjetrepubliken auf ethnischer Grundlage, als drei junge Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Esten drei Russen, darunter einen Uniformierten, verprügelten und »Haut die Russen« brüllten. Die Täter gaben zu Protokoll, dass sie Russen und besonders Rotarmisten nicht ausstehen konnten. Vorfälle dieser Art wurden in Moskau penibel registriert. Aber die Jugend blieb Trägerin des Protests, der sich zuweilen im Tragen von Bändchen in den Nationalfarben blau-schwarzweiß an estnischen Gedenktagen ausdrückte, zuweilen aber auch zeittypische Formen annahm: Das Tragen von teksad ( Jeans) und langen Haaren empörte jedoch die ältere Generation unabhängig von Parteibuch oder ethnischer Zugehörigkeit. Dass auch in Estland jungen Männern ihre langen Haare Ende der 1960er Jahre öffentlich abgeschnitten wurden, kann man in Viivi Luiks »Ajaloo ilu« (1991, Die Schönheit der Geschichte, dt. 1995) nachlesen. In Estland hatte Protest aber auch einen nationalpolitischen Hintergrund. Nicht zuletzt aufgrund der gigantischen Baumaßnahmen für die Olympiade stieg der Zuzug von Menschen aus den übrigen Teilen der Sowjetunion in den 1970er Jahren wieder an, sodass die Esten 1979 nur noch knapp 52% der Bevölkerung Tallinns stellten. Diese Spannung entlud sich im Herbst 1980 bei einem als Abschluss des Olympiajahres gedachten Fussballspiel aus Anlass des 25. Jubiläuns des Estnischen Fernsehens, bei dem Radiojournalisten gegen ihre Fernsehkollegen im Dünamo-Stadion in Kadriorg antraten. Als besonderen Clou hatten die Veranstalter die populäre Band »Propeller« eingeladen, deren Musik eine Art Agit-P(r)op-Punk darstellte, die vor allem von Sprache, Rhythmus und der exaltierten Präsentation ihres Sängers Peeter Volkonski lebte. Zu allem Überfluss fand das Fussballspiel am 22. September statt, dem Jahrestag der »Befreiung« Tallinns 1944. So fanden sich zahlreiche Schüler, die zuvor an einer Pflichtveranstaltung an der nahe gelegenen Gedenkstätte Maarjamäe teilgenommen hatten, im Stadion ein, um »Propeller« zu sehen. Verschiedene Angaben sprechen von gut vier- bis zu über sechstausend Zuschauern, das Stadion war jedenfalls voll. Die Band spielte in der Pause des Matches, doch fiel der zugesagte Auftritt nach dem Spiel auf Betreiben der TV-Führung aus – schon während der Pause hätten einige undisziplinierte Jugendliche die Darbietung mit Schreien und Pfiffen begleitet. Und das am 22. September. Aber es wurde noch schlimmer, als einige Zuschauer nun auf die Laufbahn sprangen und lautstark die Fortsetzung des Konzertes forderten, aber von der Miliz gewaltsam ausein­andergetrieben wurden. Daraufhin formierte sich ein Demonstrationszug von mehreren Hundert Jugendlichen, die entlang der Narva mnt. in die Stadt zogen und »Brežnev in Rente« oder »Sieg heil« (man wusste nur zu gut, was die sowjetischen Ordnungs300  Tallinn im 20. Jahrhundert

hüter provozierte) skandierten und an einem Gebäude die sowjet-estnische Fahne herunterrissen. Die Miliz sperrte die Seitenstraßen, filmte die Demonstranten, löste den Zug am Viru-Tor gewaltsam auf und verhaftete über Hundert Schüler. Einigen gelang es noch, auf dem Domberg Regierungsgebäude mit Steinen zu bewerfen, bevor sie verhaftet wurden. Im Ergebnis wurden einige Schüler ihrer Schule verwiesen und »Propeller« wurde aufgelöst, offiziell, weil man in ihrem Repertoire Texte mit »nationalistischen Motiven« entdeckt hatte. Doch blieb diese Machtdemonstration des Regimes nicht unbeantwortet. Am 1. Oktober versammelten sich erneut über 2.000 Jugendliche mit blau-schwarz-weißen Bändchen oder Abzeichen. Diesmal forderten sie »Freiheit für Estland« und riefen »Russen raus aus Estland«. Nach ungefähr anderthalb Stunden hatte die Miliz die Situation wieder im Griff, doch versammelten sich auch am 3. Oktober einige Hundert Schüler am Stadion. Allerdings zeitigten die Tallinner Jugendkrawalle und vor allem der vergleichsweise brutale Umgang der Organe mit ihnen nicht nur öffentliche Solidaritätsbekundungen in anderen estnischen Städten, sondern auch eine Reaktion unter den Intellektuellen. Vierzig von ihnen, darunter die erwähnten Schriftsteller Kaplinski, Rummo, Unt und Viiding, unterzeichneten einen offenen Brief – den »Brief der 40« –, in dem die Ereignisse der zurückliegenden Wochen zum Anlass genommen wurden, die Unsicherheit der Esten in Bezug auf ihre Zukunft auszudrücken. Im Grunde ging es um die seit Mitte der 1970er Jahre vermehrt aufgetretene Tendenz zur »Russifizierung« des öffentlichen Lebens – hatten nicht zuletzt auch die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der ESSR ausschließlich auf Russisch stattgefunden? Kritisiert wurden die demographische Situtation, in der die Esten in ihrer Hauptstadt zur nationalen Minderheit wurden, die Verdrängung der estnischen Sprache in vielen Bereichen, die Propagierung der Zweisprachigkeit für Esten (aber nicht für Russen), die Betonung des russischen Anteils an der estnischen Geschichte, die Bevorzugung von Nicht-Esten bei der Besetzung wichtiger Posten, aber auch die Forcierung der extensiven, von Moskau gesteuerten Industrialisierung auf Kosten der Umwelt der Republik. Somit sprach dieser Brief all dies an, was während der »Singenden Revolution« nach 1987 nicht allein Schüler und Intellektuelle mobilisieren sollte. Der »Brief der 40« wurde an einige sowjetische Presseorgane geschickt, die ihn natürlich ignorierten. Veröffentlicht wurde er aber im Westen, zunächst in der estnischen Exilpresse in Stockholm; dank der Verlesung des Briefes auf »Radio Free Europe« und »Voice of America« wurde er schließlich im ganzen Ostblock bekannt. Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Die Folgen für die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner hielten sich indes in Grenzen. Kaplinskis Wohung wurde durchsucht, vier Personen wurden entlassen und einige gezwungen, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Es sollte nicht allzu viel Staub aufgewirbelt werden. Allerdings ging der KGB in den Folgejahren unter Brežnevs Nachfolgern, dem ehemaligen KGB-Chef Jurij Andropov und dem Übergangskandidaten Konstantin Černenko härter gegen estnische Systemkritiker wie etwa die in Tallinn als Architektin tätige Lagle Parek vor, die 1983 zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Tallinn als Ort der »Singenden Revolution« Die Wahl von Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 leitete eine innenpolitische Wende ein, deren Konsequenz jedoch, das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, nicht absehbar war. Gerade in den baltischen Sowjetrepubliken fiel der neue Kurs auf fruchtbaren Boden. In der ESSR hatte es 1978 einen Führungswechsel gegeben. Käbin, der sich mit den Jahren von einem treuen Stalinisten zu einem flexiblen Republikschef entwickelt hatte, vertrat die Belange des ökonomisch erfolgreichen Estland offenbar zu offensiv, weswegen er sich mit dem Vorwurf des anwachsenden »Nationalismus« konfrontiert sah und schließlich durch den moskautreuen Karl Vaino ersetzt wurde. Vaino war ein aus Sibirien stammender Este, der in Moskau Karriere gemacht hatte, Estland kaum kannte und nun erklärte, dass die Belange der Union gegenüber lokalen Vorstellungen Vorrang hätten. Gegen diese Haltung hatte sich nicht nur der »Brief der 40« gerichtet, sondern sie provozierte nach Gorbatschows Machtantritt auch die ersten öffentlichen Proteste, die sich aus ökologischen Gründen gegen zentral gesteuerte Projekte wie den forcierten Phosphoritabbau in Nordestland und die Erweiterung des Tallinn vorgelagerten Industriehafens Muuga wandten. Aus diesen national-ökologischen Protesten des Jahres 1987, die sich auch gegen den durch diese Projekte forcierten Zuzug von Nicht-Esten richteten, entstand die estnische »Grüne Bewegung«. Es war durchaus noch mit dem Geist der von Gorbatschow angestoßenen Reformen zu vereinbaren, dass der Phosphoritabbau tatsächlich im Herbst 1987 gestoppt wurde. Nicht zuletzt aufgrund dieses unerwarteten Erfolges, der durchaus als Schwäche des Zentrums interpretiert wurde, nahmen die weiteren Entwicklungen einen zunehmend ambivalenten Charakter an, der eine damals weitgehend utopisch anmutende Sezession nun nicht mehr ausschloss. Am 23. August 1987 demonstrierten über 2.000 Menschen 302  Tallinn im 20. Jahrhundert

im Hirve-Park am Domberg gegen den Hitler-Stalin-Pakt, dessen Geheime Zusatzprotokolle der Kreml bekanntlich nicht anerkannte. Auch diese, u.a. von Parek mitorganisierte öffentliche Erinnerung an die viel beschworenen »weißen Flecken« der Geschichte konnte einerseits noch mit den Prinzipien der Glasnost in Einklang gebracht werden, doch stieß sie andererseits bereits an die Frage der Rechtmäßigkeit der Sowjetmacht in Estland. Anfang September veröffentlichten vier Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler – Siim Kallas, Tiit Made, Edgar Savisaar, Mikk Titma – einen Plan für ein »selbstwirtschaftendes Estland« (Isemajandav Eesti, kurz IME: estn. »Wunder«), der ebenfalls die Ideen der Pere­strojka beim Wort nahm, schließlich waren die Autoren Parteimitglieder, aber doch im Grunde bereits an Autonomie dachte. Im Dezember wurde in Tallinn als erste demokratische Massenorganisation der Estnische Denkmalschutzverein (Eesti Muinsuskaitse Selts) unter Leitung von Trivimi Velliste gegründet, dem neben der Pflege des kulturellen Erbes auch die Rehabilitierung der estnischen Geschichte am Herzen lag. Zwar warnte Vaino, dessen Position noch Anfang 1987 durch einen Besuch Gorbatschows gestärkt worden war, man dürfe nicht mehr ständig alles erlauben, doch verstand im Jahr darauf auch die Miliz, dass sie die mehr als tausend Teilnehmer einer unangemeldeten Demonstration zum Jahrestag der estnischen Unabhängigkeitserklärung am 24. Februar ohne massive Gewaltanwendung nicht mehr unter Kontrolle bringen würde. Es war ein schleichender Autoritätsverlust, und 1988 wurde das Jahr der großen Massenmobilisierung der Esten. Anfang April forderten die Kulturschaffenden auf ihrem Plenum in Tallinn mehr Autonomie, ein Ende der Immigration und Vainos Rücktritt. Am 13. April formulierte Savisaar in einer Live-Sendung des Estnischen Fernsehens den Gedanken einer »Volksfront« (Rahvarinne) zur Unterstützung der Perestrojka als einer legalen demokratischen Oppositionsbewegung, der enthusiastisch aufgenommen wurde und auch in anderen Sowjetrepubliken Nachahmung fand. Kurz darauf wurde allerdings in Tallinn – auch als Resultat der Anti-Alkoholkampagne Gorbatschows – Zucker rationiert. Als am 1./2. Oktober in der Stadthalle der Gründungskongress der Volksfront zusammentrat, hatte sich das Land bereits entscheidend verändert. In Tartu waren auf den Denkmalschutztagen im April und auf einem Muskikfest im Mai blau-schwarz-weiße Fahnen gezeigt worden. Erstmals erklangen hier Alo Mattiisens rockige Vertonungen von fünf patriotischen Gedichten aus dem 19. Jahrhudert, darunter das auf Karl August Hermann und Matthias Johann Eisen zurückgehende »Eestlane olen ja eestlaseks Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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jään« (Este bin ich, Este bleibe ich), das zu einer der Hymnen der »Singenden Revolution« werden sollte. Unter dem Motto dieses Liedes standen die nächtlichen Liederfeste in Tallinn. Sie gingen aus den Altstadttagen (10. bis 14. Juni) hervor, deren Konzerte auf dem Rathausplatz recht früh endeten, weshalb die Idee entstand, die »weißen Nächte« zu nutzen und an der Liederfestbühne weiter zu singen. Am letzten Abend – dem Jahrestag der Deportationen von 1941 – nahmen mehr als 100.000 Menschen in einem Meer von estnischen Fahnen teil, und die Feste gingen noch einige Zeit weiter. Drei Tage später erschien im Kulturblatt »Sirp ja Vasar« ein Artikel des Künstlers Heinz Valk unter dem Titel »Laulev revolutsioon« (Singende Revolution). Damit hatte die Unabhängigkeitsbewegung ihren Namen und eine Mission: friedlich bleiben. Nach diesen durchsungenen Nächten gab es aber auch keinen Weg mehr zurück. Erneut zeigte die Macht ihre Schwäche. Am 16. Juni wurde Vaino durch Vaino Väljas ersetzt, der 1980 aus dem ZK der EKP in den diplomatischen Dienst nach Mittelamerika abgeschoben worden war. Dieser Schachzug hatte auch damit zu tun, dass die Volksfrontaktivisten für den 17. Juni zu einer Veranstaltung auf die Liederfestbühne gebeten hatten und man ihrer Agitation den Stachel nehmen wollte. Offiziell war diese Veranstaltung, die nun mit 150.000 Teilnehmern zu einer Art Siegesfeier wurde, der Verabschiedung der estnischen Delegation zur 19. Parteikonferenz in Moskau gewidmet, der dabei deutlich gemacht wurde, dass sie für estnische und nicht für Unionsinteressen einzustehen hätte. Die sowjet-estnische Führung erklärte am 23. Juni blau-schwarz-weiß zur Staatsfahne und lockerte die Zensur. Am 10. August druckte die Tageszeitung »Rahva Hääl« (Stimme des Volkes) erstmals in der UdSSR den vollen Wortlaut des Hitler-Stalin-Paktes und seiner Zusatzprotokolle samt eines ausführlichen Kommentars des Historikers Heino Arumäe, wenig später folgte der Text auch auf Russisch in der »Sovetskaja Ėstonija« (Sowjetisches Estland) und gelangte in die Presseorgane anderer Republiken. Zunächst aber ging die nationalpolitische Mobilisation weiter. Ende August fand erstmals der »Rock Summer« statt, auf dem Mattiisens Lieder erneut gefeiert wurden, aber wo neben der damals erfolgreichen schottischen Band »Big Country« auch die britische Punk-Legende Johnny Rotten ( John Lyndon) mit seiner Band »PIL« ein erstes Gastspiel in der UdSSR gab. Am 11. September organisierte die Volksfront den Liederabend »Eestimaa Laul« (Estländisches Lied), an dem wohl 250.000 bis 300.000 Menschen teilnahmen. Hier forderte Velliste erstmals öffentlich die Wiederherstellung der Unabhängigkeit, und Valk formulierte seinen sprichwörtlich 304  Tallinn im 20. Jahrhundert

gewordenen Satz »Irgendwann siegen wir sowieso!« Am Ende dirigierte der mittlerwiele 80-jährige Ernesaks den riesigen Chor zu seiner Hymne »Mu isamaa«. Als wenige Tage nach dem von Fackelzügen durch die Altstadt begleiteten Gründungskongress der Volksfront die beiden estnischen Goldmedaillengewinner der sowjetischen Mannschaft bei den Sommerspielen von Seoul, Erika Salumäe (Bahnsprint) und Tiit Sokk (Basketball), auf dem Rathausplatz gefeiert wurden, entwarf der Volksfrontaktivist und Literaturwissenschaftler Rein Veideman vor der versammelten Menge die Vision, in vier Jahren ein eigenes estnisches Team nach Barcelona zu entsenden. Was damals noch utopisch erschien, wurde 1992 tatsächlich Wirklichkeit – und Salumäe gelang es, ihren Erfolg von Seoul zu wiederholen. Doch damit waren die Tage der Einigkeit vorbei, zumindest was den Weg anging, zu mehr Autonomie oder gar Eigenständigkeit zu gelangen. Während es der Volksfront gelang, die politische Initiative zu übernehmen und die EKP in Anhänger und Befürworter des Reformkurses zu spalten, entstand im August als erste oppositionelle Partei der Sowjetunion die Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei (Eesti Rahvusliku Sõltumatuse Partei, ERSP), deren Vorsitz Parek übernahm. Nun stimmte am 16. November der estnische Oberste Sowjet mit großer Mehrheit für eine Souveränitätserklärung, die das Republiksrecht über Unionsrecht stellte. Dabei waren von 285 Delegierten 202 Parteimitglieder bzw. Kandidaten, nur 186 waren Esten, doch schlug sich der Stalinismus mancher Altabgeord­neter bei dieser Gelegenheit selbst: Man konnte doch nicht gegen den Ersten Sekretär stimmen! Zwar war dies keine Sezessionserklärung, doch enthielt die Deklaration die Forderung, die Beziehungen mit dem Zentrum neu zu justieren. Damit war aber auch der Konflikt mit Moskau eingeläutet: Gorbatschow lud Arnold Rüütel, der als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets nominelles Staats­ober­haupt war, Ende November in den Kreml, um vor Millionen von Fernseh­zuschauern an ihm und dem estnischen »Sepa­ratismus« ein Exempel zu statuieren und die Erklärung vom 16. November als verfassungswidrig zu verurteilen. Zwar blieb die EKP hart und nahm die Kritik zur Kenntnis, ohne in der Sache wankelmütig zu werden; zugleich aber machten sich in Estland erstmals auch pro-sowjetische Kräfte bemerkbar, die vor allem auf Rückhalt unter den Nicht-Esten im Nordosten des Landes und in der Hauptstadt zählen konnten: Die »Interfront« hatte sich seit dem Sommer 1988 formiert und hielt im März 1989 ihren ersten Kongress in Tallinn ab. Sie protestierte gegen das im Januar verabschiedete Sprachgesetz, das Estnisch zur einzigen Staatssprache erklärte, und gegen den symbolischen Akt, am Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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24. Februar auf dem »Langen Hermann« die sowjet-estnische Fahne durch die estnische Trikolore zu ersetzen – eine Zeremonie, an der nicht nur Regierung und Volksfront, sondern auch der kommunistische Parteichef und der evangelisch-lutherische Erzbischof teilnahmen. Am selben Tag traten die ERSP und der Denkmalschutzverein mit der Idee hervor, Bürgerkomitees zu bilden, um alle Staatsbürger der 1940 okkupierten Republik zu registrieren und auf dieser Grundlage diesen Staat, der juristisch nie aufgehört habe zu bestehen, wiederherzustellen; eine Konzeption, die nicht nur in der EKP, sondern auch von der Volksfront zunächst angezweifelt wurde. Bei der Wahl zum sowjetischen Volksdeputiertenkongress im März, welche für die ERSP einer Anerkennung der Sowjetmacht in Estland gleichkam, weshalb sie zum Boykott aufrief, errangen die Vertreter der Volksfront einen überwältigenden Sieg: Von den 47 Delegierten der ESSR gehörten über 40 dem reformorientierten Lager an. In Moskau arbeiteten sie vor allem mit den lettischen und litauischen Volksfrontvertretern zusammen, aber auch mit den russischen demokratischen Führungsfiguren, die sich in der »Interregionalen Gruppe« zusammengeschlossen hatten. Hier sollte der HitlerStalin-Pakt verurteilt werden, was im Dezember 1989 tatsächlich erreicht wurde. Die Erklärung, die Klauseln des Paktes und seiner Zusatzprotokolle seien null und nichtig, hatte jedoch keinen Einfluss auf Moskaus Haltung zur »baltischen Frage«. Diese hatte sich zudem durch die Reaktion des Kreml auf den »Baltischen Weg« verschärft. Am 23. August 1989, ein halbes Jahrhundert nach dem Pakt der Diktatoren, organisierten die drei Volksfronten eine 600 km lange Menschenkette zwischen Tallinn, Riga und Vilnius, an der bis zu zwei Millionen Menschen teilnahmen. Diese friedliche Massendemonstration erregte selbst im an wegweisenden Ereignissen nicht armen »annus mirabilis« 1989 internationale Aufmerksamkeit, doch reagierte der Kreml überaus gereizt und erklärte die Menschenkette zum »Ausdruck nationalistischer Hysterie«. Die Fronten verhärteten sich. Die Volksfront nahm Abschied von der Idee eines neuen Unionsvertrags und Kurs auf die Unabhängigkeit. Unter der Leitung von Tunne Kelam organisierten die Bürgerkomitees ihrerseits am 24. Februar 1990 Wahlen zum »Estnischen Kongress«, einer Vertretung aller Bürger Estlands vor 1940 und ihrer Nachkommen, unabhängig von ihrem Wohnort, an denen knapp 600.000 »legale« Bürger teilnahmen. Auf seiner ersten Sitzung am 10./11. März wählte der Kongress ein Exekutivorgan mit Kelam an der Spitze. Zugleich preschte Litauen vor und erklärte am 11. März seine volle Unabhängigkeit. Im Schatten des nun verschärften Konflikts zwischen Vilnius und Moskau wählte Estland am 18. März einen 306  Tallinn im 20. Jahrhundert

