Riga: Kleine Geschichte der Stadt
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Andreas Fülberth

Ri ga Kleine Geschichte der Stadt

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Schwarzhäupterhaus und Petrikirche (© akg-images/De Agostini Pict.Lib.) Umschlagrückseite: Blick über die Düna auf Riga um 1860 (Ausschnitt aus einem Stich von Wilhelm Siegfried Stavenhagen) Vorsatz: Das heutige Zentrum von Riga (© Edition Temmen) Nachsatz: Riga 1230–1330 (aus: Friedrich Benninghoven, Rigas Entstehung und der frühhansische Kaufmann, Hamburg 1961)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-22165-2

INHALT Vorwort ................................................................................................................ 9 I. Das mittelalterliche Riga .................................................................. 13 1. Die Stadtgründung von 1201 ............................................................. 13 Naturräumliche und sonstige Ausgangsbedingungen für die Stadtgründung ....................................................................................... 13 Quellenlage und Thesen rund um die Stadtgründung .................. 17 2. Die bauliche, demographische und rechtliche Entwicklung der Stadt während des Mittelalters.................................................... 27 Die Stadterweiterungen des 13. Jahrhunderts und ihre Hintergründe ......................................................................................... 27 Die Sakraltopographie der Stadt........................................................ 36 Die Entstehung des Rates und der Gilden ....................................... 40 Das rigische Stadtrecht und einige der mit ihm verbundenen Quellen.................................................................................................... 44 Flächennutzungen außerhalb der Mauern und die Bedeutung des Rigebach-Hafens ............................................................................ 47 3. Das Ringen um die Stadtherrschaft................................................... 52 Die Fehde der Jahre 1297–1330 und ihre unmittelbaren Konsequenzen........................................................................................ 52 Rigas Erzbischöfe vom 14. bis ins 16. Jahrhundert ........................ 55 4. Riga als Hansestadt ............................................................................... 63 II. Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts .................................. 67 1. Der rasche Siegeszug der Reformation ............................................. 67 2. Der hinausgezögerte Herrschaftswechsel in der Zeit des Livländischen Krieges (1558–1582/83).......................................... 70 3. Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 ................. 75 4. Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710).................... 82 Rigas rechtliche, wirtschaftliche und strategische Stellung innerhalb des schwedischen Reiches.................................................. 82 Die Entstehung der Festungswälle und andere bauliche Maßnahmen ........................................................................................... 88 Der Beginn des Großen Nordischen Krieges der Jahre 1700–1721.............................................................................................. 92

Inhalt 

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III. Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)....... 96 1. Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkriegs .............................................................................................. 96 Das Interesse Peters des Großen an Riga und die bauliche Fortentwicklung im 18. Jahrhundert ................................................ 96 Wandlungen im Geistesleben der Stadt ........................................... 104 Politische Modernisierungsversuche in der Zeit Katharinas der Großen.............................................................................................. 107 Die Anfänge des Rigaer Theaterwesens ........................................... 112 Riga während der Napoleonischen Kriege und die anschließende Inszenierung des Sieges ............................................. 115 Punktuelle Bau- und Gestaltungsmaßnahmen und deren Träger bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts ................................. 118 2. Von der Niederlegung der Wälle (1857–1863) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Rigas Aufstieg zur Großstadt ............................................................................................... 122 Modernisierungsschritte um 1860: Eisenbahnanbindungen und die Entstehung des Boulevard-Bogens ..................................... 122 Rigas Polytechnikum – eine im damaligen Zarenreich einzigartige Lehreinrichtung .............................................................. 128 Wachsendes Vergangenheitsinteresse – Rigas Dom, das Dommuseum und die Arbeit der »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde«.................................................... 132 Rapides Anwachsen und veränderte ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung ........................................ 136 Die Entwicklung von Handel und Industrie und das Ende der alten Stadtverfassung ..................................................................... 145 Erfolge und Spannungen vor und nach dem 700-jährigen Stadtjubiläum 1901............................................................................... 151 Die Revolution von 1905 und die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg .................................................................................... 159 3. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Zarenherrschaft und des kaiserlichen Deutschlands .............. 166 Riga als Frontstadt bis 1917................................................................ 166 Riga unter deutscher Verwaltung zwischen September 1917 und November 1918............................................................................. 169

6  Inhalt

IV. Riga in der Zeit der unabhängigen Republik Lettland (1918–1940) sowie während des Zweiten Weltkriegs .... 173 1. Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates ............................ 173 Von der Herrschaft Stučkas bis zur endgültigen Festigung der Republik .......................................................................................... 173 Eine Stadt im Umbruch und als Bühne internationaler Politik....................................................................................................... 175 Entwicklungen im Bildungs- und im Kirchenwesen ..................... 180 Die politisch gewollte »Lettisierung« Rigas.................................. 182 2. Die Weltkriegsjahre ab dem sowjetischen Einmarsch in die baltischen Republiken.......................................................................... 194 Das erste Jahr unter sowjetischer Besatzung (1940/41) ............... 194 Die deutsche Besatzung (1941–1944) und die sowjetische Rückeroberung ...................................................................................... 198 Die Verbrechen an Juden in und um Riga........................................ 202 V. Von der Nachkriegszeit unter sowjetischer Herrschaft (1945–1991) bis zur Gegenwart in einem wieder unabhängigen Staat ........................................................................... 225 1. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR .......................................... 225 Die Anfänge der äußerlichen Sowjetisierung Rigas und die Ausweitung der Stadtgrenzen ............................................................ 225 Bauliche Eingriffe in die Stadtlandschaft bis Anfang der 1980er Jahre ........................................................................................... 229 Erscheinungsformen antisowjetischer Widersetzlichkeit im sowjetzeitlichen Riga ...................................................................... 236 Für das sowjetzeitliche Riga charakteristische Produktionsstätten und Institutionen .............................................. 240 Neue Wohnbezirke für immer mehr Menschen und die umstrittenen Rigaer Metro-Planungen ............................................ 243 Die letzten Jahre der Sowjetunion aus Rigaer Sicht....................... 247 2. Jahre des Neubeginns nach 1991 ....................................................... 252 Eigentumsfragen, Rückschläge bei der Rettung des Bauerbes und andere unliebsame Themen ........................................................ 252 Die Wiedererschaffung von Schwarzhäupterhaus und Rathausplatz ........................................................................................... 257 Rigas 800-Jahr-Feier und andere besondere Ereignisse ................. 260

Inhalt 

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3. Riga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 ............. 263 Wirtschaftskrise und Bevölkerungsschwund als Sorgen der Gegenwart ....................................................................................... 263 Kulturlandschaft und Bildungswesen als ideelle Reichtümer...... 267 Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas...................................... 271 Abbildungsnachweise ........................................................................................ 281 Fachliteratur zur Geschichte Rigas................................................................. 283 Personenregister ................................................................................................. 286 Orts-, Gebäude- und Straßenregister ............................................................. 297

8  Inhalt

VORWORT Eine ähnlich bunte Bevölkerungszusammensetzung, wie es sie in Riga während bestimmter Phasen seiner Geschichte gegeben hat, dürfte für kaum eine andere baltische Stadt nachweisbar sein – und doch ist Riga die einzige baltische Hauptstadt, deren Name in den Sprachen beinahe sämtlicher Nationalitäten, die hier in größerem Umfang vertreten waren oder noch sind, gleich lautet: »Riga« wird die Stadt von Deutschen ebenso wie von Russen genannt; und hinter leicht abweichenden Schreibweisen wie »Rīga« im Lettischen oder »Ryga« im Litauischen und Polnischen verbergen sich keineswegs abweichende Arten der Aussprache. Daher erscheint es auch nicht unangemessen, den Stadtnamen im vorliegenden Buch durchweg dem deutschen Schriftbild entsprechend zu verwenden. 2014, wenn die heutige Hauptstadt Lettlands sich für ein Jahr als »Kulturhauptstadt Europas« präsentieren darf, wird sie offiziell 813 Jahre alt sein. Die bislang letzte größere Gesamtdarstellung der Geschichte Rigas in deutscher Sprache ist 1897 erschienen und bildet, auch wenn darin zuletzt noch Ereignisse der Jahre 1877–1889 gestreift werden, nur die Zeit bis 1861 detailliert ab. Bei der Zusammenstellung ihrer Inhalte stand noch sehr deutlich das Interesse an den Verläufen von Kriegen und politischen Auseinandersetzungen im Vordergrund. Zwar schnitt der Autor hier und da auch kulturelle Themenfelder an; vereinzelt verraten seine Formulierungen jedoch, dass ihm diese Form der Inhaltsabrundung zu jener Zeit geradezu innovativ vorgekommen sein muss. Die Erwartungen, was eine Stadtgeschichte inhaltlich bieten sollte, dürften seither nicht geringer geworden sein. Obwohl einerseits viele potenziell zu berücksichtigende Sachgebiete hinzugetreten sind, könnte es andererseits ermüdend wirken, wenn sich – am ehesten wohl epochenweise abgehandelt – einfach ein Sachgebiet an das andere reihen würde. Also bleibt letztlich nur die Suche nach einem Zugang, der der konkreten Stadt, um die es gehen soll, gerecht wird und der die denkbaren Interessenschwerpunkte des Lesers möglichst nicht verfehlt. Eine Geschichte Rigas so aufzubereiten, dass sie speziell eine deutschsprachige Leserschaft ansprechen mag, erfordert, was die Inhaltsselektion anbelangt, keine übergroßen Anstrengungen, da über mehr als 700 Jahre hinweg vorwiegend Deutsche in dieser Stadt den Ton angaben. Verbindungen zu Orten und Personen in Deutschland entstanden so auf vielschichtige und immer wieder neue Weise. Ziel der vorliegenden Darstellung kann es nicht sein, einen aktiven Forschungsbeitrag zu leisten. Gleichwohl gilt es zu verdeutlichen, dass insbesonVorwort 

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dere im Zusammenhang mit den ersten Jahrzehnten der Geschichte Rigas vieles nicht mit Gewissheit feststeht, sondern zu etlichen Fragen jeweils nur verschiedene Hypothesen formuliert werden können. Insoweit bedarf es vorab der Bitte um Verständnis dafür, dass von Fall zu Fall Anlass besteht, auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten bei bestimmten Quellentexten hinzuweisen oder auch Weiterentwicklungen der Forschungslage kurz anzusprechen. Ein nicht näher bezifferbarer, aber zweifellos großer Anteil dessen, was im Rahmen eines Überblicks über die gut 800-jährige Geschichte Rigas berichtenswert erscheint, hat seinen Schauplatz auf einer Fläche gehabt, die gerade einmal ein knappes Dreihundertstel des heutigen Stadtterritoriums ausmacht. Auch einer solchen Befundlage gilt es Rechnung zu tragen. Gemeint ist selbstverständlich jener knappe Quadratkilometer, der heute als »Altstadt« bezeichnet wird, wobei es noch gar nicht allzu lange her ist, dass dieser Begriff lediglich für einen Teil der Altstadt von heute in Gebrauch war. Die Vielfalt an historischer Bedeutung, die hier mancher Örtlichkeit anhaftet, erschließt sich möglicherweise umso besser, je mehr auch ein stadtgeschichtlicher Überblick so angelegt ist, dass er in einigen Zusammenhängen vor allem die Geschichte konkreter Örtlichkeiten verfolgt. Nicht minder reizvoll erscheint es, Personen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken – mitunter auch in Form kleiner Exkurse, in denen über das Ende der jeweils behandelten Epoche hinausgeblickt wird. Zumeist sind derartige Exkurse im Textbild hervorgehoben; auch ohne diese Hervorhebung würden sie aber hoffentlich kaum für Verwirrung sorgen, da stets zur Genüge Jahreszahlen-Nennungen eingeflochten sind. Bei Straßennamen-Nennungen wird, wenn es um Straßen im Bereich der heutigen Stadtmitte geht, hinter dem lettischen Namen in der Regel der deutsche Name aus der Zeit um 1900 in Klammern hinzugefügt, da dieser zumeist eine wörtliche Übersetzung des lettischen Namens darstellt und da die Wende zum 20. Jahrhundert – im Gegensatz vor allem zur Sowjetzeit – ein Zeitraum ist, in dem tendenziell viele Straßennamen auf Lettisch bereits so lauteten wie heute. Als Ausnahme sei der heutige Brīvības bulvāris hervorgehoben, der diesen Namen zuvor nur zwischen 1923 und 1950 trug (mit Ausnahme mehrerer Jahre unter deutscher Besatzung bis 1944), doch der auf Deutsch am sinnvollsten in wörtlicher Übersetzung »Freiheitsboulevard« genannt werden kann, selbst wenn dies nie ein authentischer deutschsprachiger Name für ihn war: Sein letzter in Friedenszeiten vergebener amtlicher Name in deutscher Sprache – derjenige aus der Zeit um 1900 – lautete vielmehr »Alexander-Boulevard«. 10  Vorwort

Je nach Zeitzusammenhang kann im Text um einer Vermeidung anachronistischer Anklänge willen auch der deutsche Name vorangehen und der lettische in Klammern folgen. Sinnvoll erscheinen solche stetigen Zweifachnennungen unter anderem deshalb, weil im Mittelalter etliche heutige Altstadtstraßen völlig anders benannt waren als in späteren Jahrhunderten, so dass für das Gebiet der Altstadt mindestens zwei Schichten deutschsprachiger Straßennamen voneinander zu trennen sind. Jeglicher Verzicht auf optimale Klarheit, welche Straße im Einzelfall gemeint ist, hätte die Lektüre folglich unnötig erschweren können. Dies belegen ferner einige lettische Straßennamen, die sich um 1900 eingebürgert hatten und die jeweils nur geringfügig von den heutigen lettischen Namen der betreffenden Straßen abweichen: Die Große Lärmstraße beispielsweise wurde im Lettischen meist »Trokšņu iela« genannt, manchmal allerdings auch »Trokšņa iela«. Die auf sie mündende Große Brauerstraße wiederum heißt jetzt »Aldaru iela« und nicht mehr wie um 1900 »Brūveru iela«, wobei aber sowohl »aldari« als auch »brūveri« im Lettischen »Brauer« sind. Für die verschiedenen offiziell definierten Vorstadtbereiche Rigas werden im vorliegenden Buch die in der Zeit ihrer Wiederbebauung und Erweiterung nach 1812 verfestigten Bezeichnungen benutzt, so dass zum Beispiel die »Moskauer Vorstadt« meist nur unter diesem Namen auftaucht, auch wenn anstelle von »Moskauer Vorstadt« (lett. »Maskavas forštate«) heute die Benennung »Lettgallische Vorstadt« (lett. »Latgales priekšpilsēta«) etabliert ist oder etwa die »Petersburger Vorstadt« nach heutiger amtlicher Benennung als »Livländische Vorstadt« (lett. »Vidzemes priekšpilsēta«) zu bezeichnen wäre. Bei Politiker- und Herrscherpersönlichkeiten, die weit über das Baltikum hinaus Bekanntheit genießen und die nicht unmittelbar über Teile des Baltikums geherrscht haben, wurde im Buchtext auf die Hinzufügung von Lebensdaten verzichtet – es sei denn, diesen kommt im betreffenden Textzusammenhang ein besonderer Aussagewert zu. Ähnlich wurde bei Päpsten sowie bei global bekannten Persönlichkeiten wie etwa Martin Luther verfahren. Auf die erste Nennung des Namens einer im engeren Sinne mit der Geschichte Rigas, Lettlands oder angrenzender Länder verbundenen Person folgen hingegen stets, soweit sie ermittelbar waren, deren Lebensdaten. In vielen Fällen enthalten entsprechende Klammerzusätze auch noch Jahreszahlen bezüglich jeweiliger Zeiträume, in denen eine solche Person eine prägnante Funktion innehatte. Als Nachschlagemöglichkeit für die Lebensdaten sämtlicher Personen, die im Buchtext vorkommen, steht ansonsten – unabhängig von den genannten Kriterien – auch das Register zur Verfügung. Vorwort 

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In Fällen, in denen das Geburtsdatum einer Person nicht einmal ansatzweise eingrenzbar ist, sondern nur das Todesjahr feststeht, wurde (außer im Register) darauf verzichtet, dies eigens mit einem Fragezeichen hinter dem Symbol für »geboren« (*) anzudeuten, und stattdessen lediglich das Todesjahr vermerkt (gegebenenfalls zuzüglich ergänzender biographischer Daten). Herrschernamen wie Alexander, Christian, Katharina usw. finden, auch wenn sie sich in der jeweiligen Landessprache anders schreiben, vorzugsweise so, wie es ihrer Schreibung im Deutschen entspricht, Verwendung, während ansonsten zum Beispiel bei Namen russischer Herkunft in der Regel die wissenschaftliche Art der Transkription praktiziert wird. Angaben konkreter Daten orientieren sich an dem Kalender, der zum jeweiligen Zeitpunkt am Ort des jeweiligen Geschehens gültig war. In Riga handelte es sich dabei bis 1917 um den julianischen Kalender, auch wenn erste Versuche, den gregorianischen Kalender einzuführen, hier schon in den 1580er Jahren unternommen wurden.

12  Vorwort

I. DAS MITTELALTERLICHE RIGA 1. Die Stadtgründung von 1201 Naturräumliche und sonstige Ausgangsbedingungen   für die Stadtgründung

Stärker als bei den meisten anderen nordosteuropäischen Städten unterscheiden sich im Falle Rigas die naturräumlichen Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Stadtgründung von denen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Ist schon das heutige Stadtgebiet mit einem Wasserflächen-Anteil von knapp 16 Prozent bemerkenswert wasserreich, so fiele dieser Anteil, würde man die gegenwärtigen Stadtgebietsgrenzen auf eine kartographische Darstellung der Situation um das Jahr 1200 übertragen, noch erheblich höher und jahreszeitabhängig variabler aus. Dies liegt zum einen an den seither erfolgten Regulierungen des Flusses Düna (lett. Daugava), der seine letzten Kilometer auf dem Weg in Richtung Ostsee ursprünglich – wie ein charakteristischer, längst nicht mehr mit dem Meer verbundener Altarm-Verlauf immer noch andeutet – etwas weiter nördlich zurücklegte als heute. Zum anderen sind einige frühere Düna-Inseln inzwischen mit dem jeweiligen Flussufer, dem sie einst vorgelagert waren, verschmolzen. Zu den interessantesten Beispielen zählt dabei die frühere Insel Swirgsdenholm (lett. Zvirgzdu sala), die sich etwas oberhalb der bereits knapp 15 Kilometer vom Meer entfernten Stelle, an der Riga gegründet wurde, vor dem rechten Düna-Ufer erstreckte. Erst im 20. Jahrhundert wurde sie mit diesem verbunden; inzwischen gibt die zur Halbinsel gewordene vormalige Insel die Fläche für einen der wichtigsten Rigaer Verkehrsknotenpunkte her. In halbinselähnlicher Lage entstand auch das mittelalterliche Riga selbst: In einem weiten Bogen floss nordöstlich und südöstlich um die spätere Stadt der Rigebach (lett. Rīgas upe), in der Neuzeit oft auch Riesing (lett. Rīdzene) genannt, und erreichte unweit des südlichsten Punktes der heutigen Altstadt die Düna. An jenem Rigebach lag zugleich Rigas erster Hafen, bevor auch längs der Düna Hafenanlagen geschaffen wurden. Je nachdem, in wie ferne Zeiten man die Ausformung des Geländes zurückverfolgt, lässt sich wohl sogar von einer tatsächlichen Insellage dessen, woraus später die Grundfläche der mittelalterlichen Stadt wurde, sprechen; denn aus geologischer Sicht liegt es nicht fern, von einer einstigen Fortsetzung des Rigebachs ungefähr dort, wo heute der nordwestliche Abschnitt des so genannten Stadtkanals Die Stadtgründung von 1201 

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(lett. Pilsētas kanāls) verläuft, auszugehen. In diesem Fall hätte der Rigebach lediglich in seinem Oberlauf von jeher einen eigenständigen Fluss dargestellt. Ab seiner Biegung Richtung Südosten, die er nahe dem heutigen Basteiberg vollzog, wäre er hingegen der südöstliche Teil eines ursprünglichen Düna-Seitenarms gewesen, dessen nordwestlicher Teil zur Zeit der Gründung Rigas bereits von Sand überweht und auf diese Weise verschwunden war. Die heutige Altstadt nähme demnach die südliche Hälfte einer einstmaligen Insel zwischen dem Haupt- und einem rechten Nebenarm der Düna ein. Entsprechend lässt die Ausrichtung der künstlichen Wasserläufe in den altstadtnahen Parkanlagen von heute geradezu an eine Nachahmung der vermuteten Situation von vor über einem Jahrtausend denken – auch wenn im 19. Jahrhundert eher der rein praktische Wunsch, Baustoffe bequem in damalige Neubauviertel transportieren zu können, für die Art der Planung dieser Wasserläufe maßgeblich war. Zur Insel werden konnte das Terrain, auf dem die Kernstadt von 1201 angelegt und ab 1211 die erste Stadterweiterung vorgenommen wurde, außerdem auch noch dadurch, dass von der Düna eine beinahe stetige Überschwemmungsgefahr ausging. Während des Mittelalters erfassten die Fluten vielfach das gesamte damalige Stadtgebiet. Dass diese Situation in späteren Jahrhunderten nicht unverändert anhielt, erklärt sich mit der allmählichen Erhöhung des Bodenniveaus um mehrere Meter, zu der es durch fortwährendes Anhäufen von Siedlungsresten kam, aus denen eine immer dickere Kulturschicht heranwuchs. Gut ablesbar ist der seit dem 13. Jahrhundert eingetretene Höhenunterschied gegenüber dem damaligen Bodenniveau heutzutage vor allem an der Fundamentlinie der Domkirche: Er beträgt hier rund drei Meter und entspricht damit der Durchschnittsdicke der Kulturschicht unter Rigas Altstadt. Eine beinahe regelmäßig überflutete Senke östlich und südöstlich des Doms gab offenkundig den Ausschlag dafür, wie die Stadterweiterungsfläche von 1211 abgesteckt wurde. Dass jene Senke im Bereich der heutigen Jauniela (Große Neustraße) lokalisierbar ist, resultiert schon aus dem Straßennamen, der ja anzeigt, dass diese Straße später als andere entstanden ist, wofür es triftige Gründe gegeben haben muss. Darüber hinaus basiert die Lokalisierbarkeit aber auch wiederum auf Untersuchungen der Kulturschicht, deren Dicke hier fünf bis sechs Meter beträgt, also weit überdurchschnittlich ausfällt. Auf ganz ähnliche Weise lässt sich noch immer nachweisen, wo der Rigebach seinerzeit verlief. Sein Bett wurde im 17. und frühen 18. Jahrhundert vor allem durch Abfälle der Anwohner nach und nach zugeschüttet und ist für Archäologen daher leicht aufzuspüren. Das letzte Kapitel in der 14  Das mittelalterliche Riga

Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammende Ansicht Rigas. Sie zeigt den Turm des Doms noch mit seinem gotischen Helm, der 1547 abgebrannt war, und vermittelt eine leicht übertriebene Vorstellung davon, wie hoch der so genannte »Kubsberg« nördlich der Stadt aufragte.

Geschichte dieses für Rigas Entstehung so entscheidenden Gewässers lässt sich zudem recht genau datieren, nämlich anhand eines Ratsbeschlusses von 1735, der dazu aufforderte, von nun an auch den noch vorhandenen untersten Abschnitt des Bachbetts bis zur Düna mit Unrat aufzufüllen. Ebenfalls bis ins 18. Jahrhundert gab es unweit nordöstlich des nach heutigem Verständnis als Altstadt zu bezeichnenden Areals natürliche, dünenähnliche Geländeerhebungen. Die höchste davon war zuletzt unter dem Namen »Kubsberg« bekannt und befand sich im Bereich der nachmaligen Esplanade. Manche der Stadtansichten, die ab dem 16. Jahrhundert in Umlauf kamen, zeigen diesen Hügel so, als hätte er ungefähr die Hälfte der Höhe der mit ihm abgebildeten Kirchtürme erreicht, was ganz sicher eine übertriebene Wiedergabe seiner Höhenwirkung bedeutete. In lateinischem Textmaterial aus dem 13. Jahrhundert taucht er als »Mons Antiquus« (»alter Berg«) bzw. in einem Fall auch als »mons Rige« (»Berg Riga«) auf. Zu seiner endgültigen Einebnung kam es in den 1780er Jahren aus verteidigungstechnischen Gründen. Die in den vergangenen rund eineinhalb Jahrhunderten entwickelten Meinungen darüber, inwieweit das Gebiet der späteren Stadt Riga bevölkert gewesen sein dürfte, bevor um 1200 deren schriftlich belegte Gründung durch Deutsche erfolgte, reichen vom völligen Negieren jeglicher Besiedlung vor Anbruch des 13. Jahrhunderts bis hin zu der übertriebenen Vorstellung von einem ansehnlichen Siedlungskomplex der ansässigen finno-ugrischen Liven, der bereits deutlich vor 1201, dem überlieferten Zeitpunkt der deutschen Stadtgründung, typische Merkmale einer damaligen Stadt aufgeDie Stadtgründung von 1201 

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wiesen haben soll. Letzteres Bild entwarfen vor allem lettische Geschichtsforscher der 1930er Jahre, nachdem die Gegenposition besonders deutlich 1921 von dem Deutschbalten August Michael von Bulmerincq (* 1859, † 1933) vertreten worden war. Dank kontinuierlicher Grabungstätigkeit lettischer Archäologen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann inzwischen jede dieser beiden Extremmeinungen als widerlegt gelten; und auch die 1961 gewählte Formulierung Friedrich Benninghovens (* 1925), vor der Stadtgründung sei die Fläche Rigas »lediglich während der Märkte zu bestimmten Jahreszeiten bevölkert« gewesen, klingt aus heutiger Sicht etwas zu vorsichtig. Stattdessen zeigt sich immer klarer: Zumindest für das 11. und 12. Jahrhundert sind auf dem Areal der heutigen Rigaer Altstadt zwei Dörfer – eines von Düna-Liven sowie eines von offenbar aus Nordkurland zugewanderten Liven – samt einem dazugehörigen Gräberfeld nachweisbar; irgendwelche Ansätze einer überregionalen Bedeutung können diesen Dörfern jedoch höchstens in Bezug auf die Jahre unmittelbar vor 1201 zugeschrieben werden. Sollte es auf dem heutigen Stadtgebiet Rigas oder in dessen Umgebung dennoch eine Siedlung gegeben haben, die im Hinblick auf Handelskontakte und Zentrumsfunktionen eventuelle Vergleiche mit Haithabu als Vorgängersiedlung Schleswigs oder Birka als Vorgängersiedlung Sigtunas zulässt, so handelte es sich dabei jedenfalls nicht um die Livendörfer im heutigen Altstadtbereich. Von der Menge der Münzfunde her übertrifft sämtliche Fundorte im Umkreis vielmehr ein 20 Kilometer entfernter Siedlungskomplex, bestehend aus dem Burgberg Daugmale (Brambergshof ) mit einer angrenzenden, ungefähr zwei Hektar großen Siedlung am linken sowie einer Siedlung nebst Gräberfeld am rechten Düna-Ufer. Die Funde weisen auf eine seit dem 10. Jahrhundert ansässig gewordene livische Bevölkerung hin, neben der sich aber auch einzelne Semgaller, Russen sowie skandinavische Wikinger hier aufgehalten haben dürften, und sprechen dafür, dass der Burgberg links der Düna mindestens bis zur Mitte des 12. und die Livensiedlung am rechten Flussufer noch bis ins 13. Jahrhundert voll intakt blieb. Mit der nach Archäologenmeinung nicht monoethnischen Bevölkerungsstruktur lag hier ein wesentliches Merkmal dessen vor, was die Forschung im Zuge ihrer Versuche, präurbane Siedlungsformen im nördlichen Europa zu identifizieren, gern als einen »Wik« bezeichnet hat. Bedeutung im Rahmen der Vorgeschichte der Gründung Rigas kommt ferner einem rund drei Kilometer flussabwärts von Daugmale respektive 17 Kilometer vom späteren Stadtzentrum flussaufwärts befindlichen Bereich zu, dessen Mittelpunkte mehrere kleine Livendörfer am oberen Ende der 16  Das mittelalterliche Riga

Insel Dahlen (lett. Dole) sowie die zwischen diesem oberen Inselteil und dem rechten Düna-Ufer gelegene Insel Holme (lett. Mārtiņsala) waren. Oberhalb dieses Bereichs bzw. knapp unterhalb von Daugmale erschwerten Stromschnellen die Schifffahrt auf der Düna. Weitere, noch gefährlichere Stromschnellen folgten flussabwärts beiderseits der unteren Hälfte der Insel Dahlen. Durch den Übergang von Dolomit zu Sand als Grundschicht des Flussbetts hervorgebracht, bildeten jene Stromschnellen stets einen natürlichen Schutz Daugmales vor Überfällen vom Meer her. Nur während des 12. Jahrhunderts scheint dieser Schutz mindestens einmal versagt zu haben, woraufhin der Burgberg offenbar aufgegeben wurde und ein Bedeutungszuwachs für die Dörfer am oberen Ende Dahlens eintrat. So wertvoll die Düna-Stromschnellen für die Sicherheit der beiden beschriebenen Siedlungskomplexe waren, so eindeutig hätten sie doch gegen die Gründung einer tatsächlichen Stadt in einem der betreffenden Bereiche gesprochen. Insofern ist es auf den ersten Blick bemerkenswert, dass der Bischofssitz Meinhards († 1196, ab 1186 Bischof der Liven), des ersten Bischofs, der zur Verbreitung des Christentums an der unteren Düna eingesetzt wurde, im sogar noch flussaufwärts von Daugmale gelegenen Uexküll (lett. Ikšķile) entstand. Allerdings befand Meinhards Bischofssitz sich eben inmitten einer Gegend mit hoher livischer Besiedlungsdichte. Hierhin geführt wurde der Augustinerchorherr aus dem holsteinischen Segeberg ganz offenkundig von Kaufleuten, die gezielt mit den Liven dieser Gegend Handel pflegten. Letzteres geht ausdrücklich auch aus der schriftlichen Überlieferung hervor. Jüngere Forschungen lassen daneben immer klarer die familiären Hintergründe Meinhards und seiner beiden direkten Nachfolger im Bischofsamt erkennbar werden; alle drei entstammten demnach Dienstadelsgeschlechtern des Großraums zwischen Weser und Elbe. Enge Kontakte solcher Ministerialenfamilien mit Fernhandel treibenden Kaufleuten aus Städten wie Bremen und Stade waren seinerzeit nicht unüblich. Quellenlage und Thesen rund um die Stadtgründung

Wie für das späte 12. und beginnende 13. Jahrhundert in Alt-Livland insgesamt, so hat auch für die frühe Entwicklung Rigas in dieser Zeit das »Chronicon Livoniae« des Lettenpriesters Heinrich (»Henricus de Lettis«, † nach 1259) nach wie vor als die bedeutendste Quelle zu gelten. Auf Nachrichten, die die Stadt selbst betreffen, entfällt darin zwar nur ein Bruchteil des TextDie Stadtgründung von 1201 

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umfangs; die unverhältnismäßige Spärlichkeit solcher Nachrichten mindert jedoch keinesfalls deren Wert. In Verbindung mit dem Wirken Meinhards als Bischof taucht der Name Riga bei »Heinrich von Lettland«, wie der mutmaßlich in der Nähe von Magdeburg geborene und frühestens 1203 in das Missionsgebiet gelangte Chronist meist genannt wird, an noch keiner einzigen Stelle auf. Erwähnung findet dieser Name hier erst im Zusammenhang mit Meinhards Nachfolger, dem vormaligen Loccumer ZisterzienserAbt Berthold († 1198, ab 1196 Bischof der Liven), von dem es heißt, nach einer erfolglosen Aufforderung an die Liven von Holme, den neuen Glauben anzunehmen, habe er sich »an den Ort Riga« (»ad locum Rige«) zurückbegeben. Am gleichnamigen Berg sei dann eine Schlacht entbrannt, an deren Ende die Liven die Flucht ergriffen hätten, Berthold selbst jedoch zu Tode gekommen sei. Bestattet habe man Berthold wie auch Meinhard in der Kirche von Uexküll, ist bei Heinrich von Lettland an späterer Stelle zu lesen. Unter anderem hierin weichen die Angaben Heinrichs von denjenigen in einer noch älteren Chronik ab, in der sich ebenfalls Hinweise zur Gründungsgeschichte Rigas finden. Bezüglich der Beisetzung Bertholds ist dort zum Beispiel vom Aufschichten eines Grabhügels unmittelbar an besagtem »Ort Riga« die Rede. Im Gegensatz zu Heinrich war der Verfasser dieser anderen Chronik, der langjährige Lübecker Benediktiner-Abt Arnold († 1211 oder 1214), nie persönlich in Livland. Dennoch braucht seine Darstellung nicht durchweg für weniger glaubwürdig gehalten zu werden, selbst wenn sie die Ungereimtheit enthält, bereits unter Meinhard sei der Bischofssitz in Riga angesiedelt gewesen. Von Arnolds Kloster war es nämlich nicht weit zum Lübecker Hafen, so dass der Chronist viele derjenigen, die über diesen Hafen nach Livland aufbrachen, bei ihrer Rückkehr befragt haben dürfte. Eine alljährliche Möglichkeit, dies zu tun, gab es dadurch, dass kraft päpstlicher Kreuzzugsbullen eine Pilgerfahrt in das livländische Missionsgebiet, was den Nutzen für das Seelenheil betraf, auf dieselbe Stufe wie eine Reise ins Heilige Land gestellt worden war. Dass beim Blick auf Quellen, die Erkenntnisse über die Gründung Rigas liefern, Arnolds Chronik häufig übergangen wird, hängt damit zusammen, dass sie Heinrich vermutlich bekannt war und ihre Inhalte folglich bereits in dessen »Chronicon Livoniae« einfließen konnten. Als Vermittler, durch den sie in Heinrichs Hände gelangt sein dürfte, kommt Philipp von Ratzeburg († 1215, ab 1204 Bischof von Ratzeburg) in Betracht, zu dessen Ruhm sie verfasst worden war und der sich von 1210 bis 1214 selbst in Livland aufhielt. Heinrich begleitete ihn hier bei etlichen Gelegenheiten. Angaben zur Gründung Rigas enthalten daneben zwei um die Mitte des 13. Jahrhunderts 18  Das mittelalterliche Riga

angelegte Weltchroniken: Die eine stammt von dem Zisterziensermönch Alberich von Troisfontaines († frühestens 1252), der über Vorgänge in Gebieten, in denen Zisterzienser Fuß gefasst hatten, gemeinhin gut informiert war; bei der anderen handelt es sich um die »Annales Stadenses« des Benediktiners Albert von Stade († frühestens 1256). Längst nicht alles, was sich in dieser oder jener Quelle etwas anders darstellt als bei Heinrich als dem bevorzugten Gewährsmann der einschlägigen Historiographie, steht in einem unauflösbaren Widerspruch zu Heinrichs Angaben. Zum Beispiel stößt man nur bei Arnold von Lübeck, nicht aber bei Heinrich auf die Information, im Gebiet der Liven habe der spätere Bischof Berthold sich bereits deutlich vor seiner Erhebung zum Bischof aufgehalten. In diesem Fall lässt die Version Arnolds sich zudem überraschend gut mit neueren Forschungserkenntnissen in Einklang bringen, nach denen Bertholds Zeit als Abt im niedersächsischen Loccum auf die Jahre 1187–1194 eingrenzbar ist, so dass tatsächlich noch zwei Jahre bis zu seiner Ernennung zum Bischof 1196 verblieben wären. Mysteriöser erscheint eine Angabe in der um 1290 höchstwahrscheinlich von einem Angehörigen des Deutschen Ordens verfassten »Livländischen Reimchronik«, einer weiteren bedeutenden Quelle zu den Anfängen der Christianisierung im Baltikum. Folgt man den Behauptungen ihres nicht namentlich identifizierbaren Autors, der verschiedene der im 13. Jahrhundert angelegten Burgen im näheren und weiteren Umkreis Rigas besucht haben dürfte, so war Berthold auch der »Erbauer« dieser Stadt. Im Gegensatz hierzu weist jedoch die traditionelle Historiographie die Rolle des Stadtgründers, angelehnt an die Chronik Heinrichs von Lettland, nach wie vor klar Bertholds Nachfolger Albert von Bekeshovede (Albert I., * um 1165, † 1229, ab 1199 Bischof von Livland) zu und datiert den Gründungsakt auf das Jahr 1201. Auf die Frage, wie viel Vorhandenes im Sinne gewisser Vorformen einer Stadt Albert hier antraf, wird im Folgenden noch einzugehen sein. Grundsätzlich vorstellbar wäre jedenfalls, dass es zwischen Meinhard und Berthold ab 1194 eine Art Arbeitsteilung in der Form, dass Meinhard durchweg von Uexküll aus und Berthold zunächst im Bereich der RigebachMündung missionarisch tätig war, gegeben hat und dass Alberts Entscheidung, als es darum ging, einen der beiden Orte längerfristig als Bischofssitz auszubauen, schließlich zugunsten des Ortes, an dem vorwiegend Berthold gewirkt hatte, ausfiel. Träfe alles dies so zu, so wäre keinem der bis hierhin genannten Chronisten eine abwegige Fehlinformation vorzuwerfen; vielmehr hätte dann jeder auf seine Weise stimmig jeweilige Ausschnitte des Geschehens wiedergegeben. Die von manchen Historikern verfochtene These, für Die Stadtgründung von 1201 

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den Autor der »Livländischen Reimchronik« habe Ende des 13. Jahrhunderts aufgrund inzwischen aufgetretener Spannungen zwischen dem Orden und den Rigaer Bischöfen bzw. späteren Erzbischöfen ein Interesse bestanden, die Schlüsselrolle Alberts bei der Stadtgründung bewusst zu leugnen, wäre damit nicht widerlegt, aber auch nicht zwingend weiterzuverfolgen. Aller Wahrscheinlichkeit nach stand Albert eben wirklich vor einer Auswahl aus mehreren Orten, in denen deutsche Handelsstützpunkte jeweils schon angelegt waren. Zu diesen Orten wäre wohl auch Holme zu zählen, wo die nach der Kirche von Uexküll zweitälteste Kirche im livländischen Raum errichtet worden war. Rein theoretisch hätte Alberts Wahl sogar – je nachdem, welche Völkerschaften neben den Liven er in die Missionsbemühungen seines Bistums hätte einbeziehen wollen – auf den so genannten Semgaller Hafen, eine Örtlichkeit regen Handels mit den Einheimischen am Unterlauf der Semgaller Aa (lett. Lielupe), fallen können. Jedoch wurde stattdessen ein päpstliches Verbot, diesen Hafen anzufahren, erwirkt, um den dortigen Handel konsequent in das neu gegründete Riga umzulenken. Der Entscheidung, die Landzunge am Rigebach und nicht etwa Uexküll oder Holme zu einer Bischofsstadt auszubauen, ging im Jahre 1200 die für Albert gewiss schockierende Erfahrung voraus, bei seinem ersten Erscheinen in Uexküll durch livische Angriffe zeitweise von seinen Begleitschiffen an der Düna-Mündung abgeschnitten gewesen zu sein. Handlungsfähigkeit hatte er sich danach erst wieder durch ein Zusammentreffen mit Anführern der Liven verschaffen können, bei dem er diese zur Stellung von Geiseln gezwungen hatte. So oder so war das livländische Missionsprojekt gegenüber seinen Förderern im Reich aber unter Erfolgsdruck geraten – einen Erfolgsdruck, der letztlich sogar als mitentscheidend dafür, dass die Stadt nicht weiter flussaufwärts entstand, bezeichnet werden kann. Bischof Albert I. und seine politisch-taktischen Schritte rund   um die Gründung Rigas Über die Person des mutmaßlichen Stadtgründers ist aus heutiger Sicht deutlich mehr bekannt als noch vor wenigen Generationen. Albert gehörte einem Ministerialengeschlecht an, zu dessen wichtigsten Besitztümern das heutige Dorf Bexhövede nahe Bremerhaven zählte und dessen heutige Nachfahren sich »von Buxhoeveden« schreiben. Seine Einsetzung in das Bischofsamt erfolgte wie bereits die seiner beiden Vorgänger durch den bremischen Erzbischof Hartwig II. († 1207, ab 1184 – mit einer mehrjährigen Unterbrechung um 1190 – Erzbischof von Hamburg-Bremen), bei dem es sich um einen Verwandten mütterlicherseits handelte. Familiäre Bindungen nutzte Albert auch in den Folgejahren recht in-

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tensiv, indem er 1202 zunächst seinen älteren Bruder Engelbert († 1209), einen Augustinerchorherrn aus dem holsteinischen Neumünster, nach Livland nachkommen und zum Propst des Rigaer Domkapitels wählen ließ. Vor seiner eigenen ersten Ankunft im Missionsgebiet im Frühjahr 1200 versicherte Albert sich jedoch zunächst einer größtmöglichen politischen Unterstützung seines Vorhabens. Hierzu dienten ihm die Teilnahme an einem Hoftag, den der römisch-deutsche König der Jahre 1198–1208, der Staufer Philipp von Schwaben, Ende 1199 in Magdeburg abhielt, sowie ein Zusammentreffen mit Knut VI. (* 1162 oder 1163, † 1202, ab 1182 König von Dänemark), durch welches Respekt in Bezug auf die führende Rolle Dänemarks im damaligen Ostseeraum zum Ausdruck gebracht werden sollte. Mit derlei Sondierungen zog Albert nicht zuletzt die Lehre aus politischen Konflikten, die seinen Onkel Hartwig ein Jahrzehnt zuvor gezwungen hatten, Bremen vorübergehend zu verlassen. Überdies war er über die Erfolge und Misserfolge seiner Vorgänger Meinhard und Berthold gut im Bilde. Die weit verbreitete Auffassung, Albert habe, als er 1207 in Gelnhausen einen weiteren Hoftag Philipps von Schwaben besuchte, Livland als Lehen des Reiches erhalten und sei folglich Reichsfürst geworden, ist wissenschaftlich mittlerweile umstritten; denn da sie durch keinerlei Urkundenmaterial beweisbar erscheint, könnte ihr eine Überinterpretation dessen, was in der Chronik Heinrichs von Lettland zu jener Vereinbarung von 1207 steht, zugrunde liegen. Potenziell ließe sich Heinrichs Formulierung nämlich auch so deuten, als hätte Philipp die Verleihung der Reichsfürstenwürde in Aussicht gestellt, um sich in seinem Konflikt mit den Welfen Alberts Unterstützung zu sichern, und dabei lediglich zugesagt, im Falle der Erneuerung eines allumfassenden Kaisertums jene Verleihung auch tatsächlich zu vollziehen. Demgegenüber spricht im Falle dreier Urkunden, die 1225 für einen weiteren, mittlerweile zum Bischof von Dorpat (estn. Tartu) aufgestiegenen Bruder Alberts sowie für Albert selbst ausgestellt wurden, der etwas sonderbare Umstand, dass sie bei Heinrich unerwähnt sind, gegen eine so weit reichende reichspolitische Bedeutung, wie man sie aus ihrem Wortlaut herauslesen könnte. Selbst wenn somit jeweils nur Zukunftsoptionen besprochen und lose Bindungen an das Reich geknüpft worden sein sollten, bliebe das strategische Geschick Alberts jedoch ungeschmälert. Unter anderem kam es eben dadurch zum Vorschein, dass nach Engelbert noch insgesamt drei seiner Brüder mit Funktionen in Livland ausgestattet werden konnten und einer von ihnen – Theoderich (* 1170, † 1236), der nicht mit einem im Folgenden vorzustellenden Träger desselben Namens verwechselt werden möge – eine Tochter des slawischen Fürsten von Pskov (Pleskau) heiratete. Für eine Familie wie die Bekeshovedes bedeutete das Übersiedeln der meisten ihrer Mitglieder nach Livland derweil Zugriffsmöglichkeiten auf ein Vielfaches der Menge an Land, die sie sich in ihrer Heimat im Elbe-Weser-Raum hätte verschaffen können. Vergleichsweise undurchsichtig bleibt, inwieweit Albert persönlich die Gründung des Schwertbrüderordens zugeschrieben werden kann. Als jene Ritterordensgrün-

Die Stadtgründung von 1201 

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dung im zuvor zur Bischofsstadt erklärten Riga stattfand, hielt Albert selbst sich nämlich gar nicht hier auf. Bei Heinrich von Lettland liest man nur von einer 1202 durch die immer gefährlichere »Treulosigkeit der Liven« motivierten »Einsetzung« der Ordensbrüder durch »Bruder Theoderich«. Dieser schon von Meinhard angeworbene Zisterziensermönch Theoderich († 1219, ab 1211 Bischof des für die Missionierung der Esten geschaffenen Bistums Leal) – übrigens der einzige bereits im 12. Jahrhundert an der Missionstätigkeit beteiligte Mitarbeiter der Bischöfe, dessen Name durch Quellen bekannt ist – erhielt nach dem livischen Ort Thoreyda (dt. Treyden, lett. Turaida), an dem er ab 1187 predigte, in der Historiographie den Beinamen »von Treyden«. Dass Theoderich von Treyden in Alberts Auftrag handelte, als er den Schwertbrüderorden einsetzte, erscheint möglich; mindestens ebenso sehr drängt sich allerdings der Gedanke auf, Albert könnte bei seiner Rückkehr 1203 vielleicht nur mehr rückwirkend seine Zustimmung zu Theoderichs Vorgehen gegeben haben. Auch die Tatsache, dass dem Orden die Regel der Templer verliehen wurde, dürfte eigentlich nicht in Alberts ureigenstes Konzept gepasst haben. Von den Schwertrittern der Jahre bis 1210 sind immerhin zehn sogar namentlich überliefert. Untersuchungen zu ihrer Herkunft haben ergeben, dass sie allesamt zwischen Soest, Kassel und dem Gebiet der Edelherren zur Lippe beheimatet gewesen sein müssen.

Unmittelbar vor dem Absatz über die Gründung des Schwertbrüderordens enthält die Chronik Heinrichs von Lettland einige Bemerkungen zum Umzug der Domherren von Uexküll nach Riga. Bereits Meinhard hatte sich in Uexküll demnach mit einem Domkapitel umgeben, das sich aus Angehörigen unterschiedlicher Mönchsorden rekrutierte, jedoch einheitlich nach der für Meinhard gewohnten Regel der Augustiner lebte. Im Zusammenhang mit der Einsetzung eines neuen Dompropstes nach dem Tod von Alberts Bruder Engelbert 1209 trat an die Stelle der Augustiner- allerdings die Prämonstratenserregel. Alles in allem zeichnete sich somit, kaum dass Riga als Stadt zu existieren begonnen hatte, über normale Stadtbebauung hinaus viererlei Gebäudebedarf ab: Außer einem Dom und einem Haus für den Bischof hatten Bauten für das Domkapitel sowie für den Schwertbrüderorden zu entstehen. Spätestens seit den Forschungen des oben schon einmal genannten Friedrich Benninghoven gilt als unstrittig, dass die genannten vier Einrichtungen innerhalb einer annähernd geradlinigen Reihe nebeneinander befindlicher Grundstücke ihren Platz fanden. Durch diese von Nordwesten nach Südosten ausgerichtete Grundstücksreihe wurde gleichsam die Längsachse der frühesten Stadtanlage justiert. Auch beim Blick auf Stadtpläne aus späteren Jahrhunderten lässt sich erschließen, dass besagte Längsachse genau dem 22  Das mittelalterliche Riga

Straßenzug entsprach, den heute die Šķūņu (Scheunen-) sowie die südöstlich an sie anknüpfende Skārņu iela (Scharrenstraße) bilden. An seinen Enden sind die einzigen Tore der damaligen Stadt zu vermuten, wobei dasjenige im Nordwesten – errichtet etwa an der Stelle, an der heute die Zirgu iela (Große Pferdestraße) auf die Šķūņu iela trifft – unter Bezeichnungen wie »porta magna« (»großes Tor«) durch etliche Quellen belegt ist. Teilweise nahezu parallel zu ebenjener Straßenführung floss von Norden nach Südosten der Rigebach. Dieser gab die Nordostflanke der Stadt vor, die hier fast unmittelbar an sein Ufer stieß. Südwestlich der angedeuteten Längsachse war das Stadtareal dagegen halbkreisartig ausgeformt; der Verlauf der Mazā Monētu iela (Kleine Münzstraße) verrät dies bis auf den heutigen Tag – jedenfalls überall dort, wo er über die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hinaus bewahrt blieb. Benninghoven hat die beschriebene Grundstücksreihe sehr treffend als »das Rückgrat der Anlage von 1201« bezeichnet. Im Nordwesten umfasste sie bis in Höhe der heutigen Laipu iela (Stegstraße) die für das Domkapitel reservierte Fläche; im Südosten endete sie vor der heutigen Jāņa iela ( Johannisstraße) mit dem Bereich für die Bischofspfalz, der dem der späteren Johanniskirche entsprach. Der Bereich für die Burg der Schwertbrüder grenzte an Letzteren unmittelbar an und lässt sich noch heute anhand der Georgskirche orten: Seinerzeit als Burgkapelle angelegt, bildete diese einen der vier Flügel jener Ordensburg. Beiderseits der heutigen Kaļķu iela (Kalkstraße) verbleibt damit vom Nordwestrand des Burg- bis zum Südostrand des Domkapitel-Grundstücks immer noch ein relativ breiter Zwischenraum, dem keine ähnlich repräsentative Nutzung zugeordnet werden kann. Der sich aufdrängende Gedanke an frühe Kaufmannshöfe führt zu dem Ergebnis, dass als deren Standort nur der nördlichste Winkel der Stadtanlage in Betracht kommt, also ein Bereich beiderseits der heutigen Amatu iela (Gildstubenstraße) in damaliger Nachbarschaft zum Domkapitel. Unmittelbar auf der dem Domkapitel überlassenen Fläche befand sich nach Benninghovens Überzeugung unterdessen auch Rigas erste Domkirche. Deutungsschwierigkeiten bereitet in diesem Zusammenhang eine Formulierung des Chronisten Heinrich bezüglich eines verheerenden Brandes, der die Stadt 1215 erfasste. Sie lässt sich so verstehen, als ob das Feuer beim Dom ausbrach und von dort auf das Haus des Bischofs übergriff, ehe es schließlich vor der Kirche des Ordenshofes Halt machte. Heinrich von Lettland war selber Augenzeuge dieses Ereignisses, so dass sein Bericht für glaubwürdig erachtet werden darf. Die Frage jedoch, auf welche Weise die angedeutete Ausbreitungsabfolge der Flammen mit der auch aus anderen Die Stadtgründung von 1201 

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schriftlichen Quellen ableitbaren Art der Gebäude-Verteilung im ältesten Riga in Einklang zu bringen ist, gab späteren Stadtgeschichtsforschern immer wieder Rätsel auf. Auf ihren eigentlichen Kern wurde sie bereits im Titel einer Veröffentlichung von 1913 zugespitzt – nämlich: »Wo lag in Riga der erste Dom?« Damals lauteten die Antworten hierauf noch etwas anders als bei Benninghoven, der seinerseits zu einer recht verblüffenden Auslegung der Textstelle aus Heinrichs Chronik fand: Die fraglichen Gebäude – Dom, Haus des Bischofs und Ordenshof-Kirche – seien darin, so Benninghoven, gar nicht in der Reihenfolge aufgezählt, in der sie vom Feuer erreicht wurden, sondern in der Reihenfolge, in der sie dem Chronisten wichtig erschienen. Die Historikerin und Archäologin Clara Redlich (* 1908, † 1992) sah, als sie sich in den 1980er Jahren diesem Thema noch einmal zuwandte, sogar nach wie vor Erklärungsprobleme hinsichtlich der Frage, weshalb Bischof Albert sich überhaupt damit abgefunden haben sollte, dass die Ordensbrüder ein Grundstück in Beschlag nahmen, das sich genau zwischen seine Pfalz und den Dom drängte. Als Lösungsansatz erschien ihr der Gedanke an eine minimale Stadterweiterung im Jahre 1207 plausibel, vor deren Verwirklichung weder die Fläche der 1209 erstmals erwähnten Bürgerkirche St. Petri noch die der Bischofspfalz bereits Teil der Stadtanlage war. Ein allererstes Bischofshaus befand sich Redlich zufolge nach 1201 nämlich unmittelbar neben dem Grundstück für das Domkapitel. Hieran angrenzender Platz für eine angemessene Pfalz habe danach nicht mehr ausreichend zur Verfügung gestanden, seit der Orden seine Burg errichtet hatte; und so habe Bischof Albert es vorgezogen, auf ein Areal jenseits der Ordensburg auszuweichen, das er ab 1207 in die Stadt einbeziehen ließ. Abgebrannt sei 1215 demnach nicht die Bischofspfalz auf der Fläche der heutigen Johanniskirche, sondern ein zu vermutendes erstes bischöfliches Haus nordwestlich der späteren Kalkstraße. Redlichs These stützt damit Benninghovens Art der Lokalisierung der ersten Domkirche, nicht jedoch dessen abstrakte Interpretation der Stelle bei Heinrich von Lettland, an der der Brand von 1215 geschildert wird. Einen Markt scheint es seinerzeit unmittelbar nördlich und nordöstlich der Petrikirche gegeben zu haben – genau dort, wo später die so genannten Scharren (Verkaufsbuden) entstanden, die der vorbeiführenden Straße den Namen gaben. Deren schmucklose Nachfolgebauten wurden in den 1930er Jahren abgerissen, so dass hier seitdem wieder ein jenem frühesten Rigaer Markt vergleichbarer freier Platz existiert. Dass die Stadtanlage von 1201 nicht deutlich großflächiger konzipiert wurde, lässt sich mit der Schwierigkeit, sie verteidigungsfähig zu machen, erklären. Manches deutet darauf hin, dass sie überhaupt erst seit 1207 Wehrmauern aus Stein besaß. Nicht 24  Das mittelalterliche Riga

zuletzt dies führte Clara Redlich zu ihrer Überlegung, hiermit könnte sich eine erste kleine Flächenerweiterung verbunden haben. Wie verwundbar die Stadt trotz dieser Mauern war, zeigte sich 1210 bei einem Angriff der damals noch heidnischen Kuren, auf dessen Konsequenzen im nächsten Unterkapitel einzugehen sein wird. Entstand der älteste Stadtkern tatsächlich auf bis dahin   unbebautem Terrain? Den meisten Kennern der Geschichte Rigas gilt die Stadtanlage der Jahre bis 1210 als Ergebnis eines unter Bischof Albert begonnenen Bauens auf freiem Feld – dem viel zitierten »campus spatiosus«, wie es bei Heinrich von Lettland heißt. Doch auch Vertretern der Gegenmeinung, Albert sei hier auf bereits vorhandene Strukturen getroffen, mangelt es nicht an Argumenten. Nach Überzeugung der lettischen Architekturexpertin Irēna Bākule (* 1945) könnte an dieser Stelle bereits ein gut ausgebauter wikingerzeitlicher Handelsstützpunkt bestanden haben, der sich um 1200 allerdings längst im Niedergang befunden haben müsste und dessen Reste die örtlichen Liven daher kurzerhand Albert zugewiesen hätten, um diesen bezüglich seiner Suche nach einem Bischofssitz zufrieden zu stellen. Mit der Schilderung Heinrichs von Lettland ließe sich all dies einigermaßen vereinbaren, sofern man das lateinische Wort »civitas« statt mit »Stadt« durchweg mit der Nebenbedeutung »Bischofssitz« zu übersetzen bereit wäre und in der Wendung »campus spatiosus« das Adjektiv »spatiosus« – »geräumig« – keineswegs für gleichbedeutend mit »unbebaut« hielte. Hätte Albert auf schon vorgefundene Siedlungsstrukturen zurückgegriffen, so würde auch einleuchten, weshalb in den Jahren danach weder bei der Georgs- noch bei der später an die Stelle der Bischofspfalz getretenen Johanniskirche eine klare Ost-West-Ausrichtung verwirklicht wurde, sondern beide deutlich anders ausgerichtet sind als etwa die benachbarte Petrikirche. Der Gedanke, die Stadtanlage der Jahre nach 1201 sei aus dem Nichts emporgewachsen, hat nach Bākules Auffassung überhaupt nur deswegen bis heute Gemeingut bleiben können, weil just im Bereich dieser ältesten Stadtanlage bisher nur sehr kleinräumige archäologische Grabungen stattgefunden haben und größere schwer durchführbar wären. Die Bewohner und Nutzer einer potenziellen Vorgängersiedlung, deren mögliche Überbleibsel auf Anraten der Liven in Alberts Hände gefallen sein mögen, könnten Bākules Thesen zufolge am ehesten Kuren gewesen sein. Mit deren eventuellem Ärger darüber, dass sich in einem einst von Kuren aufgebauten Handelsstützpunkt nunmehr Deutsche festgesetzt hatten, ließe sich dann auch erklären, warum der Stadt Riga während des 13. Jahrhunderts kein anderer Stamm in ähnlich hartnäckiger Feindschaft gegenüberstand wie gerade die Kuren. Ein vermeintlich besonders klarer Anhaltspunkt dafür, dass Albert gleichsam einen ehemaligen kurischen Wik übernahm, resultiert aus der Altertümlichkeit des ältesten Rigaer Stadtgrundrisses im Vergleich zu Grundrissen, wie sie zur selben Zeit bei

Die Stadtgründung von 1201 

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in Deutschland gegründeten Städten typisch waren. Diesem Entwicklungsgefälle steht eine umso größere Ähnlichkeit zwischen jenem ältesten Rigaer Stadtgrundriss und dem Grundriss der ältesten Teile der Stadt Visby auf Gotland gegenüber. Deren Ursprünge reichen tatsächlich bis tief ins 11. Jahrhundert oder noch weiter zurück, wiewohl auch Visby erst durch Heinrich von Lettland seine erste Erwähnung gefunden hat, und zwar im Kontext des Jahres 1203. Beim Deuten der festzustellenden Ähnlichkeit könnte neben dem Alter Visbys allerdings ebenso von Bedeutung sein, dass an Alberts Stadtprojekt, wenn auch anfangs in einer eher passiven Rolle, Kaufleute mitwirkten, die vielfältige Erfahrungen auf Gotland gesammelt hatten. Womöglich war also gerade der Einfluss dieser Kaufleute mit ausschlaggebend dafür, dass am Rigebach – und zwar in diesem Fall doch auf freiem Feld – ein Stadtgrundriss realisiert wurde, der demjenigen des Kerns von Visby ein wenig ähnelte. Hinzu kommt der Aspekt der Überschwemmungsgefahr, durch den jeder noch so geringfügige Höhenunterschied im zu bebauenden Gelände Relevanz bekam und die Frage, ob der gewählte Stadtgrundriss noch zeitgemäß war, in den Hintergrund treten musste. Hypothesen von einem kurischen Wik, der die 1201–1210 geschaffene Rigaer Stadtanlage vorgeprägt haben könnte, bleiben somit stark anfechtbar. Noch sollten sie aber nicht mit letzter Sicherheit als widerlegt gelten.

Klarere Aussagen können inzwischen über ein von deutschen Kaufleuten bereits vor der Stadtgründung genutztes steinernes Haus getroffen werden, auf dessen Existenz die verfügbaren Schriftquellen hindeuten, ohne präzise Rückschlüsse auf seinen Standort zuzulassen. Aus archäologischer Sicht bestehen kaum noch Zweifel, dass dieses Haus in der untersten Biegung des Rigebachs inmitten eines der schon erwähnten Livendörfer lag und nicht etwa so platziert war, dass es sich in das Stadtgebiet von 1201 eingefügt hätte. Eine Zusammenfassung der Gründungsgeschichte Rigas und der mit ihr verbundenen Fragen bliebe unvollständig, wenn darin nicht abschließend auch das Zisterzienserkloster Dünamünde vorkäme. Anders als die um 1600 angelegte und danach immer weiter ausgebaute Festung gleichen Namens lag es rechts der heutigen Flussmündung. Die Errichtung in einer so unwirtlichen Umgebung statt an einem innerstädtischen Standort entsprach den Traditionen des Zisterzienserordens. Vertraut man den Aussagen Heinrichs von Lettland, so begann sie 1205, woraufhin 1208 die ersten Mönche eintrafen – offenbar entsandt aus dem westfälischen Marienfeld, da Dünamünde als Tochterkloster des dortigen Klosters aufgebaut wurde. Zum ersten Abt wurde laut Heinrichs Schilderung Theoderich von Treyden ernannt, was glaubhaft erscheint, wenn man bedenkt, wie lange dieser bereits an der Missionstätigkeit beteiligt war, so dass inzwischen geradezu eine Anwartschaft auf höhere Ämter entstanden sein musste. Hiervon abweichende Angaben in 26  Das mittelalterliche Riga

der Chronik des Klosters Marienfeld, denen zufolge vielmehr dessen Stifter, der Edelherr Bernhard II. zur Lippe (* um 1140, † 1224, ab 1218 Bischof von Selonien), erster Abt in Dünamünde war, decken sich signifikant mit dem, was in der oben erwähnten Chronik Alberichs von Troisfontaines behauptet wird. Zweifelsfrei sagen lässt sich daher nur, dass Bernhard 1211 tatsächlich Abt in Dünamünde wurde; wahrscheinlich aber übernahm er diese Funktion als Nachfolger Theoderichs. Die exponierte Lage des Klosters barg erhebliche Gefahren, wann immer es von nicht bekehrungswilligen Bewohnern der Umgebung angegriffen wurde. 1228 kostete ein solcher Zwischenfall sämtliche Dünamünder Mönche das Leben. Zur Abordnung einer neuen Mönchsgemeinschaft kam es daraufhin von der bei Naumburg gelegenen Abtei Pforta aus.

2. Die bauliche, demographische und rechtliche   Entwicklung der Stadt während des Mittelalters Die Stadterweiterungen des 13. Jahrhunderts und   ihre Hintergründe

Das erste Jahrzehnt ab der Stadtgründung von 1201 unterscheidet sich grundlegend von allen späteren in der Geschichte Rigas, und zwar dadurch, dass die Stadt damals noch überwiegend von Menschen bevölkert wurde, die sich nicht dauerhaft, sondern lediglich saisonal oder für jeweils ein Jahr hier aufhielten: Ersteres betraf Kaufleute, die als Teil der Gemeinschaft deutscher Kaufleute, die auf Gotland Handel trieben, regelmäßig an die Düna kamen und in der Sprache der Quellen damit »frequentantes« waren. Daneben gab es die Jahr für Jahr neuen Pilger, deren Reiseanlass daraus resultierte, dass das livländische Missionsgebiet der Jungfrau Maria geweiht worden war; denn Riga diente als zentraler Anlaufpunkt für diese Art von Pilgerreisen. Als Personen, die sich bereits vor 1210 fest in der Stadt niederließen, kommen demgegenüber nur Teile der Geistlichkeit samt ihrer Dienerschaft in Betracht sowie außerdem eine größere Gruppe, die 1202 Alberts Bruder Engelbert mit sich führte. Bei diesen Neuankömmlingen muss es sich nicht zwangsläufig, wie von einigen Forschern angenommen, um Personen gehandelt haben, die bereits andernorts Stadtbürger gewesen waren und einem Handwerk nachgingen. Denkbar wären auch einfache Bauern; schließlich wird es Bischof Albert vorrangig darauf angekommen sein, dem kanonischen Recht Genüge zu tun, Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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dem zufolge Bischofssitze grundsätzlich nur in oder bei einer »volkreichen Stadt« angelegt werden durften. Für eine bäuerliche Herkunft einiger der frühen auswärtigen Siedler spricht, dass zum Beispiel an einem Abschnitt der Kungu iela (Herrenstraße) Reste von Fachwerkbauten ausgegraben werden konnten. Erst später, so der archäologische Befund, wurden diese in steinerne Bauten umgewandelt und verloren so ihr ländliches Gepräge. Die These, diejenigen, die seinerzeit mit Engelbert in Riga eintrafen, könnten bäuerliche Hintersassen der Bekeshovedes gewesen sein, erscheint von daher haltbar, zumal Handwerker in einer noch allzu dünn besiedelten Stadt unter Umständen nicht einmal eine Existenzgrundlage gehabt hätten. Dass auch aus der Gruppe der Kaufleute ein größerer Personenkreis in Riga überwinterte, kam erstmals 1210/11 vor und war das Ergebnis einer Kurs-Änderung Bischof Alberts: Ab 1210 erfuhren die Kaufleute von ihm mehr Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer Interessen als in den Jahren davor, da Albert sich inzwischen immer unverhohleneren Ansprüchen des Schwertbrüderordens gegenübersah und deshalb nach neuen Verbündeten Ausschau hielt. Immerhin musste er 1210 hinnehmen, dass der Papst den Schwertrittern wunschgemäß ein Drittel des bisher eroberten Landes zusprach und ihnen darüber hinaus auch noch die Perspektive eröffnete, in einem Großteil der künftig von ihnen eroberten Gebiete mit sämtlichen landesherrlichen Rechten ausgestattet zu sein. Für den Schwertbrüderorden war damit viel erreicht, auch wenn seine Meister den Rigaer Bischöfen weiterhin zum Treue-Eid verpflichtet blieben, so dass sein Erbe sich, als es 1237 nach einer verheerenden Niederlage bei Schaulen (lit. Šiauliai) vom Deutschen Orden übernommen werden musste, für diesen nicht unbedingt als attraktiv darstellte. 1210 hatte Riga überdies den schon erwähnten Angriff der Kuren abzuwehren, der neben dem verstärkten Engagement der Kaufleute ein Übriges tat, Plänen für eine großzügige Stadterweiterung zum Durchbruch zu verhelfen. Um einer besseren Verteidigungsfähigkeit willen ummauert werden sollte nun – unter Einschluss der vorhandenen Livendörfer – der gesamte Bereich den Rigebach abwärts bis zu dessen Mündung, dann die Düna abwärts bis in Höhe der naturgegebenen Senke, die ungefähr parallel zur heutigen Jauniela (Große Neustraße) existierte, und schließlich in einem weiten Bogen an dieser Senke entlang bis in den Bereich der »porta magna« der Stadtanlage von 1201, das heißt bis in die Nähe des nordwestlichen Endes der heutigen Šķūņu iela (Scheunenstraße). Beträchtlicher Aussagewert in Bezug auf die Entwicklung Rigas nach 1210 kommt einem 1229 geschlossenen Handelsvertrag zwischen den deutschen Fernhandelskaufleuten in 28  Das mittelalterliche Riga

Visby auf Gotland, der Stadt Riga und dem Fürsten von Smolensk zu, und zwar schon aufgrund der Reihenfolge, in der unter dem Vertragstext die Unterzeichner genannt sind: Auf die Kaufleute aus Visby folgen dort Lübeck, Soest, Münster, Groningen, Dortmund sowie Bremen und erst danach Riga, was viel über den Einfluss der Fernhandelskaufleute und ihr Gewicht in der noch jungen Stadt zwischen Rigebach und Düna besagt. Die ebenfalls schon im vorigen Kapitel erwähnte Brandkatastrophe von 1215 wiederum beschleunigte die Arbeiten an einem neuen und damit dem heutigen Dom. Albert hatte dessen Grundstein bereits 1211 gelegt, um der Enge der ältesten Stadtanlage zu entweichen, zugleich aber eben auch vermieden, ihn in dem 1210/11 als Stadterweiterungsfläche abgesteckten Bereich zu platzieren. Mit der Wahl des Standortes für seinen neuen Dom zeichnete Albert vielmehr bereits eine zweite großzügige Stadterweiterung vor. Strukturell unterschied diese sich von der ersten unter anderem dadurch, dass erstmals ein Stadtmauerabschnitt geplant wurde, der sich nicht primär an naturräumlichen Gegebenheiten orientieren, sondern schnurgerade verlaufen sollte – nämlich vom Sand- bzw. späteren Pulverturm bis zum nachmaligen Schloss am Düna-Ufer. Wann die Errichtung der Mauern rund um dieses zweite Stadterweiterungsgebiet real abgeschlossen war, bleibt umstritten, wobei von frühestens 1234, eher allerdings 1249 und sonst spätestens den 1290er Jahren auszugehen ist. Schnelle Fortschritte machte unterdessen die Verwirklichung des Doms. Dies scheint nicht zuletzt dadurch belegt, dass es 1226 dem zwecks Schlichtung diverser Land- und Machtverteilungskonflikte ins Land gereisten päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena (* um 1184, † 1251) möglich war, in den bereits fertig gestellten Teilen des Kirchenbaus eine beachtliche Menge von Personen vor sich zu versammeln. Mehrfach kam es gleichwohl zu Änderungen am Baukonzept; so könnte ursprünglich sogar geplant gewesen sein, den Dom mit zwei Türmen statt mit nur einem Turm zu vollenden. Die ungewöhnliche Außenmauer-Dicke der Kapellen rechts und links des späteren Turms legt jedenfalls den Schluss nahe, dass diese Kapellen der Anfangsidee nach tatsächlich einmal mächtige Turmgemäuer hätten tragen und deren jeweils unterstes Geschoss bilden sollen. Dass sich stattdessen nach und nach eine Außenform ergab, die derjenigen des Doms von Ratzeburg nicht ganz unähnlich erscheint, zwingt zum Nachdenken über einen eventuellen Zusammenhang damit, dass der Grundsteinlegung von 1211 auch Bischof Philipp von Ratzeburg beiwohnte; allerdings muss es einen solchen Zusammenhang nicht notwendigerweise geben. Zudem war für Bischof Albert nicht nur die Gestaltung des Doms, sondern auch die seiner neuen Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Bischofspfalz interessant, für die zwischen Dom-Westseite und Düna-Ufer im Rahmen der nochmaligen Stadterweiterung plötzlich viel Fläche zur Verfügung stand. Diese 1215 eingeleitete Stadterweiterung und die von da an intensivere Bautätigkeit am neuen Dom sind auch mit einem äußeren Ereignis in Verbindung zu bringen; denn in jenem Jahr erreichte Bischof Albert die Herauslösung seines Bistums aus der Erzdiözese Hamburg-Bremen. Seither war es unmittelbar der Kurie unterstellt, allerdings noch nicht selbst zu einem Erzbistum aufgestiegen, wenngleich Albert weit reichende Kompetenzen einschließlich des Rechts, Bischofsweihen zu vollziehen, zugestanden wurden. Schwierig gestaltete sich unter diesen Umständen die Regelung von Alberts eigener Nachfolge: Der Bremer Erzbischof sah sich für diesen Fall weiterhin ernennungsberechtigt, was zu einigen Auseinandersetzungen führte. An deren Ende konnte zwei Jahre nach Alberts Tod der vom Rigaer Domkapitel gewählte Magdeburger Prämonstratenser Nikolaus von Nauen († 1253, ab 1231 Bischof von Riga) das Amt übernehmen. Im Gegenzug fiel an den gescheiterten Kandidaten der bremischen Kirche, den gebürtigen Kölner Albert Suerbeer (* um 1200, † 1273, ab 1253 Erzbischof von Riga), das Amt des Erzbischofs, als 1245 doch noch eine preußisch-livländische Erzdiözese geschaffen wurde. Der Tod Nikolaus’ acht Jahre später machte schließlich den Weg dafür frei, Riga zu Albert Suerbeers Amtssitz erklären zu können. Angesichts der schon um 1210 greifbar gewordenen Spannungen zwischen Bischof und Orden, die damals beide um die Gunst der Kaufleute bemüht waren, drängt sich retrospektiv durchaus die Frage auf, weshalb die 1215 begonnene zweite Stadterweiterung nicht bis zur Entstehung einer rechtlich eigenständigen Neustadt geführt hat. Der Begriff »Neustadt« ist in Kartenskizzen zur Genese Rigas, die geschichtswissenschaftlicher Literatur beigegeben sind, vereinzelt sogar zu lesen; er erscheint jedoch irreleitend, denn um eine klassische Neustadt im rechtlichen Sinne handelte es sich eindeutig nicht. Dass eine solche Neustadt-Gründung damals ausblieb und Riga insgesamt somit nicht zu einer klassischen Doppelstadt wurde, lässt sich offenbar in erster Linie mit dem noch allzu geringen Entwicklungsgrad der ursprünglichen Stadtanlage erklären. Derweil entsprach in Riga der Zuwachs an ummauerter Stadtfläche nach 1215 – relativ wie auch absolut – sehr wohl dem Durchschnitt der bei Neustadt-Gründungen andernorts in jener Zeit erreichten Dimensionen. Ungleich ehrgeiziger nahm sich höchstens das Neustadt-Projekt in Prag aus, das allerdings auch erst 1348 begonnen wurde. Beispiele wie die auf spätestens 1216 datierbare Neustadt-Gründung in Hildesheim, die vergleichbaren Gründungen in Warburg (1228/29) und Her30  Das mittelalterliche Riga

ford (vor 1224) oder auch die Ersterwähnung einer Neustadt neben der Altstadt von Brandenburg an der Havel 1196 zeigen demgegenüber, dass eine potenzielle Rigaer Neustadt-Gründung – angenommen, sie hätte sich 1215 tatsächlich vollzogen – im europäischen Kontext keinesfalls als unverhältnismäßig früher derartiger Vorgang dastünde. Das Beispiel Königsbergs mit seinen 1286, 1300 und 1327 gegründeten und erst 1724 administrativ vereinigten Einzelstädten unterstreicht zudem, dass Riga keineswegs in einem Teil Europas liegt, für den Stadtgenesen dieser Art vollends atypisch wären. Missverständnisse im Sinne eines etwaigen Nebeneinanders mehrerer derartiger Einzelstädte auch in Riga könnte darüber hinaus der Umstand erzeugen, dass sich ab dem frühen 16. Jahrhundert für die Gegend unmittelbar nördlich und westlich des einstigen Rigebach-Hafens – die ihres feuchten Untergrundes wegen anfangs »Ellerbrok« genannt wurde, jedoch in Schriftquellen letztmals für das Jahr 1552 unter diesem Namen zu finden ist – die Bezeichnung »Altstadt« einbürgerte. Diese ist hier bis heute durch den Straßennamen »Vecpilsēta« bzw. »Vecpilsētas iela« – »Altstadt(straße)« – präsent geblieben. Noch bis ins späte 19. Jahrhundert und vereinzelt sogar darüber hinaus war, wenn von der »Altstadt« gesprochen wurde, immer nur dieser kleine Bereich gemeint; denn für die Unterscheidung zwischen dem gesamten Kern der Stadt, den bis 1857 Festungswälle umschlossen, und dem übrigen Riga standen stattdessen die Begriffe »Innenstadt« oder »Innere Stadt« (lett. »Iekšpilsēta« respektive »Iekšrīga«) und »Außenstadt« oder »Äußere Stadt« (lett. »Ārpilsēta« respektive »Ārrīga«) zur Verfügung, die selbst in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch nicht gänzlich ungebräuchlich waren. Eigencharakter hatte außer dem »Ellerbrok« nebst den Livendörfern noch ein weiterer Bereich innerhalb der mittelalterlichen Stadt, wenn auch auf etwas andere Weise: Die frühzeitigen Handelskontakte, die Rigaer Kaufleute mit längs der oberen Düna gelegenen russischen Städten schlossen, führten nach ihrer Festigung durch einen Friedensvertrag mit Polock relativ bald zur Ansiedlung von teils dorther, teils aber auch aus Pskov (Pleskau) stammenden Kaufleuten. Mutmaßlich schon ab dem dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entwickelte sich innerhalb des zweiten Stadterweiterungsareals auf diese Weise ein eigenes russisches Viertel. Selbst als die hier ansässig gewordenen Russen ihre Geschäftstätigkeit allmählich in andere Teile der Stadt auszudehnen begannen, besaßen sie damit noch für Jahrhunderte einen fest garantierten und ganz von ihnen geprägten Wohnbezirk. Diesen trennte auf seiner Nordseite lediglich die heutige Trokšņu iela (Große Lärmstraße) von der anfangs noch im Entstehen begriffenen Stadtmauer, genauer Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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gesagt von dem Mauerabschnitt, der sich aus neuzeitlicher Perspektive als derjenige westlich des Schwedentors beschreiben lässt. Von dort erstreckte sich jenes Russen-Viertel mindestens bis zur heutigen Mazā Trokšņu iela (Kleine Lärmstraße), der direkten Verbindung zwischen Aldaru iela (Große Brauerstraße) und Jēkaba iela ( Jakobstraße). Ob es in seiner Anfangszeit noch merklich weiter nach Süden reichte und inwieweit es dort sogar die heutige Smilšu iela (Große Sandstraße) berührte, bleibt insofern schwer zu beantworten, als die Südgrenze des Viertels bereits im 14. Jahrhundert stark verschwamm; denn ab dieser Zeit war es nicht mehr unüblich, dass auch Deutsche Grundbesitz im »Russchen dorpe« erwarben. Die in solchen Zusammenhängen in den Erbebüchern der Stadt erwähnte »Russesche strate« ist offenkundig mit der heutigen Aldaru iela gleichzusetzen. Nicht weit von deren nördlichem Ende entfernt – möglicherweise allerdings einige Meter von ihr abgerückt und somit eher in der Mitte des westlich angrenzenden Kernbereichs des Russen-Viertels – muss die orthodoxe Nikolaikirche der russischen Kaufleute gestanden haben. Die Ausübung der Kirchenaufsicht über dieses ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch Quellen greifbare, vermutlich jedoch noch ältere Gotteshaus erfolgte von Polock aus. Von den ethnischen Gruppen, aus denen sich die Bevölkerung Rigas gegen Ende des 13. Jahrhunderts zusammensetzte, bildeten die Russen ziemlich sicher die zweitstärkste nach den Deutschen. An zahlenmäßig dritter Stelle folgten im Laufe der Zeit wohl die Letten und an vierter Stelle demnach die aufgrund der Inkorporation ihrer Dörfer zu Bewohnern der Stadt gewordenen Liven. Letzteren konnte im Zuge des allmählichen Hafenbaus längs der Düna von Fall zu Fall ihr bisheriges Grundstück verloren gegangen sein; ein prinzipielles Recht auf Grundbesitz behielten sie jedoch. Erst im Laufe des 15. Jahrhunderts verschwand dieses anfängliche Grundbesitzrecht für »Undeutsche« – so der keineswegs als abwertend zu verstehende Rechtsbegriff, den auf Grundlage der Quellen auch die historische Forschung benutzt. Parallel dazu begannen um 1400 Verbote, nichtdeutsche Handwerkslehrlinge aufzunehmen, wobei die Zeitpunkte, zu denen diese Verbote verfügt wurden, von Handwerk zu Handwerk um Jahrzehnte voneinander abweichen konnten. Über den Aussagewert einiger mittelalterlicher   Rigaer Straßennamen Im mittelalterlichen Straßennamenbestand der Stadt verwiesen nur ganz wenige Benennungen darauf, dass an einer betreffenden Straße irgendein Handwerk gehäuft ausgeübt wurde. Hielte man dies allerdings für eine Ausnahme gegenüber

32  Das mittelalterliche Riga

dem, was in damaligen Städten die Regel war, so hinge man einer weit verbreiteten Fehlannahme an, mit der die Mittelalter-Forschung aufzuräumen versucht. Mit seinen lediglich vereinzelten Indizien für die Konzentration eines bestimmten Handwerks in einem bestimmten Bereich verkörpert Riga vielmehr den auf viele andere Städte jener Zeit übertragbaren Normalfall, dass die meisten Handwerke im gesamten Stadtgebiet verstreut anzutreffen waren. Selbst eines der beiden Handwerke, nach denen im Mittelalter tatsächlich eine Rigaer Straße benannt war, nämlich das der Schuhmacher, dominierte die betreffende Straße – die spätere Scheunenstraße (lett. Šķūņu iela) – keineswegs so, dass dort nebenher nicht noch weitere Handwerke beheimatet gewesen wären. Dies dürfte im Falle des Fleischerberufs, der der Küterstraße (lett. Miesnieku iela) ihren bis in die Neuzeit bewahrt gebliebenen Namen gab, wiederum anders gewesen sein; nur würde man wohl zögern, diesen Beruf mit einem Handwerk gleichzusetzen. Eine minimale Vermehrung von Rigaer Straßennamen, aus denen Berufsbezeichnungen herausklingen, ergab sich, als aus der mittelalterlichen »Beverstrate« im Laufe des 19. Jahrhunderts die Weberstraße (lett. heute Audēju iela) wurde. Allerdings hat man es in diesem Fall nicht etwa mit einem Hinweis auf eine zeitweilige räumliche Verdichtung des Weberberufs zu tun, sondern mit einem Beispiel für das, was sprachwissenschaftlich gern als Volksetymologie bezeichnet wird. Erst nach einem Umweg über das Lettische manifestierte diese sich auch im Deutschen: »Beverstrate« führte zunächst im Lettischen zu der Parallelisierung »Vēveru iela«, und deren Übersetzung ins Deutsche lautet »Weberstraße«. Dass im Lettischen inzwischen »Audēju iela« an die Stelle von »Vēveru iela« getreten ist, liegt wiederum daran, dass nach dem Ersten Weltkrieg niederdeutsch klingende lettische Wörter gern gemieden wurden, wann immer im Lettischen ein weniger deutsch klingendes Alternativwort mit derselben Bedeutung gebildet werden konnte – so wie im vorliegenden Fall »audējs« statt »vēvers« für »Weber«. Die Weberstraße wird von der Großen Schmiedestraße (lett. Kalēju iela) gekreuzt; und eine »Smedestrate« gab es tatsächlich auch schon im Mittelalter, allerdings an anderer Stelle, denn bei jener »Smedestrate« handelte es sich um die spätere Rosenstraße (lett. Rozena iela). Sollte bereits die Stadtanlage von 1201 bis hierhin gereicht haben, wovon auszugehen ist, so lag die »Smedestrate« anfangs unmittelbar im Schatten der Wehrmauern, also in einem Randbereich der Stadt, ganz wie es für das mit Lärm und Brandgefahren verbundene Schmiedehandwerk in mittelalterlichen Städten typisch war. Mit »Beverstrate«, dem mittelalterlichen Namen der Weberstraße, verhält es sich ähnlich wie zum Beispiel mit »Wicboldesstrate«, einem der mittelalterlichen Namen für die spätere Schwimmstraße (lett. Peldu iela): Die Namenspatrone waren in diesen Fällen allem Anschein nach reale Einzelpersonen respektive Familien. Auf die Schwimmstraße lassen sich insgesamt allerdings gleich drei ältere Namen beziehen. Aus einem davon – »Swynestrate« – entwickelte sich der neuzeitliche Name auch hier wiederum auf Grundlage einer Volksetymologie.

Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Denn statt an »Swyne«, also Schweine, wurde später offenkundig an die Schiffer gedacht, die nahe dem Endpunkt dieser Straße mittels einer Rampe ihre Schiffe be- und entluden oder auch die Überquerung der Düna ermöglichten. Von der die Schwimmstraße kreuzenden Herrenstraße (lett. Kungu iela) berichten frühneuzeitliche Quellen unterdessen, diese habe einmal »Heringsstraße« geheißen. Selbst der Name »Herrenstraße« wäre demnach, was die Verballhornung der Ursprungsbedeutung angeht, mit »Weberstraße« und »Schwimmstraße« (sowie vermutlich auch »Scheunenstraße«) in eine Reihe zu stellen. Im Falle der »Rigemundestrate« – so der älteste belegte Name für die fast parallel zur Schwimmstraße verlaufende Straße, für die sich später der Name »Marschalkes strate« bzw. Marstallstraße (lett. Mārstaļu iela) etablierte – kann nicht eindeutig beantwortet werden, ob hier zuerst ein Familienname oder zuerst der Straßenname vorlag. Klar ist nur, dass »Rigemunde« auch der Name einer Ratsherrenfamilie war, die ihren Wohnsitz unweit der Rigebach-Mündung hatte. Von dieser Familie könnte er sich auf die Straße übertragen haben. Dass er auch deswegen einen Sinn ergab, weil die Straße zur Rigebach-Mündung hinführte, beweist also noch nicht, dass er primär für die Straße und entsprechend erst sekundär für die Familie geprägt wurde. Ausschließen lässt sich dies aber ebenso wenig. Schon das bloße Zuordnen der mittelalterlichen zu den neuzeitlichen Straßennamen erwies sich für Historiker, die sich hieran versucht haben, nicht in allen Fällen als einfach. Brauchbare Stadtpläne existieren nun einmal erst aus nachmittelalterlicher Zeit; und Straßennamen sind in Kartenansichten wie etwa dem um 1650 gezeichneten »Murrerschen Plan« noch keineswegs enthalten. Straßen wie die Marstallstraße dürften neben ihren relativ wenigen bis heute erhaltenen Querstraßen ursprünglich weitere kleine Querstraßen besessen haben, die erst nach und nach durch Grundstückszusammenlegungen verschwanden. Ähnlich scheinen auch bereits von der zum Siedlungskern von 1201 gehörenden »Schostrate« bzw. Scheunenstraße anfangs mehr Seitensträßchen abgezweigt zu sein als in späterer Zeit. An beiden Orten – seitlich der Marstall- wie auch seitlich der Scheunenstraße – konnten für immerhin je eine derartige Querstraße stichhaltige archäologische Nachweise erbracht werden.

Von den Namen stadtbekannter Familien leiteten sich im mittelalterlichen Riga neben Straßennamen auch die Namen etlicher Befestigungstürme ab. Nur die an besonders markanten Punkten befindlichen Türme erhielten ihre Namen von Anfang an eher nach topographischen Gegebenheiten, so etwa der in der Nähe der Jakobikirche errichtete Jakobsturm. Namen dieses Typs blieben in aller Regel das gesamte Spätmittelalter hindurch unverändert. Dies trifft auch auf den an der damaligen »Sandstrate« platzierten Sandturm zu, bei dem sich erst in späteren Jahrhunderten ein an seine Nutzung angelehnter Benennungswandel hin zu »Pulverturm« ergab. Türme, die abseits solcher markanter Punkte lagen, wurden dagegen überwiegend 34  Das mittelalterliche Riga

Die älteste überlieferte Ansicht Rigas – um 1540 angefertigt für die Kosmographie des Sebastian Münster

nach jeweiligen Anwohnerfamilien benannt. In solchen Fällen war ein Benennungswechsel nicht ausgeschlossen; allerdings scheint kein Rigaer Turm im Laufe seiner Geschichte nacheinander mehr als drei verschiedene Namen getragen zu haben. Spätestens der dritte dieser Namen war dann auch bei den etwas versteckter gelegenen Türmen in fast allen Fällen topographisch motiviert. Wie viele Türme die Stadtbefestigung umfasste, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Vieles spricht jedoch für eine Gesamtzahl von 27 oder 28. Die in den 1540er Jahren in Sebastian Münsters Kosmographie erschienene älteste Ansicht der Stadt Riga erweist sich in dieser Hinsicht kaum als Hilfe und lässt auch nur in wenigen Fällen die Grundrissform eines der Türme klar erkennen. Höher als dreieinhalb Meter sollen die Stadtmauern des 13. Jahrhunderts an kaum einer Stelle gewesen sein; dies haben Untersuchungen an dem besonders gut erforschten Mauerabschnitt westlich des Pulverturms in den 1980er Jahren weitgehend bestätigt. Bei der 1987 erfolgten Rekonstruktion dieses Stücks der Stadtmauer einschließlich des einstigen Ramerturms wurden davon abweichend die zu vermutenden spätmittelalterlichen Abmessungen zugrunde gelegt; denn Ende des 15. Jahrhunderts, als in Auseinandersetzungen zwischen der Stadt und dem Deutschen Orden, die hier noch zu schildern sein werden, für längere Zeit die Stadt die Oberhand Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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gewann, wurden Rigas Mauern noch einmal erheblich verstärkt und erhöht. Aus den frühen 1480er Jahren stammte entsprechend auch der so genannte Rote Turm, ein zu Beobachtungszwecken errichtetes sechsstöckiges Bauwerk links der Düna, von dem heute nichts mehr erhalten ist. Schätzungen mittelalterlicher Einwohnerzahlen Rigas erweisen sich auf Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials als schwierig. Die Annahme, dass ab 1210 eine vierstellige und ab der Wende zum 16. Jahrhundert eine fünfstellige Gesamtzahl erreicht wurde, dürfte jedoch in die richtige Richtung weisen. Gegen ein früheres Erreichen der Fünfstelligkeit sprechen zwischenzeitliche Verluste, wie sie zum Beispiel durch die europaweite Pest der Jahre um 1350 eintraten. In Riga scheint dieser Pest mindestens jeder Vierte zum Opfer gefallen zu sein. Spätere Pest-Ausbrüche warfen die Einwohnerzahl dann abermals zurück. Ende 1710 etwa dürfte diese sich nur noch in einer Größenordnung um 5000 bewegt haben. Die Sakraltopographie der Stadt

Handelt man die Kirchen Rigas statt nach ihrer Bedeutung nach ihrem Alter ab, so ist als ältester erhaltener Kirchenbau der Stadt zunächst noch einmal die Georgskirche zu erwähnen, die einen Rest der unmittelbar nach 1201 angelegten Burg des Schwertbrüderordens und danach des Deutschen Ordens darstellt. Wurde Letztere gelegentlich »Jürgenshof« genannt, so bezog sich dies somit auf das Patrozinium der Burgkapelle, wobei neben »Jürgenshof« auch »Burg Weißenstein« (bzw. in damaligem Niederdeutsch: »Wittensten«) eine gebräuchliche Bezeichnung war, ehe die Burg 1297 bis auf ihre Kapelle zerstört wurde. Nach der Reformation trat die sakrale Ursprungsfunktion der Georgskirche endgültig hinter ihre wirtschaftliche Verwendbarkeit zum Nutzen des angrenzenden Konvents zum Heiligen Geist zurück. Daher für Speicherzwecke vermietet und entsprechend umgebaut, war sie in späteren Jahrhunderten nur noch als »Heiliggeistspeicher« geläufig und für niemanden mehr als einstiger Sakralbau identifizierbar. Äußerlich vermittelte sich vielmehr der Eindruck, es mit drei aneinander gebauten wuchtigen Speichern zu tun zu haben, so dass der Volksmund sogar dreierlei Namen für die vermeintlich drei einzelnen Speicher prägte, indem er von der »braunen«, der »weißen« und der »blümeranten Taube« sprach. Erst in den 1980er Jahren kam es zu einer Totalrestaurierung der Vorderseite und zur Umwandlung des Inneren in ein Museum, während auf der Hinterseite einige der Speicher-Relikte konserviert wurden. Obwohl äußerlich schlicht, 36  Das mittelalterliche Riga

ist die Georgskirche aus Sicht eines Mittelalter-Interessierten insofern zu den bemerkenswertesten Bauwerken der Stadt zu zählen. Noch nachdrücklicher als bisher gilt dies, seit bei allerjüngsten Restaurierungsarbeiten ein bis dahin unentdeckt gebliebener Fensternischentypus am Nordwestgiebel freigelegt werden konnte; denn dieses überraschend ans Tageslicht gekommene Detail lässt den Bau sogar im Gesamtkontext von Deutschordensarchitektur und damit weit über Riga hinaus einzigartig erscheinen. Die nur einen Steinwurf entfernte Pfarrkirche St. Petri stand unter dem Patronat des Domkapitels, was bedeutete, dass die Pfarrstelle in der Regel mit einem der Domherren besetzt war. Die »Lüttekeschostrate« – heute nur noch unter dem Namen Mazā Monētu iela (Kleine Münzstraße) teilweise erhalten – verband den 1209 erstmals erwähnten Kirchenbau mit dem anfänglichen Sitz des Domkapitels auf direktem Wege. Ähnlich einfach gestaltete sich später, als die Domherren neben den neuen Dom umgesiedelt waren, der Weg von dort zur Jakobikirche, für die sich eine gleichartige Regelung der Patronatsrechte ergab – wenn auch erst nach vergeblichen Forderungen des Schwertbrüderordens, am Patronat beteiligt zu werden. Die alternativ denkbare Konstellation, dass sich der Rat der Stadt das Patronat über eine oder mehrere der bürgerlichen Pfarrkirchen gesichert hätte, war im mittelalterlichen Riga ebenso wenig anzutreffen wie zum Beispiel im damaligen Lübeck. Wie schon erwähnt lebte das Domkapitel ab dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts nach prämonstratensischer Regel. Potenzielle Forderungen westfälischer Prämonstratenser, die hierzu ihre Zustimmung geben mussten und die diese möglicherweise von Raumbedarfsfragen abhängig gemacht hatten, könnten insofern noch mit zu den Auslösern der 1211 und 1215 begonnenen Stadterweiterungen zu zählen sein. Die 1225 erstmals erwähnte Jakobikirche, angelegt als Pfarrkirche für einen Bereich, der zu diesem Zeitpunkt schon zur Ummauerung vorgesehen war, aber noch weitgehend suburbanen Charakter hatte, erfüllte anfangs möglicherweise auch Funktionen für Pilger. Da sie unverfälschter als alle übrigen erhaltenen Rigaer Kirchenbauten des 13. und 14. Jahrhunderts ihre mittelalterliche Form bewahren konnte, ermöglicht ihr heutiger Anblick zugleich eine ansatzweise realistische Vorstellung vom Aussehen der Petrikirche bis in die Zeit um 1400; denn der lang gestreckte Chor, der die Petrikirche zu einem der bedeutendsten gotischen Bauwerke Nordosteuropas macht, entstand erst in den Jahren 1406–1409. Ausgeführt wurde er von Johann Rumeschottel, einem Baumeister aus Rostock, über den außer der Herkunft kaum etwas Biographisches bekannt ist; Rumeschottels Lebensdaten beispielsweise Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Die zu vermutende Bauplanung Johann Rumeschottels für die Petrikirche in einer Ende des 19. Jahrhunderts von dem Architekten Wilhelm Bockslaff vorgenommenen zeichnerischen Rekonstruktion

liegen völlig im Dunkeln. Als sicher gilt lediglich, dass er an der Errichtung der Rostocker Marienkirche beteiligt war, die ihm für seine Arbeiten an St. Petri in Riga ganz offenkundig als Vorbild diente. Dass in Rostock ein Querbau verwirklicht wurde und in Riga nicht, relativiert diesen Vorbildstatus keineswegs. Ohne Zweifel war nämlich auch für die Petrikirche ein solcher einschiffiger Querbau ursprünglich mit eingeplant worden. Ebenfalls 1225, im gleichen Jahr wie die Jakobikirche, fand ein Aussätzigenhaus St. Lazarus erstmals Erwähnung, das in der Biegung des Rigebachs 38  Das mittelalterliche Riga

vor den ab 1211 errichteten Mauern des ersten Stadterweiterungsbereichs angesiedelt war. Bereits 1220 befand sich nordwestlich der neuen Dom-Immunität und somit unweit der Düna ein Heiliggeistspital im Bau. Ob es mit dem gleichnamigen Spital-Orden in Beziehung stand, gilt als ungeklärt. Im 14. Jahrhundert siedelte sich dieses Spital dann zunächst hinter der Georgskirche und im weiteren Verlauf außerhalb der Stadtmauern an. Die Liste der eindeutig schon zu Lebzeiten Bischof Alberts I. in Riga angelegten sakralen Bauten ist damit komplett, denn zu typischen innerstädtischen Klostergründungen kam es erst unter Alberts Nachfolgern: Das neben der damaligen Ordensburg gelegene Grundstück der ersten Bischofspfalz wurde 1234 den Dominikanern überlassen, die hier ein Kloster mit einer Kirche Johannes des Täufers anlegten. 1255 erfolgte die päpstliche Bestätigung eines Zisterzienserinnenklosters St. Marien westlich der Jakobikirche, von dem, wenn auch in stark veränderter Form, die heutige Kirche St. Maria Magdalena geblieben ist. Bereits 1238, gerade einmal zwölf Jahre nach dem Tod des Stifters der Minderbrüder-Orden, Franz von Assisi (*  1181/82, † 1226), erschienen auch die Minoriten in Riga. Sie übernahmen 1258 den Grund und Boden, auf dem bis 1215 aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Dom gestanden hatte, und errichteten dort ein Kloster mit einer Katharinenkirche. Geringfügige Reste des Chors dieser Kirche sind noch heute als Teil der rückwärtigen Außenwand eines Hauses an der Šķūņu iela (Scheunenstraße) zu erkennen, wenn man von der Laipu iela (Stegstraße) her den nördlich angrenzenden Hinterhof betritt. Außer von der schon im vorigen Unterkapitel erwähnten Kirche der Russen sind von noch einem weiteren damaligen Sakralbau keine sichtbaren Spuren mehr erhalten. Bei diesem 1263 erstmals erwähnten Gebäude handelte es sich um die Paulskirche, über die nur sehr allgemein gesagt werden kann, dass sie eine Funktion innerhalb der Dom-Immunität erfüllte. Sie stand mutmaßlich vor der Südostecke des Doms und somit nahe der Stelle, an der die heutige Krāmu iela (Krämerstraße) auf die Jauniela (Große Neustraße) mündet. Im 14. Jahrhundert erhoben auch die Bürger Anspruch auf sie und gerieten hierdurch in Streitigkeiten mit dem Kapitel, die 1391 seitens der römischen Kurie endgültig zu dessen Gunsten entschieden wurden. Die letzten Quellenbelege, denen zufolge der vermutlich recht unscheinbare Bau zum betreffenden Zeitpunkt immer noch sakralen Zwecken diente, stammen aus dem Jahr 1410.

Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Die Entstehung des Rates und der Gilden

Rigas ältestes Rathaus ist ab 1249 schriftlich bezeugt, wurde jedoch gewiss noch früher erbaut, und zwar nahe der auch als Ratspforte bezeichneten »porta magna« der ältesten Stadtanlage, das heißt nahe dem östlichsten Ende des heutigen Domplatzes. Im Zuge der zweiten Stadterweiterung rückte es somit von einer dezentralen in eine relativ zentrale Lage. Das spätmittelalterliche Rathaus der Zeit nach 1330 lag dann allerdings noch ein wenig zentraler. Ein Rat ist in Riga ab 1226 nachweisbar, jedoch nicht in dem Sinne, dass er erst in jenem Jahr seine Tätigkeit aufgenommen hätte; vielmehr deutet in diesem frühen Nachweis alles darauf, dass ein gewisses Maß an Machtfülle bereits bestand. Offenbar hatte sich schon damals ein Kreis ratsfähiger Personen herausgebildet und sich damit eine erste Voraussetzung dafür ergeben, dass die Ratsherrenwürde im weiteren Verlauf meist kontinuierlich bei bestimmten Familien verblieb, innerhalb derer sie von Vätern an Söhne weitergereicht wurde. Verfahrenstechnisch geschah dies später nach dem Prinzip der ergänzenden Nachwahl (Kooptation). Die Anfänge des Rates könnten nach Ansicht von Historikern in der Zeit um 1220 liegen: Nach erfolgreichen Eroberungszügen Waldemars II. (* 1170, † 1241, ab 1202 König von Dänemark) im estnischen Siedlungsgebiet, aus denen auch der Schwertbrüderorden Nutzen zu ziehen versuchte, sah Bischof Albert sich seinerzeit genötigt, sich dem Dänenkönig zu unterwerfen. Hiervor bewahrte ihn letztlich allein die Tatsache, dass der dazu aufgesetzte Vertrag die Zustimmung der »Stände«, die Albert als Stadt- und Landesherr repräsentierte, zur Bedingung machte und dass diese Zustimmung ausblieb. Stattdessen formierte sich 1221 gegen die Ansinnen Waldemars und möglicher sonstiger fremder Potentaten eine als »Coniuratio von Treyden« überlieferte Schwurgemeinschaft aus Bürgern Rigas, auswärtigen Kaufleuten sowie livischen und lettischen Ältesten – die mögliche Keimzelle des rigischen Rates. Am wahrscheinlichsten ist allerdings, dass ein Rat bereits vorher in Ansätzen bestand und so seinerseits Initiator der Bildung dieser Schwurgemeinschaft war. Eine wichtige Aufgabe des Rates – die Vertretung städtischer Interessen nach außen – lässt sich hieraus bereits ersehen; eine andere Kernaufgabe, die er fast von Beginn an wahrnahm, bestand in der Marktaufsicht. 1225 gelang es außerdem, den Rigensern das Recht zu sichern, per Wahl den Vogt zu bestimmen, womit ein erster Schritt hin zu den späteren rechtsprecherischen Befugnissen des Rates vollzogen war. Die Autorität, derlei Rechte zu erteilen, 40  Das mittelalterliche Riga

lag in besagtem Jahr bei dem schon erwähnten päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena. Dieser stellte, nachdem er von den Bürgern die Auskunft erhalten hatte, Bischof Albert habe ihnen das Recht der Deutschen auf Gotland gewährt, eine Liste mit konkreten Rechten zusammen, deren Zubilligung ihm unter diesen Umständen plausibel erschien, und zeigte sich für den Fall eines Beweises, dass den Deutschen auf Gotland noch mehr konkrete Rechte verliehen worden waren, aufgeschlossen für eine spätere Erweiterung seines Rechte-Katalogs. Ist von einer solchen nachträglichen Beweisführung auch nichts bekannt, so kann der Rechte-Katalog von 1225 für Riga angesichts der Art seines Zustandekommens gleichwohl nicht eins zu eins mit damaligem Recht auf Gotland gleichgesetzt werden. Was Rigas Gildenwesen betrifft, ist zwischen vom Rat legitimierten Gilden – vor allem den verschiedenen »Ämtern«, deren Statuten, die so genannten Schragen, wie sie für Bäcker, Fischer, Schuhmacher und andere handwerkliche Berufsstände überliefert sind, Genehmigung seitens des Rates erfuhren – und den autonom entstandenen Kaufmannsgilden zu unterscheiden. Zu Letzteren zählte die für die weitere Entwicklung der Stadt so bedeutsame Große Gilde. Der spätere Aufstieg der Kleinen Gilde der wohlhabenden Handwerker zu einem dritten Stadtverfassungsorgan neben Rat und Großer Gilde lässt sich demgegenüber eher als sekundär eingetretener Vorgang im Gefolge des Aufstiegs der Großen Gilde verstehen. Das Gesamtbild beim Thema Gilden erscheint somit weniger übersichtlich, als das heutige Nebeneinander eines Hauses der Großen und eines Hauses der Kleinen Gilde im Herzen Rigas es zunächst vermuten ließe. Wie im Folgenden erläutert sei, stellen sich zudem auch die Anfänge der Zugehörigkeit dieser beiden Gebäude bzw. Grundstücke zu der jeweiligen Gilde als möglicherweise kompliziert dar: Von den im Handelsvertrag von 1229 im Anschluss an Visby aufgeführten Städten Lübeck, Soest und Münster ist bekannt, dass jede von ihnen schon bald darauf einen eigenen »Hof« in Riga unterhielt, um ihre Handelsinteressen optimal wahrnehmen zu können. Anders als im Falle der entsprechenden Niederlassung Lübecks, die für die Rigaer Stadtgeschichtsforschung nur mit Mühe lokalisierbar war und die sich nach heutiger Erkenntnis im Schatten des Stadtmauerabschnitts längs der Düna befand, bestand bezüglich der Niederlassungen Münsters und Soests nie ein Zweifel, wo diese einst angesiedelt waren: Das Gebäude der Großen Gilde, das in stark veränderter Form noch heute Teil des Stadtbildes ist, wird nun einmal traditionell mit der »Stube von Münster« gleichgesetzt, wenn auch mittlerweile in Verknüpfung mit der Vorstellung, hiermit sei im engeren Sinne ein in Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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seiner mittelalterlichen Gestalt erhaltener Saal im Gebäudeinneren gemeint; »Stube von Soest« gilt analog dazu als eine Art Zweit- oder Zusatzname des Gebäudes der Kleinen Gilde. Da die Entstehung mittelalterlicher Gilden zudem oft als Weiterentwicklung aus ursprünglich nach Herkunftsregionen formierten jeweiligen Gruppen von Kaufleuten gedeutet wird, erscheint an den Parallelnamen »Stube von Soest« und »Stube von Münster« auf den ersten Blick kaum irgendetwas hinterfragenswert. Gäbe man sich mit diesen wenigen Erklärungen zufrieden, so sähe man allerdings daran vorbei, dass die mutmaßlichen Kaufmannshöfe Münsters und Soests im 14. Jahrhundert nicht nahtlos in den Besitz der Gilden übergingen. Erst um 1360 können sie seitens der Stadt den Gilden übertragen worden sein; und möglicherweise erhielt dabei zunächst die Große Gilde die heutige »Stube von Soest« und die Kleine Gilde die heutige »Stube von Münster«. Zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt scheinen die Gilden dann untereinander vereinbart zu haben, ihr jeweiliges Gebäude gegen das der jeweils anderen einzutauschen. Hierfür spricht zum einen ein im Archiv der Kleinen Gilde zu findender frühneuzeitlicher Text, der nur sehr eingeschränkt verlässlich anmutet, jedoch tatsächlich Andeutungen über einen Gebäudetausch zwischen Großer und Kleiner Gilde enthält. Dass es einen solchen Vorgang wirklich gegeben haben könnte, wird zum anderen durch die Existenz einiger spätmittelalterlicher Quellen untermauert, in denen entweder die »Stube von Münster« so lokalisiert wird, als sei das heute vom Haus der Kleinen Gilde eingenommene Grundstück gemeint, oder Erwähnungen der Lage der »Stube von Soest« so klingen, als sei von dem Grundstück die Rede, auf dem heute das Gebäude der Großen Gilde steht. Sollte der Gebäudetausch, der von Clara Redlich und verschiedenen anderen Kennern rigischer Geschichte angesichts dieser Auffälligkeiten vermutet worden ist, in der Tat stattgefunden haben, so müsste er den Quellenindizien nach in die Zeit zwischen 1497 und 1502 gefallen sein. Im Gefolge der Übertragung der ursprünglichen »Stube von Münster« von der Großen an die Kleine Gilde und der ursprünglichen »Stube von Soest« von der Kleinen an die Große Gilde wären im Sprachgebrauch der Rigenser sodann auch jene beiden auf das 13. Jahrhundert zurückgehenden Zweitbezeichnungen auf den jeweils anderen der beiden Gebäudekomplexe übergegangen. Dass die Beinamen »Stube von Münster« und »Stube von Soest« an den nachmaligen Gildehäusern überhaupt so lange haften geblieben waren, ist verwunderlich genug, wenn man bedenkt, dass die vorherigen Kaufmannshöfe bereits deutlich vor 1330 an die Stadt Riga zurückgefallen waren und sich danach zunächst – als Folge der noch zu schildernden Fehde der 42  Das mittelalterliche Riga

Jahre 1297–1330 – bis 1353 in der Verfügungsgewalt des Ordens befunden hatten. Umso nachvollziehbarer erscheint in Anbetracht dieser enormen zeitlichen Distanz jedoch die Annahme, um 1500 könnte die Erinnerung an die in den Beinamen verewigten Besitzverhältnisse des 13. Jahrhunderts tatsächlich bereits derart verblasst gewesen sein, dass eine wechselseitige Beinamen-Verschiebung zwischen den Gebäuden mit solcher Leichtigkeit eintrat, wie die These vom Gebäudetausch es voraussetzt. Wenn die beiden Gebäude wie erwähnt erst um 1360 in den Besitz der Gilden gelangten, so schließt dies freilich keineswegs aus, dass diese sie bereits vor 1330 bei Bedarf vom Rat zur Verfügung gestellt bekamen. Hiermit lässt sich auch die Ersterwähnung des so genannten »Neuen Hauses« 1334 in Verbindung bringen, bei dem es sich um das spätere Schwarzhäupterhaus handelt: Mit dessen Errichtung wurde offenkundig aufgrund der damaligen Nichtverfügbarkeit der ehemaligen Höfe Münsters und Soests begonnen. Die in Riga 1413 erstmals erwähnten Schwarzhäupter hatten als Gebäude, wie es scheint, zunächst unter anderem den einstigen Lübecker Hof in Gebrauch, ehe sie 1478 alleinige Nutzer des »Neuen Hauses« wurden, auf das bis dahin außer ihnen ebenso die Große Gilde Zugriff hatte. Tatsächliches Eigentum der Schwarzhäupter war dieses vom 16. Jahrhundert an immer edler gestaltete Bauwerk sogar erst ab 1713. Seit 1416 mit einem eigenen, autonom beschlossenen Schragen ausgestattet, bildete die »Compagnie der Schwarzen Häupter«, wie sie sich mit vollem Namen nannte, einen Zusammenschluss von Kaufgesellen – in Absetzung von den geschäftlich in jeder Hinsicht selbständigen Großkaufleuten, die in der Großen Gilde versammelt waren. Ob der Name »Schwarzhäupter« unmittelbar mit der dunklen Hautfarbe des Heiligen Mauritius zusammenhängt, den die Kompanie neben Maria und dem Heiligen Georg zu ihrem Schutzheiligen erkor, lässt sich nicht eindeutig klären. Alternativ wäre denkbar, dass die Kaufgesellen-Kompanie entstehungsgeschichtlich mit im mittelalterlichen Livland ebenfalls »schwarze Häupter« genannten Wachmannschaften für Burgen und Stadtmauern in Verbindung zu bringen ist, so dass der Name sich auf den dunklen Kopfschutz solcher Wächter beziehen ließe. Der Schragen der Schwarzhäupter dokumentiert auf interessante Weise, welche Berufe nach dem des selbständigen Kaufmanns das meiste Ansehen genossen, nämlich der des Goldschmieds und der des Schiffers. Entsprechend wurde im »Neuen Haus« den Goldschmieden eine von zwölf »Bänken« zugestanden, von denen die Ältestenbank die vornehmste war. An der Spitze der Schwarzhäupter stand, analog zu den Gegebenheiten in der Großen Gilde, ein auf Zeit gewählter Ältermann. Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Das spätere Schwarzhäupterhaus war von Beginn an ein Ort gesellschaftlichen Vergnügens, wenngleich eben nicht mit Zutritt für jedermann. Doch auch bei sämtlichen Spektakeln unter freiem Himmel, zu denen der allgemeine Festtagskalender Anlässe hergab, waren Große Gilde und Schwarzhäupter-Kompanie die Hauptakteure. Zur örtlichen Festkultur gehörten neben Fastnachtsumzügen und Schützenfesten zum Beispiel die ab dem 15. Jahrhundert nachweisbaren Maigrafenfeste. Ähnlich wie in anderen damaligen Städten versinnbildlichten sie auch in Riga den Einzug des Frühlings, der in Gestalt eines außerhalb der Stadtmauern in Anwesenheit des Rates zum Maigrafen erklärten Mitglieds der Großen Gilde symbolisch in die Stadt einzog. Den Abschluss der Feiern bildete stets ein Gelage im Gebäude der Großen Gilde – bzw. in späteren Jahren im Schwarzhäupterhaus, nachdem die Schwarzhäupter ihren Brauch, einen eigenen Maigrafen zu wählen, abgelegt und sich zur Teilnahme an den Maigrafenfesten der Großen Gilde entschlossen hatten, bei denen sie seitdem die Höflinge des Maigrafen verkörperten. – 2001 wurde anlässlich der 800-Jahr-Feier Rigas an die im Reformationszeitalter untergegangene Tradition, jemanden für ein Jahr zum Maigrafen zu ernennen, wieder angeknüpft. Das rigische Stadtrecht und einige der mit ihm   verbundenen Quellen

Waren die Rechtsgegebenheiten in Riga anfangs an diejenigen, die die Deutschen auf Gotland generiert hatten, angelehnt, so differenzierten sie sich noch im Laufe des 13. Jahrhunderts deutlich aus, und zwar nunmehr auf der Grundlage hamburgischen Rechts. Unter den Städten, auf die sich dieses von 1270 an in mehreren Fassungen überlieferte hamburgische Stadtrecht übertrug, kann Riga neben Stade als die seinerzeit bedeutendste gelten, vor allem jedoch als die einzige, in der es sich bald zu einem eigenständigen Stadtrecht weiterentwickelte. Dieser Verselbständigungsprozess näherte sich einem entscheidenden Stadium, als bereits 1279 den Bürgern der neuen Stadt Hapsal (estn. Haapsalu) durch deren Gründer, den Bischof von Ösel, die Übernahme rigischer Rechtspraktiken eingeräumt wurde. Im weiteren Verlauf fand rigisches Stadtrecht in rund vier Fünfteln aller Städte im mittelalterlichen Livland Anwendung; von seiner dabei maßgeblichen Ausfertigung, den elfteiligen »Oelrichsschen Rigaer Statuten«, haben in manchen dieser Städte bis in die Gegenwart Abschriften überdauert. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stadtrechtsfamilie bedeutete unter an44  Das mittelalterliche Riga

derem, dass es möglich war, in Rechtsstreitigkeiten, die in einer jeweiligen Stadt zu keinem Abschluss gebracht werden konnten, den Rat der Mutterstadt des betreffenden Stadtrechts als Appellationsinstanz anzurufen. Für Reval (estn. Tallinn), Wesenberg (estn. Rakvere) und Narva – drei Städte, die um 1300 noch der Herrschaft Dänemarks unterstanden – endete ein solcher Appellationszug, da sie lübisches Recht genossen, vor dem Rat von Lübeck, während für alle übrigen livländischen Städte in derartigen Fällen der Rat von Riga zuständig war. Erst in der Neuzeit wurde es zu einem Anliegen des Staates, derartige Instanzenwege zu ändern und möglichst zu zentralisieren. Zeitnahe hierzu erlebte das rigische Stadtrecht 1673 noch einmal eine – wenn auch nicht rechtswirksam bestätigte, so doch faktisch durchgeführte – Revision. Ähnlich wie andere Stadtrechte sah es als höchstes Selbstverwaltungsorgan den Rat vor. Die Zahl der Ratsherren war im Falle des rigischen Rechts auf 16 und die der Bürgermeister auf vier festgelegt. Dem somit 20-köpfigen Rat standen als Bürgergemeinde sämtliche Mitglieder der Gilden gegenüber. Da grundsätzlich nur Kaufleute Ratsmitglieder werden konnten, gab es in Riga stets enge Verflechtungen zwischen dem Rat und der Führungsschicht der Großen Gilde. Zu den Aufgabenbereichen der Bürgergemeinde gehörte die Finanzaufsicht, zu denen des Rates die Instandhaltung der Verteidigungsmauern und das Verwalten der städtischen Liegenschaften. Eine der wichtigsten und meistbenutzten Quellen zur Gewinnung von Erkenntnissen über das mittelalterliche Riga stellt das so genannte Schuldbuch der Stadt dar, dessen Existenz recht wesentlich mit der Rezeption des hamburgischen Stadtrechts und dessen Weiterentwicklung zusammenhängt, da kaum ein anderes Stadtrecht das Führen von Schuldbüchern so dezidiert vorsah. Man wollte damit der Möglichkeit zuvorkommen, dass ein Schuldner das Bestehen einer Verbindlichkeit, selbst wenn diese unter Zeugen eingegangen worden war, abstritt, indem er seinerseits einen entsprechenden Eid ablegte. Hiervor wurde der Gläubiger dadurch geschützt, dass Ratsherren als Zeugen fungierten, wenn die Festschreibung einer Verbindlichkeit erfolgte. Bei dieser Handhabungsweise handelte es sich um eine vor allem in den norddeutschen Hansestädten praktizierte Art der Absicherung, der in anderen Teilen Europas Alternativen wie die Aufwertung von Notariaten zu gesonderten Institutionen oder die Aushändigung beglaubigter Einzeldokumente gegenüberstanden. Nach und nach ging man offenbar auch in Riga dazu über, die Ansprüche von Gläubigern eher durch Einzelurkunden zu verbriefen; denn das von der Stadt angelegte Schuldbuch deckt lediglich den Zeitraum vom späten 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ab. Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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Ein gewisser Seltenheitswert des rigischen Schuldbuchs beruht auf dem rein praktischen Umstand, dass es – im Gegensatz zu nahezu sämtlichen Schuldbüchern anderer Städte – bereits seit 1872 in Buchform veröffentlicht und somit bequem für Historiker zugänglich ist. Die Anzahl der Städte, in denen im Mittelalter Schuldbücher eingeführt wurden, lässt sich derweil nicht einmal genau beziffern; schon die Erschließungsgrade von Stadtarchivsbeständen variieren dafür viel zu stark. Von dem ebenfalls ediert vorliegenden Hamburger Schuldbuch unterscheidet sich das rigische dadurch, dass es statt einer chronologischen Eintragungsabfolge eine alphabetische Ordnung nach Namen aufweist. Nicht zuletzt dieser Besonderheit wegen gilt es als eine für personenkundliche Forschungen überaus nützliche und ergiebige Quelle – ungeachtet der Einfachheit der einzelnen Einträge, die stets nur aus Schuldnername, Gläubigername, verliehener Summe, vereinbartem Rückzahlungstermin, gegebenenfalls einer ergänzenden Absprache sowie schließlich dem Datum zusammengesetzt sind. Was das Schuldbuch dabei zum Beispiel nicht verrät, ist, bei welchen der eingetragenen Personen es sich statt um Deutsche womöglich um Liven oder Letten handelte. Klärungen dieser Frage erleichtert nur der Umstand, dass in Zeiten, in denen Handwerker für gewöhnlich noch keine Familiennamen trugen, bei den deutschen Handwerkern eine gewisse Vornamenvielfalt bestand, während bei den nichtdeutschen fast nur Ableitungen von »Johannes« und »Heinrich« vorkamen. Doch diese waren natürlich ebenso bei Deutschen verbreitet. Für das noch spätere Mittelalter kommt ein ähnlicher Quellenwert, wie ihn das Schuldbuch für die Zeit bis 1352 besitzt, den beiden so genannten Erbebüchern zu. Sie enthalten Aufzeichnungen über die – üblicherweise nach dem Eintreten eines Erbfalls vorgenommene – »Auflassung« von Immobilien als Rechtsakt vor dem Rat. In Riga scheint diese Praxis nicht von jeher vorgeschrieben gewesen zu sein; jedoch erhöhte sie die Rechtssicherheit für den jeweiligen Käufer einer Immobilie und half zugleich dem Rat, den Überblick über die Besitzverhältnisse in der Stadt zu wahren. Auch die Erbebücher sind seit dem 19. Jahrhundert ediert, wobei nur das zweite, welches die Zeit von 1493 bis 1579 abbildet, vollständig im Original erhalten war. Vom ersten Erbebuch sind dagegen, abgesehen von zwei Lücken von jeweils etwa einem Jahrzehnt, keine älteren Einträge als diejenigen für das Jahr 1384 überliefert, denen ursprünglich Einträge für mindestens 20 weitere Jahre vorausgegangen sein dürften. – Ediert wurden aus der Gesamtheit an Rigaer Stadtbüchern außerdem noch die drei »Libri Redituum« (wörtlich: »Einkünfte-Bücher«), in denen hauptsächlich Einkünfte aus städtischem oder von der Stadt weitergegebenem Grundbesitz erfasst sind; 46  Das mittelalterliche Riga

nebenbei dienten sie aber auch der Fixierung unterschiedlichster sonstiger Rechtsverhältnisse. Flächennutzungen außerhalb der Mauern und die Bedeutung   des Rigebach-Hafens

Um auf dem Landweg ein entfernt gelegenes Ziel anzusteuern, verließ man Riga um die Mitte des 13. Jahrhunderts zwangsläufig durch die Sandpforte, da die verschiedenen Fernwege sich erst außerhalb der Stadt in Richtung Norden, Nordosten und Südosten verzweigten. Funktional hatte die Sandpforte damit seit den beiden großen Stadterweiterungen des 13. Jahrhunderts die Rolle der »porta magna« bzw. Ratspforte des Stadtkerns von 1201 übernommen. Der Weg durch die Jakobspforte stadtauswärts verband die Bürger hingegen nur mit ihren nördlich angrenzenden Viehweiden und führte zur 1226 von den Zisterziensern angelegten frühesten Rigaer Wassermühle. Auf seinem ersten Stück war er zudem von Gemüsegärten gesäumt. Zwei auf Veranlassung des Ordens errichtete Wassermühlen lagen unweit nördlich des »Großen Sandwegs«, der sich an die Sandpforte anschloss, und damit in der Nähe des Kubsbergs. Im 14. Jahrhundert kam es um diesen Hügel herum bereits zu einer gewissen Bebauungsverdichtung, da ungefähr dorthin, wo heute die Andreja Pumpura iela (Andreasstraße) verläuft, das Heiliggeistspital verlegt wurde, während weiter östlich – wohl auf der anderen Seite des »Großen Sandwegs« – die zu diesem Hospital gehörige Kapelle errichtet wurde, aus der sich die spätere Gertrudenkirche entwickelte. Letztere lässt sich ab dem 15. Jahrhundert klar nachweisen, wobei ihr Standort aber noch nicht demjenigen entsprach, an dem sich seit den 1860er Jahren die heutige Alte Gertrudenkirche erhebt, sondern näher zur Stadt lag. Um das Hospital und um die Kapelle herum verteilten sich im Spätmittelalter weitere Gärten sowie landwirtschaftlich genutzte Holzbauten aller Art; und auch ein Müllabladeplatz, den es damals nachweislich gab, lässt sich ungefähr hier, zwischen dem Hospital und der Kapelle, lokalisieren. Die meisten Gemüse- und Obstgärten lagen jedoch in den Bereichen »trans Rigam«, das heißt unmittelbar jenseits des Rigebachs. Diese erreichte man am schnellsten über eine schmale Brücke, durch die bereits damals der Verlauf der späteren Kalkstraße bzw. heutigen Kaļķu iela vorgeprägt wurde und für die, bezogen auf das frühe 15. Jahrhundert, der Name »Kalkbrugge« belegt ist. Über eine weitere, ebenfalls im Verlauf der nachmaligen Kalkstraße zu denkende Brücke ließ sich dahinter auch noch der so Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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genannte »Kalvergraven« überwinden. Dass Historikern über solche längst verschwundenen Brücken relativ viel bekannt ist, liegt an der Häufigkeit, mit der der Rat der Stadt die Anweisung gab, sie zu reparieren, was jedes Mal schriftlich festgehalten wurde. Außer den Gärten sowie einem Kalkofen, durch den die Namengebung »Kalkbrugge« motiviert war, befanden sich auf dem durch jene Brücke erschlossenen Areal Gerbereien, Badestuben, ein größerer Abort sowie anfangs auch eine Seiler- bzw. Reeperbahn. Mit den Gerbereien lässt sich in Verbindung bringen, dass Rigas Schuldbuch eine gewisse Häufung mutmaßlich nichtdeutscher Personennamen im Bereich der Sandpforte erkennen lässt; denn einfachere Gerberarbeiten wurden ziemlich sicher von Nichtdeutschen ausgeführt, wenngleich es auch unter den Deutschen offenkundig einige Gerber gab. Ebenfalls jenseits des Rigebachs, allerdings bereits unmittelbar bei dessen Mündung erstreckte sich das mit der Zeit am intensivsten genutzte Gelände außerhalb der Stadtmauern – der so genannte Rigeholm. Nach heutiger Topographie entspräche er den der Altstadt am nächsten gelegenen Teilen der Moskauer bzw. Lettgallischen Vorstadt, unter anderem jener Fläche also, die heute Rigas Zentralmarkt einnimmt. Von dem Zeitpunkt an, ab dem auch der Rigeholm über eine Brücke mit der Stadt verbunden war, veränderte sich zugleich die klassische Fernverkehrsroute in Richtung Südosten, da, um die Strecke bis Holme zurückzulegen, nunmehr auch Wege unmittelbar entlang der Düna in Betracht kamen. Ein Gelände für Schiffbauzwecke, die »Lastadie«, füllte den unmittelbar an den Rigebach-Hafen angrenzenden Teil des Rigeholms. Andere Teile dienten der Pferdezucht und als Weiden für Pferde, wieder andere als Rosengarten. Nach und nach entstanden hier ferner ein Sägewerk, Windmühlen, Holzkohlemeiler, eine Ziegelbrennerei und eine neue Reeperbahn. In Übertragung moderner Begrifflichkeiten auf das Mittelalter ließe sich der Rigeholm also geradezu als Rigas damaliges Industriegebiet bezeichnen. Letztere Funktion übernahm teilweise aber auch der Uferbereich der Düna unmittelbar vor den Mauern der Stadt; zum Beispiel waren deren Schlachthaus sowie eine weitere Gerberei hier angesiedelt. Hinzu kamen Badehäuser sowie, als ein allmählicher Bedeutungsverlust des Rigebach-Hafens zugunsten der immer besser ausgebauten Hafenanlagen an der Düna einsetzte, diverse kleine Bauten zur vorübergehenden Einlagerung von Waren. Auch von den Flächen links der Düna machten die Rigenser nach und nach Gebrauch; denn über die Hälfte des Gebietes, das ihnen als so genannte Stadtmark zugewiesen wurde, lag westlich des Flusses. Abgesteckt 48  Das mittelalterliche Riga

wurde diese Stadtmark 1226 unter Hinzuziehung des päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena, der insbesondere an ihrer Abgrenzung gegenüber dem, was dem Kloster Dünamünde beiderseits der Flussmündung an Fläche überlassen wurde, mitwirkte. Wer sich schon vor 1226 am Urbarmachen von Grund und Boden beteiligt hatte, dem gestand Bischof Albert I. das betreffende Flächenstück auch über diesen Zeitpunkt hinaus zu: Auf diese Weise verfügten selbst der Orden und das Kloster Dünamünde hier und da über Besitztum innerhalb der Stadtmark. Der Radius, innerhalb dessen Nutzflächen hinzugewonnen wurden, vergrößerte sich fortwährend, wobei westlich der Düna vor allem Viehhaltung und Heubeschaffung im Vordergrund standen. Die Domgeistlichkeit war dort im Besitz zweier Wassermühlen; von den sonstigen landwirtschaftlichen Einrichtungen gehörten manche einzelnen Bürgern oder unterstanden dem Rat, während andere einem der Rigaer Klöster und wieder andere einem der Spitäler zugeteilt waren. Informationen über Besitzverhältnisse jenseits der Düna sowie über die ungefähre Art und Anzahl der Gebäude, die es dort – teilweise regelrecht in Form kleiner Dörfer – gab, lassen sich einerseits den Erbebüchern der Stadt entnehmen, andererseits aber auch Berichten, in denen es um kriegerische Ereignisse und damit verbunden eben vielfach um die Wegnahme oder Zerstörung all solcher Baulichkeiten geht. Eine Überführung uralter Besitzstrukturen in langfristige Nutzungsrechte auch für die livische Bevölkerung erscheint für Bereiche nachweisbar, in denen Liven seit Generationen Bienenzucht betrieben. Bemerkenswert ist dies insofern, als die Wohnorte der meisten dieser Liven außerhalb, die Bienenzuchtareale jedoch innerhalb der Stadtmark lagen. Bereits 1225 wurde als ein solcher Bereich die Uferzone des Babitsees (lett. Babītes ezers) westlich von Riga urkundlich erwähnt; daneben können die Flächen südwestlich des Stint- und westlich des Jägelsees (lett. Ķīšezers bzw. Juglas ezers) mit Bienenzucht in Verbindung gebracht werden. Rechts der Düna zeigen sich, was die Abgrenzung der mittelalterlichen Stadtmark betrifft, bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Verwaltungsgrenzen Rigas als moderner Großstadt, wenn auch teilweise eher mit denjenigen von vor 1940 als mit denjenigen der Gegenwart. Der Landbesitz Rigaer Bürger beschränkte sich derweil nicht auf die Stadtmark. Beträchtliche Ausmaße hatte er vielmehr vor allem in Kurland sowie auf der Insel Ösel (estn. Saaremaa), wo Bürgern Rigas nach 1226 auf Basis der Schiedssprüche Wilhelms von Modena ein Drittel eines eroberten Gebietes zustand, sofern sie sich durch Waffenhilfe an der Eroberung beteiligt hatten. Nutzungsinteresse zogen darüber hinaus die verschiedenen stadtnahen Düna-Inseln auf Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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sich, von denen etliche durch geistliche Institutionen bewirtschaftet wurden. Im Zusammenhang mit der »Lastadie« soeben schon kurz gestreift, ist abschließend noch einmal Rigas ältester Hafen anzusprechen, der sich an einem besonders breiten Abschnitt des Rigebachs kurz vor dessen Mündung befand. Anlegemöglichkeiten hatte in diesem Bereich wohl schon das eine der beiden in die Stadt hineingewachsenen Livendörfer besessen. Dass dieser Hafen nach 1201 nicht mehr lange der einzige gewesen sein dürfte, der den Rigensern zur Verfügung stand, liegt unter anderem deshalb nahe, weil es keinerlei Straßen gibt, die von der ursprünglichen Stadtanlage, also jenem Bereich, dessen südlichstes Bauwerk die Petrikirche war, auf direktem Wege zu ihm hinführen. Von einer besonderen Bebauungsdichte in dem hafennahen Livendorf, die die faktisch zustande gekommenen Straßenverläufe bedingt und einfachere verhindert hätte, ist derweil kaum auszugehen – selbst wenn gar nicht weit entfernt eine Besonderheit, die sich durch Rücksichtnahme auf ein livisches Bebauungselement herausgebildet haben dürfte, tatsächlich existiert: Bei diesem Unikum im Alt-Rigaer Straßennetz handelt es sich um die Kleine Peitaustraße (lett. Mazā Peitavas iela), die, indem sie von der Reformierten Straße bzw. heutigen Alksnāja iela abzweigt und nur einige Meter weiter wieder auf diese mündet, drei der vier Seiten einer trapezartig geformten Fläche vorgibt. Die ab 1211 geschlagenen Straßenverbindungen in Richtung Düna wirken demgegenüber geradliniger. Hieraus zu folgern, schon bald nach der Stadtgründung seien von der Ostsee her keine Handelsschiffe mehr in den Rigebach-Hafen eingelaufen, dürfte gleichwohl ein Fehlschluss sein. Bereits auf diese frühe Zeit bezogene Zweifel an einer Frequentierung jenes Hafens durch hochseetaugliche Schiffstypen wurden in den 1980er Jahren durch Clara Redlich angestoßen und stützten sich auf eine eventuell sehr bewusst getroffene Wortwahl Heinrichs von Lettland, wonach neben der »geräumigen Fläche«, auf der Riga erbaut wurde, »ein Hafen für die Schiffe sein konnte« (»portus navium esse poterat«). Dass der Chroniktext somit lediglich von einer Möglichkeit spricht, ohne zum Ausdruck zu bringen, ob von dieser auch Gebrauch gemacht wurde (oder ob gar die Möglichkeit eines Hafens an der Düna statt am Rigebach gemeint war), lässt Redlichs These, der Rigebach-Hafen sei nach 1201 kaum mehr von Bedeutung gewesen, zunächst schlüssig erscheinen. Recht zu geben scheint ihr ferner die Tatsache, dass der Bach – bzw. »See«, wie er bei Heinrich im Kapitel davor genannt wird – an keiner späteren Stelle der Chronik überhaupt noch einmal erwähnt ist. 50  Das mittelalterliche Riga

Allerdings blendet dieser Interpretationsansatz nicht nur mehrere Schiffsfunde, die der lettischen Archäologie seit den 1930er Jahren nach und nach geglückt sind, sondern auch ein sehr aussagekräftiges Schriftdokument aus dem Jahre 1297 aus: In einem Brief an die Stadt Lübeck resümierte die Stadt Riga damals Auswirkungen eines seit dem Juni jenes Jahres zwischen ihr und dem Deutschen Orden ausgefochtenen Streits. Dass dieser sich, wie im Folgenden noch zu schildern sein wird, fast 33 Jahre hinziehen sollte, ahnte sie dabei noch nicht. Auslöser des Streits war die angebliche Behinderung der Einfahrt in den Rigebach-Hafen durch eine Brücke vom südlichsten Punkt der Stadt hinüber auf den jenseits der Bachmündung gelegenen Rigeholm. Mit dem Bau dieser Brücke hatten die Rigenser begonnen, um Baumaterial, das für ein geplantes Ufer-Bollwerk am Rigeholm benötigt wurde, dorthin transportieren zu können. Sie hatten sie zunächst nur provisorisch aus Planken fertig gestellt und diese dann eines Morgens zerstört vorgefunden, weil ein Schiff, das im Rigebach-Hafen anlanden sollte, nach Auffassung des Ordens nicht anders hätte dorthin gelangen können. Sofern dies zutraf, kann es sich, da aus dem erwähnten Brief an Lübeck einiges über die Maße des Brückenprovisoriums hervorgeht, nur um ein relativ großes Schiff gehandelt haben. Ein Gradmesser für die Bedeutung, welche die Hafenanlagen am Rigebach ziemlich sicher bis ins 14. Jahrhundert behielten, dürfte darüber hinaus in der relativen Vielzahl der auf den Rigebach ausgerichteten damaligen Stadttore zu sehen sein: Auf die Gildestubenpforte, die sich nahe dem östlichen Ende der heutigen Zirgu iela (Große Pferdestraße) befand, folgten flussabwärts die Kalk-, die Bever-, die Schakmanns- und die Resen- sowie schließlich die Rigemundepforte. In Bezug auf den zweifelhaften Ruf, den in vielen anderen Städten die jeweilige Hafengegend genießt, bildete das mittelalterliche Riga keine Ausnahme. Wann immer man hier von »losen Weibern« sprach, wurden diese hauptsächlich im an den Rigebach-Hafen angrenzenden »Ellerbrok« verortet. Kaum weniger suspekt erschien das Treiben in den Badestuben, die sich an einigen Stellen des Düna-Kais befanden. Waren sie auch primär als Örtlichkeiten der Körperreinigung in Gebrauch, so taugten sie doch offenbar ebenso für das Erbringen gewisser Dienstleistungen.

Die Entwicklung der Stadt während des Mittelalters 

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3. Das Ringen um die Stadtherrschaft Die Fehde der Jahre 1297–1330 und ihre   unmittelbaren Konsequenzen

Opfer einer Zuspitzung im stets gespannten Verhältnis zwischen den Rigaer Erzbischöfen und dem Deutschen Orden wurde Ende der 1260er Jahre bereits Rigas erster Erzbischof Albert Suerbeer: Nach einem Streit über den äußeren Schutz des Erzstifts setzte ihn der Orden kurzerhand in der Burg von Wenden (lett. Cēsis) gefangen. Als es dann 1297 aufgrund der Zerstörung der schon erwähnten Behelfsbrücke über die Rigebach-Mündung zum offenen Konflikt zwischen den Rigaer Bürgern und dem Orden kam, amtierte als Erzbischof pikanterweise Johann III. von Schwerin (†  1300, ab 1294 Erzbischof von Riga) – ein Nachfahre desjenigen, den der Orden 30 Jahre zuvor so vehement als möglichen Schutzbevollmächtigten für das Erzstift abgelehnt hatte. Der Erzbischof, der aber auch unabhängig hiervon gleichsam automatisch mit den Bürgern im Bunde stand, da er ja Stadtherr war, weilte zum Zeitpunkt der ersten Gewalt-Ausbrüche außer Landes und konnte diese daher nicht verhindern. Der Zorn der Bürger entlud sich zunächst an der Ordensburg, auf die sie vom Turm der Petrikirche sowie von Türmen des benachbarten Dominikanerklosters Brandfackeln schleuderten, bis das Feuer schließlich auf andere Teile der Stadt übersprang, und die sie zwei Monate später sogar vollständig dem Erdboden gleichmachten. Bald kostete dieser Zorn jedoch auch Dutzende von Menschenleben: Den Quellen zufolge wurden der Komtur und 60 weitere Ordensbrüder umgebracht. Als Verbündete im Kampf gegen den Orden stellten sich anfangs die Bischöfe von Dorpat und Ösel-Wiek nebst ihren Domkapiteln und ritterlichen Vasallen an die Seite von Erzbischof und Stadt; Letztere rief außerdem die Litauer zu Hilfe. Der Orden sperrte daraufhin Johann III. in der Burg von Fellin (estn. Viljandi) ein, forderte Unterstützung aus dem preußischen Ordensgebiet an und errang so Mitte 1298 in einer Schlacht bei Neuermühlen (lett. Ādaži) einen wichtigen Sieg über seine Gegner. Wenig später wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen und, nachdem sich Papst Bonifaz VIII. eingeschaltet hatte, auch der Erzbischof wieder freigelassen. 1305 verschoben sich die Kräfteverhältnisse nochmals zugunsten des Ordens, da dieser nun auch die Bischöfe von Dorpat und Ösel-Wiek auf seine Seite ziehen konnte; und 1316 kam sogar noch das »Bündnis von Segewold« zustande, durch das eine Einigung mit den Erzstiftsvasallen und dem Domkapitel erzielt 52  Das mittelalterliche Riga

wurde. Rigas wichtigste Verbündete blieben unterdessen die heidnischen Litauer. Erst im Zuge der Beilegung der Fehde schwor die Stadt Ende März 1330 dem Paktieren mit Heiden, ohne das sie ihren Widerstand gegen den Orden nicht annähernd so lange hätte durchhalten können, in aller Deutlichkeit ab. Den Entschluss, endgültig aufzugeben, traf die Stadtgemeinde damals in einer großen Versammlung in der »Stube von Soest«. Sie zog damit die Konsequenz aus einer Belagerung, mit der Eberhard von Monheim (* um 1275, † nach 1346, 1328–1340 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) sie an den Rand des Verhungerns gebracht hatte. Die vielleicht folgenreichste Veränderung während der 33-jährigen Fehde betraf 1305 das Kloster Dünamünde: Dem Orden gelang es, den Zisterziensern ihre Klostergebäude abzukaufen, so dass er diese zu einer Ordensburg umbauen konnte. Die Mönche zogen unterdessen nach Padis (estn. Padise) im damals noch dänischen Nordestland weiter. Dass die Kontrolle über die Düna-Mündung nun ihm zugefallen war, brachte den Orden einer Verwirklichung seiner Ambitionen, eigenständig Handel zu treiben, entscheidend näher: Hätte er die Stadt im weiteren Verlauf nicht seiner Herrschaft unterwerfen können, sondern sie als Konkurrentin neben sich gehabt, so wäre es ihm dennoch jederzeit möglich gewesen, die Lebensader ihres Handels abzuschnüren. Nichts anderes sollte auch die 1330 der Stadt abverlangte Errichtung eines neuen Ordensschlosses an der Düna verdeutlichen – zeigte diese Standortwahl doch an, dass jegliche Handelsaktivität Rigas künftig unter den Augen des Ordens stattfinden würde. Das Gelände der bisherigen, von den Bürgern in Schutt und Asche gelegten Ordensburg am Rigebach ging an das Heiliggeistspital über, das aus dem nordwestlichen Eckbereich der Stadt weichen musste, da der Orden diesen im Zuge der Verwirklichung des neuen Schlossbaus gleichsam gekappt sehen wollte: Genugtuung verschaffte dem Orden nämlich besonders die Tatsache, dass sein Bauvorhaben mit der Schleifung eines Teils der städtischen Befestigungsmauer einherging. Deren westlichster Turm – der Heiliggeistturm, wie er nach dem gleichnamigen Spital hieß – wurde zu einem der Ecktürme des neuen Schlosses, während zwischen Letzterem und der Stadt eine etliche Meter breite Freifläche verbleiben sollte. Der Stadt wurde untersagt, die in ihren Mauerring gerissene Lücke durch Neuerrichtung eines Mauerabschnitts entlang dieser Freifläche zu schließen. Auf die Erlaubnis, einen solchen Lückenschluss doch noch vorzunehmen, musste sie über ein Jahrhundert lang warten, so dass erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts das Ordensschloss tatsächlich außerhalb der Mauern lag. 1330 jedenfalls hatten die Rigenser sich einstweilen damit abDas Ringen um die Stadtherrschaft 

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zufinden, dass statt des Erzbischofs nun der Orden die Herrschaft über ihre Stadt erlangt hatte. Betrachtet man eine Reihe von Eckdaten und Entscheidungen des letzten Drittels des 13. sowie des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts noch einmal im Überblick, so ergibt sich der Eindruck einer recht einleuchtenden Gesamtentwicklung: Die Einbeziehung in den im Entstehen begriffenen Städtehansebund, für die die Jahreszahl 1282 steht, und die Weiterentwicklung des rigischen Stadtrechts steigerten merklich Rigas Selbstbewusstsein. Seit 1293 war beispielsweise durch eine Bauverordnung geregelt, wie die einzelnen Häuser entlang einer Straße ausgerichtet zu sein hatten. Spätestens daraufhin wäre auch die Errichtung markanter öffentlicher Gebäude, etwa eines neuen Rathauses, zu erwarten gewesen; verhindert wurden derartige Schritte jedoch durch die 1297 ausgebrochene Fehde zwischen der Stadt und dem Orden. Die Beendigung dieses Konflikts, mit der für die Rigenser einerseits ein Zugewinn an Rechtssicherheit und andererseits ein längerfristiger Verlust der Verfügungsgewalt über die späteren Gebäude der Gilden verbunden war, setzte ab 1330 einigen Elan zur Verwirklichung längst gehegter Bauabsichten frei – insbesondere was einen zentral gelegenen Marktplatz mit einem Rathaus in seiner Mitte anbetraf. Seine erste Erwähnung fand dieses neue Rathaus 1334, im selben Jahr wie das später zum Schwarzhäupterhaus gewordene »Neue Haus«. Regelrecht überflüssig, und dies in gleich doppelter Hinsicht, wurde ab 1330 der ohnehin von Versandung bedrohte Rigebach-Hafen: Für den Orden hatte er keine Bedeutung mehr, weil dessen Schloss von nun an nicht mehr in Reichweite des Rigebachs angesiedelt war, sondern durch einen Neubau nahe der Düna ersetzt wurde, und für die Stadt führte die Verlagerung ihres Mittelpunktes an den neu geschaffenen Marktplatz beinahe automatisch dazu, dass auch sie spätestens ab diesem Zeitpunkt überwiegend Hafenanlagen an der Düna benutzte. Ob erst nach 1330 auch der nicht mehr benötigte halbrunde Teil der Stadtmauer von 1207 vollständig verschwand oder ob dessen Abriss schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts erfolgt war, bleibt eine Frage, zu der die Quellenlage unterschiedliche Thesen zulässt. Nach Meinung einzelner Forscher ließe sich mit einem eher späten Abriss zugleich erklären, warum erst im Kontext des zweiten Viertels des 14. Jahrhunderts eine »platea Mercatorum« – der wörtlichen lettischen Übersetzung aus dem Lateinischen entsprechend ist dies die heutige Tirgoņu iela (Kaufstraße) – in den einschlägigen Quellen auftaucht. Dies könnte aber ebenso gut ein Überlieferungszufall sein und sollte wohl nicht vorschnell zu der Annahme verleiten, genau dort, 54  Das mittelalterliche Riga

wo die Straße angelegt wurde, sei zuvor ein Abschnitt der Stadtmauer von 1207 verlaufen. Rigas Erzbischöfe vom 14. bis ins 16. Jahrhundert

Das Wirken von Erzbischöfen bildet auf den ersten Blick eher den natürlichen Gegenstand einer Geschichte des betreffenden Erzbistums, als dass es als Inhaltsbaustein einer Stadtgeschichte zu erwarten wäre. Riga unterscheidet sich in dieser Hinsicht deutlich von Städten wie zum Beispiel dem nur 300 Kilometer entfernten Reval (estn. Tallinn), dessen Bischöfe in einer Geschichte Revals in der Tat nur ganz am Rande vorzukommen brauchen, da sie über ihre rein kirchenbezogenen Aufgaben hinaus und abgesehen von der Verfügungsgewalt über einige Tafelgüter weder als dortige Stadtherren fungierten noch als Territorialherren über größere Gebiete im Umland. Die Bischöfe bzw. ab 1245/53 Erzbischöfe von Riga dagegen waren es seit der Stadtgründung gewohnt, zugleich die Stadtherrschaft auszuüben, und behielten selbst in den Phasen, in denen sie sie einbüßten, immer noch ihre Stellung als Territorialfürsten über das so genannte Erzstift in Gestalt zweier großräumiger Gebietsstreifen nördlich und östlich der Stadt. Zudem fand sich kaum jemals ein Erzbischof damit ab, die Herrschaft über Riga an den Deutschen Orden verloren zu haben; als dauerhaft betrachteten die Erzbischöfe eine Überlassung der Stadtherrschaft an den Orden jedenfalls nie – weder 1330 noch irgendwann später. Vom Erzstift Riga, einem der vier bischöflichen Territorialherrschaftsgebiete im Rahmen der Livländischen Konföderation, gilt es die den Rigaer Erzbischöfen unterstellte Kirchenprovinz zu unterscheiden. Zu ihr gehörten neben den – in diesem Fall auch ihrerseits rein kirchenorganisatorisch zu definierenden – Bistümern des livländischen Raums, also Dorpat, Ösel-Wiek und Kurland, ebenso die preußischen Bistümer Kulm, Pomesanien, Ermland und Samland. Als 1245 diese preußisch-livländische Kirchenprovinz geschaffen wurde, stand gar nicht von vornherein fest, welche Stadt Amtssitz der Erzbischöfe werden würde. Auf eine Entscheidung für Riga und gegen geeignete Städte in Preußen wirkte vor allem der Deutsche Orden hin, da er das Zentrum des Erzbistums auf keinen Fall dort, wo seine eigene Machtbasis am stärksten war, angesiedelt sehen wollte. Insgesamt 20 Erzbischöfe von Riga hat es zwischen 1245/53 und 1561/63 gegeben; allerdings ist längst nicht jeder dieser 20 Männer tatsächlich irgendwann während seiner Amtszeit in der Stadt an der Düna gewesen. Das Ringen um die Stadtherrschaft 

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Dass einige von ihnen nie dort ankamen, hatte seine Ursache in der stetigen Konkurrenz gegenüber dem Deutschen Orden: Ab dem 14. Jahrhundert nötigte dieses Konkurrenzverhältnis beinahe jeden neuen Erzbischof von Riga zu einem längeren, meist mehrjährigen Aufenthalt an der Kurie, in dessen Verlauf es ihm darum gehen musste, für seine gegenüber dem Orden durchzusetzenden Ansprüche ein Höchstmaß an päpstlicher Unterstützung zu erlangen. Selbst jemand, der mit den Verhältnissen in Livland bestens vertraut war, konnte hierbei auf Schwierigkeiten stoßen, wie das Beispiel des 1323 zum Bischof von Dorpat gewählten Engelbert von Dolen († 1347, ab 1341 Erzbischof von Riga) zeigt. Diesem wurde die Erzdiözese Riga nicht zuletzt deshalb übertragen, weil er im Jahr des Todes seines Vorgängers Friedrich von Pernstein (* um 1270, † 1341, ab 1304 Erzbischof von Riga) ohnehin in Avignon weilte. Später wurde Avignon dann sogar für Engelbert zum Ort seines Todes, ohne dass er während seiner eigenen sechs Jahre als Erzbischof das ihm unterstellte Erzbistum noch einmal hatte betreten können. Ähnlich erging es Engelberts Nachfolgern: Fromhold von Vifhusen († 1369, ab 1348 Erzbischof von Riga) starb in Rom, Siegfried Blomberg († 1374, ab 1370 Erzbischof von Riga) wiederum in Avignon. Bemerkenswert an der Amtszeit Blombergs ist, dass dieser auch aus der Ferne eine für das Rigaer Domkapitel sehr wesentliche Veränderung zu erreichen vermochte, indem er dessen Rückkehr von der prämonstratensischen zur augustinischen Ordensregel und -tracht verfügte, um potenziellen Verbündeten ein Leben als Domherr einfacher zu machen. Trat unterdessen der Fall ein, dass ein Erzbischof tatsächlich offiziell in Riga in sein Amt eingeführt werden konnte, so hielten sich dazu stets weit mehr Menschen in der Stadt auf, als es der Zahl ihrer Einwohner entsprach. Von überall aus dem Erzstift fanden sich bei einer solchen Gelegenheit insbesondere die Stiftsvasallen ein, also diejenigen, die gegenüber den Erzbischöfen in einem Lehnsverhältnis standen und daher nun ihren Lehnseid erneuern mussten. Dieser Pflicht hatte auch ein Vasall bzw. Stiftsritter, der bei einem derartigen Einführungszeremoniell verhindert war, noch nachzukommen; allerdings bedeutete dies für ihn dann meist nicht eine Reise nach Riga, sondern eher nach Kokenhusen (lett. Koknese) oder Ronneburg (lett. Rauna), da etliche Rigaer Erzbischöfe die dortigen Burgen zu ihren eigentlichen Residenzen gemacht hatten – zum Teil veranlasst durch die vielen Konflikte in der Bischofsstadt selbst. Immerhin einer von ihnen, nämlich Jasper Linde († 1524, ab 1509 Erzbischof von Riga), konnte in Ronneburg auch seinen letzten Atemzug tun. Kokenhusen ließe sich sogar bei mehreren als Todesort nennen, was im Falle von Silvester Stodewescher († 1479, ab 1448 56  Das mittelalterliche Riga

Erzbischof von Riga) aber wiederum mit dem Makel behaftet ist, dass der Orden diesem im Folgenden noch näher zu porträtierenden Erzbischof zuletzt jede Möglichkeit, Kokenhusen zu verlassen, entzogen hatte. Als 1348, genau 100 Jahre vor Stodewescher, der Lübecker Fromhold von Vifhusen ins Amt trat, regierte seit zwei Jahren der spätere Kaiser Karl IV. (* 1316, † 1378, ab 1355 römisch-deutscher Kaiser) als römischdeutscher König. Dem politischen Interesse am Ostseeraum, das diesen Herrscher stärker als die meisten seiner Vorgänger auszeichnete, entsprang eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit für die Bedürfnislage der Rigaer Erzbischöfe. Eher distanziert war dagegen Karls Haltung gegenüber dem Deutschen Orden, der in seiner Dauerkonfrontation mit den noch immer heidnischen Litauern verharrte, während andere diese bereits politisch umwarben. Einen einseitigen Machtzuwachs für den Orden bedeutete zudem die Inbesitznahme Estlands, das dieser nach dem Estenaufstand von 1343 den Dänen abgekauft hatte. Päpstliche Bitten an Karl, sich für den neuen Erzbischof zu verwenden, mündeten 1356, 1360 und 1366 jedenfalls in vier Urkunden, aus denen Fromhold mehr als irgendein Rigaer Bischof oder Erzbischof vor ihm eine enge Anbindung an das Reich und untertanengleiche Beziehung zum Kaiser ableiten konnte. Praktisch genützt hat ihm dies indes ebenso wenig wie der für ihn günstige Ausgang eines gegen den Deutschen Orden geführten Prozesses an der Kurie 1359. Auf die Weigerung des Ordens, sich dem dortigen Schiedsspruch zu fügen, reagierte Papst Innozenz VI. 1361 mit der Verhängung von Bann und Interdikt über den Deutschen Orden in Livland und die weiterhin eidlich an den Orden gebundene Stadt Riga. Die verhängten Strafen waren nach wie vor in Kraft, als im Amt des Erzbischofs auf Fromhold von Vifhusen und Siegfried Blomberg der dem Orden zunächst weniger feindlich gesinnte Johann IV. von Sinten († 1397, 1374–1393 Erzbischof von Riga) folgte. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hielt Johann IV. sich überwiegend in seinem Erzbistum auf. Nach dem Ausbruch neuerlichen Streits mit dem Orden verließ er es 1391 jedoch mit Teilen seines Domkapitels, das seinerseits in Konflikte mit der Stadt Riga geraten war, bei denen es unter anderem um die vom Domkapitel wie auch von der Stadt beanspruchte Verwaltung der Schule an der Petrikirche ging. Vorgeblich zum Schutz des Erzstifts in Abwesenheit des Landesherrn besetzte der Orden nun kurzerhand die im Erzstift gelegenen Schlösser; und da die dortigen Vasallen sich nicht mehr so selbstverständlich wie früher zu Gehorsam gegenüber dem Erzbischof respektive dem Papst verpflichtet fühlten, vermehrte sich der Konfliktstoff immer weiter. Der Orden nutzte Das Ringen um die Stadtherrschaft 

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diese Gemengelage, indem er auf dem Wege der Bestechung mit einem Mal päpstliche Regelungen zu seinen Gunsten herbeiführte: Neben der Aufhebung von Bann und Interdikt erreichte er so die Abberufung Johanns von Sinten von seinem Amt. Johann war inzwischen über Lübeck nach Prag zum römisch-deutschen König Wenzel gereist und wurde, da auch dieser kaum etwas für ihn ausrichten konnte, ersatzweise mit dem Amt des Titularpatriarchen von Alexandria abgefunden. In Bezug auf das Rigaer Domkapitel aber kam es 1394, gerade einmal zwei Jahrzehnte nach dessen Umwandlung in ein Augustinerchorherrenstift, zu der mehr als überraschenden Wendung, dass Papst Bonifaz IX. es – den Einflüsterungen des Ordens Folge leistend – in den Deutschen Orden eingliederte. Auch die Position des Erzbischofs sollte damit fortan einem Mitglied des Deutschen Ordens vorbehalten sein. Der erste Rigaer Erzbischof, der im Zuge der Übernahme dieses Amtes zugleich in den Deutschen Orden eintrat, war Johann von Wallenrode (* um 1370, † 1419, 1393–1418 Erzbischof von Riga), ein Neffe Konrads von Wallenrode (* um 1350, † 1393, ab 1391 Hochmeister des Deutschen Ordens). Bereits ab 1403 begab allerdings auch er sich kein weiteres Mal mehr nach Livland, da er hatte erkennen müssen, dass nicht einmal ein Ordensangehöriger das Amt des Erzbischofs ausüben konnte, ohne dabei zu einem Opponenten der Politik des Ordens zu werden. Von einer Verpachtung seines Erzstifts an den Orden hielt ihn diese Erfahrung gleichwohl nicht ab. Auf dem Konstanzer Konzil, an dem er ab 1414 teilnahm, bot sich ihm dann die Möglichkeit, sein bisheriges Amt gegen das des Bischofs von Lüttich einzutauschen. Während Johann daraufhin – nicht ahnend, dass ihm in seinem neuen, sehr viel besser mit Einkünften ausgestatteten Bistum nur noch wenige Lebensmonate bleiben würden – den Orden verließ und nach Lüttich aufbrach, fiel der erzbischöfliche Stuhl in Riga an den vormaligen Bischof von Chur, Johannes Ambundi de Swan (* vor 1384, † 1424, ab 1418 Erzbischof von Riga), einen gebürtigen Mecklenburger. Ambundi verbrachte einen prozentual größeren Teil seiner Amtszeit in seinem Erzstift als fast alle seine Vorgänger während des 14. Jahrhunderts. 1418 erreichte er beim Papst sogleich Anordnungen zur Wiedereinführung der Augustinerregel für das Domkapitel. Dessen vollständige Ausgliederung aus dem Deutschen Orden erfolgte 1426 unter Ambundis Nachfolger, dem Deutschordensangehörigen und bisherigen Dompropst Henning Scharpenberg († 1448, ab 1424 Erzbischof von Riga). Mochte schon der damit erreichte Schlusspunkt im so genannten »Habitstreit« manch einem wie ein Meilenstein vorkommen, so 58  Das mittelalterliche Riga

durfte Scharpenberg erst recht in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit eine Phase ungewohnten Friedens innerhalb der Livländischen Konföderation erleben: In der im Dezember 1435 geschlossenen Einigung von Walk (estn. Valga, lett. Valka) entsagte er für zwölf Jahre der erzbischöflichen Rechte auf Riga; zugleich verständigte er sich mit den übrigen Machtträgern – Ordensvertretern, Domkapiteln und den wichtigsten Vasallen – auf konsequentere gemeinsame Anstrengungen zur Landesverteidigung, denn ein offenkundiger Mangel an Bereitschaft hierzu, den sich ganz besonders Riga vorwerfen lassen musste, hatte wenige Monate zuvor mit dem Tod des Ordensmeisters geendet, als dieser an der Seite des litauischen Großfürsten Švitrigaila (* um 1370, † 1452) in eine Schlacht gegen dessen Widersacher gezogen war. Nachfolger Scharpenbergs wurde der vormalige Kanzler des Ordens und Hochmeisterkaplan Silvester Stodewescher, dessen Biographie deutlicher noch, als es bei Johann von Wallenrode der Fall war, zeigt, wie sehr die Interessen eines Ordensmannes, wenn dieser zum Erzbischof von Riga erhoben wurde, zeitweise in Widerstreit mit den Ordensinteressen geraten konnte. In den ersten der rund 31 Jahre, die Stodewescher die Erzbischofswürde innehatte, schien eine solche Entwicklung zunächst kaum vorgezeichnet – am wenigsten 1452, als Erzbischof und Orden mit dem so genannten Kirchholmer Vertrag erstmals übereinkamen, die Herrschaft über Riga unter sich aufzuteilen. Für die Stadt bedeutete dieser unerwartete Schulterschluss einen tiefen Einschnitt, zumal nachdem sie in den Jahren davor eine Politik verfolgt hatte, die auf eine enge Verbindung mit dem Preußischen Städtebund und insofern letztlich eine vollständige Abschüttelung der Stadtherrschaft hinzielte. Ausgelöst hatte sie damit stattdessen genau jenen Kirchholmer Vertrag, der all diesen Zielen entgegenstand. Wie die Bürger dessen Folgen erlebten, lässt sich sehr deutlich einer von dem Ratssekretär und Ratsherrn Hermann Helewegh († 1489) hinterlassenen Chronik entnehmen, die zu den beredtesten Schriftquellen aus dem Riga des 15. Jahrhunderts gehört. Heleweghs Urteile über die beteiligten Persönlichkeiten haben bis zu einem gewissen Grade sogar die spätere Historiographie vorgefärbt, wenn auch sicherlich nicht so, dass diese bei ihren Interpretationen fehlgeleitet worden wäre. Dauerhafte Nachwirkungen für die historische Forschung hat im Übrigen mehr noch der Kirchholmer Vertrag selbst gezeitigt, da er nicht ohne Einfluss auf die Art der Archivierung und damit Überlieferung von Schriftstücken des Rigaer Rates geblieben ist. Die Stadt sträubte sich dagegen, den Kirchholmer Vertrag zu akzeptieren, hatte sie sich doch noch nie einer gemeinsamen Front aus Erzbischof und Orden gegenübergesehen, sondern immer wieder selbst zugunsten eines Das Ringen um die Stadtherrschaft 

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dieser beiden Akteure Partei ergreifen können. Seit Menschengedenken war sie somit an die Möglichkeit gewöhnt, stets einem von beiden – und zwar in der Vergangenheit meist dem Erzbischof – Zugeständnisse verschiedenster Art abzuringen. Darauf vertrauend, dass eine derartige Konstellation mittelfristig wiederkehren würde, zerstritt man sich innerhalb der Bürgerschaft anfangs nur über die Frage, ob eher der Orden oder eher Stodewescher der geeignete Bündnispartner sei; tendenziell wurde jedoch stärker auf Stodewescher gesetzt. Da dessen Gegenofferten an die Stadt dem Orden nicht verborgen blieben, folgten schon bald neuerliche Kampfhandlungen, bei denen aus der Stadt heraus auch das Ordensschloss getroffen wurde, insgesamt jedoch mehr Schaden für den Erzbischof entstand. Nicht willens, eine längerfristige Schwächung seiner Position zu riskieren, sah Stodewescher daraufhin für sich selbst die größten Vorteile in einer Bestätigung des Kirchholmer Vertrages, womit er die Bürger gegen sich aufbrachte und indirekt bewirkte, dass diese bis zum Tode des Ordensmeisters Johann von Mengden (* um 1400, † 1469, ab 1450 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) zunächst einmal friedfertig die Beteiligung des Ordens an der Stadtherrschaft hinnahmen. Die Beruhigung der Lage in Riga selbst fand ihren Ausdruck nicht zuletzt in der Bestattung Johanns von Mengden in der Domkirche. Stodewescher hatte sich unterdessen insofern verkalkuliert, als für die Rigenser nach der Enttäuschung über ihn sogar ein erneutes Streben der Ordensritter nach alleiniger Stadtherrschaft seinen Schrecken verloren hatte. Auf die hierdurch heraufbeschworene Zerrüttung des Verhältnisses sowohl zwischen Erzbischof und Orden als auch zwischen Erzbischof und Stadt in der Zeit nach 1469 reagierte Stodewescher, indem er Ordensbrüder wie auch Stadtbürger mit dem Kirchenbann belegte. Charakterisiert man die vorangegangenen zwei Jahrzehnte, in denen Johann von Mengden Ordensmeister gewesen war, als vergleichsweise friedlich, so gilt auch dies höchstens mit Blick auf die innerlivländischen Konflikte und kennzeichnet nicht etwa die Gesamtsituation. Die Verwicklungen, die diese trübten, hatten ihren Ursprung teilweise in Skandinavien; denn im 15. Jahrhundert wurden aus dem Blickwinkel der livländischen Konfliktparteien die Könige der Kalmarer Union zu begehrten Verbündeten. Anfangs waren sie dies in aller Regel für die Erzbischöfe, später hingegen – in der Zeit Christians  I., der 1448 in Dänemark und 1450 in Norwegen, jedoch erst 1457 auch in Schweden die Königsmacht errang – vorzugsweise für den Deutschen Orden. Derweil wurde Livland ebenso in die damaligen Auseinandersetzungen innerhalb Skandinaviens, in denen der Orden aus Sicht der Unionskönige der letztlich wertvollere 60  Das mittelalterliche Riga

potenzielle Partner war, auf mancherlei Weise hineingezogen. Bis 1457 der schwedische Gegenkönig Karl VIII. Knutsson (* 1409, † 1470, 1448–1457, 1464/65 und 1467–1470 König von Schweden) einstweilen bezwungen war, konnte der vorübergehende Kriegszustand zwischen Dänemark und Schweden zum Beispiel dazu führen, dass Dänemark auch im Umfeld des Rigaer Hafens Schiffe schwedischer Kaufleute aufbringen ließ, was für Riga eine empfindliche Störung seines Handelsverkehrs bedeutete. Selbst in den folgenden Jahrzehnten waren neuerliche Probleme dieser Art nie auszuschließen, da Christian I. sich in Schweden real nur bis 1463 als König behaupten konnte und da für seinen Sohn Johann I., der ihm in Dänemark 1481 nachfolgte, sogar über eineinhalb Jahrzehnte bis zu einer kurzzeitigen Anerkennung durch den schwedischen Adel vergehen sollten. 1468 spitzten die innerskandinavischen Konflikte sich so zu, dass nicht einmal der Handelsaustausch zwischen den livländischen Städten und Lübeck unbeeinträchtigt blieb. Auf Anweisung Lübecks wurde er daraufhin für einige Monate vollständig unterbrochen. Aus dem Blickwinkel Stodeweschers betrachtet, der, 1448 zum Erzbischof aufgestiegen, bereits die Kooperation des Ordens mit dem Dänenkönig miterlebte, legte die Gefechtslage in Skandinavien nahe, nach möglicher Hilfe unter anderem in Schweden Ausschau zu halten. Ein Trupp von Kriegern, deren Entsendung er mehreren ihm wohlgesinnten schwedischen Bischöfen sowie Sten Sture dem Älteren (* um 1440, † 1503, 1470–1497 schwedischer Reichsverweser) verdankte, erreichte daraufhin tatsächlich Livland. Nennenswerte Erfolge bei dem Versuch, seine Widersacher gefügig zu machen, bescherte ihm dies jedoch ebenso wenig wie seine schon erwähnte Bannpolitik, die die meisten Rigaer Bürger, mochten sie zunächst auch in Sorge um ihr Seelenheil versetzt worden sein, letztlich unbeeindruckt ließ. Als die Rigenser sich zudem durch päpstliche Aufhebungsbriefe, die ihnen der Bischof von Reval überbrachte, vom Bann befreit sahen, holte der Orden zum entscheidenden Schlag aus, indem er auf alle wichtigen erzbischöflichen Burgen Zugriff nahm und auf derjenigen zu Kokenhusen den mittlerweile altersschwachen Erzbischof bis zu dessen Tod im Juli 1479 gefangen setzte. Den Rigensern war weiterhin der Kirchholmer Vertrag ein Dorn im Auge; sie wandten sich deshalb umgehend vom Orden ab, als nach Stodewescher nicht erneut ein Ordensangehöriger Aussichten hatte, vom Papst als Erzbischof bestätigt zu werden. In der kurzen Amtszeit des von Sixtus IV. stattdessen durchgesetzten Stodewescher-Nachfolgers Stefan Grube (†  1483, ab 1480 Erzbischof von Riga) standen die Bürger somit wieder, wie schon so oft, an der Seite des Erzbischofs. Ein Novum in der langen GeDas Ringen um die Stadtherrschaft 

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schichte der Kämpfe Rigas gegen den Orden bedeutete es indes, dass mit Bernhard von der Borch († 1488, 1471–1483 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) erstmals ein Ordensmeister mangels strategischer Erfolge zum Rücktritt veranlasst wurde. Der Übermut, der die Rigenser angesichts ihrer ungewohnten Überlegenheit erfasste, steigerte sich noch, als der Orden nicht einmal mit dem Griff zu seiner eigentlich stärksten Waffe – einer Versperrung der Düna-Mündung – allzu viel erreichte. Als den Stadtbürgern schließlich sogar das von ihnen belagerte Ordensschloss kampflos übergeben wurde, begannen sie sogleich mit dem Abriss des verhassten Bauwerks vor ihren Toren, womit für sie ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung ging. Schon in den Jahrzehnten zuvor war für den Fall, dass der Orden auf sein Schloss vor den Mauern Rigas verzichtet hätte, als ein mögliches unter den dann fälligen Tauschobjekten zum Beispiel das erzbischöfliche Schloss in Ronneburg ins Spiel gebracht worden. Anzeichen einer solchen Verzichtsbereitschaft des Ordens hatte es jedoch nie gegeben. Nach etwa einem halben Jahrzehnt riss die Serie strategischer Erfolge der Rigenser ab, was für diese nur bedeuten konnte, dass ihnen unter anderem ein zügiger Wiederaufbau des Ordensschlosses auferlegt wurde und eine Wiederbelebung des Kirchholmer Vertrages bevorstand. Als Letzterer 1492 wieder in Kraft trat, hatte den erzbischöflichen Stuhl Michael Hildebrand (* 1433, †  1509, ab 1484 Erzbischof von Riga) inne und wurde der Orden von Johann Freytag von Loringhoven (* um 1430, † 1494, ab 1483 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) angeführt, auf den wenig später allerdings bereits Wolter von Plettenberg (* um 1450, † 1535, ab 1494 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) folgte. Bei Wolter von Plettenberg hatten die Rigenser es dann mit einem Ordensmeister zu tun, dem seine glücklich errungenen Siege gegen die Moskowiter an den Ostgrenzen der Livländischen Konföderation alsbald zeigten, dass es in erster Linie darauf ankam, die Stadt so weit wie möglich zugunsten der Landesverteidigung einzuspannen, und der deshalb von unnötigen Demütigungen Rigas absah. 1525, auf dem Höhepunkt des Reformationsgeschehens, wurde dem besonnenen Ordensmeister schließlich sogar die alleinige Schutzherrschaft über die Stadt angetragen. In der Sorge, Riga andernfalls in den Schoß Preußens zu treiben, das in jenem Jahr zu einem weltlichen Herzogtum säkularisiert wurde, ging Wolter nach anfänglichem Zögern auf dieses Ansinnen ein. Als 1530 die Stände eine erneute Doppelherrschaft im Sinne des Kirchholmer Vertrages verfügten, widersetzte er sich dem jedoch nicht; denn mit Thomas Schöning († 1539, ab 1528 Erzbischof von Riga) war als Nachfolger des an eigenem Fehlverhalten gescheiterten und auf einer Reise zu Karl V. 62  Das mittelalterliche Riga

verstorbenen Johann von Blankenfelde (* um 1471, † 1527, ab 1524 Erzbischof von Riga) zwischenzeitlich ein neuer Erzbischof ins Amt getreten. Am Beispiel Schönings, eines örtlichen Bürgerssohns, dem es wegen starren Festhaltens am alten Glauben versagt blieb, jemals von seiner Heimatstadt die Huldigung zu empfangen, zeigt sich deutlich, wie eng die Biographien der letzten Erzbischöfe bis Anfang der 1560er Jahre bereits mit dem Vordringen der Reformation in den livländischen Raum verbunden sind. Doch selbst unmittelbar vor dem Krieg der Jahre 1558–1582/83, durch den Livland in seiner mittelalterlichen Struktur zu existieren aufhörte, sollte es noch einmal zu einem Konflikt zwischen Erzbischof und Orden kommen. Bezeichnenderweise waren die Gründe für diese so genannte »KoadjutorFehde« dem Anlass, der knapp drei Jahrhunderte zuvor zu einer Gefangensetzung Albert Suerbeers und damit zur ersten offenen Gewaltanwendung zwischen den beiden Parteien geführt hatte, nicht einmal unähnlich: Sie entzündete sich an der von Wilhelm von Brandenburg-Ansbach (* 1498, † 1563, 1539–1561 Erzbischof von Riga) ohne Wissen der Stände verfügten Einsetzung des landfremden Christoph von Mecklenburg (* 1537, † 1592) als Koadjutor (im Sinne von »Verwalter«) für das Erzstift Riga. Die Stadt ging daraufhin an der Seite des Ordens gegen den Erzbischof vor, bis 1557 Sigismund II. August (* 1520, † 1572, ab 1548 König von Polen und Großfürst von Litauen) eingriff und die Beilegung der Fehde erzwang.

4. Riga als Hansestadt Definiert man den Kern des Funktionsprinzips der Hanse dahin gehend, dass Beschlüsse über gemeinsame Interessen von Kaufleuten fielen und jeweils gemeinschaftlich auf die Durchsetzung dieser Interessen hingewirkt wurde, so könnte man einen der frühesten derartigen Vorgänge just im Großraum Riga lokalisieren: Seinerzeit ging es um die Sperrung des so genannten Semgaller Hafens zwecks Stärkung der neu gegründeten Stadt Riga. Der einvernehmliche Beschluss der Kaufleute, sich an die von Theoderich von Treyden beim Papst erreichte Verbotsregelung zu halten und den Hafen zu meiden, wurde 1203 von einer einzelnen Schiffsbesatzung missachtet, woraufhin laut Schilderung Heinrichs von Lettland die übrigen Kaufleute einschritten und zwei Mitglieder dieser Besatzung sogar töteten. Eine »Städtehanse« im späteren Sinne existierte zu diesem Zeitpunkt freilich noch längst nicht. Als Zeitpunkt eines offiziellen »Beitritts« Rigas zur Hanse wird deshalb gern das im vorigen Kapitel bereits erwähnte Riga als Hansestadt 

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Jahr 1282 genannt. Genau genommen kann aber auch dabei nur von einem Bündnis zum Schutz des Handels die Rede sein, das Riga in jenem Jahr mit Visby und Lübeck einging. Es war damit in einem frühen Stadium an einem wesentlichen Unterfangen beteiligt, auf das sich die Erfolge der Hanse im darauf folgenden Jahrhundert gründeten: dem Versuch nämlich, die Seewege über die Ostsee unter städtische Kontrolle zu bringen, statt die Sicherung von Seefahrtsrouten weiterhin fürstlichen Landesherren zu überlassen. Falsch wäre hingegen die Vorstellung, Riga hätte 1282 erstmals an einem Hansetag teilgenommen; denn für die Abläufe im Rahmen der Städtehanse wurden Hansetage – deren Häufigkeit sich ganz danach richtete, wie viel Beratungsbedarf in einem jeweiligen Jahr oder Jahrzehnt zu bestehen schien – erst im 14. Jahrhundert kennzeichnend. 1346 erhielt Riga zusammen mit Reval (estn. Tallinn) und Pernau (estn. Pärnu) das Stapelrecht: Jeder mit Russland Handel Treibende musste seine Waren von nun an zuerst für drei bis acht Tage auf dem Markt einer dieser drei Städte anbieten. Von Russland her gelangten insbesondere Wachs und Pelze über Riga in westlichere Hansestädte, daneben aber zum Beispiel auch Teer, Asche, Talg, Leder und Felle sowie je nach Verfügbarkeit Flachs und Hanf. Auch an Butter sowie Holz aus Russland konnte im Westen Interesse bestehen. In der Gegenrichtung gehörten Metalle, Leinen, Heringe und das zu Konservierungszwecken so wichtige Salz zu den begehrtesten Gütern, und zwar sowohl für Livland selbst als auch für den Weiterverkauf gen Russland. Hinzu kamen – allerdings hauptsächlich für den Verbrauch innerhalb Livlands und weniger für den russischen Markt – Bier, Met, Hopfen, Wein, diverse Gewürze, Südfrüchte, Feinhandwerkserzeugnisse und Ähnliches. Als einheimische Handelsgüter steuerte der livländische Raum neben bestimmten Fell- und Fischarten vor allem Getreide zum Warenverkehr bei. Riga musste, wenn es vom Umschlag all dieser Erzeugnisse optimal profitieren wollte, darum bemüht sein, den Handel »des Gastes mit dem Gaste« zu unterbinden, und sicherstellen, dass alles Angelieferte zunächst in seinen eigenen Speicherhäusern gelagert wurde. Hiermit war es besonders um die Mitte des 15. Jahrhunderts recht erfolgreich. Ein rundum störungsfreier Handelsverkehr stellte gleichwohl eher die Ausnahme denn die Regel dar: Schon Verteuerungen eines bestimmten Handelsgutes, im frühen 15. Jahrhundert zum Beispiel die des Salzes, konnten – zumal wenn die Landesherren darauf mit einem Ausfuhrverbot reagierten – vieles aus dem Lot bringen. Hinzu kamen Beeinträchtigungen, die sich daraus ergaben, dass der Deutsche Orden in allzu viele Konflikte mit Nachbarn Livlands verstrickt war, so in den 1440er Jahren beispielsweise mit 64  Das mittelalterliche Riga

Novgorod. Einbußen verursachte der Orden außerdem noch, indem er phasenweise unter Umgehung Rigas für eine Direktvermarktung des in seinen Gebieten angebauten Getreides sorgte. Besaß Riga eine Art Führungsrolle unter den   livländischen Hansestädten? Bei manchen Mittelalter-Historikern ist im Sinne dessen, wofür in der HanseForschung die Bezeichnung »Vorort« oder, moderner gesprochen, »Hauptort« geprägt wurde, von Riga als Vorort der Hansestädte des livländischen Raums zu lesen: Ungeachtet aller Schwierigkeiten, den Begriff »Vorort«, der kein offiziell verliehener Titel war, befriedigend zu definieren, wird Riga dieser Rang rückblickend beinahe automatisch zugewiesen. Nur selten scheint indes näher reflektiert worden zu sein, ob die Dünastadt damit zugleich als einziger hansischer Vorort dieses Raums zu gelten hat; sprechen zeitgenössische Aufzählungen der livländischen Städte, in denen Riga stets an vorderster Stelle geführt wurde, doch auf den ersten Blick dafür, diese Frage bejahen zu können. Vergleichbare Verzeichnisse der Gruppe der preußischen Hansestädte zeigen allerdings: Nicht Wirtschaftskraft oder politisches Gewicht, sondern vornehmlich die Eigenschaft, die älteste der betreffenden Städte zu sein, war dort offenbar ausschlaggebend dafür, dass in aller Regel Kulm am Beginn derartiger Aufzählungen stand. Entsprechend ließe sich auch Rigas stetige Nennung vor den übrigen livländischen Städten schon mit seinem bloßen Alter erklären – unabhängig von seiner gleichzeitigen wirtschaftlichen Bedeutung, die, etwas anders als bei Kulm, freilich noch als weiterer, wenn nicht sogar hauptsächlicher Grund, Riga an erster Stelle zu nennen, hinzuträte. Zöge man, um im Falle Kulms nicht nur mit dem Alter dieser Stadt argumentieren zu müssen, überdies eine Analogie zwischen der Bedeutung Kulmer Rechts und rigischen Rechts in der jeweiligen Region, so bliebe bezüglich des rigischen Rechts zu betonen, dass dessen Ausdehnung zwar bis Dorpat reichte, es jedoch zu keiner Zeit im Sinne der »Oelrichsschen Rigaer Statuten« auch in Reval Gültigkeit erlangte. Allerdings brach aus der Reihe jener livländischen Städte, die sich im Rahmen der Hanse zumeist den Positionen Rigas anschlossen bzw. unterordneten, nicht nur Reval – seinerseits mit lübischem Recht ausgestattet – häufig heraus, sondern ebenso Dorpat: Verschiedentlich teilte letztere Stadt unmittelbar die Standpunkte Revals, wenn Rigaer und Revaler Bestrebungen einander entgegenstanden. Betrachtet man die Zeit ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert, so sind neben Riga somit auch Reval und Dorpat als hansische Vororte einzustufen: Alle drei Städte agierten handelspolitisch mit einem gewissen Maß an Abstimmung untereinander, aber eben doch meist eigenständig. Hinzu kommt, dass im Zuge eines für die Hanse-Gemeinschaft typischen Interessenausgleichs jeder von ihnen ein Bereich zuwuchs, in welchem sie Dominanz ausüben konnte: Für Reval war dies der Novgorodhandel, für Riga dagegen – trotz vieler Bemühungen, auch an Letz-

Riga als Hansestadt 

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terem maßgeblich zu partizipieren – primär der Handel auf der Düna. Aufgrund geographischer Nähe spielte der Handel mit Novgorod ebenso für Dorpat eine Rolle, hier jedoch auf spezifische Weise ergänzt um den Austausch mit dem noch näher gelegenen Pskov (Pleskau). Drang Riga doch einmal in eine Sphäre ein, die eigentlich eher diejenige Dorpats oder Revals war, so lag dies mitunter in Verwandtschaftsverhältnissen zwischen Ratsmitgliedern der verschiedenen Städte begründet. Was sonstige baltische Hansestädte außer Riga, Reval und Dorpat betrifft, so sind als diejenigen, für die die Vorort-Rolle klar Riga zufiel, vor allem Wenden (lett. Cēsis), Wolmar (lett. Valmiera), Lemsal (lett. Limbaži), Roop (lett. Straupe) und Kokenhusen (lett. Koknese) zu erwähnen. Die beiden verbleibenden einstigen Hansestädte im heutigen Lettland, Goldingen (lett. Kuldīga) und Windau (lett. Ventspils), stießen erst vergleichsweise spät zur Hanse.

War für Riga die Bedeutung des Novgorodhandels auch weit geringer als für Reval oder Dorpat, so machten sich die Folgen der Eroberung Novgorods durch Ivan III. (* 1440, † 1505, ab 1462 Großfürst von Moskau) 1478 und der vorläufigen Schließung des dortigen Hansekontors 1494 gleichwohl ebenso an der Düna bemerkbar. Langfristig führte dies dazu, dass westliche und livländische hansestädtische Interessen zunehmend divergierten, wodurch die livländischen Städte um die Mitte des 16. Jahrhunderts in eine Situation gerieten, in der sie sich weitgehend auf sich allein gestellt sahen. Ihre Hanse-Mitgliedschaft endete daraufhin in von Stadt zu Stadt unterschiedlichen Schritten gewissermaßen stillschweigend, wobei für Reval die Bindung an die Hanse aufgrund seines lübischen Stadtrechts tendenziell langsamer an Relevanz verlor als für Riga.

66  Das mittelalterliche Riga

II. DAS RIGA DES 16. UND 17. JAHRHUNDERTS 1. Der rasche Siegeszug der Reformation Kaum irgendwo sonst in »deutschen Landen« – und zu diesen zählte man seinerzeit eben auch Livland – schritt die Reformation in den 1520er Jahren ähnlich schnell voran wie in einigen der Städte zwischen Düna und Finnischem Meerbusen. Schon Zeitgenossen wie Wolter von Plettenberg empfanden dies, wie ihre schriftlichen Hinterlassenschaften bezeugen, als bemerkenswert. Von den beiden Reformatoren, die in Riga 1522 den Thesen Luthers zum Durchbruch verhalfen, predigte der eine, Andreas Knöpken (* um 1468, † 1539), in der Petrikirche und der andere, Sylvester Tegetmeyer († 1552), zunächst in der Jakobikirche. Der Überlieferung nach handelte es sich bei ihnen um Männer von höchst unterschiedlichem Temperament: Während Knöpken stets maßvoll aufzutreten verstand, galt Tegetmeyer als Heißsporn, so dass es im Verhältnis der beiden untereinander gelegentlich zu Reibereien kam. Bekanntschaft mit Riga hatte zuerst Knöpken gemacht, da dessen älterer Bruder Jakob hier Domherr geworden und als solcher in das Predigeramt an der Petrikirche gelangt war. Von 1517 bis 1519 vertrat der jüngere den älteren Bruder in dieser Funktion; danach kehrte Knöpken aber zunächst ins pommersche Treptow an der Rega (poln. Trzebiatów) zurück, wo er bereits vor diesem ersten Riga-Aufenthalt Lehrer an der von Johannes Bugenhagen (* 1485, † 1558), dem Reformator Pommerns, geleiteten Stadtschule gewesen war. Wirkungsmöglichkeiten hatte er hier jedoch aufgrund der Hindernisse, die der Bischof von Cammin ihm in den Weg legte, bald nicht mehr. Aus einer während dieser zweiten Treptower Zeit betriebenen intensiven Luther-Lektüre und aus dem, was Erasmus von Rotterdam sowie insbesondere Melanchthon ihm rieten, erwuchs für Knöpken der Antrieb, 1521 erneut nach Riga aufzubrechen. Deutlich gab er sich hier nunmehr als Anhänger der Reformation zu erkennen, hielt Vorträge und weckte damit in den Reihen der Bevölkerung reges Interesse. Die Obrigkeit mit Wolter von Plettenberg und Erzbischof Jasper Linde an der Spitze billigte ihm daraufhin zu, in eine Disputation mit Anhängern der alten Lehre einzutreten. Diese fand am 12. Juni 1522 in St. Petri statt und führte dazu, dass die Ratsherren, die vollständig anwesend waren und schon hierdurch ihre Sympathie für das Luthertum deutlich werden ließen, Knöpken schließlich fest als Prediger an dieser Kirche einsetzten. Sie eigneten sich damit das Recht zur Besetzung der Der rasche Siegeszug der Reformation 

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Pfarrstellen an St. Petri und St. Jakobi an, das zuvor über Jahrhunderte beim Domkapitel gelegen hatte. Knöpkens eifrigster Gönner im Umfeld des Rates war dessen Sekretär Johannes Lohmüller († vor 1560), der in der Folgezeit im Namen der Rigenser mit Martin Luther in Korrespondenz stand. Insgesamt 17 Briefe Luthers erreichten die Stadt und sorgten hier für Ermutigung. Sylvester Tegetmeyer, der Ende 1522 sein Predigeramt an der Jakobikirche antrat, war zuvor als Kaplan in Rostock tätig gewesen und überhaupt erst in jenem Jahr durch Zufall nach Riga gelangt, weil er hier eine Erbschaft abzuwickeln hatte. In seinen Predigten prangerte er immer wieder unter anderem den Hang der katholischen Kirche zum Bilderschmuck an – anders als Knöpken, für den dies kein vorrangiges Thema war. Tegetmeyer mag insofern eine indirekte Schuld an den Bilderstürmen treffen, die im März 1524 plötzlich losbrachen. Zu unterstellen, dass er seine Zuhörer zu einer derartigen Zerstörung der Kircheninventare regelrecht aufgerufen hätte, ginge jedoch sicher zu weit. Ebenso wenig wird man aus der Tatsache, dass Knöpkens vorherige Wirkungsstätte Treptow an der Rega ein besonders früher Schauplatz bilderstürmerischer Vorgänge im Ostseeraum war, eine Mitschuld Knöpkens an den Exzessen in Riga ableiten können. Von den Bilderstürmen waren alle drei Rigaer Hauptkirchen gleichermaßen betroffen – im März zunächst St. Petri und St. Jakobi, im August dann auch der Dom. Dessen Hauptaltar blieb am ersten Tag noch verschont; wenige Tage später jedoch wurde auch er mit äußerster Gewalt traktiert. Was die sehr aktive Beteiligung junger Kaufleute aus den Reihen der Schwarzhäupter an diesen Geschehnissen betrifft, unterschied sich das Verhalten im Dom merklich von dem in der Petrikirche fünf Monate zuvor, wo es zunächst nur darum gegangen war, den eigenen Altar der Schwarzhäupterbruderschaft zu entfernen und ihn ins Schwarzhäupterhaus zu bringen. War schon die Tatsache, dass Tegetmeyer auf Deutsch statt auf Latein predigte, gewissermaßen revolutionär, so galt es Luthers Aufforderung, in den Volkssprachen zu predigen, darüber hinaus freilich ebenso auf das Lettische anzuwenden. Mitte der 1520er Jahre entstand auf diese Weise Rigas erste lettische Gemeinde. Als Gotteshaus wurde ihr die Jakobikirche zugewiesen, an der bis 1582 nacheinander von mehr als einem Dutzend Pastoren die neue Glaubenslehre auf Lettisch verbreitet wurde. In der Anfangszeit tat dies vor allem Nikolaus Ramm († 1532, entgegen einer einzelnen Chronik-Angabe, nach der er 1541 noch gelebt haben müsste) – ein Deutscher, der zugleich zum Entstehen erster Ansätze lettischsprachigen Schrifttums beitrug, wobei primär an übersetzte Auszüge aus der Heiligen Schrift und agendenähnliche Handreichungen zu denken ist. Angaben in einer latei68  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

nischsprachigen Quelle zufolge wurde bereits 1525 in Lübeck im Auftrag der dortigen Stadtobrigkeit ein Fass voller Bücher mit Texten in lettischer, estnischer und livischer Sprache beschlagnahmt, das nach Livland hätte gelangen sollen. Da diese Bücher offenkundig vernichtet wurden, lässt sich wenig über sie sagen; die Vermutung, sie könnten, wenn sie denn tatsächlich lettischsprachige Texte enthielten, unter Mitwirkung Ramms entstanden sein, liegt jedoch nahe. Für die lettischsprachige wie auch für die deutschsprachigen Gemeinden der Stadt galt in der Folgezeit eine 1530 fertig gestellte Rigaer Kirchenordnung. Sie war seit der Übernahme der neuen Lehre regelrecht herbeigesehnt worden, da das Verlangen bestand, in der Frage der Korrektheit der liturgischen Abläufe eine klare Richtschnur zu bekommen. Was dies betraf, waren die Briefe Luthers, der das Abfassen derartiger Ordnungen persönlich scheute, lediglich insoweit eine Hilfe gewesen, als aus ihnen deutlich wurde, dass auch Luther eine feste Kirchenordnung für wichtig hielt. Als umso schwieriger hatte es sich dann erwiesen, jemanden zu finden, der den Rigensern diese Kirchenordnung ausarbeiten konnte und wollte: Auch mit ihr verbanden sich Herausforderungen sprachlicher Art, denn keiner der als mögliche Verfasser angefragten Theologen – auch nicht der ostpreußische Reformator Johann Briesmann (* 1488, † 1549), der sie schließlich niederschrieb – war bereit, sich des im damaligen Riga verwendeten Niederdeutschen zu bedienen. In jenes Rigaer Niederdeutsch wechselt die von Briesmann erstellte »Kurtz Ordnung des Kirchendiensts« faktisch nur dort sehr abrupt, wo sich Gesangsbuch-Elemente anschließen und somit die praktische Ausführung des Gottesdienstes veranschaulicht ist. Von den betreffenden Liedern können manche dem als Franziskanermönch nach Riga gekommenen und hier zum Dichter gewordenen Burkhard Waldis (* um 1490, † 1556) zugeschrieben werden. In den Jahren davor unternommene Versuche der Rigaer Erzbischöfe, der Reformation in ihrer Stadt Einhalt zu gebieten, wären heute kaum noch einer Bemerkung wert, verbände sich mit ihnen nicht auch das Schicksal jenes späteren Dichters, den mancher Literaturwissenschaftler in einem Atemzug mit dem Nürnberger Hans Sachs (* 1494, † 1576) zu nennen geneigt ist. Noch unter dem 1524 verstorbenen Erzbischof Jasper Linde sollten Waldis und zwei seiner Mitbrüder als Boten kaiserliche Mandate für ein konsequentes Vorgehen gegenüber allen, die zu Luthers Lehre übergelaufen waren, erwirken. Ihre schriftlichen Appelle an die Mächtigen des Reichs blieben den städtischen Instanzen jedoch nicht verborgen, worauf Waldis und einer der beiden anderen Mönche bei ihrer Rückkehr unverzüglich inhaftiert wurden. Der rasche Siegeszug der Reformation 

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Waldis bekannte sich noch während der Haft zur reformatorischen Lehre und kam deshalb frei, während die übrigen Rigaer Franziskaner sich infolge dieser Affäre zusehends in die Enge getrieben sahen. Dass, wie nach heutigem Forschungsstand glaubhaft gemacht werden kann, möglicherweise sie und nicht die Geistlichen um Nikolaus Ramm die Ersten gewesen waren, die in Riga Predigten auf Lettisch gehalten hatten, scheint die aufgebrachte Bevölkerung, darunter viele Letten, jedenfalls nicht gnädiger gestimmt zu haben. Der inzwischen als Zinngießer in der Stadt ansässig gewordene Waldis schuf unterdessen »De parabell vam vorlorn Szohn«, ein niederdeutsches Fastnachtsspiel, das 1527 in Riga uraufgeführt wurde und das neben der 1548 erschienenen Fabelsammlung »Esopus« sein bedeutendstes Werk darstellt. In den 1530er Jahren verstrickte er sich noch einmal in Ungemach, als er sich in der Überzeugung, so am besten zur dauerhaften Absicherung der Reformation in Livland beizutragen, in den Dienst des Erzbischofs stellte. Hierauf für drei Jahre vom Deutschen Orden gefangen gesetzt, erlangte Waldis erst 1539 erneut die Freiheit, studierte danach in Wittenberg Theologie und wirkte schließlich als Pfarrer in Abterode östlich von Kassel. Die Auflösung von Klöstern wie dem der Franziskaner, in dem Waldis einige Zeit gelebt hatte, ist im Kontext Rigaer Stadtgeschichte ferner dadurch von Bedeutung, dass aus klösterlichen Bücherbeständen schon bald Rigas Stadtbibliothek, die älteste öffentliche Bibliothek des Baltikums, entstand. An deren Tradition knüpft heute die Akademische Bibliothek Lettlands an.

2. Der hinausgezögerte Herrschaftswechsel in der Zeit des Livländischen Krieges (1558–1582/83) 1559 schickte Riga letztmals Vertreter zu einem Hansetag. Einen formellen Austritt aus dem Städtebund bedeutete dies nicht; nur entrichtete die Stadt ab jetzt, abgesehen von der Missachtung der für Hansetage festgelegten Anwesenheitsregeln, auch ihre finanziellen Beiträge nicht mehr. Dass sie sich dem Bündnis prinzipiell weiterhin zugehörig fühlte, belegen nicht zuletzt die Bitten um Beistand, mit denen sie sich angesichts des im Jahr zuvor von Ivan IV. (* 1530, † 1584, ab 1547 Zar) begonnenen Krieges noch über mehr als ein Jahrzehnt hinweg an die westlicheren Hansestädte wandte. Deren Sicht der Dinge wiederum reichte bis hin zu dem Vorwurf, die livländischen Städte selbst trügen Schuld an diesem Krieg: Unter anderem hatten sie angeblich das Zustandekommen einer Gesandtschaftsreise nach Moskau 70  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

verhindert, die der Hanse zu einer Verlängerung ihres 1514 auf zehn Jahre abgeschlossenen so genannten »Kaufmannsfriedens« mit den Moskowitern hätte verhelfen sollen. Blieb man, was diesen Sachzusammenhang anbetraf, bei der Wahrheit, so war jedoch klar, dass die livländischen Hansestädte sogar die Hauptbefürworterinnen einer solchen Gesandtschaftsreise gewesen waren und es lediglich abgelehnt hatten, nahezu sämtliche Kosten dafür zu tragen. Unterm Strich machten Vorhaltungen wie diese nur eines deutlich: Die Interessen der westlichen Hansestädte, denen letztlich nur an einem lukrativen Russlandhandel gelegen war, und diejenigen der livländischen Städte, die mit ihrer Nachbarschaft zu den Moskowitern seit den 1480er Jahren stets auch Kriegsgefahr verbunden sahen, waren kaum mehr miteinander vereinbar. Ivan IV. erklärte das Gasthandelsverbot in Riga, das zwischen 1539 und 1554 zum Nachteil der übrigen Hansestädte noch einmal ausgeweitet worden war, 1558 sogar zu einem seiner Kriegsgründe. Den Moskowitern fielen im ersten Kriegsjahr bereits Narva und Dorpat in die Hände; 1559 rückten sie dann auch auf Riga vor, das verteidigungstechnisch mehr schlecht als recht gerüstet war und außer der eiligen Vermauerung seiner Tore längs der Düna sowie dem Anwerben von Landsknechten wenig auszurichten vermochte. Einer glücklichen Fügung kam es gleich, dass die Moskowiter aus ihrem nördlich der Stadt aufgeschlagenen Lager urplötzlich abzogen; mutmaßlich fürchteten sie einen Ausfall der Rigenser, deren zahlenmäßige Stärke sie in diesem Moment überschätzt haben dürften. Andere Teile Livlands hatten weniger Glück und konnten auch von dem neuen und zugleich letzten Ordensmeister Gotthard Kettler (* 1517, † 1587, 1559–1561 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland) nicht vor Schaden bewahrt werden. Die weitere Karriere Kettlers, der nach 1561 als Herzog von polnischen Gnaden das aus einem Teil des livländischen Ordensgebietes gebildete Herzogtum Kurland und Semgallen regieren durfte, steht stellvertretend dafür, welcher Ausweg den meisten Teilen des mittelalterlichen Livland jetzt noch blieb: Man war, ob man wollte oder nicht, auf die gegen die Moskowiter seit langem kampferprobte und am Erbe Livlands grundsätzlich interessierte Union aus Polen und Litauen angewiesen. Die Stadt Riga legte in dieser Situation größten Wert darauf, dass sich ein möglicher Herrschaftswechsel nicht ohne Einholung einer formellen Billigung vonseiten des Heiligen Römischen Reiches vollziehen würde. Vom Erzbischof und dem Deutschen Orden als den offiziellen Stadtherren forderte sie eine klare Bestätigung, dass der Schutzvertrag, den diese 1559 mit dem polnischen König ausgehandelt hatten, keine etwaigen Abtretungen Der hinausgezögerte Herrschaftswechsel 

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livländischen Gebietes vorsah. Zögerlich willigte sie daraufhin in die eventuelle Stationierung einer polnischen Besatzung in Riga ein; doch noch ehe sie sich mit einem entsprechenden Szenario real hätte konfrontiert sehen können, schuf die Unterstellung Revals unter schwedische Herrschaft Mitte 1561 gänzlich veränderte Rahmenbedingungen. Denn spätestens von diesem Zeitpunkt an war auch die polnische Krone nicht mehr geneigt, Schutz zu gewähren, ohne den um diesen Schutz bittenden Livländern im Gegenzug die Unterwerfung abzuverlangen. Bei den im Herbst desselben Jahres in Wilna (lit. Vilnius) geführten Verhandlungen über die konkreten Modalitäten der Unterwerfung war auch eine Reihe von Vertretern der Stadt Riga zugegen. Diese erklärten Rigas dringenden Appell, sich vor jedwedem Zustandekommen neuer Herrschaftsbeziehungen zuerst der ausdrücklichen Zustimmung des Heiligen Römischen Reiches zu versichern, ganz unumwunden mit dem Interesse der Kaufmannschaft an ungestörtem Handelsverkehr – womit die Stadt heftige Kritik all derjenigen Livländer auf sich zog, die den Ernst der Lage noch unmittelbarer erlebt hatten und deswegen zu einer insgesamt flexibleren Haltung den Polen gegenüber tendierten. Nach Ende der Verhandlungen empfing König Sigismund II. August am 28. November 1561 die Huldigung seitens der Stadtherren; der Stadt selbst hingegen gelang es, sich als eigenständiger Verhandlungspartner zu behaupten und die Huldigung lediglich in Aussicht stellen zu müssen. Einer Unterwerfung unter die polnische Krone wichen die Rigenser demnach nicht grundsätzlich aus; doch auch 1562 fand eine Huldigungsfeier vor ihrem Rathaus noch ohne ihre Beteiligung statt. Sie verhandelten stattdessen weiter mit dem Abgesandten Sigismunds, Mikołaj Radziwiłł (Nikolaus Radziwill, * 1512, † 1584, 1565–1579 Großkanzler von Litauen), und taten ausschließlich diesem gegenüber im weiteren Verlauf des Jahres ihren Willen zur Huldigung kund. Formal gingen sie damit aber nicht über einen »Eventual-Eid« hinaus, also eine Eidesleistung vorbehaltlich bestimmter Voraussetzungen, die erst noch eintreten mussten, wobei es konkret darum ging, dass die in Wilna getroffenen Vereinbarungen über die Zukunft Livlands ohnehin noch der Ratifizierung durch die polnischen Reichsstände bedurften. Derweil mehrte sich in Riga die Sorge, die Stadt könnte über die Untertänigkeit gegenüber der polnischen Krone hinaus zu einem unmittelbaren Bestandteil des Großfürstentums Litauen werden. Man verhielt sich daher zunächst abwartend, was auch insofern geboten schien, als noch die Frage im Raum stand, ob es einen Nachfolger für den 1563 verstorbenen Erzbischof Wilhelm von Brandenburg-Ansbach geben würde. Dass Wil72  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

helms bisheriger Koadjutor, Herzog Christoph von Mecklenburg, der auf diese Nachfolge Anspruch erhob, mit der polnischen Krone keine Einigkeit erzielte, sondern sogar gefangen genommen wurde, kam den Rigensern entgegen und veranlasste sie, sich der erzbischöflichen Gebäude innerhalb der Stadt zu bemächtigen. Als 1566 die verbliebenen Teile Livlands nördlich und östlich von Riga tatsächlich in das Großfürstentum Litauen eingegliedert wurden, weigerte die Stadt an der Düna sich beharrlich, diesen Schritt mitzugehen. Erst hierdurch geriet sie in jene vorübergehende staatsrechtliche Sonderstellung, die rückblickend in zahllosen Veröffentlichungen so umrissen wird, als hätte sie die gesamte Zeit des Livländischen Krieges hindurch bestanden, und über die auch ansonsten mancherlei Missverständliches Eingang nicht nur in populärwissenschaftliche Werke, sondern auch in Teile der Fachliteratur gefunden hat. Klar scheint, dass Rigas Idealvorstellung seinerzeit in der Tat auf einen Aufstieg zur freien Reichsstadt hinauslief. Wirklich erreicht hat es diesen Status jedoch nie. Wie realistisch eine Verwirklichung der ReichsstadtAmbitionen zu einem jeweiligen Zeitpunkt erscheinen konnte, hing stark von der Entwicklung des Kriegsgeschehens ab. Hoffnungen nährte insofern vor allem ein dreijähriger Waffenstillstand, den Polen-Litauen 1570 mit den Moskowitern einging, nachdem es sich gerade erst im Jahr zuvor durch die Union von Lublin zu einem Gesamtstaat verbunden hatte. Dass Riga sich vorerst noch keinem neuen Herrscher formell untergeordnet hatte, ließ es unter anderem durch das Prägen eigener Münzen mit dem Stadtwappen sichtbar werden. Vier Rigaer Silber-Ferdinge entsprachen damals einer Rigaer Silber-Mark; 18 Ferdinge ergaben einen Silber-Taler. Unterhalb des Ferdings waren als kleinere Münzeinheiten noch Schilling und Pfennig im Umlauf. In der Frage, inwieweit die Stadt auf einen insgesamt für sie vorteilhaften Kurs eingeschwenkt war, deckte sich der Standpunkt des Rates keineswegs immer mit dem der Stadtgemeinde, wie er durch die Gilden zum Ausdruck kam: Tendenziell vertrat der Rat zumeist eine von mehr Pragmatismus bestimmte und insofern polenfreundlichere Haltung. Einen gewissen Beigeschmack hatte hierbei der Umstand, dass mehrere Ratsherren damals von der polnischen Krone mit Landgütern belehnt waren. Später, nach der endgültigen Huldigung gegenüber dem polnischen König im Jahre 1582, setzte dies allerlei Mutmaßungen frei, eine solche endgültige Huldigung wäre vermeidbar gewesen und von den Ratsherren nur deswegen forciert worden, weil sie so am sichersten sein konnten, weiterhin im Besitz ihrer Landgüter zu bleiben. Der hinausgezögerte Herrschaftswechsel 

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Als Verhandlungsführer für die polnische Seite erlebten die Rigenser in der zweiten Hälfte der 1560er Jahre den vormaligen Ordensmeister Gotthard Kettler – allerdings nicht allein, sondern im Verbund mit Jan Chodkiewicz (* 1537, † 1579, 1566–1578 Administrator Livlands), der Kettler zuvor als Verwalter der Litauen zugefallenen livländischen Gebiete nördlich der Düna abgelöst hatte. Chodkiewicz war in seinen Forderungen gegenüber Riga, bei denen es zum Beispiel um eine mögliche Aushändigung bisher erzbischöflicher Bauten wie der Bischofspfalz ging, so energisch aufgetreten, dass Kettler 1567 zunächst für Ausgleich sorgen musste. Pikant war Kettlers Rolle insofern, als man ihm unterstellen mochte, angesichts seiner Belehnung mit dem Herzogtum Kurland und Semgallen eine Art Kriegsgewinnler zu sein und im Zuge jenes Herrschaftswechsels von 1561/62 auch auf eine von Polen-Litauen zugestandene Verfügungsgewalt über Riga spekuliert zu haben. Das über Jahrhunderte hinweg negativ gebliebene Bild Kettlers in der Historiographie hat seine Ursprünge jedenfalls gerade in dieser Stadt. Unverhofft schien ein den Wünschen der Rigenser sehr entgegenkommender Ausweg aus dem inzwischen recht langen herrschaftsrechtlichen Schwebezustand greifbar, als 1575 der Habsburger Maximilian II. zum König von Polen gewählt wurde, so dass für sie, die Rigenser, ein Angebundensein an die polnische Krone nunmehr zugleich eine enge Verbindung mit dem Heiligen Römischen Reich bedeuten konnte. Dass die Einführung des Wahlkönigtums dem polnischen Staat sogleich eine Doppelwahl beschert hatte und daher neben Maximilian auch der siebenbürgische Fürst Stephan Báthory (* 1533, † 1586, ab 1576 König von Polen und Großfürst von Litauen) nach der Krone trachtete, schien die Visionen Rigas zunächst nicht zu durchkreuzen. Jedoch ergab die Entsendung ihres Syndikus sowie eines ihrer Ratsherren nach Wien im Frühjahr 1576 für die Stadt nur wenig. Neben dem Privileg zum Siegeln mit rotem Wachs – dem faktisch einzigen üblicherweise für Reichsstädte reservierten Recht, das Riga damals errang – nahmen die beiden aus ihrer Audienz beim Kaiser sowie ihren Gesprächen mit dessen Kanzler vor allem zwei Gewissheiten mit: Der Habsburger war zu sehr durch die Türkenabwehr gebunden, als dass er seinen Anspruch auf den polnischen Thron hätte gewaltsam durchsetzen wollen, und zu einem direkten Eingreifen in die Geschicke Livlands wäre er folglich erst recht nicht zu bewegen gewesen. Auch mussten die Abgesandten Rigas einsehen, dass Maximilian, hätte er ihre Stadt vorschnell in die Hände des Heiligen Römischen Reiches gebracht, seine Unterstützer in Polen im Konflikt um die dortige Königskrone hätte verlieren können. Wertvoll konnte er für Riga und das übrige Livland insofern höchstens noch als Vermittler in möglichen Frie74  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

densgesprächen mit den Moskowitern werden. Maximilians Tod im Oktober desselben Jahres und das neuerliche Aufflammen des Livländischen Krieges Mitte 1577 ließen die Stadt an der Düna sodann endgültig erkennen, dass unter diesen Umständen auch ihr nur mehr eine Option blieb, nämlich bereit zu sein, dem neuen polnischen König Stephan Báthory zu huldigen. Selbst jetzt zogen die Unterwerfungsverhandlungen sich noch immer mehrere Jahre hin, was in dieser Phase allerdings nicht mehr an einem etwaigen fortdauernden Drängen Rigas lag, sich zunächst in aller Form aus seiner Zugehörigkeit zum Reich lösen zu können. Vermutlich hatten die Unterredungen in Wien gelehrt, dass mit einem vom Reich beurkundeten offiziellen Verzicht auf livländisches Gebiet ohnehin kaum hätte gerechnet werden dürfen. Gleichzeitig waren diese Unterredungen wohl auch als Gelegenheit, Rigas Reichstreue unter Beweis zu stellen, nützlich gewesen, so dass für den Fall einer konsequenten Annäherung an Polen nicht mehr in demselben Maße Handelsbeeinträchtigungen befürchtet zu werden brauchten wie noch knapp zwei Jahrzehnte zuvor. Im Januar 1581 unterschrieben Vertreter des Rigaer Rates schließlich den Vertrag von Drohiczyn, den im November 1582 auch der polnische Reichstag guthieß. In der Zeit dazwischen – im Januar 1582 – besiegelte der Vertrag von Jam Zapolski das Ende aller Kampfhandlungen zwischen den Moskowitern unter Ivan IV. und den Polen unter Stephan Báthory. Rigas Wechsel unter polnisch-litauische Herrschaft war damit verbindlich zum Abschluss gebracht, wobei das lange Taktieren der Stadt, bis es so weit war, selbst unter zeitgenössischen Chronisten Verunsicherung hinterließ. Aus deren Werken ergibt sich nämlich ein recht uneinheitliches Bild, wenn es darum geht, ob schon die Huldigung gegenüber Radziwiłł 1562 oder erst das Verhandlungsergebnis von 1581 ein Zustandekommen neuer Herrschaftsbeziehungen bedeutete.

3. Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 Die Einschränkung städtischer Autonomie, die Riga, indem es sich PolenLitauen unterstellte, hinnahm, fand ihren Ausdruck hauptsächlich in der Einführung des so genannten Burggrafenamtes. Jeweils turnusmäßig von einem der vier Bürgermeister ausgeübt, war dieses Amt, wenn man es positiv charakterisieren will, als »Bindeglied« zwischen Stadt und Krone gedacht: Derjenige, der es ausübte, sollte, wiewohl er selbst der rigischen Bürgerschaft entstammte, zugleich Garant dafür sein, dass niemand in der Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 

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Stadt die Rechte der Krone ignorierte. Inwieweit dies stets in die Praxis umsetzbar war, stand freilich auf einem anderen Blatt. Vor allem nach der Herrschaftsübernahme durch Schweden 40 Jahre später, bei der am Burggrafenamt festgehalten wurde, stellte sich diese Frage immer nachdrücklicher. Der Burggraf war nicht zuletzt Vorsitzender eines Gerichts, dem die Zuständigkeit für Streitfälle in oder mit der Stadt zum Beispiel dann zufiel, wenn sie einen Adligen betrafen. Dem Adel selbst erschien diese Regelung während der gesamten 144 Jahre, die das Rigaer Burggericht existierte, ganz und gar unangemessen. Mit Stephan Báthory empfing Riga 1582 erstmals in seiner inzwischen fast 400-jährigen Geschichte ein gekröntes Haupt. Die hohen Erwartungen an dieses Ereignis wichen tiefer Ernüchterung, als der König noch während seines Aufenthaltes Ankündigungen machte, denen zufolge er eine teilweise Rekatholisierung von Stadt und Land anstrebte: Um neben der Augsburger Konfession auch dem Katholizismus zu seinem Recht zu verhelfen, verlangte er die Aushändigung einer der Rigaer Kirchen zwecks Rückumwandlung in ein katholisches Gotteshaus und erhielt vom Rat, als dieser erkannte, dass Báthory unter keinen Umständen umzustimmen war, schließlich die Jakobikirche. Zu den treibenden Kräften hinter dem gegenreformatorischen Eifer des Königs gehörte zweifelsohne der Jesuit Antonio Possevino (* 1534, † 1611), der in Religionsfragen viel Einfluss auf Báthory ausübte. Auch die Abtretung der an die Jakobikirche angrenzenden Gebäude des bisherigen Zisterzienserinnenklosters mit der Maria-Magdalenen-Kirche schien 1582 unumgänglich. Die Klosterbauten wurden im Jahr darauf von Jesuiten in Besitz genommen, die dem Rat die Absicht mitteilten, hier ein Kolleg einzurichten. Dieser gab keineswegs widerspruchslos seine Einwilligung, was aber noch lange nicht bedeutete, dass er derartigen Plänen viel entgegenzusetzen hatte. Ebenfalls bereits 1582 ließ Báthory die Einführung des gregorianischen Kalenders als einheitlicher Zeitrechnung für alle Teile seines Reiches verkünden und sandte entsprechend auch nach Riga die Instruktion, in jenem Jahr einen kalendarischen Sprung vom 4. auf den 15. Oktober zu vollziehen. Statt dem Wunsch des Königs unverzüglich Folge zu leisten, hielten die Rigenser es für geboten, zunächst alle Konsequenzen einer solchen Kalenderumstellung umsichtig zu prüfen, und schoben deren praktische Umsetzung damit auf die lange Bank. Báthory bewahrte sich gegenüber derartigen Versuchen, die Reform zu verschleppen, ein gewisses Maß an Geduld; 1584 jedoch verlieh er seiner Anordnung Nachdruck, indem er mit einer empfindlichen Geldbuße drohte. 76  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Das Weihnachtsfest des Jahres 1584 feierten in Riga dennoch nur wenige, darunter der Rat, in Anlehnung an den neuen Kalender. In der Jakobikirche wurden die Weihnachtsgottesdienste der Jesuiten an dem betreffenden Dezembertag durch geballten Volkszorn gestört. Als eineinhalb Wochen später die Weihnachtsfeierlichkeiten nach altem Kalender anstanden, kamen zahlreiche Rigenser zur Andacht in ihren Kirchen zusammen, ohne dort auf Prediger zu treffen; Letztere fügten sich mit ihrem Fernbleiben den Anordnungen des Rates sowie den mit dem Rat abgestimmten Weisungen von Oberpastor Georg Neuner († 1587). Ungeahnten Zulauf aus der gesamten Bevölkerung fanden daraufhin Zusammenkünfte des damaligen Domschulrektors Heinrich Möller († 1603) mit seinen Schülern, da Möller dabei kaum etwas anders handhabte, als er es an einem herkömmlichen Weihnachtsabend getan hätte. Einen Tag später wegen angeblicher Majestätsbeleidigung verhaftet, wurde Möller zu einer Symbolfigur der eigentlichen »Kalenderunruhen«, die mit seiner gewaltsamen Befreiung aus dem Ratsgefängnis begannen und insgesamt fast fünf Jahre andauerten. Während Möller persönlich zum Zeitpunkt der Niederschlagung dieser Unruhen die Flucht aus Riga gelingen und danach noch ein Lebensabend als Prediger im von seiner Geburtsstadt Meldorf in Dithmarschen nicht weit entfernten Tönning vergönnt sein sollte, fiel die Rolle desjenigen, der sich auf Gedeih und Verderb an die Spitze des Aufruhrs stellte, einem jungen Advokaten namens Martin Giese († 1589) zu. Seine Erfolge beim Anstacheln der Volksmenge im Januar 1585 versetzten Giese in die Lage, mit Hilfe seines Mitstreiters Hans zum Brinken († 1589) um sich herum ein zusehends diktatorisches Regiment aufzubauen und den Rat der Stadt handlungsunfähig zu machen. Durch die zügig besiegelten »Rigaer Compacten«, die nicht zuletzt um einer unmissverständlichen Wiedereinführung des alten Kalenders willen aufgesetzt wurden, banden Giese und Brinken den Rat gleichwohl in ihr System ein und beließen diesem die richterliche Gewalt. Brinken war damals Ältermann der Großen Gilde, überließ später aber auch dieses Amt Giese. Die Ansicht weiter Teile der Bevölkerung, der Rat habe sich der Königsmacht gegenüber – ob nun bei der Überlassung der beiden Kirchen oder bei der Einführung des neuen Kalenders – zu willfährig verhalten, hatte zwangsläufig eine Suche nach konkreten Schuldigen zur Folge: Ratssyndikus Gotthard Welling und Obervogt Johann Tastius, die für Riga den Vertrag von Drohiczyn ausgehandelt hatten, wurden des Verrats beschuldigt und – nach Verurteilung durch den hierzu genötigten Rat – Mitte 1586 hingerichtet. Nachdem die Stadt spätestens hierdurch in einen Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 

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Zustand von Gewaltherrschaft geraten war, ruhten die Hoffnungen eines Teils der Bevölkerung zunächst auf dem kurländischen Herzog Gotthard Kettler: Würde dieser einerseits zwischen den verschiedenen Parteien vermitteln und sich andererseits bei König Stephan Báthory für die durch Giese und Brinken weitgehend in Ungnade gefallene Stadt verwenden, so mochte ein für alle Beteiligten glimpflicher Ausweg aus der Situation, in die man sich manövriert hatte, gefunden werden. Kettlers Vermittlerdienste wurden vom König jedoch missbilligt. Giese, bei dem sie ebenso unerwünscht waren, reiste daraufhin nach Schweden; feste Unterstützungszusagen, wie er sie sich erhofft hatte, erreichte er dort allerdings nicht. Im Dezember 1586 eröffnete stattdessen Báthorys plötzlicher Tod den verschiedenen Akteuren neue Handlungsmöglichkeiten. Der Rat sah einigermaßen optimistisch einer Rückgewinnung seiner Macht unter dem neuen König Sigismund III. Wasa (* 1566, † 1632, ab 1587 König von Polen und Großfürst von Litauen, 1592–1599 König von Schweden) entgegen, während Giese vom Zeitpunkt der Wahl Sigismunds an noch radikaler agierte. Unter anderem führte dies zu einer Vertreibung der Jesuiten, denen Giese in den Jahren davor noch Schonung zugesichert hatte. Spätestens ab jetzt musste mit einem energischen Einschreiten im Namen der polnischen Krone jederzeit gerechnet werden. Als 1589 tatsächlich eine entsprechende Militäroperation in die Wege geleitet wurde, bei der allerdings alle Beteiligten unnötiges Blutvergießen vermieden, umfassten die Vereinbarungen, auf die sich die Stadt einlassen musste, unabwendbar die Hinrichtung Gieses und Brinkens. Was ansonsten noch vereinbart wurde, schrieb man im »Severinsvertrag« fest, dessen Bezeichnung sich aus dem Datum seiner Verkündung, dem Severinstag des Jahres 1589, ergab. Die Vertragsinhalte bedeuteten den Verlust nahezu sämtlichen Einflusses politischer Art, den die Gilden sich zwischenzeitlich erkämpft hatten, und somit deren Zurückdrängung in ihre traditionellen Rollen. Immerhin die Erfahrung, um politische Mitspracherechte gerungen und diese auch schon einmal eine Zeit lang besessen zu haben, konnte den Gilden jedoch niemand mehr nehmen. 1591 schließlich waren mit der Rückkehr der Jesuiten einerseits und der Bestätigung der Rechte der Stadt andererseits, zu denen nun auch wieder die Benutzung des julianischen Kalenders gezählt wurde, stabile Verhältnisse hergestellt. Als wertvoll hatten sich dabei das Verhandlungsgeschick und die humanistisch geprägte Formulierungsgewandtheit des damaligen Stadtsyndikus David Hilchen (* 1561, † 1610) erwiesen. Ein anderes Verdienst Hilchens war es, dass er 1588, also noch vor Ende der fünfjährigen Unruhen, Nicolas 78  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Das Aussehen des Turms der Domkirche zwischen 1596 und 1776 – zeichnerisch dargestellt von Johann Christoph Brotze im Jahre 1775

Mollyn († 1625), den seinerzeit ersten Buchdrucker in Livland, aus Antwerpen nach Riga holte. In den rund vier Jahrzehnten davor war in der Dünastadt lediglich bereits der Handel mit Büchern in Gang gekommen, nicht jedoch deren Herstellung. Mollyns Druckerei lag an der Südseite der Krämerstraße bzw. heutigen Krāmu iela. Unter den rund 200 Druckerzeugnissen, die zu Mollyns Lebzeiten in Riga erschienen, war neben lateinisch- und deutschsprachigen Werken 1615 auch ein »lutheranisches Handbuch« mit Psalmen, geistlichen Liedern und den Evangelien, bei dem es sich um das Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 

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erste auf Lettisch verfasste Buch handelte, das auf dem Boden der späteren Republik Lettland gedruckt wurde. Derweil spiegelte sich das neuerliche Erstarken der Ratsmacht auch in einer Erweiterung des Rathauses wider: An dessen Ostseite wurde ab 1594 ein Ratskanzlei-Gebäude angefügt, das den bisherigen Bau größenmäßig sogar übertraf. Offenbar vor diesem neuen Kanzlei-Gebäude und nicht etwa vor dem bisherigen Rathausbau entstand bis 1598 zudem ein weithin sichtbarer Turm, wie er für frühneuzeitliche Rathäuser in polnischen Städten typisch war. Da dieser mutmaßlich achteckige Turm bereits 1621, als Riga unter schwedischem Beschuss lag, erheblichen Schaden davontrug, ist sein damaliges Aussehen nur andeutungsweise und durch eine äußerst geringe Zahl von Bildquellen überliefert. Ebenfalls um die Mitte der 1590er Jahre wurde der Turm des Doms, der 1547 durch einen Brand seinen spitzen Helm verloren hatte, in einer dem Zeitgeschmack entsprechenden Form wieder vervollständigt. So wie dem Rat bewusst war, dass er ohne sein gutes Einvernehmen mit der polnischen Krone nie in seine alte Machtstellung zurückgelangt wäre, so stand auch für die Krone außer Frage, dass Rigas Verbleib an der Seite Polens während der polnisch-schwedischen Erbfolgestreitigkeiten im Laufe des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts in erster Linie auf der Loyalität des Rates basierte. Für eine Unterstützung Sigismunds III. sprachen dabei zweifellos Nähe und Umfang der Gebiete, die handelspolitisch Rigas Hinterland bildeten, solange die Stadt unter polnisch-litauischer Herrschaft blieb. Da diese Handelsvorteile ein Abfallen Rigas zumindest unwahrscheinlich machten, setzte die Staatsmacht auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts unbeirrt ihre Bemühungen fort, möglichst viele Rigenser zum Katholizismus zurückzuführen. Allerdings ergriff sie nicht jedes Mal einseitig zugunsten der Jesuiten Partei, sobald diese gegen den Oberpastor und späteren Generalsuperintendenten Hermann Samson (* 1579, † 1643) wetterten, der seinerseits nicht minder lautstark die Lehre Luthers verteidigte. Eher stellte sich – trotz aller wechselseitigen Schmähungen – eine Art Burgfriede ein, der erst dann ernsthaft gefährdet gewesen wäre, wenn Samsons Anhänger die Jakobikirche angetastet hätten. Rigas langjähriger Bürgermeister Nikolaus Ecke und sein   späterer Darsteller Ēvalds Valters Als eine besonders schillernde Persönlichkeit in den Reihen derjenigen, denen die polnische Herrschaft persönlich mehr Vor- als Nachteile brachte, lässt sich der damalige Bürgermeister Nikolaus Ecke (* 1541, † 1623) beschreiben. 1583

80  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

erhob Stephan Báthory ihn zum Burggrafen. Ecke war es, der nach der zweifach gefeierten Weihnacht des Jahres 1584 den Befehl zur Festnahme Heinrich Möllers erteilte; und so blieb während der darauf folgenden Ereignisse im Rahmen der »Kalenderunruhen«, als die Privathäuser verschiedener Vertreter der Ratsgewalt zu Angriffszielen der aufgebrachten Volksmasse wurden, auch Eckes Haus nicht verschont. Ihm selbst glückte in diesem Moment nur mit knapper Not die Flucht. Wiederholt und wohl nicht zu Unrecht wurde er in späteren Jahren, lange nach den »Kalenderunruhen«, der Unterschlagung von Geldern aus der Stadtkasse bezichtigt. Von seinen Widersachern deswegen aus Riga verwiesen, stiftete Ecke nach seiner Rückkehr offenbar als Zeichen der Sühne jenes Witwenheim im Schatten der Johanniskirche, dessen Gebäude noch heute unter dem Namen »Eckes Konvent« bekannt ist. Dieser Konvent war im damaligen Riga keine Einzelerscheinung: Eine ähnliche Unterkunft für verarmte Bürgerwitwen, eingerichtet in einem kleineren, heute nicht mehr erhaltenen Haus, stiftete zum Beispiel der außerdem als Verfasser einer bis 1609 reichenden Chronik hervorgetretene Bürgermeister Franz Nyenstede (* 1540, † wahrscheinlich 1622). Dass Ecke sich über nahezu die gesamte polnische Herrschaftsperiode hinweg in hohen Ämtern halten konnte, unterstreicht – auch wenn dies zunächst einmal dem Erreichen eines hohen Lebensalters geschuldet war – sehr plastisch, wie kurz die Polenzeit im Vergleich zu anderen Abschnitten der Geschichte Rigas bemessen war. Hätte die Stadt bereits 1601, als Herzog Karl von Södermanland (* 1550, † 1611, 1599–1604 Reichsverweser, ab 1604 als Karl IX. König von Schweden) sie ein erstes Mal belagerte, oder 1605 im Vorfeld der Niederlage Karls gegen die Polen in der Schlacht bei Kirchholm ihre Tore für die glaubensverwandten Schweden geöffnet, so hätte dieser Zeitabschnitt sogar noch deutlich kürzer ausfallen können. Zu guter Letzt empfing jedoch selbst Schwedenkönig Gustav II. Adolf (* 1594, † 1632, ab 1611 König von Schweden) 1621 die Stadtschlüssel noch aus den Händen Eckes. Im 20. Jahrhundert flossen die Machenschaften dieses zwielichtigen Bürgermeisters in den Stoff eines historischen Romans ein, der 1970 und 1972 auch zwei Verfilmungen durch die Rigaer Filmstudios erlebte – jeweils mit Lettlands sprichwörtlichem Jahrhundertschauspieler Ēvalds Valters (* 1894, † 1994) in der Rolle des Nikolaus Ecke. Valters galt später eine Zeit lang als ältester noch aktiver Schauspieler der Welt; erst einige Jahre nach seinem Tod ging dieser Rekord an Johannes Heesters (* 1903, † 2011) über. 1988 war Valters am erstmaligen Hissen der lettischen Flagge auf einem Turm des Rigaer Schlosses nach fast einem halben Jahrhundert beteiligt.

Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft bis 1621 

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4. Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) Rigas rechtliche, wirtschaftliche und strategische Stellung   innerhalb des schwedischen Reiches

Treue zu Polen, wie Riga sie bereits zwischen 1601 und 1609 bei den schwedischen Kriegszügen durch sein Umland unter Beweis gestellt hatte, bestimmte das Verhalten der Stadt auch 1621. Diesmal erschien vor ihren Toren der junge Gustav II. Adolf, um zu erreichen, was seinem Vater nicht gelungen war, und um mit der Einnahme Rigas, eines wichtigen Bausteins im Rahmen seiner Vision von einem schwedisch dominierten Ostseereich, der Verwirklichung dieser Ostseeherrschaftsvision ein gutes Stück näher zu kommen. Im Laufe der schwedischen Belagerung wurden der Stadt mehrfach Angebote mit dem Ziel einer freiwilligen Übergabe unterbreitet, doch erst beim dritten Mal, Mitte September 1621, ging sie, nachdem bereits beträchtliche Schäden an Gebäuden entstanden waren, darauf ein. Den Katholiken sowie den polnischen Beamten gewährte Gustav II. Adolf daraufhin freien Abzug, während den übrigen Rigensern die erhoffte Bestätigung ihrer von nun an als »corpus privilegiorum Gustavianum« bezeichneten Privilegien zuteil wurde. Letzteres geschah, ohne dass die Schriftstücke, deren Inhalt der König damit bestätigte, zuvor von ihm eingesehen werden konnten. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den Schweden war damals keineswegs in allen Bevölkerungskreisen gleich groß, auch wenn es Gruppen gab, in denen der Herrschaftswechsel schon von Berufs wegen Zuspruch finden musste, allen voran die der Theologen. Ansonsten aber neigte anfangs längst nicht jeder zu der Überzeugung, dass man sich unter der Oberhoheit von Glaubensgenossen automatisch besser aufgehoben fühlen konnte als unter der der katholischen Polen. Dem hier schon erwähnten Hermann Samson, der während seiner Tätigkeit als Pastor am Dom ab 1611 und als Oberpastor an St. Petri ab 1616 öffentliche Disputationen mit den Jesuiten nie gescheut hatte, kamen nun seine schon um 1603 an seinem Studienort Wittenberg geknüpften Kontakte zu Schwedens großem Staatsmann Axel Oxenstierna (* 1583, † 1654, ab 1612 schwedischer Kanzler) zugute. Offenkundig bewirkten sie sowohl seine Ernennung zum Generalsuperintendenten für Livland 1622 als auch seine spätere Erhebung in den Adelsstand, die ihm den Namenszusatz »von Himmelstjerna« einbrachte. Samson war zugleich der wohl fleißigste livländische Autor seiner Zeit; insofern ist es nicht einmal als Zufall zu deuten, dass von ihm auch das letzte Werk stammte, das in Riga noch unter Nicolas 82  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Mollyn gedruckt wurde, ehe 1625 Gerhard Schröder († 1657) dessen Druckerei übernahm. Am 1631 eröffneten akademischen Gymnasium der Stadt, einer keineswegs als Konkurrenz, sondern als Pendant zur Domschule verstandenen Einrichtung, bekleidete Samson bis zu seinem Lebensende 1643 die Professur für Theologie. Eine nochmalige Bündelung der Theologie-Professur und einer Funktion als Superintendent bei ein und derselben Person ergab sich ab 1690 unter Johannes Breverus (* 1616, † 1700), dem anderen bedeutenden Rigaer Theologen des 17. Jahrhunderts. Der im Gegensatz zu Samson nicht in Riga geborene Breverus lernte diesen noch persönlich kennen, als er 1634 zum ersten Mal in die Stadt kam. Nach anschließenden Studienjahren an deutschen und niederländischen Universitäten wurde ihm an Rigas akademischem Gymnasium zunächst die Professur für Poesie und Rhetorik angetragen, auf der er sehr zum Ansehen dieser Lehranstalt beitrug. Anders als bei Samson handelte es sich bei Breverus wohlgemerkt nicht um einen Generalsuperintendenten für ganz Livland, sondern um den Superintendenten Rigas. Diese Unterscheidung ist deswegen hervorhebenswert, weil die Stadt während der Schwedenzeit ein hohes Maß an Eigenständigkeit in kirchlichen Angelegenheiten sowohl gegenüber der Krone als auch gegenüber der livländischen Kirchenverwaltung behauptete: Sie nahm damit ganz unmittelbar das »ius episcopale« in Anspruch, entschied also zum Beispiel autonom über die Besetzung von Pfarrstellen, obwohl man – spätestens seit einer neuen Kirchengesetzgebung in Schweden von 1686 – die Anschauung hätte vertreten können, dieses Recht gehöre zu den Regalien, also den königlichen Hoheitsrechten. Ein klassisches Regal war daneben etwa das Recht der Münzprägung. Selbst hier erreichte die Krone lediglich eine sehr weitgehende, nicht jedoch die vollständige Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber der Stadt. Überhaupt gelang es dieser, vieles in ihrem Sinne zu beeinflussen, indem sie den genauen Nachweis ihrer bisherigen Privilegien, der eigentlich schon gegenüber Gustav II. Adolf hätte erfolgen müssen und der deshalb spätestens bei jedem Herrschaftsantritt eines neuen schwedischen Königs – konkret somit im Gefolge der Jahre 1632, 1654 und 1660 – von ihr verlangt wurde, immer wieder verschleppte. Fristen, die ihr zur Einreichung schriftlicher Ausfertigungen ihrer sämtlichen Privilegien gesetzt wurden, ließ sie wiederholt verstreichen oder legte, wenn derartige Fristen abliefen, die angeforderten Dokumente nur in sehr unvollständiger Form vor. Eine mehrbändige Sammlung ihrer Privilegien präsentierte sie erst 1686 – zu einem Zeitpunkt, zu dem die in Teilen des schwedischen Reiches bereits 1655 begonnene so geDie Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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nannte Güterreduktion nunmehr auch in Livland in vollem Gange war: Im Rahmen der Reduktion wurde Landbesitz, dessen Rechtmäßigkeit nicht urkundlich nachgewiesen werden konnte oder den ein jeweiliger Besitzer sich tatsächlich rechtswidrig angeeignet hatte oder der in noch nicht lange zurückliegender Vergangenheit durch Donationen an jemanden gefallen war, zugunsten der Krone eingezogen. Hiervon war nicht nur der livländische Adel in erheblichem Ausmaß betroffen, sondern durchaus auch die Stadt Riga, die in den Jahrzehnten davor ebenfalls, wo immer es möglich war, eine Vermehrung ihres Landbesitzes betrieben hatte. Überwiegend handelte es sich dabei um vormalige Liegenschaften der aufgelösten Klöster, des Domkapitels und des Ordens. Vertreter der Krone boten nun an, die meisten dieser Liegenschaften in Pachtgüter umzuwandeln, und verfuhren der Stadt gegenüber insofern etwas milder als gegenüber dem Adel. Mit einer Prüfung der unter dem Eindruck der Güterreduktion endlich eingereichten Privilegiensammlung Rigas wurde Sven Leijonmarck (* 1649, †  1728) beauftragt, der im schwedischen Staatsapparat damals als Advokatfiskal des Kammerkollegiums – einer Rechnungskammer, die seit den 1650er Jahren diesen Namen führte – seines Amtes waltete. Leijonmarck kam zu dem Ergebnis, dass die Sammlung noch immer unvollständig sei und eine Reihe höchst fragwürdiger Dokumente enthalte. Überdies schlug er vor, der Stadt auch eine Vorlage ihrer sämtlichen Statuten – also der Grundsätze, nach denen ihre Verwaltung organisiert war – abzuverlangen. Hierauf verzichtete die Krone dann allerdings. Die von Leijonmarck angemeldeten Zweifel an der Rechtsgültigkeit bestimmter Dokumente ließ sie ebenfalls auf sich beruhen und beschränkte sich auf eine Mahnung, die noch fehlenden Dokumente nachzureichen. Offenbar überwog für die Zentralmacht in Stockholm das Interesse, ihr Verhältnis gegenüber der Stadt Riga nicht unnötigerweise ähnlich stark zu belasten wie ihr Verhältnis gegenüber dem livländischen Adel, das seit Beginn der Reduktion äußerst angespannt war. Indem man den Rigensern Entgegenkommen bewies, beugte man der Eventualität, dass Adel und Stadt ihre wechselseitige Abneigung hätten überwinden und sich gemeinsam gegen die Krone positionieren können, wirkungsvoll vor. Politisches Geschick schien in dieser Hinsicht schon deswegen geboten, weil der livländische Raum zum Hauptgetreidelieferanten des schwedischen Reiches geworden war – und da mit der Reduktion nicht zuletzt intendiert wurde, Schwedens Versorgung mit Getreide zu optimieren, tat die Krone ganz gewiss gut daran, sich nicht auch noch Gegner in einer Stadt zu schaffen, deren Hafen beim Transport dieses Getreides eine gewichtige Rolle spielte. 84  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Ein Stadtbrand und seine angeblichen Verursacher Die Rücksichten, die die Repräsentanten Schwedens zu nehmen hatten, gestalteten sich ohnehin kompliziert genug, da auch stadtinterne Gegensätze das Zusammenleben innerhalb Rigas weiterhin belasteten. Insbesondere während der 1670er Jahre mochte zeitweise der Eindruck entstehen, seit den »Kalenderunruhen« der 1580er Jahre hätte sich in dieser Hinsicht kaum etwas verbessert: Noch immer wurde dem Rat eine undurchsichtige und verschwenderische Finanzpolitik vorgeworfen, so dass gerade auch seitens einer innerstädtischen Opposition Interesse an Überprüfungen durch das schwedische Kammerkollegium bestand. Am schärfsten traten diese Gegensätze hervor, als im Mai 1677 nahe der Johanniskirche ein verheerender Stadtbrand ausbrach und mehrere Hundert Häuser erfasste, woraufhin der Rat die Schuld an dem Feuer auf seine Widersacher zu schieben geneigt war. Damit nicht auch diese die Situation in ihrem Sinne beeinflussen konnten, setzte er jedoch rasch ein Sondergericht ein. In dessen Visier gerieten insbesondere alle Fremden, die sich damals zufällig in der Stadt aufhielten. Die meisten davon kamen wieder frei; doch als vermeintlicher Brandstifter wurde ein junger Deutscher namens Gabriel Frank zur Rechenschaft gezogen, der in Reval, Dorpat und Narva als Hauslehrer gearbeitet, danach ab 1671 in Moskau gelebt und auf seiner Rückreise gen Westen Riga als Zwischenziel gewählt hatte. Ein junger Schwede, den er hier angeblich als Mittäter angeheuert hatte, gestand unter schwerer Folter schließlich ebenso wie Frank selbst, den Brand gelegt zu haben. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hielt sich in der baltischen Geschichtsschreibung unhinterfragt die 1677 fingierte Schuldthese, nach der Frank in russischem Auftrag gehandelt haben sollte. Sein Auftrag bestand demnach darin, die Städte, deren Eroberung Aleksej Michajlovič (* 1629, † 1676, ab 1645 Zar) 1656 misslungen war, durch Brandschatzung doch noch in Moskaus Hände zu spielen. Indem das Gericht diesen Verdacht einer antischwedischen Verschwörung konstruierte, ermöglichte es den Rigensern, die all dies vermeintlich aufgedeckt hatten, sich gegenüber der Krone zu profilieren sowie um deren Gunst zu buhlen, da sie ja Opfer einer von Feinden Schwedens verübten Tat geworden zu sein schienen. Indirekt hätte man den Moskowitern indes tatsächlich eine Mitschuld an den Ereignissen zuweisen können: Die Kriegsangst, die von ihnen ausging, war Mitte der 1670er Jahre schlichtweg derart angewachsen, dass unverhältnismäßig viele Vorräte aller Art in Rigas Speicherhäusern eingelagert waren; und dies hatte die Ausbreitung des Brandes zweifellos beschleunigt. Noch heute erinnert an das Unglücksjahr 1677 der unscheinbare Name »Säulenstraße« bzw. dessen lettisches Pendant »Stabu iela«. Er bezieht sich auf eine Schandsäule, die seinerzeit errichtet wurde, nachdem man die beiden mutmaßlichen Brandleger überführt zu haben glaubte, und die sich bis 1849 an der Stelle befand, an der die nachmalige Säulenstraße – eine Querstraße der heutigen Brīvības iela (Freiheitsstraße) – ihre Mündung bekommen sollte. Dass 1950 schließlich eine vorübergehende Umbenennung dieser Straße nach Friedrich Engels erfolgte, ließe sich angesichts all dieser Zusammenhänge als unfreiwillige Ironie der Geschichte interpretieren.

Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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Legte jedenfalls während der letzten Jahrzehnte der Schwedenherrschaft ab etwa 1680 vor allem die in Angriff genommene Reduktion ein gewisses Wohlwollen der Krone gegenüber der Stadt nahe, so waren es in den Jahrzehnten davor in erster Linie Kriegsereignisse, die die zumeist wohlwollende Behandlung Rigas durch die Krone motivierten – was wiederum nicht erst galt, seit es die Könige Schwedens waren, die über die Stadt herrschten: Schon Polens König Sigismund III. hatte diese während seines Krieges gegen Schweden zu Anfang des 17. Jahrhunderts stark begünstigt. Unter anderem hatte er ihr die Hälfte der Einnahmen aus Hafengebühren zugesprochen, nachdem mit seinem Vorgänger Stephan Báthory 1581 nur ein Anteil von einem Drittel vereinbart worden war. Obwohl der polnische Reichstag diese hälftige Einnahmenverteilung nie bestätigt hatte, betrachteten die Rigenser sie fortan als gegebenes Recht, woraufhin sie erst bei der Überprüfung durch Sven Leijonmarck zu einem Gegenstand kritischer Nachfragen wurde. Dass die Stadt sich derartigen Nachfragen überhaupt stellen musste, zeigt unabhängig davon, wie großzügig sie letztlich behandelt wurde, etwas an, was bei der Vielzahl der ihr verbliebenen Freiheiten beinahe übersehen werden könnte, nämlich dass sie unter schwedischer Herrschaft erstmals in ihrer Geschichte den Aufsichtsmechanismen eines Zentralstaates unterlag. Dessen Bestreben war auf Vereinheitlichung gerichtet sowie darauf, administrativ und insbesondere fiskalisch so viele Sphären wie nur möglich zu durchdringen. Allerdings akzeptierte er hierbei auch Grenzen des Machbaren, um nicht, soweit es die Lenkung von Handelsverkehrsströmen betraf, die Attraktivität einer jeweiligen Stadt zu beeinträchtigen und damit Risiken für deren Wirtschaftskraft einzugehen – hätte dies doch wiederum seinen eigenen fiskalischen Interessen widersprochen. Um eine Stadt wie Riga zudem nicht in ihrem Stolz zu verletzen, wurden etwaige Neuregelungen in Bezug auf traditionelle städtische Einkünfte wie beispielsweise die Akzise – eine Abgabe auf ein- oder ausgeführte Getränke – bisweilen von der Agenda genommen und zur Füllung der Staatskassen stattdessen lieber neue Abgabenarten eingeführt. Entwickelte sich die Wirtschaftslage derart günstig wie zum Beispiel ab den frühen 1660er Jahren, als Riga eine stetige Zunahme des Handelsverkehrs aus dem russischen Hinterland verzeichnete, so verursachten maßvolle Erhöhungen der Abgabenlast kaum Probleme. Deuteten sich hingegen mögliche Rückgänge des Handelsaufkommens an, so sprach manches dafür, die zusätzlich eingeführten Abgaben rasch wieder aufzuheben und etwa auf den Lizent, einen seit 1629 erhobenen Ein- und Ausfuhrzoll zugunsten der Krone, oder die 1668 hinzugekommene so genannte Anlage gegebenenfalls auch für längere Zeit zu verzichten. 86  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Bei der Frage, welche alternativen Routen sich der Transithandel im Falle einer übertriebenen Anhebung von in Riga zu entrichtenden Zöllen hätte suchen können, ist, soweit es um den Nahbereich geht, nicht zuletzt an das benachbarte Herzogtum Kurland zu denken: Schließlich trug Jakob Kettler (* 1610, † 1682, ab 1642 Herzog von Kurland), der Enkel Gotthards, sich sogar mit dem Gedanken an Kanäle längs und quer durch sein Herzogtum, um einerseits heimische Wirtschaftszweige zu stärken, andererseits aber auch Handel vom Verkehrsweg Düna in kurländisches Gebiet umzuleiten. Solange mögliche Alternativwege durch Kurland noch nicht überall ausgebaut waren, handelte es sich bei der Hafenstadt, an welche Riga so wenig Handelsaufkommen wie möglich verlieren sollte, allerdings in erster Linie um das ungleich weiter entfernte Archangel’sk: Zumindest nach 1660 bezog Schweden die Stadt an der Düna, nachdem es sie bis dahin noch wie eine Art Erfolgsmodell ohne Förderungsbedarf gesehen zu haben schien, recht konsequent in seine »Derivationspolitik« mit ein, die möglichst viel russischen Handelsverkehr, den andernfalls Archangel’sk an sich gezogen hätte, durch schwedische Gebiete lenken sollte. Zum Teil war dabei noch zwischen Russlandhandel über die Düna und Russlandhandel auf dem Landweg zu unterscheiden. Letzteren zu begünstigen, wozu wiederum ganz konkrete Abgabensenkungen dienen sollten, versprach für Riga vor allem einen hohen Anteil am Handel mit dem seinerzeit europaweit begehrten Juchtenleder. Die Tendenz zur stärkeren Lenkung von Abläufen durch den Staat schlug sich im 17. Jahrhundert auch in der Form nieder, dass die Konkurrenz zwischen verschiedenen Städten, die nun unter schwedischer Herrschaft standen, kaum mehr die Ausmaße annehmen konnte, die sie in früheren Jahrhunderten gehabt hatte. Von einem Konkurrieren konnte inzwischen eher im Hinblick darauf die Rede sein, dass die einzelnen Städte unterschiedlich intensiv staatliche Protektion genossen. So entschied der schwedische Staatsapparat zum Beispiel darüber, im Umfeld welcher Stadt er welche Arten von Manufakturen angesiedelt sehen wollte und in welcher Weise er entsprechende Betriebe um eines optimalen Absatzes ihrer Erzeugnisse bzw. um einer problemlosen Versorgung des Staates mit diesen Erzeugnissen willen zu privilegieren geneigt war. Geführt wurden solche Manufakturen nur selten von Personen, die aus einer Stadt wie etwa Riga gebürtig stammten; sehr viel eher waren es stattdessen Unternehmer schwedischer oder auch niederländischer Herkunft, die sich hier organisatorisch einbrachten und ökonomisch Gewinn machten. Alles in allem wurden Riga und die übrigen livländischen Städte somit durch eine ganze Reihe von Maßnahmen in die vereinheitlichende schwediDie Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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sche Städtepolitik des 17. Jahrhunderts einbezogen, wenn auch weniger konsequent als die meisten der Städte, die schon von jeher unter schwedischer Herrschaft standen und Stockholm geographisch näher lagen. Livlands Städte waren damit allerdings immer noch erheblich stärker in das Reichsganze eingebunden als etwa die deutschen Städte am Südrand der Ostsee, die im 17. Jahrhundert an Schweden fielen. Ansätze einer Sonderstellung genoss in diesem Gesamtkontext keine andere Stadt so deutlich wie Riga, da es für das damalige Schweden nun einmal sowohl handelspolitisch als auch militärisch von allergrößter Bedeutung war. Umgekehrt wussten die Rigenser nur zu gut, wie sehr sie in Handels- wie auch in Verteidigungsfragen von dem Schutz durch Schweden profitierten. Die Garantie für diesen Schutz stellten freilich die Handelsprofite dar, ohne die Schwedens Militär nicht finanzierbar gewesen wäre, und insofern konnte hier von einem klassischen Geben und Nehmen die Rede sein. Die Entstehung der Festungswälle und andere   bauliche Maßnahmen

Erste Schritte zu einer Ergänzung der mittelalterlichen Wehranlage durch ein zweites, aus Erdwällen zusammengefügtes Verteidigungssystem waren bereits im 16. Jahrhundert unternommen worden, noch bevor sich die Stadt den Königen Polens unterstellt hatte. Während deren 40-jähriger Herrschaft über Riga war der Ausbau dieser Anlagen dann lediglich durch begonnene Umwandlungen von Rondellen in Bastionen vorangekommen. Hinsichtlich endgültiger Pläne, nach denen ein zielgerichteter Weiterbau erfolgen konnte, gab es somit noch vieles, worüber nunmehr Schweden zu entscheiden hatte. Nach Einholung sachkundiger Ratschläge von Festungsbaumeistern, die sich bereits andernorts, etwa in den Niederlanden, bewährt hatten, gelang daraufhin bis zur Jahrhundertmitte tatsächlich die weitgehende Fertigstellung einer Erdbefestigungsanlage für die eigentliche Stadt mit sechs Bastionen. In der zweiten Jahrhunderthälfte kamen zwischen fünf der sechs Bastionen jeweilige »Wallschilde« bzw. Ravelins hinzu, während für das Düna-Ufer eine Befestigung mit Halbbastionen geplant und teilweise ausgeführt wurde. Die von den erwähnten Festungsbaumeistern, darunter besonders Johann Rodenburg († 1657), genauso eindringlich empfohlene Umwallung der Vorstädte blieb hingegen Stückwerk: Vollständig geschützt wurden die Vorstadtbereiche im Laufe des 17. Jahrhunderts lediglich durch Palisaden. Wie sehr diese Bereiche Teil des Gesamtkonzepts waren, zeigte sich zwar an ihrer 88  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Aufwertung durch neue Bauten wie die Mitte der 1630er Jahre gegründete Jesuskirche; um hierbei zu einem Abschluss aller wesentlichen Bauanstrengungen zu gelangen, hätte es jedoch längerer Friedensperioden bedurft, als es sie in der Schwedenzeit rein faktisch gegeben hat. Die Arrondierung des mittelalterlichen Stadtgebietes durch ein halbkreisähnliches Erdwallsystem erlaubte unterdessen erstmals eine planmäßige Bebauung des Areals zwischen der heutigen Vaļņu iela (Wallstraße), deren Verlauf in etwa der Innenflanke der damals aufgeschütteten Wälle entspricht, und der heutigen Rīdzenes iela (Riesingstraße), in deren Benennung sich der Rigebach andeutet – und damit die bisherige Bebauungsgrenze, die die an ihm entlang errichtete steinerne Stadtmauer vorgegeben hatte. Gleiches gilt für die sich nördlich anschließenden Zwischenräume zwischen der Vaļņu iela und deren übrigen Parallelstraßen: All diese in der so genannten Zwischenwallzone gelegenen Flächen wurden nun parzelliert und zur Bebauung freigegeben. Der Verkehr aus dem Stadtinneren verlagerte sich im Zuge dessen immer mehr auf die heutige Kaļķu iela (Kalkstraße); denn da deren geradlinige Fortsetzung nach Nordosten und der bisherige »Große Sandweg« ein Stück außerhalb des Festungsrings ohnehin wieder aufeinander zustrebten, hätte die bis dahin übliche Strecke am Sand- bzw. Pulverturm entlang spätestens ab jetzt einen unnötigen Umweg bedeutet. Beiderseits der Kalkstraße wurden, um sie als neue Hauptachse der Stadt zu akzentuieren, verschiedene öffentliche Einrichtungen platziert; zum Beispiel stand auf der Ecke zur Wallstraße seit etwa 1650 ein Waisenhaus. In dieselbe Zeit reichen auch die Anfänge der späteren Zitadelle zurück, die sich zunächst aus einem so genannten Hornwerk, das der Schlossinsel unmittelbar angegliedert war, entwickelte und erst um 1670 derart weitläufig ausgebaut wurde, dass sie in Verbindung damit auch einen eigenen Befestigungsring erhielt. Diesen konzipierte der damals viel beschäftigte schwedische Festungsbaumeister Erik Dahlberg (* 1625, † 1703, 1696–1702 Generalgouverneur von Livland), ohne vorhersehen zu können, dass er ihn zweieinhalb Jahrzehnte später in Ausübung des Generalgouverneursamtes täglich vom benachbarten Schloss aus vor Augen haben würde. Das Schloss selbst wurde 1682 auf der Ostseite durch ein Zeughaus und auf der Nordseite durch einen zweiten Hof erweitert, so dass es von da an erstmals über seine mittelalterlichen Grundrisslinien hinausragte. Mit einer noch unfertigen Zitadelle und mit noch nicht verteidigungsfähigen Vorstädten, deren Niederbrennung im Kriegsfall unvermeidlich schien, dafür aber mit einer schon recht gut ausgebauten Verteidigungsanlage jenseits der Düna, der Kobronschanze, hatte Riga somit den Nordischen Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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Krieg der Jahre 1655–1660 zu überstehen. Er wurde für die Stadt erst gefährlich, als nach schwedischen Anfangserfolgen in Polen, die europaweit Sorge vor einem weiteren Erstarken der neuen Großmacht des Ostseeraums auslösten, in Moskau die Entscheidung fiel, sich Schwedens Gegnern anzuschließen. Im September 1656 war Riga daraufhin einen Monat lang russischen Angriffen ausgesetzt, die im Inneren der Stadt aber nur begrenzt Schaden hinterließen und die letztlich, womöglich aus Mangel an Disziplin innerhalb der von Aleksej Michajlovič angeführten Truppen, in sich zusammenbrachen. Eine nachfolgende polnische Belagerung endete, nachdem König Karl X. Gustav (* 1622, † 1660, ab 1654 König von Schweden) Entsatz geschickt hatte, Anfang 1658 mit einer Niederlage der Polen auf dem Schlachtfeld bei der Kobronschanze. Da währenddessen im Stadtinneren die Pest wütete, fanden aber auch hier infolge dieser Belagerung viele Menschen den Tod. Die Vormundschaftsregierung in Stockholm, die, als Karl X. Gustav im Februar 1660 starb, die Regentschaft für den minderjährigen Karl XI. (* 1655, † 1697, ab 1660 König von Schweden) übernahm, wollte es an Gesten der Anerkennung dafür, wie die Rigenser diesen Krieg durchgestanden hatten, nicht fehlen lassen; sie erhob deshalb nach dem Friedensschluss von Oliva alle damaligen Ratsmitglieder in den Adelsstand und erklärte Riga zur »ersten Stadt nach Stockholm«. Die insgesamt wenigen Spuren baulicher Art, die im heutigen Altstadtgebiet noch an die Schwedenzeit erinnern, gehen nahezu ausnahmslos auf die Zeit nach 1660 zurück. Vergleichsweise starke Veränderungen bewirkte das nunmehr erlaubte Anbauen von Häusern an die Außenseite der nicht mehr benötigten Stadtmauer. Unter anderem ergab sich hieraus – wie auch aus der Errichtung von Kasernen in der Nähe der neuen Wälle – Bedarf an zusätzlichen Verbindungen der Zwischenwallzonen mit dem Stadtkern. 1698 entstand so der später »Schwedentor« genannte Durchbruch in Verlängerung der Großen Brauerstraße (lett. Aldaru iela), an deren nördlichem Ende man bis dahin nur in die Große Lärmstraße (lett. Trokšņu iela) hatte abbiegen können. In diesem Bereich war die Stadtmauer im Laufe des 17.  Jahrhunderts sogar schon beidseitig zugebaut worden, so dass der Wunsch nach einem Durchlass nicht zuletzt an den betroffenen Hausbesitzer herangetragen werden musste. Das heutige Aussehen des Schwedentors kam erst in sehr viel jüngerer Zeit zustande, nämlich durch Ideen führender Mitglieder des Lettischen Architektenvereins (lett. »Latviešu Arhitektu biedrība«, LAB), dem das Gebäude über der Tordurchfahrt mitsamt dem östlichen Nachbargrundstück 1926 übergeben wurde. Aufmerksamkeit erregt nunmehr vor allem die 1927 in pseudobarocken Formen gestaltete Giebelfassade an dem 90  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

hinzugekommenen, östlichen Gebäudeteil, der seinerseits den mittelalterlichen Jürgensturm umhüllt. Dass selbst ein solcher Wehrturm hinter Hauswänden verschwand, ist indes nicht als ein Vorgang schon des 17. Jahrhunderts einzuordnen; denn als die eigentliche Stadtmauer ihren verteidigungstechnischen Nutzen verlor, galt dies noch nicht zwangsläufig auch für die Türme. Aus einem Inventarbericht von 1677 lässt sich erschließen, dass zumindest zu diesem Zeitpunkt etliche von ihnen noch für Verteidigungszwecke gebrauchsfähig gehalten wurden. Ein Zusammenhang mit dem vorangegangenen Verlust eines der höchsten aller Rigaer Beobachtungsposten erscheint hierbei nicht ausgeschlossen: Die Höhenmaße, die die drei im Stadtbild dominierenden Kirchtürme Ende des 15. Jahrhunderts erreicht hatten, wurden ohnehin bei keinem von ihnen im Gefolge irgendeiner späteren baulichen Veränderung noch einmal übertroffen. 1666 büßte Riga mit dem Turm von St. Petri dann auch den letzten Kirchturm ein, der damals noch in seiner spätmittelalterlichen Gestalt und Höhe – mit Dreiecksgiebeln als oberem Abschluss des Mauerwerks – erhalten war. Der Petrikirchturm begrub bei seinem durch ein Unwetter verursachten Einsturz ein angrenzendes Haus unter sich und es waren acht Todesopfer zu beklagen. Zügig wurde ein neuer Turm in Angriff genommen, an dem jedoch der Stadtbrand von 1677 für abermaligen Schaden sorgte. Ein weiterer Stadtbrand folgte 1689, diesmal allerdings ohne Schaden an der seit 1686 im erneuten Wiederaufbau begriffenen Petrikirche. Immerhin bereits 1690, genau eineinhalb Jahrzehnte nach der Weitergabe der Bauleitung an den Elsässer Rupert Bindenschuh (* 1645, † 1698), kam es daraufhin zur Fertigstellung der barocken Westfassade mit achteckigem Turm. Von den weiteren Unglücken, die die Haube dieses Turms im 18. und 20. Jahrhundert auf sich ziehen sollte, wird hier, wenn die betreffenden historischen Kontexte gestreift werden, noch die Rede sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit entwarf Bindenschuh darüber hinaus die Fassade des Reuternhauses am östlichen Ende der Marstallstraße. 1684 begonnen, war es das erste Rigaer Haus, bei dem statt des Giebels die Längsseite zur Straße gewendet und repräsentativ gestaltet wurde. Der gebürtige Lübecker Johann von Reutern (* 1635, † 1698), der es errichten ließ, gehörte zu dieser Zeit zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Stadt. Dass das bedeutendste Bauwerk, das Bindenschuh außerhalb Rigas hinterließ, im damaligen Lemsal (lett. Limbaži) entstand, erklärt sich, obwohl dieser Ort rund 100 Kilometer entfernt liegt, ebenfalls mit Bindenschuhs Verpflichtung als leitender Architekt Rigas bzw. »Stadtwerkmeister«, wie Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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es zeitgenössisch hieß: Auch in Lemsal handelte er im Auftrag des rigischen Rates, denn diesem hatte Gustav II. Adolf das Gebiet der in den Kriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts vollständig zerstörten einstigen Hansestadt 1621 geschenkt. Zwei Generationen später erfolgte die Errichtung der Lemsaler Pfarrkirche St. Johannis daher mit Mitteln der Stadt Riga. Hieran erinnert noch heute die Tatsache, dass über zwei Eingängen des 1680 vollendeten Gotteshauses Rigas Wappen prangt. 1681 ging dann im Zuge der Reduktion die Verfügungsgewalt über Lemsal verloren; nach der Herrschaftsübernahme durch Russland 1710 geriet das Städtchen allerdings in eine erneute Abhängigkeit von Riga, aus der es sich erst einige Jahrzehnte später schrittweise befreien konnte. Unter den verschiedenen noch aus der Schwedenzeit stammenden Einrichtungen, die während der anschließenden Zarenzeit lange fortbestanden, verdient ein »Zuchthaus« Erwähnung, das damals im Johannishof angesiedelt wurde. In dem Gebäude saßen nicht nur Verbrecher ein; vielmehr konnten auch Bettler, Landstreicher, ungehorsame Hausdiener oder durch unmoralischen Lebenswandel aufgefallene Frauen darin untergebracht werden. Rund ein Jahrhundert behielt es diese Funktion, bis Ende des 18. Jahrhunderts in der Zitadelle ein neues zentrales Zuchthaus eingerichtet wurde; das Zuchthaus-Gebäude im Johannishof übernahm daraufhin die Funktion eines herkömmlichen Armenhauses. Es verfügte stets über einen gesonderten Zugang zur benachbarten Johanniskirche, so dass die für besserungswürdig befundenen Personen unmittelbar vom Gottesdienstraum aus geistlich unterwiesen werden konnten. In den 1730er und 1740er Jahren widmete sich dieser Aufgabe mit Vorliebe ein Vertreter der pietistischen Herrnhuter Bewegung. Der Beginn des Großen Nordischen Krieges   der Jahre 1700–1721

Der von einer Koalition aus Russland, Dänemark und Polen-Sachsen entfachte Große Nordische Krieg fand vor Riga einen seiner ersten Schauplätze: Gleich zu Anfang des Jahres 1700 drangen Truppen Augusts des Starken hierhin vor, um die Stadt zu belagern. Einen greifbaren Erfolg hatte diese Offensive zunächst durch die Einnahme Dünamündes. Hierunter war nicht mehr die mittelalterliche Ordensburg Dünamünde zu verstehen, sondern eine um 1600 von den Polen selbst gegründete Festung nahe dem linken Flussufer, die bereits 1605 und 1608 jeweils kurz in schwedische Hände 92  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

Schwedens Vorbereitungen auf die siegreiche Schlacht an der Spilwe 1701, dargestellt aus nordwestlicher Perspektive

gefallen war und die nun, nach jahrzehntelangem Weiterbau unter schwedischer Herrschaft, ein natürliches erstes Eroberungsziel für Polen-Sachsen darstellte. Gleich nachdem Augusts Truppen sich ihrer bemächtigt hatten, wurde sie in »Augustenburg« umgetauft. Bis Mitte 1701 war sie außer der Kobronschanze der einzige Ort rund um Riga, den die Belagerer tatsächlich halten konnten, während die Stadt sich relativ erfolgreich verteidigte, vor allem aber voller Hoffnung auf das Eintreffen Karls XII. (* 1682, † 1718, ab 1697 König von Schweden) wartete. Entscheidend für den im Juli 1701, bald nach Karls Ankunft, errungenen schwedischen Sieg an der Spilwe (lett. Spilve) – also in einem Bereich, der heute unweit des gleichnamigen Flugfeldes liegt – war ein königlicher Befehl, der sich zugleich als Beginn der Geschichte der Rigaer Düna-Brücken betrachten lässt: Karl XII. ließ eine Reihe von durch Anker fixierten Schiffen miteinander vertäuen und sorgte so dafür, dass seine Truppen unbemerkt bei durch Feuerschwaden verstärktem Nebel die Düna überqueren und einen Überraschungsangriff auf ihre polnisch-sächsischen Gegner unternehmen konnten. Diese flüchteten von den Spilwe-Wiesen teils in Richtung Dünamünde bzw. Augustenburg und teils flussaufwärts, während ihre russischen Unterstützer, die sich auf der Insel Lutzausholm (lett. Lucavsala) verschanzt hatten, regelrecht niedergemetzelt wurden. Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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Die provisorische Brücke aus Schiffen überließ der König der Stadt, worauf sie in den Folgejahren Winter für Winter in einer nahen DünaBucht zwischengelagert war, damit sie nicht durch Eisschollen zerrieben werden konnte. 1705 wurde sie allerdings durch ein Frühjahrshochwasser abgetrieben. Auf eine überaus schnelle Wiederherstellung dieser Brückenkonstruktion folgte 1710 im Zuge der russischen Belagerung ihre erneute Zerstörung. Ein längerfristiger Verzicht auf die bequeme Flussüberquerungsmöglichkeit, die sie einige Jahre hindurch erlebt hatten, kam für die Rigenser indes nicht mehr in Frage. Ab 1714 existierte daher endgültig eine Floßbrücke, die alljährlich um den 1. November abgebaut und im folgenden Frühjahr aufs Neue installiert wurde. Ihr mittlerer Teil konnte bedarfsweise geöffnet werden, um heranfahrende Schiffe durchzulassen. Mit der Zeit immer wieder erneuert, wurde diese Brücke aus dem Blickwinkel des 19. Jahrhunderts bisweilen sogar als Rigas Wahrzeichen empfunden. In jedem Fall machte sie den deutlichsten Unterschied zwischen dem Anblick, den Riga vor dem Großen Nordischen Krieg bot, und demjenigen, den es danach bot, aus. Wie wechselvoll vor allem das erste Jahrzehnt dieses Krieges aus Rigaer Perspektive verlief, wird auch am Schicksal damaliger Gebäude in den Vorstädten ersichtlich. Eine Kirche beispielsweise, die in den 1640er Jahren für das St.-Georgs-Hospital bzw. einstige Heiliggeistspital errichtet, 1656 in Brand gesetzt und einige Jahre später wiederhergestellt worden war, ließ der schwedische Generalgouverneur Dahlberg im Jahre 1700, als es zum sächsischen Vormarsch auf Riga kam, erneut niederbrennen. 1704 beschloss der Rat bereits einen Nachfolgebau dieser Georgskirche. Besagter Nachfolgebau wiederum, seines kreuzförmigen Grundrisses wegen manchmal »Kreuzkirche« genannt, existierte gerade einmal fünfeinhalb Jahre – bis die Schweden auch ihn Mitte 1710 auf dem Höhepunkt der russischen Belagerung eilig in Flammen aufgehen ließen. Noch ehe diese Belagerung begann, wurde Riga zu Beginn des Jahres 1709 von einer Überschwemmung heimgesucht, die zu den schlimmsten seiner Geschichte gehörte. Im Herbst 1709 erschienen dann nach dem entscheidenden russischen Sieg über Schweden nahe Poltava in der Ukraine die von dort in Richtung Baltikum verlegten Truppen unter Feldmarschall Boris Petrovič Šeremetev (* 1652, † 1719) erstmals vor Riga, wo sich zu diesem Zeitpunkt auch Peter I. (* 1672, † 1725, ab 1682 Zar) zeigte. Danach großteils in ihre Winterquartiere geschickt, konnten sie die Stadt erst ab März 1710 durch fortwährenden Beschuss weiter unter Druck setzen. Die Situation verschärfte sich alsbald durch den Ausbruch der Pest, die Tausende 94  Das Riga des 16. und 17. Jahrhunderts

der Belagerten das Leben kostete, aber auch auf die Belagerer übergriff. Zur Jahresmitte gab der schwedische Kommandant Niels Stromberg (* 1646, † 1723, 1709/10 Generalgouverneur von Livland) dem Drängen der Bürger, die Stadt auszuhändigen, schließlich nach. Šeremetev wurden daraufhin in Anerkennung seines erklärten Willens, den Rigensern freundlich entgegenzutreten, symbolisch zwei goldene Schlüssel der Stadt überreicht, die – entgegen den Gepflogenheiten bei früheren Übergabe-Zeremonien wie der von 1621 – dauerhaft in seinem Besitz bleiben sollten. Im Namen des Zaren bestätigte Šeremetev die gewünschte Beibehaltung der bisherigen Stadtverfassung, der deutschen Sprache und der Rechte der lutherischen Kirche. Erst Ende Oktober war auch die Pest ausgestanden; und erst im November des darauf folgenden Jahres besuchte Peter I. erstmals als neuer Herrscher die Stadt.

Die Zeit der schwedischen Herrschaft (1621–1710) 

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III. RIGA UNTER DER HERRSCHAFT DER ZAREN   (1710–1917/18) 1. Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch   des Krimkriegs Das Interesse Peters des Großen an Riga und die bauliche   Fortentwicklung im 18. Jahrhundert

Dem Eindruck vieler Zeitgenossen nach nahm Peter I. den Rigensern gegenüber eine bereits fest gefügte Haltung ein, da er sich wenige Jahre vor dem Großen Nordischen Krieg, seinerzeit an der Frage interessiert, wie nützlich eine mögliche Eroberung des Baltikums für ihn sein könnte, offenkundig einmal inkognito in der Stadt aufgehalten hatte. Derartige Inkognito-Besuche entsprachen der Art, wie Peter danach einzelne Länder Westeuropas kennen gelernt hatte, waren aber auch ansonsten zu damaliger Zeit kein allzu singuläres Phänomen, wenngleich Riga erst 1780 ein weiteres Mal von einer ähnlich hoch gestellten Persönlichkeit unter vorgetäuschter Identität besucht worden zu sein scheint: Zu jenem Zeitpunkt war derjenige, der hier eine Zwischenstation einlegte und nicht ganz so unerkannt blieb, wie er es sich erhofft haben mag, der römisch-deutsche Kaiser Joseph II. In dem Willen, dem Zaren künftige Besuche in Riga so angenehm wie möglich zu gestalten, stellte der Rat ein noch heute erhaltenes, wenngleich mehrfach verändertes Gebäude unweit der Domkirche zur Verfügung, auf dessen Nutzung durch Peter I. sich der nachmalige Name der vorbeiführenden Gasse bezieht: »Palaisstraße«, woraus in älterem Lettisch »Paleja iela« und in der Gegenwart schließlich »Palasta iela« (»Palaststraße«) wurde. Tatsächlich weilte Peter hier mehrfach und fand offenbar Gefallen an der Stadt: Immerhin bereicherte er sie um prächtige Gartenanlagen, die, wie es heißt, großteils nach seinen eigenen Skizzen verwirklicht wurden. Die neu eroberten baltischen Gebiete waren damit von Beginn an in eine Entwicklung einbezogen, die im übrigen Zarenreich ebenfalls erst damals ihren Anfang nahm: Gerade auch dort hätte man Beispiele für etwas, das im engeren Sinne als Gartenbaukunst hätte bezeichnet werden können, vor Peters Reise durch Westeuropa wohl vergeblich gesucht. Als der Zar zu entscheiden hatte, wo der spätere »Kaisergarten«, die einzige heute noch vorhandene und sicherlich bedeutendste seiner Rigaer Parkanlagen, entstehen sollte, fiel seine Wahl auf ein damals »Fossenholm« genanntes ehemaliges Inselareal nahe der 96  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Düna, das in schwedischer Zeit noch von Schiffbauern genutzt worden war. Gründe, weshalb ihm gerade diese Fläche besonders geeignet erschien, sind nicht überliefert; jedoch dürften viele weiter vom Fluss entfernte Bereiche aufgrund sandigerer Böden von vornherein ausgeschieden sein. Die benötigten Bäume ließ Peter nicht nur aus Wäldern der Umgebung heranschaffen, sondern teils von weit her per Schiff nach Riga transportieren. Linden beispielsweise wurden in großer Anzahl aus Holland angeliefert. Mit ihnen sollten die teilweise bis heute erhaltenen Alleen bestückt werden, durch die die Bürger schon damals lustwandeln und sich so an Rigas erster öffentlicher Parkanlage erfreuen durften. Im Westen ließ der Zar einen Abschnitt für sich privat abteilen und darauf einen palastartigen, um die 30 Meter langen Holzbau mit Blick auf die Düna errichten. Peter starb zu früh, als dass er dieses Gebäude wie geplant einmal als Sommerresidenz hätte nutzen können; und bereits in den 1770er Jahren wurde es wegen Baufälligkeit abgerissen. Weit länger überdauerte ein nördlich des Parks angepflanzter Gemüsegarten, aus dem noch viele Jahre nach Peters Tod Erntegut an den Hof in Sankt Petersburg gelangte. Der Park selbst ging 1842 in den Besitz der Stadt über und wurde 1873 zum Schauplatz des ersten gesamtlettischen Sängerfestes. 1973 erhielt er in Anlehnung hieran den Namen »Sängerfestpark« (lett. »Dziesmu Svētku parks«, wörtlich: »Liederfestpark«), der in nachsowjetischer Zeit allerdings wieder einer schon 1923 vorgenommenen Benennung wich: Nach einem semgallischen Fürsten des Mittelalters lautet der aktuelle lettische Name dieser Grünanlage daher »Viestura dārzs« bzw. »Viesturdārzs«. Einen zweiten vergleichbaren öffentlichen Garten hinterließ Peter  I. den Rigensern noch weiter nördlich in Gestalt des »Alexanderschanzengartens« an der Roten Düna. An diesen erinnert heute nur indirekt noch etwas, da die betreffende Fläche im 19. Jahrhundert zur Ansiedlung einer Besserungsanstalt und späteren Einrichtung für psychisch Kranke herangezogen wurde, was im weiteren Verlauf dazu führte, dass nahe der Roten Düna eine der größten psychiatrischen Kliniken Lettlands entstand. Die stadtferne Lage des »Alexanderschanzengartens« war dadurch motiviert, dass dem Zaren der Bau von Hafenanlagen in diesem Bereich vorschwebte; und zum Namenspatron wurde in diesem Fall Aleksandr Danilovič Menšikov (* 1673, †  1729), der eine Zeit lang gleichrangig mit Feldmarschall Šeremetev die Belagerung von 1710 angeführt hatte: Schon die damals neu angelegte Schanze, die dann ab 1722 in das Gartenareal integriert wurde, war sogleich nach ihm benannt worden. Wie es der Zufall wollte, war Peter auch in der Stadt, als 1721 der Blitz in den erst drei Jahrzehnte zuvor in neuer Gestalt vollendeten Turmhelm Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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der Petrikirche einschlug. Gern wird in diesem Zusammenhang kolportiert, der Zar habe sich persönlich – in welcher Form auch immer – an den Löscharbeiten beteiligt. Der von ihm befohlene Wiederaufbau fand indes erst 25 Jahre später unter der Leitung des 1737 nach Riga gelangten Zimmermanns Johann Heinrich Wülbern (* 1712, † 1750) seinen Abschluss. Wülbern fügte dem prägnanten Erscheinungsbild, das Rupert Bindenschuh diesem Turmhelm Ende des 17. Jahrhunderts gegeben hatte, nichts hinzu; lediglich bei den Abständen von einer Galerie zur nächsten nahm er eine leichte Veränderung der Proportionen vor. Katharina II. (* 1729, † 1796, ab 1762 Zarin), die nach Peter einzige auch dem Beinamen nach »große« Herrschergestalt auf dem Zarenthron, machte ihren Antrittsbesuch in Riga im Juni 1764. Nicht weit von der wieder intakten Petrikirche sah sie hier ein anderes wichtiges Bauprojekt unmittelbar vor seiner Vollendung: 1747 verständigten sich Rat und Kaufmannschaft über die Errichtung eines neuen Rathauses, in dem zugleich eine Börse Platz finden konnte. Diese Art von Nutzungskombination erleichterte es den Rigensern, für ihr Bauvorhaben Spender zu gewinnen, da hinreichende öffentliche Mittel, über die der Rat hätte verfügen können, nicht zur Hand waren. Nachdem jedoch sowohl zahlreiche ortsansässige als auch einige auswärtige Kaufleute Spenden geleistet hatten, war es möglich, 1749 das bisherige Rathaus abzureißen und 1750 den Grundstein für den Nachfolgebau zu legen. Alle unmittelbar an den alten Rathausbau angrenzenden Grundstücke wurden damals mit aufgekauft, so dass der Neubau das gesamte Viertel zwischen Rathausplatz, Kleiner Neustraße (lett. Mazā Jauniela), Kleiner Jungfernstraße (lett. Jaunavu iela) und Kaufstraße (lett. Tirgoņu iela) einnehmen konnte. Die städtebaulichen Voraussetzungen für ein sehr breites und dabei komplett freistehendes Rathaus, wie es seitdem fest zu Rigas Stadtbild gehörte, waren somit keineswegs von jeher gegeben, sondern entstanden erst zu dieser Zeit. Zur Einweihung des Gebäudes im Oktober 1765 bereitete Johann Gottfried Herder (* 1744, † 1803, ab 1802 »von Herder«), für den damals das zweite seiner insgesamt fünf Rigaer Jahre angebrochen war, eine Festschrift vor, die er im Zuge des Einweihungsakts auch als Rede vortrug. Unter dem Titel »Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?« verglich er darin die Bedeutung von Begriffen wie Öffentlichkeit, Staat, Politik und Vaterland in Antike und Gegenwart. Wie diese Begriffe seinerzeit verstanden wurden, kam nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass bei dem neuen Rathaus eine für das damalige Riga völlig neuartige Architektur Anwendung fand. Der zuständige Architekt Jo98  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Rigas Rathausplatz auf einem Aquarell von 1829. Links das Rathaus, das durch sein Mansarddach von 1791 inzwischen etwas anders aussah als bei seiner Einweihung 1765 und das nach 1791 offenkundig rasch zum Vorbild geworden war, was die Wahl von Dachformen an der Ostseite des Platzes anbetraf

hann Friedrich von Oettinger (* 1714, † 1767), der zuvor unter anderem an der Neuerrichtung des Schlosses Christiansborg in Kopenhagen als Gehilfe mitgewirkt hatte, realisierte hier – mit Kalkstein von den Inseln Ösel (estn. Saaremaa) und Gotland als Baumaterial – ein von Barock- und Rokokoformen wie auch bereits von Elementen des Frühklassizismus geprägtes Bauwerk, das ein wenig den gut ein Jahrzehnt früher begonnenen kurländischen Herzogsschlössern in Mitau (lett. Jelgava) und Ruhenthal (lett. Rundāle) ähnelte. Die besonders durch die jeweils flachen Walmdächer begründete Ähnlichkeit schwächte sich allerdings bald ab, da diese Dachform in Riga angesichts rasch eingetretener Witterungsschäden für untauglich befunden wurde. 1791 ließ der Rat stattdessen ein Mansarddach auf das zweigeschossige Gebäude setzen, wodurch zugleich zusätzliche Räume gewonnen wurden. Er folgte damit dem Vorschlag des führenden baltischen Architekten jener Zeit, des gebürtigen Rigensers Christoph Haberland (* 1750, † 1803, 1789–1796 Stadtwerkmeister), der vor allem in Dresden während seiner Ausbildungsjahre entsprechende Dächer vielfach hatte entstehen sehen. Bildlich verewigt sind Anblicke, wie etwa das Rathaus sie damals bot, besonders gut durch die vielfach nachgedruckten Zeichnungen des in Görlitz geborenen Ethnografen Johann Christoph Brotze (* 1742, † 1823). DieVom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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ser kam 1768 nach Riga und publizierte neben seinem bis 1815 ausgeübten Beruf als Lehrer diverse Schriften; vor allem aber hinterließ er jene zehnbändige »Sammlung verschiedner Liefländischer Monumente«, durch die verschiedenste bauliche Gegebenheiten, Wappen, Münzen, Bekleidungsstile und vieles mehr präzise visuell dokumentiert sind. Schon beim bloßen Blick auf Riga erweist sich der dargebotene Bildbestand als unermesslich, da längst nicht nur Bauwerke der eigentlichen Stadt und ihrer damaligen Vorstädte festgehalten sind: Nicht minder abbildenswert erschienen Brotze zum Beispiel die zahllosen Windmühlen um Riga herum, diverse Landstraßen mit den an ihnen gelegenen Gasthäusern sowie insbesondere die seinerzeit über das gesamte heutige Stadtgebiet verteilten Höfe und so genannten Höfchen, die typischerweise Sommerrefugien vermögender Stadtbürger waren. Daneben interessierte Brotze manch frühindustrielles Gebäude aus seiner eigenen Epoche, so etwa eine an der Roten Düna errichtete Zuckerfabrik, die erst entstand, als er bereits selbst in Riga lebte. Bei Bauten wie diesen sind seine Zeichnungen mitunter die einzigen Bilddokumente, die es gibt; bei bedeutenderen Bauten sind sie vielfach diejenigen mit dem höchsten Anschauungswert: Eine Zeichnung Brotzes von 1775 beispielsweise liefert den besten heute verfügbaren bildlichen Eindruck von der frühneuzeitlichen Turmbekrönung des Doms, die 1596 an die Stelle des 1547 niedergebrannten mittelalterlichen Turmhelms getreten war. Diese schloss über den beiden seither prägenden und nahezu unverändert gebliebenen Elementen – der manieristischen Haube und der darüber befindlichen Galerie – mit einer schlanken, beinahe nadelartigen Spitze ab. Schon im Jahr danach, 1776, wurde diese Spitze durch eine kleine Barockhaube ersetzt und dem Domturm damit in etwa sein heutiges Aussehen verliehen. 1786 gingen im Dominnenraum Veränderungen vonstatten, bei denen ein dem rationalistischen Geist jener Zeit geschuldetes Streben nach Klarheit und Helligkeit die Richtung vorgab. Allerlei altes Interieur wurde damals Opfer einer Art Entrümpelung, von der zum Beispiel Brotze deutlich abriet. Seine Kritik verhallte jedoch weitgehend ungehört. Ungefähr zeitgleich mit der Vorbereitung und Durchführung jener Arbeiten am Dom veränderten sich in Riga nach 1770 die Bestattungspraktiken. Begräbnisse im Inneren von Kirchen waren aus Gründen der Seuchenvermeidung fortan nicht mehr zulässig; und aus der Überzeugung heraus, dass in dieser Hinsicht auch von den sehr stadtnahe gelegenen bisherigen Friedhöfen Gefahren ausgingen, kam es 1773 zur Schaffung dreier neuer Friedhöfe. Zwei davon entstanden links der Düna, darunter der Hagensberger Friedhof, später Martinsfriedhof (lett. Mārtiņa kapi) genannt, der 100  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

zunächst vorrangig für Letten, die am linken Flussufer oder auf dem Kiepenholm (lett. Ķīpsala) lebten, vorgesehen und der lettischen Gemeinde an der Johanniskirche unterstellt war, ehe 1851/52 ganz in seiner Nähe die Martinskirche errichtet wurde. – Bereits an ein Ende stieß 1773 auch der Zeitraum, in dem Rigas erster Anatomiesaal existierte. Dieser war 1753 im Gebäude des einst von Franz Nyenstede gegründeten Witwenkonvents eingerichtet worden. Die räumliche Nähe eines Anatomietheaters zu einer Armeneinrichtung hatte ihre Logik darin, dass die Bereitstellung der zu sezierenden Leichname primär aus den Armenhäusern heraus erfolgen sollte. Der dritte und weitaus größte unter den neuen Friedhöfen war der an den nordöstlichen Ausläufern der damaligen Stadt gegründete so genannte Große Stadtfriedhof (lett. Lielie kapi). Dieser wurde übersichtlich zwischen den verschiedenen Pfarreien und Religionsgemeinschaften aufgeteilt: Jede der evangelisch-lutherischen Gemeinden der Stadt erhielt ihr jeweiliges Stück Fläche; daneben blieben Flächen für Katholiken, Orthodoxe und Altgläubige reserviert. Eine Gliederung im gestalterischen Sinne stand damit allerdings noch aus. Sie erfolgte, als der Friedhof bereits rund 50 Jahre alt war, und orientierte sich entsprechend an klassizistischen Prinzipien. Bedarf, nochmals in großem Umfang Friedhofsgelände zu erschließen, zeichnete sich danach erst wieder gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab: 1904 erwuchs hieraus eine gemeinsame Initiative von Dom-, Petri-, Gertruden- und Reformierter Gemeinde, die zur Schaffung des noch großzügiger zugeschnittenen Waldfriedhofs (lett. Meža kapi) führte. Die Erwähnung von Katholiken im Zusammenhang mit der Aufteilung des Großen Stadtfriedhofs führt zu der Frage nach deren damaligem Gotteshaus. De facto besaß die anfangs kleine katholische Gemeinde, die sich in Riga während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte, ab 1761 zunächst nur eine winzige Holzkirche – errichtet auf einem Grundstück, das durch Zuschüttung des Grabens, der bis dahin Schloss und Stadt voneinander getrennt hatte, verfügbar geworden war. Der Anblick dieses bescheidenen Gottesdienstraums scheint nicht zuletzt Kaiser Joseph II. betrübt zu haben, als er 1780 Riga besuchte. Ebenso wie andere Herrscher katholischen Glaubens, darunter Stanisław II. August Poniatowski (* 1732, † 1798, 1764–1795 König von Polen und Großfürst von Litauen), erhörte der Habsburger daher nur allzu bereitwillig die Bitte um Spenden für einen steinernen Kirchenbau. Lanciert wurde sie vom damaligen Generalgouverneur, der selbst Ire und somit Katholik war und von dem hier im Kontext der politischen Reformbestrebungen jener Jahre noch näher die Rede sein wird. 1784/85 erhielt Riga am Rande des zeitgleich angelegten Schlossplatzes so jedenfalls seinen ersten festen kaVom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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Ausschnitt aus einer Zeichnung Johann Christoph Brotzes, die die Kirche der Schmerzensreichen Gottesmutter in ihrer klassizistischen Ursprungsform und mit ihrem seinerzeit auf den Schlossplatz ausgerichteten Altarraum zeigt

tholischen Kirchenneubau seit der Reformation. Dass als Schutzherrin die »Schmerzensreiche Gottesmutter« gewählt wurde, durfte als Hinweis auf die Lage des Katholizismus in Livland verstanden werden – jenem Livland, das Jahrhunderte zuvor ja einmal zum Marienland erklärt worden war. Die klassizistischen Formen, in denen das Bauwerk errichtet wurde, wichen ein Dreivierteljahrhundert später prägnanterweise einer vollständig 102  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

neoromanischen Außenform. Zugleich verlor die Kirche bei diesem Umbau ihre Besonderheit, dass sich unter dem Turm, den man um einer harmonischen Schlossplatz-Gestaltung willen im Osten statt im Westen platziert hatte, bis dahin die Apsis mit dem Altar befand, damit wenigstens die Innenaufteilung den Regeln entsprach. Um im Inneren stattdessen die Art von Aufteilung herzustellen, die das Äußere suggerierte, wurde also der Altar um 1860 nach Westen versetzt, auch wenn dies eine noch klarere Missachtung der üblichen Bauregeln bedeutete. Das Aussehen von vor 1860 ist selbst bei diesem Bauwerk durch nichts so gut überliefert wie durch eine Zeichnung Johann Christoph Brotzes. Im Hinblick auf orthodoxe Kirchen, die in Rigas Vorstädten bereits vor 1800 vorhanden waren, verhält es sich sogar so, dass Brotzes Sammlung als die wertvollste Quelle gilt, wenn es darum geht, Anzahl und Lage dieser Gotteshäuser zu bestimmen; denn ansonsten lässt die Überlieferungslage zu den frühesten orthodoxen Kirchen, die Riga außerhalb der heutigen Altstadt besaß, viel zu wünschen übrig. Klar scheint zu sein: Orthodoxe Gottesdienste wurden insbesondere vor dem südöstlichen damaligen Stadttor, der Karlspforte, bereits im 17. Jahrhundert abgehalten – meist von Mönchen aus Polock, die alljährlich während der Wintermonate wieder dorthin zurückkehrten. Russische Kaufleute konnten ihren Glauben somit vollauf praktizieren, es sei denn, sie blieben über Winter. In seiner eigenen Rigaer Zeit sah Brotze bald zwei der stattlichsten orthodoxen Kirchenbauten, die im Umfeld der Stadt je errichtet wurden, Gestalt annehmen: 1772 begannen zunächst die Arbeiten an einer Kirche mit hohem Turm innerhalb der Festung Dünamünde, ehe wenige Jahre später innerhalb der Zitadelle ein Gotteshaus für die Garnison, das dort in den 1720er Jahren aus dem Vorgänger-Kirchenbau der Schweden entstanden war, durch die architektonisch geschmackvolle Kirche St. Peter und Paul abgelöst wurde. Letztere genoss ab 1786 ein Jahrhundert lang den Status einer orthodoxen Kathedrale. Die gesamten gut 200 Jahre der Zarenherrschaft hindurch zählte zu Rigas orthodoxen Kirchenbauten ferner St. Maria Magdalena, die Kirche des einstigen Zisterzienserinnenklosters. Während der Schwedenzeit hatte auch sie als Garnisonkirche gedient, war dann 1710 weitgehend zerstört worden und konnte so um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine äußere Form erhalten, mit der sie sich von typischen orthodoxen Kirchenneubauten jener Zeit höchstens noch durch ihre Spitzbogenfenster unterschied. Erst seit diesem Umbau befindet sich ihr Turm am westlichen Gebäude-Ende; ihr alter Turm hatte dem der Jakobikirche unmittelbar gegenübergestanden. Was unterdessen Profanbauten zum Wohle der örtlichen Russen betrifft, bleibt das in den 1780er Jahren geschaffene »Katharinäum«, Rigas Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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Die äußere Gestalt des Schlosses zwischen 1682 und 1783. Im Vordergrund das unter schwedischer Herrschaft angefügte Zeughaus

erste russische Schule, hervorzuheben. Der damalige Schulneubau inmitten der Moskauer Vorstadt sank allerdings, ebenso wie sämtliche zu dieser Zeit noch hölzernen Kirchengebäude, bereits 1812 in Schutt und Asche, als aus Sorge, Truppen Napoleons könnten sich der Stadt nähern, ein letztes Mal die Rigaer Vorstädte niedergebrannt wurden. Für die Schule, an der Brotzes eigenes Berufsleben angesiedelt war, das Kaiserliche Lyzeum, wurde ein neues Gebäude am schon erwähnten Schlossplatz errichtet: Nachdem 1783 im alten, noch während der Schwedenzeit errichteten Lyzeumsgebäude von 1675, das den an die Südseite der Jakobikirche stoßenden Bereich zwischen Klosterstraße, Kleiner Schlossstraße und Jakobstraße einnahm, Gewölbeteile eingestürzt waren, erfolgte 1785 die Grundsteinlegung für einen Neubau neben dem 1763 eröffneten »Petersburger Hotel«. Lyzeum und Hotel wurden demnach für würdig befunden, gemeinsam mit dem ab 1783 an die Stelle des Zeughauses von 1682 getretenen neuen Schlossflügel ein und denselben Platz zu umrahmen, wobei der Schlossflügel sie allerdings an Höhe übertraf. Er wurde zur Unterbringung der höchsten Gerichte im damaligen Livland benötigt und stellte aus Sicht Katharinas der Großen gewiss den bedeutendsten Beitrag ihrer Herrschaftsjahre zum Stadtbild Rigas dar.

Wandlungen im Geistesleben der Stadt

Ideen der Aufklärung fanden in Riga besonders über die Domschule Verbreitung, die bis 1765 unter der Leitung des nachmaligen Königsberger 104  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Das Schloss nach der von Katharina II. veranlassten Errichtung eines dreigeschossigen neuen Flügels an der Stelle des vormaligen Zeughauses

Universitätsprofessors Johann Gotthelf Lindner (* 1729, † 1767) stand. Diskutiert wurden sie derweil vor allem in einem Kreis um den Ratsherrn Johann Christoph Berens (* 1729, † 1792), der sich üblicherweise in Räumlichkeiten von dessen Bruder Carl Berens (* 1725, † 1789), dem damaligen Ältermann der Großen Gilde, zusammenfand. Gast im Haus der Familie Berens war seinerzeit der Dichter Johann Georg Hamann (* 1730, † 1788); ihn sowie Lindner hatte Johann Christoph Berens zuvor in Königsberg kennen gelernt. Von dort kannte Hamann wiederum bereits Johann Gottfried Herder, der 1764, also noch unter Lindner, Lehrer an der Domschule wurde. Herder wirkte darüber hinaus als Prediger an zwei Vorstadtkirchen, ehe er Riga 1769 wieder verließ. Ein zentraler Kopf im »Berensschen Kreis« jener Jahre war ferner der ebenfalls aus Königsberg übergesiedelte Johann Friedrich Hartknoch (* 1740, † 1789), bei dem die Werke Kants, Hamanns, teilweise auch Herders und vieler anderer verlegt wurden. Hartknochs Geschäft befand sich in etwa dort, wo die (seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht mehr existente) Kleine Brauerstraße (lett. Mazā Aldaru iela) auf die Große Sandstraße (lett. Smilšu iela) mündete. Neben den Genannten könnten noch etliche weitere Personen als Mitglieder des »Berensschen Kreises« aufgezählt werden – Ratsherren ebenso wie Kaufleute und einzelne Künstler. Hervorhebenswert erscheint dabei der früh verstorbene Nikolaus Himsel (* 1729, † 1764, ab 1754 »von HimVom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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sel«), dessen auf Reisen zusammengetragene Kunst- und Naturaliensammlung nach seinem Tod zum Grundstock des Rigaer Stadtmuseums wurde. Jenes 1773 gegründete Museum wiederum, auf dessen Fortführung als »Dommuseum« (seit 1890) sowie als »Rigaer Museum für Geschichte und Schifffahrt« (lett. »Rīgas vēstures un kuģniecības muzejs«, seit 1964) noch einzugehen sein wird, konnte sich später rühmen, das älteste Museum der Ostseeprovinzen zu sein bzw. als Einziges Wurzeln aufzuweisen, die unmittelbar in das Aufklärungszeitalter zurückreichen. 1773 wurde es zunächst in dem vormaligen Anatomikum untergebracht, das 1753 im Gebäude des von Franz Nyenstede gestifteten Witwenheims an der Großen Schmiedestraße (lett. Kalēju iela) entstanden war. Aufgrund seiner im Hause Berens gewonnenen Kontakte kam beispielsweise Herder auch erstmals mit der Freimaurerei in Berührung. Die Gründung der ersten Rigaer Freimaurerloge durch zwei hiesige Kaufleute, die offenbar in Sankt Petersburg als Mitglieder der dortigen Loge »Zur Verschwiegenheit« Freimaurer geworden waren, lag zu diesem Zeitpunkt kaum eineinhalb Jahrzehnte zurück. Als Herder 1766 in jene Loge aufgenommen wurde, trug sie den Namen »Zum Schwert«. Ihr Gründungsname soll neueren Forschungen zufolge »Zum Polarstern« gelautet haben, was allerdings nur einen geringfügigen Unterschied gegenüber der bisher für authentisch gehaltenen Lautung »Zum Nordstern« bedeuten würde. Für andere damals entstandene Rigaer Freimaurerlogen sind die Namen »Apollo«, »Castor«, »Zur kleinen Welt«, »Konstantin zum gekrönten Adler« sowie »Astraea« überliefert. Der vielleicht prominenteste örtliche Freimaurer neben Herder und Hartknoch war der im übernächsten Unterkapitel noch zu würdigende Theatermäzen Otto Hermann von Vietinghoff (* 1722, † 1792, ab 1787 Generaldirektor des allrussischen Medizinalkollegiums). Eine Nennung weiterer Namen erübrigt sich, da Freimaurerei im Zarenreich bereits 1794 ein erstes Mal verboten wurde. 1796 wurden zuvor inhaftierte Freimaurer zwar freigelassen, bald allerdings erneut diskreditiert, ehe 1801 eine Renaissance des Logenwesens einsetzte, an deren Ende 1822 das endgültige Verbot stand. Diesen zickzackartigen Niedergang verkürzte im Falle Rigas der Umstand, dass zum Beispiel die Jugenderziehungsarbeit, der die hiesigen Logen sich vor ihrer Auflösung Mitte der 1790er Jahre verschrieben hatten, ab 1802 ohnehin von einem anderen Zusammenschluss, nämlich der »Literärischpraktischen Bürgerverbindung«, getragen wurde. Deutlich jüngere Mitglieder als der Kreis um Berens hatte der rund zwei Jahrzehnte später entstandene »Prophetenclub«. Auch ihm gehörten Personen an, die im Rahmen baltischer Geschichte erheblichen Nachruhm ge106  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

nießen – allen voran der Publizist Garlieb Merkel (* 1769, † 1850). In der Phase der allmählichen Auflösung dieses Kreises, die Mitte der 1790er Jahre begann, verfasste Merkel sein 1797 in Leipzig gedrucktes Werk über die Letten, in welchem er diese ethnographisch porträtierte, sich vor allem aber eindringlich mit deren Misshandlung auf vielen damaligen Gutshöfen auseinander setzte. Merkels Manuskript wurde schon im Vorhinein Karl Gottlob Sonntag (* 1765, † 1827) zugänglich, der im Dezember 1795 als Pastor an der Jakobikirche, seinerzeit einer »Kronskirche« und damit Staatseigentum, eine flammende Predigt über die Lage der Bauern hielt, wobei seine Zuhörer die Mitglieder des livländischen Landtags waren. Sonntag war Ende der 1780er Jahre zunächst zum Rektor des Lyzeums berufen worden, stieg 1803 sogar zum Generalsuperintendenten von Livland auf und zählte so zu den bedeutendsten baltischen Kirchenmännern jener Epoche, gehörte selbst allerdings nie dem »Prophetenclub« an. Dieser wiederum diskutierte neben der nicht nur von Merkel und Sonntag erkannten Notwendigkeit, die Lebensumstände der Landbevölkerung zu verbessern, sehr oft auch die Entwicklung des zeitgenössischen Theaters. Carl Graß (* 1767, † 1814), einer der leidenschaftlichsten Schiller-Anhänger und zugleich einer der beiden engsten Freunde Merkels in den Reihen des Clubs, verbrachte bald nach dessen Gründung zunächst drei Studienjahre in Jena, wo er persönliche Kontakte zu Schiller knüpfte. Uneinheitlich waren die Einstellungen der einzelnen Mitglieder zu dem, was ziemlich genau in den Jahren der Existenz ihres Clubs politisch in Riga vonstatten ging. Merkel zum Beispiel begrüßte die damaligen Neuerungen hinsichtlich der Stadtverfassung; anderen waren sie weniger geheuer. Zwecks Nachzeichnung der Entwicklung hin zu diesen Neuerungen bedarf es im Folgenden zunächst eines Rückblicks um mehrere Jahrzehnte. Politische Modernisierungsversuche in der Zeit   Katharinas der Großen

1767 – immerhin schon zwei Jahre vor der Abreise des jungen Herder aus Riga – trat eine von Katharina II. berufene Gesetzeskommission zusammen. Deren Arbeit sollte der Zarin helfen, dem Bild einer aufgeklärten Monarchin gerecht zu werden, die das Wohlergehen möglichst vieler ihrer Untertanen durch möglichst effektive Reformen zu steigern versteht und deren Herrschaftsanspruch gerade hierdurch legitimiert ist. Der russisch-türkische Krieg der Jahre 1768–1774 verzögerte die weitere Tätigkeit der Kommission Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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und damit indirekt auch den Zeitpunkt, ab dem die Ergebnisse dieser Tätigkeit Auswirkungen auf Riga oder andere baltische Städte zeitigen konnten. Als es hierzu schließlich kam, geschah dies bereits unter gewissen Einflüssen einer in der Zwischenzeit zusehends deutlicher konturierten herderschen Staatslehre. In Katharinas Gesetzeskommission saßen nicht zuletzt 14 Vertreter Livlands und Estlands – Städter wie auch Adlige. Nicht zu jeder Zeit dürften sie mit einer Stimme gesprochen haben; einig waren sie sich jedoch in der Erkenntnis, wie fundamental die beabsichtigten Reformen an den bisherigen Strukturen ihrer Heimatprovinzen rüttelten. Die am Ende der Kommissionsarbeit verabschiedeten neuen Ordnungen für Adel und Städte traten danach zunächst nur im eigentlichen Russland in Kraft. Erst zehn Jahre später, 1785, wurden sie ebenso in den beiden Ostseeprovinzen eingeführt. In Vorbereitung dieses Schritts kam in Livland und Estland, die bis 1775 als eigenständige Gouvernements verwaltet, dann jedoch bereits zu einem Generalgouvernement verschmolzen worden waren, ab Juli 1783 die so genannte Statthalterschaftsverfassung zur Anwendung. Die Zarin war, als sie diese hatte ausarbeiten lassen, ganz wesentlich den Ratschlägen eines Balten, nämlich des gebürtigen Estländers Jakob Johann von Sievers (* 1731, † 1808), gefolgt, was im Hinblick auf regionalspezifische Interessen aber kaum nennenswerte Bedeutung hatte: Durch die Statthalterschaftsverfassung sollte vielmehr eine Vereinheitlichung von Recht und Verwaltung im gesamten Reich zuwege gebracht werden. Katharinas verlässlichste Stütze bei der Übertragung ihrer Reformen auf die Ostseeprovinzen war der noch vor ihrer eigenen Thronbesteigung in sein dortiges Amt gelangte Georg Browne (* 1698, † 1792, 1762–1775 Generalgouverneur von Livland, 1775–1783 Generalgouverneur von Livland und Estland, ab 1783 Statthalter von Livland und Estland), der gebürtig aus der irischen Grafschaft Limerick stammte und sich seit 1730 in russischen Diensten befand. Mit der Militärlaufbahn, die hinter ihm lag und die mit einer schweren Verwundung im Siebenjährigen Krieg geendet hatte, stand Browne prototypisch für die Art von Charakteren, die der Herrscherin ideal erschienen, damit aus Gouverneuren tatsächliche »Statthalter« des Zarenreichs werden konnten. Um die geistigen und materiellen Ressourcen dieses Reiches besser als bisher zu mobilisieren und es zugleich besser als bisher vor Aufständen zu wappnen, sollte mittels der neuen Verfassung staatsbürgerliches Empfinden bei vielen, die sich bis dato allenfalls als Stadt-, nicht jedoch als Staatsbürger gefühlt hatten, geweckt werden. Institutionen wie der Rat und die Gilden 108  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Rigas, ihrerseits geradezu eine Verkörperung des Gegenteils von Gewaltenteilung, standen diesem Ansinnen naturgemäß im Wege; ihre Tage schienen deshalb gezählt. Vergeblich wurde um 1785 versucht, der Zarin darzulegen, ihre Reformen seien, so unbestritten sie für das übrige Reich einen Sprung nach vorn markierten, auf die baltischen Städte kaum adaptierbar. Ohne dass Katharina in irgendeinem Punkt nachgab, ließ sie die Rigenser mit Nachdruck zur Einführung der neuen Stadtordnung auffordern. Diese minimierte unter anderem die dem Rat bis dahin zugekommenen Rechtsprechungsbefugnisse, was schon für sich genommen einen radikalen Bruch mit den Traditionen signalisierte: Als Herders zwei Jahrzehnte zuvor gehaltene Rede zur Einweihung des neuen Rigaer Rathauses im Druck erschien, wurde ihr noch der Untertitel »Eine Abhandlung zur Feier der Beziehung des neuen Gerichtshauses« beigefügt, einfach weil an den Rat der Stadt von jeher völlig selbstverständlich die Gerichtsbarkeit gebunden war. Die Wörter »Rathaus« und »Gerichtshaus« klangen daher für niemanden so, als bezeichneten sie Unterschiedliches. Gerade in den frühneuzeitlichen Jahrhunderten hatten sich Justiz und Verwaltung in Riga aufs Engste miteinander verwoben, nachdem das mittelalterliche Amt des Stadtvogtes weggefallen und dessen richterliche Kompetenz, nun widergespiegelt in der Amtsbezeichnung »Gerichtsvogt«, an einen der Bürgermeister übergegangen war. Dem neuen Stadtmagistrat, der 1786 an die Stelle des alten Rates trat und der sich aus für je drei Jahre amtierenden Wahlbeamten zusammensetzte, verblieben dagegen nur mehr erstinstanzliche Rechtsentscheidungen in minder wichtigen Angelegenheiten. Als zweite und dritte Instanz wurden ihm der so genannte »Gouvernementsmagistrat« sowie der »Gerichtshof« übergeordnet. Beide gliederten sich jeweils in ein Zivil- und ein Kriminaldepartement. Vierte und letzte Instanz im Rahmen der neuen Ordnung war der »Senat«. Mochte die alte Stadtverfassung bis zu einem gewissen Grade plutokratische Verhältnisse gefördert haben, so generierte die neue Stadtordnung ein mangels größerer Privatvermögen vor allem karriereeifriges Führungspersonal, das im Vergleich zu vielen Vertretern der bisherigen Ratsherrenschicht nicht ganz so glaubhaft hätte behaupten können, all sein Tun stelle nach eigener innerster Überzeugung einen Dienst am Gemeinwohl dar. Frei von plutokratischen Zügen war derweil auch die neue Stadtordnung nicht; denn ging es zum Beispiel um die Besetzung des wichtigen neuen Amtes des »Stadthaupts«, so waren nur Gildekaufleute der ersten und zweiten Steuergilde wahlberechtigt. Die Begriffe »Gildekaufmann« und »Steuergilde« hatten in diesem Fall nur indirekt etwas mit den traditionellen Rigaer GilVom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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den zu tun, deren Bedeutung durch die neue Stadtordnung gerade erst aus den Angeln gehoben worden war. Ersterer Begriff war vielmehr im Zusammenhang mit grundsätzlichen Bemühungen seit der Zeit Peters des Großen, alle Handeltreibenden systematisch zu erfassen, aufgekommen; und seit 1742 galt hierbei eine nach Berufsstand und persönlichem Mindestkapital vorgenommene Einteilung in drei Gilden im Sinne von Steuerklassen. Welcher Gilde bzw. Steuerklasse er sich zugehörig fühlte, hatte jeder Betroffene selbst zu entscheiden – eine Rechnung, die finanzpolitisch insofern aufging, als mit den unterschiedlichen Steuerklassen auch Unterschiede bei den Handelsberechtigungen verbunden waren. Jenes Recht der unüberprüften Selbsteinschätzung – eigentlich als ein moralisch wertvolles Gut in Ehren gehalten – stiftete seit der Einführung der neuen Stadtordnung plötzlich allerlei Verwirrung. Bei den Wahlen zu neu geschaffenen Gremien wie dem »Allgemeinen Stadtrat« sollten nämlich grundsätzlich alle Bürger stimmberechtigt sein; dem Wahlakt ging jedoch eine Einteilung in sechs Kategorien bzw. »Klassen« von Bürgern voraus. Aus Sicht der Traditionalisten verband sich dabei schon mit dem Begriff »Bürger« eine Provokation, denn mindestens so folgenreich wie die Loslösung der Justiz von der Verwaltung dürfte ihnen die staatlich verordnete Aufhebung des Zunftzwangs erschienen sein: Das Bürgerrecht genoss nun gewissermaßen jeder, der in der Stadt einen festen Wohnsitz hatte und einer eigenständigen Tätigkeit nachging. Je nach Selbstdefinition hatte er sich, was die sechs Bürgerklassen betraf, der die Haus- und Grundbesitzer umfassenden ersten Klasse, der die Kaufleute aller drei Steuergilden umfassenden zweiten Klasse, der zunftangehörige Handwerker umfassenden dritten Klasse, der aus stadtfremden, nur vorübergehend in Riga wohnhaften Kaufleuten – so genannten »Gästen« – gebildeten vierten Klasse, der aus so genannten »namhaften Bürgern« (ehemaligen Bürgermeistern und Ratsherren, Gelehrten, Künstlern, Großhändlern, Bankiers usw.) gebildeten fünften Klasse oder der aus den »Beisassen« – das heißt vor allem Handwerkern ohne Zunftmitgliedschaft – gebildeten sechsten Klasse zuzuordnen. Dass es zahlreiche Fälle von Überschneidungen zwischen diesen Definitionsmöglichkeiten gab, liegt auf der Hand. Der aus den sechs Wahlkurien heraus bestimmte »Allgemeine Stadtrat« wählte, da er seinerseits nur selten zusammenkam, einen »Sechsstimmigen Stadtrat« als Exekutivausschuss, bei dessen Zusammensetzung sich, wie der Name schon erahnen lässt, kein zahlenmäßiges Wahlergebnis, sondern allein das Prinzip der Repräsentation aller sechs Bürgerklassen niederschlug. Zu Mehrheitsentscheidungen war der »Sechsstimmige Stadtrat« dadurch fähig, dass ihm das Stadthaupt vorstand und von Letzterem eine siebte Stimme 110  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

in die Waagschale geworfen werden konnte. Auch für diese Stadtverfassungsorgane wurden die oben im Zusammenhang mit dem Stadtmagistrat schon angesprochenen dreijährigen Wahlperioden festgeschrieben. Ob die 1785 erlassene Stadtordnung tatsächlich einen durch Emporkömmlinge verursachten Sittenverfall auslöste, wie er von manchen Rigensern noch Jahrzehnte später beklagt wurde, sei dahingestellt. Zu einem Fehlschlag entwickelte sich die Reform jedenfalls einerseits aufgrund einer starken Verweigerungshaltung der alten Eliten, die sich zum Teil aus dem öffentlichen Leben zurückzogen, sowie andererseits dadurch, dass viele der neuen Einflussträger sich in Anbetracht der Reserviertheit, die ihnen entgegenschlug, auch ihrerseits kaum angespornt sahen, ein Optimum an Tatkraft zu beweisen. Hinzu kam, dass das selbstbewusste Auftreten vieler, die gerade erst zu Bürgern aufgestiegen waren, keineswegs nur in höheren Kreisen für Unmut sorgte, sondern ebenso bei den in Zünften organisierten Handwerkern, denen die plötzliche Legitimierung des »Bönhasentums« aufstieß. Katharinas wohlmeinende Intention, Städten wie Riga und Reval, die in ihrer wirtschaftlichen Konkurrenz gegenüber Sankt Petersburg immer weiter zurückzufallen drohten, zu einer erfolgreicheren Ausschöpfung ihrer Potenziale zu verhelfen, trug insofern nicht die erhofften Früchte. 1796, nach dem Tod Katharinas der Großen und dem Regierungsantritt ihres Sohnes Paul (* 1754, † 1801, ab 1796 Zar), trat zur Erleichterung vieler Rigenser die neue Stadtordnung binnen kürzester Zeit außer Kraft und die althergebrachte Stadtverfassung wieder an ihre Stelle. Wer in den vorangegangenen elf Jahren aufgrund der Art, wie er ein jeweiliges Amt ausgefüllt hatte, zu Anerkennung gelangt war, wurde nun meist gebeten, auch weiterhin für Bürgermeister- oder ähnliche Funktionen zur Verfügung zu stehen; insoweit gab es bei dieser Rückkehr zum alten Verfassungsrahmen tendenziell mehr Personalkontinuitäten als zuvor beim Übergang zur neuen Stadtordnung. Pauls »Restitutionsukas« beseitigte in den Ostseeprovinzen allerdings nicht ausnahmslos alles, was in Verbindung mit der Statthalterschaftsverfassung neu eingeführt worden war. Bewährt hatte sich zum Beispiel das »Kollegium der allgemeinen Fürsorge«, eine Einrichtung zur besseren Organisation und Finanzierung der Kranken- und Armenversorgung sowie zur Beaufsichtigung des Schulwesens. Bis zur Justizreform von 1889 blieb darüber hinaus auf verschiedenen Ebenen bis hin zum Gouvernementsprokureur die so genannte Prokuratur erhalten, deren Funktionen teilweise denen einer Staatsanwaltschaft glichen; und auch der allmähliche Abbau der städtischen Polizeihoheit, der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter voranschritt, hatte durch die Reformen Katharinas II. unwiderruflich begonnen. Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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Als Ausdruck des Weiterwirkens von Ideengut der Aufklärung nach dem Ende einer vielen Rigensern falsch vorgekommenen Art, derlei Ideengut politisch umzusetzen, lässt sich die deutliche Zunahme gemeinnützigen Bürgerengagements in der Zeit um 1800 verstehen. Koordiniert wurde dieses vielfältige Engagement von der 1802 gegründeten »Literärisch-praktischen Bürgerverbindung«, die vorübergehend mehrere Schulen unterhielt, darüber hinaus die Betreuung von Waisen, Blinden und Taubstummen verbesserte und sogar Volksküchen sowie ein Nachtasyl betrieb. Hatten Einrichtungen wie etwa ein Waisenhaus sich bis dahin durch Einnahmen aus der Vermietung ihrer Keller und Dachböden, aus Straßen-, Haus- und KlingelbeutelKollekten, aus Erbschaften, die wiederum für das Vergeben von Anleihen an die öffentliche Hand, den »Stadtkasten«, genutzt werden mochten, und aus manch Sonstigem finanziert, so wurde ihnen die Last, sich eine derart vielgliedrige Einnahmenmischung schaffen zu müssen, nunmehr großteils abgenommen. Ihre Versorgung sollte nie mehr hinter den Standard zurückfallen können, der ihnen zwischenzeitlich bereits durch Verbesserungen während der Jahre der Statthalterschaft zuteil geworden war – darin bestand das offenkundige Ziel. Ein von der »Bürgerverbindung« ins Leben gerufener Kunstverein legte daneben bereits Teile der Sammlungen an, über die rund ein Jahrhundert später das Dommuseum sowie das städtische Kunstmuseum verfügten. Nicht mehr gefordert war man dagegen im Bereich des Theaters: Dessen Entwicklung hatte zwei Jahrzehnte zuvor eine günstige Wendung genommen und verdient an dieser Stelle ein eigenes Unterkapitel mit Ausblicken bis in die Zeit um 1840. Die Anfänge des Rigaer Theaterwesens

Dass Riga schon im 18. Jahrhundert ein ständiges Theater bekam, verdankte es dem schon erwähnten Otto Hermann von Vietinghoff, der alle damit verbundenen Kosten als Privatmann aufbrachte. Als Mäzen machte der 1756 in der Stadt wohnhaft gewordene Vietinghoff schon dadurch von sich reden, dass er gern zu Soireen einlud und hierfür eigens ein 24-köpfiges Orchester finanzierte. Umso mehr missfiel es ihm, das örtliche Theaterleben bis in die 1760er Jahre auf gelegentliche Gastspiele umherreisender Schauspielergruppen, die in der Regel eher notdürftig in einem Ratsspeicher nahe der Küterpforte Quartier nehmen mussten, beschränkt zu sehen. Im September 1782 konnte das feste Theatergebäude, das Vietinghoff in der damaligen Großen Königstraße (der heutigen Riharda Vāgnera iela) errichten ließ, schließlich 112  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

mit einer Aufführung von Lessings »Emilia Galotti« eröffnet werden. Direktor des Hauses war zunächst Vietinghoff selbst; offiziell nahm er diese Funktion jedoch nur bis 1784 wahr. Einer gänzlichen Umorganisation bedurfte es 1787, als Katharina II. dem kunstsinnigen Deutschbalten das höchste Amt im Gesundheitswesen des Zarenreichs übertrug und ihn dazu nach Sankt Petersburg berief. Vietinghoff gründete damals die »Gesellschaft der Muße«, die fortan als Mieterin des Hauses auftrat, ehe sie 1815 sogar dessen Eigentümerin wurde. Auch das Gebäude selbst mit seinem 500 Zuschauer fassenden Hauptsaal und mehreren kleineren Musiksälen wurde im Volksmund nun oft einfach »Muße« genannt. Ob sein Architekt tatsächlich der nur 100 Meter entfernt – an der Ecke zur heutigen Teātra iela (Theaterstraße) – geborene Christoph Haberland war, lässt sich nicht eindeutig feststellen, auch wenn vieles dafür spricht. In diesem Fall wäre es eines von Haberlands bedeutendsten Rigaer Werken nach dem Stadtbibliothekssaal im Bereich des Domkreuzgangs. Eine beachtliche Bibliothek wurde übrigens auch von der »Muße« angelegt – als eine von mehreren so genannten Gesellschaftsbibliotheken, zu denen bald darauf auch diejenigen der 1796 gegründeten »Gesellschaft Ressource« und der 1797 gegründeten »Euphonie« zählten. Die Schiller-Begeisterung im deutschsprachigen Raum, die mit den Neuerungen im Theaterleben der Stadt zeitlich zusammenfiel, erfasste auch Riga so stark, dass hier mehrere Dramen Schillers noch in demselben Jahr, in dem sie ihre Premieren in Mannheim oder Hamburg erlebt hatten, ein erstes Mal aufgeführt wurden. Einige der in dieser Anfangsphase engagierten Schauspieler, die zum Teil aus Städten wie Weimar, Leipzig und Berlin stammten, schlossen sich dem schon erwähnten »Prophetenclub« an. Für die Position des Theaterdirektors verpflichtete die »Gesellschaft der Muße« in der Folgezeit unter anderem den Dichter und Schauspieler Karl von Holtei (* 1798, †  1880), der allerdings, bedingt durch den unerwarteten Tod seiner Frau, nur knapp zwei Jahre in Riga blieb. Noch vor seiner Abreise dorthin bestellte Holtei 1837 bei einem Treffen in Berlin den jungen Richard Wagner (* 1813, † 1883) zum künftigen Kapellmeister des Rigaer Theaters. Auch dieser verbrachte hier – an dem »im fernen Norden« befindlichen »entlegenen Orte« (so die Umschreibungen Wagners in seinen Lebenserinnerungen) – lediglich zwei Jahre. Schon bald nach Aufnahme seiner Tätigkeit kühlte sich das Verhältnis zwischen ihm und Holtei nämlich stark ab, so dass eine Vertragsverlängerung für Wagner ausgeschlossen schien. Aufgrund entsprechender Vorkehrungen Holteis änderte daran auch dessen plötzliches Dienstende kaum etwas. Wagner zog es daraufhin vor, seinen ZweijahresverVom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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trag ebenfalls vorzeitig aufzulösen und sich auf abenteuerlichen Wegen vor Gläubigern aus seinen vorangegangenen Zeiten in Magdeburg und Königsberg in Sicherheit zu bringen. In Riga arbeitete er bis zu diesem Zeitpunkt an seiner Oper »Rienzi«, die er eigenem Bekunden zufolge aber niemals hier hätte uraufführen wollen. Die Kapellmeister des Stadttheaters sollten neben international bekannten zwar von Zeit zu Zeit auch selbst komponierte Opern zur Aufführung bringen; für »Rienzi« jedoch war die Rigaer Bühne nach Wagners Empfinden viel zu klein, fand er doch selbst in Mitau, wo den Sommer über gastiert wurde, mehr Bühnenraum vor als eben in Riga. Zudem schlug seine anfängliche Sympathie für das »durchaus zutrauliche deutsche Element« und für die Art, wie es das Theater mit Mitteln ausstattete, allmählich in Abneigung um, und dies nicht allein, weil er sich selbst trotz allem für unterbezahlt hielt. Zusätzliche Einnahmen, durch die es ihm bis 1839 gelang, seine Gläubiger ruhig zu stellen, erwirtschaftete Wagner jedenfalls durch privaten Musikunterricht, für den es dank der damaligen Hausmusik-Begeisterung vieler Rigenser genügend Nachfrage gab. Ähnlich distanziert, wie Wagner sich über das örtliche Bürgertum äußerte, tat dies auch Clara Schumann (* 1819, † 1896) in ihren Tagebucheinträgen bezüglich einer Konzertreise nach Russland, die Anfang 1844 mehrere Gastspiel-Abende in Rigas Schwarzhäupterhaus mit einschloss. Zu einer angenehmeren Jahreszeit, nämlich im Mai, lernte drei Jahre später der Franzose Hector Berlioz (* 1803, † 1869) die Stadt kennen und gab ein Konzert, das seinen eigenen Angaben zufolge von 130 Frauen und nur sieben Männern besucht wurde. Mag dies zunächst viel über typische Tagesabläufe und Lebensgewohnheiten in einer Handelsmetropole besagen, so scheint der Kulturbetrieb qualitativ jedenfalls nur selten unattraktiv gewesen zu sein. Selbst dazu könnte man noch einmal Berlioz zitieren, dem eine Aufführung von Shakespeares »Hamlet«, die er während seines RigaAufenthaltes als Zuschauer im Stadttheater miterlebt hatte, einiges Lob wert war. Die heute für niemanden mehr verwunderliche Umbenennung der einstigen »Muße« in »Richard-Wagner-Saal« und der vorbeiführenden Straße in »Richard-Wagner-Straße« (lett. »Riharda Vāgnera iela«) sollte erst in den letzten Jahren der Sowjetunion politisch umsetzbar werden. Immerhin schon 1958 wagte zwar der damalige Kulturminister der Lettischen SSR die Anregung, Wagners 75. Todestag zum Anlass zu nehmen, beispielsweise eine Straße entsprechend zu benennen. Jedoch drang dieser Vorstoß nicht einmal an die Öffentlichkeit durch; hatte es eine Richard-Wagner-Straße in Riga doch gerade erst während der deutschen Okkupationsjahre bis 1944 114  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

gegeben, so dass eine Wiederbelebung dieses Straßennamens einstweilen undenkbar schien, selbst wenn er nicht abermals – wie unter den Nazis – der Dzirnavu iela (Mühlenstraße) zuteil geworden wäre, an der Wagner 1838/39 gewohnt hatte. Das Haus, in dem sich Wagners Wohnung befand, stammte aus den Jahren des Wiederaufbaus der Rigaer Vorstädte nach dem Russlandfeldzug Napoleons – einer Zeit, die im Kontext der Geschichte des Stadttheaters übersprungen werden konnte, doch die im Folgenden selbstverständlich noch zu betrachten ist. Riga während der Napoleonischen Kriege und die   anschließende Inszenierung des Sieges

Unter den Kriegen Napoleons hatte Riga zunächst aufgrund der Probleme zu leiden, die ihm – logistisch und insbesondere finanziell – durch die Einquartierung durchziehender Truppenteile entstanden. An der Frage, wie die Kosten hierfür aufgebracht werden sollten, drohte zeitweise sogar der innere Friede in der Stadt, den die Rückkehr zur alten Stadtverfassung gerade erst ermöglicht zu haben schien, zu zerbrechen: Aus Teilen der Großen Gilde wurden Rufe nach einer erneuten Einführung der Stadtordnung von 1785 laut; Rat und Kleine Gilde stemmten sich dagegen. Der neue Herrscher in Sankt Petersburg, Alexander I. (* 1777, † 1825, ab 1801 Zar), konnte diesen widersprüchlichen Wünschen nur kurzzeitig seine Aufmerksamkeit widmen, doch auch die Rigenser selbst sahen sich bald mit noch ernsteren Schwierigkeiten konfrontiert: Fatal wirkte sich für sie Russlands Beteiligung an der Kontinentalsperre gegen Großbritannien nach dem Tilsiter Friedensschluss von 1807 aus. In einer Stadt, für die englische Handelspartner derartiges Gewicht hatten wie für Riga, konnten Insolvenzen daraufhin nicht ausbleiben. Auch dem übrigen Zarenreich bereitete die Aussetzung des Handels mit Großbritannien schweren Schaden, da sie Getreideexporte verhinderte. Als Alexander I. deshalb 1809 aus der Kontinentalsperre ausscherte, verhalf er seinem Reich zu wirtschaftlicher Regeneration; gleichzeitig war es nun jedoch der Gefahr ausgesetzt, von Frankreich angegriffen zu werden. Im Bewusstsein dieser Gefahr, wenngleich kaum über Einzelheiten informiert, feierten die Rigenser 1810 zunächst das 100. Jubiläum der Zarenherrschaft über ihre Stadt. Noch ahnten sie nicht, dass statt des Denkmals, das sie aus diesem Anlass in Auftrag geben wollten, bald Denkmäler anlässlich eines Sieges über Napoleon Priorität genießen würden. Vom Beginn der Zarenherrschaft bis zum Ausbruch des Krimkrieges 

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Als dessen Truppen sich im Frühjahr 1812 gen Osten in Bewegung setzten, hatte Riga den von Jacques MacDonald (* 1765, † 1840) befehligten nördlichen der drei Armeeflügel zu fürchten, dem auch preußische Divisionen angehörten. Auf die Nachricht hin, die französische Armee habe am 13. Juni die Grenze des Zarenreichs überschritten, wurde am 17. Juni in der Stadt der Kriegszustand erklärt; die Landesbehörden waren bereits zuvor nach Dorpat (estn. Tartu), Fellin (estn. Viljandi) und Pernau (estn. Pärnu) verlegt worden. Zwei Zusammenstöße eines ausgerückten russischen Truppenteils mit militärisch überlegenen preußischen Truppenteilen – einer im Großraum Schaulen (lit. Šiauliai) sowie einer im nahe Riga gelegenen Eckau (lett. Iecava) – führten wenig später zu der Fehleinschätzung, mit einem feindlichen Vormarsch auf die eigene Stadt sei unmittelbar zu rechnen. Der 1810 als Militärgouverneur von Riga eingesetzte Magnus Gustav von Essen (Ivan Nikolaevič Essen, * 1758, † 1813) ließ daraufhin am 10. Juli zunächst die Mitauer Vorstadt einäschern; wenige Tage später folgten die Vorstädte rechts der Düna. Dass er diese Anordnung offenkundig übereilt getroffen hatte und dass durch sie Tausende in bittere Armut gestürzt wurden, trug ihm innerhalb Rigas bald harsche Kritik ein. Diese Kritik sowie die Abberufung von seinem Posten im Oktober 1812 setzten ihm offenbar sehr zu; sie gelten jedenfalls als ursächlich für seinen Tod im nahen Baldohn (lett. Baldone) im Jahr darauf, der fast genau auf den Jahrestag der Niederbrennung der Mitauer Vorstadt fiel und bei dem alles auf Selbstmord deutete. Riga erlebte unterdessen eine Welle der Unterstützungsbereitschaft zugunsten der geschädigten Besitzer und Bewohner vernichteter Vorstadthäuser, da die meisten nicht nur ihre Bleibe, sondern ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten. Betroffene gab es gerade auch deshalb in so großer Anzahl, weil ungünstige Winde bewirkt hatten, dass über die gezielt den Flammen überlassenen Gebäude hinaus noch viele weitere abgebrannt waren. Von Essens Nachfolger wurde der Italiener Marquis Filippo Paulucci (* 1779, † 1849, 1812–1829 Generalgouverneur der Ostseeprovinzen). In Pauluccis Amtszeit fielen etliche Neuerungen, die ihm rückblickend als persönliche Verdienste um Riga angerechnet werden, darunter etwa die Einführung von Hausnummern. Derweil machten die Anordnungen für den Wiederaufbau der Vorstädte, denen zufolge erst weit außerhalb der Wälle Häuser mit steinernem Erdgeschoss zulässig waren und erst noch weiter außerhalb auch mehrgeschossige steinerne Bauten entstehen durften, schmerzlich bewusst, dass an eine Aufhebung von Rigas Festungsstatus nach wie vor nicht zu denken war. Und dabei hatte die Stadt doch gerade erst die Erfahrung gemacht, dass nicht einmal die Truppen Napoleons sie heimgesucht hatten. 116  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Dessen ungeachtet besaß auch Riga schon bald mehrere Denkmäler, die den Sieg über die Franzosen rühmten. Eines davon, ein schlichter Torbau in der Gestalt eines Triumphbogens, wurde nach Zar Alexander benannt und vom Namengeber persönlich eingeweiht, als dieser der Stadt 1818 einen Besuch abstattete. Auch die Straße, auf der das Bauwerk seinen Standort fand, hieß fortan Alexander-Straße. Gut ein Jahrhundert später wurde daraus die Freiheitsstraße bzw. Brīvības iela. Die Alexander-Pforte behielt indes nur bis 1904 ihren ursprünglichen Platz: Inzwischen als Verkehrshindernis wahrgenommen, wurde sie in jenem Jahr ab- und weiter stadtauswärts, nahe der Mündung der heutigen Šmerļa iela, wieder aufgebaut. Sie erhob sich damit allerdings immer noch im Zuge derselben Straßenachse wie vorher – wenn auch nunmehr deutlich jenseits der Stelle, an der die heutige Brīvības iela (Freiheitsstraße) ihren lettischen Namen in »Brīvības gatve« wechselt. 1935/36 schließlich, bald nach der Einweihung des lettischen Freiheitsdenkmals ganz am Anfang der Achse aus Freiheitsstraße und -boulevard, stand der Alexander-Pforte eine neuerliche Versetzung bevor. Seither ziert sie den Eingang zum einstigen Kaisergarten und heutigen Viesturdārzs, von dem oben schon einmal im Zusammenhang mit Peter dem Großen die Rede war. Zwei Jahre vor der Einweihung der Alexander-Pforte war deren Schöpfer, Rigas Stadtbaumeister Johann Daniel Gottfriedt (* 1768, † 1831), bereits mit der Aufstellung einer Siegessäule vor dem Schloss betraut – auch sie sollte an die Niederringung Frankreichs erinnern. Errichtet werden konnte sie dank einer Spendensammlung der örtlichen Kaufmannschaft, wovon interessanterweise nur die auf Latein abgefasste eine der beiden späteren Sockel-Inschriften kündete, während die andere, die einen etwas abweichenden russischsprachigen Wortlaut bot, diesen Umstand verschwieg. Die Entwurfsarbeit ging in diesem Fall auf Giacomo Quarenghi (* 1744, † 1817) zurück, einen der bedeutendsten Architekten im damaligen Sankt Petersburg, von wo 1816 auch die meisten Elemente des Denkmals angeliefert wurden, darunter die über sieben Meter hohe eigentliche Säule aus Granit. Diese bekrönten ein Kapitell sowie eine darauf ruhende Kugel, auf der schließlich eine Siegesgöttinnenfigur nach einer Vorlage von Stepan Pimenov (* 1784, † 1833, 1814–1830 Professor an der Petersburger Kunstakademie) platziert wurde. Anders als die bis heute gut erhaltene Alexander-Pforte verschwand jene Säule während und nach dem Ersten Weltkrieg stückweise aus dem Stadtbild: 1915 zunächst alle zum Ein- bzw. Umschmelzen geeigneten Zierelemente, 1938 dann auch der Granit-Schaft.