neuen Obersten Rat, wobei die Volksfront die Mehrheit zwar verfehlte, aber als stärkste Fraktion mit Savisaar den neuen Ministerpräsidenten stellte, der von den Reformkommunisten unterstützt wurde. Kurz darauf spaltete sich die EKP nach litauischem Vorbild auf ihrem 20. Kongress in eine zentristische und eine reformorientierte Gruppierung, aus der im September unter Leitung von Marju Lauristin die Sozialdemokratische Partei entstand. Zu diesem Zeitpunkt waren von den einst 110.000 Kommunisten nur noch 25.000 übrig, von denen 20.000 zur moskautreuen Fraktion gehörten. Das verfassungsgemäße Monopol der Kommunisten war in der ESSR binnen Monaten implodiert. Ende März erklärte das neue Parlament eine zeitlich nicht konkretisierte »Übergangsperiode« zur Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Estlands und setzte Anfang Mai die alten Staatsinsignien wie die Nationalhymne »Mu isamaa, mu õnn ja rõõm« (Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude) wieder ein; zugleich hieß der Staat wieder Estnische Republik. Damit hatte sich die Führung des Landes unter dem wütenden Protest Moskaus die Argumentation der ERSP und der Bürgerkomitees von der Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit zueigen gemacht. Auf dieser Grundlage suchte der neue Außenminister Lennart Meri, der zuvor als Filmemacher und Buchautor die finnougrische Identität der Esten als uraltes Naturvolk popularisiert hatte, sofort die Bindung an die westlichen Staaten in der Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe. Die Umsetzung des IMEPro­gramms, das eine sukzessive Freigabe der Preise vorsah, schuf indes eine grassierende Inflation und die Not­wendigkeit, die meisten Lebensmittel und Gebrauchsgüter per Kartensystem zu rationieren. In der Folge wurde es immer schwieriger, den schwelenden Gewaltausbruch zu vermeiden. Am 15. Mai hielt die »Interfront« auf dem Domberg eine Kundgebung ab, in deren Verlauf die Demonstranten versuchten, die sowjet-estnische Fahne auf dem Dach des Regierungsgebäudes zu hissen und sogar mit Gewalt in den Schlosshof eindrangen. Ministerpräsident Savisaar erklärte über das Radio, der Domberg werde angegriffen, woraufhin in kürzester Zeit Tausende Menschen zu Hilfe eilten. Nun sassen die Demonstranten in der Falle des Schlosshofes, da der Ausgang von den Anhängern der Regierung blockiert war. Allen Beteiligten war klar, dass wenn jetzt etwas passiert, der ganze Prozess der friedlichen Revolution umsonst gewesen sein könnte, da sich dem Kreml so ein hervorragender Vorwand geboten hätte, gewaltsam einzuschreiten. Nach den Erinnerungen Meris wandte sich plötzlich »ein Mitglied des Obersten Sowjet von Estland, ein russischer General« an die Demonstranten. Ihm sei es »mit Donnerstimme und imponierendem Tallinn als Hauptstadt der Sowjetrepublik Estland 

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Auftritt« gelungen, die Menschen zu beruhigen und einen Zusammenstoß zu verhindern. Dann erschien Savisaar und bat die Esten, vor dem Tor eine Gasse zu bilden. Tatsächlich konnten die Demonstranten auf diese Weise abziehen. Savisaar und Lauristin bedankten sich bei ihren Anhängern, die ihrer Regierung »mit Verstand, Gesang und Herz« beigestanden hätten. In den Unionsbetrieben begann nun aber eine Serie von Streiks, und das Zentrum versuchte, mit wirtschaftlichen Maßnahmen die baltischen Republiken zur Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrags zu bewegen. Gewalt blieb Tallinn jedoch auch erspart, als Innenministeriumstruppen am 13. Januar 1991 in Vilnius und am 20. in Riga versuchten, die Medienzentren und andere strategische Gebäude zu besetzen, wobei 21 Menschen ums Leben kamen. Dabei spielte der Vorsitzende des Obersten Sowjets der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik, Boris Jelzin, eine bedeutende Rolle, da er am 13. Januar in Tallinn eine gemeinsamen Erklärung mit Estland, Lettland und Litauen über die gegenseitige Anerkennung der Souveränität unterschrieb und Gewaltanwendung verurteilte. Der Sowjetunion ging allmählich ihr Territorium abhanden. Im August 1991 sollte in Moskau ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden, doch waren die baltischen Republiken und Georgien schon nicht mehr dabei. Ein Referendum in Estland hatte am 3. März ergeben, dass bei einer Beteiligung von ca. 83% über 77% für die Unabhängigkeit waren, darunter ein erheblicher Teil der Nicht-Esten. Mit dieser Unterstützung im Hintergrund konnte die Reaktion auf den Putschversuch in Moskau am 19. August nur sein, die Übergangsperiode für beendet zu erklären und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit auszurufen, was das Parlament mit 69:0 Stimmen am 20. August auch tat. In diesen Stunden aber hing erneut die Gefahr in der Luft, dass das Militär den Moskauer Putsch unterstützen könnte. Menschen versammelten sich zum Schutz auf dem Domberg, am Radiohaus und am Fernsehturm, wo die Lage so kritisch war, dass jede Minute mit dem Sturm gerechnet werden musste. Zum Glück behielten auch die Rotarmisten die Nerven – wohl auch aus Unschlüssigkeit, was nun richtig und was falsch war – und es blieb bei der Drohung. Mit dem Sieg Jelzins in Moskau war die unmittelbare Gefahr vorbei. Das erste westeuropäische Land, das den neuen Staat bereits zwei Tage später anerkannte, war Island. Daher heißt der Platz vor dem heutigen Außenministerium, auf dem vor dem Gebäude des Zentralkomitees bis zum 23. August das Lenindenkmal stand, Islandi väljak. Bereits am 24. August erfolgte die Bestätigung seitens Russlands, am 6. September dann auch seitens der UdSSR. Tallinn, nun wieder Hauptstadt eines unabhängigen Staates, 308  Tallinn im 20. Jahrhundert

hatte bereits am 21. Oktober 1990 symbolisches Kapital hinzugewonnen, nachdem die sterblichen Überreste des letzten Präsidenten Konstantin Päts aus der Region Tver’ überführt worden waren, und er seine letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof fand. Bei diesem Akt ging es nicht, wie noch 1946, als die Sowjetmacht sich durch die Umbettung Koidulas beliebt machen wollte, um die Nationaldichterin. Zum symbolischen Arsenal jeder Hauptstadt gehören Königsgräber.

5. Ausblick: Tallinn nach 1991 Der spätere Ministerpräsident Mart Laar hat die Lage in der Stadt im relativ milden Winter 1991/92 als »trostlos« beschrieben. Der Unterschied zwischen Traum und Realität habe sich damals als unermesslich groß erwiesen: Hatte man sich während des Unabhängigkeitskampfes versprochen, »lieber Kartoffelschalen zu essen als die Freiheit aufzugeben«, so war dieser Heroismus angesichts der Realität des Zusammenbruchs des sowjetischen Wirtschaftssystems wenig wert. Die Inflation, angetrieben durch die russische Rubelpresse, trieb die Preisspirale an, wodurch die Lebenshaltungskosten allein im Januar 1992 um 87% stiegen. Zwar gab es seit Oktober 1991 eigene Briefmarken, doch der Rubel verlor nahezu täglich an Wert. Brot und Milch waren aus den Läden verschwunden. Im Radio und Fernsehen verfolgten die Menschen, was es neuerdings auf Karte zu kaufen gab. »Manchmal war es möglich, einen Ein-Kilo-Waschmittel­coupon gegen zwei Flaschen Wodka einzutauschen, ein anderes Mal gegen ein Kilo Wurst. Oder andersherum«, schrieb Laar. Der Schwarzmarkt blühte, forderte aber Devisen. Russland lieferte kein Öl mehr, sodass die Plattenbausiedlungen nicht mehr beheizt werden konnten. Auch die Stromversorgung stand vor dem Zusammenbruch. Laar zufolge wurde in dieser Situation ernsthaft an die Evakuierung ganzer Stadtteile in ländliche Gebiete gedacht. »Tallinn bot in diesen Tagen ein trübseliges Bild. Es war, als ob die Stadt ausgestorben wäre. Öffentliche Verkehrsmittel bewegten sich mühsam fort und im Fahrplan gab es große Lücken. In der Stadt waren keine Autos zu sehen«. Zur Bewältigung der Krise hatte Savisaar Anfang Januar 1992 mit nur einer Stimme Mehrheit den Ausnahmezustand ausrufen lassen, doch bald darauf seine Machtbasis im Parlament verloren. Die noch im Januar angetretene neue Regierung unter Tiit Vähi beendete den Ausnahmezustand und setzte auf radikale Liberalisierung, die zwar Waren in die Geschäfte brachte, aber doch den Preisanstieg nicht verhindern konnte. Im Frühjahr Tallinn nach 1991 

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hatte bereits am 21. Oktober 1990 symbolisches Kapital hinzugewonnen, nachdem die sterblichen Überreste des letzten Präsidenten Konstantin Päts aus der Region Tver’ überführt worden waren, und er seine letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof fand. Bei diesem Akt ging es nicht, wie noch 1946, als die Sowjetmacht sich durch die Umbettung Koidulas beliebt machen wollte, um die Nationaldichterin. Zum symbolischen Arsenal jeder Hauptstadt gehören Königsgräber.

5. Ausblick: Tallinn nach 1991 Der spätere Ministerpräsident Mart Laar hat die Lage in der Stadt im relativ milden Winter 1991/92 als »trostlos« beschrieben. Der Unterschied zwischen Traum und Realität habe sich damals als unermesslich groß erwiesen: Hatte man sich während des Unabhängigkeitskampfes versprochen, »lieber Kartoffelschalen zu essen als die Freiheit aufzugeben«, so war dieser Heroismus angesichts der Realität des Zusammenbruchs des sowjetischen Wirtschaftssystems wenig wert. Die Inflation, angetrieben durch die russische Rubelpresse, trieb die Preisspirale an, wodurch die Lebenshaltungskosten allein im Januar 1992 um 87% stiegen. Zwar gab es seit Oktober 1991 eigene Briefmarken, doch der Rubel verlor nahezu täglich an Wert. Brot und Milch waren aus den Läden verschwunden. Im Radio und Fernsehen verfolgten die Menschen, was es neuerdings auf Karte zu kaufen gab. »Manchmal war es möglich, einen Ein-Kilo-Waschmittel­coupon gegen zwei Flaschen Wodka einzutauschen, ein anderes Mal gegen ein Kilo Wurst. Oder andersherum«, schrieb Laar. Der Schwarzmarkt blühte, forderte aber Devisen. Russland lieferte kein Öl mehr, sodass die Plattenbausiedlungen nicht mehr beheizt werden konnten. Auch die Stromversorgung stand vor dem Zusammenbruch. Laar zufolge wurde in dieser Situation ernsthaft an die Evakuierung ganzer Stadtteile in ländliche Gebiete gedacht. »Tallinn bot in diesen Tagen ein trübseliges Bild. Es war, als ob die Stadt ausgestorben wäre. Öffentliche Verkehrsmittel bewegten sich mühsam fort und im Fahrplan gab es große Lücken. In der Stadt waren keine Autos zu sehen«. Zur Bewältigung der Krise hatte Savisaar Anfang Januar 1992 mit nur einer Stimme Mehrheit den Ausnahmezustand ausrufen lassen, doch bald darauf seine Machtbasis im Parlament verloren. Die noch im Januar angetretene neue Regierung unter Tiit Vähi beendete den Ausnahmezustand und setzte auf radikale Liberalisierung, die zwar Waren in die Geschäfte brachte, aber doch den Preisanstieg nicht verhindern konnte. Im Frühjahr Tallinn nach 1991 

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hatte sich der Strompreis verzehnfacht und Lebensmittelpreise stiegen zum Teil um das Fünfzigfache. Löhne und Renten wurden nicht pünktlich ausbezahlt. Zwar konnte bald das Kartensystem aufgehoben werden, doch gab es auf einmal auf den Straßen Luxuslimousinen, für die Benzin offenbar nicht zu knapp war. Immerhin eröffnete im April die norwegische Kette »Statoil« ihre erste Tankstelle am Tallinner Flughafen. Die bislang einseitig auf Russland ausgerichtete Energiezufuhr begann nach Westen zu schwenken. Am 20. Juni, nicht zufällig am Jahrestag der Einführung der D-Mark 1948, brachte dann eine Geldreform die durch die zurückerhaltenen Goldvorräte der Republik gedeckte Estnische Krone in Umlauf, die bei einem Kurs von 8:1 an die D-Mark gekoppelt war. Ein IWF-Kredit in Milliardenhöhe trug im September dringend benötigtes Kapital ins Land. Die Krise war aber damit noch nicht vorbei. Nur königliche Besuche brachten etwas Glanz in den bedrückenden post-sowjetischen Alltag: Im April 1992 war der schwedische König Carl XVI. Gustav, und Ende Juli die dänische Königin Margarethe II. zu Gast. Mitte Juni fanden die XII. Hansetage der Neuzeit erstmals im östlichen Europa in Tallinn statt. Der Eiserne Vorhang war gefallen. 1992 wurden die politischen Weichen gestellt. Das neue Grundgesetz wurde in einem Ende Juni abgehaltenen Referendum mit über 90% der Stimmen angenommen und trat am 3. Juli in Kraft. Am 20. September wurden zugleich die (7.) Staatsversammlung und der Präsident neu gewählt. Da es bei dieser Volksabstimmung keinem der Kandidaten gelang, die absolute Mehrheit zu erreichen, fand die Stichwahl im neu gewählten Parlament statt, wobei sich Meri am 5. Oktober gegen Rüütel durchsetzte. Zugleich trat Laar als neuer Ministerpräsident die Nachfolge Vähis an. Aber die Geldreform allein war kein Allheilmittel. Die Industrieproduktion, die ihren sowjetischen Markt verlor, brach genauso zusammen wie die Landwirtschaft. Zugleich stiegen die Energiekosten weiter. Die Arbeitslosigkeit wuchs, Beamte wollten bezahlt, Renten finanziert sein. Die Regierung nahm Sozialkürzungen in Kauf, um einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren zu können und die Krone international glaubwürdig zu machen. Der spektakuläre Deal, die im Juni 1992 gegen die Krone eingetauschen Rubel über Mittelsmänner nach Tschetschenien zu verkaufen, sollte vor allem die Rentenzahlungen sichern – bei mehrtägigen Prostesten von Pensionären in Tallinn war es im Januar 1993 sogar zu Angriffen auf Sozialministerin Lauristin gekommen. Immerhin konnte die Inflation im Laufe des Jahres gebändigt werden. Die Produktion legte vor allem in kleineren Betrieben wieder zu, und es entwickelten sich Inseln der Zuversicht, wie die finnisch-estnische Kooperation »Elcoteq Baltica«, wo fortan Nokia und Ericsson produzieren lie310  Tallinn im 20. Jahrhundert