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Punktuelle Bau- und Gestaltungsmaßnahmen und deren   Träger bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Die Errichtung der Siegessäule 1814–1817 markierte seinerzeit zugleich den Versuch einer angemessenen Weitergestaltung des in den 1780er Jahren geschaffenen Schlossplatzes. Zeitlich parallel zum Schlossplatz begann unweit östlich der damalige Paradeplatz zu entstehen, der heute den Namen Jēkaba laukums trägt, so benannt nach der einstigen Jakobsbastion, über deren Gelände er sich erstreckt. Die Repräsentativität, die der Ursprungsidee nach gerade auch der Paradeplatz hätte ausstrahlen sollen, wurde weitgehend preisgegeben, als an seiner Südseite um 1830 statt eines Theaterneubaus, wie ihn die Planungen zunächst vorgesehen hatten, lediglich ein neuer Zollspeicher Gestalt annahm. Zwar macht dieser klassizistische Bau – im heutigen Riga allgemein als »Arsenal« bekannt – seitdem eine prägnante Facette im Architekturbestand der Stadt aus; aufgrund der geringen Höhe seiner Fassade trug er aber eben nie dazu bei, dem Platz die angestrebte Urbanität zu verleihen. Handelte es sich bei diesem Paradeplatz um eine noch innerhalb des Wallanlagengürtels gelegene Fläche, so ergab sich nach 1812 auch außerhalb der Wallanlagen auf interessante Weise ein Zuwachs an öffentlich zugänglichem Raum: Zwar hieß es im Reglement für die Vorstädte von 1813 weiterhin, dass diese im Ernstfall geopfert werden könnten, doch ihre Wiedererrichtung wurde zu dieser Zeit durchdachter – oder besser gesagt: vielfältiger durchdacht – in Angriff genommen als bei früheren Gelegenheiten. Dies schloss auch die Überlegung mit ein, sie durch begrünte Bereiche aufzulockern. Viel Gemeinsinn bewies daraufhin Anna Gertrud Wöhrmann (* 1750, † 1827), die Witwe eines zeitweiligen Ältesten der Schwarzhäupter, indem sie 1817 ein Grundstück, das ihr privat gehörte und das dem Festungsreglement nach ohnehin nicht hätte bebaut werden dürfen, zu einem Erholungsareal für die Öffentlichkeit machte. Damit war der Kernbereich des Wöhrmannschen Gartens (lett. Vērmanes dārzs) entstanden, wie dieser Park, mittlerweile mehrfach erweitert, noch heute nach seiner Stifterin heißt. Nach deren Tod ging das seinerzeit mit allerlei exotischen Bäumen bepflanzte Grundstück testamentarisch nebst einer beträchtlichen Geldsumme in den Besitz der Stadt Riga über. Anna Gertrud Wöhrmann hatte hieran lediglich die Bedingung geknüpft, dass die freie Zugänglichkeit für die Bürger auf ewig gewährleistet bleiben müsse – eine Vorgabe, der seitdem über alle politischen Zäsuren hinweg Folge geleistet wurde. Den Verwaltungsapparat der Sowjetzeit konnten derlei Verpflichtungen zwar nicht 118  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

davon abhalten, den Garten in »Kirov-Park« umzubenennen; inzwischen aber muten die dreieinhalb Jahrzehnte ab 1954, in denen er diesen Namen trug und inmitten eines auch insgesamt »Kirov-Rayon« (lett. »Kirova rajons«) genannten Stadtbezirks lag, bereits wieder wie ein eher kurzes Kapitel in der langen Geschichte des Wöhrmannschen Gartens an. Zur Wiederankurbelung des Handelsverkehrs wurde 1816 mit dem Ziel, eine unabhängige Vertretung örtlicher Handelsinteressen zu schaffen, das so genannte Börsenkomitee gegründet. In Riga fand dieses Wort für gewöhnlich als Maskulinum Verwendung; in authentischem Sprachgebrauch war es also »der« Börsenkomitee (bzw. »Börsen-Comité« – so die lange Zeit übliche Schreibweise), dessen 123-jährige Existenz damals begann. Als eine ihrer Hauptaufgaben betrachteten dessen Mitglieder eine Förderung des Verkehrsausbaus zu Lande und zu Wasser, wobei es zunächst vor allem um Hafenkapazitäten ging. Die offizielle Stadtobrigkeit entschied unterdessen, das 1765 eingeweihte Rathausgebäude um eine Etage aufzustocken. Für Johann Daniel Felsko (* 1813, † 1902, 1844–1879 Stadtarchitekt) war dies das erste größere Projekt in seiner 35-jährigen Amtszeit als Rigas leitender Architekt. Rat und Börse zogen daraufhin 1846 in Ersatzräumlichkeiten um; für die Börse wurden diese im Gebäude der Großen Gilde hergerichtet. Das im Umbau begriffene Rathaus selbst erlebte, als 1848 eine Cholera-Epidemie ausbrach, eine kurzfristige Zwischennutzung als Nothospital. In ästhetischer Hinsicht beeinträchtigte die Umbaumaßnahme vor allem die Wirkung seines knapp 40 Meter hohen spätbarocken Turms. Diese hatte schon durch die Erhöhung des Gebäudes um ein Mansarddach 1791 geringfügig gelitten; nun jedoch, da der Eindruck entstehen konnte, der Turm sei förmlich in das neue Obergeschoss eingesunken, war sie so gut wie verloren. Letztlich steht gerade jener Rathausumbau stellvertretend für den Raummangel in der damaligen Innenstadt, der, wenn keine bestehende Bausubstanz geopfert werden sollte, geradezu dazu zwang, in die Höhe auszuweichen, wobei aber auch dieser Möglichkeit um die Jahrhundertmitte noch – bedingt durch die Bauvorschriften im Zusammenhang mit Rigas Festungsstatus – deutliche Grenzen gesetzt waren. Erst 1867 kam es zu einer Lockerung der vorherigen Vorschriften zur Höhe von Gebäuden in der heutigen Altstadt. Auch danach galten aber für ganz Riga noch lange Zeit 21,3 Meter als ein Standardmaß, dessen Überschreitung außer bei den Ecktürmen größerer Gebäude nur in sehr begründeten Ausnahmefällen in Betracht kam.

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Rigas Börse um 1900. Am rechten Bildrand Gebäude, die wenige Jahre später durch andere ersetzt wurden; links Teile der 1935–1937 abgerissenen Bebauung im Bereich des heutigen Domplatzes

Der jeweiligen Nutzung angepasste Architekturentscheidungen bei öffentlichen Gebäuden des 19. Jahrhunderts Dass auf gleich einem halben Dutzend Parzellen die bisherige Bebauung weichen musste, um einem kompakten Neubau Platz zu machen, kam in Rigas Altstadt zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Neubau der Börse vor. 1852–1855 wurde dieser auf der (heute zugleich am Domplatz liegenden) Ecke von Jakobstraße (lett. Jēkaba iela) und Großer Schlossstraße (lett. Pils iela) errichtet. Der zuständige Architekt – der vor allem durch Bauten in Sankt Petersburg bekannte Harald Julius von Bosse (* 1812, † 1894) – hatte im Vorfeld sogar vorgeschlagen, Theater, Börse und Große Gilde unter einem Dach zu vereinen und für einen solchen Gesamtkomplex den Häuserblock zwischen Gildstubenstraße (lett. Amatu iela) und Großer Pferdestraße (lett. Zirgu iela) vollständig abzureißen. Zumindest diese ehrgeizige Idee war allerdings rasch ad acta gelegt worden. Dass Bosses Börsengebäude Renaissancefassaden im Stil venezianischer Paläste erhielt, diente unterdessen einer Spiegelung der Gebäudefunktion nach außen: Beim Betrachter sollten Gedanken an Italien als Ursprungsland des Bankwesens und vor allem eben an Venedig als Inbegriff von Kaufmannsmentalität erzeugt werden. Hinter solchen Arten der Außengestaltung stand eine für den Eklektizismus charakteristische, damals weit verbreitete Architekturauffassung, die ganz in

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der Nähe auch bei dem von Jānis Fridrihs Baumanis (* 1834, † 1891, 1865 als erster Lette Absolvent eines akademischen Architekturstudiums) und Robert Pflug (* 1832, † 1885) entworfenen Haus der Livländischen Ritterschaft aus den Jahren 1864–1867 zum Tragen kam: In diesem Fall wurden florentinisch anmutende architektonische Formen gewählt, da die Zweckbestimmung des Gebäudes ein Äußeres nahe legte, das mit fest gefügter staatlicher Ordnung und erfolgreicher Adelsherrschaft assoziierbar war. Eine Sehenswürdigkeit in Florenz ausfindig zu machen, die für das Ritterschaftshaus unmittelbar Pate gestanden hat, fällt, auch wenn Letzteres seit einer Erweiterung in den Jahren 1902/03 andere Proportionen aufweist, relativ leicht: Die Suche nach einem solchen Vorbild liefe klar auf den Palazzo Strozzi hinaus. Schon wenige Jahrzehnte nach der einstweiligen Fertigstellung des Ritterschaftshauses 1867 wären derart einseitig durch die Zweckbestimmung eines Gebäudes inspirierte stilistische Zugriffe kaum mehr denkbar gewesen. Wurden weiterhin historische Architekturstile herangezogen, so sollten sich darin eher nationale oder regionale Bezüge andeuten, die zumeist mit der Person des Bauherrn bzw. der als Bauherr auftretenden Institution zusammenhingen. In Riga veranschaulicht diesen Ansatz am deutlichsten die 1905 nach Entwürfen von Wilhelm Bockslaff (* 1858, † 1945) fertig gestellte Kommerzschule des Börsenkomitees – ein Bau also, der auf den gleichen Auftraggeber zurückging wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Börse. Mit seiner norddeutsch-hansestädtisch wirkenden neogotischen Backsteinarchitektur brachte Bockslaffs Schulgebäude einerseits eine regionale Identifikation über den Ostseeraum als Verbreitungsgebiet von Backsteingotik zum Ausdruck; andererseits spiegelte es auch eine nationale Zuordnung wider, die darauf beruhte, dass um 1900 gerade in der preußisch-deutschen Hauptstadt Berlin und durch das Wirken der dortigen Bauschule Wiederbelebungen typischer Backsteingotik-Elemente zu einer gängigen Erscheinung bei öffentlichen Bauprojekten geworden waren. Untrennbar miteinander verbundene Traditionen von Bauherr und Gebäudenutzung lagen unterdessen der Architektur zugrunde, die Ende der 1850er Jahre für die weitgehende Neuerrichtung des Gebäudes der Großen Gilde gewählt sowie in den 1860er Jahren auch an dem vollständigen Neubau, den seinerzeit die Kleine Gilde in Auftrag gab, umgesetzt wurde. Allerdings orientierte man sich, indem man zugleich dem Zeitgeschmack Rechnung trug und auf die um 1860 europaweit favorisierte Tudorgotik verfiel, nur sehr allgemein an der Gotik als Symbol dafür, dass die Geschichte der Gilden und ihrer Domizile bis weit ins Mittelalter zurückreichte. Die bei sämtlichen fünf Gebäuden zutage tretende Korrelation zwischen ihrem anfänglichen Innenleben und ihrer äußeren Gestaltung lässt abschließend die Frage interessant erscheinen, welche Folgenutzungen die genannten Gebäude seither erfahren haben. Am wenigsten wechselvoll stellt sich dabei, jedenfalls abstrakt betrachtet, die Geschichte des Ritterschaftshauses dar, das stets ein Ort gesetzgeberischer Entscheidungen blieb – sowohl in seiner Funktion als Parlament

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(lett. Saeima) der Republik Lettland zwischen den Weltkriegen und seit Beginn der 1990er Jahre als auch in seiner Eigenschaft als Haus des Obersten Sowjets der Lettischen SSR während der Jahrzehnte der sowjetischen Okkupation. Das Gebäude der Kommerzschule des Börsenkomitees wurde später der Kunstakademie Lettlands, die seit 1919 existiert, zur Verfügung gestellt und behielt so seine Grundfunktion als Ausbildungsstätte. Zur Geschichte des Hauses der Großen Gilde gehört ein schwerer Brand im Jahre 1963. Im Zuge der Wiederherrichtung wurde es für die staatliche Philharmonie nutzbar gemacht und erhielt damit eine über die Sowjetzeit hinaus fortdauernde Bestimmung als Konzertraum. Im Zuge einer Umbenennung des Orchesters ging später lediglich die offizielle Bezeichnung »Staatsphilharmonie« verloren, an deren Stelle der Name »Konzertsaal Große Gilde« (lett. »Lielās Ģildes koncertzāle«) rückte. Nur bei der Börse trat unterdessen der Fall ein, dass eine von der ursprünglichen Funktion abweichende Nutzung zunächst auf die Sowjetzeit beschränkt blieb. Konkret beherbergte der Bau während dieser Jahrzehnte das »Institut für Propaganda und wissenschaftlich-technische Information der Lettischen SSR« und damit verbunden eine der damals größten Rigaer Bibliotheken, wobei Letzteres durchaus eine Anknüpfung an die einstige Bibliothek des Börsenkomitees implizierte. 2006 fiel dann die Entscheidung, das Bauwerk abermals grundlegend umzufunktionieren. Seit 2010 nunmehr in ein Kunstmuseum verwandelt, präsentieren seine Innenräume sich im Wesentlichen wieder so, wie Bosse sie in den 1850er Jahren konzipiert hatte. Nur bei zwei Sälen, in denen 1979 ein Brandschaden eingetreten war, bestanden entsprechende Restaurierungsmöglichkeiten nicht mehr in vollem Umfang.

2. Von der Niederlegung der Wälle (1857–1863) bis   zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs:   Rigas Aufstieg zur Großstadt Modernisierungsschritte um 1860: Eisenbahnanbindungen und die Entstehung des Boulevard-Bogens

Beim Blick auf die Geschichte des Zarenreichs wird der Krimkrieg, der 1853 als Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und Russland begann und in den 1854 Großbritannien und Frankreich an der Seite des Sultans eintraten, oft als auslösendes Moment für eine Phase nachholender Modernisierung beschrieben. Für Riga, das während der zweieinhalb Jahre, die dieser Krieg dauerte, ein letztes Mal in seiner Geschichte als Festung in Verteidigungsbereitschaft versetzt wurde, ließe sich das, was auf das Kriegsende folgte, sogar als »Modernisierung im Zeitraffer« bezeichnen. Konsequenzen hatte 122  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

der Krimkrieg hier freilich schon vor seiner Beilegung, auch wenn die Stadt nicht in Gefahr war, angegriffen zu werden. Zum Beispiel verzögerte er die Errichtung der Anglikanischen Kirche, des jüngsten Gotteshauses im heutigen Altstadtbereich, um mehrere Jahre. Anglikanisches Gemeindeleben gab es in der Stadt schon ab 1830 – anfangs jedoch in der Form, dass Gottesdienste der Anglikaner in der Reformierten Kirche abgehalten wurden. 1852 kam die Gemeinde dann in den Besitz des Grundstücks mit Blick zur Düna, auf dem ihr eigenes Kirchengebäude Gestalt annehmen sollte, und 1853 hatte Stadtarchitekt Johann Daniel Felsko seine Entwürfe für den neogotischen Sakralbau fertig ausgearbeitet, so dass einer Grundsteinlegung eigentlich nichts mehr im Wege stand. Tatsächlich aber konnte dieser feierliche Akt, nachdem Großbritannien für das Zarenreich zum Kriegsgegner geworden war, erst im Juni 1857 stattfinden. Bis zur Einweihung der Kirche vergingen danach noch gut zwei Jahre. Alle wesentlichen Baumaterialien wurden während dieser Zeit von den Britischen Inseln her angeliefert. Jene Modernisierungsphase bislang ungekannten Ausmaßes, die Riga derweil durchlief, verdankte es dem einhelligen Urteil vieler Zeitgenossen zufolge vor allem der Tat- und Durchsetzungskraft des höchsten örtlichen Repräsentanten der Staatsgewalt, Fürst Aleksandr Arkadevič Suvorov-Rymnikskij (* 1804, † 1882, 1848–1861 Generalgouverneur der Ostseeprovinzen). Mit seinem beharrlichen Insistieren in Sankt Petersburg trug Suvorov zum Beispiel entscheidenden Anteil daran, dass ab 1858 die gut ein Jahrzehnt zuvor vom Börsenkomitee noch vergeblich erbetene Anbindung Rigas an das russische Eisenbahnnetz erfolgte: Durch die mit viel englischem Kapital, dessen Mobilisierung ein Verdienst des Börsenkomitees war, und unter Beteiligung englischer Ingenieure verwirklichte Strecke entlang der Düna bis Dünaburg (lett. Daugavpils) hatte die Stadt von 1861 an immerhin bereits Anschluss an die – ebenfalls erst in den 1850er Jahren geschaffene – Eisenbahnlinie von Sankt Petersburg nach Warschau. Was den weiteren Ausbau des Streckennetzes in den folgenden Jahren und Jahrzehnten betrifft, darf die Verbindung ins nahe Bolderaa (lett. Bolderāja) keinesfalls unerwähnt bleiben, da sie 1872/73 die Fertigstellung der ersten ganzjährig verfügbaren Rigaer Düna-Brücke mit sich brachte: Diese konnte nebenher von Fußgängern und Fuhrwerken benutzt werden, wenn auch mit jeweils fast halbstündigen Unterbrechungen, sobald sie für eine Zugdurchfahrt benötigt wurde. Weitere Unterbrechungen kamen hinzu, wenn ihr mittleres Stück angehoben wurde, um ein großes Schiff passieren zu lassen. Eine direktere Streckenführung in Richtung Sankt Petersburg ohne Umweg über Dünaburg wurde erst 1889 endgültig fertig, als sich in Russlands Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Schienennetz die bis dahin verbliebene Lücke zwischen Riga und Pskov schloss. Rigas Bahnhöfe rechts und links der Düna Für den schon 1868, also vor der Strecke nach Bolderaa, in Betrieb genommenen Schienenweg nach Mitau (lett. Jelgava) entstand seinerzeit noch eigens ein Bahnhof jenseits der Düna – später »Bahnhof Riga III« genannt. Während über den »Dünaburger Bahnhof« oder »Bahnhof Riga I«, der räumlich mit dem heutigen Hauptbahnhof identisch ist, lange Zeit tatsächlich nur der Verkehr in Richtung Dünaburg abgewickelt wurde, führte der Bau der Strecke nach Bolderaa zur Errichtung eines gesonderten Bahnhofs, und zwar genau dort, wo sich vormals die so genannte Karlspforte befunden hatte. 1877 konnte ferner die von der Strecke Riga-Bolderaa abzweigende Strecke durch die Seebäder am Rigaschen Strand und weiter nach Tuckum (lett. Tukums) eröffnet werden. Diese verursachte – als Direktverbindung ans Meer – in dem kleinen »Bahnhof Riga-Bolderaa«, der sich jetzt auch »Bahnhof Riga-Tuckum« oder »Bahnhof Riga II« nannte, ein nicht mehr zu bewältigendes Fahrgastaufkommen, woraufhin wenige Meter daneben ein weiteres, deutlich leistungsfähigeres Bahnhofsgebäude errichtet wurde. Von diesem neuen Gebäude, für das sich der Name »Tuckumer Bahnhof« einbürgerte, zugleich allerdings, je mehr der »Bahnhof Riga III« an Bedeutung verlor, der Name »Mitauer Bahnhof« gebräuchlich wurde, verkehrten in der Folgezeit sowohl die vielen Züge in die nahen Badeorte als auch beispielsweise Fernzüge nach Berlin. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg schließlich wurde der Eisenbahnknotenpunkt, der sich in Riga mittlerweile herausgebildet hatte, in Kopplung mit einem Brückenneubau so umgebaut, dass sämtliche Funktionen des altstadtnahen »Tuckumer« bzw. »Mitauer Bahnhofs« auf den bisherigen »Dünaburger« bzw. »Dwinsker Bahnhof« übergingen, der sich von da an als zentraler Hauptbahnhof zu bewähren hatte. Der Historiker Constantin Mettig (* 1851, † 1914) sprach, als er diesen 1897 in seiner »Geschichte der Stadt Riga« erwähnte, angesichts der Weite der inzwischen entstandenen Verbindungen bereits mit Stolz »vom OrelerWitebsker (früher Riga-Dünaburger) Bahnhofe«. Seit der Verlegung der ersten Schienen waren zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vier Jahrzehnte vergangen.

Ebenso wie der mit Suvorovs Hilfe angekurbelte Eisenbahnverkehr profitierte von der Aufgeschlossenheit für lokale Interessen, die diesen Generalgouverneur auszeichnete, um 1860 auch der Schiffsverkehr: Zum einen konnte die Düna-Mündung vertieft und so vor Versandung bewahrt werden; zum anderen kam Riga im Gefolge dessen in den schon lange angestrebten Besitz eines Winterhafens. Der gleichzeitige Bau eines Gaswerks brachte die Bürger unterdessen in den Genuss einer völlig neuen Form der Straßenbeleuchtung. Sogar über eine Telegrafenleitung nach Sankt Petersburg verfügte 124  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Riga erst ab Mitte 1855. Vier Monate zuvor waren noch drei Tage vergangen, bis man Kenntnis vom Tode Zar Nikolaus’ I. (* 1796, † 1855, ab 1825 Zar) hatte, wobei vielen Rigensern als besonders schmerzlich in Erinnerung blieb, dass es selbst zu diesem späten Zeitpunkt zuerst Pressemeldungen aus Berlin gewesen waren, durch die sich die betrübliche Nachricht auch in ihrer Stadt hatte verbreiten können. Hinzu kam, dass Riga dank seines Börsenkomitees durchaus Vorreiter beim Schaffen von Telegrafenverbindungen im Zarenreich gewesen war; nur reichte 1852 die allererste dieser Verbindungen eben nur bis Bolderaa. Ein Zugeständnis, zu dem der bisherige Zar Nikolaus zu keinem Zeitpunkt zu bewegen war, machte dessen Sohn und Nachfolger Alexander II. (* 1818, † 1881, ab 1855 Zar) der Stadt an der Düna, indem er 1856 ihren Status als Festung aufhob und in die Beseitigung ihrer Verteidigungswälle einwilligte. Bis unmittelbar zuvor hatte sie im Rahmen der Sicherung der westlichen und südlichen Außengrenzen des Zarenreichs noch denselben hohen Rang wie daneben Kerč, Sevastopol’, Kiev, Reval (estn. Tallinn) und die vor dem damaligen Helsingfors (finn. Helsinki) gelegene Festung Sveaborg (finn. Suomenlinna) eingenommen. Während der 1840er und frühen 1850er Jahre waren, damit Riga diesem Rang weiter hätte gerecht werden können, sogar schon Vorbereitungen für einen noch wehrhafteren Ausbau des Düna-Ufers angelaufen. Zu der gegenläufigen Entscheidung unter Alexander II. kam es unter anderem aufgrund der Einsicht, dass der Festungsstatus untragbare hygienische Bedingungen hatte entstehen lassen. Nicht zuletzt deswegen sah das Konzept zur künftigen Gliederung und Nutzung der Flächen des bisherigen Befestigungsgürtels, das bereits 1856 Johann Daniel Felsko und Otto Dietze (* 1832, † 1890) vorlegten, einen hohen Grünflächen-Anteil vor. Es bezog sich auf sämtliches Gebiet von der Altstadt bis zur heutigen Elizabetes iela (Elisabethstraße); ausklammern mussten Felsko und Dietze bei ihren Gestaltungsideen lediglich einen Großteil der so genannten Esplanade, denn ein Karree, das in etwa dem auch heute auf Lettisch noch als »Esplanāde« geläufigen Gelände entsprach, hatte für das Militär verfügbar zu bleiben. Die Arbeiten an dem ehrgeizigen Projekt begannen binnen kürzester Zeit, nämlich genau in jenem Jahr 1857, in dem auch Kaiser Franz Joseph die Einebnung der Festungsanlagen Wiens veranlasste. Die im einstigen Wiener Festungsgürtel verlaufende heutige Ringstraße, ihrerseits das Paradebeispiel für eine durch Festungsschleifung realisierbar gewordene Prachtstraße rund um die Ränder einer Altstadt, entstand somit keineswegs früher als die Boulevards in Riga und konnte deren Planung nicht etwa als bereits existierendes Vorbild beeinflussen. Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Das Wasser aus den Festungsgräben speiste fortan den inmitten der neuen Grünanlagen angelegten Stadtkanal. Stolz war man aber eben auch in Riga vor allem auf die neuen Boulevards, zwischen denen dieser sich hin- und herschlängelte. Ähnlicher Beliebtheit bei den Bürgern erfreute sich schon bald der Basteiberg, der zwischen Stadtkanal und Pulverturm aus Teilen der abgetragenen Massen an Erde aufgeschüttet wurde. Bis 1863 waren all diese Arbeiten im Wesentlichen abgeschlossen. In der Publizistik überbot damals ein Blatt das andere in der Wahl seiner Metaphern für das, was Riga gerade widerfuhr: Es sei nun endlich seiner »Fesseln entledigt«, lautete zum Beispiel eine Formulierung, die sich bei den Zeitgenossen regelrecht einschliff. Die Euphorie, von der diese erfasst wurden, wird allemal verständlich, wenn man bedenkt, dass neben einengenden Wällen und Mauern damals ebenso der üble Geruch modriger Festungsgräben binnen weniger Jahre verschwand. Noch bis Anfang der 1870er Jahre musste die Stadt darauf warten, dass auch die Befestigungsanlagen der Zitadelle eingeebnet und großteils in Grünflächen umgewandelt werden konnten. Für den eigentlichen Zitadellenbereich bedeutete selbst dies noch keine harmonische Einbeziehung in seine Umgebung, da er sich weiterhin durch heruntergekommene Kasernengebäude sowie miserabel gepflasterte und schlecht beleuchtete Straßen auszeichnete. Die Kriegsbehörde sperrte sich lange gegen den Wunsch der Stadt, das Gelände zu kaufen; erst um 1910 gab sie deren Drängen nach, indem sie ihr immerhin einen partiellen Ankauf ermöglichte, worauf die Stadt den betreffenden Flächenabschnitt zu Einzelgrundstücken parzellierte und an Privatleute weiterverkaufte. Der interessante Umstand, dass in der Gegenwart die einstige Zitadelle nicht Bestandteil des insgesamt großflächig abgesteckten Weltkulturerbe-Areals ist, hat insofern eine lange Vorgeschichte. Die Marienstraße – ein Sonderfall im Umgang mit Straßennamen aus der Zarenzeit Von den Namen, die den neuen Boulevards um 1860 nach und nach gegeben wurden, darunter »Thronfolger-Boulevard« für den heutigen Raiņa bulvāris, haben die allerwenigsten bis in die Gegenwart überdauert. Bemerkenswert erscheint die Wiederbelebung des ursprünglichen Namens im Falle der Marienstraße bzw. heutigen Marijas iela; denn geehrt wurde bzw. wird hier Marija Aleksandrovna, wie sie sich seit ihrer Hochzeit im Jahre 1841 nannte – die Gattin Zar Alexanders II. und vormalige Marie von Hessen-Darmstadt (* 1824, † 1880). Die betreffende Straßenführung war bereits in den 1790er Jahren trassiert worden und danach bis 1860 nur als »Neue Straße« in Stadtplänen und Adressbüchern aufgetaucht. Für manche ihrer projektierten Seitenstraßen entstand überhaupt erst im Zuge

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der Wallabtragung ein hinreichend fester Untergrund; die Erdmassen der Wälle wurden zum Teil nämlich auch dazu benutzt, den in diesem Bereich stellenweise noch sumpfigen Boden zu stabilisieren. Je weiter Ende des 19. und Anfang des 20.  Jahrhunderts der Straßenausbau stadtauswärts voranschritt, desto weiter stadtauswärts erstreckte sich damit auch der Name Marienstraße, zu dem es nach und nach immer mehr Hausnummern gab. 1989 wurde – nach Umbenennungen während der vorangegangenen Perioden des 20. Jahrhunderts – jener Name bzw. dessen lettisches Pendant aufs Neue etabliert, diesmal jedoch nur für ungefähr dasjenige Stück der Straße, das schon unmittelbar ab etwa 1860 Marienstraße geheißen hatte. Namenspatron für die innenstadtferneren Abschnitte wurde dagegen der Dichter Aleksandrs Čaks (* 1901, † 1950). An der Häusernummerierung änderte sich 1989 indes nichts, so dass die niedrigste gerade Hausnummer an der heutigen Aleksandra Čaka iela »22« lautet.

War schon die Planung durchgehend ein- oder beidseitig bebauter neuer Straßen von großem Reiz, so eröffnete die Beseitigung der Wälle den Rigensern darüber hinaus erstmals die Möglichkeit, öffentliche Gebäude wie Solitäre in begrünter Umgebung zu platzieren. Wie sehr sich in dieser Hinsicht Tatendrang angestaut hatte, bewies die zügige Errichtung des später zu Lettlands Nationaloper gemachten Deutschen Stadttheaters, das zwischen August 1860 und September 1863, also noch während an anderen Stellen die Wallabtragungsarbeiten in vollem Gange waren, an der innenstädtischen Seite des Stadtkanals auf dem Grund und Boden der vormaligen »Pfannkuchen-Bastion« entstand. Sein Architekt war der in Sankt Petersburg geborene Ludwig Bohnstedt (* 1822, † 1885), der rund ein Jahrzehnt später, 1872, Sieger im ersten der Wettbewerbe rund um das damals geplante Berliner Reichstagsgebäude wurde. Bestürzung herrschte in Riga, als 1882 ein Brand das mit so viel Aufwand realisierte Theatergebäude verwüstete. 1885, in Bohnstedts Todesjahr, begann der zweijährige Wiederaufbau, bei dem der nun verantwortliche Reinhold Schmaeling (* 1840, † 1917, 1879–1915 Stadtarchitekt) sich nur bezüglich der Außengestaltung an die Originalvorlagen gebunden fühlte, während im Inneren zum einen technische und stilistische Modernisierungen erfolgten und zum anderen der hohen Publikumsnachfrage Rechnung getragen wurde: Eine allzu deutliche Steigerung der Zahl der Zuschauerplätze war zwar nicht möglich; jedoch gab es von nun an neben 1240 Sitzplätzen auch 140 Stehplätze, wodurch der Genuss von Theaterabenden nicht mehr ganz so ausschließlich wie das Privileg einer Elite anmutete. Die technische Überholung schloss unterdessen mit ein, dass das Theater bei seiner Wiedereröffnung 1887 als erste Räumlichkeit ganz Rigas in elektrischem Licht erstrahlen konnte. Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Das von Ludwig Bohnstedt entworfene Deutsche Stadttheater, aus dem später Lettlands Nationaloper wurde

Rigas Polytechnikum – eine im damaligen Zarenreich einzigartige Lehreinrichtung

Von der Errichtung des Theaters und den zahlreichen anderen Maßnahmen abgesehen, die unmittelbar dank der Wallabtragung möglich oder durch diese erleichtert wurden, kam es um 1860 auch zu einer Neuerung, die eher als Folgeeffekt der übrigen Maßnahmen auf die Tagesordnung geriet: Ob beim Eisenbahnbau, ob beim Ausbau der Telegrafenverbindungen – überall zeigte sich, wie sehr man in solchen Zusammenhängen auf auswärtiges Expertenwissen angewiesen war und wie vorteilhaft es sein müsste, geeignete Fachkräfte auch vor Ort ausbilden zu können. 1857/58 ließen Rat und Börsenkomitee sich daher von der Idee überzeugen, eine polytechnische Lehranstalt nach dem Vorbild entsprechender Einrichtungen in Deutschland und der Schweiz zu gründen. Mit Unterstützung seitens des Hannoveraner Polytechnikums wurden daraufhin Statuten ausgearbeitet, die bereits 1861 die erforderliche Bestätigung durch Alexander II. fanden, so dass 1862 der Lehrbetrieb anlaufen konnte. Das Gros der Unterhaltungskosten teilten sich Rat, Börsenkomitee, Große und Kleine Gilde sowie die Livländische Ritterschaft. Da es sich um eine gesamtbaltische Ausbildungsstätte handeln sollte, steuerten außerdem 128  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

aber bald auch die Estländische, die Öselsche und die Kurländische Ritterschaft sowie annähernd 20 Städte aus allen drei Ostseeprovinzen Zuschüsse bei. Gepaart mit einem innovativen Nebeneinander technischer und handelsbezogener Lehrinhalte, machte diese privatrechtliche Art der Finanzierung und Organisation Rigas Polytechnikum zu einer im damaligen Zarenreich einzigartigen Einrichtung. Gleichzeitig trug sie dazu bei, dass wenige Jahrzehnte später, als die Einführung des Russischen als Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten erzwungen wurde, das Polytechnikum noch vergleichsweise lange – nämlich bis 1892 – am Deutschen festhalten konnte. Mit der offiziellen Umwandlung des Polytechnikums in ein Polytechnisches Institut 1896 änderte sich zugleich die Finanzierungsbasis: War man bis dahin auf Angebote staatlicherseits, finanzielle Zuwendungen zu leisten, bewusst kaum eingegangen, um vor staatlicher Einflussnahme geschützt zu sein, so steigerte sich der Anteil des Staates an der Finanzierung ab jetzt erheblich. Der Aufstieg zum Polytechnischen Institut und die Unterstellung unter die Aufsicht des Ministeriums für Volksaufklärung brachten für die Studenten und Professoren überdies den Vorteil mit sich, dass sie denjenigen, die an anderen Hochschulen Russlands studierten und lehrten, fortan in jeder Hinsicht gleichgestellt waren. Dass im Zuge des Übergangs zu russischsprachigem Unterricht viele ausländische Lehrkräfte abwanderten, bedeutete einen gewissen Aderlass; dieser konnte jedoch letztlich ausgeglichen werden, da der Dozentenkreis sich inzwischen auch aus den Reihen derjenigen, die zuvor selbst am Polytechnikum ihre Ausbildung genossen hatten, ergänzen konnte. Insofern stellte sich die Situation gegen Ende des Jahrhunderts bereits völlig anders dar als für die Generation davor. Gründungsdirektor des Polytechnikums war von 1862 bis zu seinem Tode der vormalige Direktor der Gewerbeschule in Krefeld, Ernst Nauck (*  1819, † 1875). Auch der Berufsweg des Stüler-Schülers Gustav Hilbig (* 1822, † 1887), der am Polytechnikum Architektur lehrte und der dessen 1869 fertig gestelltes neoromanisches Gebäude am damaligen ThronfolgerBoulevard (dem heutigen Raiņa bulvāris) entwarf, führte über Krefeld nach Riga. Unterdessen leitete Carl Bornhaupt (* 1802, † 1889), der den Vorschlag, eine derartige Lehranstalt zu schaffen, an Rat und Börsenkomitee herangetragen hatte, für fast zwei Jahrzehnte die dem Polytechnikum angeschlossene Vorschule. An dieser wurden überhaupt erst die für das eigentliche Studium nötigen Grundlagen vermittelt. Studiert werden konnten dann Maschinenbau, Ingenieurwesen, Chemie, Handel, Landwirtschaft und eben Architektur. Die geringsten Studentenzahlen waren anfangs in letztgenanntem Fach zu verzeichnen, dessen Absolventen allerdings zu einem viel höheRigas Aufstieg zur Großstadt 

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ren Prozentsatz als die der anderen Fächer bzw. Fakultäten in Riga blieben und hier vor Ort ihrem späteren Beruf nachgingen. Geltung verschaffte die Fakultät für Architektur sich zunächst durch das schon erwähnte eigene Gebäude des Polytechnikums mitten in der Stadt, das heute als Hauptgebäude der Universität Lettlands dient. Ihr Betätigungsfeld fand sie aber vor allem aufgrund des von Jahr zu Jahr größeren Bedarfs an neuen Mietshäusern im Zuge des Bevölkerungsanstiegs von kaum 100000 zur Zeit der Gründung des Polytechnikums auf rund 500000 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zwar kam der überwiegende Teil der vielen Neu-Rigenser damals immer noch in Holzbauten unter; Abbild dieser Epoche sind jedoch in erster Linie die zahllosen fünf- bis sechsgeschossigen steinernen Neubauten insbesondere der Petersburger Vorstadt, an die man heute denkt, wenn Riga als »Jugendstilmetropole« bezeichnet wird, und unter deren Schöpfern Dutzende von Absolventen des Polytechnikums bzw. des nachmaligen Polytechnischen Instituts zu finden sind. Dass es sich ausgerechnet bei dem, was von Touristen inzwischen als Höhepunkt des Rigaer Jugendstils bestaunt wird, nämlich der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts von Michail Eisenstein (Ėjzenštejn, * 1867, † 1921) entworfenen Häuserzeile entlang der Alberta iela (Albertstraße), um das Werk eines Architekten handelt, in dessen Biographie das Polytechnikum keine Rolle spielt, kommt insofern geradezu einem Zufall gleich. Ergänzend sei angemerkt, dass es lange gedauert hat, bis die Albertstraße derart selbstverständlich, wie es in der postsowjetischen Gegenwart der Fall ist, als Perle der örtlichen Jugendstilarchitektur wahrgenommen wurde. Dem ging nicht nur die sowjetzeitliche Einstufung jener Bauten als »bürgerlich-dekadent« voraus, deretwegen sie nach 1945 bewusst vernachlässigt wurden, sondern zuvor etwa auch schon das deutliche Urteil des deutschbaltischen Architekturkenners Heinz Pirang (* 1876, † 1936), der Eisenstein regelrecht dafür bemitleidete, dass dieser sich bei der Fassadengestaltung zu solchem Überschwang hatte hinreißen lassen. Pirang selbst war ebenfalls Absolvent des Polytechnischen Instituts: Neben Architektur hatte er hier Chemie als Ausbildungsschwerpunkt gewählt. Was das Gründen von Korporationen anbetraf, wollten die Rigaer Studenten der Studentenschaft im damaligen Dorpat in nichts nachstehen. Einer der Korporationen am Polytechnikum – der im Mai 1875 entstandenen »Rubonia« – wurde 1892 der in den Jahrzehnten davor kaum noch genutzte Pulverturm überlassen. Ihren Namen hatte sie von »Rubon«, der lateinisch-griechischen Entsprechung des Flussnamens Düna, abgeleitet. Bis 1890 stand ihr zunächst nur ein bescheidener Souterrain-Bereich 130  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

in einem Haus am Theater-Boulevard (dem heutigen Aspazijas bulvāris) zur Verfügung. Für den Pulverturm handelte sie mit der Stadt einen auf 20 Jahre angelegten Pachtvertrag aus, der sie zugleich zur Übernahme sämtlicher Kosten für die erforderlichen Umbauten verpflichtete. Erst durch diese erhielt der Turm seinerzeit wieder ein steil aufragendes Kegeldach, wie er es, seinem Erscheinungsbild auf den frühesten erhaltenen Stadtansichten entsprechend, heute noch trägt. Mitglied der »Rubonia« wurde 1911 auch der damalige Architekturstudent Alfred Rosenberg (* 1893, † 1946, 1941–1945 »Reichsminister für die besetzten Ostgebiete«), der gebürtig aus Reval stammte. Bereits 1865, zehn Jahre vor der »Rubonia«, wurde unter Beteiligung des späteren Stadthaupts George Armitstead (* 1847, † 1912, ab 1901 Stadthaupt) die »Fraternitas Baltica« ins Leben gerufen, gefolgt von der »Concordia Rigensis« 1869. Neben Studenten aus allen drei Ostseeprovinzen waren in der »Fraternitas Baltica« und der »Concordia Rigensis« anfangs auch einige Polen aktiv, ehe sich 1879 bzw. 1883 die explizit polnischen Korporationen »Arconia« und »Veletia« (»Welecja«) gründeten, wobei Letztere eine Abspaltung von der etwas aristokratischer ausgerichteten »Arconia« darstellte. Prominentestes einstiges Mitglied der »Veletia« sollte später der von Józef Piłsudski zum Spitzenpolitiker gemachte Chemiker Ignacy Mościcki (* 1867, † 1946, 1926–1939 Staatspräsident Polens) werden. Die erste nur aus Letten bestehende Korporation trug den Namen »Selonia«; später formierte sich noch die ebenfalls rein lettische »Talavia«. Einzelne Polen und Letten waren ebenso unter den Mitgliedern der 1880 hinzugekommenen »Fraternitas Arctica«, bei der es sich grundsätzlich aber um eine russische Studentenverbindung handelte. Als Domizil diente ihr ein mit einem Neorenaissancegiebel versehenes zweigeschossiges Haus, dem noch heute die Mazā Smilšu iela (Kleine Sandstraße) einen Teil ihres Charmes verdankt. Gegen Ende des Jahres 1900 wurde Riga schließlich auch noch zum Entstehungsort der ersten estnischen akademischen Korporation, der »Vironia«. Es würde zu weit führen, hier das bis in die Gegenwart reichende Fortleben, das die verschiedenen Korporationen sich an zumeist anderen Orten verschafft haben, nachzuzeichnen. Wäre man dabei auf Vollständigkeit bedacht, so würde sich ein weites Feld für translokale Betrachtungen rigischer Geschichte eröffnen.

Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Wachsendes Vergangenheitsinteresse – Rigas Dom,   das Dommuseum und die Arbeit der »Gesellschaft für   Geschichte und Altertumskunde«

Erkennbare Impulse, sich intensiver, als man es bis dahin gewohnt war, für die Vergangenheit der eigenen Stadt zu interessieren, sind in etwa auf die Zeit datierbar, in der Riga sein 650-jähriges Bestehen feiern konnte. Einer davon war ein exakt aus dem Jubiläumsjahr 1851 stammender Brief des damaligen Generalgouverneurs Suvorov, so dass sich sagen lässt: Die nahe liegende Annahme, dass es zunächst nur der deutsche Bevölkerungsteil war, bei dem solche Impulse auf Widerhall stießen, ist zwar richtig; die Impulse selbst kamen jedoch teilweise auch von außen. In seinem Schreiben regte der Generalgouverneur Rigas Ratsherren dazu an, die Domkirche von den im Norden und Westen dicht an sie angebauten Wohn- und Wirtschaftsgebäuden zu befreien und damit der für seine Begriffe eklatanten Vernachlässigung des bedeutendsten Sakralbaus der Stadt ein Ende zu bereiten. Ausdruck der von Suvorov beklagten Vernachlässigung war damals ferner die teilweise Nutzung des Kircheninneren für Speicherzwecke und des Kreuzgangs für Ladenlokale. Die Erwirtschaftung von Einnahmen durch derartige Fehlnutzungen beispielsweise der Seitenkapellen war zwar überhaupt erst notwendig erschienen, weil die Kirche schwer gelitten hatte, als sie in den Jahren um 1812 zwecks Getreideeinlagerung beschlagnahmt worden war; längst hatte sich die Übergangslösung jedoch zum Dauerzustand gewandelt. Suvorov sollte nicht mehr erleben, wie seinem Vorschlag gemäß die Gebäude unmittelbar westlich vor dem Turm, die damals noch den winzigen Domvorplatz vom südlicher gelegenen Herderplatz trennten, abgerissen wurden; denn hierzu kam es erst in den 1880er Jahren, als den Herderplatz bereits seit zwei Jahrzehnten eine Büste seines Namengebers zierte. – Von der weiteren Geschichte dieses 100 Jahre nach Herders Ankunft in der Stadt eingeweihten Denkmals wird hier im Zusammenhang mit dem Jahr 1959 noch einmal die Rede sein, da die bemerkenswertesten Episoden seines Schicksals das 20. Jahrhundert betreffen. Ansonsten verschwanden um den Dom herum zunächst einmal nur ein paar kleinere Häuser und Schuppen, was aber nicht heißt, dass nicht zumindest Pläne erstellt wurden. Zu Suvorovs Rigaer Zeit war dies eine Aufgabe für Stadtbaumeister Johann Daniel Felsko, der damals auch noch eine Reihe anderer, hier teils schon erwähnter Projekte zu koordinieren hatte und den meisten davon sicherlich mehr Leidenschaft entgegenbrachte. Seine Entwürfe für den Dom sind nicht überliefert; an einer Stelle allerdings haben 132  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Der Herderplatz mit der in den 1880er Jahren abgerissenen Bebauung zwischen seiner Nordseite und dem Turm des Doms. Im Vordergrund rechts die 1864 aufgestellte Büste Herders

sie sich sogar verwirklicht, nämlich an der Westseite des Turms, wo es bis dahin überhaupt keinen Eingang gab und wo das heute zu sehende neogotische Portal samt Fensterrosette auf Felsko zurückgeht. Gewisse Spuren hinterließ Felsko ferner am Nordportal, dessen Vorhalle er wiederherzustellen versuchte. Dass es bei diesen zwei relativ kleinen Details einstweilen blieb, bedauerte ein halbes Jahrhundert später kaum noch jemand; begann doch in genau diesem halben Jahrhundert ein massives Umdenken in der Frage, wie sich romanisch-gotischen Baudenkmälern wie dem Rigaer Dom am ehesten gerecht werden lässt. Auch andernorts entdeckte die Denkmalpflege zu dieser Zeit erst ganz allmählich ihre vordringliche Aufgabe darin, konservierend vorzugehen, anstatt verschönernd zu rekonstruieren. Letzteres hatte im Falle gotischer Baudenkmäler oft bedeutet, sich so weit wie irgend möglich einem im Laufe der Jahrhunderte vermeintlich verfälschten mittelalterlichen Baugedanken annähern zu wollen, der an dem betreffenden Objekt zuvor nie vollständig hatte umgesetzt werden können. Überlegungen dieser Art für Rigas Dom konnten so weit reichen, dass sogar ein Westwerk mit zwei Türmen unter Beseitigung des vorhandenen Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Turms ins Spiel gebracht wurde. Eine solche Option zeigte noch Anfang der 1880er Jahre der deutschbaltische Architekt Reinhold Guleke (* 1834, † 1927, 1881–1906 Universitätsarchitekt in Dorpat) auf, der seinerzeit mit den ersten gründlichen Forschungen an dem Bauwerk beauftragt war. Gulekes Entwurfszeichnung deutete eine restlose Gotisierung an und erinnerte dabei eher an den Dom zu Regensburg denn an irgendeinen Sakralbau im Umfeld der Ostsee. Das Verdienst, Bewusstsein für den Rigaer Dom als einen Kirchenbau geschaffen zu haben, der nur im Baltikum und nirgendwo sonst in dieser Form hat entstehen können und dessen Anblick bei niemandem Ideen einer Angleichung an west- oder mitteleuropäische Bauideale auszulösen braucht, liegt unterdessen bei Wilhelm Neumann (* 1849, † 1919). Der im mecklenburgischen Grevesmühlen geborene und in Leipzig promovierte Neumann war zunächst Stadtarchitekt in Dünaburg, ehe er sich in Riga als Architekt und historisch interessierter Architekturforscher zu betätigen begann. Seine Worte genossen bald einiges Gewicht; und so wird meist hauptsächlich sein Name assoziiert, wann immer von den Mitte der 1880er Jahre schließlich angelaufenen umfangreicheren Restaurierungsarbeiten am Dom die Rede ist. Zeitnahe zur Bestellung einer neuen Orgel bei der Ludwigsburger Firma Walker – vorübergehend handelte es sich bei diesem Instrument um die größte Kirchenorgel der Welt – kam es damals zur Gründung eines Dombauvereins, der alsbald Expertenrat einholte. An Neumann ging die Bauleitung allerdings erst 1895 über, als viele Gestaltungsentscheidungen bereits getroffen und umgesetzt waren. Im Kreuzgang-Bereich hatte sich dabei noch stark das verschönernd rekonstruierende Prinzip durchsetzen können, während am Dom selbst bereits das konservierende Prinzip überwog. Letzteres war Neumanns unmittelbarem Vorgänger Karl Mohrmann (* 1857, † 1927) – bekannt vor allem als Schöpfer der Stabkirche in Hahnenklee bei Goslar – zu verdanken. Dieser lehrte in den Jahren 1887–1892 am örtlichen Polytechnikum, war ansonsten aber ebenso wenig mit dem Baltikum verbunden wie der vor ihm zunächst konsultierte Hermann von der Hude (* 1830, † 1908), der zusammen mit dem 1864 nach Riga gelangten gebürtigen Siegener Carl David Neuburger (* 1842, † 1897) insbesondere für die Kreuzgang-Erneuerung verantwortlich zeichnete. Wie sich somit zeigt, lief im Falle des Rigaer Doms der allgemeine Paradigmenwechsel beim Verständnis von Denkmalpflege zusätzlich damit parallel, dass man das ins Auge gefasste Vorhaben anfangs bei auswärtigen, kaum für die Besonderheiten der Stadt sensibilisierten Autoritäten in besten Händen wähnte und erst ab den 1890er Jahren zunehmend auf einheimischen Sachverstand sowie die Empfehlungen Neumanns vertraute, der seinerseits bestens in Riga in134  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

tegriert war. Darüber hinaus begann ein intensiver Erfahrungsaustausch mit Conrad Steinbrecht (* 1849, † 1923), der damals die Wiederherstellung der Marienburg, der einstigen Hochmeisterresidenz des Deutschen Ordens an der Nogat, leitete. Der schon erwähnte Dombauverein formierte sich 1884 als Untersektion der genau 50 Jahre zuvor entstandenen »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen« und löste sich 1910, drei Jahre nach Abschluss aller wesentlichen Arbeiten am Dom, wieder auf. Als großer Erfolg konnte selbst die Finanzierung dieser Arbeiten betrachtet werden – dank einer hohen Spendenbereitschaft geriet sie nie ins Stocken. Die »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde« als Ganze fühlte sich für das gesamte Gebiet aller drei Ostseeprovinzen zuständig, entfaltete aber ebenfalls vor Ort, in Riga, die meiste Wirkung. Neben Fachleuten, die sich außerhalb ihrer Hauptberufstätigkeiten unentgeltlich engagierten, kamen hier auch anfängliche Nichtfachleute, die sich erst im Laufe der Jahre immer mehr historische und bauhistorische Kenntnisse aneigneten, zum Einsatz. Sie beobachteten zum Beispiel die im 19. Jahrhundert immer zahlreicheren Abbrucharbeiten im historischen Stadtkern, um im Zuge des Verschwindens mittelalterlicher Wohnhäuser präzisere Erkenntnisse über die Lage der Türme der einstigen Stadtmauer zu gewinnen. An fünf Stellen konnten Reste von Türmen, nachdem sie für Jahrhunderte umbaut gewesen waren, tatsächlich identifiziert werden. Dass ältere Bausubstanz zunehmend durch neue ersetzt wurde, war für die Gesellschaft natürlich stets eine zweischneidige Entwicklung, da sie einerseits für die Erhaltung alter Bauten eintrat, andererseits aber mit ihren Forschungen eher vorankam, wenn Teile des Alten abgetragen wurden. Ihre Hoffnung, auf diese Weise auch Baureste zu entdecken, die eindeutig der mittelalterlichen Bischofspfalz westlich des Doms hätten zugeordnet werden können, sollte sich dabei nicht erfüllen. Besonders nachhaltige Verdienste um Riga kommen der »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde« aufgrund dessen zu, dass sie das Dommuseum verwaltete. Der Name dieses Museums hatte ausschließlich etwas mit dem Ort seiner Unterbringung zu tun; schon 1791 war dafür nämlich ein Teil der Bauten um den Domkreuzgang hergerichtet worden. Veranlassung, explizit zu der Benennung »Dommuseum« überzugehen, wurde gleichwohl erst 1890 gesehen, nachdem die Restaurierung des Domkomplexes auch für das Museum zu einer Verbesserung seiner Raumsituation geführt hatte: Südlich des Kreuzgangs erhielt es nunmehr eigene Gebäude und konnte seine auf der Sammlung des Naturforschers Nikolaus Himsel aus dem 18. Jahrhundert basierenden Bestände, die später durch Zutun der Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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1802 gegründeten »Literärisch-praktischen Bürgerverbindung«, der 1822 gegründeten »Gesellschaft der praktischen Ärzte von Riga«, des 1845 gegründeten »Naturforschervereins der Stadt Riga« und eben der »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde« ergänzt sowie schließlich mit dem Münzkabinett der Stadt Riga vereinigt worden waren, erstmals angemessen zur Geltung bringen. Rapides Anwachsen und veränderte ethnische   Zusammensetzung der Stadtbevölkerung

Rigas Einwohnerentwicklung in der Zeit seines Aufstiegs zur Großstadt lässt sich an den Ergebnissen von vier Volkszählungen ablesen, die im Abstand von jeweils rund eineinhalb Jahrzehnten durchgeführt wurden, nämlich 1867, 1881, 1897 und 1913. Für die jeweiligen Jahre der Datenerhebungen sind auf dieser Grundlage Aussagen über die prozentualen Anteile der verschiedenen Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung möglich – wenn auch nicht mit optimaler Exaktheit. Dass im Rückblick eher nur Näherungswerte erschlossen werden können, liegt unter anderem daran, dass nicht alle vier Male genau das Gleiche abgefragt wurde: 1867 sollte die Alltagssprache angegeben werden, 1881 neben der Alltagssprache auch die Nationalität, 1897 die Muttersprache und 1913 die Sprache des täglichen Gebrauchs in der Familie. Für 1867 bemisst sich demnach der Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung auf rund 23,5 Prozent, während der Anteil der Deutschen als zu dieser Zeit zahlenmäßig noch stärkster Bevölkerungsgruppe auf 42,8 Prozent beziffert werden kann. 1897 hatten sich die Verhältnisse bereits umgekehrt: 41,6 Prozent betrug jetzt der Anteil der Letten und 25,5 Prozent der der Deutschen. Bis 1913 verloren Letztere ihren Rang als zweitstärkste Gruppe nach den Letten sogar noch an die Russen und stellten mit 16,4 Prozent zum Beispiel nur noch einen gut doppelt so großen Bevölkerungsanteil wie die immer zahlreicheren Polen, die zuletzt 7,4 Prozent ausmachten. Am ungenauesten sind die Prozentwerte, die jeweils den Juden zugeordnet werden können, da diese sich nun einmal unterschiedlicher Sprachen bedienten. Die Gesamteinwohnerzahl erhöhte sich zwischen 1867 und 1881 von 102590 auf 169366; 1897 wurden bereits über 282000 Personen gezählt und 1913 schließlich fast 508000. Bei isolierter Betrachtung erscheint eine derart zügige Verfünffachung der Einwohnerzahl einer Stadt geradezu beispiellos. Dieser Eindruck schwächt sich ab, wenn man Rigas damaliges Wachstum in Relation zu der gleichzeitigen Bevölkerungsexplosion im Zarenreich ins136  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

gesamt setzt, das zwischen 1857 und 1914 immerhin eine Verdreifachung seiner Population erlebte. Und doch waren die Herausforderungen, die auf Riga zukamen, enorm. Lösungsversuche zur Behebung des Mangels an Düna-Brücken Das Bevölkerungswachstum revolutionierte in gewisser Hinsicht auch den Verkehr von einem Flussufer zum anderen. Kurz vor der Auflösung der – traditionell fast rein lettischen – Zunft, die seit dem 17. Jahrhundert das Übersetzen über die Düna ermöglicht hatte, wurde 1851 die Abwicklung des Verkehrs von Ufer zu Ufer zunächst in die Hände eines Konzessionärs gegeben. Zu dessen zentralen Aufgaben gehörte es, je nach Notwendigkeit bzw. Möglichkeit die Floßbrücke zusammen- oder abzubauen. Diese galt seinerzeit als eines der international besten Vorbilder für funktionstüchtige Floßbrücken über Flüsse von besonderer Breite. Da sie aber eben nicht permanent zur Verfügung stand, sahen die Erben des ursprünglichen Konzessionärs sich bereits in den 1870er Jahren durch das immer höhere Passagieraufkommen überfordert. 1882 bestellte die Stadt deshalb fünf Dampfschiffe bei der örtlichen Werft »Lange & Sohn«. Als diese 1884 fertig waren, übernahm sie die Bewirtschaftung der drei am stärksten frequentierten Routen von Beginn an selbst; denn Fahrkartenverkauf stellte damals eine von nur wenigen potenziellen Einnahmequellen dar, durch die den kommunalen Kassen Geld zufloss. Private Konkurrenz kam ausschließlich auf den weniger ausgelasteten Routen zum Zuge. Nicht nur zum jeweils anderen Ufer der Düna, sondern auch vom Stadtkern in weniger weit von der Düna-Mündung entfernte Stadtteile wie zum Beispiel Mühlgraben (lett. Mīlgrāvis) wurden in der Folgezeit viele Rigenser durch Flussdampfer befördert. Dass mit dem Nebeneinander von Dampfschiffen, der Floßbrücke und einer – für Fußgänger- und Fahrzeugverkehr zumindest zeitweise offenen – Eisenbahnbrücke längst noch keine Ideallösung gefunden war, lag auf der Hand und ließ Ende der 1880er Jahre sogar den Gedanken an einen Tunnel aufkommen. Zu den Gründen, aus denen die Tunnel-Pläne der städtischen Bauverwaltung letztlich verworfen wurden, gehörte die Befürchtung, nicht unbedingt die Verwirklichung, dafür aber die ununterbrochene Beleuchtung eines solchen Tunnels könnte für die Stadt unbezahlbar werden. Zudem stand hinter solchen Plänen respektive dem Alternativplan einer festen Straßenbrücke genau genommen vor allem die Gruppe der Industriellen. Rigas Kaufleute dagegen hielten eine ständige Erreichbarkeit des jeweils anderen Ufers für überflüssig und setzten sich am Ende auch durch; denn als Ersatz für die bisherige Floßbrücke wurde 1896 lediglich eine Brücke aus eisernen Pontons in Betrieb genommen – faktisch also eine modernere Variante der immer noch gleichen Brückentechnik.