ßen. Im September erklärte die Estnische Bank, dass die Wirtschaftskrise vorbei sei. Laar erinnerte sich, bei seinen abendlichen Spaziergängen durch die Hauptstadt »die unsichtbare Hand der Marktwirtschaft« gesehen zu haben: »Wie durch Zauberkraft entstanden neue Geschäfte, Kegelbahnen, Tennisplätze, Kindercafés, Technikläden, Spielsäle, unabhängige Theater, öffentliche Gebäude und Clubs«. Neben den üblichen finnischen »WodkaTouristen« seien immer mehr Familien gekommen, die sich an den neuen Restaurants, Cafés und anderen Elementen einer sich entwickelnden Fremdenverkehrs-Infrastruktur erfreuten. Hierzu gehörte im Falle Tallinns in erster Linie die Pflege und Wiederbelebung des mittelalterlichen Erbes, was sich z.B. in der 1995 auf private Initiative weiblicher Handwerker gegründeten Katharinagilde oder in der Eröffnung des mittelalterlichen Restaurants »Olde Hanse« im Packhaus am Alten Markt 1997 zeigte. Die Ausrichtung zahlreicher Feste von den Altstadttagen bis zum Weihnachtsmarkt auf das alte Reval hat dabei ebenso tourismusfördernden Charakter wie die Erklärung der Altstadt zum Weltkulturerbe durch die UNESCO 1997. Europaweit bekannt wurde die Stadt freilich auch dank des »Eurovision Song Contest«, der aufgrund des Sieges eines estnischen Gesangduos 2001 im Jahr darauf in Tallinn stattfand. Auch im Kulturleben gab es innovative Initiativen. Peeter Jalakas, der bereits 1987/88 das »VAT«-Theater ins Leben gerufen hatte, das bis heute als freie Truppe viel beachtete Aufführungen bietet, gründete 1992 in der Altstadt das »Von Krahli Teater« als alternatives Kulturzentrum mit Theater, Tanz, Livemusik, Restaurant und Diskussionsveranstaltungen. Jalakas setzte dabei vor allem auf moderne Klassiker-Inszenierungen und spricht sozialkritische Themen an. Über ein im eigentlichen Sinne politisches Theater verfügt Tallinn aber erst seit 2004. Aus Eino Baskins 1980 gegründeten »Vanalinnastuudio« (Altstadtstudio), das sich vor allem mit Satiren und Komödien, die Kritik an den herrschenden Zuständen nicht scheuten, einen Namen gemacht hatte, ging damals das Theater »NO99« hervor, das sich explizit zum Ziel setzt, gesellschaftliche Diskussionen anzuregen und beeinflussen zu wollen. Gemeinsam mit der Nationaloper »Estonia«, dem Estnischen Dramatheater, dem Russischen Theater, dem Tallinner Stadttheater und dem Puppentheater gehört auch das »NO99« zu den staatlich subventionierten Bühnen Tallinns. Für den kulturellen Anspruch der wiederhergestellten Republik war auch die Einweihung des Neubaus der Nationalbibliothek am Tõnismägi nach achtjähriger Bauzeit am 11. September 1993 bedeutsam. Architekt war Raine Karp, dessen Hang zur Monumentalität zuvor bereits die Stadthalle Tallinn nach 1991 

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und die Hauptpost geprägt hatten; wesentliches Kennzeichen seiner Bauten ist aber der Gebrauch von Kalkstein, der bereits für das 1985 eingeweihte »Sakala«-Kulturzentrum charakteristisch war. Mit 3,4 Millionen Bänden (2009) gilt die Nationalbibliothek als die größte Bibliothek des Baltikums. Ein weiterer Traum der Zwischenkriegszeit ging schließlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Erfüllung: ein eigenes Gebäude für das Estnische Kunstmuseum. Bereits Ende 1991 war grundsätzlich entschieden worden, dieses Haus in Kadriorg zu bauen. Ein international ausgeschriebener Architektenwettbewerb endete 1993/94 mit dem Sieg des Finnen Pekka Vaapaavuori. Aus finanziellen Gründen verzögerte sich der Baubeginn, aber im Februar 2006 konnte das »KUMU« nach vierjähriger Bauzeit eingeweiht werden. 2008 wurde es zum europäischen Museum des Jahres gewählt. In vielerlei Hinsicht mag das Jahr 1994 symptomatisch für die turbulenten 1990er Jahre gewesen sein. Mit der Wirtschaft ging es allmählich bergauf, doch zeichnete sich sogleich auch das Problem der sozialen Gerechtigkeit ab. Estland setzte zum »Tigersprung« an – eine Metapher, die Präsident Meri später vor allem für die umfassende Computerisierung des Landes ausgab –, verlor aber die Verlierer der Modernisierung aus den Augen. Zugleich wurde das 22. Liederfest aus Anlass seines 125-jährigen Bestehens um ein Jahr vorverlegt und im Juli 1994 gefeiert. Meri erklärte in seiner Ansprache, dass man »gewissen Personen« in diesem Jahr ein Abschiedslied singen wolle: Gemeint war der Abzug der verbliebenen Truppen der russischen Armee am 31. August. Erst jetzt war die militärische Präsenz der Sowjetunion, die seit dem Zweiten Weltkrieg angedauert hatte, vorüber. Mit einem Volksfest auf dem Freiheitsplatz wurde diese historische Stunde gefeiert. Doch schon wenige Wochen später folgte auf den politischen Triumph die menschliche Tragödie: Am 28. September sank die Ostseefähre »Estonia« und riß über 850 Menschen in den Tod. Unter ihnen war auch Urmas Alender, einer der Pioniere der estnischsprachigen Rockmusik und Mitbegründer der 1980 verbotenen Band »Propeller«. Die lokalen Selbstverwaltungsorgane wurden erstmals Ende 1993 nach demokratischen Regeln neu gewählt. In Tallinn regierte zu dieser Zeit eine von der Volksfront organisierte Wahlliste, die bei den im Dezember 1989 durchgeführten Wahlen zur stärksten Fraktion geworden war. Allerdings hatten aufgrund der Boykottaufrufe der Interfront Zehntausende russischer Bürger nicht an den Wahlen teilgenommen (Wahlbeteiligung: 65%). Als sich der Tallinner »Volksdeputiertensowjet« in seiner ersten Sitzung am 22. Dezember den alten Namen »Stadtverordnetenversammlung« zurückgab, stand auf dem Rathausplatz erstmals wieder vor den Weihnachtstagen 312  Tallinn im 20. Jahrhundert

ein Tannenbaum – zuvor hatte die »Neujahrstanne« immer erst nach dem Fest aufgestellt werden dürfen. Bürgermeister wurde der Wirtschaftsgeograf und Volksfrontaktivist Hardo Aasmäe, der Anfang 1992 aufgrund eines Konflikts um die Restitution von Grundeigentum zurücktreten musste. Sein Nachfolger wurde Jaak Tamm, einer der Mitbegründer der von Vähi geführten Koalitionspartei, die als liberales Sammelbecken der ehemaligen Partei-Nomenklatur gilt. Sie erhielt auch bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung Ende 1993 die meisten Mandate. Tamm blieb bis 1996 Bürgermeister. Die ihn stützenden Fraktionen verfügten über 27 der 64  Sitze, genauso viel übrigens wie die beiden damals angetretenen russischen Wählerlisten, von denen die »Estländische Russische Demokratische Bewegung« sogar am meisten Stimmen überhaupt erhielt. Obwohl bei den Lokalwahlen auch Ausländer, d.h. in diesem Fall russische Staatsbürger bzw. Staatenlose wählen dürfen, ging der Anteil der russischen Parteien schon bei den Wahlen Ende 1996 auf 16 Sitze zurück. Selbst vereint erhielten sie 1999 nur 9 Sitze und seit 2002 ist keine russische Partei mehr vertreten. Dies lag zunächst allerdings nicht an einer abnehmenden Wahlbeteiligung der Nicht-Esten, sondern an der zunehmenden Marginalisierung extremer prorussischer Positionen im nicht-estnischen Wählerspektrum. Diese Tendenz hält bis heute an: Bei den letzten Wahlen 2009 gaben Nicht-Esten nahezu geschlossen ihre Stimme estnischen Parteien. Die große Nutznießerin ist bis heute die »Zentrumspartei« des von 2001 bis 2004 und wieder seit 2007 amtierenden Bürgermeisters Savisaar mit zuletzt über 53% der Stimmen. Einwohner Tallinns 1994–2008 nach Nationalität Gesamt

Esten

Russen

Ukrainer Weißrussen

Finnen

1994

442.700

217.300 (49,1%)

180.000 (40,72%)

18.200 (4,3%)

10.600 (2,4%)

3.000 (0,7%)

2000

400.800

215.100 (54,3%)

146.200 (36,9%)

14.700 (3,7%)

7.900 (2,0%)

2.400 (0,6%)

2008

397.600

218.900 (55,0%)

144.800 (36,4%)

14.100 (3,6%)

7.500 (1,9%)

2.300 (0,5%)

Quelle: Entsüklopeedia. Tallinn, Bd. 2, Tallinn 2004, S. 121; Raitviir, Tiina (Hg.): Rahvuste Tallinn. Statistilis-sotsioloogiline ülevaade, Tallinn 2009, S. 34.

Anfang 2009 waren 76,6% der Einwohner Tallinns estnische Staatsbürger (2000: 71,1%), 8,6% (8,7%) besaßen die russische Staatsbürgerschaft und immerhin noch 12,2% (18%) der ehemaligen Sowjetbürger waren »staaTallinn nach 1991 

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tenlos«, unter ihnen vor allem ältere Menschen. Vor allem in Lasnamäe, aber auch in Kopli leben jeweils ein knappes Drittel russischer Bürger bzw. Menschen unbestimmter Staatsangehörigkeit. Damit sind aber mittlerweile zwei Drittel der Tallinner Nicht-Esten estnische Staatsbürger. Die sozialen Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen verschwinden nur allmählich. Das Nettoeinkommen ist gerade in Tallinn sehr unterschiedlich verteilt. 2006 verdienten Estnischsprecher ca. 20% mehr als der Durchschnitt, während Menschen, deren hauptsächliche Umgangssprache nicht Estnisch ist, ca. 18% unter dem Tallinner Durchschnitsseinkommen lagen. Dass sich zugleich das Nettoeinkommen der Letzteren seit 2000 verdoppelt hat, während das der Estnischsprecher um das 1,8-fache stieg, zeigt, wie langsam sich die Verhältnisse angleichen. Dabei sind die Unterschiede sowohl bei den jüngeren als auch bei den höher qualifizierten Arbeitnehmern größer, denn Führungspositionen sind weiterhin überwiegend in estnischer Hand. Gerade jüngere Russisch-Muttersprachler finden aufgrund ihrer Zweisprachigkeit – 2008 waren 18,3% der Tallinner Grundschüler an estnischsprachigen Schulen keine Muttersprachler (2005: 13,6%) – mittlerweile im Dienstleistungssektor Anstellung. Auch die Wohungsstatistik spricht eine deutliche Sprache. 2006 verfügten 34,2% der russischsprachigen Haushalte über weniger als ein Zimmer pro Person, während nur 18,1% der estnischsprachigen Haushalte in dieser Situation waren. 40,5% der estnischen Haushalte (gegenüber 25,3%) verfügten über mehr als ein Zimmer pro Person. Zwar sind die Zahlen für Haushalte mit einem Zimmer pro Person ausgeglichen, doch ist die Wohnfläche, über die estnische Familien verfügen, in der Regel größer. Allerdings weist die Statistik auch darauf hin, dass nicht-estnische Haushalte in neueren Häusern wohnen und moderner ausgestattet sind. Gut 40% der estnischen, aber über 60% der nicht-estnischen Haushalte leben in seit 1971 hergestellten Wohnungen. Da Letztere wiederum zu 94% in Hochhäusern wohnen, handelt es sich bei diesen »moderneren« Wohnungen also um die bereits erwähnten Tallinner »Berge«, die sowjetischen Neubaugebiete. Tallinner Kriegsdenkmäler: Der »Bronzene Soldat« und   die »Siegessäule« Zum vermeintlichen Symbol eines schwelenden ethnischen Konfliktes gerieten im April 2007 die international beachteten Auseinandersetzungen um den »Bronzenen Soldaten«, einem Denkmal, das aus Anlass des dritten Jahrestages der Befreiung Tallinns von der NS-Besatzung im September 1947 eingeweiht

314  Tallinn im 20. Jahrhundert

worden war. Hier, auf dem Tõnismägi, waren bereits zuvor Rotarmisten beerdigt worden, deren Tod jedoch nicht mit der kampflosen Zurückeroberung der Stadt in Zusammenhang stand. In den 1960er Jahren wurde ein »ewiges Feuer« vor dem Denkmal entzündet, das – für derartige Rotarmistendenkmäler extrem untypisch – einen trauernden Soldaten zeigt (Enn Roos, Arnold Alas). Nach 1991 wurde das Feuer gelöscht und das Ensemble nach dem Abzug der russischen Armee allen im Krieg gefallenen Soldaten umgewidmet. Im Zuge der reaktivierten Großmachtsrhetorik in der Russischen Föderation unter Präsident Vladimir Putin wurde dieser Ort an den alten sowjetischen Gedenktagen – 9. Mai und 22. September – immer stärker nicht mehr allein von Veteranen, sondern auch von Familien, jungen Leuten und ganzen Tallinner Schulklassen frequentiert. Durch diese Wiederbelebung sowjetischer Rituale im Zentrum der Hauptstadt fühlten sich manche Esten provoziert. Was für die einen die Erinnerung an einen entbehrungsvollen, aber siegreichen Krieg repräsentierte, verherrlichte für die anderen die sowjetische Okkupation. In den Jahren um den 60. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Hitler wurde diese öffentliche Festpraxis auch zum innenpolitischen Zankapfel. Im Gegensatz zur von Savisaar geleiteten Stadtverwaltung war es vor allem die Reformpartei von Ministerpräsident Andrus Ansip, die im Vorwege der Parlamentswahlen vom März 2007 diesen Konflikt ausnutzte und für eine Umsetzung »Aljoschas«, wie die Figur des Soldaten im Volksmund genannt wird, plädierte. Als die Regierung unmittelbar vor den zu befürchtenden Auseinandersetzungen am 9. Mai mit den Vorbereitungen für die Exhumierung der Gräber und die Verlegung des Denkmals begann, sammelten sich im Laufe des 26. April immer mehr Demonstranten um den kleinen, von einem riesigen Zelt überdeckten Platz zwischen Karlskirche und Nationalbibliothek, welcher von der Polizei – darunter so mancher russischstämmige Beamte – geschützt werden musste. Als es nach 21 Uhr unter Einsatz von Wasserwerfern gelang, die Menge abzudrängen, begannen Plünderungen von Kiosken und Geschäften, die sich im Laufe der Nacht über die ganze Innenstadt verbreiteten, worauf die am Denkmal konzentrierte Polizei nicht vorbereitet war. Am Morgen hatte sich die Lage jedoch wieder beruhigt, und in der folgenden Nacht war die Polizei besser vorbereitet, auch wenn sie jetzt mit Molotowcocktails beworfen wurde. Zu größeren Zwischenfällen kam es jedoch in der Folge nicht mehr. Das Denkmal war aber noch in der ersten Nacht an einen unbekannten Ort verbracht worden, was vor allem in der russischen Presse Spekulationen anheizte, »Aljoscha« sei zerstört worden. Die schlagzeilenträchtige Interpretation der Ereignisse als Straßenschlacht zwischen Esten und Russen geht an der Realität vorbei, sieht man einmal von den ungeklärten Umständen des Todesfalles eines russischen Staatsbürgers in der ersten Nacht ab. Unter den gut 1.000 verhafteten Unruhestiftern waren auch zahlreiche Esten. Der weitab vom Denkmal zu beobachtende Gewaltausbruch vor allem an der Pärnu mnt., der sich gegen Luxus- wie Alkoholgeschäfte richtete, war pure Lust am Krawall, getragen von Jugendlichen, die sich beim Schaufenstereinschlagen

Tallinn nach 1991 

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von ihren Freundinnen per Handy filmen ließen. Hierfür bot die vordergründig politische Auseinandersetzung in erster Linie ein passendes Ventil. »Aljoscha« aber wurde bereits am 30. April auf dem Tallinner Militärfriedhof wieder aufgestellt, wo er, eingerahmt von Gräbern anderer Rotarmisten, aber auch ganz in der Nähe von estnischen Opfern des Unabhängigkeitskrieges 1918–1920, weiterhin beliebter Ausflugsort an den Tagen des sowjetischen Festkalenders ist und nach alter Sitte (russische) Hochzeitspaare anzieht (vgl. Taf. XXI). Sein Potential als provokanter Ort politischer Demonstration, als der er im Stadtzentrum wirksam werden konnte, ist durch die Umsetzung weitgehend marginalisiert worden. Die im Sommer 2007 ausgebrochene diplomatische Konfrontation zwischen Moskau und Tallinn scheint sich im Frühjahr 2010 beruhigt zu haben. Der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves nahm an den Feierlichkeiten aus Anlass des 65. Feiertags des Sieges im »Großen Vaterländischen Krieg« in Moskau teil. Zugleich hat Tallinn im Juni 2009 ein neues Denkmal erhalten: Eine vom »Freiheitskreuz« – ein Orden aus dem Jahre 1919 – geschmückte und über 23 m hohe »Siegessäule des Unabhängigkeitskrieges« am Freiheitsplatz, die allen Gefallenen im »Kampf um Estlands Freiheit« gewidmet ist (vgl. Taf. XXII). Damit hat die seit der Zwischenkriegszeit geführte Debatte um das Freiheitsdenkmal der Esten einen vorläufigen Abschluss gefunden, allerdings in einer ästhetischen Form, die trotz des verwendeten Glases, welches die »Zerbrechlichkeit« der Freiheit andeuten soll, an das in den 1930er Jahren übliche monumentale und martialische Pathos erinnert. Künstlerische Abstraktion war nicht gefragt. Nach der Versetzung »Aljoschas« scheint es ein Bedürfnis gegeben zu haben, den öffentlichen Raum der Hauptstadt auf diese durchaus missverständliche Weise zu estifizieren. Nach der Eröffnung am Tag des »Siegesfestes« – ein Feiertag, der aus Anlass der Schlacht bei Wenden (lett. Cēsis) gegen die Baltische Landeswehr am 23. Juni 1919 1934 gestiftet und 1992 wieder in den offiziellen Festkalender aufgenommen worden war – sollen finnische Touristen (und nicht nur sie) sich gefragt haben, ob dieses Denkmal ein Relikt aus der Zeit der NS-Besatzung sei. Zu einem Dialog mit der Geschichte des Landes regt diese »Siegessäule« gewiß nicht an. Dem entspricht die zurzeit offensive Verherrlichung des »estnischen Soldaten« durch die Jahrhunderte, die man in jedem Buchladen beobachten kann. Literatur: Brüggemann, Karsten: Denkmäler des Grolls: Estland und die Kriege des 20. Jahrhunderts, in: Osteuropa 58 (2008), Nr. 6, S. 129–146.

Nur knapp zehn Jahre nach dem Abzug des russischen Militärs wurde Estland im Frühjahr 2004 in die EU aufgenommen. Die politischen Veränderungen haben sich auch im Stadtbild der Hauptstadt niedergeschlagen. Wo zu Sowjetzeiten nur die beiden Hotelbauten »Viru« und »Olümpia« mit den Altstadtkirchen konkurrierten, türmen sich jetzt moderne Glasfassaden von Bank­ge­bäuden, Hotels oder Wohnhäusern. Tallinn hat kein 316  Tallinn im 20. Jahrhundert

urbanes Zentrum mit Bauten der vorangegangenen Jahrhundertwende, wie z.B. das nach den Einwohnerzahlen nur wenig größere Helsinki oder die lettische Metropole Riga. Abseits des geschlossenen Ensembles der Altstadt gibt es kaum ein Quartal im Zentrum, das durch architektonische Einheitlichkeit besticht, sieht man von den Nachkriegsbauten aus der Stalinzeit ab. Bausünden wie der Durchbruch der ansehnlichen Fassade des 1960 eingeweihten »Kaubamaja« (Kaufhaus) für eine Verbindung mit einem an das Hotel »Viru« 2004 angeschlossenen Einkaufszentrum konnten unter den Bedingungen des Baubooms nicht vermieden werden. Zugleich profitierte die Hauptstadt zunächst vom Immobilienboom zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auch wenn die Spekulationsblase, die freilich nie die Dimensionen Rigas erreichte, bereits vor der Wirtschaftskrise platzte. Auch in Estland versprach der Kapitalismus ewiges Wachstum, weshalb sich viele Bürger auf Pump Autos und Wohnungen kauften, was immerhin der Binnennachfrage zugute kam. Im Jahre 2011 wird Estland den Euro einführen. Mehr als je zuvor ist Tallinn heute das nach Westen ausgerichtete Zentrum des Landes. Der Präsident sitzt in Kadriorg, die Regierung auf dem Domberg und die meisten Ministerien verteilen sich in der Stadt – nur das Bildungs- und Wissenschaftsministerium befindet sich seit 2001 in der traditionellen Universitätsstadt Tartu. Allerdings hat mittlerweile auch Tallinn seine eigene Universität. Im Frühjahr 2005 wurde die Pädagogische Universität als Zusammenschluss mehrerer ehemaliger Institute der Akademie der Wissenschaften in Tallinna Ülikool (Universität Tallinn) umbenannt. Ende 2009 waren knapp 10.000 Studenten eingeschrieben. Daneben verfügt die Stadt weiterhin über die Technische Universität mit knapp 14.000 Studenten, die vor allem in Mustamäe kräftig expandiert und einen modernen Campus schafft. Beide Einrichtungen haben sich dem Netzwerk Europäischer Hauptstadt-Universitäten (UNICA) angeschlossen und fördern die Internationalisierung der Hochschulbildung, was angesichts sinkender Schüler- und Studentenzahlen durchaus angebracht scheint. Mit dem Katariina Kolledž verfügt die Tallinner Universität seit 2008 auch über eine spezielle Einrichtung für die Absolventen russischer Gymnasien, an der geistes- und sozialwissenschaftliche BA-Abschlüsse angeboten werden. Der ursprüngliche Plan, nur auf Russisch zu unterrichten, musste allerdings aufgrund heftiger öffentlicher Kritik zugunsten einer zweisprachigen Lösung aufgegeben werden. Das Kolleg richtet sich allerdings auch an russophone Studenten aus den ehe­maligen Sowjetrepubliken und ist somit ebenfalls unter die Internationalisierungsstrategie der Universität zu rechen. Tallinn nach 1991 

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Mit diesem Akzent auf die internationale Öffnung nach dem Ende des Kalten Krieges schließt unsere »kleine Geschichte« der estnischen Hauptstadt. Glaubt man Lennart Meri, dann war die Stadt ohnehin schon immer ein Knotenpunkt von internationaler Bedeutung: »Von drei Straßen, die auf dem Marktplatz in Tallinn/Reval begannen, verlief die eine nach Bagdad, die andere nach Mitteleuropa und die dritte zu den atlantischen Häfen Europas, über die wir schon in der Vorzeit das fehlende Salz in den Norden brachten.« Zudem gab es ja stets den Hafen, der direkte Verbindungen mit den Ostseeanrainern begünstigte. Bei der Einfahrt in die Bucht wird zwar heute niemand mehr, wie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich, den Vergleich mit dem Golf von Neapel ziehen, doch bleibt die Nähe von Geschichte und Gegenwart, die diese Stadt kennzeichnet, faszinierend. Dies zeigt nicht zuletzt die recht konstant bleibende Zahl von jährlich einer Million Touristen aus aller Herren Länder. Cees Noteboom beobachtete »Lutherische Kirchen mit den Wappen baltischer Barone, russische Kirchen voller Weihrauch und byzantinischer Gesänge, schlechte Straßen und neue Straßen, Verfall und Aufbau, russische Nutten und Zuhälter mit Handys in kurzen Lederjacken«. Wer Russland kannte, sah aber auch die Unterschiede. Karl Schlögel fand »eine Schlafstadt, die auf den ersten Blick auch in Moskau oder Nabereshnye Tschelny stehen konnte, aber in Tallinn gab es gotische Kirchen, ein Rathaus und einen Marktplatz, der seit 800 Jahren fast unverändert geblieben war, in Tallinn war man im gotisch-mittelalterlichen Europa. Zwischen Moskau und Tallinn lagen die ›Gotik-Grenzen‹«. Heute sehen die modernen Glaspaläste nicht nur in Moskau und Tallinn gleich aus, aber in der estnischen Hauptstadt gibt es immer noch dieses besondere typische Flair – vor allem in der historischen Altstadt.

318  Tallinn im 20. Jahrhundert

Chronologie zur Geschichte der   Stadt Reval/Tallinn 1219 1227

1230 1237

1238 1239 1246 1248 1267 1285 1294 1316 1319 1326 1343 1346

(15.6.) Ein dänisches Heer unter Valdemar II. »Sejr« erobert die Burg »Lyndanisse« und Nordestland; wahrscheinlicher Anfang des Baus der Revaler Domkirche Der Schwertbrüderorden erobert Reval (Tallinn) mit päpstlicher Billigung und erhält den Domberg und einen Großteil des heutigen Estland zur Verwaltung aus der Hand des päpstlichen Statthalters in Estland Der Schwertbrüderorden wirbt (westfälische und niedersächsische?) Kaufleute (angeblich 200) an, die sich unterhalb der Burg ansiedeln. Der Schwertbrüder- wird mit dem Deutschen Orden vereint. Als Gegenleistung verlangt der Papst die Herausgabe Revals an die Dänen; ungefährer Zeitpunkt der Gründung des Johannis-Siechenhauses Reval fällt an Dänemark zurück Vermutlich erste Gründung des Dominikanerklosters auf dem Revaler Domberg Zweite Gründung des Dominikanerklosters in Reval Der dänische König Erik IV. Plovpenning verleiht Reval das lübische Stadtrecht Erste Erwähnung der St. Olaikirche zu Reval Reval wird (spätestens jetzt) Mitglied der Hanse Der dänische König Erik VI. Menved gestattet allen deutschen Kaufleuten, den Handelsweg nach Novgorod über Reval und Narva zu benutzen Erste Erwähnung der St. Nikolai-Kirche zu Reval Erste Erwähnung der Revaler Domschule Erste Erwähnung der Revaler Kanutigilde (23.4.) Aufstand der Esten in der St. Georg-Nacht; Niederschlagung des Aufstandes mit Hilfe des Deutschen Ordens Dänemark verkauft Nordestland mit Reval an den Deutschen Orden; Reval erhält zusammen mit Riga und Pernau das Stapelrecht; erste Erwähnung (der Kirche) des Revaler Zisterzienserinnen-Klosters Chronologie 

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1360 1371 1407 1523/24 1526 1549 1561 1570/71 1577 1600 1627

1631

1633 1635 1638 1675 1684 1710 1721

320  Chronologie

Fertigstellung der Heiliggeistkirche in ihrer endgültigen Gestalt Erste Erwähnung der russischen Kirche St. Nikolaus Gründung des Birgitten-Klosters außerhalb von Reval Einführung der Reformation in Reval Gründung des Neuen Siechenhauses Die Revaler St. Olai-Kirche erhält einen gotischen Turm mit 159 m Höhe und ist damit bis 1629 das höchste Gebäude im Ostseeraum Um der Gefahr zu entkommen, von moskauischen Truppen erobert zu werden, unterstellt sich die Stadt Reval schwedischem militärischen Schutz Belagerung Revals durch moskauische Truppen Belagerung Revals durch moskauische Truppen Einführung der Revaler Schulordnung, die zur Grundlage des Revaler Schulwesens im 17. Jahrhundert wird Kirchenvisitation des schwedischen Bischofs Johannes Rudbeckius in Reval und Estland; Gründung des estländischen Konsistoriums unter Vorsitz des Superintendenten von Reval Gründung des ersten Gymnasiums (und der schwedischen Provinz Estland) und einer Höheren Stadt-Mädchenschule; die ehemalige Zisterzienserinnen-Klosterkirche wird unter dem Namen St. Michaelis schwedische Garnisonskirche Gründung der Revaler Gymnasialdruckerei Aufenthalt der holsteinischen Gesandtschaft unter Adam Olearius in der Stadt Anfang regelmäßiger Postverbindungen Revals mit anderen Städten des Schwedischen Reiches Einführung der Privilegien der schwedischen Geistlichkeit in die Ostseeprovinzen (und damit auch in die Stadt Reval); Erscheinungsbeginn der »Revalischen Post-Zeitung« Verheerender Brand auf dem Domberg Die Stadt Reval kapituliert vor russischen Truppen und gerät unter russische Besatzungsherrschaft; Pestepidemie: danach wohnen in der Stadt nur noch ca. 2.000 Personen (30.8.) Friede zu Nystad zwischen Schweden und Russland: Reval kommt unter die Oberherrschaft des Russlän-

1725 1733 1739 1749 1758 1765

1769 1772

1772 1774

1782

dischen Kaiserreiches, behält aber seine althergebrachten Stadtrechte Gründung des Domwaisenhauses Rückgabe der Siechenkirche in der Ritterstraße an die schwedische Gemeinde Das Gerichtswesen der Stadt wird dem Justizkollegium der Liv- und Estländischen Angelegenheiten in St. Petersburg unterstellt Einweihung der russisch-orthodoxen Regimentskirche »Mutter Gottes zu Kazan’« in der Dörptschen Vorstadt Die Stadt wird vom Unterhalt der Festungs­werke befreit Die Domschule wird in eine »Akademische Ritterschule« oder Ritterakademie« verwandelt, von der Verwaltung der Domkirche getrennt und eine Einrichtung der estländischen Ritterschaft Umbau der ehemaligen Klosterkirche St. Michaelis in eine russische Kirche Nach Auskunft der »Revaler Wöchentlichen Nachrichten« sind die Straßennamen noch nicht amtlich festgelegt und werden oft unter verschiedenen Bezeichnungen erwähnt. Nach Berechnungen des Revaler Gouverneurs leben in der Stadt 6.954 Personen, nicht eingeschlossen steuerfreie Adelige, Beamte und Militärangehörige. Zwei weitere russische Kirchen, die russisch-orthodoxe Dreieinigkeitskirche in Joachimsthal und die St. Simeonkirche, werden erwähnt Ein Senatsukas schreibt die Verlegung der Friedhöfe nach außerhalb der Stadtmauern vor Einweihung des deutschen Friedhofes Moik beim Oberen See. Die Stadt hat gemäß August Wilhelm Hupels »Topographischen Nachrichten von Liv- und Estland« 10.000 Einwohner in 1.500 Häusern. Einweihung des neuen Friedhofs in Ziegelskoppel für die Gemeinden St. Nikolai und St. Olai Nach der staatlichen Steuerrevision hat die Stadt eine Bevölkerung von 10.653 Personen, außer Militärangehörigen, Adligen und leibeigenen Dienstboten. Von den 5.697 männlichen Personen sind 38% Russen, 30,5% Deutsche, 22% Esten und 9,5% Schweden. In der Stadt arbeiten Chronologie 

321

1783 1784 1785 1790 1796 1801 1812 1817 1820 1831 1843 1848 1853–1853 1857 1860 1865 1866 1867 1870 1872 322  Chronologie

693 steuerpflichtige Handwerker in ca. 270 selbständigen handwerksmeisterlichen Betrieben. Sie sind in 31 Ämtern (Zünften) organisiert; Neue Schulordnung für das Revaler Gouvernementsgymnasium; Das Revaler Zollwesen wird staatlicher Verwaltung unterstellt Einführung der Kopfsteuer und der Statthalterschaftsverfassung August von Kotzebue gründet ein Liebhabertheater Einführung der russländischen Stadtordnung Im Verlauf des schwedisch-russischen Krieges kommt es zur Seeschlacht bei Reval Kaiser Paul  I. schafft die Reformen seiner Mutter Katharina II. ab: der alte Magistrat wird wieder eingesetzt Die britische Flotte unter Admiral Nelson liegt vor Reval auf Reede, greift aber nicht an (ein Schauspiel, das sich 1809 wiederholt) Reval bleibt im Krieg gegen Napoleon von direkten Kriegsfolgen verschont Die »Revaler Zollaffäre« erschüttert die Stadt Der Turm der Olaikirche brennt vollständig aus Die Cholera wütet in Reval (758 Opfer) Bis in die 1860er Jahre werden die Wasserleitungen erneuert Die Cholera wütet erneut und fordert 1029 Opfer Im Zuge des Krimkriegs wird die Fischermay (Kalamaja) abgerissen. Ein erwarteter französisch-britischer Angriff bleibt aus. Erneuter Choleraausbruch Erstes Baltisches Sängerfest in Reval. Aufhebung des Festungsstatus. Beginn des Ausbaus der alten Wallanlagen, der sich bis zur Jahrhundertwende hinzieht Die »Revalsche Zeitung« wird die erste Tageszeitung des Landes Bau eines Gaswerks Die russländische Gewerbeordnung gibt das Handwerk frei Bau eines Wasserwerks Eröffnung der Eisenbahnlinie Baltischport – Reval – St. Petersburg. Im Jahr darauf wird der Baltische Bahnhof eröffnet Gründung des Revaler Börsenvereins

1877

1880 1881 1885

1888 1889 1892

1900 1901 1904 1905

1910

1912 1913 1914 1917

Einführung der russländischen Stadtreform in den baltischen Städten. 1878 wird die erste in Kurien gewählte Stadtduma feierlich eröffnet Das Estnische Liederfest findet erstmals in Reval statt Beginn des Ausbaus eines modernen Abwassersystems (1872 auf dem Domberg begonnen) Der »Sprachenstreit« zwischen Bürgermeister Greiffenhagen und dem neuen Gouverneur Šachovskoj leitet den Übergang zum Russischen als Amtssprache ein, der 1889 verbindlich wird Einführung der Pferdebahn (»Konka«) Der alte Magistrat wird endgültig aufgelöst und der Domberg administrativ mit der Unterstadt vereinigt Eine weitere Stadtreform hebt das Kuriensystem auf und führt einen Besitzzensus ein, wodurch die Zahl der Wähler verringert wird. Die erste russische Tageszeitung (»Revel’skie Izvestija«) erscheint Einweihung der orthodoxen Aleksandr-Nevskij-Kathedrale auf dem Domberg Mit dem »Teataja« erscheint die erste estnische Tageszeitung der Stadt Übernahme der Stadtregierung durch eine estnisch-russische Koalition Die erste Russische Revolution führt auch in Reval zu Streiks und Demonstrationen. Am 16.10. wurde eine Demonstration blutig niedergeschlagen (94 Tote) Aus Anlass des 200. Jubiläums des Anschlusses Est- und Livlands an das Russländische Reich wird ein Denkmal für Peter I. errichtet Beginn des Ausbaus der Seefestung »Imperator Peter der Große«. Tallinn wächst auf über 100.000 Einwohner Eröffnung des Theater- und Konzerthaus »Estonia«. Eliel Saarinen legt seinen Plan für »Groß-Tallinn« vor Nach Kriegsausbruch wird der öffentliche Gebrauch des Deutschen verboten Die russische Februarevolution erreicht Tallinn. Der Arbeiter- und Soldatensowjet wird nach der Oktoberrevolution zum neuen Machtzentrum Chronologie 

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24./25.2.1918 In Tallinn wird die estnische Unabhängigkeit ausgerufen. Zugleich dringen nach dem Abzug der Bolschewiki deutsche Truppen ein 11.11.1918 Der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches führt zur Übernahme der Amtsgeschäfte durch estnische Politiker 1919 Anfang Januar bedroht die Rote Armee Tallinn. Der estnische Gegenangriff befreit das Territorium Estlands Ende Mai 23.4.1919 Die demokratisch gewählte estnische Verfassunggebende Versammlung tritt im »Estonia«-Theater zusammen 15.6.1920 Verabschiedung des Grundgesetzes der Republik Estland 1922 Eröffnung eines Parlamentssaals in der Schlossanlage auf dem Domberg 1.12.1924 Ein kommunistischer Putschversuch wird niedergeschlagen 1925 Die erste elektrisch betriebene Straßenbahn nimmt den Betrieb auf 1925–1927 Streit um die Übernahme der Domkirche durch die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche 1926 Gründung des Estnischen Rundfunks 1927 Bau eines modernen Klärwerks 12.3.1934 Nach einem Putsch wird unter Konstantin Päts ein autoritäres Regime eingeführt 1938 Bau der Präsidentenkanzlei in Katharinental 23.8.1939 Im Geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes wird Estland der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen 28.9.1939 Ein »Stützpunktvertrag« mit der UdSSR sieht die Stationierung von zunächst 25.000 Rotarmisten in Estland vor. Ein weiteres deutsch-sowjetisches Protokoll beschließt die Umsiedlung der Deutschbalten, die im Oktober beginnt 21.6.1940 Nach einem sowjetischen Ultimatum vom 16.6. folgt der Einmarsch der Roten Armee und die Annexion des Landes 14./15.7.1940 Scheinwahlen sollen die Sowjetisierung legitimieren 6.8.1940 Aufnahme der Estnischen SSR in die UdSSR 14.–16.6.1941 Massendeportation aus Estland 22.6.1941 Überfall des Deutschen Reiches auf die UdSSR 28.8.1941 Die Wehrmacht erobert Tallinn 1941 Ca. 660 Juden aus Tallinn vom »Sonderkommando 1a« ermordet 1943 Im KZ Klooga werden meist über Riga nach Estland verbrachte Juden inhaftiert 324  Chronologie

9./10.3.1944 18.9.1944

Sowjetischer Luftangriff zerstört Teile der Innenstadt Die nationale estnische Regierung Otto Tief tritt ihr Amt für wenige Tage an 19.9.1944 In Klooga werden über 1.700 Juden ermordet 22.9.1944 Die Rote Armee marschiert in Tallinn ein 1945 Erster Generalplan für die »sozialistische« Stadt erstellt 1947 Der Betrieb des restaurierten »Estonia«-Theaters wird wieder aufgenommen. Das 12. Liederfest findet in Tallinn statt 1948 Die Spuren des Luftangriffs in der Altstadt werden mit einer Grünanlage an der Harju Straße überdeckt 25.3.1949 Massendeportation aus Estland 1950 Tallinn erhält ein Lenin- und ein Stalin-Denkmal 1953 Eröffnung der Straßenbahntrasse, mit der Innenstadt und Bahnhof verbunden werden 1955 Gründung des Estnischen Fernsehens 1960 Einweihung der neuen Liederfesttribüne 1962 Baubeginn des ersten größeren Mikrorayons Mustamäe 1965 Eine Fährverbindung mit Helsinki wird eingerichtet, nachdem Tallinn 1957 für ausländische Touristen geöffnet wurde. Erste Trolleybusse fahren durch die Stadt 1967 Das Jazzfestival »Tallinn-67« bringt erstmals ein US-Ensemble in die UdSSR 1972 Eröffnung des Hotels »Viru« 1974 Im Oktober vergibt das IOC die Olympischen Sommerspiele 1980 nach Moskau. 1973 war beschlossen worden, in diesem Fall die Segelwettbewerbe in Tallinn stattfinden zu lassen. 22.7.–1.8.1980 Olympische Segelregatten in Tallinn. Die Stadt erhält einen neuen Flughafen und einen ausgebauten Passagierhafen 22.9.1980 Antisowjetische Jugendkrawalle nach einem abgesagten Auftritt der Band »Propeller« 23.8.1987 Über 2000 Menschen demonstrieren gegen den HitlerStalin-Pakt 12.12.1987 Gründung des Estnischen Denkmalschutzvereins 24.2.1988 Demonstration aus Anlass des estnischen Nationalfeiertags 13.4.1988 Öffentlicher Aufruf zur Gründung einer »Volksfront« Juni 1988 Nächtliche Liederfeste in Tallinn begründen die »Singende Revolution« Chronologie 