Riga entwickelte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Vielvölkerstadt, in der die Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten an ihren Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Arbeitsplätzen und im Geschäftsleben tagtäglich miteinander in Berührung kamen, private und gesellschaftliche Kontakte jedoch meist ausschließlich mit Angehörigen der jeweils eigenen Nationalität pflegten. Was politisches Verhalten anbetrifft, kam vielfach neben der nationalen ebenso sehr die soziale Segmentierung der Stadtbevölkerung zum Tragen. Wie eng dabei das eine mit dem anderen verwoben sein konnte, zeigt ein Vorausblick in das Jahr 1903: Damals schied sich die Bereitschaft zu fortdauernder Zusammenarbeit zwischen der lettischen Sozialdemokratie, der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) und der Rigaer Sektion des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes an der Frage, wie weit die wechselseitige Abgrenzung zwischen ihnen reichen sollte. Konkret ging es darum, ob jede von ihnen eine Art Alleinzuständigkeit für die Verbreitung von politischen Informationen unter der von ihr repräsentierten Bevölkerungsgruppe beanspruchen konnte bzw. sollte. Nur die RSDAP betrachtete eine solch strikte Adressaten-Aufteilung im Rahmen der Propagandaarbeit seinerzeit als Verrat an der sozialistischen Idee. Im Rahmen der lettischen Nationsbildung spielte das rasant wachsende Riga jener Zeit eine elementare Rolle, da nur hier Kontakte zwischen Letten, die aus der Provinz Livland stammten, und Letten, deren Heimatorte in der Provinz Kurland lagen, zur tagtäglichen Normalität gehörten. Bei der Volkszählung von 1881 gaben zudem immerhin 1,9 Prozent der erfassten Personen einen Geburtsort im Gouvernement Vitebsk an. Wie hoch der Anteil an Letten bzw. an Sprechern des Lettgallischen innerhalb dieses Personenkreises war, lässt sich anhand der Statistik jedoch nicht klären. Von den annähernd 50000 Letten, die 1881 in Riga lebten, war mehr als die Hälfte im Laufe der vorangegangenen 14 Jahre aus dem näheren und weiteren Umland zugewandert. Ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit bestand unter den Rigaer Letten folglich vor allem insofern, als viele von ihnen die Erfahrung einte, erst vor kurzem in der Stadt angekommen zu sein. Statt bei dem Versuch, eine lettische Nationalbewegung zu konstituieren, nur auf ein Identifikationsmerkmal wie die Sprache zu setzen, knüpften die Vorkämpfer dieser Bewegung daher zunächst einmal bei rein praktischen Bedürfnissen der ehemaligen Landbewohner an. Diesen wurde etwa durch Spar- und Vorschusskassen, Kreditvereine oder allgemeine Wohltätigkeitsvereine Hilfe bei der Bewältigung ganz konkreter Schwierigkeiten zuteil, die das Großstadtleben für fast jeden von ihnen mit sich brachte. Nicht wenige traten früher oder später in einen Abstinenz-Verein ein; für andere wiederum waren Vereine, in denen sie Unterstützung beim Abbau von Bildungsdefizi-

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ten fanden, besonders wertvoll oder zählte ganz einfach die Geselligkeit, die ihnen zum Beispiel ein Gesangsverein bieten konnte. Erhebliche Bedeutung als verbindendes Element in einer Stadt, in der beispielsweise Straßen nur auf Russisch und Deutsch beschildert waren, kam der gemeinsamen Sprache freilich dennoch zu. Allerdings unterschied sich das Ausmaß an tatsächlicher Beherrschung des Lettischen von Person zu Person ganz beträchtlich. Wenn etwa der namhafteste unter den lettischen Vereinen, der 1868 gegründete »Rigaer Letten Verein«, zu so genannten »Frage-Abenden« lud und dabei im Vorfeld die Einreichung klärens- oder erörternswert erscheinender Themen erbat, bezogen sich mitunter etliche der eingereichten Fragen darauf, wie bestimmte Dinge im Lettischen überhaupt auszudrücken seien. Solche Unsicherheiten hingen bei manchem Fragesteller damit zusammen, dass es noch lange Zeit bestimmte Alltagssituationen gab, in denen das Lettische kaum jemals Anwendung gefunden hätte. Zum Beispiel formulierten selbst um 1910 Letten, die sich während eines Restaurantbesuchs auf Lettisch miteinander unterhielten, ihre Bestellung üblicherweise noch immer auf Deutsch, auch wenn sie den Kellner ebenfalls für einen Letten halten konnten und womöglich sogar eine lettischsprachige Speisekarte verfügbar war. Von derartigen Verhaltensmustern mochte höchstens dann abgewichen werden, wenn man sich in einem überdurchschnittlich stark von Letten bewohnten Teil Rigas wusste. Solche besonders von Letten geprägten Gegenden lagen zum einen links der Düna, also im heutigen Pārdaugava, zum anderen aber auch westlich des Weidendamms (lett. Ganību dambis) sowie in den durch diese Straße mit dem Zentrum verbundenen Bereichen an der Roten Düna, das heißt im heutigen Stadtteil Sarkandaugava. Gut situierte Letten bevölkerten darüber hinaus weite Teile der Petersburger Vorstadt, wo sie mit der Zeit auch immer öfter zu Hausbesitzern wurden – manche als direkte Nachkommen einer Generation, die am Ausbau dieser Vorstadt vor allem dadurch großen Anteil gehabt hatte, dass im damaligen Rigaer Bauhandwerk Letten zahlenmäßig dominierten. Einer der im Bauwesen engagierten Letten betätigte sich hier sogar als erfolgreicher Unternehmer. Seiner Herkunft nach ein einfacher Bauernsohn aus Kurland, hatte besagter Kristaps Kalniņš (* 1843, † 1907) zunächst seinen Namen germanisiert, so wie es viele Aufstiegswillige unter seinen Zeitgenossen noch taten. Der Wortbedeutung seines ursprünglichen Nachnamens entsprechend nannte er sich fortan Berg bzw. Bergs. Er ließ unter anderem den »Bergs-Basar« (lett. »Berga bazārs«) nahe der östlichen Ecke des

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Wöhrmannschen Gartens errichten – eine in Riga zur Zeit ihrer Entstehung (1887–1897) einzigartige Einkaufspassage. Hauptsächlich im Umfeld der Petersburger Vorstadt war auch der »Rigaer Letten Verein« verwurzelt, der sich zum Ziel setzte, mit seiner immer vielfältiger verzweigten Tätigkeit den übrigen lettischen Milieus Nutzen zu erweisen. Unter der Ägide dieses Vereins erlebte nicht zuletzt das lettische Theaterwesen seine Anfänge, beginnend mit der Berufung des Letten Ādolfs Alunāns (* 1848, † 1912), der Erfahrungen als Schauspieler an den deutschen Theatern in Dorpat, Reval, Narva und Sankt Petersburg gesammelt hatte, zum Leiter des vereinseigenen Theaters im Jahre 1870. Alunāns nahm diese Funktion bis 1885 wahr und füllte sie nicht nur aus, indem er Regie führte, sondern fand sich auch zum Verfassen von Theaterstücken bereit. An eigenen Dramen fehlte es der lettischen Literatur nämlich noch; ihre Entstehung rückte überhaupt erst durch das, was sich unter Alunāns entwickelte, in greifbare Nähe. Eine Vorliebe für Stadtbezirke, in denen viele Letten lebten, bewiesen unter Rigas übrigen Nationalitäten vor allem die Esten. Betrug deren Anteil an der Gesamtbevölkerung bei den Zählungen von 1867 und 1881 jeweils nur knapp ein Prozent, so wuchs er bis 1913 immerhin auf annähernd den doppelten Wert. Ärmere Esten zog es in diesen Jahrzehnten insbesondere in den Stadtteil Hagensberg (lett. Āgenskalns) links der Düna, besser gestellte dagegen in die zwischen Alter und Neuer Gertrudenkirche gelegenen Viertel der Petersburger Vorstadt. Höher als im eigentlichen estnischen Siedlungsraum fiel unter den Rigaer Esten der Anteil derer aus, die zur Orthodoxie übergetreten waren; später prominent gewordene Esten, die sich für jeweils einige Jahre in Riga aufhielten, sind entsprechend vor allem mit dem orthodoxen »Rigaer Geistlichen Seminar« in Verbindung zu bringen, einer Einrichtung, die 1846 zur Heranbildung estnischer und lettischer orthodoxer Priester gegründet worden war. Der orthodoxen estnischen Gemeinde wurde die in der einstigen Zitadelle gelegene Kirche St. Peter und Paul übergeben, als deren Status als Kathedrale 1886 auf die neu gebaute Christi-Geburt-Kathedrale am Rand der Esplanade überging. Daneben formierte sich jedoch auch eine mitgliederstarke evangelisch-lutherische estnische Gemeinde, der als Gotteshaus sogar eine Altstadtkirche, nämlich St. Jakobi, zur Verfügung stand. Neu gebaute Gotteshäuser entstanden während des 19. Jahrhunderts für keine Bevölkerungsgruppe in so großer Zahl wie für die russische. Für sie bildete speziell die Moskauer Vorstadt eine Art Mikrokosmos, den viele Russen wie einen Gegenpol zum übrigen Riga wahrnahmen und nur bei seltenen Anlässen überhaupt verließen. Russische Bräuche wurden in diesem Stadtteil 140  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

mit einer solchen Intensität gepflegt, dass nach Ansicht mancher Zeitzeugen beinahe jeder Nichtrusse, der sich hier niederließ, wie von selbst einem gewissen Maß an Assimilation ausgesetzt war. Ging es jedoch um sozialen Aufstieg, so galt – auch unter den Russen selbst – der Entschluss, sich aus der Moskauer Vorstadt herauszuwagen, als der erste entscheidende Schritt. Der russische Verein »Ulej« beispielsweise nahm daher vorzugsweise in der Altstadt seinen Sitz: An der vorherigen Stelle eines Postamtes an der Kalkstraße ließ er sich Anfang der 1880er Jahre von dem Architekten Reinhold Schmaeling jenes repräsentative Gebäude errichten, dessen späterer Ausbau zum russischen Schauspielhaus 1967 einen Eingriff in die Dachgestalt motivierte, der inzwischen zu den korrekturwürdigsten Rigaer Bausünden der Sowjetzeit gezählt wird. Die Abgeschlossenheit der Moskauer Vorstadt leistete derweil einer hohen Analphabetenquote Vorschub. Betrug diese 1890 unter sämtlichen Bewohnern der Stadt ungefähr 23 Prozent, so lag sie bei den Rigaer Russen zu jenem Zeitpunkt doppelt so hoch. Die allgemeine Russifizierungspolitik, die um 1890 ihre intensivste Phase erreichte, änderte hieran bezeichnenderweise wenig. Etwas höher als bei den übrigen Bevölkerungsgruppen fiel innerhalb der russischen auch der prozentuale Anteil erwerbstätiger Frauen aus. So ergab die Volkszählung von 1897, dass annähernd zwei von fünf Russinnen einer bezahlten Arbeit nachgingen, während nur ungefähr jede dritte Lettin und jede dritte Deutsche dies tat. Zur Art der ausgeübten Berufe sei exemplarisch erwähnt, dass von den russischen Arbeiterinnen überproportional viele an der Herstellung von Tabakprodukten beteiligt waren. Dass zur nach den Russen zweitstärksten Bevölkerungsgruppe in der Moskauer Vorstadt damals die der Juden wurde, ist vor allem aus sprachlichen Gründen wenig verwunderlich: Zwar gab es neben Sprechern des Jiddischen eine große Zahl von Rigaer Juden, für die aufgrund ihrer kurländischen Herkunft das Deutsche ein ganz selbstverständliches Kommunikationsmittel darstellte; doch mindestens ebenso viele trugen dem Gedanken der »Haskala« – der auf Anpassung an die Kultursphäre der jeweiligen Umgebung zielenden jüdischen Aufklärungsbewegung – dadurch Rechnung, dass sie Anschluss an die russische Kultur suchten. Von den Rigaer Russen wurde dies während der ersten Jahrzehnte der jüdischen Zuwanderung keineswegs kritisch beäugt; Reserviertheit gegenüber dem russisch akkulturierten Teil der jüdischen Bevölkerung wurde bei ihnen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in größerem Umfang spürbar, als die oftmals mit »Russifizierung« gleichgesetzten Versuche einer »Unifizierung« des Zarenreichs voll zum Durchbruch kamen. Noch etwas beunruhigender scheinen – jedenfalls Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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wenn allzu rasche soziale Aufstiege zu beobachten waren – deutsch akkulturierte Juden auf das örtliche Deutschtum gewirkt zu haben. Die Ablehnung, auf die die Juden bei vielen Letten stießen, rührte gleichfalls von einem wirtschaftlich-sozial begründeten Konkurrenzverhältnis her und hatte in den seltensten Fällen etwas mit religiös motivierten Ressentiments zu tun. Auch machte kaum ein Lette es den Juden zum Vorwurf, dass diese sich im Zuge ihres Bemühens, ihre soziale Stellung zu verbessern, wie Deutsche oder eben wie Russen gerierten. Lettischer Argwohn bezüglich solchen Anpassungsverhaltens klang höchstens ab der Revolution von 1905 vereinzelt an, durch die sich allerdings ohnehin noch mancher Abgrund auftun sollte, was das Denken über Juden anbetraf. Da diesen zu Zeiten des Zarenreichs das volle Bürgerrecht bis zuletzt vorenthalten blieb, war das wohl wichtigste unter den Rechten, die ihnen in Riga während des 19. Jahrhunderts zuteil wurden, das des Immobilienerwerbs. Seine Zuerkennung im Jahr 1858 ließ die Zahl der offiziell als Einwohner der Stadt gemeldeten Juden rasch ansteigen: 1859 waren es bereits gut 1200 – doppelt so viele wie noch 1845. Grundsätzlich lässt sich die Entwicklung der Rechtssituation damaliger Rigaer Juden vor allem anhand der Unterscheidung zwischen Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht verständlich machen. Im Zarenreich hatte die Einräumung von Rechten an Juden überhaupt erst infolge der Hinzugewinnung vormals polnisch-litauischer Gebiete zur Debatte gestanden; denn erst seit diesen Gebietsgewinnen befanden sich unter den Untertanen der Zaren in größerer Zahl Juden. 1791 waren daraufhin die gesetzgeberischen Grundlagen für die Schaffung des so genannten »Ansiedlungsrayons« formuliert und 1793 dessen Grenzen abgesteckt worden. Zu weiteren Ausdehnungen seines Gebietsumfangs führten danach noch die dritte Teilung Polen-Litauens 1795 und die Einverleibung Bessarabiens 1812, während ansonsten neben den durch die Polnischen Teilungen an das Zarenreich gefallenen Gebieten auch die Gouvernements der »linksufrigen Ukraine« sowie das nördlich des Schwarzen Meers eroberte »Neurussland« zum »Ansiedlungsrayon« gehörten. Nur innerhalb dieses Gesamtgebietes durften Juden dauerhaft ansässig sein; außerhalb davon entstanden höchstens bei entsprechender Aufweichung der Bestimmungen Niederlassungsmöglichkeiten, was jedoch bis zum Ende des Zarenreichs prinzipiell eine Ausnahme von der Regel bedeutete. Riga zeichneten hierbei aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zu den Grenzen des »Ansiedlungsrayons« gewisse Besonderheiten aus; umfasste dieser doch auch das 1795 mit im Zarenreich aufgegangene und zu dessen 142  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

dritter Ostseeprovinz neben Livland und Estland gewordene vormalige Herzogtum Kurland. Überdies war bereits vorher, nämlich auf Grundlage einer Handels- und Grenzkonvention von 1783, aus dem Gebietsbestand des Herzogtums die Fläche der späteren Stadt Jūrmala herausgelöst und dem angrenzenden russischen Gouvernement Livland zugeschlagen worden – ein Vorgang, der sehr deutlich die schon damals ausgeübten Einflüsse Russlands auf Kurland widerspiegelt. Von Kurland an Livland war 1783 auf diese Weise auch der Flecken Schlock (lett. Sloka, seit 1959 ein Stadtteil von Jūrmala) übergegangen. Für Juden hatte sich daraufhin die Gelegenheit geboten, Handelskontakte nach Riga – ob längst vorhandene oder neu aufzubauende – in der Form zu pflegen, dass sie regelmäßig dorthin fuhren, jedoch in Schlock registriert waren. Dauerhaft in Riga geduldet waren seinerzeit bereits einige so genannte »Schutzjuden«, denen die Behörden aus Sorge, über den Hafen der Stadt könnten subversive Schriften ins Land gelangen, Aufgaben im Rahmen der Buchzensur übertragen hatten. Auf Versuche dieser »Schutzjuden«, am örtlichen Geschäftsleben zu partizipieren, wie auch der Juden aus Schlock, sich zusätzliche Geschäftsfelder zu erschließen, hatte Rigas Rat in der Folgezeit weitaus ablehnender reagiert als die auf Steuereinnahmen bedachte Gouvernementverwaltung. Als dann 1829 den Schlocker Juden die Erlaubnis, sich ständig in Riga aufzuhalten, erteilt wurde, erhöhte dies einerseits den Druck auf nebenher illegal in die Stadt gekommene Juden; andererseits markierte es nur mehr eine Vorstufe auf dem Weg dahin, dass Juden sich unter bestimmten Voraussetzungen sogar hier registrieren lassen konnten. Ergebnis dieser allmählichen Lockerung der Regelungen war schließlich die oben indirekt schon angedeutete Zahl von 621 gemeldeten Rigaer Juden im Jahr 1845. Zu dem 13 Jahre später erteilten Immobilienerwerbsrecht bleibt anzufügen, dass es den Juden alles in allem nicht sehr viel später zugestanden wurde als sonstigen Bevölkerungsgruppen, denen es bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls verwehrt war. Etwa ab der Jahrhundertmitte sorgten die schon angesprochenen Unterschiede sprachlicher Art unterdessen für eine starke Gespaltenheit unter den Juden selbst. Dies galt vor allem so lange, wie es für die Juden Rigas nur eine einzige Schule gab und wie die Mitglieder des Gemeindevorstands, des Kahal, die Leitung dieser Schule immer wieder einem Deutsch sprechenden Bewerber anvertrauten. Als mehr dem Russischen zuneigender Bewerber war zum Beispiel der langjährige spätere Rabbiner Aaron Pumpjanskij (* 1835, † 1893) Mitte der 1860er Jahre noch seinem deutschsprachigen Mitbewerber unterlegen. Erst 1873 wurde Pumpjanskij doch noch zum Schulleiter und Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Rabbiner ernannt, gab erstere Position allerdings wenig später auf, da sie zu dieser Zeit von der des Rabbiners, die ihm wichtiger war, getrennt wurde. Dass es parallel hierzu nunmehr zu einer relativ schnellen Vermehrung der Zahl der Synagogen kam, beruhte zunächst noch primär auf den Unterschieden sprachlicher und religiöser Art innerhalb des jüdischen Bevölkerungsteils: Zwischen russisch akkulturierten und deutsch akkulturierten Juden fehlte es an Möglichkeiten einer problemlosen Kommunikation sowie zwischen Chassidim und Mitnagdim an der Bereitschaft, sich ohne schwerwiegende Gründe zu Kulthandlungen in ein Bethaus der jeweils anderen der beiden Gemeinschaften zu begeben. Erst ab ungefähr 1900 hing der Bau der dann noch entstandenen Synagogen vornehmlich damit zusammen, dass auch die jüdische Bevölkerungsgruppe zwischenzeitlich stark angewachsen war, nämlich von rund 11000 Personen um 1880 auf rund 22000 Personen im Jahr 1897. Was die Berufsstruktur anbetraf, so kamen dabei auf zwei im Handel tätige Juden etwa drei, die ihren Lebensunterhalt als einfache Arbeiter bestritten. Entsprechend bescheiden nahmen sich die Wohnverhältnisse der meisten Rigaer Juden aus. Als während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts an der Großen Peitaustraße (lett. Peitavas iela) erstmals auch im Altstadtbereich eine Synagoge entstand, wurde diese nicht ohne Grund wie ein zweigeschossiger Profanbau in die umgebende Häuserzeile eingefügt: Der bei Wilhelm Neumann und dessen Mitarbeiter Hermann Seuberlich (* 1878, 1938 verschollen) in Auftrag gegebene Fassadenentwurf, an dem es außer einer im Rahmen des Rigaer Jugendstils innovativen vertikalen Gliederung nichts unmittelbar Auffälliges gab, entsprang durchaus der Absicht, einstweilen zu kaschieren, dass das Gebäudeinnere als Synagoge vorgesehen war. Erst im Nachhinein musste die Stadtobrigkeit erkennen, dass ein jüdisches Gotteshaus im Altstadtkern – genau das, was sie sich bei Erteilung der Baugenehmigung am wenigsten gewünscht hatte – nun doch Wirklichkeit geworden war. Für Rigas Juden bedeutete dies vor dem Hintergrund, dass inzwischen rund 15 Prozent von ihnen in der Altstadt lebten, einen begrüßenswerten Zugewinn an Prestige. Eine noch etwas jüngere Synagoge befand sich an der Säulenstraße (lett. Stabu iela), ältere dagegen unter anderem an der Moskauer Straße (lett. Maskavas iela) und an der Palisadenstraße, der heutigen Krāslavas iela. Als Juwel unter den Rigaer Synagogen galt die neobarock gestaltete Choralsynagoge der Mitnagdim im spitzen Winkel zwischen Mühlenstraße (lett. Dzirnavu iela) und Bahnhofstraße, der heutigen Gogoļa iela. Durch ihre Niederbrennung im Juli 1941, bei der Hunderte von Menschen in ihr eingeschlossen waren, sollte sie noch traurige Berühmtheit erlangen. 144  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Eine Bevölkerungsgruppe, für die Fragen der sprachlichen Orientierung und der Anlehnung an andere Rigaer Nationalitäten ebenfalls eine Rolle spielten, wenn auch nicht so unmittelbar wie für die Juden, war die der Litauer. Während für diese der Glaube und der 1795 untergegangene gemeinsame Staat natürliche Verbindungen mit den Polen schufen, wodurch sie sich oft allerdings auch mit einem polnischsprachigen Pfarrer arrangieren mussten, waren es die Letten, die ihnen am ehesten zum Beispiel die benötigte Bühne für eine Kulturveranstaltung überließen, und waren es die Deutschen, von denen sie sich am ehesten Unterstützung versprachen, wenn es um die Verwirklichung möglicher eigener, rein litauischer Kultureinrichtungen ging. Zu den wenigen Gotteshäusern der Stadt, in denen im frühen 20. Jahrhundert auch auf Litauisch gepredigt wurde, gehörte die Kirche der Schmerzensreichen Gottesmutter am Schlossplatz. Als 1904 das Verbot, litauische Texte in lateinischen Lettern zu drucken, das im Zarenreich nach dem Aufstand von 1863/64 verhängt worden war, aufgehoben wurde, regte sich sogleich der Wunsch nach Gründung einer eigenen Tages- oder Wochenzeitung für die litauischsprachigen Bewohner der Stadt. Die benötigte Genehmigung wurde jedoch mit der Begründung verweigert, es sei kein Zensor mit hinreichenden Litauischkenntnissen verfügbar. Bis zum erstmaligen Erscheinen der Zeitung »Rygos Garsas« (»Rigaer Echo«) vergingen so noch rund fünf Jahre. Die Entwicklung von Handel und Industrie und das Ende   der alten Stadtverfassung

Das beschriebene Bevölkerungswachstum spiegelt einen Aufschwung wider, der in Rigas Tradition als Handelszentrum wurzelte; es hätte jedoch keine derartigen Ausmaße annehmen können, wäre nicht als zweiter Wirtschaftsmotor eine Industrielandschaft hinzugetreten, deren einzelne Zweige keineswegs allesamt typisch für eine alte Hafenstadt erscheinen. Dass sie dies nicht durchweg waren, half Riga zugleich beim Abfedern der wenigen wirtschaftlichen Krisen, die sich in das insgesamt jahrzehntelange Boomzeitalter vor dem Ersten Weltkrieg mischten. Was Handelsbilanzen betrifft, überstieg der Umfang der Exporte anfangs noch deutlich den der Importe. Mit den Jahren ähnelten die Dimensionen der Importe dann zunehmend denen der Exporte, wenn auch nie mit einem Übergewicht im Bereich der Importe; doch als Folge der durch Rigas gleichzeitige Industrialisierung bedingten Bedarfssteigerung bei Rohstoffen Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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und Maschinen kam man einem Gleichgewicht von Einfuhr und Ausfuhr in den letzten Jahren vor 1914 immerhin sehr nahe. Unter den Exportgütern, deren Anteil an der Gesamtausfuhr zunächst stark anwuchs und danach lange konstant blieb, ist an erster Stelle Holz zu nennen, wobei zeitweise die umgeschlagenen Mengen an Holz in der Stadt an der Düna höher gewesen sein sollen als irgendwo sonst auf der Welt. In die Reihe der Erzeugnisse, bei deren Ausfuhr man zumindest unter den Häfen des Zarenreichs die Spitzenposition innehatte, rückten um 1900 interessanterweise Eier vor. Ansonsten fällt beim Blick auf Schiffsladelisten jener Zeit auf, wie wenig sich typische Aufzählungen von Stoffen und Artikeln, die über Riga ihren Weg nach Westen nahmen, seit dem Mittelalter verändert hatten: Nach wie vor tauchten darin Flachs und Hanf auf, wenn auch mit prozentual abnehmendem Anteil an der jährlichen Gesamtgütermenge; im Anstieg befand sich dagegen noch über 1910 hinaus der Anteil von Fellen und Häuten. Wichtigstes Abnehmerland für in Riga verschiffte Waren – darunter besonders auch für landwirtschaftliche Produkte – war bis 1914 über Jahrzehnte hinweg Großbritannien. An zweiter Stelle folgte das Deutsche Reich – anfangs mit weitem Abstand, der sich aufgrund beträchtlicher Zuwachsraten aber immer weiter reduzierte. Unter den Ländern, aus denen Waren und Güter in Riga ankamen, behauptete ebenfalls Großbritannien den Spitzenplatz, auch wenn hier sein Vorsprung gegenüber dem Deutschen Reich deutlich geringer ausfiel. Passend zur herausragenden Rolle ihrer Länder als Handelspartner wickelten den Warentransport von und nach Riga etwa zur Hälfte britische und deutsche Reeder ab, was aber nicht heißt, dass die andere Hälfte größtenteils örtlichen Reedern zufiel, selbst wenn »Meyers Großes Konversations-Lexikon« 1908 auch der Dünastadt »ein ansehnliches eignes Reedereigeschäft« bescheinigte. Andere Arten von Fahrzeugbau prägten die industrielle Entwicklung dafür umso mehr: Die »Russisch-Baltische Waggonfabrik«, 1869 von Kölner Investoren gegründet, gehörte bereits nach fünf Jahren zu den damals noch sehr wenigen Rigaer Betrieben mit mehr als 500 Arbeitern; vor der Jahrhundertwende pendelte sich ihre Beschäftigtenzahl vorübergehend sogar bei etwa 4000 ein. Dass sie 1895 Konkurrenz durch die von einem Geschäftsmann aus Österreich-Ungarn gegründete Firma »Phoenix« bekam, durch die sich die Anzahl der Arbeitsplätze in der Waggonfertigung noch einmal fast verdoppelte, verkraftete die »Russisch-Baltische Waggonfabrik« langfristig nahezu problemlos; zu verdanken war dies vor allem ihrem Einstieg in die Automobilproduktion ab 1908. Betriebsschließungen traten im damaligen Riga ohnehin nur in der Zeit zwischen 1899 und 1903 etwas gehäufter auf, in der das Zarenreich insgesamt, bedingt durch ungünstige Ent146  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

wicklungen auf dem Kapitalmarkt sowie bei den Getreidepreisen, von einer Wirtschaftskrise erfasst wurde. Gut aufgestellte Unternehmen wie etwa die »Erste Baltische Velocipedefabrik A. Leutner & Co« – bei ihrer Gründung 1886 Russlands erste Fahrradfabrik – hatten aber auch während solcher Krisenjahre nicht unter Absatzflauten zu leiden. Die Fabrikanlage »Provodnik« (»Zugführer«) im heutigen Stadtteil Sarkandaugava war die größte unter mehreren örtlichen Gummifabriken und gehörte einer russisch-französischen Gesellschaft. Ihre Produktpalette reichte von Schuhen bis hin zu Autoreifen; vor allem Letztere wurden rund um die Welt erfolgreich vermarktet. »Aetna« lautete unterdessen der Name einer Drahtfabrik. Recht beachtlich war im damaligen Riga ferner die Zahl der Brauereien. Die größte von ihnen, die 1865 gegründete Brauerei »Waldschlösschen«, schuf sich Absatzmärkte in ganz Russland. Zeitlich parallel zum Höhepunkt der industriellen Entwicklung fand Anfang der 1890er Jahre ein in zwei Schritten vonstatten gegangener grundlegender Umbau der städtischen Verwaltungsstrukturen seinen Abschluss. Bereits 1878, knapp ein Jahrhundert nach ihrer vorübergehenden Außerkraftsetzung unter Katharina der Großen, stand die alte Stadtverfassung vor dem endgültigen Aus. In leicht modifizierter Form wurde damals die russische Städteordnung von 1870 auch für die Ostseeprovinzen wirksam; anders als bei den Reformen von 1785 bedeutete dies allerdings nicht die sofortige Abschaffung des Rates, sondern vorerst – bis zu einer Justizreform im Jahre 1889 – nur eine Beschränkung seiner Funktionen auf die Bereiche Justiz und Steuerverwaltung. Aufgaben in der Steuerverwaltung blieben daneben auch den Gilden übergangsweise noch erhalten. Ansonsten ersetzten den Rat ab 1878 eine 72-köpfige Stadtverordnetenversammlung sowie das Stadtamt als deren Exekutivorgan. In beiden hatte den Vorsitz das Stadthaupt inne: Zumindest bei dieser Amtsbezeichnung wurde also noch einmal zur Terminologie der Jahre 1785–1796 zurückgekehrt. Im Gegensatz zu den Regelungen jener Zeit waren jetzt allerdings sämtliche Amts- und Wahlperioden auf vier statt auf drei Jahre bemessen. Die Stadtamtsangehörigen standen für die Stadtverordneten nie alle gleichzeitig zur Wahl; stattdessen kam es alle zwei Jahre zur Neu- oder Wiederwahl jeweils der Hälfte der Amtsträger. Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung waren für das Stadtamt nicht notwendigerweise bindend. Einen Zeitraum nochmaliger wesentlicher Veränderungen bildeten die Jahre 1889–1892 – zum einen aufgrund der Beseitigung einiger letzter der von der alten Stadtverfassung hinterlassenen Institutionen, zum anderen aufgrund der Implementierung einer nochmals neueren russischen Städteordnung anstelle derjenigen von 1870/78: So verschwanden aus dem RechtsRigas Aufstieg zur Großstadt 

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und Verwaltungsgefüge der Stadt nun zusammen mit dem Rat auch Einrichtungen wie etwa das Stadtkonsistorium – bis dahin Aufsichtsbehörde für die evangelisch-lutherischen Gemeinden Rigas und zugleich Gericht in Kirchenund Ehesachen. Derweil vergrößerte sich die Stadtverordnetenversammlung 1892 um acht Sitze; und eine gänzliche Neuregelung wurde beim Wahlrecht verfügt: Statt des von 1878 an praktizierten Drei-Klassen-Wahlrechts galt ab den 1890er Jahren ein klassisches Zensuswahlrecht, das an GrundbesitzWertzumessungen gebunden war und den Kreis der aktiv Wahlberechtigten im Vergleich zu vorher noch stärker einengte, und zwar faktisch auf Grundbesitzer, Großhändler, Bankiers, Fabrikanten und Einzelhändler. Nicht mehr wahlberechtigt war nach 1889 insbesondere der so genannte Literatenstand, der sich sein Wahlrecht in den gut zehn Jahren davor auf Grundlage einer »Literatensteuer« gleichsam hatte erkaufen können. Der Begriff »Literaten« bezeichnete in den baltischen Provinzen zusammenfassend all diejenigen, deren Berufe üblicherweise eine akademische Ausbildung voraussetzten, darunter insbesondere Juristen, ebenso aber auch Ärzte, Lehrer und Pastoren. 1863 war es noch zu ernsten Reibereien gekommen, als eine größere Zahl von Literaten in die Große Gilde hatte aufgenommen werden wollen. Die faktische Wahrnehmung des Wahlrechts ging in den 1880er Jahren immerhin so weit, dass aufseiten der gut 5000 bzw. später rund 6000 Personen, denen es zustand, die Wahlbeteiligung zwischen 65 und 80 Prozent pendelte. Nach 1892 fiel diese bei den wenigen verbliebenen Wahlberechtigten erheblich niedriger aus, ehe sie ab 1901 wieder ungefähr die Werte von vor 1892 erreichte und 1913 sogar einen Rekordwert von 87 Prozent. An die Spitze der Stadt wurde nach Einführung der Städteordnung von 1870/78 Robert Büngner (* 1815, † 1892, ab 1876 »von Büngner«, 1878– 1885 Stadthaupt) gewählt. Während seiner zweiten Amtsperiode vorzeitig abgesetzt, weil er des Russischen nicht mächtig war und dessen Anwendung im Schriftverkehr zwischen kommunalen und staatlichen Behörden verweigerte, wurde er ein erstes prominentes Opfer dessen, was oben unter anderem schon im Zusammenhang mit dem Wechsel der Unterrichtssprache am Polytechnikum als einer davon betroffenen Lehreinrichtung Erwähnung fand: der landläufig so bezeichneten »Russifizierung« von Randgebieten des Zarenreichs wie den Ostseeprovinzen, für die in sprachlicher Hinsicht bis dahin weit gefasste Sonderrechte gegolten hatten. Passender erscheint freilich der Begriff »Unifizierung«, da eben auch Vorgänge wie die Durchsetzung neuer Städteordnungen Teil dieser »Unifizierung« waren. Auf Büngner folgten August Georg Friedrich von Oettingen (*  1823, † 1908, 1862–1868 Gouverneur von Livland, 1886–1889 Stadthaupt) und 148  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Ludwig Wilhelm Kerkovius (* 1831, † 1904, 1890–1901 Stadthaupt). Auch Oettingen schied vorzeitig und eher unfreiwillig aus dem Amt, nachdem er seinen Verwandten Maximilian von Oettingen (* 1843, † 1900) nicht davon abgehalten hatte, in der Stadtverordnetenversammlung das Vorgehen der Gouvernementverwaltung unter Michail Alekseevič Zinov’ev (*  1838, † 1895, ab 1885 Gouverneur von Livland) in bäuerlichen Rechtsangelegenheiten zu beanstanden. Rigas Rathaus sank damals zu einem beliebigen öffentlichen Gebäude herab: In den beiden oberen Geschossen wurde die Stadtbibliothek angesiedelt, während das Erdgeschoss in der westlichen Gebäude-Hälfte ein Gericht und in der östlichen eine Bank beherbergte, wobei das einstige Untersuchungsgefängnis im Kellergewölbe zum Tresorraum wurde. Die Rigaer Rolandsfigur 1897 wurde Rigas Rathausplatz wieder mit einer Rolandsstatue bestückt, wie es sie hier seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts – damals allerdings aus Holz – schon einmal gegeben hatte. Mag diese Reaktivierung eines klassischen Symbols städtischer Unabhängigkeit und Freiheit auch wie eine trotzige Reaktion der Stadtväter auf die politischen Veränderungen in den Jahren davor erscheinen, so wurde die Aufstellung jener Statue gleichwohl nur möglich, weil die Eigentümer der benachbarten Häuser die Mittel hierfür spendeten. Ihnen war an der Verschönerung eines artesischen Brunnens in der Platzmitte gelegen, der 1895 als einer von damals über 30 neuen Brunnen im Stadtgebiet gebohrt wurde, nachdem 1894 einmal mehr eine Cholera-Epidemie ausgebrochen war und den dringenden Bedarf an sauberem Trinkwasser verdeutlicht hatte. Den massiven Beschuss des Rathausplatzes im Juni 1941 überstand die gut sechs Meter hohe und bis 1945 als geometrischer Mittelpunkt der Stadt betrachtete Komposition aus Brunnen und Rolandsstatue nahezu unbeschädigt. Dennoch handelt es sich bei der heute an diesem Standort zu sehenden Rolandsfigur nicht mehr um das Original von August Volz (* 1851, † 1926), Rigas meistbeschäftigtem Bildhauer der Zeit um 1900, sondern um eine gut ein Jahrhundert jüngere Kopie. Volz’ Werk wurde nach 1945 in der Petrikirche platziert. Als das tatsächliche Original kann, wenn man auf Rigas Rolandstradition als Ganze blickt, natürlich auch der Roland von 1896/97 nicht gelten; anders als manch sonstige Stadt, deren Rolandstradition bis ins Mittelalter zurückreicht, besitzt Riga seinen ursprünglichen Roland aber eben nicht mehr. Dennoch kann es von sich behaupten, die von der Hauptverbreitungsgegend von Rolanden – nämlich Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Teilen Norddeutschlands – am zweitweitesten entfernte Stadt zu sein, für die sich eine erste Rolandsfigur bereits auf das Mittelalter bezogen nachweisen lässt. Die am weitesten von besagter Hauptverbreitungsregion in Deutschland entfernte Stadt mit einem mittelalterlichen Roland ist und bleibt unterdessen das an der Adria gelegene Dubrovnik.

Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Der Rathausplatz um 1900 mit der wenige Jahre zuvor in seiner Mitte aufgestellten Rolandsfigur

Im Vorausblick auf das Jahr 1901, in welchem Riga seinen 700. Geburtstag begehen konnte, wurde in Erwägung gezogen, dies mit der möglichen Grundsteinlegung für ein modernen Verwaltungsabläufen gerecht werdendes neues Rathaus zu verbinden. In offiziellen Verlautbarungen sprach man allerdings wohlweislich von einem »Stadthaus«, um keinerlei Voreingenommenheit der russischen Behörden aufgrund des allzu deutschen Klangs des Wortes »Rathaus« zu provozieren. Ein eigens abgehaltener internationaler Architektenwettbewerb führte zu respektablen Einsendungen; allerdings offenbarte er auch die Schwächen des in Aussicht genommenen Baugeländes, das durch den damals fest vorgesehenen Abriss der Jakobskasernen gewonnen werden sollte. Das potenzielle Rat- bzw. Stadthaus hätte seine Fassaden dem Bastei-Boulevard zuwenden sollen und dabei wohl ein wenig die Wirkung des Pulverturms, den die Studentenverbindung »Rubonia« gerade erst mit einigem Aufwand renoviert hatte, beeinträchtigt. Letztlich wurde das Vorhaben begraben; ein Neubauprojekt von bleibendem Wert, mit dem die Stadt sich zu ihrem Jubiläum hätte selbst beschenken können, kam also nicht zustande. Als umso denkwürdiger erwies sich das, was – nach nur wenigen Jahren Planungszeit – 1901 immerhin temporär aufgeboten und in Szene gesetzt wurde.

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Erfolge und Spannungen vor und nach dem 700-jährigen   Stadtjubiläum 1901

Belastungen für das Verhältnis zwischen deutschen, lettischen und teilweise auch russischen Rigensern waren im Zusammenhang mit Rigas 700-JahrFeier geradezu vorprogrammiert. Denn einerseits musste, je nachdem wie stark Geschichtliches in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten gestellt werden würde, mit dem Vorwurf einer Überbetonung des deutschen Erbes der Stadt gerechnet werden; und selbst wenn die Deutschen in dieser Hinsicht eine glückliche Hand bewiesen, so mochte ihnen andererseits vorgehalten werden, sie hätten eine Art Alleinverantwortungsanspruch für die Vorbereitung des Festjahrs erhoben und die anderen Nationalitäten von vornherein von dessen Ausrichtung ausgeschlossen. Faktisch betraf die Kritik, die den Deutschen im weiteren Verlauf entgegenschlagen sollte, vor allem die zweite dieser beiden Ebenen. Hinsichtlich der Schärfe der Kritik waren Unterschiede zwischen der russischen und Teilen der lettischen Stadtöffentlichkeit zu verzeichnen; denn viele Russen begnügten sich mit der Feststellung, ein 700  Jahre zurückliegender Stadtgründungsvorgang, den ohnehin nur ein knappes Fünftel der Einwohnerschaft für bedeutsam halte, gebe weit weniger Anlass zu Feierlichkeiten als der 1910 zu begehende 200. Jahrestag der Vereinigung Rigas mit dem Zarenreich. In dieser Haltung bestätigte sie in der Folgezeit der Umstand, dass Nikolaus II. (* 1868, † 1918, 1894–1917 Zar) der Stadt 1901 keinen Besuch abstattete und lediglich Regierungsvertreter entsandte, 1910 jedoch fast drei Tage in und um Riga verbrachte. Das Programm des Zarenbesuchs von 1910, das vor der Einweihung eines Denkmals Peters des Großen zunächst die Besichtigung des Schwarzhäupterhauses beinhaltete und darüber hinaus gleich zwei Veranstaltungen im Ritterschaftshaus umfasste, konnte andererseits aber auch wie eine Bekräftigung jener deutschen Führungsansprüche erscheinen, die in den Stadtjubiläumsfeierlichkeiten neun Jahre zuvor noch einmal deutlich zur Geltung gekommen waren. Letzteres traf besonders deswegen zu, weil die Deutschen bei den Jubiläumsvorbereitungen die Regie nun einmal fest in der Hand behalten hatten: Befürworter eines eher geschichtliche Leistungen akzentuierenden Festakts waren in internen Diskussionen zwar unterlegen; und die stattdessen favorisierte Idee einer Industrie- und Gewerbeausstellung, die 1901 sämtlichen in den Ostseeprovinzen vertretenen Nationalitäten die Möglichkeit geben sollte, ihre technologischen Erfolge zu präsentieren und diese symbolisch in den Dienst des Zarenreichs zu stellen, fand nach und nach sogar bei einem Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Teil des lettischen Lagers Zuspruch. Trotzdem blieb sie eine Idee deutscher Kreise innerhalb der Stadtbevölkerung. Diesen fiel damit automatisch auch die Verwirklichung zu. Der Vorschlag knüpfte an Erfahrungen an, die Riga seit 1865, dem Gründungsjahr des örtlichen Gewerbevereins, mit Industrie- und Handwerksschauen gesammelt hatte. Vorgebracht wurde er im Oktober 1898 auf einer Sitzung genau dieses Vereins. Konkrete Beschlüsse, eine solche Ausstellung nunmehr auch zum 700. Geburtstag der Stadt zu veranstalten, fielen Ende April 1899. Ein zwölfköpfiges Exekutivkomitee wurde eingesetzt und der russische Finanzminister Witte zum Ehrenpräsidenten der Ausstellung erkoren. Nach einem offenen Wettbewerb zur Flächen- und Gebäudegestaltung auf dem Ausstellungsgelände votierte die Jury Anfang 1900 für ein Konzept, das der damalige Gewerbeschuldirektor Max Scherwinsky (* 1859, † 1909) erarbeitet hatte. Wo genau in Riga jenes Ausstellungsgelände liegen würde, war dabei noch unklar; nicht ganz überraschend entschied man sich schließlich jedoch für die Esplanade, auf der auch bereits alle vorangegangenen derartigen Ausstellungen stattgefunden hatten. Durch eines unterschied sich die Ausstellung des Jahres 1901 derweil deutlich von sämtlichen vorherigen: Aufwändiger denn je wurden die Bereiche zwischen den einzelnen Hallen diesmal mit Blumenbeeten, Baumgruppen und einem großen Springbrunnen gefüllt, ganz zu schweigen vom gestalterischen Aufwand an den Hallen und Pavillons selbst, die sich in kunstvollem Jugendstil darboten. Eine wesentliche Rolle bei der Inszenierung all dessen kam der beinahe noch ungewohnten elektrischen Beleuchtung zu, deren Installation die Elektrizitätsgesellschaft »Union« übernahm. Nach der Eröffnung der Ausstellung am 1. Juni 1901 erstrahlte die Esplanade zunächst einmal pro Woche abends in elektrischem Licht, später dann sogar dreimal. Konzerte eines von dem finnländischen Dirigenten Georg Schnéevoigt (* 1872, † 1947) geleiteten Orchesters, das 46 Philharmoniker aus Helsinki umfasste, sorgten dabei stets für einen passenden musikalischen Rahmen. Nicht an das Ausstellungsgelände gebundene Höhepunkte der dreimonatigen Veranstaltung, darunter Festgottesdienste und eine Schiffsparade auf der Düna, konzentrierten sich auf die Tage vor und nach der Johannisnacht, während die übrige Zeit hindurch vor allem eben Gewerbetreibenden ein Forum geboten wurde. Dass das Zarenreich seinerzeit mitten in einer Wirtschaftskrise steckte, war im Angesicht all dessen, was es auf dem Gelände zu bewundern gab, kaum wahrnehmbar. Ausdrücklich sollten – wie davor erst einmal, nämlich bei einer Ausstellung im Jahre 1883 – alle drei Ostseeprovinzen ihre industriellen Fortschritte 152  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

vorführen können. De facto handelte es sich dennoch nur bei einem von acht Ausstellern um einen Unternehmer aus Kurland oder Estland, während die übrigen sieben, ob nun deutscher, russischer, lettischer oder sonstiger Nationalität, in Riga selbst oder dem Gouvernement Livland ansässig waren. Allerdings bezeugt die während der drei Ausstellungsmonate zustande gekommene offizielle Besucherzahl von 806898, dass zumindest das Publikumsinteresse weit über die Grenzen von Stadt und Gouvernement hinausreichte. Von der Esplanade führte eigens eine Brücke hinüber in den schräg gegenüber befindlichen Schützengarten, den heutigen Kronvalds-Park, wo den Ausstellungsgast neben Restaurants und einem als »Vogelwiese« bezeichneten Vergnügungsareal noch eine weit spektakulärere Attraktion erwartete: Ein aus provisorischen Bauten zusammengefügtes »Alt-Riga« versetzte ihn hier in das frühe 17. Jahrhundert. Deutsche Besucher begeisterte diese Attrappe eines frühneuzeitlichen Städtchens sicher stärker als lettische; davon unabhängig wurde sie jedoch zum meistfotografierten Bestandteil der gesamten Ausstellung. Die Idee, im Rahmen eines Stadtjubiläums oder einer aus anderem Anlass veranstalteten Großausstellung romantisierende Scheinbauten zu präsentieren, die andeuteten, wie die Gastgeberstadt in fernerer Vergangenheit ausgesehen haben könnte, hatte damals bereits einige Vorläufer. Zum Beispiel war ein mit dem »Alt-Riga« von 1901 vergleichbares »Alt-Berlin« als Teil der Berliner Gewerbeausstellung von 1896, der bis dahin größten Industrieschau im Deutschen Reich, zu sehen gewesen; und vier Jahre später war ein frei nachempfundenes mittelalterliches Paris zum Publikumsmagneten auf einer Pariser Weltausstellung geworden. In Riga eiferte man diesen Vorbildern mit einigem Aufwand nach. Die baulichen Nachahmungen von Schwarzhäupterhaus, Rathaus und weiteren, nur bedingt identifizierbaren Gebäuden muteten schon deshalb täuschend echt an, weil sie, obwohl nur aus Bretterwänden aufgerichtet, allesamt verputzt waren. Überall dort, wo Abschnitte der vermeintlichen Mauern unverputzt erscheinen sollten, sorgten eingeritzte oder auch aufgemalte Fugen für den gewünschten optischen Effekt. Zudem handelte es sich nicht etwa um ein Modell im Miniaturmaßstab, sondern um Nachbauten mit halbwegs realitätsnahen Abmessungen. Das Erscheinungsbild der Wehrtürme, die das kleine Ensemble vervollständigten, gab der zuständige Architekt August Reinberg (* 1860, † 1908) gewissenhaft in Anlehnung an eine Stadtansicht aus dem Jahre 1612 vor. Bei den übrigen Bauten konnte er sich teils an Johann Christoph Brotzes Zeichnungen aus der Zeit um 1800 orientieren Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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sowie teils auf die Baugeschichtsforschungen Wilhelm Neumanns stützen. Eher wie ein Phantasiegebilde wirkte Reinbergs »Alt-Riga« höchstens dadurch, dass es sich ähnlich einem Wasserschloss unmittelbar aus dem Stadtkanal erhob, anstatt ein paar Meter Abstand vom Ufer zu wahren und auf diese Weise den Anschein einer imaginären Düna, der hier geweckt werden sollte, perfekt zu machen. Primär ging es aber nun einmal nicht um bauliche Feinheiten, sondern darum, das Ausstellungspublikum zu unterhalten; und damit dies gelang, wurden die einzelnen Bauten sogar mit einem Innenleben in Form von Läden und Restaurants ausgestattet und deren Bedienstete in einer zur Kulisse passenden Art und Weise kostümiert. Darüber hinaus bot sich die Gelegenheit zu Theateraufführungen und Kostümfesten unter freiem Himmel. Den Stadtkanal befuhren derweil auch die Gondeln eines als »Venedig in Riga« bezeichneten Bautenensembles in unmittelbarer Nähe, mit dem die Veranstalter das für damalige Großausstellungen ebenfalls typische Prinzip aufgriffen, neben etwas zeitlich Fernem noch etwas räumlich Fernes, gleichsam Exotisches nachzubilden. Auf der erwähnten Berliner Gewerbeausstellung beispielsweise hatte eine Imitation Kairos ungeahnte Anziehungskraft ausgeübt. Weder von »Alt-Riga« noch von »Venedig in Riga« blieb über das Jahr 1901 hinaus irgendetwas erhalten. Gegenteilige Erwägungen wären schon deswegen schwer vorstellbar erschienen, weil der Schützengarten sich noch bis 1933 im Besitz eines 1859 gegründeten deutschen Schützenvereins befand, wodurch er für die Öffentlichkeit bis 1927 üblicherweise nicht zugänglich war. Nur ein einzelner steinerner Pavillon aus dem Jubiläumsjahr steht hier auch heute noch an derselben Stelle wie 1901 – als Relikt eines Festsommers, der den meisten Rigensern letztlich doch positiv in Erinnerung blieb. Die Einzigartigkeit der Jubiläumsfeierlichkeiten von 1901 wurde in gewisser Weise auch dadurch besiegelt, dass schon bald neue Gebäude einen Teil des für die Industrieausstellung genutzten Geländes füllten: Die vorher lediglich durch die orthodoxe Christi-Geburt-Kathedrale partiell vereinnahmte Esplanade, die 1901 von Georg Kuphaldt (* 1853, †  1938, 1880–1915 Stadtgartendirektor) zum ersten Mal überhaupt aufwändig begrünt worden war, blieb großteils zwar weiterhin unbebaut, denn ein völliger Verzicht auf die Möglichkeit, hier Militärparaden abzuhalten, konnte dem Kriegsministerium nicht abgerungen werden; immerhin galt ab 1902 jedoch nicht mehr jenes fast vollständige Bebauungsverbot, das zuletzt 1875 Alexander III. (* 1845, † 1894, ab 1881 Zar) noch einmal verfügt hatte. Dank dieser Lockerungen entstand nahe der nördlichen Ecke der Esplanade bis 154  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

1905 das städtische Kunstmuseum – die spätere Nationalgalerie – und beinahe zeitgleich wurde südwestlich davon die Kommerzschule des Börsenkomitees errichtet. Von Letzterer war weiter oben schon einmal die Rede, als es um prägnante Unterschiede zwischen ihrer Architektursprache und typischen Architekturkonzepten der Zeit um 1860 ging. Die Position des Kunstmuseumsdirektors fiel Wilhelm Neumann zu, der das Gebäude, das ihm damit zur Arbeitsstätte wurde, zuvor selbst entworfen hatte. Anstrengungen zur immer weiteren Belebung der Wirtschaft und zur Errichtung stattlicher öffentlicher Gebäude waren indes nicht das Einzige, wozu das Jubiläumsjahr 1901 Impulse freisetzte. Stadthaupt war seit genau diesem Jahr der oben schon einmal als Mitbegründer der »Fraternitas Baltica« erwähnte George Armitstead. Seines Zeichens Besitzer einer der größten Chemiefabriken in der aufstrebenden Metropole, hatte der 1847 geborene Armitstead bereits Anteil daran gehabt, dass die Frage des Charakters der Stadtjubiläumsfeierlichkeiten zugunsten einer Industrieschau entschieden worden war. Wie bereits 1817 sein Großvater, der einer englischen Großkaufmannsfamilie entstammte und 1812 nach Riga gelangt war, so hatte 1874 auch er in das alteingesessene Bürgertum der Stadt eingeheiratet. Armitstead und seine unmittelbaren Vorfahren verkörperten also einen jener damals gar nicht seltenen Fälle, in denen jemand, obwohl er selber keine deutschen Wurzeln hatte und sich der Herkunft seiner Familie zeitlebens sehr bewusst blieb, engen Anschluss an das baltische Deutschtum fand und nach und nach in diesem aufging. Vor George Armitstead hatte allerdings noch niemand mit einem solchen persönlichen Hintergrund Rigas höchstes politisches Amt ausgeübt. Als er für diese Position vorgeschlagen wurde, schwang bei vielen die Hoffnung auf einen Modernisierungsschub mit, wie es ihn zuletzt im zeitlichen Umfeld der Abtragung der Befestigungswälle gegeben hatte. Manch einer verwechselte dabei vielleicht politische mit privaten Möglichkeiten, nachdem Armitstead in den 1890er Jahren aus eigener Tasche ein Kinderhospital finanziert hatte. Tatsächlich vermochte dieser aber nahezu alle Erwartungen, die in ihn gesetzt worden waren, zu erfüllen – ob beim Verbessern der Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität, beim Erweitern der Kanalisation oder auch hinsichtlich der Errichtung neuer Schulen und Krankenhäuser. Eine problemlose Wasserversorgung war zwar schon in den Jahrzehnten davor für immer mehr Haushalte erreicht worden, jedoch ohne eine gleichzeitige Steigerung der Qualität des zugeführten Wassers: Industrialisierungsbedingte Verunreinigungen hatten vielmehr dazu beigetragen, dass nach Rückgängen der Sterblichkeitsrate, zu denen es ab etwa 1870 gekommen war, die besonders zuwanderungsintensiven 1890er Jahre wieder eine Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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leichte Zunahme der Sterblichkeit mit sich gebracht hatten. Insofern ging es um 1900 primär darum, Trinkwasserzufuhr verstärkt vom Hinterland her sicherzustellen, was ab 1903 schließlich gelang. Optimale Gegebenheiten bedeutete dies allerdings immer noch nicht, da der Ausbau von Leitungsnetzen und damit die Anbindung an nunmehr besseres Trinkwasser auch 1914 noch nicht überall bis in die Vorstadt-Außenbezirke hinein, in denen die meisten einfachen Arbeiter lebten, verwirklicht war: Am Griesenberg (lett. Grīziņkalns) etwa mussten selbst zu dieser Zeit viele Bewohner noch mit Brunnen hinter den Häusern und mit Petroleumlampen als Zimmerbeleuchtung vorlieb nehmen. Ähnlich stellten sich die Verhältnisse links der Düna in der Mitauer Vorstadt dar. Wenn viele Rigenser dennoch bereit waren, über derlei Missstände hinwegzusehen, so lag dies an dem Bewusstsein, dass in praktisch allen übrigen Metropolen des Zarenreichs große Teile der jeweiligen Bevölkerung unter noch prekäreren Lebensumständen litten und dort merklich höhere Sterblichkeitsraten verzeichnet wurden. Städte unter Zarenherrschaft, die geringfügig mehr Infrastruktur- und Fürsorge-Qualität bieten konnten, gab es lediglich im Großfürstentum Finnland, und dies auch nur, weil den dortigen Städten bestimmte Einnahme-Arten zugestanden wurden, die Riga nicht zugänglich waren. Derweil bedeutete die Errichtung des städtischen Elektrizitätswerks auf dem Andreasholm 1905/06 vor allem insofern einen großen Fortschritt, als zuvor ausschließlich private Elektrizitätswerke betrieben worden waren, von denen nur jeweils der engere Umkreis Nutzen gehabt hatte: Im Falle des Werks, das für das Stadttheater entstanden war, bedeutete dies zum Beispiel einen Einzugsbereich von 300 Metern und ein Maximum von gerade einmal 24 angeschlossenen Haushalten oder Geschäften. – Bei dem Stichwort »Stadttheater« bedarf es der Klarstellung, dass damit das so genannte Erste bzw. Deutsche Stadttheater gemeint ist, von dem weiter oben schon ausführlich die Rede war; denn in Armitsteads Zeit als Stadthaupt trat noch das an der Ecke von Krišjāņa Valdemāra iela (damals Nikolaistraße) und Kronvalda bulvāris (damals Puschkin-Boulevard) platzierte Zweite Stadttheater hinzu, dessen Errichtung 1897 vom Stadtrat beschlossen worden war. 1902, im Jahr der Fertigstellung des neobarocken Gebäudes, erging die Entscheidung, es für zunächst drei Jahre an die russische Theatergesellschaft der Stadt zu vermieten. Die Mietvereinbarung wurde danach noch dreimal für jeweils vier Jahre verlängert, so dass sie 1917 auslief. Eine Auslastung, die, umgerechnet auf die Zahl der Sitze und auf die Gesamtsaison, der Auslastung des Deutschen Stadttheaters gleichgekommen wäre, wurde in jenem Russischen Theater damals nie erreicht. Im Herbst 1917 – und somit noch vor der 1918 in 156  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

seinen Mauern beschlossenen Gründung des Staates Lettland – erlebte der im November 1919 schließlich zum Nationaltheater erklärte Bau dann erstmals eine Aufführung in lettischer Sprache. Zu den weiteren Errungenschaften, die sich mit der Amtszeit Armitsteads verbinden, zählt, um nur ein Beispiel zu nennen, die Einführung einer kommunalen Feuerwehr 1907. Bei alldem kam dem Amtsinhaber zugute, dass er einer Generation angehörte, die bereits am örtlichen Polytechnikum hatte studieren können, und dass er überdies Studienjahre im Ausland – genauer gesagt in Zürich und Oxford – absolviert hatte. Die letzte noch zu seinen Lebzeiten erfolgte Einweihung einer öffentlichen Örtlichkeit war die des Zoos im Oktober 1912. Zwei Wochen später wurde dem bereits schwer erkrankten Armitstead die Ehrenbürgerwürde verliehen. Die nach seinem Tod im November sehr bald lancierte Anregung, ihm sogar ein Denkmal zu setzen, blieb infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ergebnislos, wurde jedoch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. Im Rahmen eines Lettland-Besuchs im Oktober 2006 oblag es damit schließlich der britischen Königin Elizabeth II. und ihrem Gemahl Prinz Philip, sich unmittelbar nach der üblichen Kranzniederlegung am Freiheitsdenkmal einige Schritte von dort in Richtung Nationaloper zu begeben, um nahe dem Stadtkanal ein steinernes Abbild Armitsteads und seiner Gattin zu enthüllen. Das prägnanteste Rigaer Stadterweiterungsprojekt des frühen 20. Jahrhunderts – die Schaffung der vornehmen Villenkolonie Kaiserwald inmitten des gleichnamigen Waldgebietes südwestlich des Stintsees – stieß bei Armitstead interessanterweise auf wenig Sympathie. Mit dieser Einstellung stand das Stadthaupt allerdings nicht allein da; vielmehr dauerte es Jahre, bis der 1901 begonnene Versuch, im Kaiserwald das damals europaweit von Architekten und Stadtplanern propagierte Konzept einer Gartenstadt umzusetzen, erkennbaren Anklang fand. Um noch mehr Fläche bereithalten zu können, wurde 1910/11, obwohl die Füllung der einzelnen Grundstücke mit Häusern bis zu diesem Zeitpunkt eher schleppend vorangeschritten war, sogar eine zweite Planungsphase eingeläutet. Zugleich verlor Rigas Stadtgartendirektor Georg Kuphaldt, der das Projekt bis dahin federführend ausgearbeitet hatte, seine Gestaltungshoheit. Den wörtlich mit »Waldpark« zu übersetzenden Namen »Mežaparks«, der im Lettischen seit den 1920er Jahren als Entsprechung für »Kaiserwald« dient, könnte man indes fast so interpretieren, als würdige er, wie sehr der neu entstandene Stadtteil seinen spezifischen Charakter gerade Kuphaldt verdankt – denn dessen Vorschläge für den Verlauf von Straßen und Wegen entsprachen meist in gewisser Weise dem Denken eines Landschaftsplaners. Ab 1911 trugen dagegen alle StraRigas Aufstieg zur Großstadt 

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ßennetz-Ideen für Kaiserwald die Handschrift eines klassischen Städtebauers, und zwar keines Geringeren als des gebürtigen Aacheners Hermann Jansen (* 1869, † 1945), der mit seinen Entwürfen für ein künftiges Groß-Berlin 1910 als einer von zwei Siegern aus einem von der Stadt Berlin und einigen Umlandgemeinden veranstalteten Wettbewerb hervorgegangen war. Während vor 1914 zunächst die Bebauung an den bereits ab 1901 angelegten Straßen weiter vervollständigt wurde, sollte die Bebauung der auf Jansen zurückgehenden Straßenzüge sich noch bis in die frühen 1930er Jahre hinein fortsetzen. Bei den Häusern selbst handelte es sich großteils um Holzbauten. Viele wurden jedoch verputzt, so dass sich in optischer Hinsicht fließende Übergänge zu den wenigen tatsächlichen Steinbauten ergaben – vielfach unterstützt durch Fachwerk als zusätzliches Dekorelement für einzelne Außenwandflächen. Von Anfang an mischten sich zwischen die für Kaiserwald typischen eineinhalb- bis zweigeschossigen Eigenheime hier und da auch zweigeschossige Mehrfamilienhäuser, da es den Eindruck zu vermeiden galt, den Planern hätte ein Wohnviertel speziell für die Elite der Stadt vorgeschwebt. Faktisch relativierten sich potenzielle Image-Prägungen dieser Art später auch durch den 1909 gegründeten Fußballverein »SV Kaiserwald Riga«, der 1922 und 1923 lettischer Fußballmeister wurde. Der Ausbau Kaiserwalds machte gleichwohl kenntlich, in welcher Weise die öffentliche Hand seinerzeit Prioritäten setzen ließ: Das Geld, das zum Beispiel ausgegeben wurde, um die Siedlung bereits 1906 an das Straßenbahnnetz anzuschließen, fehlte einstweilen an anderer Stelle. Wirtschaftliche Dynamik ging für eine Stadt wie das damalige Riga zudem nicht automatisch mit einem immensen Steueraufkommen einher. Seit den jüngsten Stadtreformen waren die dem städtischen Gemeinwesen verbliebenen Besteuerungsmöglichkeiten vielmehr minimal. Insoweit galt der Ausbau des Straßenbahnwesens, das im Stadtjubiläumsjahr 1901 die zuvor knapp zwei Jahrzehnte in Betrieb gewesene Pferdebahn abgelöst hatte, sogar als Investition zugunsten der Stadtkasse, da hierbei eine mittelfristige GewinnErwartung bestehen konnte. Die Straßenbahnbetriebe waren formal als Aktiengesellschaft organisiert, jedoch mit der Klausel, dass die Hälfte des Reingewinns grundsätzlich an die Stadt floss. Bei der Strecke in Richtung Kaiserwald durfte mit einer guten Auslastung gerechnet werden, soweit man davon ausging, dass die Bevölkerung den 1901 zu einem Volkspark erklärten nördlichen Teil des Waldgebietes, ein Areal von immerhin gut fünf Quadratkilometern, im Falle einer bequemen Anbindung an die Stadt auch intensiv nutzen würde. Bestiegen werden konnte die Straßenbahn bereits in Bereichen, in denen dies heute aufgrund der Enge der Altstadt kaum mehr 158  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

vorstellbar erschiene; eine der ersten Linien überhaupt verlief zum Beispiel über die heutige Smilšu iela (Große Sandstraße). Die Revolution von 1905 und die letzten Jahre vor dem   Ersten Weltkrieg

In George Armitsteads elfeinhalbjährige Amtszeit fiel auch die als Resultat eines Ausbleibens von politischer Modernisierung bei gleichzeitiger Modernisierung im wirtschaftlichen, technischen und sozialen Bereich deutbare Revolution von 1905, die in den Ostseeprovinzen – und hier vor allem im Siedlungsgebiet der Letten – einen ihrer Brennpunkte hatte. Ihre Träger in Riga waren hauptsächlich die 1904 aus mehreren Vorläufergruppierungen gebildete Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (LSDAP bzw., wenn man die lettische Lautung zugrunde legt, LSDSP) und der 1897 in Wilna (lit. Vilnius) konstituierte »Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland«, wie er sich mit vollem Namen nannte. Die Ereignisse in Sankt Petersburg am 9. Januar 1905, die diesen als »Blutsonntag« in die Geschichte eingehen ließen, wurden in Riga recht schnell bekannt und verlangten aus Sicht des im September 1904 gegründeten so genannten Föderativen Komitees aus Vertretern der LSDAP und des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes nach einer Reaktion. Bereits am 12. Januar streikten daraufhin rund 20000 Arbeiter der großen Fabriken wie »Phoenix« und »Provodnik«. Am 13. Januar traten schließlich, den Aufrufen des Föderativen Komitees folgend, mindestens 50000 – manchen Schätzungen zufolge sogar 70000 – Rigaer Arbeiter in einen Generalstreik. Von der Moskauer Vorstadt aus setzte sich ein Demonstrationszug in Bewegung, der an der Eisenbahnbrücke auf Polizeieinheiten traf und, als er sich entgegen deren Aufforderungen nicht auflöste, beschossen wurde. Ob schon vor den ersten Schüssen Steine geworfen worden waren, muss offen bleiben. Nach Sankt Petersburg erlebte auf diese Weise jedenfalls auch Riga einen »Blutsonntag«, wie es hinterher oft hieß, wenngleich das hiesige Blutbad faktisch an einem Donnerstag angerichtet wurde. Die Zahl der Todesopfer lag an diesem Tag bei mutmaßlich 70 auf der Seite der Demonstranten und bei acht in den Reihen der Polizisten. In Publikationen sowjetischer Provenienz tauchten später vereinzelt auch höhere Angaben auf, darunter die Zahl 270, die sich ergab, wenn man zu den Toten noch die rund 200 Verletzten hinzuzählte. Der verhängnisvolle Lauf der Ereignisse einerseits und die erstaunlich hohe Streikbereitschaft andererseits brachten am 15. Januar Rigaer Vertreter Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) dazu, sich mit den Vertretern des Föderativen Komitees in einem einheitlichen Streikkomitee zusammenzufinden. Dessen Aufgabe bestand angesichts der erwartungsgemäßen Androhung von Massenentlassungen sehr bald darin, ein Ende des Generalstreiks herbeizuführen, was bis zum 24. Januar auch gelang. Zum Zeitpunkt seiner Beendigung trug den Streik mithin eine breitere Front von Arbeiterführern als in der Phase, in der er ausgelöst worden war. Außer dieser organisatorischen Kräftebündelung, die angesichts der Zerrissenheit der Sozialdemokratie im damaligen Zarenreich nicht selbstverständlich war, wurde durch den knapp zweiwöchigen Ausstand indes kaum etwas Greifbares erreicht. Eine ähnlich nüchterne Bilanz betraf auch noch andere Streikaktionen der ersten Jahreshälfte, darunter die der jüdischen Schlachter Rigas von Ende Mai bis Mitte Juni. Diese wehrten sich gegen die Art der Besteuerung koscheren Fleisches, die dessen Preise für die Kunden der Fleischgeschäfte in eine Höhe trieb, auf die viele Betroffene mit einer merklichen Reduzierung ihres Fleischverzehrs reagierten. Wohlhabende Rigaer Juden, die nicht gewillt waren, bis auf weiteres auf koscheres Fleisch zu verzichten, standen während der dreieinhalb Streikwochen vor der Wahl, einen der Schlachter zu bestechen oder aber zu versuchen, sich aus Litauen Fleisch zu beschaffen. Eine erste Antwort des Zaren auf das Streikgeschehen, das an vielen Orten seines Reiches um sich griff, bildete der im Februar publik gemachte Aufruf zum Einreichen von Petitionen, die es den Untertanen ermöglichen sollten, etwaige Forderungen bzw. Unzufriedenheitsfaktoren aufzulisten. Hierzu sahen sich nicht zuletzt die kommunalen Selbstverwaltungen aufgefordert, was in den baltischen Provinzen von Stadt zu Stadt recht unterschiedliche Gesuchsschriften zum Ergebnis hatte. Zu den konservativsten zählte diejenige der Stadt Riga, während beispielsweise in diejenige aus Libau (lett. Liepāja) auch ein Teil der Erwartungen der Arbeiterschaft einfloss. Rigas Stadthaupt Armitstead dagegen lehnte es sogar ab, Vertreter der aufbegehrenden Arbeiter offiziell zu empfangen. Der Ausgang der im März 1905 abgehaltenen Wahlen zur Stadt-Duma zwang ihn in dieser Hinsicht nicht zum Umdenken: Infolge einiger für das lettische Lager unvorteilhafter Weichenstellungen gingen lediglich zwölf Stadtdeputiertensitze an Letten; dies entsprach in etwa der Hälfte dessen, was noch wenige Monate zuvor für möglich erachtet worden war. Inzwischen gewannen die revolutionären Unruhen auch auf dem Lande bedrohliche Ausmaße, was Anfang August zur Verhängung des Kriegsrechts über das Gouvernement Kurland führte. In Riga betraf der nächste Aufsehen erregende Vorfall, den das Föderative Komitee aus LSDAP und jüdischem 160  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Bund vorbereitete, in der Nacht zum 7. September das Zentralgefängnis. Die beabsichtigte Befreiung politischer Gefangener gelang hier allerdings nur in geringem Umfang – bei gleichzeitiger Inkaufnahme des Todes zweier Gefängniswärter. Am 15. Oktober griff sodann der neun Tage zuvor in anderen Teilen Russlands ausgebrochene Eisenbahnerstreik auf die Ostseeprovinzen über; und ein neuerlicher Generalstreik in ganz Riga folgte Ende November, ausgerufen in Reaktion darauf, dass jetzt auch über Livland offiziell das Kriegsrecht verhängt worden war. Ein deutlicher Unterschied gegenüber dem JanuarGeneralstreik resultierte aus der zwischenzeitlichen Formierung schlagkräftiger Selbstschutzeinheiten der Arbeiterschaft, die dadurch nicht mehr ähnlich schutzlos möglichen Angriffen der Staatsgewalt oder von anderer Seite ausgeliefert war wie noch zu Jahresanfang. Als es am 20. Oktober in Verbindung mit dem Eisenbahnerstreik zu einer Massenversammlung mit annähernd 100000 Teilnehmern auf dem Griesenberg kam, sorgten organisatorische Rahmenbedingungen wie das Auftreten dieser Selbstschutzeinheiten sogar für einen geradezu geordneten Ablauf. In nahezu sämtlichen im damaligen Riga verbreiteten Sprachen – bis hin zu Polnisch, Litauisch und Estnisch – erklangen an diesem und den folgenden Tagen von etlichen Tribünen aus Dutzende von Reden. Angesichts dieses integrativen Umgangs mit dem multiethnischen Charakter der Stadt mussten die Ereignisse, die den 22., 23. und 24. Oktober prägten, umso verstörender wirken: Bereits während der Tage davor waren Gerüchte gestreut worden, denen zufolge in der Moskauer Vorstadt ein Gewaltexzess antisemitischer »Schwarzhundertschaften«, wie sie damals vielerorts im Zarenreich in Erscheinung traten, bevorstand. Am 22. Oktober bewahrheitete sich diese Pogrom-Warnung indirekt; denn aus den Reihen russischer Fabrikarbeiter, die auf einem Marsch durch die Stadt an einem jüdischen Bedürftigenasyl an der Jaroslawstraße (der heutigen Ludzas iela) vorbeikamen, hieß es plötzlich, sie seien aus diesem Heim heraus beworfen worden. Als daraufhin Steine von der Straße her auf das Bedürftigenheim flogen, bemühten sich Selbstschutzkräfte des Föderativen Komitees, Herr der Lage zu werden. Noch über Stunden hinweg fielen danach im weiteren Umkreis Schüsse und wurden jüdische Geschäfte geplündert. Sachdienliche Antworten auf die Frage, wer hier wen provoziert hatte, konnte indes niemand geben. Zu einer konkreten Schuldfeststellung gelangten auch die gerichtlichen Instanzen nicht, die die Ausschreitungen später offiziell zu untersuchen hatten. Zieht man zusätzlich in Betracht, dass die Zahl der Toten im einstelligen Bereich blieb und dass bei vielen örtlichen Juden eine 1881 erlebte Pogromwelle vergleichsweise schlimmere Erinnerungen hinterlassen hatte als der aktuelle Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Gewalt-Ausbruch, so liegt der Schluss nahe, mehr sei zu den Zwischenfällen im Oktober 1905 eigentlich gar nicht zu sagen. Im Revolutionskontext kam durch sie jedoch zugleich sehr eindringlich ans Tageslicht, welche Haltungen gegenüber Juden im Riga des frühen 20. Jahrhunderts aufeinander trafen. Die antijüdische Stimmung, die in diesen Wochen ebenso andere Städte des Zarenreichs in ähnlicher oder – wie etwa Odessa – in noch drastischerer Form befiel, wurzelte offenkundig in dem Missfallen weiter Bevölkerungsteile darüber, dass ein Ende der revolutionären Umtriebe nicht absehbar war. Viel Zorn richtete sich daraufhin gegen die Juden als deren vermeintlich alleinige Urheber. Dass eine Mehrheit der Rigaer Russen und Deutschen tatsächlich gern bereit war, durchweg Juden für die Unruhestifter zu halten, erscheint nicht unbedingt überraschend. Die publizistische Aufarbeitung der Geschehnisse verdeutlichte allerdings, wie ausgeprägt der Drang, auf größtmögliche Distanz gegenüber den Juden zu gehen, insbesondere in lettischen gesellschaftlichen Kreisen war. In der Zeitung »Balss« (»Stimme«), die in der Regel Anschauungen aus dem Umfeld des »Rigaer Letten Vereins« widerspiegelte, wurde zum Beispiel konstatiert, dass eine Verbrüderung zwischen Letten und Juden ein ausschließlich in der Sozialdemokratie anzutreffendes Phänomen sei. Demgegenüber verwiesen in der Zeitung »Dienas Lapa« (»Tageblatt«), einem Sprachrohr der LSDAP, lettische Sozialdemokraten auf das beherzte Agieren ihrer Selbstschutzeinheiten: Nur Letten sei es zu verdanken, dass 1905 der Ruf Rigas nicht ähnlich stark durch judenfeindliche Vorkommnisse habe Schaden nehmen können wie derjenige manch anderer Stadt im östlichen Europa. Der Vorwurf, genau dies riskiert zu haben, traf dabei recht einseitig die Rigaer Deutschen. Diese hätten – so die Anschuldigung – ein Interesse daran gehabt, ein Judenpogrom zu entfachen, um die Arbeiterbewegung zu diskreditieren und sie auf diese Weise möglichst zu stoppen. Was den in der übrigen lettischen Presse vertretenen Standpunkt, Schuld an dem Pogrom trügen vor allem die Juden selbst, anbelangt, so ist ein Teil der Erklärung für solche Sichtweisen in dem zeitlich parallelen sozialen Aufstieg von Letten und Juden während der Jahrzehnte davor zu suchen. Vielen Letten gab die Überzeugung Auftrieb, die Mehrzahl der Juden dabei letztlich hinter sich gelassen zu haben. Der damals geschürte Konkurrenzgeist auf wirtschaftlichem Terrain war jedenfalls derart stark, dass er rein theoretisch sogar die gegenseitige Annäherung unter dem Dach der Sozialdemokratie hätte verhindern können. Dass die Zusammenarbeit zwischen LSDAP und jüdischem Bund das Jahr 1905 faktisch auch kaum überdauerte, hatte gleichwohl andere Gründe: Zum einen drohte die Welle von Streiks, die die Herbstmonate bestimmt hatte, schließlich zu verebben, da Mitte Dezember erstmals Anzeichen von 162  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Streikmüdigkeit erkennbar wurden; zum anderen hoben Sicherheitskräfte der Regierung genau zu diesem Zeitpunkt die Schaltzentrale der Arbeiterbewegung im Haus Nr. 25 an der Romanow-Straße (der heutigen Lāčplēša iela) aus. Letzteres markierte den Beginn eines vorläufigen Ausblutens der LSDAP, von deren Mitgliedern viele, die der Verhaftung und einem möglichen Todesurteil entgingen, durch Flucht ins Exil ihre Haut retteten. Unter der Bezeichnung »Sozialdemokratie Lettlands« (lett. »Latvijas Sociāldemokrātija«, LSD) ging die Partei 1906 einstweilen in der RSDAP auf. Die bleibenden Verdienste, die sie sich bis zu diesem Zeitpunkt erworben hatte, waren – blickt man etwa auf Anstöße zur Entstehung eines erfolgreichen Gewerkschaftswesens – keineswegs gering. In sowjetischer Zeit gehörte zur Würdigung der Ereignisse von 1905 auch der stetige Hinweis darauf, dass im Frühjahr des Jahres 1900 sogar Lenin (* 1870, † 1924) einmal in der Stadt geweilt hatte, wodurch für den späteren Revolutionsführer »enge Beziehungen zum Proletariat von Riga« entstanden seien. Anlass, diese zu knüpfen, hatte es insofern gegeben, als viele Rigaer Arbeiter sich bereits 1899 an Streiks beteiligt hatten – seinerzeit noch durchweg mit Forderungen, die ihre Ausbeutung in den Betrieben betrafen, während 1905 schon überwiegend politisch-nationale Anliegen die Forderungskataloge bestimmten. Je häufiger Lenins Riga-Aufenthalt später rückblickend erwähnt wurde, desto mehr lenkte dies übrigens auch davon ab, dass außer Nikita Chruščev (* 1894, † 1971, 1953–1964 Erster Sekretär des ZK der KPdSU) und Michail Gorbatschow (Gorbačev, * 1931, 1985–1991 Generalsekretär des ZK der KPdSU, 1990/91 Präsident der UdSSR) keiner der späteren Staatsund Parteichefs der UdSSR die Stadt an der Düna jemals besucht hat – Iosif Stalin (* 1879, † 1953, ab 1927 unumschränkter sowjetischer Diktator) ebenso wenig wie etwa Leonid Brežnev (* 1906, † 1982, 1964–1966 Erster Sekretär, danach Generalsekretär des ZK der KPdSU). Erwähnungen dieses Aufenthalts passten außerdem gut zu der klassischen sowjetischen Interpretationstendenz, in Bezug auf das Jahr 1905 die besonders im Baltikum zutage getretene Verteilung des Geschehens auf zwei Arten von Schauplätzen – städtische und ländliche – oftmals auszublenden: Nach offizieller Lesart war dem Revolutionsgeschehen in den Städten eben grundsätzlich mehr Bedeutung beizumessen als dem Revolutionsgeschehen auf dem Lande. Im Zusammenhang mit dem Revolutionsherd Baltikum den ländlichen Raum als eigentliches »Epizentrum« einzustufen, wie dies in den 1990er Jahren ein amerikanischer Historiker getan hat, wäre der sowjetischen Historiographie nie eingefallen. Festzuhalten bleibt umso mehr, dass diese Einstufung 1905 durchaus auch der Sichtweise des Rigaer Deutschtums entsprach: Für dessen Presse spielte Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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die Frage, ob man die Schuld am Revolutionsausbruch in der eigenen Stadt tatsächlich den Juden geben sollte, schon deswegen keine wesentliche Rolle, weil auch beim städtischen Deutschtum in erster Linie die Erscheinungsformen, die die Revolution auf dem flachen Land annahm, für Fassungslosigkeit sorgten. Und dort handelte es sich bei denjenigen, die dutzendweise Gutshäuser in Brand gesteckt hatten, nun einmal eindeutig um Letten. In Riga waren später auch die Jahre ab 1910 noch einmal von einer Welle von Streiks geprägt. Der größte davon fand statt, nachdem im April 1912 in Sibirien Angehörige der russischen Armee streikende Arbeiter einer Goldmine am Fluss Lena erschossen hatten. – Ob die zahlreichen Streiks, zu denen es in Riga seit 1899 gekommen war, auf städtischer politischer Ebene Nutzen im Hinblick auf lettische nationale Interessen erbracht haben, ist eine Frage, die sich nur recht ambivalent beantworten lässt. Denn allem Anschein nach trugen sie dazu bei, dass zum Beispiel 1909 ein gewisser Teil der wahlberechtigten lettischen Hausbesitzer zögerte, bei den Wahlen zur Stadt-Duma für die progressive lettische Partei zu stimmen, und lieber die Liste der Deutschen, auf der auch die Namen einiger Letten standen, unterstützte. Bezeichnenderweise zogen seit den Wahlen von 1901 außerdem die meisten der wahlberechtigten Russen ein Wahlbündnis mit den Deutschen einem Wahlbündnis mit den Letten vor. Dem Kandidatenaufgebot der Deutschen, zu dem deshalb neben einigen Letten jedes Mal auch einige Russen gehörten, war in der weiteren Folge nicht einmal 1913 der Sieg zu nehmen – trotz einer für einen »lettischen« Wahlsieg inzwischen hinreichenden Zahl lettischer Stimmberechtigter und trotz angeblich gebrochener Wahlversprechen im Gefolge der Wahlen von 1909. Vermeintlich versprochen worden war zum Beispiel Unterstützung für den Bau eines repräsentativen lettischen Theaters am südöstlichen Ende des damaligen Theater-Boulevards bzw. heutigen Aspazijas bulvāris, wobei das Scheitern dieses Projekts allerdings eher auf verkehrstechnisch begründeten Zweifeln an der Eignung des vorgesehenen Baugeländes beruhte. Die Ziele des deutschen Lagers jedenfalls scheinen 1913 immerhin rund 350 stimmberechtigten Letten noch am ehesten geheuer gewesen zu sein – mit der Folge, dass eine Verdrängung der Deutschen von der kommunalen Macht, wie sie 1904 in Reval durch ein estnisch-russisches Zusammengehen dauerhaft geglückt war, in Riga bis zuletzt nicht gelang. Fünf der 1913 über die Liste der Deutschen gewählten lettischen Stadtdeputierten sahen sich nach der Wahl dem Vorwurf übermäßiger Kooperation mit dem Deutschtum ausgesetzt und deshalb zum Mandatsverzicht veranlasst; selbst diese Mandate konnten daraufhin noch von Deutschen eingenommen werden. 164  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

Wie traditionsverhaftet und pompös gesellschaftliche Zusammenkünfte der Rigaer Deutschen auf einen Außenstehenden in diesen Jahren wirkten, lässt sich exemplarisch sehr gut den Erinnerungen des Architekten Henry van de Velde (* 1863, † 1957) entnehmen, der seinerzeit zu einem geschlossenen DreierWettbewerb bezüglich eines neuen Pastorats für die Petri-Kirchengemeinde eingeladen wurde. Aus jenem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen, kam der Belgier daraufhin mehrfach persönlich nach Riga, bis der – nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiederhergestellte – Jugendstilbau an der Wallstraße (lett. Vaļņu iela) im Sommer 1912 schließlich vollendet war. Van de Velde schrieb später davon, wie seine Gastgeber ihn allabendlich zu einem festlichen Essen in einem der Vereine, denen sie angehörten, mitnahmen und wie man dort an überreichlich mit extravagantem Porzellan bedeckten Tafeln saß. An seinen damaligen Lebensmittelpunkten in Deutschland und Frankreich hatte er, obwohl keineswegs arm an gesellschaftlichen Kontakten, Vergleichbares nie erlebt. Die Erfahrungen des berühmten Architekten mit der Art, wie Rigaer Deutsche ihre Abende verbrachten, könnten zu der Annahme verleiten, auch zahlreiche Restaurants hätten damals bis zu später Stunde ihre Dienste angeboten. Tatsächlich aber schlossen Restaurants der zweiten Klasse üblicherweise um 22 Uhr ihre Türen. Nur die wenigen Restaurants der ersten Klasse konnten mit längeren Öffnungszeiten für sich werben, darunter das edle »Restaurant Otto Schwarz« an der Ecke von BasteiBoulevard und Kalkstraße oder die vornehme Gaststube im »CentralHotel«, welches gut zwei Jahrzehnte hindurch einen Teil jener Fläche am Nordrand des heutigen Domplatzes einnahm, auf der 1912/13 schließlich ein dreigeschossiges Bankgebäude, das spätere Radio-Haus, errichtet wurde. Diejenigen, die sich den Besuch solcher Restaurants hätten leisten können, zogen es großteils eben vor, in geschlossenen Gesellschaften ihr jeweiliges Vereinsleben zu pflegen. Den weniger Betuchten, für die Restaurantbesuche unerschwinglich waren, blieben ebenfalls Vereinsabende als Ausgehmöglichkeit, wobei es sich in ihrem Fall jedoch um etwas andere Arten von Vereinen handelte. Unterdessen führten die Deutschen der Stadt in der späten Zarenzeit mehrheitlich noch immer ein vergleichsweise behagliches Leben – ungeachtet typischer Großstadtprobleme um sie herum wie zum Beispiel einer bedenklich angestiegenen Zahl von Verbrechen. Der nach wie vor große Einfluss dieser Deutschen beruhte unter anderem darauf, dass sie, auch wenn Rigas verschiedene Nationalitäten sich inzwischen jeweils eigene Kreditvergabe-Institutionen geschaffen hatten, weiterhin das eigentliche Bankwesen dominierten, und natürlich darauf, dass ihnen in der Stadt weiterhin ein erheblicher Teil des Rigas Aufstieg zur Großstadt 

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Grundeigentums gehörte. Auch 1913/14 konnte dies noch auf die Formel gebracht werden: Je mehr Wert ein Grundstück hatte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass es sich in den Händen eines Deutschen befand. Das letzte wichtige Bauwerk, das noch eingeweiht wurde, bevor Mitte 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war eine zweite Eisenbahnbrücke unmittelbar nördlich der bisherigen. Hatte es Zugverkehr über die Düna bis dahin nur eingleisig geben können, so funktionierte dieser nun auch im Bereich der Flussquerung endlich so problemlos, wie es aufgrund der stetigen Verdichtung des übrigen Schienennetzes längst erforderlich schien; und dank der Zweigleisigkeit der neuen Brücke konnte die alte einstweilen dem Fußgängerund Fahrzeugverkehr überlassen werden. Allerdings blieb die neue Brücke nur wenige Jahre im Originalzustand erhalten; und wegen des mit Ausbruch des Krieges in Kraft getretenen Fotografierverbots für strategisch bedeutsame Objekte entstand von ihr bis dahin kaum Bildmaterial. Die nächsten einschlägigen Fotos nach denjenigen vom Tag der Eröffnung wurden erst 1917 aufgenommen, als die russische Armee, zu diesem Zeitpunkt zu einem Rückzug vor den Deutschen gezwungen, die beiden Eisenbahnbrücken bereits zerstört hatte. Der Wiederaufbau der neuen Brücke erfolgte danach recht schnell, der der alten hingegen erst im Laufe etlicher Jahre. Nach der erneuten Zerstörung beider Brücken 1944 wurde nur die nördlichere wiedererrichtet; die Eisenbahnbrücke von heute ruht somit auf den Pfeilern derjenigen von 1914.

3. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum   Zusammenbruch der Zarenherrschaft und   des kaiserlichen Deutschlands Riga als Frontstadt bis 1917

In den Ersten Weltkrieg wurde Riga mit einem Bevölkerungsbestand katapultiert, zu dem nur noch zu gut einem Drittel Menschen gehörten, die in der Stadt selbst geboren waren. Ein weiteres Drittel war aus dem übrigen Gebiet der Ostseeprovinzen Livland, Estland und Kurland zugewandert, während knapp 30 Prozent aus sonstigen Teilen des Zarenreichs stammten, darunter hauptsächlich Gouvernements mit russischer, litauischer oder polnischer Mehrheitsbevölkerung. Daneben hielten sich Tausende Reichsdeutsche in der baltischen Industriemetropole auf, die an deren wirtschaftlichem Aufschwung während der vorangegangenen Jahrzehnte partizipiert hatten, ohne von der Staatsangehörigkeit her Untertanen des Zaren geworden zu 166  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

sein. Für Angehörige dieser Gruppe bedeutete der Kriegsausbruch, dass sie von einem Tag auf den anderen als Feinde galten, allen Grund hatten, das Land zu verlassen, und dabei viel Besitz verloren. Demonstrativ wurden derweil bereits kurz nach Kriegsausbruch deutschsprachige Schriftzüge aus dem Stadtbild entfernt, so zum Beispiel die Inschrift »Die Stadt Riga den darstellenden Künsten« an der Fassade des Deutschen Theaters. Doch damit nicht genug: Schon bald war sogar die Benutzung des Deutschen in der Öffentlichkeit offiziell verboten. Der auf Loyalität gegenüber dem Zaren eingeschworene deutschbaltische Bevölkerungsteil Rigas geriet so in eine für ihn irritierende Situation, sah sich Anfeindungen ausgesetzt und verfiel in Reaktionsmuster, die zum Teil an diejenigen im Revolutionsjahr 1905 erinnerten; so kam es zum Beispiel auch jetzt wieder zur Aufstellung von Selbstschutzeinheiten. Als logische Konsequenz aus den Einberufungen, die sehr schnell vorgenommen wurden, lag der Stadtverwaltung bereits 1914 die Aufforderung eines Komitees des zuständigen russischen Ministeriums vor, geeigneten Grund und Boden für die Beisetzung Gefallener bereitzuhalten. Mit der im Dezember in Reaktion hierauf getroffenen Grundstückswahl wurde die Lage des späteren Rigaer Brüderfriedhofs (lett. Brāļu kapi) vorherbestimmt, zunächst allerdings in der Annahme, schon ein Bruchteil von dessen heutiger Fläche würde ausreichen. Den ersten Bestattungen im Oktober 1915 ging eine Trauerzeremonie im Haus des »Rigaer Letten Vereins« voraus, von wo aus die Toten – drei Angehörige der seit dem Sommer jenes Jahres gebildeten Schützenbataillone, die zu 90 Prozent aus Letten bestanden – feierlich auf den neuen Friedhof geleitet wurden. Dass dieser einmal zu einer Art Nationalheiligtum für einen unabhängigen Staat Lettland werden und erst 1936 nach über 12-jährigen bildhauerischen Ausgestaltungsarbeiten seine endgültige Form erlangen würde, war zu dieser Zeit für niemanden vorhersehbar. Allerdings hatte sich Mitte 1915 mit dem Vorrücken der Frontlinie bis in die unmittelbare Nähe Rigas eine Lage ergeben, die sich von der des ersten Kriegsjahrs einschneidend unterschied. Zwei Jahre lang ähnelte der Frontverlauf nun der Grenze Livlands zu Kurland, indem er zwar nicht innerhalb des Stadtgebietes, wohl aber oberhalb davon über eine weite Strecke dem Lauf der Düna folgte. Die Frontverlegung ging mit einem groß angelegten Evakuierungsgeschehen einher, ausgelöst durch die vorherige Eroberung Libaus, dessen gesamte Industrie in kürzester Zeit in die Hände der Deutschen gefallen war. Damit Ähnliches nicht auch mit Betrieben wie der Rigaer Waggonfabrik »Phoenix« geschehen konnte, fand diese beispielsweise im 1000 Kilometer entfernten Rybinsk ihren Evakuierungszielort: Alles, was Erster Weltkrieg und Zusammenbruch der Zarenherrschaft 

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an dem Werk transportabel war, und alle Angestellten, die für eine Wiederzusammenfügung der Bestandteile unverzichtbar erschienen, wurden umgehend in Bewegung gesetzt, während alle übrigen Mitarbeiter einstweilen in Riga zu bleiben hatten. Nach den Großunternehmen kamen sukzessive auch Textil-, Lebensmittel- und ähnliche Fabriken an die Reihe, bis ab Mitte 1916 nur noch rund 30 nennenswerte Unternehmen mit oftmals reduzierter Auslastung in der Stadt selbst ihre Tätigkeit fortsetzten. Die Evakuierungen betrafen daneben auch öffentliche Einrichtungen, wobei die zuständige Kommission unterschiedlichste Zielorte von Petrograd über Tver’ bis Charkov auswählte. Die russisch-orthodoxe Kirchenverwaltung beispielsweise wurde nach Nižnij Novgorod evakuiert; und dem erst kurz vor dem Krieg entstandenen neuen Telegrafenamt, einer der modernsten Einrichtungen im damaligen Riga, wurde als einstweiliger Zufluchtsort Saratov zugewiesen. Etliche Rigaer Behörden siedelten unterdessen in das sehr viel näher gelegene Dorpat über. Die Gesamtzahl an Betrieben, die damals in andere Teile des Russischen Reiches auswichen, wird – alle eingerechnet, deren Mitarbeiterbestand mindestens 50 Personen umfasste – gemeinhin mit 372 angegeben. Kleinunternehmer stürzte die Abwanderung der größeren Betriebe vielfach in den Bankrott; und da, ähnlich wie die enteigneten Besitzer einiger der Großbetriebe, auch viele dieser Kleinunternehmer Deutsche waren, konnte der Evakuierungsbefehl, so empfindlich er letztlich Rigas gesamte Bevölkerung traf, als ein zunächst vor allem gegen das baltische Deutschtum und dessen wirtschaftliche Potenz gerichteter Akt interpretiert werden. Im Rückblick auf all diese Evakuierungen lässt sich feststellen, dass durch sie das Ausbildungsniveau am Rigaer Polytechnischen Institut mindestens ebenso sehr der späteren Sowjetunion wie zuvor dem Zarenreich zugute gekommen ist. Zum Beispiel gelangte der zu einer Art Pionier der sowjetischen Raumfahrt gewordene Friedrich Zander (* 1887, † 1933), der links der Düna, nahe der heutigen Bahnstation Zasulauks, aufwuchs und 1907–1914 zu den Maschinenbau-Studenten des Instituts gehörte, ganz konkret dadurch nach Moskau, dass er 1915 Angestellter der dorthin verlegten Gummifabrik »Provodnik« war. Unabhängig davon hatte 1915 auch das Polytechnische Institut selbst nach Moskau umzuziehen: Sein damaliger Direktor Woldemar von Knieriem (* 1849, † 1935, 1905–1916 Direktor des Polytechnischen Instituts) lenkte die Evakuierung zwar zunächst nach Dorpat, wurde schließlich aber zum Rücktritt gedrängt. Umso bereitwilliger übernahm Knieriem – bei dem es sich übrigens um den Großvater mütterlicherseits des späteren schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme handelte – mehrere Jahre später, 168  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

nach der Einnahme Rigas durch die Deutschen, die Leitung einer Nachfolgegründung zum Polytechnischen Institut. Aufgrund der weiteren historischen Abläufe Ende 1918 war dieser »Baltischen Technischen Hochschule« jedoch nur eine Existenzzeit von kaum mehr als zwei Monaten vergönnt. In der Phase der Evakuierungen von 1915 drohte Deutschbalten, denen vorgeworfen wurde, sie hätten offen mit Deutschland sympathisiert, ganz unmittelbar die Verbannung. Einer der 1915 ins sibirische Irkutsk Verbannten war Rigas Stadthaupt Wilhelm Robert von Bulmerincq (* 1862, † 1953, 1913–1915/17 Stadthaupt). Als dessen direkter Nachfolger wird mitunter der spätere lettländische Finanzminister Robert Erhardt (* 1874, † 1940) bezeichnet; doch formal dauerte Bulmerincqs Amtszeit noch bis April 1917. Ein Nachfolger hätte nur per Wahl bestimmt werden können, wozu es aber nicht kam. Die Möglichkeiten der kommunalen Verwaltung, die Grundversorgung der Bevölkerung etwa in medizinischer Hinsicht aufrechtzuerhalten, stießen unter Erhardts Führung zusehends an Grenzen, was im Gegenzug ein gesteigertes Engagement der Kirchen zur Folge hatte. In der Stadt verbliebene kirchliche Instanzen arbeiteten von Fall zu Fall auch überkonfessionell zusammen, wobei die Orthodoxie ihren Einsatz bei der Pflege von Kranken und Verwundeten zugleich als Gelegenheit verstand, Letten zur Konversion zu bewegen. Dass in dieser Zeit trotz Hungers und katastrophaler sanitärer Zustände keine Epidemien ausbrachen, erscheint im Nachhinein erstaunlich. Eine Häufung von Krankheitsfällen gab es jedoch; und nicht zuletzt dadurch, dass zu den 1915 Evakuierten auch zahlreiche Mediziner gehört hatten, nahm die Bevölkerung diese Häufung recht deutlich wahr. Die nahe Frontlinie blieb während all dieser Zeit stabil, aber keineswegs unumkämpft. Tagelange blutige Gefechte, die in Lettland als die »Weihnachtsschlachten« (lett. »Ziemassvētku kaujas«) geläufig sind, tobten westlich der Stadt zur Jahreswende 1916/17, als russische Versuche einer Rückeroberung Mitaus scheiterten. Riga unter deutscher Verwaltung zwischen September 1917   und November 1918

Die Entwicklung nach der Februarrevolution 1917, darunter ein Versuch der russischen Seite, nahe der heutigen Ostgrenze Litauens eine leichte Verschiebung der Front zu erreichen, veranlasste im Sommer 1917 die Deutschen zu einer neuerlichen Offensive. In deren Verlauf überquerten sie bei Erster Weltkrieg und Zusammenbruch der Zarenherrschaft 

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Uexküll (lett. Ikšķile) die Düna und konnten von dort am 3. September Riga einnehmen. Vorheriger Artilleriebeschuss kostete bis ins Zentrum der Stadt hinein zivile Opfer. Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung legten danach mindestens ebenso sehr die demoralisierten russischen Truppen während ihres Abzugs in Richtung Nordosten an den Tag. Sie wichen hinter eine Linie zurück, die östlich von Oger (lett. Ogre) sowie nahe Hinzenberg (lett. Inčukalns) verlief: Nur bis dorthin reichte der von den Deutschen kontrollierte brückenkopfartige Gebietsabschnitt während der nächsten sechs Monate. Bereits drei Tage nach dem Einmarsch seiner Truppen traf Kaiser Wilhelm II. zu einem Besuch in Riga ein. Die Deutschen verhängten über die Stadt sogleich das Kriegsrecht, was vor allem ein striktes Versammlungsverbot bedeutete, und hinderten die städtische Selbstverwaltung zunächst an jeder weiteren Betätigung. Unbeachtet und folgenlos blieben damit auch die Ergebnisse von gerade erst im August abgehaltenen Wahlen zur Stadtdeputiertenversammlung – den ersten in der Geschichte Rigas, bei denen zensusabhängige oder ähnliche Beschränkungen keine Rolle gespielt hatten und bei denen über die Hälfte der Mandate auf Letten entfallen war. Der gerade erst durchgesetzte Acht-Stunden-Tag wurde von den Deutschen wieder außer Kraft gesetzt, gewerkschaftliche Tätigkeit rigoros verboten und unternehmerische Willkür allenthalben toleriert, wobei eine hohe Arbeitslosenrate den wenigen verbliebenen Arbeitgebern in die Hände spielte. Für manche Arbeiten, darunter denen an der »Lübecker Brücke«, einem hölzernen Brückenbauwerk, das als Ersatz für die nach Estland evakuierte Pontonbrücke projektiert wurde, ließ die deutsche Verwaltung sogar Pioniere aus dem Reich heranschaffen. Gleichzeitig kam es zum Einsatz einer offenbar vierstelligen Zahl von überwiegend lettischen Rigensern als Arbeitskräften in Hamburg, Berlin und im Ruhrgebiet. Zahlreiche Unternehmer aus dem Deutschen Reich interessierte derweil auch, welche wirtschaftlichen Perspektiven sich vor Ort in Riga boten, so dass ab Herbst 1917 beinahe wöchentlich entsprechende Gäste die Stadt aufsuchten. Hoffnungen verbanden sich dabei besonders mit dem Hafen, da der Wegfall bisheriger Zollschranken erwartet wurde. Daneben galt die Aufmerksamkeit beschlagnahmten Fabriken; denn ganz ähnlich wie drei Jahre zuvor bei Kriegsbeginn kam es auch nach dem Einmarsch der Deutschen wieder – nur diesmal unter umgekehrten Vorzeichen – zur Einziehung von Besitz je nach Nationalität der Besitzer. An die Vorgänge zu Beginn des Krieges erinnerte darüber hinaus die plötzliche Allgegenwart der deutschen Sprache, die den öffentlichen Raum ebenso konsequent, wie sie 1914 aus ihm verdrängt worden war, zurückeroberte. Doch nicht nur auf Schildern jedweder Art wurde sie jetzt wie170  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

der verwendet, sondern natürlich auch in Bereichen wie dem Gerichtswesen. Dass die Rigenser sich darüber hinaus an den gregorianischen anstelle des julianischen Kalenders gewöhnen sollten, wurde dabei fast zur Nebensache. 1918 übernahm zudem auch Russland den gregorianischen Kalender, indem es unmittelbar auf den 31. Januar den 14. Februar folgen ließ. Bewegungsfreiheit von und nach Kurland bestand trotz der Frontverschiebung nur sehr eingeschränkt: Wer im Süden oder Westen die Stadtgrenze passieren wollte, bedurfte hierfür einer vorherigen Erlaubnis seitens der Besatzer. Diese belegten die Erteilung solcher und diverser sonstiger Genehmigungen, die die Bürger für alles Erdenkliche einzuholen hatten, mit Gebühren und schufen sich hierdurch eine breite Einnahmebasis zusätzlich zu den diversen Steuern, die sie neu einführten. Die allgemeine Ernährungssituation verbesserte sich trotz neuer, von den Besatzern verordneter Arten der Lebensmittelverteilung keineswegs. Während des Winters 1917/18 litt die Bevölkerung allerdings mehr noch unter einem akuten Mangel an Heizmaterial. Um Abhilfe zu schaffen, wurden vereinzelt sogar Holzhäuser am Stadtrand, die gerade leer standen, in ihre Bestandteile zerlegt und verfeuert. An möglichen Verschärfungen der Lage durch eine gehäufte Rückkehr von Personen, die 1915 aus Riga geflohen waren, konnte der Besatzungsmacht nicht gelegen sein; Rückkehrwilligen machte sie die Wiederansiedlung daher sehr schwer. Im Laufe des Jahres 1918 schickte sie die Betroffenen vorzugsweise nach Kurland weiter, damit sie dort für Feldarbeit eingesetzt werden konnten. Dass dies wiederum die Visionen erzkonservativer deutscher Kreise untergrub, denen eine deutsche Kolonisation Kurlands vorschwebte, illustriert exemplarisch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit deutscher Interessen im Baltikum zwischen 1917 und 1919. Nicht einmal eine alsbaldige Rückverlagerung von 1915 nach Dorpat evakuierten Rigaer Schulen wurde erlaubt; vielmehr folgte auf die deutsche Eroberung der Stadt zunächst sogar eine Schließung sämtlicher Schulen, die es vor Ort noch gab, und es wurde eine vollständige Reorganisation des örtlichen Schulwesens nach deutschen Vorstellungen eingeleitet. Vergleichbare Vorgehensweisen betrafen die Presse: Sämtliche Rigaer Zeitungen hatten über Nacht ihr Erscheinen einzustellen und einem ausschließlich aus Berlin gespeisten Zeitungsmarkt Platz zu machen, ehe nach und nach unter strenger Zensur zumindest einzelne einheimische Blätter, deren Ausrichtung den Besatzern hinreichend konservativ erschien, wieder zugelassen wurden. In den Händen der Deutschen befand Riga sich entsprechend auch zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution, die die Ausgangssituation für ein noch weiteres deutsches Vorrücken – diesmal bis in den Norden Estlands sowie Erster Weltkrieg und Zusammenbruch der Zarenherrschaft 

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nach Lettgallen – im Februar 1918 schuf. Der Separatfrieden von Brest-Litovsk vom 3. März garantierte den Deutschen all diese Gebietsgewinne mit Ausnahme Lettgallens. Dass zuvor, nämlich im Dezember 1917, in dem zu diesem Zeitpunkt noch unbesetzten livländischen Gebiet um Cēsis (Wenden), Valmiera (Wolmar) und Valka (Walk) in Gestalt der so genannten »Republik des Iskolats« erstmals ein autonomes Lettland proklamiert worden war, hatte auf die Entwicklung innerhalb Rigas keinen unmittelbaren Einfluss: Der Regierung dieses Gebietes, die aus einem im Sommer in Riga gegründeten Rat von Arbeitern, Soldaten und Landlosen hervorgegangen war und bei der es sich um die früheste lettische Sowjetregierung respektive um die früheste lettische Regierung überhaupt handelte, war es zwar noch gelungen, ihr »Lettland«, das sie als eigenständigen Teil eines künftigen sowjetisierten Russlands begriff, um den lettgallischen Raum zu erweitern; schon im Februar musste sie jedoch in Moskau Zuflucht nehmen. Für aussichtsreich, zumal nach diesem Zwischenspiel, hielten deutschbaltische sowie konservative lettische und estnische Kreise die Umwandlung Estlands, Livlands und Kurlands in ein unter deutschen Schutz zu stellendes »Vereinigtes baltisches Herzogtum«. Ab April 1918 bemühten sie sich, ihr Zukunftsprojekt von Riga aus auf den Weg zu bringen. Soweit sie sich Realitätssinn bewahrten, mussten sie jedoch erkennen, dass sie dabei von Monat zu Monat mit immer weniger Unterstützung aus dem Berliner Reichstag rechnen konnten. Gegenteilige Deutungen ließ höchstens noch dieser oder jener Schritt Berlins zu, der für den lettisch-estnischen Siedlungsraum unverständlich spät verordnet wurde, so etwa die Währungsumstellung auf deutsches Geld im September 1918. Die Ausrufung des »baltischen Herzogtums«, an dessen Spitze letzten Konzeptionen zufolge Adolf Friedrich von Mecklenburg (* 1873, † 1969) hätte treten sollen, erfolgte dann ebenfalls zu spät, als dass sie noch Konsequenzen hätte haben können: Bereits vier Tage danach, am 9. November, sorgte die Verkündung der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg und der Abdankung Wilhelms II. für eine einschneidende Veränderung der Lage. Die Tragweite dieser Veränderung wurde spätestens deutlich, als am 13. November die sowjetische Führung den Friedensvertrag von Brest-Litovsk für null und nichtig erklärte. Der »Lettländische Volksrat« (lett. »Latvijas Tautas Padome«) entschloss sich daraufhin zur Ausrufung der unabhängigen Republik Lettland am 18. November 1918 und setzte eine Regierung unter Kārlis Ulmanis (* 1877, † 1942, 1936–1940 Staatspräsident Lettlands) als Ministerpräsident ein.

172  Riga unter der Herrschaft der Zaren (1710–1917/18)

IV. RIGA IN DER ZEIT DER UNABHÄNGIGEN REPUBLIK LETTLAND (1918–1940) SOWIE WÄHREND DES   ZWEITEN WELTKRIEGS 1. Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates Von der Herrschaft Stučkas bis zur endgültigen Festigung der Republik

Am 4. Dezember 1918, also gut zwei Wochen nach der Proklamation der bürgerlichen Republik in Riga, formierte sich in Moskau eine von Pēteris Stučka (* 1865, † 1932) geführte provisorische Sowjetregierung für Lettland. Von Stučka in Marsch gesetzte Stoßtrupps erreichten bereits am Folgetag von Osten her lettisches Gebiet. Sie trafen dort auf die von Deutschland und dem bürgerlichen Lettland gleichermaßen bevollmächtigte »Baltische Landeswehr«, eine Freiwilligentruppe, hinter der indirekt auch Großbritannien und die übrigen Alliierten standen, da diese den noch im Lande befindlichen Repräsentanten und Militärangehörigen Deutschlands ausdrücklich die Abwehr des Bolschewismus überantwortet hatten. Rückhalt in der lettischen Bevölkerung genoss die Landeswehr nur in begrenztem Maße, während gleichzeitig die Sympathie für die mit lettischen Schützenregimentern bestückten bolschewistischen Kräfte wuchs; und so gelang Letzteren am 3. Januar 1919 schließlich die Einnahme Rigas. Ende Januar unterstand Stučka das gesamte spätere Staatsgebiet Lettlands mit Ausnahme der südwestlichen Teile Kurlands. Jener Bereich um die Städte Liepāja (Libau), Aizpute (Hasenpoth) und Priekule (Preekuln) wurde zum Zufluchtsort der bürgerlichen Regierung Ulmanis und bald darauf – nach der Mobilisierung lettischer Freiwilliger, der Bildung deutschbaltischer wie auch auswärtiger Freikorps als Ergänzung der bisherigen Landeswehr und schließlich einer Zusammenführung diverser deutscher Truppenreste unter dem Kommando des örtlichen Militärverwalters Rüdiger von der Goltz (* 1865, † 1946) – zum Ausgangspunkt eines gemeinsamen lettisch-deutschen Vormarsches ins Landesinnere. Dieser begann Anfang März 1919 und führte am 22. Mai zur Befreiung Rigas von der Stučka-Herrschaft. Die schon seit 1915 angespannte Versorgungslage hatte sich hier unter Stučka noch weiter verschlechtert, was inzwischen auch die Sterblichkeitsrate merklich hatte ansteigen lassen. Gegenwehr der Stadtbevölkerung Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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zwecks Verhinderung eines neuerlichen Machtwechsels blieb daher nahezu aus. Von der Goltz ging davon aus, die Verhältnisse beiderseits der Düna nunmehr ganz nach seinen Vorstellungen ordnen zu können, da eine ihm unterstellte Einheit am 16. April die Regierung Ulmanis ausgeschaltet hatte. Letztere war durch eine Marionettenregierung unter Andrievs Niedra (* 1871, † 1942) ersetzt worden, während Ulmanis bis Ende Juni auf einem Schiff der Alliierten im Hafen von Liepāja ausharren musste. Von der Goltz überschätzte derweil seine Möglichkeiten und verkannte, dass die estnischen und die in Estland aufgestellten lettischen Truppen, deretwegen bereits Stučka rasch die Flucht ergriffen hatte, um einer Einkreisung zu entgehen, auch ihm gefährlich werden würden, sobald er einen Vorstoß über Riga hinaus nach Nordosten unternähme. Indem er genau dies wagte, manövrierte er zwischen dem 19. und 23. Juni 1919 bei Cēsis (Wenden) die Landeswehr samt der berüchtigten »Eisernen Division« in eine Niederlage gegen Letten des Ulmanis-Lagers und die mit ihnen verbündeten Esten, die den Weg für Ulmanis’ Rückkehr nach Riga Anfang Juli ebnete. Verhängnisvollerweise hatten die Entente-Mächte die Landeswehr allzu lange als willkommenes Vehikel bei der Bekämpfung des Bolschewismus betrachtet und für ihre Zwecke einspannen wollen. Entsprechend schwer taten sie sich, von nun an alle Deutschen im Baltikum, die noch unter Waffen standen und nicht hier beheimatet waren, zum Abzug zu bewegen. Viele aus dem Reich angeworbene Mitglieder der Landeswehr verweigerten sich dieser Aufforderung vor dem Hintergrund, dass ihnen Ende 1918 angeblich in großem Umfang Landbesitz versprochen worden war, so dass es aus ihrer Sicht weiterhin eine offene Rechnung mit der Regierung in Riga gab. Selbst jetzt – acht Monate nach Ende des Weltkriegs – kam die leidgeprüfte Stadt daher nur kurzfristig zur Ruhe. Noch standen ihr die Angriffe der selbst ernannten »russischen Westarmee« unter Pavel Bermondt-Avalov (* 1877, † mutmaßlich 1973) bevor, die zu ungefähr vier Fünfteln aus Deutschen, darunter vielen, deren Kommandeur zuvor Rüdiger von der Goltz gewesen war, bestand und zu der außerdem zahlreiche Russen gehörten, die aus deutschen Kriegsgefangenenlagern nach Kurland geschleust wurden. Zu den schwersten Beschädigungen, die Riga während des Weltkriegs und der anschließenden Freiheitskämpfe davontrug, kam es so überhaupt erst im Oktober und November 1919: Deutlich sichtbare Schäden entstanden am Schloss; aber auch andere Gebäude längs der Düna und sogar das Rathaus wurden getroffen. An einer Überquerung des Flusses konnte die inzwischen auf fast 36000 Mann angewachsene lettische Armee die Angreifer indes hindern. Sie erhielt dabei Rückendeckung durch alliierte Kriegsschiffe, was den 174  Riga (1918–1945)

Beginn einer von nun an entschlossenen Unterstützung der bürgerlichen Republik Lettland durch die Entente-Mächte markierte. Indirekt erwies Bermondt-Avalov dem jungen Staat somit manch ungewollten Dienst: Seine Angriffe brachten mit einem Mal fast die gesamte Bevölkerung dazu, loyal zu Ulmanis’ bürgerlicher Regierung zu stehen. Zugleich verschafften sie dieser den so dringend benötigten internationalen Rückhalt, der auch deswegen plötzlich deutlich spürbar wurde, weil der ungeahnt starke Verteidigungswille der Letten Respekt erzeugte. In einem Tempo, das unter weniger dramatischen Umständen kaum denkbar gewesen wäre, reifte überdies Lettlands Armee heran. Ausbildung und erste Kampfeinsätze gingen nahtlos ineinander über; nur ein kleiner Teil derjenigen, denen am 11. November 1919 die endgültige Verdrängung der BermondtTruppen aus den Stadtteilen links der Düna glückte, verfügte über längere militärische Erfahrung. Die nächtliche Einnahme der Düna-Insel Lucavsala (Lutzausholm) und die Eroberung des Vorortes Ziepniekkalns (Seifenberg) am nächsten Tag waren beispielsweise Erfolge einer Kampfeinheit aus Studenten – und dies wenige Wochen nach der Eröffnung der staatlichen Universität, an der der Lehrbetrieb aufgrund der überraschenden Offensive Bermondt-Avalovs sogleich wieder hatte unterbrochen werden müssen. Rund 2000 Gefallene waren auf lettischer Seite am Ende der fünfwöchigen Kämpfe zu beklagen. Zerstörungen ließen Bermondts Truppen auch in den Stadtteilen, aus denen heraus sie in Richtung Altstadt gefeuert hatten, zurück; doch wozu sie im Umgang mit Gebäuden und Kulturgut fähig waren, bewiesen sie erst einige Tage nach ihrem Abzug aus Riga in vollem Ausmaß, als sie das barocke Herzogsschloss in Jelgava (Mitau) verwüsteten. Eine Stadt im Umbruch und als Bühne internationaler Politik

Nach dem zuletzt auch von den Entente-Mächten mit Nachdruck verlangten Rückzug der Bermondt-Truppen war nur Lettgallen noch Schauplatz von Gefechten. Als sich die Lage 1920 dann selbst in dieser östlichsten Region des 1918 proklamierten Staates beruhigte, erschien Rigas Status als dessen Hauptstadt so überaus selbstverständlich, dass mehr als ein Jahrzehnt lang gleichsam vergessen wurde, ihn gesetzlich festzuschreiben. Erst am 3. Februar 1931 kam es zur Verabschiedung eines Gesetzes, das die mit Abstand größte Stadt des Landes auch formell zur Hauptstadt erklärte. Riga war bis dahin offenkundig durch Herausforderungen wie etwa die wirtschaftlichen Folgen der Evakuierung seiner wichtigsten UnternehRiga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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men abgelenkt und erlebte auch ansonsten zunächst Festlegungen von weit größerer Relevanz: So machte die Stadt 1920 und 1921 als Schauplatz internationaler Politik von sich reden, da in diesen Jahren gleich zwei Friedensschlüsse von Riga zustande kamen. Einer davon war Lettlands eigener Friede mit Sowjetrussland, für den eine Gesprächsphase in Moskau anberaumt wurde, gefolgt von einer Gesprächsphase in Riga ab Juli 1920. Die von Adolf Joffe (* 1883, † 1927) angeführte russische Delegation quartierte sich seinerzeit im »Petersburger Hotel« ein, einem 1750 errichteten Gebäude am Schlossplatz, das schon 1763 zu einem Hotel gemacht und seitdem mehrfach umgebaut worden war. Nach dem Ersten Weltkrieg zählte es nicht mehr zu den modernsten, aber immer noch zu den besten Hotels der Stadt. Bei einer Restaurierung in den 1970er Jahren wurde das Gebäudeinnere für administrative Zwecke hergerichtet, so dass an seine Bedeutung im Zusammenhang mit Ereignissen der Jahre 1920 und 1921 heute kaum noch etwas erinnert. Die Unterzeichnung jenes Vertrages, der Lettland »für alle Zeiten« der Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch Russland versicherte, erfolgte am 11. August 1920. Dass im Monat darauf auch Polen und Sowjetrussland sowie die inzwischen sowjetisierte Ukraine ihre Verhandlungen zur Beendigung des Krieges, den sie seit Anfang 1919 gegeneinander geführt hatten, nach Riga verlegten, war das Ergebnis polnischen Insistierens: Die Gespräche waren im August zunächst in Minsk aufgenommen worden, das jedoch, ganz anders als Riga, in Reichweite der Linie lag, die nach polnischer Einschätzung als künftige Grenze zwischen den Territorien der Kriegsgegner in Aussicht stand. Sowjetrussland bekundete nach dem Drängen Polens, den Verhandlungsort zu wechseln, Präferenzen für Estland, da im September 1920 Russlands eigener Friedensvertrag mit Lettland noch nicht durch Austausch der Ratifikationsurkunden besiegelt war, gab dann aber doch dem Wunsch der Polen nach, die Einladung nach Riga anzunehmen. Nachdem die Delegationen Russlands und der Ukraine im »Petersburger Hotel« und die polnische Delegation in den Hotels »De Rome« und »Commerce« ihre Quartiere bezogen hatten, begannen daraufhin am 18. September 1920 im Saal des Schwarzhäupterhauses mit einer Rede von Zigfrīds Anna Meierovics (* 1887, † 1925, ab 1918 zweimal Außenminister und 1921–1924 zweimal Ministerpräsident Lettlands) die Rigaer Friedensgespräche. In Beobachterkreisen wurde damals über das sichtliche Unbehagen einzelner Mitglieder der Moskauer Delegation beim Anblick der Zarenporträts, die zur Ausschmückung des Schwarzhäupterhaus-Saales gehörten, geschmunzelt. 176  Riga (1918–1945)

Zur Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen Polen einerseits und Sowjetrussland und der damaligen Ukraine andererseits kam es später als erwartet, nämlich erst am 18. März 1921. Rigas Erfolg in dem Bemühen, sich als Bühne für einen Vorgang von gesamteuropäischer Relevanz zu profilieren, tat die lange Hinauszögerung dieses Termins jedoch keinen Abbruch. Auch wenn im März 1921 nicht mehr ganz so viele Vertreter der internationalen Presse erschienen wie noch im September 1920, so spielt in Rigas Geschichte als Stadt eben doch gerade der polnisch-russisch-ukrainische Friedensschluss eine gewisse Rolle. Der lettische Historiker Aivars Stranga (* 1954) vertritt in diesem Zusammenhang sogar die Meinung, in Bezug auf die Grundlagen der politischen Ordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg müsse, um die Bedeutung der späten Friedensregelung Polens mit seinen östlichen Nachbarn angemessen widerzuspiegeln, statt von einem »Versailler System« eigentlich von einem »Versailles-Rigaer System« gesprochen werden. Dass als Zeichen für das Ende russischer Herrschaft über lettisches Gebiet manch einem die Unterschriften unter einem Friedensvertrag nicht genügten, deutete derweil ein interessanter Fall von Zerstörungswut an: Vier Eichen, die Nikolaus II. und seine Töchter bei ihrem Besuch im Jahre 1910 gepflanzt hatten, wurden 1920 eines Nachts umgehackt. Sie befanden sich jenseits der Düna in einem Bereich, der seit der Schwedenzeit von den Anlagen der Kobronschanze durchzogen war und für den dieser militärischen Nutzung wegen bis 1904 ein Bebauungsverbot gegolten hatte. Bei dessen Aufhebung hatte zunächst Georg Kuphaldt Pläne zur Umwandlung großer Teile des Areals in eine Gartenstadt entworfen. Nachdem diese – im Gegensatz zu Kuphaldts Gartenstadt-Plänen für Kaiserwald – unverwirklicht geblieben waren, hatte die Stadtobrigkeit zumindest daran festgehalten, das Gelände »Peterspark« nennen zu wollen, und deshalb freudig einer möglichen Pflanzung von Bäumen durch die Zarenfamilie entgegengesehen. 15 Jahre später bzw. fünf Jahre nach dem an den Bäumen vollführten Akt von Vandalismus wurde der Peterspark in »Siegespark« (lett. »Uzvaras parks«) umgetauft und erhielt damit einen Namen, der unter späteren, deutlich anderen politischen Vorzeichen auch für das Sowjetregime akzeptabel war, so dass er sich über alle Systemwechsel hinweg bis in die Gegenwart behauptet hat. Als die Letten 1922/23 darangingen, zunächst einmal Straßen in ihrem Sinne umzubenennen, kam es einer Ironie der Geschichte gleich, dass nach dem Aufklärer Garlieb Merkel ausgerechnet eine Straße benannt wurde, deren Namenspatron bis dahin Merkels Zeitgenosse Marquis Filippo Paulucci, der Generalgouverneur der Jahre 1812–1829, gewesen war. Schließlich hatte Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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auch Paulucci auf die 1816–1819 erfolgte Bauernbefreiung in den Ostseeprovinzen hingearbeitet und hätte insofern weiterhin ein würdiger Straßennamengeber sein können. An der Straße, um die es sich konkret handelte, ragte aber nun einmal – seit 1910 mit einer höchst repräsentativen Fassade ausgestattet – das Gebäude des »Rigaer Letten Vereins« auf, in dessen Reihen kaum jemand so viel Verehrung genoss wie Merkel: Schon zu dessen 100. Geburtstag im Jahre 1869 hatte der gerade erst im Jahr davor gegründete Verein einen Denkstein am Grab des Aufklärers, das sich in Katlakalns (Katlekaln) nahe den südlichen Rändern Rigas befindet, errichten lassen. Jenseits derartiger Merkel-Verehrung konnte das allgemeine Verhältnis zwischen Letten und Deutschen in der Stadt nach 1920 im Vergleich zu der Zeit bis 1914 kaum als besser bezeichnet werden, auch wenn infolge der Häufung potenzieller Abwanderungsgründe, die zuletzt vor allem das Jahr 1919 geliefert hatte, nur noch rund jeder achte Bewohner der Stadt Deutscher war. Riga erreichte damit allerdings immer noch einen höheren Prozentsatz an deutscher Bevölkerung als die meisten anderen baltischen Städte zu jener Zeit. Entsprechend war die »Rigasche Rundschau«, die bis nach Estland Leser hatte, eine der größten deutschsprachigen Tageszeitungen im damaligen Ostmitteleuropa. Hieran änderte auch ihre Gleichschaltung im Jahre 1933 nichts, die getarnt ablief, aber sehr wohl durchschaubar war und zu einer Konkurrenzgründung in Gestalt der (zunächst »Riga am Sonntag« genannten) »Rigaschen Post« führte. Informationen von lokalem Interesse flossen der »Rigaschen Rundschau« stets zügig zu, da es unter den Rigaer Deutschen in den 1920er und 1930er Jahren weiterhin eine ganze Reihe von Bediensteten der Stadtverwaltung gab. Der Einfluss beispielsweise auf stadtplanerische Fragen, den die Deutschen gewohnt waren, war ihnen nun jedoch entzogen. Bis 1934 setzte auf diesem Gebiet stattdessen ein gesondertes Büro unter dem lettischen Städtebauer Arnolds Lamze (* 1889, † 1945) neue Akzente; unter anderem erarbeitete Lamze mit seinem Gehilfen Pēteris Bērzkalns (* 1899, † 1958) Konzepte für einen Ausbau der Südhälfte des Kiepenholms (lett. Ķīpsala) zu einem möglichen Regierungsviertel. Was die Einwohnerentwicklung insgesamt betrifft, wuchs Riga nach Kriegsende für Jahrzehnte nicht mehr auf die Einwohnerzahl an, die es 1914 gehabt hatte. Trotz einer Ausweitung des Stadtgebietes auf das Dreieinhalbfache im Jahre 1924 – damals wurden Daugavgrīva (Dünamünde), Bolderāja (Bolderaa) sowie die heutigen Stadtbezirke Zolitūde, Imanta, Šampēteris, Kleisti und Rītabuļļi eingemeindet – ist der höchste Wert, den Bevölkerungsstatistiken für die Periode bis 1940 ausweisen, die im Februar 1935 ermittelte Zahl von 385063 (nach 337699 im Februar 1925 und 178  Riga (1918–1945)

377917 im selben Monat des Jahres 1930). Die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von Jahr zu Jahr gravierender gewordene Knappheit an Wohnraum blieb der Stadt dennoch als Dauerthema erhalten. Selbst Mitte der 1930er Jahre, als die Folgen der Weltwirtschaftskrise sich ansonsten kaum mehr auf den Alltag der Bürger auswirkten, war man einer befriedigenden Lösung dieses Problems immer noch fern. Verstärkte Bemühungen in den Jahren 1927–1929, auf die die sowjetische Geschichtsschreibung später gern verwies, weil seinerzeit sozialdemokratische Mehrheiten die Politik geprägt hatten, machten sich zwar bemerkbar, wurden danach jedoch nicht optimal fortgeführt. So manch einem blieb daher weiterhin nur übrig, mit einer notdürftigen Behelfsunterkunft vorlieb zu nehmen. Für solche Rigenser glich die eigene Erlebniswelt ein wenig derjenigen, die sich in zahlreichen der ab 1928 veröffentlichten Gedichte des lettischen Schriftstellers Aleksandrs Čaks andeutete – mit einem lyrischen Ich, das Tag für Tag durch die Straßen Rigas streift, ohne dort ein wirkliches Zuhause zu haben. Dass die Letten in der Stadt nunmehr die absolute Mehrheit der Bevölkerung bildeten, löste für sich allein genommen folglich noch keine Triumph-Gefühle aus. Die Anfänge der Laima-Uhr Die spätere Laima-Uhr, heute ein heimliches Wahrzeichen der Stadt, wurde 1924 aufgestellt, um es den Bürgern leichter zu machen, pünktlich an ihren Arbeitsplätzen zu erscheinen. Dass sie an der Kreuzung von Aspazijas bulvāris (Theater-Boulevard) und Brīvības bulvāris (Freiheitsboulevard) platziert wurde, erklärt sich demnach einerseits damit, dass dies einer der zentralsten Bereiche der Stadt ist, andererseits aber auch damit, dass sich erst in einer gewissen Entfernung von dort die nächsten Kirchturmuhren befinden. In den Folgejahren machten vor allem die vielen, die gar keinen Arbeitsplatz hatten, die neue Uhr zu ihrem Treffpunkt – mal für bloße Zusammenkünfte, mal auch als Startpunkt eines Demonstrationszugs. Nach dem Sozialdemokraten Andrejs Veckalns (* 1879, † 1942), der als Parlamentsmitglied, Mitglied des Stadtrats und führender Gewerkschafter so intensiv wie kaum ein anderer damaliger Rigaer Politiker mit dem Arbeitslosenproblem befasst war, gab der Volksmund ihr deshalb den Beinamen »Veckalns-Uhr« (lett. »Veckalna pulkstenis«). Erst in den 1930er Jahren, als Veckalns auch längst schon als Urheber der Idee zu dieser Uhr galt, tauchte an einer ihrer vier Seiten ein Werbehinweis mit dem Namen »Riegert« auf – dem Nachnamen des Gründers der Konditoreiwaren-Firma »Laima«. Diese nahm 1936 schließlich alle vier Seiten als Werbefläche in Beschlag und ließ so aus der Veckalns- die Laima-Uhr werden. Die Popularität der Uhr als Treffpunkt steigerte sich daraufhin angeblich noch – nun jedoch vorwiegend bei Verliebten, da »Laima« zugleich der Name der altlettischen Glücksgöttin ist.

Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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Entwicklungen im Bildungs- und im Kirchenwesen

Die am 28. September 1919 eröffnete Universität Lettlands (lett. Latvijas Universitāte, LU) trat an die Stelle des einstigen Polytechnischen Instituts, das, nachdem es 1918 unter dem Namen »Baltische Technische Hochschule« wieder aufgelebt war, inzwischen noch ein zweites Zwischenspiel von nur wenigen Monaten hinter sich hatte, nämlich als »Hochschule Lettlands« unter Pēteris Stučka. Vom Polytechnikum bzw. Polytechnischen Institut übernahm die Universität neben dem Gebäudebestand weitgehend auch die Art der Einteilung in Fakultäten. Lediglich für geisteswissenschaftliche Fächer und für Medizin galt es zwei neue Fakultäten ins Leben zu rufen; 1920 kamen dann noch eine evangelisch-theologische und eine veterinärmedizinische hinzu. Zu diesem Zeitpunkt erstmals mit einer zweistelligen Zahl von Fakultäten ausgestattet, hatte die Universität auf die Dauer auch über die Möglichkeit von Auslagerungen nachzudenken. Diese verwirklichte sich 1939 im Falle der landwirtschaftlichen Fakultät, die zu einer eigenständigen Akademie mit Sitz in Jelgava (Mitau) wurde. In Riga hatten bis dahin alle Universitätsfakultäten zusammen annähernd 7000 Absolventen hervorgebracht. Zur Hochschullandschaft der Hauptstadt gehörte ferner das im September 1921 eröffnete »Herder-Institut in Riga«, das von einem zuvor eigens geschaffenen Verein, der »Herder-Gesellschaft zu Riga«, als private Hochschule mit ausschließlich deutschsprachigem Lehrangebot organisiert wurde. 1927 auch vom Parlament in dieser Eigenschaft anerkannt, beschäftigte das Institut in den 1930er Jahren an die 50 Dozenten. Lediglich zur Verleihung akademischer Grade hatte es keine Berechtigung. Nicht wenige der zeitweise bis zu 600 Studierenden waren reichsdeutscher Herkunft, wenngleich die weitaus meisten aus dem Baltikum stammten. Erst in späteren Jahren verlangte die Regierung, nur noch Personen mit lettländischer Staatsangehörigkeit zur Immatrikulation zuzulassen, da das Institut nicht nur um die Spenden, auf die es angewiesen war, hauptsächlich im Deutschen Reich warb, sondern auch vom Reich selbst immer mehr wie eine Art Auslandshochschule behandelt wurde. Hierauf deutete etwa die Regelung hin, dass beim Wechsel auf eine reichsdeutsche Hochschule statt wie anfangs zwei inzwischen sogar vier Semester anrechenbar waren. Für den lettländischen Staat hatte die Aufwertung des Herder-Instituts indes nicht nur Nachteile: Vielmehr unterstützte er sie in den 1930er Jahren auch, da so die Möglichkeit entstand, im Gegenzug die Tätigkeit deutscher Vereine wie der »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde« einzuengen. 180  Riga (1918–1945)

Von Beginn an gab es mehrere Abteilungen bzw. Fakultäten, deren Zuschnitt und Benennung sich allerdings mehrfach wandelten: So zerfiel die philosophisch-theologische Fakultät, mit der das Institut gegründet worden war, in eine eigenständige evangelisch-theologische und eine eigenständige humanistische Fakultät; Letztere vereinigte das Fach Philosophie mit der historisch-germanistischen Fakultät der Anfangszeit, ehe sie später sogar noch mit der naturkundlich-landwirtschaftlich-mathematischen Fakultät verschmolzen wurde und dabei die Gesamtbezeichnung »Philosophische Fakultät« erhielt. Am wenigsten veränderte sich währenddessen die rechts- und staatswissenschaftlich ausgerichtete Fakultät, an der auch Nationalökonomie gelehrt wurde. Angesichts der in erster Linie regionalen Bedeutung des Instituts und seiner Hauptaufgabe, die Ausbildung einer stets hinreichenden Zahl an Pastoren sowie Lehrern für die Schulen der deutschen Minderheit zu gewährleisten, gerät mitunter aus dem Blick, dass an seinen Kursen und Vortragsreihen insbesondere in der Anfangsphase auch hochrangige Gastdozenten mitwirkten. Zu denjenigen, die einer Einladung nach Riga folgten, zählten etwa der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (*  1875, †  1951) und der Kulturphilosoph Oswald Spengler (* 1880, † 1936). Die Existenz des Instituts endete im November 1939 im Zuge der Umsiedlung der Deutschbalten. Geeignete Formen des Umgangs mit einer Minderheit, in diesem Fall einer religiösen, galt es für den jungen Staat auch in seinem Verhältnis zum Katholizismus zu bestimmen. Als der katholische Bischof 1924 seinen Sitz offiziell von Aglona (Aglohn), einer Ortschaft im Landesteil Lettgallen, nach Riga verlegte, standen ihm hier auf Basis eines 1923 veröffentlichten Gesetzes außer der Jakobikirche als Kathedrale und der benachbarten heutigen Kirche St. Maria Magdalena als Bischofskapelle noch fünf weitere, ebenfalls zwischen Klostera und Mazā Pils iela befindliche Gebäude zur Verfügung, die die Staatsmacht ihm und seinem Kapitel überlassen hatte. Auch wenn damit eine vergleichsweise großzügige Anfangsausstattung der Kirchenobrigkeit erfolgt war, gestaltete sich die Stellung des Katholizismus in Riga im weiteren Verlauf kompliziert – so vor allem um 1930, als dem Bistum daran gelegen war, seinen noch in Aglona angesiedelten Ausbildungseinrichtungen eine rechtliche Anerkennung als Hochschule zu verschaffen. Das schon entworfene Statut wurde zu diesem Zweck der staatlichen Universität zur Prüfung vorgelegt. Bei der Universität, an der man sich seinerzeit eine weitgehende Zentralisierung des lettländischen Hochschulwesens wünschte, führte der Prüfungsvorgang zu der Idee, sie selbst könnte womöglich um eine Fakultät für Katholische Theologie erweitert werden. Kurz vor der Verwirklichung – in einem Stadium, in dem sowohl bereits ein Gesetzestext Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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formuliert als auch sämtliche Vorarbeit seitens der Universität geleistet war – scheiterte dieser Plan im November 1931 an fehlenden Parlamentsmehrheiten, da die Saeima zu jener Zeit von Parteien mit einer dem Katholizismus gegenüber skeptischen bis ablehnenden Haltung dominiert wurde. Katholische Theologie konnte daraufhin erst ab 1938 an einer eigenen Universitätsfakultät gelehrt werden, nachdem es infolge des autoritären Staatsstreichs von 1934 auf ein etwaiges Parlamentsvotum nicht mehr ankam. Zumindest mit einem eigenen Institut wurde 1936 auch die orthodoxe theologische Lehre an Lettlands Universität verlagert – unter gleichzeitiger Schließung des 1846 ins Leben gerufenen »Rigaer Geistlichen Seminars«. In den Augen der protestantischen Geistlichkeit schlug unterdessen kein anderes Ereignis im Riga der Zwischenkriegszeit derart hohe Wellen wie der so genannte »Domstreit« des Jahres 1931. Die deutsche Domgemeinde sah sich damals mit dem Ansinnen zweier lettischer Gemeinden konfrontiert, an Verwaltung und Nutzung der Domkirche beteiligt zu werden, wobei anfangs nur die lettische Friedensgemeinde mit entsprechenden Wünschen hervortrat. Mit ihr gelang daraufhin eine Einigung über die paritätische Aufteilung dieser Rechte. Eine Eskalation ergab sich erst, als auch die Garnisonsgemeinde einen repräsentativen Gottesdienstraum für sich einforderte und Anspruch auf ein Drittel der Nutzungsrechte am Dom erhob. Unter dem Eindruck bevorstehender Parlamentswahlen entschied den Konflikt Mitte 1931 schließlich eine staatliche Notverordnung, die die beiden lettischen Gemeinden klar begünstigte. Ihren Rückzug aus dem Dom besiegelte die deutsche Gemeinde nunmehr selbst, so dass es nicht ganz richtig wäre, von einer vollständigen Enteignung zu sprechen. Die Notverordnung verletzte jedoch die 1928 gesetzlich garantierte Autonomie der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands und widersprach insoweit der allgemeinen Rechtslage. Gegen diesen Eingriff in eigentlich innerkirchlich zu regelnde Angelegenheiten bezog deshalb vor allem auch der lettische Bischof Kārlis Irbe (* 1861, † 1934, 1922–1931 evangelisch-lutherischer Bischof ) Position und nahm ihn – nachdem er ein Jahrzehnt zuvor bereits den Verlust der Jakobikirche als Niederlage empfunden hatte – im Herbst 1931 zum Anlass, seinen Rücktritt zu erklären. Die politisch gewollte »Lettisierung« Rigas

Geht es darum, die Atmosphäre im Riga der 1920er Jahre zu charakterisieren und gleichzeitig anzudeuten, welche Wandlungen diese in den 1930er Jahren erfuhr, so wird gern der amerikanische Diplomat George Frost Ken182  Riga (1918–1945)

nan (* 1904, † 2005) zitiert, der die Stadt 1928 kennen lernte und in dessen Memoiren es heißt: »Das Beste an Riga war sein bunt gemischtes und ganz kosmopolitisches kulturelles Leben. (...) Aber die politisch dominierenden Letten, die mit den Jahren der Unabhängigkeit zusehends chauvinistischer wurden, fühlten sich gedrängt, das bunte Durcheinander so schnell wie möglich zu beseitigen, und bis zum Jahre 1939 war es ihnen gelungen, der Stadt viel von ihrem Charme zu nehmen.« Dem Riga der späten 1920er Jahre bescheinigte der Autor vor allem »ein intensives Nachtleben nach Petersburger Tradition« und beschrieb es auch ansonsten als »eine Miniaturausgabe von Petersburg«. Gemeint war freilich das alte, vorrevolutionäre Petersburg, so dass hier Kennans Eindruck zufolge »die Kopie das Original überdauert« hatte: Wenn es, so sein Resümee, um 1930 noch irgendwo möglich war, wie im Zarenreich zu leben, dann in Riga. Zu diesem Befund kam der Amerikaner ungeachtet des Verschwindens manch kleinerer Relikte der zu Ende gegangenen Epoche, so etwa einer schmuckvollen Votivkapelle vor dem Bahnhof, die 1889 erbaut worden war und dort bis 1925 an das knappe Überleben der Zarenfamilie bei einem Zugunglück auf der Fahrt von der Krim nach Sankt Petersburg im Oktober 1888 erinnert hatte. Und auch auf eine andere, tiefer greifende städtebauliche Veränderung, die sich zu Kennans Rigaer Zeit bereits ankündigte, hätte dieser seine Worte, der Stadt sei Charme verloren gegangen, gewiss nicht bezogen sehen wollen. Schließlich war jenes ehrgeizige Projekt – die 1930 erfolgte Verlegung des zentralen Marktes der Stadt weg aus dem beengten Bereich zwischen Altstadt und Düna – auch schon in den letzten Jahrzehnten der Zarenzeit als überfällig empfunden worden. Mit dem Umzug des Marktes in aus dem kurländischen Vaiņode (Wainoden) herangeschaffte vormalige Zeppelinhangars, die südöstlich des Eisenbahndamms neu aufgebaut und zu modernen Markthallen umfunktioniert wurden, gehörten die hygienisch bedenklichen Zustände, die man am Düna-Ufer zu beklagen gehabt hatte, jedenfalls der Vergangenheit an. Die allgemeine Erleichterung hierüber fand ihren Ausdruck nicht zuletzt darin, wie schnell unmittelbar im Anschluss die Umgestaltung des frei gewordenen Geländestreifens zu einer begrünten Promenade vonstatten ging. Wohl keine andere Baumaßnahme vergleichbaren Umfangs im Riga des 20. Jahrhunderts konnte je als ähnlich unumstritten gelten. Für vielstimmige Debatten – mal über die konkrete Ausgestaltung, mal über den Standort, mal darüber, wem die Ausführung anvertraut werden sollte – sorgte in jenen Jahren hingegen das bereits seit 1922 verfolgte, jedoch erst 1931–1935 zur Verwirklichung gelangte Freiheitsdenkmal-Projekt. Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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Als Fläche, auf der ein solches Denkmal platziert werden könnte, standen, noch ehe das bisherige Marktgelände endgültig aufgegeben war, sogar die eben erwähnten neuen Grünanlagen längs der Düna zur Diskussion. Eine Realisierung an dem von Anfang an ins Auge gefassten Ort, an dem sich das Denkmal heute befindet, drohte um 1930 nämlich daran zu scheitern, dass die Stadt Riga über mehrere Jahre hinweg nicht bereit war, ihn für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Erst am 18. Juni 1931 wurde, nachdem sich im Stadtrat die Mehrheitsverhältnisse geändert hatten, ein Ratsbeschluss gefasst, der diese Weigerung aufhob. Zu den Alternativen, die aus Sicht der Stadt attraktiver erschienen wären, hatte unterdessen die verschiedentlich propagierte Möglichkeit gezählt, Lettlands Freiheit lieber ein Denkmal mit konkretem Nutzen zu setzen. Hierbei wurde dann meist an eine zusätzliche Brücke über die Düna gedacht. Gegen eine solch pragmatische Lösung sprach jedoch zum einen die Gefahr, dem Denkmal-Vorhaben seine ideelle Basis zu entziehen, wenn es seine Verwirklichung in Gestalt von etwas ohnehin Benötigtem fände, von dem überdies nur die Hauptstadt Vorteile hätte, sowie zum anderen die schlichte Einsicht, dass selbst der Staat damals nicht zur Finanzierung einer derartigen Brücke imstande gewesen wäre. Konturen gewann das spätere Freiheitsdenkmal, nachdem Kārlis Zāle (* 1888, † 1942), der Sieger im vorletzten und letzten von vier Wettbewerben, die zwischen 1922 und 1930 zu diesem Projekt stattgefunden hatten, mit den bildhauerischen Arbeiten beauftragt und zugleich eine enge Zusammenarbeit zwischen Zāle und dem Architekten Ernests Štālbergs (* 1883, † 1958) vereinbart worden war. Lediglich die außerhalb der Zuständigkeit von Architekt und Bildhauer liegende Frage, welche Worte als Inschrift an den Sockel gemeißelt werden sollten, blieb danach noch lange offen. Als es am 18. November 1935, exakt vier Jahre nach der Grundsteinlegung, zur feierlichen Enthüllung des Denkmals kam, war dort schließlich die dem Dichter Kārlis Skalbe (* 1879, † 1945) zuzuschreibende Formulierung »Tēvzemei un brīvībai« (»Für Vaterland und Freiheit«) zu lesen – und nicht beispielsweise »Tēvzemes brīvībai« (»Für die Freiheit des Vaterlandes«), wie ein bis zuletzt diskutierter Alternativvorschlag gelautet hatte. Auch dass als Grundsteinlegungs- ebenso wie als Einweihungstag jeweilige Jahrestage der Staatsproklamation gewählt wurden, war nicht ganz so alternativlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: Die Feierlichkeiten zur Fertigstellung des ebenfalls mit Skulpturen Zāles ausgestalteten Brüderfriedhofs im Jahr darauf wurden auf den 11. November gelegt, den Tag, an dem sich die Bezwingung der Bermondt-Truppen jährt.

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Während der Denkmal-Einweihung am 18. November 1935 ruhte im gesamten Stadtzentrum der Verkehr. An den Rändern der Boulevards standen – und zwar nicht nur dort, von wo aus man das Denkmal noch sah, sondern über diesen Bereich hinaus bis an die Düna – Soldaten, ehemalige Freiheitskämpfer, Studenten, Schüler, Pfadfinder und Feuerwehrleute in Reih und Glied. Die Rede zur Grundsteinlegung wie auch die Rede zur Einweihung hatte ein und derselbe Staatspräsident zu halten, denn beide Ereignisse fanden während der Präsidentschaft von Alberts Kviesis (* 1881, † 1944, 1930–1936 Staatspräsident Lettlands) statt, der 1933 im Amt bestätigt wurde. Gleichwohl war 1935 die politische Situation grundverschieden von derjenigen des Jahres 1931, da im Mai 1934 Kārlis Ulmanis mit einem Staatsstreich der Tätigkeit von Parteien und Parlament ein Ende gesetzt hatte. Für Ulmanis, der vor seiner autoritären Machtübernahme Ministerpräsident gewesen war und dies formal auch danach blieb, hatte der Umstand, dass er erst 1936 Kviesis im Präsidentenamt beerben konnte, nur am Rande Bedeutung; denn zu Ulmanis’ bevorzugter Selbstbezeichnung wurde ohnehin »Tautas vadonis« – zu Deutsch »Führer des Volkes«. Vor allem die von der autoritären Herrschaft Ulmanis’ geprägten Jahre ab 1934 waren es wohl, die der oben zitierte Amerikaner Kennan meinte, wenn er den Letten vorwarf, »das bunte Durcheinander« ihrer Hauptstadt ausgemerzt zu haben. Zu ihrem Freiheitsdenkmal, einer zweifellos eleganten Synthese aus Obelisk und Statue, hätte auch Kennan ihnen gewiss gratuliert; und bestimmt hätte er nichts Verwerfliches daran gefunden, dass zeitnahe zu dessen Einweihung die im frühen 19. Jahrhundert gestiftete Alexander-Pforte ihren Platz im Verlauf genau der Straßenachse, auf der nun das Freiheitsdenkmal stand, gegen einen Ersatzstandort in einem Park eintauschen musste. Neben solch politisch geradezu notwendigen Maßnahmen veränderte den Stadtraum in jenen Jahren allerdings auch so mancher Beweis einer für autoritäre Systeme nicht untypischen Ordnungsliebe, die nach den Turbulenzen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zwar verständlich war, jedoch nicht überall im Stadtgebiet zu gleich guten Ergebnissen führte. In manchen Vierteln wurde das Leben auf diese Weise zumindest gesünder – denn die Registrierung von Zonen, in denen gehäuft Tuberkulose-Fälle auftraten, gehörte damals immer noch zu dem, womit sich die städtische Verwaltung regelmäßig zu befassen hatte. Ausdruck eines allgemeinen Bemühens, bessere Luft und dabei zugleich gestalterisch mehr Ordnung in die Stadt zu bringen, war zum Beispiel die Entstehung der Parkanlage »Ziedoņdārzs« (wörtlich: »Lenz-Garten«) neben einem damaligen Abschnitt der Marijas iela (Marienstraße, heute Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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Aleksandra Čaka iela) in den Jahren 1937–1939. Die Idee, den Park so zu benennen, wird dem mit dessen Verwirklichung betrauten Andrejs Zeidaks (* 1874, † 1964, 1915–1944 Stadtgartendirektor) zugeschrieben. Dass der Ziedoņdārzs das rechtwinklig von Straßen eingerahmte Karree, in dem er sich befindet, nur zu großen Teilen, nicht jedoch komplett einnimmt, erklärt sich damit, dass Anfang der 1930er Jahre von der Bebauung dieses Karrees lediglich der aus alten Kasernen, Werkstätten und Lagerhäusern bestehende Teil verschwand. In den Randbereichen wurde seinerzeit außerdem noch eine Schlittschuhbahn betrieben, regelmäßig ein Jahrmarkt mit Karussells und ähnlichen Attraktionen veranstaltet sowie einem Zirkusbesitzer Gelegenheit gegeben, die Bevölkerung mit seinen rund 200 Tieren zu unterhalten. Dem Vergnügen von Kindern fühlte sich freilich auch das autoritäre Ulmanis-Regime, zu dessen Zeit der Ziedoņdārzs geschaffen wurde, in besonderer Weise verpflichtet; ein Spielplatz durfte in der neuen Parkanlage daher nicht fehlen. Anderweitigen Belustigungen wurden jedoch zusehends feste Orte zugewiesen. Zirkusfreunden beispielsweise blieb als Anlaufstelle ja immer noch das Ende der 1880er Jahre nach Plänen von Jānis Fridrihs Baumanis eigens als Zirkus errichtete Gebäude am südöstlichen Ende der Merķeļa iela (bzw. »Großen Parkstraße« und später »Paulucci-Straße«, wie sie um die Wende zum 20. Jahrhundert hieß). Im Fokus stand bei Ulmanis’ Bestreben, Riga gleichsam aufzuräumen und dabei »lettischer« zu machen, unterdessen die Altstadt. Da es hier außer dem Rathausplatz, dem 1880 durch den Abbruch von Ställen der Pferdepost hinzugekommenen Albertplatz sowie dem winzigen Herderplatz kaum irgendwo eine wirkliche Freifläche gab, wurde die Parole ausgegeben, die ältesten Teile der Stadt müssten erst einmal »durchgelüftet« werden, was in diesem Fall zunächst als Metapher für ein paar unmittelbar ins Auge gefasste Abrissmaßnahmen im Schatten der Petri- und der Jakobikirche gemeint war. Während die dortige Beseitigung ein- bis zweigeschossiger Bauten aus dem 19. Jahrhundert in ihren Ausmaßen kaum über das hinausreichte, was in den 1880er Jahren an der Westseite des Doms unternommen worden war, begann an dessen Nordseite 1935 ein umso massiverer städtebaulicher Eingriff. Auf gleich 15 Grundstücken erfolgte dort bis 1937 ein vollständiger Kahlschlag, durch den die leere Fläche für den heutigen Domplatz entstand. Dass damit zugleich ein unverbauter Blick auf die Nordfassade des Doms freigegeben wurde, entsprach dem Geist klassischer Kirchenfreilegungen in der Zeit um 1900, wie sie unter Stadtplanern seitdem längst nicht mehr als sinnvoll galten. Fast sämtliche Rigaer Fachleute zeigten sich, je näher die Eröffnung des neuen Platzes rückte, vom Ergebnis der Maßnahme jedoch positiv überrascht. 186  Riga (1918–1945)

Zusammen mit den erloschenen Parzellen hörten auch mehrere Straßen bzw. Abschnitte von Straßen auf zu existieren: Das südwestliche Ende der Zirgu iela (Große Pferdestraße) wurde zu einem Randstück des Platzes; die Mazā Jēkaba iela (Kleine Jakobstraße) sowie der westliche Abschnitt der Jauniela (Große Neustraße) gingen mitten in dessen Fläche auf. Beflügelt von der Resonanz, die das Domplatz-Projekt fand, gaben Ulmanis’ Architekten sich nun zunehmend der Überzeugung hin, mit Vorschlägen zur Tilgung überflüssig erscheinender Straßen aus dem Altstadt-Straßennetz besonderes planerisches Geschick zu beweisen. Ging es um Pläne zur Errichtung großer Neubauten, so kam folgerichtig eine Überbauung entsprechender Straßen bzw. Verschmelzung von Häuserblocks in Betracht. Der Öffentlichkeit wurde bei alldem gern der Anschein vermittelt, beinahe sämtliche derartigen Ideen stammten von Ulmanis selbst. Besonders eigenwillig fiel als Ergebnis solchen Vorgehens der Grundriss des zwischen Smilšu iela (Große Sandstraße) und Zirgu iela (Große Pferdestraße) gezwängten Finanzministeriums aus. Während seiner Errichtung meist sogar »Finanzpalast« genannt, war das Ministeriumsgebäude der größte der in den 1930er Jahren auf Altstadt-Boden entstandenen »Monumentalbauten« – auch dies ein damals viel strapazierter Begriff. Ein dritter Bereich, in dem es zu einer leichten Straßennetz-Ausdünnung kam, erstreckte sich nordwestlich der Ecke von Audēju (Weber-) und Vaļņu iela (Wallstraße). In diesem Fall handelte es sich bei dem »Monumentalbau«, durch den dies erreicht wurde, um das so genannte Armeewarenhaus, Rigas späteres Zentralkaufhaus (lett. »Universālveikals«), sowie bei der Straße, die unter diesem Gebäude verschwand, um ein Teilstück der Ķēniņa iela (Große Königstraße). Die beschriebenen städtebaulichen Praktiken mögen für die 1930er Jahre nicht ungewöhnlich erscheinen; Aufmerksamkeit verdient insofern eher die für zahlreiche Artikel der damaligen lettischen Presse typische Projektion grundsätzlicher Befindlichkeiten gegenüber den baltischen Deutschen auf den von diesen erbauten Rigaer Stadtkern, der dabei verschiedentlich sogar – mit Ausnahme der Kirchen und einer Hand voll weiterer Bauten – für kunsthistorisch wertlos erklärt wurde. Seine Unvollkommenheiten, hieß es, seien auf deplatzierte Sparsamkeit der Deutschen zurückzuführen; und den 1918 endlich zu Herren über ihr eigenes Land gewordenen Letten obliege es nun, die vielen Unvollkommenheiten zu korrigieren. In nicht unerheblichem Maße schlug hier die persönliche Abneigung von Machthaber Ulmanis gegenüber dem Deutschtum durch. Während die baulichen Veränderungen naturgemäß auch für die »Rigasche Rundschau« zu einem Thema ersten Ranges wurden, beteiligte sich Rigas russische Presse an den DiskusRiga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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sionen darüber nur selten, und wenn doch, dann meist mit deutlichem Lob für Ulmanis’ Baupolitik. Wenn die Altstadt für den ersten Mann im Staat ein eigentlich ungeliebter Stadtteil war, so wirft dies die Frage auf, warum einige der Prestigebauten seines Regimes dann ausgerechnet in diesem Bereich entstehen mussten und warum zum Beispiel Arnolds Lamze mit seiner Idee von einem Regierungsviertel außerhalb der Altstadt plötzlich jegliche politische Unterstützung verlor. Tatsächlich aber wurde es bei der Inszenierung der einzelnen Neubauprojekte gegenüber der Öffentlichkeit stets als eine Art ideeller Gewinn dargestellt, dass sie zum Verschwinden eines Teils der angeblich so minderwertigen Altstadt geführt hatten. Entsprechend wurde insbesondere auch die Verwirklichung des 1937–1939 unmittelbar an den Pulverturm angefügten Erweiterungsbaus für das Kriegsmuseum ausgelegt. Das nach Weltkrieg und Freiheitskrieg in dem Turm eingerichtete Museum hatte fortan nicht mehr unter beengten Raumverhältnissen zu leiden; die dazu gewählte bauliche Lösung verursachte jedoch den Verlust eines Großteils der ästhetischen Wirkung des Turms selbst: Diese Meinung vertrat zumindest der eine oder andere auswärtige Architekturexperte bei Besuchen in Riga, so etwa der Este Edgar Kuusik (* 1888, † 1974). Hatte zuvor bereits ein auf Gustav Hilbig zurückgehender neogotischer Giebel aus der Zeit, als die Studentenverbindung »Rubonia« den Pulverturm übernommen hatte, dessen Wirkung geschädigt, so war die Tatsache, dass der Anbaumaßnahme unter Ulmanis nun immerhin dieser Giebel zum Opfer fiel, für Skeptiker wie Kuusik noch kein Anzeichen einer Verbesserung. Dass für den Museumsanbau überdies benachbarte Häuser und Speicher abgerissen werden mussten, störte scheinbar selbst Kuusik nicht; sein Gastartikel in der lettischen Architektenfachzeitschrift jener Jahre deutete allerdings auf Unwissenheit im Hinblick darauf, wie viel sonstiger altstädtischer Bausubstanz noch der Abriss drohte. Das erweiterte Kriegsmuseum, das sich während der Sowjetzeit alsbald zum Revolutionsmuseum wandelte, war faktisch das letzte Bauprojekt innerhalb der Altstadt, das in der UlmanisÄra vollendet wurde, nicht jedoch das letzte, für das noch Abrissmaßnahmen vorgenommen wurden. Vielmehr setzten diese sich 1937/38 am südöstlichen Altstadtrand, wo eine moderne Postsparkasse geplant war, sowie zwischen Rathausplatz und Düna-Ufer, wo ein städtisches Bürogebäude errichtet werden sollte, großflächig fort. Für beide Gebäude wurden Entwürfe favorisiert, die einen hohen Turm vorsahen, da die mittelalterlich-frühneuzeitlichen Kirchtürme nach damaliger Absicht nicht länger konkurrenzlos die Stadtsilhouette dominieren, sondern ihnen Wahrzeichen einer neuen 188  Riga (1918–1945)

Zwei Stellen in Rigas Altstadt, die sich in den 1930er Jahren durch Abbruchmaßnahmen verändert haben: links Teile der Bebauung auf der Fläche des späteren Domplatzes; rechts Häuser, die einst an die Außenseite der Stadtmauer angebaut worden waren und die nun dem Neubau des Kriegsmuseums Platz machen mussten

Zeit zur Seite treten sollten. Insbesondere im Fall der Postsparkasse mutete dieses Hinzufügen eines Turms sonderbar an – so der verständliche Einwand der letzten verbliebenen Kritiker, die sich Ende der 1930er Jahre noch in Fachblättern zu Wort meldeten. Im Fall des städtischen Bürohauses war an einen Turm gedacht, der sogar den Petrikirchturm an Höhe übertroffen hätte. Aufgrund der Finanzlage des Staates, die sich 1938/39 immer problematischer gestaltete, wurde der Baubeginn bei diesen Projekten schließlich vertagt. Die politischen Veränderungen von 1940 entzogen ihnen sodann jedwede Verwirklichungsperspektive; und doch war zumindest das Stadthaus-Projekt für Riga sehr folgenreich, denn die schon vollzogene Beseitigung der Vorgängerbebauung hatte genau jenes freie Schussfeld entstehen lassen, das sich im Juni 1941 als verhängnisvoll für das Schwarzhäupterhaus und die übrigen verbliebenen Bauten am Rathausplatz erweisen sollte. Neben verwirklichten Vorhaben sowie unverwirklichten, für die aber bereits Abbrüche erfolgt waren, gab es ferner Projekte, für die bis 1940 noch keinerlei praktische Vorbereitungen angelaufen waren. Diese gänzlich unrealisierten Projekte zeichnete gleichsam noch größere Kühnheit im Umgang Riga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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mit der Altstadt aus. Zum Beispiel entwickelte sich aus dem erwähnten Bauvorhaben in Sachen Postsparkasse der Vorschlag, um deren geplanten Neubau herum ein völlig verändertes, schachbrettähnliches Straßennetz zu schaffen, was bedeutet hätte, Dutzende von Gebäuden am südöstlichen Ende der Altstadt dem Abriss preiszugeben. Rücksichtnahme auf bestehende Straßenverläufe, wie sie sich beispielsweise an der gerundeten Fassade des Finanzministeriums entlang der Zirgu iela durchaus noch beobachten lässt, kam Ulmanis’ Planern von Jahr zu Jahr weniger in den Sinn. Einen ersten Schritt in diese Richtung markierte 1936 die Anregung des Architekten Pauls Kundziņš (* 1888, † 1983), nach der vom Staat verfügten Enteignung der Gilden auch deren Gebäude durch einen Neubau zu ersetzen. Kundziņš ging dabei von der Möglichkeit aus, den gesamten Bereich vom Finanzministerium bis zur Kaļķu iela (Kalkstraße) von sonstiger Bebauung zu befreien, und empfahl für den jenseits der heutigen Meistaru iela (Kleine Schmiedestraße) angrenzenden Häuserblock bis zur Ķēniņa iela (Kleine Königstraße) sogar die vollständige Umwandlung in eine Grünfläche. Eigentümlicherweise antizipierte er damit bereits die als »Līvu laukums« geläufige Platzanlage von heute, die erst als Folge von Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs Wirklichkeit wurde, sich aber von der Freifläche, die Kundziņš sich vorstellte, nur dadurch unterscheidet, dass sie keinen geradlinigen östlichen Abschluss im Zuge der Ķēniņa iela aufweist: Der Krieg zog nun einmal auch den benachbarten Häuserblock bis zur Vaļņu iela in Mitleidenschaft und ließ ihn gewissermaßen ausgefranst zurück – ein Schönheitsfehler, den Rigas Stadtplaner eigentlich schon in den 1980er Jahren durch eine teilweise Wiederbebauung korrigieren wollten; eine Gelegenheit dazu ergab sich jedoch nie. Angesichts der gleichwohl hohen atmosphärischen Qualität des heutigen »Līvu laukums« mögen die Planungen der 1930er Jahre auf den ersten Blick gar nicht verfehlt erscheinen. Denkt der Betrachter sich dann allerdings, um sich den eigentlichen Ansatz Kundziņšs zu vergegenwärtigen, die Gebäude der Großen und der Kleinen Gilde sowie die an die einstige Stadtmauer angebauten Häuser südlich der Kleinen Gilde von diesem Platz weg, so wird er derlei Planspiele vielleicht doch eher für Auswüchse einer Zeit halten, in der in immer kürzeren Abständen immer radikalere Ideen reiften. Fälle, in denen der Drang zur Umgestaltung der Stadt in Übereifer umschlug, blieben unter Ulmanis indes nicht auf den Bereich der Altstadt beschränkt. Als Beispiel ließe sich ebenso gut die Versetzung eines dem Dramatiker Rūdolfs Blaumanis (* 1863, † 1908) gewidmeten Denkmals anführen, bei dem es sich zum Zeitpunkt seiner Einweihung – 1929 – um das allererste im öffentlichen Raum aufgestellte Rigaer Denkmal für eine Person des kultu190  Riga (1918–1945)

rellen Lebens handelte. Von seinem ebenerdigen Standort unweit des Basteibergs wurde es im November 1938 in den Kreuzungsbereich von Blaumaņa iela (Große Newa-Straße) und Krišjāņa Barona iela (Suworow-Straße) transportiert, wo es fortan auf einem zweieinhalb Meter hohen Sockel thronte. Die dadurch bewirkte Unnahbarkeit des Denkmals und die plötzliche Leere der Grünanlagen am Basteiberg stießen dann allerdings auf derart wenig Gegenliebe, dass die vorgenommene Veränderung, der ein immerhin bereits 1936 gefasster Beschluss zugrunde lag, zügig korrigiert und die ungefähr lebensgroße Blaumanis-Figur wieder an ihren ursprünglichen Platz gebracht wurde. Gegenüber der Altstadt – dort, wo heute die neue Nationalbibliothek sowie ein Hotel der oberen Kategorie die Stadtlandschaft prägen – schwebte Ulmanis in Anknüpfung an den Namen »Siegespark« (lett. »Uzvaras parks«), den dieses Gelände wie erwähnt 1925 erhalten hatte, ein den Bedürfnissen seines Regimes angemessener »Siegesplatz« (lett. »Uzvaras laukums«) vor, das heißt eine riesige Fläche mit Sängerfestbühne, unterschiedlichsten Sportanlagen, einem Versammlungsplatz für Massenveranstaltungen und Volksfeste, einem zentralen Turm und vielem mehr. Die Verwirklichung dieses Großvorhabens sollte durch Arbeitseinsätze der Bevölkerung gelingen, was zugleich als Beitrag zur Identifikation der Staatsbürger mit ihrer Hauptstadt, in der viele von ihnen noch nie gewesen waren, verstanden wurde. Angesichts der Kürze der jährlichen Bausaison und der weitgehenden Gleichzeitigkeit von Bausaison und Erntezeit führte dieses Konzept allerdings nicht im Mindesten zu einer Beschleunigung des Projekts, so dass in den wenigen Jahren, in denen es zu solchen Einsätzen faktisch kam, nahezu ausschließlich Bodenarbeiten getätigt werden konnten. Die Vision, hier eines Tages zu riesigen Volksmassen sprechen zu können, erfüllte sich für Ulmanis somit nicht. Der größte Platz in Riga, den Lettlands Regent sich zu diesem Zweck tatsächlich neu schuf, blieb stattdessen der Domplatz. Als dieser am dritten Jahrestag des Staatsstreichs von 1934 eröffnet wurde, erhielt er den Namen »15. maija laukums« – »Platz des 15. Mai«. Trefflich ließe sich darüber spekulieren, ob auch ohne jene vom Ulmanis-Regime gewählte Namengebung den späteren Vertretern der Sowjetmacht, die Ulmanis von der Macht verdrängten, die Idee gekommen wäre, diesen oder irgendeinen anderen Rigaer Platz »Platz des 17. Juni« (lett. »17. jūnija laukums«) zu nennen – bezogen auf genau jenen Tag des Jahres 1940, an dem Ulmanis die Regierungsgeschäfte abgeben musste. Was den 15. Mai als Element der Namengebung für öffentliche Orte anbelangt, zeigt sich derweil, dass Lettlands autoritärer Regent diese Benennungsmöglichkeit offenkundig nie überstrapazieren wollte: 1935 war sie zuRiga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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nächst auf den einstigen Schützengarten angewandt worden. Ab 1937 hieß dieser allerdings »Kronvalds-Garten« (lett. »Kronvalda dārzs«), womit der Publizist, Linguist und Pädagoge Atis Kronvalds (* 1837, † 1875) geehrt wurde – und womit im Übrigen die einzige Benennung für einen zentralen Rigaer Park entstanden war, die auch während der Sowjetzeit (bis auf eine Ersetzung von »dārzs« durch »parks«) unverändert blieb. Die Zielvorgabe einer »Lettisierung« galt in den Jahren des autoritären Regimes ähnlich stark wie für das Stadtbild auch für das Wirtschaftsleben. Hier trieb sie Blüten bis hin zu der schon angedeuteten Liquidation der Großen und der Kleinen Gilde. Obwohl diese zuletzt nur noch karitativ tätig gewesen waren, wurden ihre Vermögenswerte zur Jahreswende 1935/36 komplett eingezogen. Die dazu erlassenen »Sylvestergesetze« bezeichnete damals sogar der deutsche Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath (* 1873, † 1956, 1932–1938 Reichsaußenminister) als »eine schwere Belastung« für die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Lettland. Bis zum Schluss hatte die Große Gilde zum Beispiel die Einrichtungen des Konvents zum Heiligen Geist beaufsichtigt, in dessen Bestand Anfang der 1920er Jahre verschiedene vormals eigenständige Armenhäuser eingegliedert worden waren. Zu diesen zählte etwa, um ein Beispiel zu nennen, »Campenhausens Elend«, ein um 1748 von Generalleutnant Balthasar von Campenhausen (* 1689, † 1758), einem Anhänger der Herrnhuter Bewegung, revitalisiertes Witwenheim, dessen Gebäude am Rande des Konventhofs in den 1930er Jahren immer noch rund 20 – durchweg deutsche – Bewohner hatte. Ab 1936 unterstand diese Fürsorgeeinrichtung der Aufsicht städtischer Behörden. Zu jener Zeit begannen daneben »Nationalisierungen« von Unternehmen – durchgeführt von der 1935 eigens zu derartigen Zwecken geschaffenen Lettischen Kreditbank. Deren Aufgabe bestand im Ankauf jeweils sämtlicher Wertpapiere angeschlagener Unternehmen und, sofern diese sanierungsfähig waren, in der späteren Neuausgabe von Aktien. Von Letzterer sollten dann allerdings möglichst nur noch Letten profitieren, nachdem vorher die Aktieninhaber oft mehrheitlich anderer Nationalität gewesen waren. In manchen Fällen wickelte die Lettische Kreditbank auch einfach nur den Konkurs von Betrieben ab und ersetzte mit ihren hierzu gebildeten Kommissionen einen etwaigen Konkursverwalter. In Riga war unter den für marode erklärten Unternehmen, die noch deutlich die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise spürten, 1936 auch das gut vier Jahrzehnte zuvor gegründete Waggonwerk »Phoenix«, dessen entscheidendes Aktienpaket damals von Aktionären aus Deutschland gehalten wurde. Die Lettische Kreditbank ließ dieses Werk unter Übernahme seiner 192  Riga (1918–1945)

Schulden so umstrukturieren, dass seine Standbeine neben dem Waggonbau fortan auch die Automobil- und die Schiffsfertigung waren. Als »nationales Unternehmen« trug es nun den Namen »Vairogs« (»Schild«) und erntete bald dadurch Ruhm, dass ihm Konzessionen des amerikanischen Autobauers Ford zuteil wurden. Sein Name erweiterte sich so zu »Ford-Vairogs«, wodurch es in der Rückschau als ein ganz besonderes unter den insgesamt 38 »nationalen Unternehmen« gilt, die bis 1939 – zum Teil auch als Neugründungen – nach und nach entstanden. Insgesamt vier Ford-Modelle wurden in den Jahren 1937–1940 in Riga produziert, darunter der »Taunus«. Alle Originalteile mussten während dieser Zeit jedoch aus Ford-Werken in Kopenhagen und andernorts in Europa angeliefert werden, da der Plan, auch Zulieferbetriebe in Lettland anzusiedeln, nicht kurzfristig realisierbar war. Vom Prinzip der »Nationalisierung« von Unternehmen gilt es das der Verstaatlichung zu unterscheiden, das die Bewohner Lettlands ab Mitte 1940 durch die sowjetische Okkupation noch allzu gut kennen lernen sollten. Dass das Ulmanis-Regime mit den Ideen von Sozialisten wenig im Sinn hatte, ließ es im Rahmen seiner Baupolitik unter anderem dadurch deutlich werden, dass es dem als sozialdemokratisches Prestigeprojekt einzustufenden Rigaer »Volkshaus« – einem Cafés, Konferenzsäle, Theater, Schwimmbad und vieles mehr unter einem Dach vereinigenden Bau, mit dessen Errichtung 1929 an der Ecke von Bruņinieku (Ritter-) und Tērbatas iela (Dorpater bzw. Dörptsche Straße) begonnen worden war – die plangemäße Fertigstellung versagte. Spricht man insgesamt – wie in der Überschrift zu diesem Unterkapitel – von einer politisch gewollten »Lettisierung« Rigas, so bleibt zu betonen, dass die Umsiedlung der Deutschbalten aus Lettland und Estland, die die letzten Monate des Jahres 1939 überschattete, dem konkreten politischen Willen der lettischen Regierung ebenso wenig entsprach wie dem Willen der meisten Betroffenen. Beide erfuhren erst mit etlichen Tagen Verzögerung von diesem Vorhaben, über das sich das Deutsche Reich und die UdSSR am 28. September in einem vertraulichen Protokoll ausgetauscht hatten. Schon am 30. Oktober wurde daraufhin ein deutsch-lettischer Vertrag bezüglich der Bereitschaft Lettlands, lettische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit aus ihrer bisherigen Staatszugehörigkeit zu entlassen, unterschrieben. Im Rigaer Hafen lagen derweil längst KdF-Dampfer, um diejenigen, die sich bis zum 15. Dezember »freiwillig« zur Teilnahme an der Umsiedlung entschlossen, sukzessive aufzunehmen. Dass Lettland und am 15. Oktober entsprechend auch Estland derart rasch einwilligten, einen jeweiligen Teil ihrer Staatsangehörigen in eine ungewisse Zukunft in gerade erst von Polen eroberten Gebieten zwischen Weichsel-Mündung und Warthe zu schicken, hatte zweifellos mit den erzwunRiga als Hauptstadt eines unabhängigen Staates 

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genen Beistandspakten zu tun, mit denen die UdSSR die baltischen Staaten kurz zuvor erpresst hatte, ihr Militärstützpunkte zur Verfügung zu stellen. Angesichts dieser Pakte war – Jubelrufen der lettischen Presse zum Trotz – vielen Letten mulmig dabei zumute, die überwiegende Mehrzahl der Deutschbalten nach und nach auf die bereitgehaltenen Schiffe steigen zu sehen; und wie sich ab Mitte 1940 zeigen sollte, hatte es sich bei der Umsiedlung in der Tat um den Vorboten eines Unheils gehandelt, das seit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 jederzeit über die baltischen Staaten hereinbrechen konnte und dem sie hilflos ausgeliefert waren.