325

10.8.1988

Erste vollständige Veröffentlichung des Textes der Geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt in der UdSSR in der Zeitung »Rahva hääl« 11.9.1988 Ein Musikfest in Tallinn soll bis zu 300.000 Besucher gehabt haben 1./2.10.1988 Gründung der »Rahvarinne« (Volksfront) 24.2.1989 Die sowjetestnische Fahne wird durch die estnische Trikolore ersetzt 26.3.1989 Wahlen zum sowjetischen Volksdeputiertenkongress bringen der Volksfront einen überwältigenden Sieg 23.8.1989 »Baltischer Weg«: Menschenkette von Tallinn nach Vilnius 24.2.1990 Beginn der Wahlen zum »Estnischen Kongress« 18.3.1990 Die Volksfront siegt bei den Wahlen zum estnischen Obersten Sowjet 8.5.1990 Das Land heißt wieder Republik Estland 15.5.1990 Demonstration der »Interfront« auf dem Domberg 13.1.1991 Blutbad in Vilnius: Boris Jelzin kommt nach Tallinn 3.3.1991 77,8% stimmen in einem Referendum für die Unabhängigkeit 19.–21.8.1991 Gescheiterter Putschversuch in Moskau 20.8.1991 Unabhängigkeitserklärung Estlands 6.9.1991 Estland von der UdSSR anerkannt 20.6.1992 Einführung der Estnischen Krone 1993 Eröffnung der Nationalbibliothek 31.8.1994 Abzug der letzten Einheiten der russischen Armee 28.9.1994 Untergang der Fähre »Estonia« 1997 Aufnahme der Tallinner Altstadt in UNESCO-Weltkulturerbeliste 2001 Der »Eurovision Song Contest« findet in Tallinn statt 29.3.2004 Estland wird in die NATO aufgenommen 1.5.2004 Estland wird in die EU aufgenommen 2006 Eröffnung des Estnischen Kunstmuseums 26.–28.4.2007 Unruhen wegen der Umsetzung des »Bronzenen Soldaten« 2011 Estland erhält den Euro. Tallinn ist Kulturhauptstadt Europas

326  Chronologie

Bibliographie Die Geschichte Tallinns/Revals ist teils hervorragend erforscht, teils klaffen erhebliche Lücken. Die deutschbaltische Geschichtsschreibung hat eine reiche Literatur zur Geschichte der Stadt hinterlassen. Es liegt jedoch in der Natur der Dinge, dass in dieser Tradition – mit gelegentlichen Ausnahmen – fast ausschließlich Aspekte einer Geschichte der deutschen Stadtbevölkerung zur Sprache kamen. Heute ergänzen vor allem die Publikationen der Baltischen Historischen Kommission, des Nordost-Instituts (Lüneburg) und des Herder-Instituts (Marburg) die Forschung zu den baltischen Ländern, wobei eine jüngere Generation mit den entsprechenden Sprachkenntnissen ausgestattet ist, um frühere national geprägte Einseitigkeiten zu vermeiden. Wer sich für die estnische Seite der historischen Tallinner Bevölkerung interessiert, ist aber auf estnischsprachige Beiträge angewiesen. Einzelne Beiträge, die unterschiedlichste Facetten der Stadtgeschichte mit einer Tendenz zu neuzeitlichen Problemen in den Blick nehmen, stammen auch aus dem englisch- bzw. russischsprachigen Raum. Auf den folgenden Seiten findet sich eine knappe Einführung in die Forschungslandschaft. Unverzichtbares Hilfsmittel sind dabei die folgenden bibliographischen Arbeiten: »Baltische Bibliographie« für die Jahre 1945–1993 in der »Zeitschrift für Ostforschung« 1954–1993, fortgesetzt von Kaegbein, Paul (Hg.): Baltische Bibliographie. Schrifttum über Estland, Lettland, Litauen 1994ff., Marburg 1995ff. Blumfeldt, Evald/Loone, Nigolas (Hgg.): Bibliotheca Estoniae historica 1877–1918, Tartu 1933–1939 (ND Köln, Wien 1987). Mühlen, Heinz von zur: Revals Geschichte im Schrifttum der Nachkriegszeit, in: Zeitschrift für Ostforschung 38 (1989), S. 558–569. Winkelmann, Eduard: Bibliotheca Livoniae Historica. Systematisches Verzeichnis der Quellen und Hülfsmittel zur Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands, Berlin ²1878. Die während des 19. und 20. Jahrhunderts entstandenen Quellensammlungen erfassen vor allem die ältere Rechtsgeschichte, das Kämmereiwesen, die bürgerlichen Vermögens- und Erbverhältnisse und andere juristisch relevante Texte. Auch das Est-, Liv- und Kurländische sowie das Hansische Urkundenbuch liefern zahlreiche Hinweise auf Reval. Diese Form der Grundlagenforschung ist in Estland leider kaum weitergeführt worden. Jüngere estnische Bibliographie 

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Zusammenstellungen beschäftigen sich mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und dem Wiederaufbau. Adelheim, Georg (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch 1624–1690 nebst Fortsetzung bis 1710, Reval 1933 (= Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv 7). Adelheim, Georg (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch 1710–1786, Reval 1934. Bunge, Friedrich Georg von (Hg.): Die Quellen des Revaler Stadtrechts, 2 Bde., Dorpat 1842–1846. Essen, Nikolai/Johansen, Paul (Hgg.): Das Revaler Geleitsbuch 1515–1626, Tallinn 1939 (= Publikationen aus dem Stadtarchiv Tallinn 9). Gelehrte Estnische Gesellschaft (Hg.): Das älteste Wittschopbuch der Stadt Reval (1312–1360), Reval 1888 (= Revaler Stadtbücher 1). Greiffenhagen, Otto (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch 1409–1624, Reval 1932. Johansen, Paul (Hg.): Revaler Geleitsbuch-Bruchstücke 1365–1458, Tallinn 1929 (= Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv 4). Kivimäe, Jüri (Hg.): Tallinn tules [Tallinn im Feuer], Tallinn 1997. Nottbeck, Eugen von (Hg.): Das drittälteste Erbebuch der Stadt Reval 1383–1458, Reval 1892. Nottbeck, Eugen von (Hg.): Das zweitälteste Erbebuch der Stadt Reval 1360–1383, Reval 1890. Pullat, Raimo (Hg.): Die Nachlassverzeichnisse der deutschen Kaufleute in Tallinn, 3 Bde., Tallinn 1997–2004. Pullat, Raimo (Hg.): Die Nachlassverzeichnisse der Handwerker in Tallinn 1706–1803, Tallinn 2006. Pullat, Raimo (Hg.): Die Nachlassverzeichnisse der Literaten in Tallinn 1710–1805, Tallinn 2007. Pullat, Raimo (Hg.): Die Privatbibliotheken in Tallinn und Pärnu im 18. Jahrhundert, Tallinn 2009. Robert, Kyra (Hg.): Revaler Bibliothek zu St. Olai, Tallinn 2002. Seeberg-Elverfeldt, Roland (Hg.): Revaler Regesten, 3 Bde., Göttingen 1969–1975. Stieda, Wilhelm (Hg.): Revaler Zollbücher und Quittungen aus dem 14. Jahrhundert, Halle 1887. Vogelsang, Reinhard (Hg.): Kämmereibuch der Stadt Reval 1432–1463, Köln 1976 (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N.F. 22). Vogelsang, Reinhard (Hg.): Kämmereibuch der Stadt Reval 1463–1507, Köln 1976 (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N.F. 22). 328  Bibliographie

Vseviov, David (Hg.): Tallinna taastamine 1944–1950 [Der Wiederaufbau Tallinns 1944–1950], Tallinn 1984. Winkelmann, Eduard (Hg.): Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval vom Jahre 1710 etc., Reval 1865. Ein in Österreich publiziertes Lesebuch bietet knappe Auszüge aus Stadtbeschreibungen vergangener Jahrhunderte: Schmidt, Sabine (Hg.): Tallinn, Klagenfurt 2003. Gesamtdarstellungen zur Geschichte Tallinns sind rar, eine modernen Standards entsprechende Stadtgeschichte existiert nicht. Die ältere, aber in vielen Punkten immer noch verlässliche Monographie von Eugen von Nottbeck und Wilhelm Neumann aus dem Jahre 1904 muss hier weiterhin gute Dienste leisten. Aus dem 20. Jahrhundert wären nur die 1969 und 1976 von Raimo Pullat in Estnisch und Russisch herausgegebenen Sammelbände sowie seine Monographien zur historischen Demographie der estnischen Städte zu nennen, die aber von den sozioökonomischen Prämissen der marxistischen Geschichtsschreibung und ihren politischen Präferenzen geprägt sind. Auf diesen Arbeiten basiert eine unter Pullats Namen auch in deutscher Sprache erschienene Stadtgeschichte, die nur bis 1940 reicht und recht unübersichtlich geraten ist. Nottbeck, Eugen von/Neumann, Wilhelm: Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, 2 Bde., Reval 1904. Pullat, Raimo (Hg.): Tallinna ajalugu 1860–ndate aastateni [Geschichte Tallinns bis zu den 1860er Jahren], Tallinn 1969 (russ. 1983). Pullat, Raimo (Hg.): Tallinna ajalugu XIX sajandi 60-ndate aastate algusest 1965. aastani [Geschichte Tallinns von den 1860er Jahren bis 1965], Tallinn 1976 (russ. 1972). Pullat, Raimo: Die Geschichte der Stadt Tallinn. Reval von seinen Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, Tallinn 2003. Als Nachschlagewerk erweist sich eine zweibändige Enzyklopädie aus dem Jahre 2004 als unverzichtbar. Tamm, Jaan (Hg.): Tallinn. Entsüklopeedia, 2 Bde., Tallinn 2004. Die folgende Liste von Spezialuntersuchungen vornehmlich in Deutsch und Englisch dient der vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte Tallinns bzw. Estlands. Sie erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, schon weil wesentliche Forschungen zur Regionalgeschichte auf Finnisch, Schwedisch und anderen Sprachen nicht einbezogen wurden. Estnisch- und russischsprachige Werke haben wir dann berücksichtigt, wenn wir der Meinung waren, dass ein besseres Werk in deutscher oder englischer Sprache nicht existiert. Aufgenommen sind in diese Liste auch Memoiren, so sie im Text zitiert werden. Bibliographie 

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Bibliographie 

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Zeichen, Abkürzungen und   estnische Begriffe Übliche Abkürzungen wie z.B. »sog. – so genannt« oder »z.B. – zum Beispiel« sind hier nicht aufgeführt. * † an. dän. dt. estn. finn. lat. Maapäev mnt. russ. schwed. väljak

geboren gestorben altnordisch dänisch deutsch estnisch finnisch lateinisch Landtag Landstraße (für estn. maantee) russisch schwedisch Platz

338  Bibliographie

Abbildungsnachweise Textabbildungen: Abb. 1 Das Siegel Valdemars II. Sejr, verwendet auf Dokumenten der Jahre 1204–1241. Zeichnungen von Karl Georg Jensen (aus: Anders Thiset: Danske kongelige Sigiller, Kopenhagen 1917). Abb. 2 Die Entwicklung der Revaler Burg im Mittelalter (aus: Rein Zobel: Tallinn (Reval) in the Middle Ages, Tallinn 2008, S. 27). Abb. 3 Das Revaler Dominikanerkloster im Mittelalter (Rekonstruktion von Elfriede Tool-Marran) (aus: Rein Zobel: Tallinn (Reval) in the Middle Ages, Tallinn 2008, S. 75). Abb. 4 Das Birgittenkloster bei Reval im Mittelalter (Rekonstruktion) (aus: Villem Raam/Jaan Tamm: Pirita Convent. The History of the Construction and Research, Tallinn 2006, Abb. 21). Abb. 5 Die Lehmpforte / Viru gate (Rekonstruktion von Rein Zobel) (aus: Rein Zobel: Tallinn (Reval) in the Middle Ages, Tallinn 2008, S. 160). Abb. 6 Revaler Ferding, 1528 (aus: Estonian History Museum: History of Currency & Monetary Circulation in Estonia, Tallinn 2002, S. 11). Abb. 7 links: 1/6 Öre Karl X. Gustav von Schweden, 1666 / rechts: 4 Mark Karl XI. von Schweden, 1690 (aus: Estonian History Museum: History of Currency & Monetary Circulation in Estonia, Tallinn 2002, S. 16). Abb. 8 Fragment des estnisch-deutschen Katechismus von Wanradt und Koell, 1535 (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 400) Abb. 9 Wittscher Salon, 19. Jahrhundert (N. Nylander) (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 4470) Abb. 10 Die Karlskirche, ca. 1892 (Foto: Bernhard Lais) (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 84) Abb. 11 Sommerwaggon der »Konka«, ca. 1895 (Foto: A. Hansoff ) (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 1569) Abb. 12 Denkmal Peter des Großen auf dem Petersplatz, ca. 1910 (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 4071) Abbildungsnachweise 

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Abb. 13

Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18

Das Rathaus von Reval/Tallinn. Eliel Saariens Entwurf im Architekturwettbewerb von 1912 (Ansicht von Norden) (aus: I. Djomkin, Eliel Saarinen ja »Suur Tallinn«, Tallinn 1977) Das EEKS-Haus auf dem Vabaduse väljak, Ende der 1930er Jahre (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 2160) Die zerstörte Nikolaikirche, 1944 (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 5241) Der Stalin-Platz und das »Estonia«-Theater, 1954 (Foto: L. Kütt)(Eesti Ajaloomuuseum / Estnisches Historisches Museum, N 8690:2) Õismäe, 1980er Jahre (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 6953) Estnisches Allgemeines Liederfest 1955 (Foto: L. Kütt) (Eesti Ajaloomuuseum / Estnisches Historisches Museum, N 10482:4)

Tafelabbildungen: I Die Revaler Schwarzenhäupter, 1561. Epitaph von Lambert Glandorf. Im Hintergrund die älteste bisher bekannt gewordene Ansicht von Reval/Tallinn (Tallinna Linnamuuseum / Tallinner Stadtmuseum 4938) II. Revalia in Livonia (Aus: Adam Olearius »Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Reise«, Schleswig 1647) III Delineatio urbis Revaliae 1630 (Aus: Baltischer Kulturhistorischer Bilder-Atlas, Dorpat 1886–1887. Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 113) IV Revalia. Ansicht von Matthäus Merian aus dem Jahre 1652 (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 116) V Reval: Domberg, Stadt und Hafen im 19. Jh. Unbekannter Künstler (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 120) VI Einfahrt in den Hafen von Reval, Anfang 19. Jh.s. Gemälde von Johannes Hau (*1771, †1838) (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 150) VII Dombergpforte 1827. Gemälde von Johannes Hau (*1771, †1838) (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 154) VIII Blick auf Reval vom Laaksberg (Lasnamäe) aus. 18. Jh. Unbekannter Künstler (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1465, n. 1, s. 1722) 340  Abbildungsnachweise

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XIX XX XXI

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Der Große Markt von Reval. Anfang des 19. Jh.s. Unbekannter Künstler (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 3863) Blick auf den alten Revaler Hafen. 19. Jh. Unbekannter Künstler (Tallinna Linnaarhiiv / Tallinner Stadtarchiv, f. 1455, n. 1, s. 4462) Reklametafel der Rotermannschen Fabriken. Eckert & Pflug, Leipzig, ca. 1900 (Tallinna Linnamuuseum / Tallinner Stadtmuseum 9249) Blick auf die Altstadt mit der St. Nikolaikirche und der zerstörten Harju (Schmiede-) Straße, 1945 (Eesti Ajaloomuuseum / Estnisches Historisches Museum, F 3512) Das 1950 errichtete Stalindenkmal am Fuße der Altstadt gegenüber dem Baltischen Bahnhof, 1954 (Eesti Ajaloomuuseum / Estnisches Historisches Museum, N 10667) Das Allgemeine Liederfest 1965 aus Anlass des 25. Jahrestags der Gründung der Estnischen SSR, 17. Juli 1965. Blick auf die von Alar Kotli 1960 errichtete Tribüne (Eesti Ajaloomuuseum / Estnisches Historisches Museum, N 18047) Blick auf die Altstadt und den Domberg von der St. Olaikirche aus (© Karsten Brüggemann, 2010) Die Große Strandpforte mit der Dicken Margarete und der St. Olaikirche im Hintergrund (© Karsten Brüggemann, 2010) Blick auf die Rüütli (Ritter-) Straße mit der Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Hintergrund (© Karsten Brüggemann, 2010) Das Café »Maiasmokk« (Leckermaul); links das Gebäude der Großen Gilde, in dem sich heute eine Filiale des Estnischen Historischen Museums befindet, rechts die Heiliggeistkirche (© Karsten Brüggemann, 2010) Blick auf das Rathaus von der Viru (Lehm-) Straße aus (© Karsten Brüggemann, 2010) Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale (© Karsten Brüggemann, 2010) Das sowjetische Denkmal zu Ehren der bei der »Befreiung« Tallinns 1944 Gefallenen (›Bronzener Soldat‹) nach seiner Versetzung auf den Militärfriedhof im Mai 2007 (© Karsten Brüggemann, 2010) Die 2009 eingeweihte »Siegessäule« auf dem Vabaduse (Freiheits-) Platz (© Karsten Brüggemann, 2010)

Abbildungsnachweise 

341

orts- und straSSennamen

Aarhus 22 Adamsoni (Kirchenstraße) 144 Aegna (Wulf ) 51, 110 Ǻland-Inseln 61 Alter Markt (Vana turg) 39 Amsterdam 102, 103 Antoniusberg (Antonisberg, Tõnismägi, Tönniesberg) 43, 181, 238, 263, 311, 315 Archangel’sk 99, 122, 164 Arensburg 77, 99, 166 Armesündergasse (Vaestepatuste) 43 Avaldsnes 62 Bagdad 15, 318 Baku 212, 295 Baltijskij Port (Baltischport, Paldiski, Rogerwiek) 117, 118, 119, 161, 178, 199 Baltischport (Paldiski, Baltijskij Port) 161,178, 199 Barth 13 Berlin 138, 210, 226, 240, 261, 264, 276 Birka 17, 18 Bologna 35 Börsengang (Börsi käik) 60 Brabant 72,104 Brandenburg 13, 83, 95 Braunschweig 104, 141 Breite Straße (Lai, Systerngasse, Schmiedegasse, platea fabrorum Kannegeterstrate/Kannengießerstraße, Tinageterstraße) 36, 39, 40, 60, 160, 205 Breite Strandstraße (Liivalaia) 273 Bremen 18, 19, 22, 48, 62, 93 Breslau 142 Brigittenbach (Pirita jõgi) 17 Brügge 35, 141,

342  Orts- und Straßennamen

Brünn 252, 274 Brüssel 35 Cambridge 35 Chabarovsk 295 Christinas Heuwiese (Kristiine heinamaa) 94 Dagö (Hiiumaa) 83 Danskerborg (Dänenburg/Taani linn) 20 Danzig 48, 62, 65, 103, 140, 264 Dnepr 15 Don 15 Dorpat (Tartu) 18, 32, 36, 62, 65, 75, 82, 98, 99, 119, 122, 123, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 168, 173, 194, 195, 199, 207, 221, 224, 228, 229, 230, 238, 239, 246, 247, 248, 252, 255, 259, 260, 294, 303, 317 Dörptsche (Dorpater) Straße  153, 180, 181, 192 Düna 15 Dünamünde (Padis) 36 Elbing 13, 65 Estonia Boulevard 275 Falkenau 36 Fischermaie (Kalamaja, Fischermay) 45, 97, 175, 179, 191, 193, 293 Frankfurt/Oder 138 Fredrikshamn 122, 123 Freiburg 13, 35 Freiheitsplatz 234, 237, 251, 252, 269, 312, 316 From 297 Galgenberg (Võllamägi) 43 Gonsiori Straße 274

Göteborg 142 Gotland 19, 36, 61, 66 Göttingen 48 Großer Embach (Suur Emajõgi)  15 Großer Markt (Suur Turg) 38 Große Karripforte 47, 177 Große Strandpforte (Suur Rannavärav) 42, 45, 46, 177 Güllen 293 Hamburg (Hammaburg) 18, 19, 22, 23, 27, 137, 142, 158, 243, 296 Hapsal (Haapsalu) 79, 82, 85, 99 Härjapea jõgi (Ochsenhaupt-Fluss) 47 Harju tänav (Schmiedestraße, Schmiedegasse, Novaja ulica, Neue Straße) 39, 56, 144, 222, 243, 251, 252, 268, 269, 277 Harju värav (Schmiedepforte) 41, 47, 56, 144 Harrien (Harjumaa) 25, 32, 75, 80, 83, 85, 114 Heidelberg 35 Heiliggeiststraße (Pühavaimu)  60 Helsingør 62 Helsinki (Helsingfors) 174, 184, 216, 240, 241, 290, 317 Hiiumaa (Dagö) 83 Hildesheim 48 Hirve-Park 303 Holstein 21, 22, 137 Ingermanland 77, 80, 93, 101, 108 Islandi väljak 308 Ivangorod 99 Järva ( Jerwen) 26, 32, 80, 83, 85, 114 Järveküll 144 Jerwen ( Järva) 26, 32, 80, 83, 85, 114 Joachimstal ( Juhkental) 117, 153, 182, 238 Juhkental ( Joachimstal) 117, 153, 182, 238

Jütland 17, 28 Kadriorg (Katharinental, Catharinenthal) 95, 111, 149, 161, 163, 167, 170, 180, 191, 194, 198, 205, 216, 222, 239, 247, 249, 251, 262, 300, 312, 317 Käina 133 Kalamaja (Fischermaie, Fischermay) 45, 97, 175, 179, 191, 193, 293 Kalinin (Tver’) 95, 111, 149, 258, 295, 309 Kaliningrad 278 Kardis (Kärde) 77 Karja värav (Karripforte) 47, 153, 177, 178 Karlos (Paljassaar) 51, 110, 118, 184 Karripforte (Karja värav) 47, 153, 177, 178 Kassel 19 Katharinental (Kadriorg) 95, 111, 149, 161, 163, 167, 170, 180, 191, 194, 198, 205, 216, 222, 239, 247, 249, 251, 262, 300, 312, 317 Kaunas 26, 264 Kexholms län 80, 101, 108 Kiel 262, 296 Kiev 18 Kirchenstraße (Adamsoni) 144 Klaipėda 296 Kleine Strandpforte (Väike Rannavärav) 49, 177 Klosterstraße (Suur-Kloostri, VäikeKloostri, Große und Kleine Klosterstraße) 36, 177 Kola 122 Köln 48 Königsstraße (Kuninga) 39 Kopenhagen 134, 142 Kopli (Ziegelskoppel) 184, 193, 232, 239, 240, 247, 314 Kopli Bucht 284 Krakau 35 Orts- und Straßennamen 

343

Kristiine heinamaa (Christinas Heuwiese) 94 Kronstadt 167, 285 Kujbyšev (Samara) 295 Kulm 13, 65 Kuninga (Königsstraße) 39 Kurland 75, 162, 183, 203, 218 Laagna tee 283 Laaksberg (Lasnamäe) 44, 111, 162, 179, 282, 284 281, 282, 283, 314 Lai (Breite Straße, Systerngasse, Schmiedegasse) 36, 39 40, 60, 160, 205 Langstraße (Strandstraße, Pikk)  16, 39, 40, 60, 239 Lasnamäe (Laaksberg) 44, 111, 162, 179, 282, 284 281, 282, 283, 314 Leal 79 Lehmpforte (Viru värav) 41, 42, 47, 90, 194, 217 Lehmstraße (Viru tänav) 234 Leiden 137 Leipzig 13, 136, 140 Lenin Boulevard (Rävala) 275 Leningrad 234, 261, 271, 279, 290, 294, 295, 296, 298 Libau (Liepāja) 164 Liepāja (Libau) 164 Liivalaia (Breite Strandstraße)  273 Livland 19, 162, 183, 203, 218 Lohde 79 Lübeck 13, 17, 21, 25, 27, 37, 38, 47, 48, 50, 51, 52, 68, 76, 92, 93, 103, 139, 140, 141, 142 Lund 19, 20, 21, 22, 30, 31, 32, 55 L’vov (ukr. L’viv) 294, 295 Maarjamäe (Strietberg, Streitberg, Marienberg) 163, 176, 283, 300 Magadan 278 344  Orts- und Straßennamen

Magdeburg 21, 52, 62, 144, 278 Marienland 19 Marienberg (Maarjamäe, Strietberg, Streitberg) 163, 176, 283, 300 Marienthal 36 Mecklenburg 65, 66, 145 Mitau 195, 212 Mönchstraße (Vene, Russstraße, Russenstraße) 33, 239, 247 Moskau 68, 75, 76, 77, 81, 92, 123, 166, 227, 255, 256, 257, 262, 266, 273, 274, 275, 279, 290, 291, 294, 295, 296, 297, 299, 300, 301, 302, 304, 305, 306, 307, 308 München 13 Mustamäe 276, 278, 279, 280, 281, 282, 317 Naissaar (Nargen) 51, 110, 184 Nargen (Naissaar) 51, 110, 184 Narva 29, 52, 65, 75, 77, 79, 82, 85, 99, 100, 101, 102, 108, 110, 114, 119, 123, 125, 135, 142, 150, 171, 184, 194, 221, 227, 228, 242, 268, 272 Narva-Fluss (Narva jõgi) 15, 229 Narvaer Chaussee (Narvasche Chaussee, Narva maantee, Narvaer Landstraße, Adolf-Hitler-Straße) 167, 231, 238, 242, 246, 251, 270, 299, 300 Neue Promenade 178, 282 Neue Straße (Uus) 93 Neva 15, 229 Nidaros (Trondheim) 62 Niguliste (Nikolaistraße) 54, 277 Nikolaistraße (Niguliste)  54, 277 Novgorod 17, 20, 27, 29, 47, 61, 62, 65, 67, 68, 152 Novosibirsk 295 Nürnberg 48, 104, 139 Nyen 99, 100, 101 Nystad 77, 111, 118

Oberer See (Ülemiste, Ülemiste järv) 47, 144, 172, 238 Odessa 296 Ochsenhaupt-Fluss (Härjapea jõgi) 47 Õismäe 281, 282 Olevimägi-Straße 16 Ösel (Saaremaa) 20, 32, 75, 77, 102, 111, 124, 166, 261, 292 Ösel-Wiek (Saare-Lääne) 32 Oxford 35 Pääsküla 299 Padis (Dünamünde) 36 Padua 35 Paldiski (Baltijskij Port, Baltischport) 161,178, 199 Paljassaar (Karlos) 51, 110, 118, 184 Paris 35, 169, 176, 240, 249, 250 Pärnu (Pernau) 65, 77, 79, 82, 99, 101, 117, 119, 123, 150, 194, 195, 224, 237, 253, 285 Peipussee (Peipsi jõgi) 15, 150, 166 Peipsi jõgi (Peipussee) 15, 150, 166 Pernau (Pärnu) 65, 77, 79, 82, 99, 101, 117, 119, 123, 150, 194, 195, 224, 237, 253, 285 Pernau Fluss (Pärnu jõgi) 15 Pärnu maantee (Pernauer/Pernausche Landstraße) 43, 177, 181, 237, 239, 242, 243, 244, 315, Peterplatz (Peetri väljak, Heinaturg) 234 Pikk (Langstraße, Strandstraße) 16, 39, 40, 60, 239 Pirita 278, 283, 293, 296, 297, 298 Pirita jõgi (Brigittenbach) 17 Platz der Großen Gilde (Suurgildi plats) 60 Polock 20 Pommern 22, 93, 103, 127

Prag 35, 48, 252, 291, 295 Pskov 20 Pühavaimu (Heiliggeiststraße) 60 Rathausplatz (Raekoja plats) 16, 38, 39, 157, 178, 234, 250, 251, 270, 304, 305, 312 Raekoja plats (Rathausplatz) 16, 38, 39, 157, 178, 234, 250, 251, 270, 304, 305, 312 Rävala (Lenin Boulevard) 275 Reims 17 Riga (lett. Rīga) 13, 19, 20, 22, 29, 32, 62, 65, 74, 77, 82, 99, 101, 111, 114, 119, 120, 122, 123, 124, 126, 127, 135, 139, 140, 142, 150, 151, 163, 164, 165, 166, 173, 176, 180, 183, 194, 195, 200, 212, 213, 216, 221, 228, 234, 251, 260, 262, 264, 278, 295, 296, 298, 306, 308, 317 Ritterstraße (Rüütli) 54, 55, 109 Rogerwiek (Paldiski, Baltisch Port, Baltijskij Port) 117, 118, 119, 161, 178, 199 Rom 20, 33, 36 Rosenkranzstraße (Roosikrantsi)  43, 243 Roskilde 21, 46 Rostock 13, 66, 135, 137, 138 Rügen 21, 22, 24 Russischer Markt (Viru väljak, Stalini väljak) 276, 290 Russstrasse (Russenstraße, Vene, Mönchstraße) 33, 239, 247 Saaremaa (Ösel) 20, 32, 75, 77, 102, 111, 124, 166, 261, 292 Sachsen 19, 136 Salamanca 35 Samara (Kujbyšev) 295 Scharfrichter-Garten (Timukaaed) 44 Schilksee 296 Orts- und Straßennamen 

345

Schleswig 18, 22, 61, 137 Schmiedegasse (Systerngasse, Breite Straße, Lai) 36, 39, 40, 60, 160, 205 Schmiedepforte (Harju värav)  39, 44, 47, 56, 90, 144, 178 Schmiedestraße (Harju) 144, 222, 243, 251, 252, 268, 269, 277 Schwedischer Markt (Alter Markt, Vana turg) 39 Seoul 305 Sevastopol’ 296 Soči 296 Soest 19 Speicherstraße (Aida) 36 Stade 22, 124 Stalini väljak (Viru väljak, Russischer Markt) 276, 290 Stensby 26, 30 Stettin 103 St. Petersburg 111, 112, 114, 116, 117, 122, 123, 142, 148, 149, 150, 152, 159, 160, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 171, 174, 178, 183, 186, 188, 189, 191, 194, 204, 205, 207, 208, 209, 214, 215, 219, 221, 251 Strandstraße (Langstraße, Pikk) 16, 39, 40, 60, 239 Stockholm 48, 81, 82, 93, 95, 99, 100, 103, 104, 114, 122, 134, 135, 140, 237, 268, 301 Stolbovo 77, 80, 86, 99 Stralsund 13, 67 Straßburg 142 Strietberg (Streitberg, Maarjamäe, Marienberg) 163, 176, 283, 300 Suur Emajõgi (Großer Embach) 15 Suurgildi plats (Platz der Großen Gilde) 60 Suur Rannavärav (Große Strandpforte) 42, 45, 46, 177 Suur Turg (Großer Markt) 38 346  Orts- und Straßennamen

Systerngasse (Breite Straße, Lai, Schmiedegasse) 36, 39, 40, 60, 160, 205 Tänassilma jõgi (Tennasilm)  15 Tartu (Dorpat) 18, 32, 36, 62, 65, 75, 82, 98, 99, 119, 122, 123, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 168, 173, 194, 195, 199, 207, 221, 224, 228, 229, 230, 238, 239, 246, 247, 248, 252, 255, 259, 260, 294, 303, 317 Tblisi 295 Thorn 65 Tilsit 163 Timukaaed (Scharfrichter-Garten) 44 Tõnismägi (Antoniusberg, Antonisberg, Tönniesberg)  43, 181, 238, 263, 311, 315 Tönniesberg (Tõnismägi, Antoniusberg, Antonisberg) 43, 181, 238, 263, 311, 315 Trondheim (Nidaros) 62 Troyes 19 Tschetschenien 310 Tschernobyl 291 Tübingen 35 Tula 295 Tver’ (Kalinin) 95, 111, 149, 258, 295, 309 Ülemiste (Oberer See) 47, 144, 172, 238 Uppsala 88, 129 Uus (Neue Straße) 93 Vabaduse plats (Vabaduse väljak, Võidu väljak (Siegesplatz))  234, 276 Vaestepatuste (Armesündergasse) S. 43 Väike Rannavärav (Kleine Strandpforte) 49, 177 Valmiera (Wolmar) 126, 128, 130

Vana turg (Schwedischer Markt, Alter Markt) 39 Vana turu kael-Gasse 39 Värälä 113, 161 Västerås 87 Viborg 62, 95, 122, 123 Viru (Wierland) 25, 32, 75, 80, 83, 85, 114 Viru väljak (Stalini väljak, Russischer Markt) 276, 290 Viru värav (Viru, Lehmpforte)  41, 42, 47, 90, 194, 217, 301 Visby 17, 26, 51, 61, 65 Vistula (Weichsel) 14 Vene (Russstraße, Mönchstraße) S. 33, 239, 247 Volchov 15 Vol’ga 15 Võllamägi (Galgenberg) 43 Vordingborg 50

Weissenstein (Paide, Weißenstein)  79, 120, 125 Wesenberg (Rakvere) 52, 79, 125, 148 Westfalen 19, 29 Weichsel (Vistula) 14 Wiek 32, 76, 80, 83, 114 Wien 48, 250, 252 Wierland (Viru) 25, 32, 75, 80, 83, 85, 114 Windau (lett. Ventspils) 183 Wismar 13, 66, 93 Wolgast 13 Wolmar (lett. Valmiera) 126, 128, 130 Wulf(-Insel, estn. Aegna, Aegna saar) 51, 110 Ziegelskoppel (Kopli) 184, 193, 232, 239, 240, 247, 314

Orts- und Straßennamen 

347

Personenregister

Aasmäe, Hardo (*1951), estnischer Wirtschaftsgeograf und Politiker, Bürgermeister 1989–1992 313 Aav, Evald (*1900, †1939), estnischer Komponist 248 Absalon (*1128, †1201), Bischof von Roskilde 1158–1177 und Erzbischof von Lund 1177–1201 21 Ackermann, Christian (*?, †1675), Holzschnitzmeister 143 Adalbert I. (*um 1000, †1072), Erzbischof von Hamburg-Bremen 1043–1072 18 Adam von Bremen (*vor 1050; †1081/1085), Theologe 18 Adson, Artur (*1889, †1979), estnischer Schriftsteller 248 Agricola, Christian Michaelis (*1550, †1586), Revaler Bischof 1584– 1586 129 Agricola, Mikael (*ca. 1510, †1557), finnischer Theologe und Reformator 129 Agthe, Carl Christian (*1762, †1797), deutscher Komponist und Organist 140 Akel, Friedrich (*1871, †1941), estnischer Politiker 232 Aken, Johann (*um 1629, †1689), Maler 142 Aksënov, Vasilij Pavlovič (*1932, †2009), sowjetischer Schriftsteller 293, 294 Alas, Arnold (*1911, †1990), estnischer Architekt 315 Albaum, Franz Ulrich (*1742, †1806), Professor an der Domschule 150 Alender, Urmas (*1953, †1994), estnischer Rockmusiker 312 348  Personenregister

Alexander I. (*1777, †1825), Kaiser von Russland 1801–1825 49, 157, 162, 163, 165, 168, 170 Alexander II. (*1818, †1881), Kaiser von Russland 1855–1881 176 Alexander III. (*ca.1100/05, †1181), Papst 1159–1181  19, 196 Alexander III. (*1845, †1894), Kaiser von Russland 1881–1894 187, 188, 190, 200 Alexander-Sinclair, Edwyn (*1865, †1945), britischer Marineoffizier 228 al-Idrisi, Abu Abd Allah Muhammad (lat. Dreses, *um 1100, †1166), arabischer Geograf 16 Andresen, Nigol (*1899, †1985), estnischer Schriftsteller und Politiker  250, 285, 286 Andropov, Jurij Vladimirovič (*1914, †1984), sowjetischer Politiker, KGB-Chef 1967–1982, Parteichef 1982–1984 302 Anna I. (*1693, †1740), russische Zarin 1730–1740 120 Anna von Byzanz (*963, † um 1011), Großfürstin von Kiev  18 Ansgar (*801, †865), Erzbischof und päpstlicher Legat für die Nordleute und Slaven 17, 18 Ansip, Andrus (*1956), estnischer Politiker, Ministerpräsident der Republik Estland seit 2005  315 Antropoff, Roman von (*1836, †1926), Jurist 195 Antson, Aleksander (*1899, †1945), estnischer Leichtathlet und Schriftsteller 249 Anvelt, Jaan (*1884, †1937), estnischer Bolschewik 222, 223, 232, 272

Arman, Harald (*1910, †1965), estnischer Architekt 274, 275, 288 Armbrust, Joachim (*?, †nach 1703), Kleinornamentiker  143 Arumäe, Heino (*1928), estnischer Historiker 304 Arvelius, Friedrich Gustav (*1753, †1806), Latein-Professor des Revaler Gymnasiums 159 Bašilov, Petr Petrovič (*1859, †1919), Estländischer Gouverneur 1906–1907  208 Baskin, Eino (*1929), estnischer Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor 311 Bauer, Friedrich Wilhelm von (*1734, †1783), Direktor des Deutschen Theaters St. Petersburg 159 Bauer, Rudolph Felix (*1667, †1717), erster russischer Generalgouverneur von Estland 110, 114 Beitz, Berthold (*1913), Mitglied des IOC 297, 298, 299 Bekeshovede, Albert de (auch: Albert von Bexhövede oder Buxhövden, *ca. 1165, †1229), Erzbischof von Riga 1199–1229 19 Bellegarde, Aleksej Valerianovič (*1861, †1942), Estländischer Gouverneur 1902–1905 S. 211 Benda, Friedrich Ludwig (*1750, †1792), deutscher Komponist 140 Bergengruen, Werner (*1892, †1964), deutscher Schriftsteller, gebürtig in Riga 171 Bernhardt, Erwin (*1852, †1914), Architekt 178 Bernstamm, Leopold (*1859, †1939), deutscher Bildhauer  215

Bestužev-Marlinskij, Alexander Aleksandrovič (*1797, †1837), russischer Schriftsteller  168 Bialik, Chaim Nachman (*1873, †1934), jüdischer Dichter  260 Bock, Heinrich (*?, †1549), Revaler Superintendent 1540–1549  126 Bockhold, Heinrich (auch: Boeckhold), Pastor der Heiliggeistkirche  125 Borch, Simon von der (*?, †1492), Revaler Bischof 1477–1492  126 Bornhöhe, Eduard (*1862, †1923), estnischer Schriftsteller  292 Brendeken, Johann Christoph (*1649, †1710), Revaler Verleger, Buchhändler und Drucker 135 Brežnev, Leonid Il’ič (*1906, †1982), sowjetischer Partei-chef 1964– 1982 295, 300, 302 Browne, George (*1698, †1792), seit 1762 livländischer, seit 1775 estländischer, 1783–1792 Generalgouverneur von Liv- und Estland 151, 152, 155 Bruns, Dmitri (*1929), Tallinner Stadtarchitekt 1960–1980  270, 280, 296, 297 Bubyr’, Aleksej (*1876, †1919), russischer Architekt 209, 211 Budberg, Gotthard Wilhelm von (*1766, †1832), estländischer Zivilgouverneur 1818–1832 164 Bulgarin, Faddej Venediktinovič (Tadeusz Bułharyn, *1789, †1859), russischer Schriftsteller polnischer Herkunft, Gutsbesitzer auf Karlova bei Dorpat  168, 169, 170, 171, 175 Burchart, Johann Belavary de Sikava, Revaler Ratsapotheker  131, 145 Burman, Karl (*1882, †1965), estnischer Architekt 246 Personenregister 

349

Cederström, Olof Rudolf (*1764, †1833), schwedischer Marineoffizier 161 Černenko, Konstantin Ustinovič (*1911, †1985), sowjetischer Politiker, Parteichef 1984/85 302 Christian IV. (*1577, †1648), dänischer König 1588–1648  23 Christina (*1626, †1689), schwedische Königin 1632–1654 94, 95, 96, 144 Chruščev, Nikita Sergeevič (*1894, †1971), Generalsekretär der KPdSU 1953–1964 280 Čičagov, Vasilij Jakovlevič (*1726, †1809), russischer Admiral  161 Coelestin III. (*ca. 1106, †1198), Papst 1191–1198  24 Croÿ, Charles Eugène de (*1651, †1702), russischer Feldmarschall 171 Čumikov, Aleksandr Aleksandrovič (*1818, †1902), Pädagoge und Stadtverordneter 188, 190, 197 Dehio, Erhard (*1855, †1940), Präses des Börsenkomitees und 1918 Bürgermeister 223, 225, 226, 227 Dehn, Joachim (*1722, †1798), wortführender Bürgermeister  155 De la Gardie, Pontus (*1520, †1585), Statthalter von Estland  76, 83 Dellingshausen, Eduard Freiherr von (*1863, †1939), Estländischer Ritterschaftshauptmann  207, 208, 224 Devier, Antoine (António de Vieira, *1682?, †1745), Adjutant Peters I. 117 Dostoevskij, Fedor Michajlovič (*1821, †1881), russischer Schriftsteller 215, 290 350  Personenregister

Dovlatov, Sergej Donatovič (*1941, †1990), sowjetischer Journalist und Schriftsteller  294 Dunaevskij, Isaak Osipovič (*1900, †1955), sowjetischer Komponist 285, 287, 288 Dus, Matthias (auch: Daus), Steinmetz 142 Ebo von Reims (*ca.778, †851), Erzbischof von Reims 816–835 und 840–841 17 Eenpalu (Einbund), Karl (*1888, †1942), estnischer Politiker  232, 253 Eggers, Alexander (*1864, †1937), Direktor der Domschule  209 Einbund, Karl (siehe Eenpalu, Karl) Eisenstadt, Hirsch (Grigori) (*1885, †1963), Vorsitzender der jüdischen Kulturselbstverwaltung in Estland 260 Elbfasi, Jacob Henrik (*?, †1664) 142 Elisabeth (*1709, †1761), russische Zarin 1741–1761  118 Engel, Carl Ludwig (*1778, †1840), Architekt, Stadtbaumeister in Reval 1808–1814 174 Erbe, Eugen (*1847, †1908), 1905/06 provisorisches Stadthaupt  207, 208 Erik IV. Plovpenning (*1216, †1250), dänischer König 1241–1250 S. 27, 36, 49, 50, 61 Erik V. Klipping (*um 1249, †1286), dänischer König 1259–1286 S. 50 Erik VI. Menved (*1274, †1319), dänischer König 1286–1319 S. 50 Erik XIV. (*1533, †1577), schwedischer König 1560–1568  75, 78, 83, 85, 86, 93, 94

Ernesaks, Gustav (*1908, †1993), estnischer Komponist 285, 286, 287, 288, 305 Eskil (*um 1100, †1181), Erzbischof von Lund 1137–1177  19 Essen, Georg Gustav von (*1756, †1822), Major a.D., Stadtvogt 155 Falck, Hans Heinrich (*1791, †1874) Ältermann der Domgilde 178 Fleming, Paul (*1609, †1640), deutscher Arzt und Schriftsteller  136, 137 Folling, Peter (lat. Petrus Nicolai Follingius, *?, †1565), Bischof von Estland 86, 128 Frank, Johannes (auch: Franck(e)), Apotheker 145 Frederik II. (*1534, †1588), dänischer König 1559–1588  75 Freylinghausen, Johann Anastasius (*1670, †1739), deutscher Theologe 130 Friedrich II. (*1194, †1250), römischdeutscher Kaiser 1220–1250  22 Friesner, Matthäus, Revaler Stadtphysicus 144 Fulco, Missionsbischof von Estland 19 Gabler, Christoph August (*1820, †1884), Gouvernementsarchitekt 178 Gailit, August (*1891, †1960), estnischer Schriftsteller  248, 249 Geldern, Johann von (*?, †1572), Revaler Superintendent  86 Gernet, Axel von (*1865, †1920), Historiker 177 Giacintov, Erast Georgievič (*1859, †1910), Stadthaupt von Reval/ Tallinn1905  191, 199, 206, 207, 208

Gilläus, Martin (auch: Giläus, Gylläus, *1610, †1686), Kirchenlehrer und -gesangsmeister in Reval  133 Glossenius, Nikolaus, erster Superintendent von Reval 1533–1539 126 Goeteeris, Anthonis (*um 1597, †um 1651), niederländischer Gesandter 145 Gomer, Aba (*1879, †1941), Rabbiner in Tallinn 260 Gorbatschow, Michail Sergeevič (*1931), sowjetischer Politiker, Parteichef (1985–1991) und Präsident der UdSSR (1990/91) 302, 303, 305 Graff, David (*?, †1666), Kunstmaler 142 Green, Arnold (*1920), stellvertretender Ministerratsvorsitzender der ESSR 296 Gregor IV. (*?, †844), Papst 827–844 18 Gregor IX. (*um 1167, †1241), Papst 1227–1241 26 Gregor XII. (*1335, †1417), Papst 1406–1415 37 Greiffenhagen, Thomas Wilhelm (*1821, †1890), Stadthaupt von Reval/Tallinn 188, 189, 200 Greigh, Samuel (*1735, †1788), russischer Admiral schottischer Abstammung 170 Griboedov, Aleksander Sergeevič (*1775, †1829), russischer Schriftsteller 169 Grotenhielm, Georg Friedrich von (*1721, †1798), seit 1779 Vize-, 1783–1786 Zivilgouverneur von Estland 155 Grünewaldt, Johann Christoph Engelbrecht von (*1796, †1862), estländischer Gouverneur 1842–1859  172 Personenregister 

351

Gustav I. Vasa (*1496, †1560), schwedischer König 1523–1560 68, 75 Gustav II. Adolf (*1594, †1632), schwedischer König 1611–1632 77, 83, 86, 95, 100, 102, 104, 106, 134 Gustav III. (*1746, †1792), schwedischer König 1771–1792 112, 161 Gustav V. (*1858, †1950), schwedischer König 1907–1950  246, 251 Gutsleff, Heinrich (*1680, †1747), Pastor 130, 136 Habermann, Eugen (*1884, †1944), Tallinner Stadtarchitekt 1914– 1923 238, 239, 241 Hagen, Joachim (*1786, †1877), Organist der Olaikirche und Gesangslehrer am GouvernementsGymnasium zu Reval  193 Hallart, Magdalena Elisabeth von (*1683, †1750), Generalswitwe 130 Hansen, Johann Gotthard von (*1821, †1900), deutsch-baltischer Historiker 172, 174 Harald Klak(*um 785, †846), jütischer König 812–814 und 819–827 17 Hasse, Zacharias (auch: Leporius) (*?, †1531), Pastor 125, 126 Hasselblatt, Werner (*1880, †1958), deutschbaltischer Politiker 235, 246 Heinrich von Lettland (lat. Henricus de Lettis, *?, †nach 1259), Chronist 16, 23 Hellat, Aleksander (*1881, †1943), Jurist und Diplomat, Bürgermeister von Tallinn 1918/19, mehrfach Minister der Republik Estland 227, 231 352  Personenregister

Helle, Anton Thor (*1683, †1743), Pastor 130, 134, 136 Helvig (*?, †ca.1374), Schwester Valdemars III. und Frau Valdemars IV. Atterdag 28 Hembsen, Albrecht (*1625, †1657), Epitaphmaler 142 Hembsen, Hans (auch: Embsing, *?, †1641), Epitaphmaler  142 Hendrikson, Aleksander (*1895, †1977), Vorsitzender des Tallinner Exekutivkomitees 1945–1961 272 Herike, Goswin von (*?, †1359), Ordensmeister des livländischen Zweigs des Deutschen Ordens 1345–1359 29, 31 Hermann, Karl August (*1851, †1909), estnischer Dichter S. 303 Heroldt, Johann Georg, Steinmetz 142 Hetling, Wilhelm (*1740, †1798), Tuchhändler und 1786–1796 Stadthaupt, 1796–1798 Bürgermeister von Reval  155, 156, 157 Hilferding, Johann Peter (*1690, †1769), deutscher Schauspieler 140 Hiltinus (auch: Hiltius, Johannes, †1071), Bischof von Birka und Bischof für die Völker des Ostseeraums 18 Himselius, Gebhard (*1603, †1676), Revaler Stadtphysicus  144 Hippius, Otto Pius (*1826, †1883), Architekt 178 Honorius III. (*1148, †1227), Papst 1216–1227 22 Höppener, Max (*1848, †nach 1920), Architekt 178 Hoppenstätt, Franz (*?, †1657 od. 1658), Holzschnitzer 142

Hörschelmann, Ernst August Wilhelm (*1743, †1795), Lehrer am Revaler Gymnasium  136 Hovi, Kalervo (*1942), finnischer Historiker 252 Hündeberg, Ernst Nathanael (*1743, †1793), Schauspieler  141 Hurt, Jakob (*1839, †1907), estnischer Folklorist, Theologe und Sprachwissenschaftler  198 Illig, Johann Jacob (*1733, †1788), Buchhändler 160 Ilves, Toomas Hendrik (*1953), estnischer Journalist und Politiker, Präsident (seit 2006) und Außenminister (1996–1998, 1999–2002) der Republik Estland 316 Ivan III. (*1440, †1505), Moskauer Großfürst und russischer Zar 1462–1505 67 Ivan IV. (*1530, †1584), Moskauer Großfürst und russischer Zar 1547–1584 75 Ivan VI. (*1740, †1764), Moskauer Großfürst und russischer Zar 1740–1741 120 Jacoby, Carl Gustav (*1844, †1926), Architekt 178 Jakobson, Carl Robert (*1841, †1882), estnischer Publizist 196 Jakobson, Thomas (*1837, †1897), Stadtverordneter 187, 188, 189, 190, 197 Jalakas, Peeter (*1961), estnischer Regisseur und Theaterdirektor S. 311 Jannsen, Johann Voldemar (*1819, †1890), estnischer Publizist 195, 196 Jelzin, Boris Nikolevič (*1931, †2007), russischer Politiker, Präsident der

Russischen Föderation 1991– 1999 308 Johan III. (*1537, †1592), schwedischer König 1568–1592  78, 82, 83, 93 Johann I. (genannt Hans, *1455, †1513), nordischer Unionskönig  23 Johansen, Paul (*1901, †1965), dänischer Historiker  17 Johanson, Herbert (*1884, †1964), estnischer Architekt 241, 242 Judenič, Nikolaj Nikolaevič (*1862, †1933), russischer Infanteriegeneral, Oberbefehlshaber der weißen russischen NordwestArmee 1919/20  229 Jürgens, Johann Friedrich (*1755, †1829), Kaufmann und Ratsmitglied 157 Kaar, Enn (*1911, †1987), estnischer Architekt 276 Käbin, Johannes (*1905, †1999), estnischer Politiker, Parteichef der EKP 1950–1978  275, 302 Kalinin, Michail Ivanovič (*1875, †1946), Bolschewik, Staatsoberhaupt der Sowjetunion 1919– 1946 204 Kallas, Rudolf (*1851, †1913), estnischer Theologe und Pastor 198 Kallas, Siim (*1948), estnischer Politiker, Ministerpräsident der Republik Estland 2002/03, seit 2004 EU-Kommissar mit wechselnden Zuständigkeiten 303 Kallion, Ivar (*1931), Vorsitzender des Tallinner Exekutivkomitees 1971–1979 296 Kalm, Mart (*1961), estnischer Architekturhistoriker 273, 274, 283 Personenregister 

353

Kaplinski, Jaan (*1941), estnischer Schriftsteller 289, 301, 302 Karamzin, Nikolaj Michaijlovič (*1766, †1826), russischer Schriftsteller und Historiker  169 Karamzina, Ekaterina Alekseevna, geb. Kolyvanova (*1780, †1851) 169 Kark, Karl (*1882, †1924), estnischer Politiker 232 Karl IX. (*1550, †1611), König von Schweden 1604–1611  83 Karl XI. (*1655, †1697), König von Schweden 1672–1697 87, 88, 89, 94, 95, 104, 106, 108, 112, 115, 124 Karl XII. (*1682, †1718), König von Schweden 1697–1718  77, 83, 109, 215 Karl XIII. (vormals: Karl von Södermanland, *1748, †1818), König von Schweden 1809–1818 113 Karotamm, Nikolai (*1901, †1969), estnischer Politiker, Erster Sekretär des ZK der EKP 1944–1950 275 Karp, Raine (*1939), estnischer Architekt  311 Katharina I. (*1684, †1727), Kaiserin von Russland 1725–1727 111, 118, 120, 170 Katharina II. (*1729, †1796), Kaiserin von Russland 1762–1796 115, 118, 120, 123, 131, 148, 151, 152, 156, 161, 170, 183 Kelam, Tunne (*1936), estnischer Politiker 306 Kelch, Christian (*1657, †1710), Pastor und Chronist S. 138 Keppe, Otto (*1903, †1987), estnischer Architekt 274, 275 Kesa, Ernst (*1910, †1994), estnischer Architekt 244 354  Personenregister

Kiidelmaa, Aleksander (*1896, †1969), Vorsitzender des Tallinner Exekutivkomitees 1940 257, 272 Kingissepp, Viktor (*1888, †1922), estnischer Bolschewik  223, 231, 258 Knobloch, Georg Ludwig (*1742, †1798), Leiter des Krankenhauses des Kollegiums der allgemeinen Fürsorge  153 Knud IV. „der Heilige“ (*1043, †1086), König von Dänemark 1080–1086 24, 61 Knud VI. (*1162/63, †1202), König von Dänemark 1182–1202  19, 21, 24, 61 Knud Lavard (*ca. 1096, †1131), Jarl und erster Herzog im späteren Herzogtum Schleswig  61 Knüpffer, Rudolf von (*1831, †1890), Architekt 179 Koch, Hermann (*1882, †1957), deutscher Volksminister in der Estnischen Provisorischen Regierung 1918/19 235 Koell, Johann (*um 1500, †1540), estnischer Geistlicher 41, 128 Kohl, Johann Georg (*1808, †1878), Schriftsteller 167 Koidula, Lydia (eig. Lidia Emilie Florentine Jannsen, *1843, †1886), estnische Dichterin  285, 287, 288, 309 Kompus, Hanno (*1890, †1974), estnischer Kritiker und Regisseur 245, 248 Korostovec, Izmail Vladimirovič (*1863, †1933), Estländischer Gouverneur 1907–1915  208, 210, 211, 214, 215, 220, 229 Kõrv, Jakob (*1849, †1916), estnischer Schriftsteller und Publizist 192

Kotli, Alar (*1904, †1963), estnischer Architekt 244, 246, 273, 274, 275, 276, 288 Kotzebue, August Friedrich Ferdinand von (*1761, †1819), Dichter 140, 158, 159, 160, 193 Krause, Valentine von, geb. Eberhardt (*1920), Autorin von Memoiren 267, 268 Kross, Jaan (*1920, †2007), estnischer Schriftsteller 267, 289, 293 Krusenstern, Adam Johann von (*1770, †1846), Entdecker  170 Kruus, Hans (*1891, †1976), estnischer Politiker und Historiker  256, 286 Kukk, Jakob (*1870, †1933), Bischof von Estland 1921–1933  245, 246 Kuusik, Edgar (*1888, †1974), estnischer Architekt  242, 243, 247, 275 Laaman, Eduard (*1888, †1941), estnischer Diplomat und Publizist 199, 223 Laar, Mart (*1960), Historiker und estnischer Politiker, Ministerpräsident der Republik Estland 1992–1994, 1999–2002  309, 310, 311 Laidoner, Johan (*1884, †1953), estnischer General, Oberbefehlshaber der estnischen Armee 1918–1920, 1924/25, 1934–1940 228, 229, 230, 232, 233, 246, 247, 258, 261 Lange, Johann(es) (†1531), Oberpastor von Reval 125, 126 Lauristin, Marju (*1940), estnische Medienwissenschaftlerin und Politikerin 307, 308, 310 Lauter, Ants (*1894, †1973), estnischer Schauspieler  248

Le Blond, Jean-Baptiste (*1679, †1719), Architekt in St. Petersburg und Reval 118 Lender, Elfriede (*1882, †1974), Pädagogin 208 Lender, Voldemar (*1876, †1939), Bürgermeister Revals 1906–1913 208, 215, 220 Lermontov, Michail Jur’evič (*1814, †1841) 292 Lindgren, Armas (*1874, †1929), finnischer Architekt  211, 273 Litzmann, Karl (*1893, †1945), Generalkommissar für Estland, SA-Ober­gruppenführer  261, 262, 263, 270 Lohse, Hinrich (*1896, †1964), Reichskommissar Ostland  261 Londicer, Ernst Wilhelm (*1655, †1697), Maler 142 Lönn, Wiwi (*1872, †1966), finnische Architektin 211, 273 Lopuchin, Aleksej Aleksandrovič (*1864, †1928), Estländischer Gouverneur 1905 205, 206, 207 Löwenwolde, Gerhard Johann von (*?, †1723), estländischer Adliger 113 Ludwig der Fromme (*778, †840), Frankenkaiser 813–840 17 Luik, Viivi (*1946), estnische Schriftstellerin 289, 300 Made, Tiit (*1940), estnischer Ökonom und Politiker 303 Mäe, Hjalmar (*1901, †1978), Physiker und Jurist, estnischer Politiker, Leiter der estnischen Selbstverwaltung unter deutscher Besatzung 1941–1944  261, 270 Magnus von Holstein (*1540, †1583), estländischer Bischof  75 Personenregister 

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Margarete Sambiria (*1230, †1282), Gemahlin Christophs I. von Dänemark 40, 50 Maria Eleonora von Brandenburg (*1599, †1655), Gemahlin Gustavs II. Adolfs von Schweden 83 Martin V. (*1368, †1331), Papst 1417–1431 55, 131 Martna, Mihkel (*1860, †1934), estnischer Politiker 237 Mattiisen, Alo (*1961, †1996), estnischer Rockmusiker S. 303 Maydell, Victor von (*1838, †1898), Stadthaupt von Reval 1885–1894 189 Meder, Johann Valentin (*1649, †1719), deutscher Komponist und Organist 140 Menšikov, Aleksandr (*1672, †1729), russischer Feldmarschall und Staatsmann 113 Mentzel, Walter (*1899, †1978), Regionalkommissar Reval-Stadt und Bürgermeister, SA-Obersturmbann­führer 262 Meri, Lennart (*1929, †2006), Filmregisseur, Autor und Politiker, Außenminister (1991/92) und Präsident der Republik Estland 1992–2001  307, 310, 312, 318 Metsanurk, Mait (Eduard Hubel, *1879, †1957), estnischer Schriftsteller 249, 286 Michaelson, Andreas (*?, †1657), Holzschnitzer 142 Michetti, Nicola (*um 1680, †1758/59), italienischer Architekt 111 Mickwitz, Christoph Friedrich (*1696, †1748), Pastor  130 Miljukov, Aleksander Petrovič (*1817, †1897), russischer Literaturhisto356  Personenregister

riker und Reiseschriftsteller  173, 174, 175, 244 Mothander, Carl (*1886, †1965), Kommandeur der schwedischen Freiwilligeneinheit im estnischen Unabhängigkeitskrieg 1919, später Gutsbesitzer in Estland 244 Münnich, Burkhard Christoph von (*1683, †1767), deutschstämmiger Ingenieur, Generalfeldmarschall und Politiker in russischen Diensten 119 Murdmaa, Alan (*1934, †2009), estnischer Architekt 283, 288 Nelson, Horatio (*1758, †1805), britischer Admiral 162 Niehusen, Elsabe, Revaler Kaufmannstochter 137 Nikolaus I., Bischof von Schleswig 1192–1233 22, Nikolaus I. (*1796, †1855), Kaiser von Russland 1825–1855  165, 168, 169 Nikolaus II. (*1868, †1918), Kaiser von Russland 1894–1917  184, 191, 198, 207, 215, 219 Norby, Søren (auch: Severin, *um 1470, †1530), dänischer Flottenführer 68 Nordenskjöld, Otto Henrik (*1747, †1832), schwedischer Admiral 161 Noteboom, Cees (*1933), niederländischer Schriftsteller  318 Ojakäär, Valter (*1923), estnischer Jazzmusiker 284 Olav II. Haraldsson (*995, †1030), norwegischer König 1015–1028  40 Olav Skotkonnung (*ca. 980, †1021/1022), Svear-König 990er–1021/22 18

Olearius, Adam (*1599, †1671), deutscher Schriftsteller, Diplomat 47, 136, 138 Olsen, Peder (lat. Petrus Olai, *?, †1570), Franziskanermönch  23 Opitz, Martin (*1597, †1639), Barockdichter 136 Ots, Georg (*1920, †1975), estnischer Sänger 291, 292, 293 Oxenstierna, Axel (*1583, †1654), Reichskanzler von Schweden 133 Oxenstierna, Erik (*1624, †1656), Gouverneur von Estland 1646– 1652 96 Paalse, Konstantin (*1903, †1979), estnischer Musiker 285, 286 Pahlen, Alexander Freiherr von der (*1819, †1895), Estländischer Ritterschaftshauptmann 178 Parek, Lagle (*1941), estnische Architektin und Dissidentin 302, 303, 305 Päts, Konstantin (*1874, †1956), Jurist, Journalist und Politiker, mehrfacher Staatsältester und 1934–1940 Präsident der Estnischen Republik 199, 206, 207, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 233, 235, 241, 246, 247, 252, 255, 256, 257, 258, 260, 261, 262, 267, 273, 309 Paul I. (*1754, †1801), Kaiser von Russland 1796–1801 115, 156, 162 Paulucci, Marquis Filippo (*1779, †1849), Generalgouverneur 1812/17–1829 172, 174 Pedersen, Christiern (*vor 1480, †1554), dänischer Humanist und Schriftsteller 23 Peter I. (*1672, †1725), Großfürst von Moskau, Zar von Russland 1689—1725, Kaiser von Russland

1721–1725 77, 109, 110, 111, 112, 115, 117, 118, 120, 123, 149, 170, 212, 213, 214 Philipp von Schwaben (*1177, †1208), römisch-deutscher König 1198–1208 19 Plettenberg, Wolter von (*ca. 1450, †1535), Landmeister des Deutschen Ordens in Livland 1494–1535  31 Põdder, Ernst (*1879, †1932), estnischer General 232 Polivanov, Viktor Petrovič (*?, †1889), seit 1869 Vize-, Estländischer Gouverneur 1875–1885 188 Port, Mart (*1922), estnischer Architekt 273, 283, 290 Poska, Jaan (*1866, †1920), Anwalt, Bürgermeister und erster Außenminister der Republik Estland 1918–1920  193, 199, 207, 208, 209, 220, 221, 223, 226 Pott, Johann Ludwig Luberas von (*1687, †1752), russischer Generalmajor 117 Preobraženskij, Michail Timofeevič (*1854, †1930), russischer Architekt 212, 215 Puškin, Aleksandr Sergeevič (*1799, †1837), russischer Dichter  169, 215 Putin, Vladimir Vladimirovič (*1952), russischer Politiker, Präsident (2000–2008) und Ministerpräsident (1999, seit 2008) der Russischen Föderation 315 Reußner, Christoffer (*?, †1658), Buchdrucker 135 Riesemann, Oskar (*1833, †1880), Ratssyndikus und Stadthaupt 1878–1880 187, 196 Personenregister 

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Roddendorp, Nikolaus (*?, †?), estnischer Bischof 1493–1509 126 Roos, Enn (*1908, †1990), estnischer Bildhauer 315 Rosen, Robert Gottlieb Freiherr von (*1790, †1867), Estländischer Vizegouverneur  202 Rosenberg, Alfred (*1893, †1946), Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, geb. in Reval 262 Rosenthal, Heinrich (*1846, †1916), estnischer Stadtverordneter 187, 196, 197, 198 Rudbeckius, Johannes (*1581, †1646), schwedischer Bischof  86, 87, 129 Rummo, Paul-Eerik (*1942), estnischer Dichter 289, 292, 301 Rüssow, Balthasar (*um 1536, †1600), Pastor, Chronist Livlands und Estlands 41, 74, 137, 138, 293 Rüütel, Arnold (*1928), estnischer Politiker, Vorsitzender des Obersten Sowjets 1983–1990, Präsident der Republik Estland 2001–2006 305, 310 Saarinen, Eliel (*1873, †1950), finnischer Architekt 216, 217, 241, 242, 280 Šachovskoj, Sergej Vladimirovič (*1852, †1894), Estländischer Gouverneur 1885–1894  187, 188, 189, 190, 191, 200, 201, 202, 212, 213 Salemann, Karl Johann (*1769, †1843), präsidierender Bürgermeister von Tallinn 164 Salumäe, Erika (*1962), estnische Bahnsprinterin, Olympiasiegerin 305 Sandberger, Martin (*1911, †2010), Leiter des »Sonderkommando 1a« der »Einsatzgruppe A« der 358  Personenregister

Heeresgruppe Nord, SS-Standartenführer 262, 263, 264 Sapožnin, Oleg (*1931), Tallinner Lokalpolitiker 296 Savisaar, Edgar (*1950), estnischer Politiker, Tallinner Bürgermeister 2001–2004 und seit 2007  303, 307, 308, 309, 313, 315 Saxo Grammaticus (*ca. 1140, †1220), dänischer Geschichtsschreiber und Geistlicher  20, 23 Schein, Johann Hermann (*1586, †1630), deutscher Dichter und Komponist 136 Schultz, Heinrich (*1924), Tallinner Kulturfunktionär 295 Schultz, Johann, Jenaer Baumeister 113 Scolari, Guiseppe (*1720, †1774), italienischer Komponist  140 Seaver, Kristjan (*1898, †1941), Vorsitzender des Tallinner Exekutivkomitees 1940/41  257, 259 Seckendorff, Adolf von (*1857, †1941), Generalleutnant, Militärgouverneur von Estland 1918 226 Semper, Johannes (*1892, †1970), estnischer Schriftsteller 248, 250, 285, 286 Sepmann, Henno (*1925, †1985), estnischer Architekt 290, 297 Sievers, Jakob Johann von (*1731, †1808), deutschbaltischer Politiker 148 Sigismund III. Wasa (*1566, †1632), polnischer König 1587–1632 82, 134 Sillaots (Rannat), Marta (*1887, †1969), Lehrerin, Schriftstellerin und Übersetzerin 202, 212, 218, 219, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 236

Sirge, Rudolf (*1904, †1970), estnischer Schriftsteller  250, 289 Skalon, Evstafij Nikolaevič (*1845, †1902), Estländischer Gouverneur 1894–1902 191, 213 Soans, Anton (*1885, †1966), Tallinner Stadtarchitekt 1923–1928 239, 243, 274 Sokk, Tiit (*1964), estnischer Basketballer, Olympiasieger  305 Soodla, Johannes (*1897, †1965), Generalinspekteur der estnischen SS-Einheiten 267 Soots, Jaan (*1880, †1942), estnischer General und Oberbürgermeister Tallinns 1934–1939 233, 242 Spanheim, Siegfrid Lander von (*?, †1424), Landmeister des Deutschen Ordens in Livland 1415–1424 29 Spindler, August F. (*1867, †1941), Arzt 153, 182 Spiridov, Aleksej Grigor’evič (*1753, †1828), Hafenkommandant und Militärgouverneur, Admiral 162, 171 Stackelberg, Camilla von, geb. von Voigt (*1895, †1978), Autorin von Memoiren 232, 233, 234, 253 Stackelberg, Eduard Freiherr von (*1867, †1943), Vorsitzender des Deutschen Vereins 210 Stahell, Heinrich (*ca. 1600, †1657), estländischer Pastor und geistlicher Schriftsteller  133, 136 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum (*1757, †1831), preußischer Reformpolitiker 162 Stolypin, Petr Arkad’evič (*1862, †1911), Ministerpräsident des Russländischen Reiches, 1908–1911 212, 214

Strobel, Kurt (*1904, †1982), deutschbaltischer Musiker  250, 285 Sunesen, Anders (lat. Andreas Sunonis, *ca. 1161, †1228), Erzbischof von Lund 1201–1228 22, 23, 30 Svin’in, Pavel Petrovič (*1788, †1839), russischer Publizist  168, 170 Tacitus, Publius Cornelius (*um 58, †nach 116), römischer Historiker und Senator  14, 15 Tamm, Jaak (*1950, †1999), estnischer Politiker, Bürgermeister 1992– 1996 313, 329 Tammsaare, Anton Hansen (*1878, †1940), estnischer Schriftsteller 249, 289 Tarkovskij, Andrej Arsen’evič (*1932, †1986), sowjetischer Regisseur 93 Tarvas, Peeter (*1916, †1987), estnischer Architekt  274, 275 Teemant, Jaan (*1872, †1941), Jurist, Journalist und Politiker  199, 205, 207 Terras, Artur (*1901, †1963), Bürgermeister 1941–1944  262 Thamm, Nikolai (*1834, †1907), Architekt 259 Theoderich (†1219), Missionsbischof von Estland 1211–1219 22 Thiele, Elert (auch: Diel, *?, †1674), Bildhauer und Kunstschnitzer 142 Thorkill (*?, †1260), Bischof von Reval 1238/40–1260 32 Tief, Otto (*1889, †1976), estnischer Politiker, 1944 amtierender Premierminister der letzten legalen estnischen Regierung 268 Tiesenhausen, Ferdinand Graf (*1782, †1805), Flügeladjutant Alexanders I. 160, 170 Personenregister 

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Tihase, Karl (*1914, †2005), estnischer Architekt 288 Tiisik, Karp (*1843, †1922), estnischer orthodoxer Oberpriester in Reval 190, 211, 213 Tilly, Louise Caroline (*1757, †1799), Leiterin einer Schauspieltruppe 141, 160 Titma, Mikk (*1939), estnischer Soziologe 303 Tomskij, Nikolaj (*1900, †1984), russischer Bildhauer 275 Tõnisson, Aleksander (*1875, †1941), estnischer General und Oberbürgermeister von Tallinn 1939/40 228, 233 Tõnisson, Jaan (*1868, † vermutlich 1941), Journalist, Politiker, mehrfach Staatsältester in der Estnischen Republik 207, 209 Trockij, Lev Davydovič (*1879, †1940), bolschewistischer Politiker, 1918–1925 sowjetischer Volkskommissar für das Kriegswesen 229 Tubin, Eduard (*1905, †1982), estnischer Komponist  270, 285 Tuglas, Friedebert (*1886, †1971), estnischer Schriftsteller 248, 285, 286, 289 Türnpu, Konstantin (*1865, †1927), estnischer Komponist 210 Uesson, Anton (*1879, †1942), Ingenieur, Bürgermeister Tallinns 1919–1934, bis 1940 stellvertretender Bürgermeister  231, 233, 239 Uexküll, Alexander Baron von (*1829, †1891), Stadthaupt von Reval 1878–1883  187 Uexküll, Heinrich III. von (*?,†1500), Revaler Bischof 1420–1456 37 360  Personenregister

Uexküll, Meinhard von (*?, †1196), Missionar, Bischof der Liven  19 Uluots, Jüri (*1890, †1945), Jurist und estnischer Politiker, Ministerpräsident 1939/40  267 Under, Marie (*1883, †1980), estnische Schriftstellerin  248, 249 Ungern-Sternberg, Isabella von, geb. von der Pahlen (*1846, †1915) 245 Unt, Mati (*1944, †2005), estnischer Schriftsteller  301 Urban V. (*1310, †1370), Papst 1362–1370 55 Uusväli, Rolf (*1930, †2005), estnischer Organist 297 Vapaavuori, Pekka (*1962), finnischer Architekt 312 Vagnsen, Peder (*?, †1204), Bischof von Aarhus 1191–1204 22 Vähi, Tiit (*1947), estnischer Politiker, Ministerpräsident der Republik Estland 1992, 1995–1997 309, 313 Vaino, Karl (*1923), estnischer Parteichef 1978–1988 302, 303, 304 Valdemar I. (*1131, †1182), König von Dänemark 1157–1182  21, 61 Valdemar II. Sejr (*1170, †1241), König von Dänemark 1202–1241 20, 21, 22, 24, 61 Valdemar IV. Atterdag (*1320, †1375), König von Dänemark 1340–1375 28, 29, 47, 50, 51 Valgre, Raimond (*1913, †1949), estnischer Sänger und Komponist 284, 285 Väljas, Vaino (*1931), estnischer Politiker, 1988–1991 Parteichef der EKP 304 Valk, Heinz (*1936), estnischer Künstler 304

Vares (Barbarus), Johannes (*1890, †1946), estnischer Schriftsteller und Politiker 250, 256, 257, 285 Vasil’ev, Nikolaj (*1875, †?), russischer Architekt 209, 211 Veideman, Rein (*1946), estnischer Literaturwissenschaftler 305 Velliste, Trivimi (*1947), estnischer Politiker 303, 304 Viiding, Juhan (Pseud. Jüri Üdi, *1948, †1995), estnischer Dichter 289, 301 Viires, Piret (*1963), estnische Literaturwissenschaftlerin  281 Vilde, Eduard (*1865, †1933), Schriftsteller und Journalist S. 199, 202 Visnapuu, Henrik (*1890, †1951), estnischer Dichter 248, 249 Vladimir I. von Kiev (*960, †1015), Fürst von Kiev 980–1015 18 Volkonski, Peeter (*1954), estnischer Sänger und Künstler  300 Vöölmann, Voldemar (*1887, †1937), estnischer Bolschewik, Stadthaupt 1917/18 222, 223 Walter, Karl, Regionalkommissar Reval-Stadt und Bürgermeister, SA-Obersturmbann­führer 262 Wanradt, Simon (*um 1500, †1567), Pastor 127, 128

Wedekind, Johann Heinrich (*1674, †1736), deutscher Maler  142 Wilhelm von Modena (*ca. 1184, †1251), päpstlicher Legat  20, 24 Winterstein, Volquin Schenk von (*?, †1236) Herrenmeister des Schwertbrüderordens 1209–1236 25 Wistinghausen, Carl von (*1826, †1883), Arzt 196, 198 Witt, Benedikt Georg (*1746, †1816), Begründer einer Badeanstalt in Reval 167, 170 Wizlaw I. (*um 1180, †1250), Fürst von Rügen 1221–1250  22 Wrangell, Benita von (*1878, †1967), Ehefrau Carl Mothanders 244 Wrangell, Fabian von (*?, †?), Ritterschaftshauptmann der Estländischen Ritterschaft 1663–1667 83 Ždanov, Andrej Aleksandrovič (*1896, †1948), sowjetischer Politiker 255, 256, 257 Zinzendorf, Nikolaus von (*1700, †1760), Gründer der Herrnhuter Brüdergemeinde  130 Zotov, Vasilij (*?, †1729), russischer General 109

Personenregister 

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