2. Die Weltkriegsjahre ab dem sowjetischen Einmarsch   in die baltischen Republiken Das erste Jahr unter sowjetischer Besatzung (1940/41)

Der Zeitraum von Mitte Juni 1940 bis Ende Juni 1941 ist in die Geschichte Lettlands als »das Jahr des Schreckens« (lett. »Baigais gads«) eingegangen. Am 17. Juni 1940, einen Tag nach einem Rücktrittsultimatum Stalins an die bisherige Regierung Lettlands, überschritt früh am Morgen sowjetisches Militär Lettlands Ostgrenze. Die Besetzung Rigas erfolgte indes nicht aus dieser Richtung, sondern von den Militärbasen in Kurland aus, über die die UdSSR auf Grundlage der verhängnisvollen Beistandspakte vom Herbst des Vorjahres verfügte. Den geplanten Anschluss Lettlands an die UdSSR koordinierte nun Andrej Vyšinskij (* 1883, † 1954, 1949–1953 Außenminister der UdSSR), der sogleich den für seine sozialdemokratische Gesinnung bekannten Mikrobiologen Augusts Kirhenšteins (* 1872, † 1963) in die sowjetische Botschaft einbestellen und damit beauftragen ließ, eine sowjetfreundliche lettische Regierung anzuführen. Kirhenšteins’ offizielle Einsetzung als Ministerpräsident am 20. Juni wurde noch als Amtshandlung des bisherigen Präsidenten Ulmanis inszeniert, um den Abläufen einen möglichst geordneten Anstrich zu geben; schließlich sollte nicht der Eindruck entstehen können, gleichsam über Nacht hätten Kommunisten alle Schaltstellen der Macht übernommen. Unabhängig davon, dass für Letzteres wohl auch die logistischen Voraussetzungen gefehlt hätten, war deshalb zuallererst Personal für den politischen Übergang gefragt. In seiner Funktion als Ministerpräsident verblieb Kirhenšteins folgerichtig nur bis zum 25. August. Sie fiel danach, nunmehr mit der Amtsbezeichnung »Ministerratsvorsitzender«, an den Schriftsteller Vilis Lācis (* 1904, † 1966), der sie von jenem 25. Au194  Riga (1918–1945)

gust an für gut 19 Jahre innehatte. Allerdings währte auch Kirhenšteins’ politische Karriere noch recht lang – bis immerhin 1952 war er Präsidiumsvorsitzender des Obersten Sowjets der Lettischen SSR. Anders als manchem seiner Mitstreiter bereitete ihm das, wozu seine Marionettenregierung den Weg geebnet hatte, demnach keine Gewissensbisse: Weder haderte er mit den Wahlen vom 15. Juli, zu denen ausschließlich ein »Block der Werktätigen« zugelassen worden war, noch mit der Absetzung und anschließenden Verhaftung Ulmanis’ am 21. bzw. 22. Juli oder gar mit dem Gesuch um Aufnahme Lettlands in die UdSSR, das angeblich Ausdruck des am 15. Juli bekundeten Wählerwillens war. Von Moskauer Seite wurde diesem Gesuch am 5. August 1940 hochoffiziell entsprochen. Auf kommunaler Ebene verlief die Sowjetisierung phasenversetzt in ähnlichen Schritten: Am 5. Juli wurde Roberts Liepiņš (* 1890, †  1978, 1936–1940 Stadthaupt) offiziell von der Spitze der Rigaer Stadtverwaltung abberufen und durch Jānis Pupurs (* 1901, † 1977) ersetzt, auf den zehn Wochen später Ādolfs Ermsons (* 1900, † 1978) folgte. Während Pupurs und Ermsons parteilos waren und auf sie sogar noch der unter Ulmanis eingeführte Amtstitel »Lielvecākais« (wörtlich: »Großältester«), den vor ihnen nur Liepiņš getragen hatte, Anwendung fand, rückte am 29. November 1940 mit Arnolds Deglavs (* 1904, † 1969) erstmals ein Kommunist auf den Bürgermeister-Sessel. Der Amtsbezeichnung nach war Deglavs bis 1941 »Vorsitzender des provisorischen Exekutivkomitees der Stadt«; nach seiner Wiedereinsetzung im Anschluss an die sowjetische Rückeroberung Rigas 1944 wurde er hingegen – diesmal bis 1951 – offiziell »Vorsitzender des Exekutivkomitees des Werktätigen-Deputiertenrats der Stadt Riga« (lett. »Rīgas pilsētas darbaļaužu deputātu padomes izpildkomitejas priekšsēdētājs«). 1959 geriet Deglavs in Verdacht, mit einer seinerzeit kaltgestellten nationalkommunistischen Reformbewegung, von der weiter unten noch die Rede sein wird, sympathisiert zu haben, wodurch ihm nach 1959 der Zugang zu hohen Ämtern versperrt war. Bei der Frage nach Bevölkerungsreaktionen auf das, was ab dem 17. Juni 1940 geschah, fällt zunächst auf, dass es durchaus gelang, sogleich in einem gewissen Umfang prosowjetische Demonstranten zu mobilisieren. Vor dem Rigaer Hauptbahnhof trugen sich am Nachmittag des 17. Juni sogar regelrecht Krawalle zu – offenbar angezettelt von vorwiegend russischen und jüdischen Vorstadt-Bewohnern, bei denen die kommunistische UntergrundPropaganda der 1920er und 1930er Jahre nicht wirkungslos geblieben war. Entstand dabei der Eindruck von Chaos, auf das die lettische Polizei mit womöglich übertriebener Gegengewalt reagierte, so begünstigte dies Stalins Die Weltkriegsjahre 

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strategischen Ansatz, tiefe Keile in Lettlands ethnisch gemischte Gesellschaft zu treiben. Signale, dass aber weder »Panzer-Küsser«, wie der Volksmund sie nannte, noch die Steinewerfer vom Bahnhofsvorplatz die Haltung der Staatsnation repräsentierten, gab es in zum Teil recht mutiger Form. Am Freiheitsdenkmal wurden weiterhin tagtäglich – vor wie auch nach dem 28. Juni, an dem an dessen Sockel ein Angehöriger der politischen Polizei Lettlands Selbstmord beging – Blumen abgelegt, was die Besatzer zu einem Aufruf veranlasste, hiermit aufzuhören. Schon Anfang Juli war dieser in der Zeitung »Cīņa« (»Der Kampf«) zu lesen – einem 1904 von der LSDAP ins Leben gerufenen Presseorgan, das in den Jahren ab 1919 in der Illegalität abgetaucht war und im Juni 1940 sogleich wieder legal zu erscheinen begonnen hatte. Auch die übrigen großen Zeitungen des Landes schrieben zu diesem Zeitpunkt nur noch, was ihnen diktiert wurde: Bereits bis zum 19. Juni hatten Vyšinskij und sein Stab zum Beispiel das Traditionsblatt »Brīvā Zeme« (»Das freie Land«) unter ihre Kontrolle gebracht. Provokationsbereitschaft zeigte die neue Führung, indem sie Banner mit kommunistischen Losungen und den Köpfen prominenter Kommunisten in der Folgezeit unter anderem am Haus des »Rigaer Letten Vereins« anbringen ließ, der seit 1868 die nationale Emanzipation der Letten vorangetrieben und sich vier Jahrzehnte später jene repräsentative Fassade geleistet hatte, die diese Banner nunmehr fast verdeckten. Die sieben führenden Industrieunternehmen im Gebiet Lettlands, darunter das im vorigen Kapitel näher behandelte »Vairogs«-Werk, das ab Mitte 1940 freilich nicht mehr über Ford-Lizenzen verfügte, wurden zu Betrieben von gesamtsowjetischer Bedeutung erklärt. Da sie von nun an die gesamte UdSSR beliefern sollten, erlebten sie Vergrößerungen, die regelrechten Aufblähungen gleichkamen. In kleineren Fabriken traten unterdessen immer mehr »Funktionäre« in Erscheinung, vielfach in Gestalt von Russland-Letten, die im Gefolge der Evakuierungen von 1915 auf sowjetischem Territorium gelebt hatten oder deren Vorfahren schon durch Kolonisierungsinitiativen des 19. Jahrhunderts in russische Gebiete gelangt waren. Der durch die ständige Präsenz solcher »Rückkehrer« hervorgerufene Eindruck, die Zahl der »Funktionäre« sei insgesamt größer als die der Arbeiter, war in einzelnen Betrieben nicht einmal falsch. In der öffentlichen Verwaltung gab es für die Russland-Letten ebenfalls vielerlei Verwendung. Besonders für die Hauptstadt Riga bedeutete dies, dass das vorangegangene Umsiedlungsgeschehen nicht etwa Wohnungsleerstand hinterließ, sondern rasch eine erneute Wohnraum-Knappheit eintrat. Allerlei Handhabe, dieses Problem so anzugehen, dass die russlandlettischen 196  Riga (1918–1945)

Neu-Rigenser Vorzugsbehandlung genossen, schufen die gleichzeitig angelaufenen Verstaatlichungsmaßnahmen: Diese erfassten nach der Industrie schrittweise auch das Wohneigentum, so dass bald zahlreiche Alteingesessene in der Sorge lebten, aus ihren Wohnungen gedrängt zu werden. Mit der Verstaatlichungspolitik von 1940 fand im Übrigen auch die noch an die Patrimonialgebietsverleihung von 1226 gekoppelte Rechtsvorstellung ihr Ende, dass die natürliche Eigentümerin allen Grund und Bodens im Stadtgebiet letztlich die Stadt Riga war und nur mit deren Billigung solcher Grund und Boden in andere Hände gelangen konnte. Beinahe harmlos musste jede Wegnahme von Eigentum im Vergleich zu dem erscheinen, was in der Nacht zum 14. Juni 1941 folgen sollte: Eine wochenlang minutiös vorbereitete Deportation angeblicher »Volksfeinde« brachte die lettische ebenso wie die estnische und die litauische Nation innerhalb weniger Stunden um einen Großteil ihrer intellektuellen Eliten. Zielorte der Verschleppung waren Lager und Siedlungen in Sibirien, in denen die Betroffenen Wochen später abgeladen wurden – ausgestattet nur mit dem, was sie in aller Eile in einen Koffer hatten packen können. Zu den Opfern dieser Deportation gehörten vor allem viele derjenigen, die in den vorangegangenen Jahren öffentliche Ämter oder hohe Positionen in der Wirtschaft bekleidet hatten. Nahe Angehörige, darunter gerade auch Kinder, blieben in den wenigsten Fällen verschont. Glücklich schätzen konnten sich nun diejenigen, die – wie zum Beispiel Ex-Stadthaupt Roberts Liepiņš – Anfang 1941 noch die Chance ergriffen hatten, in die so genannte Nachumsiedlung einbezogen zu werden: Diese hatte Deutschbalten, die Ende 1939 noch nicht außer Landes gegangen waren, nochmals ermöglichen sollen, das Baltikum zu verlassen, und war auch von einigen Tausend Letten und Esten genutzt worden. Als am 22. Juni, gut eine Woche nach der Deportationsnacht, das Deutsche Reich die UdSSR angriff, legten die sowjetischen Besatzer vor allem in den Haftanstalten – die in Lettland zu diesem Zeitpunkt zu fast 97 Prozent mit »politischen Gefangenen« gefüllt waren – noch einmal ein Höchstmaß an Grausamkeit an den Tag. Manche der Gefangenen wurden zwar, freilich mit geringen Überlebensaussichten, ins Innere Russlands mitgenommen; parallel hierzu kam es jedoch beispielsweise im Rigaer Zentralgefängnis zu einem regelrechten Massaker. Allein in dessen Innenhof fanden die Deutschen Anfang Juli an die 100 verscharrte Leichen. – Jahrzehnte später gelangte dieses Zentralgefängnis zu ungeahnter Bekanntheit im deutschsprachigen Raum, als es sich als Ort der Geburt des Regisseurs Rosa von Praunheim (* 1942) erwies: Diese Zusammenhänge förderte eine Spurensuche zutage, Die Weltkriegsjahre 

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zu der Praunheim nach dem Tod seiner Adoptivmutter, die sich ihm erst mit 94 Jahren als solche offenbart hatte, aufbrach und deren Ergebnisse er 2007 zu dem viel beachteten Film »Meine Mütter« verarbeitete. Bis zum Jahr 2000 hatte Praunheim zwar gewusst, dass er Ende November 1942, also im zweiten Jahr der deutschen Besatzung, in Riga geboren war, jedoch nie einen Grund gesehen, hier in eigener Sache zu recherchieren. Die deutsche Besatzung (1941–1944) und die   sowjetische Rückeroberung

Schon unmittelbar am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion betrafen einige der damit verbundenen Militäroperationen auch Teile Lettlands. Bombardiert wurden zu diesem Zeitpunkt vor allem strategisch wichtige Punkte in und um Ventspils (Windau) und Liepāja (Libau). Die Eroberung Liepājas führte zu mehrtägigen Kämpfen, bei denen es den eingeschlossenen Rotarmisten allerdings weniger darum ging, die Stadt zu verteidigen, als vielmehr schlicht darum, der deutschen Blockade zu entkommen. Am 26. Juni nahmen die Deutschen unterdessen bereits Daugavpils (Dünaburg) ein, am 27. Juni Tukums (Tuckum) und am 1. Juli schließlich ohne größere Kampfhandlungen auch Riga. Die Regierung Sowjetlettlands hatte sich am 27. Juni von Riga nach Valka (Walk) zurückgezogen und verließ in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli Valka in Richtung Novgorod. Bis zum 8. Juli war das gesamte Territorium Lettlands deutsch besetzt. Rigas Altstadt hatte bereits am 29. Juni von der anderen Düna-Seite her unter Beschuss gelegen und an diesem Tag zwei ihrer bedeutendsten Architekturschätze verloren, nämlich zum einen den Giebel des Schwarzhäupterhauses und zum anderen den Turmhelm der Petrikirche, wobei nie präzise geklärt werden konnte, wodurch Letzterer plötzlich in Brand geraten war. In Rigas Stadtbild fehlte er von da an bis Anfang der 1970er Jahre; 1983 schließlich kam die 1954 begonnene Wiederherstellung der Kirche vollständig zum Abschluss. Auch die Viertel zwischen Schwarzhäupterhaus und Petrikirche sowie diejenigen unmittelbar nördlich des Rathausplatzes wurden 1941 geradezu ausradiert: Als einziges verbliebenes Gemäuer bestimmte diesen Bereich, nachdem alle Trümmer beseitigt waren, die ausgebrannte Ruine des Rathauses. Die Altstadtstraße mit dem größten Verlust an Randbebauung war damals, wenn man alle verschwundenen Häuser zusammenzählte, die Kungu iela (Herrenstraße). Betrüblicherweise spiegelt diesen Befund selbst ein Dreivierteljahrhundert später noch immer die Zahl der an ihr verbliebenen Baulücken wider. 198  Riga (1918–1945)

Trotz der unübersehbaren Narben im Stadtinneren verflüchtigte sich Mitte 1941 bei den meisten Rigensern recht schnell die Angst, weiteres Kriegsgeschehen vor der eigenen Haustür erleben zu müssen; denn nach dem Einrücken der Wehrmacht lag die Stadt auf absehbare Zeit fernab der Frontlinie. Dass die Deutschen keine der diversen lettischen Übergangsregierungen anerkannten, die sich während des Abzugs der Sowjetarmee in aller Eile formiert hatten, um den Anspruch auf Eigenstaatlichkeit aufrechtzuerhalten, durfte niemanden überraschen. Viele in Riga begaben sich in jenen Wochen jedoch wieder auf genau die Positionen, die sie unter Ulmanis innegehabt hatten, und warteten auf so etwas wie eine Restauration des im Sommer 1940 beseitigten Systems. Je deutlicher sich zeigte, dass von deutscher Seite nichts dergleichen beabsichtigt war, desto mehr schlug die Ernüchterung hierüber in Bereitschaft zum Widerstand auch gegenüber den Deutschen um. Antideutsche Flugblätter beispielsweise kursierten in Riga bereits im Oktober 1941. Die anfängliche Hoffnung, mit Erlaubnis der Besatzer im November wenigstens Feiern zum lettischen Unabhängigkeitstag abhalten zu können, zerschlug sich ebenfalls. Verübelt wurde den Deutschen darüber hinaus die Hinhaltetaktik, die sie während der nächsten Monate und Jahre auf etwaige Reprivatisierungsfragen anwandten. Hieraus erwuchs schon deswegen Unmut, weil es ihnen persönlich an Gespür für gute Wohnlagen nicht zu mangeln schien und so manches Haus eines im Juni 1941 Deportierten allzu rasch deutsche Bewohner fand. Am 1. September 1941 wurde die Stadt unter Zivilverwaltung gestellt und zum Verwaltungssitz des »Reichskommissariats Ostland« gemacht, das zuvor vorübergehend von Kaunas aus verwaltet worden war. An der Spitze des Reichskommissariats, das aus Lettland und Estland in ihren Vorkriegsgrenzen sowie großen Teilen der heutigen Staatsgebiete Litauens und Weißrusslands zusammengefügt wurde, stand Hinrich Lohse (* 1896, † 1964), der vormalige Gauleiter von Schleswig-Holstein. Kommissarischer Oberbürgermeister und »Gebietskommissar« für das Gebiet »Riga-Stadt« wurde der auf Ösel (estn. Saaremaa) geborene, in Riga 1930 zum Vorsitzenden des Gewerbevereins gewählte und 1936 nach Königsberg abgewanderte Hugo Wittrock (* 1873, † 1958), der aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Rigaer Studentenverbindung »Rubonia« mit Alfred Rosenberg bekannt war. Für praktisch keine andere baltische Stadt gab es zu dieser Zeit eine ähnlich stark aus Deutschen rekrutierte Verwaltungsspitze, was einiges darüber besagt, wie entschlossen Rosenberg auf eine Eindeutschung insbesondere Rigas hinarbeitete. Entsprechend zügig lagen auch Pläne zu weiteren Veränderungen Die Weltkriegsjahre 

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der Altstadt vor, die über eine Neugestaltung der 1941 beschädigten Teilbereiche deutlich hinausgingen. Im April 1942 veröffentlichte Wittrock einen Erlass zur Umbenennung Dutzender Straßen, Plätze und Parks, durch den sich, nachdem es schon im August 1941 zur Festsetzung etlicher neuer Namen gekommen war, selbst hiervon manche nochmals änderten. Der einstige Kaisergarten und spätere Viesturdārzs beispielsweise wurde 1942 zum »Hindenburg-Park«, während bei den Straßen, soweit hier Namengebungen nach Personen erfolgten, nicht nur Bismarck, Moltke oder diverse NS-Größen bemüht, sondern auch spezifisch deutschbaltische Bezüge hergestellt wurden: So hieß etwa die Elizabetes iela (Elisabethstraße) nunmehr »Wolter-von-Plettenberg-Ring«. Viele Letten bedrückte diese sonderbare Namenmischung, da aus ihr herausklang, dass an eine Wiederauferstehung des Staates der Jahre 1918–1940 respektive an eine Staatsbildung von deutschen Gnaden, wie es sie 1939 im Falle der Slowakei gegeben hatte, nicht zu denken war. Zu derselben Einsicht zwang auch der Umgang der Besatzer mit der örtlichen Universität: Für diese waren die Jahre unter deutscher Okkupation der einzige Zeitraum ihrer Geschichte, in dem sie offiziell »Universität Riga« hieß. Zwei Fakultäten blieben bis 1943 zunächst geschlossen, da die Deutschen gewährleistet sehen wollten, dass die Lehrinhalte im und um das Fach Geschichte mit ihren Vorstellungen übereinstimmten. Eine sinnlose Tat und ihre fragwürdige Glorifizierung Lettischen Nationalstolz machten die Besatzer sich zunutze, wann immer sie sich hiervon eine eindeutige Parteinahme der Letten zugunsten der Deutschen und gegen die Sowjets versprechen konnten. 1943 wurden diese Emotionen besonders gezielt durch einen an die Arbeiterschaft Rigas gerichteten Aufruf mobilisiert, am 13.  November vor dem Dom gegen die Ergebnisse eines sowjetisch-britischamerikanischen Außenministertreffens zu protestieren, das am 19. Oktober in Moskau begonnen hatte. Über das Radio wurde in diesem Zusammenhang die Falschmeldung verbreitet, den Sowjets sei vonseiten der übrigen Alliierten bei jenem Moskauer Treffen bereits die volle Verfügungsgewalt über die baltischen Länder eingeräumt worden – eine Behauptung, die mit dem tatsächlichen Inhalt der Abschlussdokumente wenig zu tun hatte. Die Kundgebung selbst, zu der so viele Menschen zusammenströmten, dass sogar bis in einige Nachbarstraßen rings um den Platz dichtes Gedränge herrschte, wurde von noch einem weiteren falschen Gerücht begleitet; denn nach Meinung mancher Letten stand zu erwarten, dass das Deutsche Reich ihrem Land am 18. November, dem 25. Jahrestag der lettischen Unabhängigkeit, Autonomie gewähren und genau dies an jenem 13. November verkünden lassen würde. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sangen die versammel-

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ten Massen, nachdem schon den ganzen Tag lettische Flaggen den Platz umrahmt hatten, gegen Ende der Veranstaltung mit Inbrunst Lettlands Nationalhymne. Kaum einer der Anwesenden wusste zu diesem Zeitpunkt, dass einige Stunden zuvor durch eine Explosion nahe dem Haus Nr. 20 der angrenzenden Šķūņu iela (Scheunenstraße) drei Menschen – ein für die Stadtverwaltung tätiger Architekt, ein Arbeiter sowie ein Zehnjähriger – ums Leben gekommen waren. Da sich für die deutschen Besatzer der Verdacht aufdrängte, dass Angehörige des kommunistischen Untergrunds den Sprengkörper deponiert hatten, wurde der Anschlag ab dem Abend jedoch nicht mehr vor der Bevölkerung geheim gehalten. Für die drei Toten fand drei Tage später ein von Erzbischof Teodors Grīnbergs (*  1870, †  1962, 1932–1944 evangelisch-lutherischer Erzbischof ) zelebrierter gemeinsamer Trauergottesdienst im Dom statt. Tausende von Rigensern geleiteten die Särge danach zum Waldfriedhof. Nach und nach stellte sich unterdessen heraus, dass theoretisch auch die Zahl der Toten und Verletzten hätte drei- bis vierstellig ausfallen können; denn aufgrund einer Fehlfunktion des Zeitzünders war der Sprengsatz zweieinhalb Stunden früher detoniert als von den Attentätern geplant. Abgelegt hatte ihn, wie die Ermittlungen ergaben, ein von dem kommunistischen Aktivisten Imants Sudmalis (* 1916, † 1944) instruierter Gymnasiast, der im Februar 1944 schließlich ebenso wie Sudmalis selbst aufgespürt werden konnte. Im April wurden beide zum Tode verurteilt. Anlass, Sudmalis heute noch zu erwähnen, besteht vor allem aufgrund seiner posthumen Heroisierung während der Sowjetzeit. Dass das Andenken eines Partisanen in höchsten Ehren gehalten wurde, der nicht nur für die Rückkehr Lettlands unter das Dach der Sowjetunion gekämpft, sondern im November 1943 eben auch das Leben unzähliger Landsleute aufs Spiel gesetzt hatte, lief dem Empfinden der meisten Letten während der folgenden Jahrzehnte grob zuwider. Die Diskrepanz zwischen der weit verbreiteten Ablehnung der Taten Sudmalis’ und dem Umstand, dass nach ihm vielerorts in der Lettischen SSR Straßen, Schulen und Kolchosen benannt wurden, sollte sich in der Zeit der »Singenden Revolution« Ende der 1980er Jahre schließlich noch dadurch verschärfen, dass die prosowjetischen Opponenten der damaligen Freiheitsbewegung Sudmalis-Denkmäler mitunter als Treffpunkte wählten. Riga besaß seinerzeit unter anderem eine Bronzebüste des umstrittenen Sowjethelden, die sich unweit des Schlosses befand, sowie eine nach ihm benannte Straße. Dass es sich bei Letzterer um die vormalige Große Sünderstraße (lett. Grēcinieku iela) handelte, lässt sich wohl als Ironie der Geschichte verbuchen, auch wenn der Name dieser Straße ursprünglich von einem Geschlecht mit dem Nachbzw. Herkunftsnamen »Sundern« herrührte und erst Jahrhunderte später so umgedeutet wurde, dass er sich zu »Sünderstraße« verfestigen konnte.

Als am 25. Mai 1944 das Todesurteil gegen Sudmalis vollstreckt wurde, waren im Nordosten des Baltikums bereits seit fast vier Monaten die Kämpfe um Narva im Gange. Von den baltischen Hauptstädten konnte die Rote Armee zunächst im Juli Vilnius zurückerobern, gefolgt von Tallinn im September Die Weltkriegsjahre 

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und schließlich Riga am 13. Oktober. Tausende von Letten, die es für pures Zufallsglück hielten, dass nicht auch sie bereits Opfer der Deportation vom 14. Juni 1941 geworden waren, nutzten bis in die Tage unmittelbar vor diesem 13. Oktober letzte Gelegenheiten, mit Schiffen aus dem Rigaer Hafen noch Zielorte wie beispielsweise Danzig anzusteuern. Es dauerte danach in der Tat nicht lange, bis aus Riga und anderen baltischen Städten erneut Menschen verschleppt wurden, wenn auch weniger planmäßig als 1941 und unter dem Deckmantel der Anschuldigung, diejenigen hätten zuvor mit den deutschen Besatzern kollaboriert. Dies traf in einigen Fällen zu, in vielen aber auch nicht. Ebenfalls verschleppt wurden nun deutsche Rigenser, die sich weder der Umsiedlung von Ende 1939 angeschlossen noch spätere Möglichkeiten, außer Landes zu gelangen, genutzt hatten. – Der allzu selbstverständliche Fortgang dieser Art von Staatsterror Ende 1944 und über den Mai des Jahres 1945 hinaus bis hin zu einer nochmaligen Deportationswelle im März 1949 macht den 9. Mai, den Jahrestag des Kriegsendes nach sowjetischer Tradition, bis heute zu einem Feiertag, der nach lettischem Empfinden keiner sein kann. Das nach wie vor bestehende Bedürfnis vieler Rigaer Russen, diesen Tag sichtbar zu würdigen, trägt deshalb, je nachdem, welche Örtlichkeiten sie dafür wählen, für ihre lettischen Mitbürger weiterhin ein gewisses Provokationspotenzial in sich. Die Verbrechen an Juden in und um Riga

Als Ende Juni 1941 in Erwartung des deutschen Vormarsches die Rote Armee aus Riga abzog, erkannte der ehemalige lettische Polizist und glühende Antikommunist Viktors Arājs (* 1910, † 1988) dieses kurzzeitige Machtvakuum als Gelegenheit, Waffenlager zu plündern und mit Gesinnungsgenossen einzelne strategisch interessante Gebäude, darunter die Polizeipräfektur, zu besetzen. Noch während er um weitere national gesinnte Mitstreiter werben ließ und sich auf diese Weise ein Kommando von zunächst schätzungsweise 100 Mann formierte, machte Arājs die Bekanntschaft von SS-Brigadeführer Walter Stahlecker (* 1900, † 1942), für den im Zuge der Einnahme Rigas die rasche Durchsuchung wichtiger Einrichtungen wie der Präfektur Dienstpflicht war. Stahlecker, der die im Gefolge der Heeresgruppe Nord ins Baltikum vorgerückte Einsatzgruppe A leitete, entdeckte in Arājs sogleich einen brauchbaren Erfüllungsgehilfen: Zum einen versprach er sich von ihm Hinweise auf Juden; zum anderen konnte dessen nationalistisch eingestellter Trupp dabei helfen, vermeintlich spontane Pogrome zu inszenieren, über deren tatsächliche Urheberschaft nicht einmal das Reichssicherheitshauptamt 202  Riga (1918–1945)

unmittelbar unterrichtet wurde. Arājs’ Sonderkommando bezog schon bald einen eigenen Stützpunkt, eingerichtet in einem Eckhaus gegenüber der heutigen Nationalgalerie, das bis 1940 einem jüdischen Bankier gehört hatte. Dieses Sonderkommando war es dann auch, das für die Niederbrennung nahezu sämtlicher Rigaer Synagogen sorgte, indem es nach einem jeweils kurzen Verwüstungsexzess allerlei brennbares Inventar aufhäufte, mit Benzin übergoss und anzündete. In der prächtigen Choralsynagoge der Mitnagdim sollen am 4. Juli 1941 rund 300 Menschen eingesperrt gewesen sein, als sie in Brand gesteckt wurde; in der Synagoge an der Stabu iela (Säulenstraße), die ebenfalls an diesem Tag in Flammen aufging, waren es nach Augenzeugenberichten um die 30. Unter allen Rigaer Straßen, an denen eine Synagoge stand, wurde nur die Peitavas iela (Große Peitaustraße) nicht Schauplatz eines derartigen Infernos; denn ihrer engen Bebauung wegen wäre ein Feuer hier wohl automatisch auf Nachbarhäuser übergesprungen. Im Falle der Peitau-Synagoge begnügten die Besatzer sich daher im weiteren Verlauf mit einer Zweckentfremdung als Pferdestall. Dass Stahlecker in einem Bericht von Mitte Oktober 1941 die Zahl der in Riga seit dem Eintreffen der Einsatzgruppe A getöteten Juden bereits auf 6378 veranschlagte, war unterdessen nicht in erster Linie ein Ergebnis der inszenierten Pogrome, sondern hing hauptsächlich damit zusammen, dass bereits im Sommer systematische Erschießungen von Juden, die zuletzt Gefängnis-Insassen gewesen waren, stattfanden. Tatort war dabei der Wald von Biķernieki (Bickern) – der während der deutschen Besatzung am stärksten für derartige Tötungsaktionen missbrauchte Teil des heutigen Rigaer Stadtgebiets. Die übrige jüdische Bevölkerung wurde derweil etwa durch ein Verbot, sich mit einzureihen, wenn sich vor Läden Warteschlangen bildeten, schikaniert und bis Ende Juli nach und nach sämtlicher Geschäfte, die sie selbst betrieben hatte, beraubt. Ihr Übersiedeln in das Ghetto-Gebiet in der Moskauer Vorstadt, das ihr zugewiesen wurde, konzentrierte sich auf die zweite August-Hälfte. Ein Erlass über die »Arbeitspflicht für Juden« vom 18. August 1941 erlegte arbeitsfähigen jüdischen Männern und Frauen die »Erledigung öffentlicher und privater Arbeiten« auf. Am Rande des Ghettos, an der Lāčplēša iela, die während des Krieges in »Carl-Schirren-Straße« umbenannt wurde, begann derweil eine »Abteilung Judeneinsatz« des Arbeitsamtes mit der Entgegennahme von Anträgen auf jüdische Zwangsarbeiter und bereitete Entscheidungen darüber vor, wem diese in welcher Anzahl zugewiesen wurden. Schräg gegenüber wurde das »jüdische Komitee« tätig, das alle sonstigen Verwaltungsabläufe, die das Ghetto betrafen, koordinieren sollte. Unter Die Weltkriegsjahre 

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Beim Blick auf die Dachlandschaft der südlichen Teile der Altstadt wird erklärlich, warum die Peitau-Synagoge, deren Dach unten rechts zu sehen ist, im Juli 1941 der Niederbrennung entging. Zu dem Zeitpunkt, zu dem hierüber entschieden wurde, hatte die im Hintergrund zu sehende Petrikirche bereits ihren Turmhelm eingebüßt.

großen Anstrengungen baute es in den folgenden Wochen die dazu nötigen Strukturen auf. Als Ghetto wurde ein bis dahin nur zu knapp einem Sechstel von Juden bewohnter Bereich mit starker west-östlicher und nur geringer nord-südlicher Ausdehnung abgesteckt: Im Norden bildete hauptsächlich die Kalna iela (Große Bergstraße) seine Grenze, westlich der orthodoxen Friedhöfe dann allerdings die noch etwas nördlicher verlaufende Jēkabpils iela (Jakobstädtsche Straße), während zur südlichen Grenze im Wesentlichen die heutige Maskavas iela (Moskauer Straße) erklärt wurde. Aufgrund des immensen Bedarfs an Arbeitskräften waren Menschen, die ihr gelber Stern als Juden kennzeichnete, einstweilen aber auch außerhalb dieses Areals noch tagtäglich präsent. Da sie für Arbeitseinsätze aller Art unverzichtbar erschienen, herrschte bei der Zivilverwaltung unter Hinrich Lohse einiges Unverständnis vor, als im November durchdrang, seitens des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, sei eine baldige Liquidierung des Rigaer Ghettos gewünscht. Diese sollte erfolgen, weil Deportationszüge aus dem Reich angekündigt waren; und als ihr Vollstrecker wurde der zuvor in ukrainischem Gebiet durch besonderen Tötungseifer aufgefallene Friedrich Jeckeln (* 1895, † 1946) nach Riga versetzt. Bis dato SS-Obergruppenführer, stieg er hier zum »Höheren SS- und Polizeiführer Ostland« auf. 204  Riga (1918–1945)

Für die etwa 28000 Erschießungen, auf die er sich einrichtete, hatte Jeckeln zum einen den Kreis seiner Mittäter zu bestimmen, in den er auch lettische Hilfspolizisten einbezog; zum anderen musste er einen Ort finden, an dem das Verbrechen möglichst kein Aufsehen erregen würde. Auf den Wald von Rumbula fiel die Wahl schließlich wohl deshalb, weil diese südliche Randzone Rigas von der Moskauer Vorstadt aus erreichbar war, ohne dass irgendwelche zentraleren Teile der Stadt durchquert werden mussten. Im Ghetto selbst deutete sich eine Veränderung größeren Ausmaßes – vorgeblich eine Verlegung der meisten Bewohner in ein anderes Ghetto oder Lager – ab dem 27. November an. Entlang der Daugavpils iela (Dünaburger Straße) wurde mit Stacheldraht eine Zweiteilung des Ghettos vorgenommen und der vorerst noch nicht zu räumende östliche Teil zum »kleinen Ghetto« erklärt, während in den Westteil die Insassen der aus dem Reich anrollenden Züge nachrücken sollten. Die Ausführung des Massenmordes begann am 30. November mit rund 14000 Erschießungen. Bereits der Fußmarsch nach Rumbula brachte etwa 300 Beteiligten den Tod – manchen, weil sie vor Entkräftung starben, anderen, weil sie geschwächt zu Boden fielen und daraufhin an Ort und Stelle erschossen wurden. Einen an jenem Tag angekommenen Zug aus Berlin ließ Jeckeln bis zur Bahnstation Rumbula weiterfahren und dehnte seine Tötungsaktion gleich auch auf die 1053 Juden aus diesem Transport aus. Hiermit überschritt er seine Kompetenzen allerdings und musste sich, von Himmler wie auch aus dem örtlichen SS-Apparat, Befehlsmissachtung vorwerfen lassen. Die zweite Phase der Ghetto-Liquidierung ging am 8. Dezember vonstatten, wobei die Betroffenen diesmal weitaus klarer ahnten, was ihnen bevorstand, und viele sich der Aufforderung, Marschkolonnen zu bilden, folgerichtig widersetzten. Anders als am 30. November wurden am 8. Dezember deshalb mindestens 1000 Menschen schon im Ghetto-Gebiet umgebracht, darunter nicht wenige von Mitgliedern des gezielt mit eingesetzten Arājs-Kommandos. Zur Neubelegung eines Teils des Ghettos kam es bereits, als am 10. Dezember ein Deportationszug aus Köln eintraf, dessen Insassen nirgendwo sonst untergebracht werden konnten. Die Ankunft von vier Transporten während der Tage davor führte unterdessen zur eilig improvisierten Schaffung des Konzentrationslagers Jungfernhof (lett. Jumpravmuiža), für das auf einen an der Düna westlich von Rumbula gelegenen Gutshof zurückgegriffen wurde, der ursprünglich zu einem Landwirtschaftsbetrieb unter SS-Aufsicht hatte gemacht werden sollen. Die Entscheidung, für das plötzlich benötigte Lager gerade diesen Hof zu nutzen, begründete sich einerseits mit der Nähe zur Bahnstation Šķirotava sowie andererseits mit einer gewissen Nähe zu dem Die Weltkriegsjahre 

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Waldgelände, auf dem seinerzeit bereits das Lager Kurtenhof (lett. Salaspils), gedacht als »erweitertes Polizeigefängnis« und »Arbeitserziehungslager«, im Entstehen war. Für den Weiterbau dieses Lagers wurden in der Folgezeit bei oftmals eisigen Temperaturen Juden aus Jungfernhof wie auch aus dem Ghetto herangezogen. Letten, die von den bis Ende 1941 begangenen Verbrechen lediglich gehört hatten, sollen nach der Räumung des Ghettos auf eine Verbesserung der Wohnraum-Situation in ihrer Stadt gehofft haben – oder, sofern sie zu den im August aus dem nachmaligen Ghetto-Gebiet ausgesiedelten 10000 Christen gehörten, auf eine baldige Rückkehr-Möglichkeit. Stattdessen ging jedoch die Meldung nach Berlin, Riga sei nunmehr aufnahmebereit für die »aus dem Reich kommenden Judentransporte«. Hiermit begann wenige Wochen vor der Wannsee-Konferenz die zweite, deutlich längere Phase in der Geschichte des Rigaer Ghettos, die sich indes kürzer als die erste zusammenfassen lässt, zumal es von nun an eben kaum noch die Geschichte langjähriger Einwohner Rigas war, die hier ihren Schauplatz hatte. Vielmehr vegetierten in dem Ghetto fortan Menschen aus West- und Mitteleuropa, für die nur zufällig gerade Riga zum Deportationsziel geworden war. Den tiefsten Einschnitt in dieser zweiten Phase der Ghetto-Geschichte markiert die »Aktion Dünamünde« vom 15. März 1942 – eine perfide inszenierte Selektionsmaßnahme, bei der Ghetto-Bewohnern, deren Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war, vorgegaukelt wurde, sie würden fortan zu weniger kräftezehrenden Tätigkeiten als bisher eingesetzt: Angeblich sollten sie in den Stadtteil Dünamünde (lett. Daugavgrīva) verlegt werden und dort unter anderem in einer Fischfabrik arbeiten. In Wirklichkeit endete die Fahrt im Wald von Biķernieki, wo es an diesem Tag zu knapp 1900 Tötungen kam. Am 26. März wurde die »Aktion Dünamünde« noch auf das Lager Jungfernhof ausgeweitet, weil sich auch dort, ähnlich wie vor dem 15. März im Ghetto, eine deutliche Überfüllung abzeichnete. Abermals betrug die Zahl der Ermordeten bei Tagesende mindestens 1800. Die allmähliche Auflösung des Ghettos nahm ihren Anfang, als im Juli 1943 erstmals einige Hundert Juden in dem seit März angelegten Konzentrationslager Kaiserwald im Nordosten der Stadt Unterbringung fanden. In den Folgemonaten vollzogen sich dann nicht nur innerhalb Rigas Verlegungen in dieses Konzentrationslager; vielmehr wurden im September zum Beispiel vormalige Bewohner des aufgelösten Ghettos von Vilnius dorthin verfrachtet. Das Rigaer Ghetto verkleinerte sich unterdessen weiter, während die Arbeitseinsätze der Juden immer straffer organisiert wurden: Zum Konzentrationslager Kaiserwald gehörte deshalb bald eine Reihe von 206  Riga (1918–1945)

»Außenstellen« inner- wie auch außerhalb Rigas, an denen die Versklavten streng kaserniert lebten. Neben der Verwendung in kriegswichtigen Industrien konnte ab Anfang 1944 auf weiterhin arbeitsfähige Juden aber noch eine andere, stets mit dem eigenen Tod endende Aufgabe zukommen – nämlich den Deutschen beim Kaschieren ihrer Verbrechen zu helfen: Im Wald von Biķernieki etwa fanden nun so genannte »Enterdungen« statt, damit von den seit 1941 entstandenen Massengräbern möglichst wenig übrig blieb. Für die meisten derjenigen, die im September 1944 die Evakuierung der Lager um Riga noch erlebten, folgte eine Internierung im nahe Danzig gelegenen Konzentrationslager Stutthof, das für viele zur letzten Leidensstation wurde. Riga verlor durch den Holocaust rund 92 Prozent seiner jüdischen Bewohner. Dass dieser Prozentsatz nicht noch höher ausfällt, erklärt sich unter anderem damit, dass im Zuge der sowjetischen Deportation vom 14. Juni 1941 auch zahlreiche Juden nach Sibirien verschleppt worden waren. Ihr Anteil an den damals aus Riga Deportierten lässt sich auf rund zwölf Prozent beziffern, womit er in etwa dem Anteil von Juden an der Stadtbevölkerung der 1930er Jahre entsprach, der zuletzt bei elf Prozent gelegen hatte. Zwar überlebten auch von den Deportationsopfern viele Tausend nicht bis Mitte der 1950er Jahre, als die Rückkehr aus den sibirischen Lagern möglich wurde; doch selbst unter den dort angetroffenen Bedingungen war die Überlebenswahrscheinlichkeit für einen Rigaer Juden ab 1941 eben deutlich höher als in der Stadt selbst. Dass es trotz allem auch hier einzelne Holocaust-Überlebende gab, verdankt sich Letten wie Jānis Lipke (* 1900, † 1987), der seine Anstellung im Rigaer Hafen vorübergehend zugunsten einer Tätigkeit für die deutsche Luftwaffe aufgab, um Juden gezielt zur Flucht verhelfen zu können. Acht Personen, denen eine Flucht aus dem Ghetto gelungen war, hielt er sogar in seinem eigenen Haus in einer Art Keller-Bunker versteckt. Inwieweit der Judenhass, der unterdessen in anderen Teilen der lettischen Bevölkerung zum Vorschein kam, damit zusammenhing, dass um die Jahreswende 1940/41 der Anteil von Juden beispielsweise im Rigaer Zentralkomitee der Lettischen Kommunistischen Partei (LKP) prozentual doppelt so hoch gewesen war wie der jüdische Anteil an der Stadtbevölkerung als Ganzer, ist bis heute schwer zu beantworten. Nur zeigt sich immer deutlicher, dass Deutschland sich schon lange vor seinem Einmarsch ins Baltikum potenzielle Kollaborateure gesichert hatte. Auf manche der Personen, die für diesen Zweck in Frage kamen, hatte es zuvor zum Beispiel bereits bei Spionage-Aktionen zurückgegriffen. Die Weltkriegsjahre 

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Geht es um die Frage, in welchem Maße dieser oder jener der Täter von Riga sich nach Kriegsende für seine Verbrechen verantworten musste, so lässt sich zu Jeckeln sagen, dass er von einem sowjetischen Gericht abgeurteilt und in Riga hingerichtet wurde. Arājs konnte in den 1970er Jahren in Hamburg der Prozess gemacht werden. Den manchmal als Arājs’ rechte Hand bezeichneten Herberts Cukurs (* 1900, † 1965), dem der Aufbau einer neuen Existenz in Brasilien geglückt war, hatte zuvor der Mossad exekutiert. Stahlecker zog sich 1942 in einem Gefecht Streifschuss-Verletzungen zu, denen er, während er ausgeflogen wurde, infolge einer Infektion erlag. Ein interessanteres Beispiel gibt der im Frühjahr 1943 zum GhettoKommandanten und später zum Kommandanten des Konzentrationslagers Kaiserwald erhobene Eduard Roschmann (* 1908, † 1977) ab: Roschmann setzte sich 1948 über Südtirol und Genua nach Buenos Aires ab, nachdem er zunächst aus Italiens größtem Lager für Angehörige von SS und Wehrmacht in Rimini hatte entkommen können und ihm selbst nach einer neuerlichen Verhaftung in seiner Geburtsstadt Graz 1947 ein abermaliger Fluchtversuch geglückt war. In Bedrängnis geriet der berüchtigte »Schlächter von Riga« erst drei Jahrzehnte später, als Frederick Forsyths (* 1938) Roman »Die Akte Odessa« und der gleichnamige Film weltweit Beachtung fanden; denn an der Hauptfigur ließen sich biographische Züge Roschmanns erkennen, womit Forsyth einer Bitte des Nazijägers Simon Wiesenthal (* 1908, † 2005) entsprochen hatte. Wiesenthals Kalkül, dass der Gesuchte nunmehr entweder verraten werden oder sich durch eigene Nervosität verdächtig machen würde, ging auf und führte 1977 zu dessen Festnahme in Argentinien. Auf sie folgte eine letzte erfolgreiche Flucht – diesmal nach Paraguay, wo Roschmann wenige Wochen danach an Herzversagen starb.

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1  Das 1935 eingeweihte Freiheitsdenkmal.

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2  Blick von Nordwesten in Richtung Johanniskirche. Der Straßenverlauf entspricht der Längsachse der Stadtanlage von 1201.

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3  Blick aus dem Konventhof in Richtung Petrikirche sowie rechts auf die eng umbaute Apsis der Georgskirche.

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4  Blick durch die Klosterstraße auf Rigas ältestes erhaltenes Wohnhaus. Heute ist darin das Architekturmuseum untergebracht.

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5  Das im späten 17. Jahrhundert errichtete Dannensternhaus. An seinem Giebel lässt sich die Einteilung des Dachstuhls in Speichergeschosse erkennen.

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6  Jugendstilgebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert an der Albertstraße.

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7  Jugendstilgebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert an der Albertstraße.

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8  Kontraste im Herzen Rigas: Das Schützendenkmal, dahinter das ehemalige Schützenund jetzige Okkupationsmuseum – inzwischen überragt vom Dach des rekonstruierten Schwarzhäupterhauses. Im Hintergrund die Turmhaube der Petrikirche.

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9  Blick vom Rathausplatz mit dem rekonstruierten Schwarzhäupterhaus in Richtung Petrikirche.

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10  Rigas Altstadt von Nordosten im Jahre 1993. Rechts unten die seinerzeit restaurierten Kuppeln der orthodoxen Kathedrale.

11  Das Ufer der Düna mit dem Schloss. Rechts die Türme des Doms, der Anglikanischen Kirche und der Petrikirche.

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12  Petrikirche und Johanniskirche von Südosten. Im Hintergrund der Turm der Jakobikirche und das Hochhaus des Landwirtschaftsministeriums.

13  Die neogotischen Gebäude der Kleinen und der Großen Gilde.

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14  Die Nordseite des Domplatzes. Rechts das Radio- und links das Börsengebäude.

15  Das Herder-Denkmal. Im Hintergrund das Westportal des Doms.

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16  Blick auf den Hauptbahnhof sowie im Hintergrund auf das Gebäude der Akademie der Wissenschaften.

17  Die zu einem Mahnmal gestalteten Reste der 1941 in Brand gesetzten Choralsynagoge in der Moskauer Vorstadt.

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18  Jugendstil- und dazwischen Holzbebauung – ein typischer Anblick in den um 1900 ausgebauten Teilen Rigas.

19  Blick von der östlichen Ecke der Esplanade nach Nordosten.

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20  Im 17. Jahrhundert im damaligen Libau entstandener Speicherbau, der sich heute im Ethnographischen Freilichtmuseum am Rande Rigas befindet.

21  Blick vom Turm der Petrikirche nach Norden. Durch ihre grünen Dächer fallen das an den Pulverturm angebaute Kriegsmuseum sowie links das Finanzministerium (beide in den 1930er Jahren errichtet) auf.

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22  Treppenhaus eines Jugendstilbaus an der Ecke zur Albertstraße.

23  Blick von Westen auf das Gebäude der Großen Gilde.

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V. VON DER NACHKRIEGSZEIT UNTER SOWJETISCHER HERRSCHAFT (1945–1991) BIS ZUR GEGENWART   IN EINEM WIEDER UNABHÄNGIGEN STAAT 1. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR Die Anfänge der äußerlichen Sowjetisierung Rigas und die   Ausweitung der Stadtgrenzen

Zu den frühesten und, wenn man so will, konsequentesten Provokationen, zu denen es die Sowjetführung bei der Neuverteilung markanter Rigaer Gebäude ab 1944/45 kommen ließ, gehörte die Umwandlung des Hauses des »Rigaer Letten Vereins« in ein Offiziersdomizil der Roten Armee. 1946 nutzten die Behörden einen der darin befindlichen Säle zudem für Prozesse gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher. Bis Riga sich allerdings auch in größerem Maßstab durch die Art, wie hier Straßen, Plätze und Einrichtungen benannt waren, konsequent als Hauptstadt einer Sowjetrepublik zu erkennen gab, vergingen nach 1945 etliche Jahre. Manche Namen-Änderung oder -Ergänzung erfolgte um einiges später, als aus heutiger Sicht vermutet werden könnte; der Universität beispielsweise wurde erst 1958 ein Namenspatron zuteil: Nach dem sowjetlettischen Regierungschef der ersten Hälfte des Jahres 1919, der nach sowjetischer Geschichtsschreibung zugleich ihr Gründer war, hieß sie von da an »Staatliche Pēteris-Stučka-Universität« (lett. »Valsts Pētera Stučkas universitāte«). Wichtiger als eine ausgefeilte Neubenennungsstrategie erschienen zunächst grundsätzliche Entscheidungen darüber, welche staatliche Einrichtung in welchem Gebäude untergebracht werden konnte. Bei der Frage, wo der Oberste Sowjet der Lettischen SSR tagen und dessen Präsidium angesiedelt werden könnte, lag es nahe, sich des ehemaligen Ritterschaftshauses zu bedienen. Als Mittel, um dessen vorherige Nutzung als Parlament eines unabhängigen Staates Lettland symbolisch zu übertünchen, reichte es den Verantwortlichen offenbar, die Skulptur des mythischen Helden Lāčplēsis, die seit 1922 in einer Fassadennische gestanden hatte, zu entfernen. Die Nische blieb danach für mehr als ein halbes Jahrhundert leer; erst seit 2007 befindet sich in ihr eine Kopie der Lāčplēsis-Figur von 1922. Schon diese hatte symbolische Distanz gegenüber einer vorangegangenen Tradition geschaffen – sie war nämlich als Ersatz für eine Ordensmeister Wolter von Plettenberg darstellende Skulptur an diesen Platz gerückt. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Ein möglicher Bedarf, sämtliche schon einmal von Staatsorganen genutzten Gebäude in einer politisch-administrativen Funktion zu belassen, oder gar Notwendigkeiten, für den Regierungsapparat der Republik sogleich Neubauprojekte auf den Weg zu bringen, erübrigten sich nach 1945 dadurch, dass aufgrund der Verstaatlichung von Banken und Versicherungen zunächst auf deren Gebäude zugegriffen werden konnte. Meist waren dabei nicht einmal größere Umbauten erforderlich. Beinahe entbehrlich wurde auf diese Weise das Schloss: Zum ersten Mal in seiner langen Geschichte fungierte das markante Bauwerk über mehrere Jahrzehnte hinweg nicht mehr als Sitz eines hohen Repräsentanten der Staatsgewalt. In Stadtporträts aus der Sowjetzeit firmierte es stattdessen als »Pionierpalast« – auch wenn Einrichtungen zur Nachwuchsschulung de facto nur in einem Teil des Gebäudes untergebracht waren. Seiner Symbolwertigkeit in Bezug auf den vorangegangenen, 1940 annektierten Staat beraubten es die Sowjets vor allem dadurch, dass sie 1949 von dem zehn Jahre zuvor fertig gestellten Drei-Sterne-Turm (lett. Triju Zvaigžņu tornis) an der Nordseite des Gebäudes die ihn krönende Turmlaterne mit jenem Schmuckelement, von dem sich der Name dieses Turms ableitet, entfernten. Erst seit 1997 trägt der Turm wieder die Art von Laterne, die sein Architekt Eižens Laube (* 1880, † 1967) für ihn entworfen hatte. Die Beseitigung der drei Sterne vom höchsten Turm des Schlosses erleichterte es dem Regime, sie dafür am Freiheitsdenkmal zu tolerieren, wo sie von dem einen oder anderen unbedarften Nichtletten später denn auch tatsächlich nicht mehr mit einem unabhängigen Lettland in Verbindung gebracht, sondern zusammen mit der Frauengestalt, die sie in die Höhe hebt, so interpretiert worden sein sollen, als handelte es sich um die Versinnbildlichung einer Mutter Russland, die die drei baltischen Republiken schützend in ihren Händen hält. Selbst »Intourist«-Reiseleiter, die ausländische Gäste durch die Stadt zu führen hatten, waren angehalten, sich bei Fragen nach der Bedeutung der Sterne vorzugsweise mit dieser Erklärung zu behelfen, anstatt irgendetwas über den wahren Bedeutungsgehalt des Sterne-Motivs zu verraten. Zum Ministerratsgebäude wurde einer der aufwändigsten Neubauten der Ära Ulmanis bestimmt, der allerdings, da man in den 1930er Jahren beschlossen hatte, ihn in zwei Bauabschnitten zu verwirklichen, erst zur Hälfte vollendet war. Ob und wie der zweite Bauabschnitt des ursprünglich als Justizpalast konzipierten Gebäudes zwischen Tērbatas iela (Dorpater Straße, zu sowjetischer Zeit Pētera Stučkas iela) und heutigem Brīvības bulvāris (Freiheitsboulevard) zur Ausführung gelangen sollte, hatten damit die neuen Machthaber zu entscheiden. Diesen bereitete die weitgehende Beibehaltung 226  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

der Originalplanung aus der Vorkriegszeit augenscheinlich kein Unbehagen, was sich damit erklären lässt, dass der 1941 nach Deutschland abgewanderte Deutsch-Lette Friedrich Skujin (Fridrihs Skujiņš, * 1890, † 1957), der jene Originalentwürfe erarbeitet hatte, inzwischen in Ost-Berlin zu einem der Hauptverantwortlichen für die Gestaltung des neuen Botschaftsgebäudes der UdSSR geworden war. Rigas Freilichtmuseum – ein kaum wandelbarer Ort? Ähnlich deutlich wie beim einstigen Justizpalast lässt sich Kontinuität zwischen dem, was noch im unabhängigen Lettland geplant wurde, und dem, was nach dem Zweiten Weltkrieg Verwirklichung fand, nur an wenigen anderen Örtlichkeiten der Stadt beobachten. Erwähnt sei daher, dass zu diesen Örtlichkeiten auch Lettlands ethnographisches Freilichtmuseum am Jägelsee (lett. Juglas ezers) gehört. Erste Überlegungen, ein solches Museum zu initiieren, wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg angestellt, seinerzeit allerdings eher von volkskundlich interessierten Deutschen als von Letten, woraufhin bereits 1901 die Stadtverwaltung Grund und Boden verfügbar machte und um 1912 deutsche Architekten erste Gestaltungsentwürfe erarbeiteten. Der Beschluss zu seiner Gründung kam dennoch erst 1924 zustande, angestoßen von dem lettischen Architekten und Volksarchitektur-Forscher Pauls Kundziņš. 1932 konnte das Museum mit zunächst sechs an den Jägelsee transportierten Gebäuden eröffnet werden. Schon während der 1930er Jahre traten immer weitere hinzu – 1935 einmal sogar unter Anwesenheit des Staats- und des Ministerpräsidenten bei der Zeremonie zur GebäudeEinweihung am neuen Ort. Inzwischen, acht Jahrzehnte später, ist ein Stand von 118 Gebäuden erreicht; denn in der Sowjetzeit wurde am ursprünglichen Museumszweck, wie Kundziņš ihn definiert hatte, politisch gewissermaßen lautlos festgehalten. In der postsowjetischen Ära erschien daraufhin die Frage diskutierenswert, ob dieser Museumszweck – die Bewahrung und Dokumentation von Volkskultur auf dem Boden Lettlands – mittlerweile nicht auch bedinge, einen Agrarkomplex der Sowjetzeit museal zugänglich zu machen. Allerdings dachten diejenigen, die dies bejahten, vorzugsweise an eine mögliche Außenstelle des Museums an einem Originalstandort, also eine Ausnahme gegenüber dem bislang üblichen Überführen aller musealisierten Gebäude an den Stadtrand Rigas. Mit Schmunzeln lässt sich über das Freilichtmuseum im Kontext der Sowjetzeit überdies sagen, dass es in mindestens einer Hinsicht den Eigenschaften eines Freilichtmuseums eher im negativen Sinne gerecht wurde: Auf seinem Materialhof lagerten nämlich jahrzehntelang Teile des Figuren- und Reliefschmucks des Rigaer Rathauses, nachdem vor dessen Abriss im Jahre 1954 Denkmalschützern noch die Rettung der meisten dieser Kunstwerke gelungen war. Nur die edelsten davon wurden im weiteren Verlauf in die zu sowjetischer Zeit museal genutzte Petrikirche gebracht, obwohl es sicher auch den übrigen gut bekommen wäre, wenn sie nicht unter freiem Himmel hätten überdauern müssen.

Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Das Freilichtmuseum lag bei seiner Eröffnung in den 1930er Jahren noch außerhalb der offiziellen Stadtgrenzen. Diese veränderten sich während der Sowjetzeit somit noch einmal erheblich. Zum Beispiel gehört die rechts der Düna-Mündung an die Küste stoßende und nur dünn besiedelte einstige Insel Mangaļsala (Magnusholm) erst seit 1960 zum Stadtgebiet. Dessen Berührung mit der Rigaer Bucht hatte sich ab 1928 zunächst auf Bereiche links der Düna-Mündung beschränkt. Genau hier vollzogen sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg anfangs die deutlichsten Veränderungen: Die 1920 durch Vereinigung der Badeorte auf dem schmalen Landstreifen zwischen Ostsee und Semgaller Aa (lett. Lielupe) geschaffene Stadt, die seinerzeit den Namen »Rīgas Jūrmala« (»Rigascher Strand«) erhalten hatte, verlor Anfang 1946 ihre Eigenständigkeit und bildete seitdem einen – 1949 noch um die Ortschaft Priedaine erweiterten – Stadtbezirk Rigas. Bereits 1959 änderten sich die administrativen Strukturen allerdings erneut. Per Beschluss des Präsidiums des Obersten Rates der Lettischen SSR wurde am 11. November jenes Jahres verfügt, den betreffenden Bezirk wieder aus dem Stadtgebiet auszugliedern und stattdessen mit den Kleinstädten Sloka (Schlock) und Ķemeri (Kemmern) zu einer neuen Gesamtstadt zu verschmelzen, deren Name einfach nur »Jūrmala« (»Strand« – bzw. streng wörtlich: »Meeresrand«) lauten sollte. 1959 war zugleich ein Jahr, in dem Riga sehr spezielle Vorkehrungen für einen Staatsbesuch zu treffen hatte, wobei es sich bei dem Gast um den späteren DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht handelte. In aller Eile kam es im Vorfeld der Visite zur Wiederherstellung des Herder-Denkmals im Schatten des Doms, wobei an die Stelle des vormaligen gusseisernen Postaments nun eines aus schwarzem Granit trat und auf ein erneutes Einmeißeln der ursprünglichen Inschrift verzichtet wurde. Mit der vorangegangenen Schleifung des Originalpostaments und der Umplatzierung der Büste ins benachbarte Dommuseum bei Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich in den eineinhalb Jahrzehnten vor dem Ulbricht-Besuch ein Zustand wiederholt, der ganz ähnlich auch nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal bestanden hatte. In dessen Verlauf war die bronzene Originalbüste zum Abtransport demontiert worden, woraufhin für fast ein Jahrzehnt ein leeres Postament auf dem Herderplatz überdauert hatte. Betont sei, dass die somit bereits zweite Wiedereinweihung des Denkmals 1959 nicht etwa im Beisein der Delegation aus der DDR stattfand; vielmehr war der Herderplatz laut Überlieferung des Besuchsablaufs, den Ulbricht und seine Begleiter absolvierten, nicht einmal im faktischen Besichtigungsprogramm enthalten.

228  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Bauliche Eingriffe in die Stadtlandschaft bis Anfang   der 1980er Jahre

Dass der Sowjetstaat nicht allen Rigaer Altstadtplätzen so viel von ihrem Charakter zu belassen bereit war wie dem Herderplatz, zeigte sich unversehens, als am 23. Mai 1948 in den frühen Morgenstunden die nach den Zerstörungen von 1941 verbliebenen südlichen und westlichen Außenmauern des Schwarzhäupterhauses gesprengt wurden. Da Nachkriegsentwürfe für die Rathausplatz-Umgebung bis dahin durchweg auf der Annahme basierten, das stark beschädigte Gebäude sei wieder zu vervollständigen und in sein Umfeld einzubeziehen, kam dieser Vorgang einem Paukenschlag gleich. Die weitere Planung machte er zudem nicht einfacher. Überlegungen der 1950er Jahre, hier einen großen Bibliotheksbau anzusiedeln und damit einem schon in den 1920er Jahren grundsätzlich erkannten Bedarf gerecht zu werden, verkomplizierten nur, wie man ein halbes Jahrhundert später weiß, den Weg hin zu Rigas neuer Nationalbibliothek nach dem Entwurf des amerikanischen Exilletten Gunnar (Gunārs) Birkerts (* 1925). Diese steht nun jenseits der Düna auf einem in der Spätphase der Sowjetzeit für sie ausgewählten Gelände. Ballast, den die Sowjetadministration nicht ähnlich leicht wie eine Gebäude-Ruine abwerfen und dessen mögliche Gefährlichkeit für das System sie anfangs nur schwer einschätzen konnte, bedeuteten die Museen der Stadt bzw. das, was nach dem Krieg von ihnen übrig war. Dass mehrere von ihnen während der Nachkriegsjahre nicht nur einer gewissen »Säuberung« der vorhandenen Bestände unterzogen wurden, sondern auch diverse Male den Namen wechseln mussten, spiegelt die Unsicherheit des Regimes im Umgang mit ihnen deutlich wider. In einigen Fällen kristallisierten sich erst 1964 Benennungen heraus, an denen längerfristig festgehalten wurde. Diese gelten teilweise heute noch, so etwa beim »Rigaer Museum für Geschichte und Schifffahrt« (lett. »Rīgas vēstures un kuģniecības muzejs«). Ein Gegenbeispiel bildet das im Schloss angesiedelte »Rainis-Museum für Literatur und Kunstgeschichte« (lett. »Raiņa literatūras un mākslas vēstures muzejs«), wie es dreieinhalb Jahrzehnte lang hieß: Inzwischen hat es sich einen noch einfacheren Namen gegeben, um den Eindruck zu vermeiden, es verwalte ausschließlich das Erbe des Nationaldichters und Sozialdemokraten Jānis Rainis (* 1865, † 1929). Die Frage des Umgangs mit dem Freiheitsdenkmal scheint den Besatzern nach 1945 unter anderem deshalb kein übergroßes Kopfzerbrechen bereitet zu haben, weil in diesem Fall zumindest eine Umbenennung nicht erRiga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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forderlich schien: »Freiheit« konnte auch so verstanden werden, als wäre die Befreiung vom Faschismus gemeint, die die Rote Armee 1944 in großen Teilen des Baltikums vollbracht hatte. Äußerungen des Bedauerns, dass das Denkmal im Krieg unzerstört geblieben war, sind aus dem Munde eines führenden lettischen Kommunisten – nämlich des Ersten Sekretärs des ZK der LKP in den Jahren 1959–1966, Arvīds Pelše (* 1899, † 1983) – zwar überliefert; von etwaigen Abrissplänen kann aufgrund der Quellenlage jedoch nicht die Rede sein – und folglich auch nicht davon, dass damals ein Stalin-Denkmal an die Stelle des Freiheitsdenkmals treten sollte. Gedanken an ein Stalin-Denkmal, an die nach 1953 aber möglichst nichts mehr erinnern sollte, bezogen sich stattdessen auf den westlichen Teil der Esplanade, in welchem 1965 schließlich ein Denkmal für Jānis Rainis platziert wurde. Die faktisch einzigen Blessuren, die das Freiheitsdenkmal zwischen 1940 und 1991 abbekam, entstanden gegen Anfang und Ende dieses Zeitraums, nämlich während der deutschen Okkupation durch Granatsplitter, die ein völlig anderes Ziel hätten treffen sollen, sowie während der Endphase der »Singenden Revolution« durch ein einzelnes Geschoss. Spekulationen über einen eventuellen Abriss waren vor 1991 vor allem für die Presseorgane lettischer Exilgemeinschaften in Übersee wiederholt ein Thema. Verunsicherung herrschte in der Exilpresse allerdings erst recht 1980/81, als an dem Denkmal durch Wasser sowie durch Tauben verursachte Schäden beseitigt wurden und niemand sich erklären konnte, weshalb das Regime diese Maßnahme veranlasst hatte. Um 1950 beschränkte die Sowjetmacht ihren Umgestaltungsdrang letztlich darauf, die Straße, auf der das Denkmal steht, nach Lenin umzubenennen und am anderen Ende ihres als Lindenallee gestalteten Abschnitts ein Lenin-Denkmal zu platzieren. Die Lenin-Figur, unter der Lenins Name in lettischer Lautung zu lesen war, kehrte dabei der Frauengestalt »Milda«, die den oberen Abschluss des in Sichtweite befindlichen Freiheitsdenkmals bildet, den Rücken zu. Dass der Architekt Ernests Štālbergs, der um 1930 entscheidenden Anteil an der Entwurfsarbeit für das Freiheitsdenkmal gehabt hatte, um 1950 auch an der Konzeption des Lenin-Denkmals mitwirkte, dürfte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, warum das Freiheitsdenkmal während der Sowjetzeit unangetastet blieb. Ebenso wenig konnte Kārlis Zāle, der 1942 verstorbene Bildhauer, der es ausgeführt hatte, in den Augen der Sowjets als Unperson gelten. Immerhin hatte Zāle sich 1919 an Lenins Plan für »monumentale Propaganda« beteiligt, wovon sein (später in Rigas Kunstmuseum gelangtes) bronzenes Abbild Garibaldis kündet, und darüber hinaus zu einer Ausgestaltung der 230  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Esplanade beitragen wollen, als diese von der damaligen sowjetlettischen Stučka-Regierung in »Platz der Kommunarden« (lett. »Komunāru laukums«) umgetauft worden war. In bebilderten Stadtporträts, Reisebroschüren und ähnlichen Druckerzeugnissen der Sowjetzeit wurde über all dies üblicherweise geschwiegen, obwohl es zur Jahrhundertmitte immerhin zu einer Wiederbelebung des Namens »Platz der Kommunarden« gekommen war und insofern mancherlei Erläuterung hätte denkbar erscheinen können. Das Freiheitsdenkmal war auf einzelnen Abbildungen zwar zu sehen, blieb aber meist unkommentiert. Als die sowjetische Herrschaft auf ihr Ende zusteuerte, sahen regimetreue Kader hierin einen Fehler und mutmaßten, erst dieses Nichtkommentieren habe es den Reformern der 1980er Jahre ermöglicht, ihrerseits das Freiheitsdenkmal regelrecht in Beschlag zu nehmen und seine Symbolkraft für ihre Belange zu aktivieren. Schritte im Sinne einer symbolischen Aneignung des Bereichs um das Lenin-Denkmal vollzog der sowjetische Staatsapparat bis dahin, indem er alljährlich am 21. Juli, der als »Jahrestag der Wiederherstellung der Sowjetmacht in Lettland« (bezogen auf das Jahr 1940) begangen wurde, einen Festzug mit in Volkstrachten gekleideten Sängern und Tänzern veranstalten ließ und indem er die Gewohnheit des Niederlegens von Blumen vom Freiheits- auf das Lenin-Denkmal umzulenken versuchte. Als vollständige Umlenkung konnte dies freilich nur gelingen, sofern jeder, der beabsichtigt hätte, auch am Freiheitsdenkmal Blumengebinde abzulegen, hierin einen fast zwangsläufigen Grund sehen musste, verhaftet oder aber zumindest zu einer Vernehmung abgeführt zu werden. Nach Lenin war damals außer dem vormaligen und heutigen Brīvības bulvāris (Freiheitsboulevard) und der sich anschließenden Brīvības iela (Freiheitsstraße) ebenso die vormalige und heutige Kaļķu iela (Kalkstraße) benannt – gleichsam im Vorgriff darauf, dass diese Längsachse des Rigaer Straßennetzes nach damaliger Planung zu einer die Altstadt breitflächig durchschneidenden und sich auf dem anderen Ufer der Düna geradlinig fortsetzenden Magistrale ausgebaut werden sollte. Dass an einer Realisierung dieser Pläne kaum jemand zweifelte, war zugleich einer der Gründe für die 1954 – immerhin erst sechs Jahre nach der Sprengung der Reste des Schwarzhäupterhauses – erfolgte Schleifung der Ruine des Rathauses, dessen Grundriss in die zu erwartende Trasse der Magistrale hineingeragt hätte. Über ein anderes Segment des Rathausgrundrisses sollte sich Mitte der 1960er Jahre ein neuer Trakt des 1958 aus der Universität ausgelagerten Polytechnischen Instituts schieben, ein Teil der vorgesehenen Randbebauung Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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der Magistrale also, der dreieinhalb Jahrzehnte später seinerseits weichen musste, als sich um das Jahr 2000 die Rückkehr des Rathauses an seinen alten Standort anbahnte. Das Konzept einer kurvenfrei zum anderen Flussufer führenden Verkehrsachse konnte in den 1950er Jahren, obwohl schon während der Zwischenkriegszeit vorgedacht, immer noch als innovativ gelten, da 1896 die Pontonbrücke an den Verlauf der Grēcinieku iela (Große Sünderstraße) statt an den der Kaļķu iela angeschlossen worden war, so dass motorisierter Durchgangsverkehr durch Rigas Altstadtgebiet während eines Großteils der Jahrzehnte, in denen es ihn überhaupt gab, zunächst in die Grēcinieku und die Audēju iela (Weberstraße) gelenkt wurde. Zu seiner vollständigen Umlenkung in andere Altstadtstraßen kam es dann nicht mehr; denn der Gedanke, Verkehrsströme durch den mittelalterlichen Stadtkern rollen zu lassen, beruhte auf einem Generalplan, der schon ab 1959 als überholt betrachtet wurde, und erledigte sich erst recht, als 1967 für den gesamten Altstadtbereich einschließlich der einstmaligen Zitadelle der Status einer staatlichen Schutzzone in Kraft trat. Dieselbe Art von Schutzbestimmung erging in den Folgejahren auch für andere Stadtzentren im Baltikum. Eingriffe in die Struktur der Altstadt waren damit allerdings noch nicht vollends ausgeschlossen. Dies bewies am deutlichsten das – mittlerweile zum Okkupationsmuseum umfunktionierte – Museum der Lettischen Schützen, dessen Errichtung den 100. Geburtstag Lenins würdigen sollte, auch wenn sie statt 1970 erst 1972 zum Abschluss kam. Stadtarchitekt Edgars Pučiņš (* 1924, † 2009) verhinderte damals lediglich die sofortige Verwirklichung eines zweiten Gebäudeflügels, der die Grundrisslinien des Schwarzhäupterhauses verletzt und folglich dessen spätere Rekonstruktion unmöglich gemacht hätte. Ohne praktische Bedeutung blieb der Schutzzonenstatus der Altstadt darüber hinaus für die Frage, ob in deren Nachbarschaft Neubauten mit 20 oder noch mehr Geschossen erwünscht sein konnten. Ein verkanntes Rigaer Wahrzeichen? Das Gebäude der   Akademie der Wissenschaften Schon in den 1930er Jahren hatten lettische Architekten und Journalisten manches geplante Gebäude gern als »Hochhaus« bezeichnet. Keiner dieser Bauten war jedoch verwirklicht worden und den Entwürfen nach hätte keiner von ihnen mehr als sechs Stockwerke haben sollen. Zu Rigas erstem tatsächlichen Hochhaus wurde so das 1951–1958 schräg hinter dem Zentralmarkt errichtete Gebäude der Akademie der Wissenschaften – eines von nur wenigen außerhalb Moskaus zu

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findenden Beispielen für das, was begrifflich vielfach als »Zuckerbäckerstil« der Stalin-Ära, »Stalin-Barock« oder »sozialistischer Klassizismus« eingeordnet wird. Wie bei mehreren Repräsentanten dieses Hochhaus-Typs, so scheint man es auch im Rigaer Fall auf den ersten Blick mit einem Werk von Lev Rudnev (* 1885, † 1956), einem der namhaftesten Moskauer Architekten der späten Stalinzeit, zu tun zu haben. Bei den eigentlichen Autoren des Projekts handelt es sich jedoch um die Letten Osvalds Tīlmanis (* 1900, † 1980) und Vaidelotis Apsītis (* 1921, † 2007). Als diese nach Moskau reisten, um sich über die Anforderungen, die ihr endgültiger Entwurf zu erfüllen hatte, instruieren zu lassen, war ihr Gesprächspartner auch nicht etwa Rudnev, sondern der international noch bekanntere Viačeslav Oltarževskij (* 1880, † 1966) – ein erst 1944 freigekommener politisch Verfolgter, der selbst nie mit einem eigenen Hochhausprojekt betraut wurde. Tīlmanis war, bevor er nach Moskau geschickt wurde, als Sieger aus einem Wettbewerb hervorgegangen und hatte eine ganze Reihe von Entwurfsvarianten gezeichnet, darunter vornehmlich solche, bei denen er hinsichtlich der Bauvolumina von einer geringeren Gesamthöhe und einer stärkeren horizontalen Ausdehnung als in der schließlich verwirklichten Variante ausging. Ursprünglich war dem Gebäude eine Funktion als »Kolchosarbeiter-Haus« zugedacht worden. Der Landbevölkerung, der man Gutes zu tun glaubte, wenn sie durch organisierte Stadtbesuche Erholung und Weiterbildung erfuhr, hätten auf diese Weise Unterkunft sowie die gegebenenfalls benötigten Veranstaltungssäle geboten werden sollen. Dass es einer solchen Bestimmung nie real gedient hat, sondern bei Fertigstellung sogleich einer anderen Institution übergeben wurde, verschafft dem Rigaer AkademieHochhaus eine Gemeinsamkeit mit dem vielleicht bedeutendsten Bauwerk Rudnevs, dem 1949–1953 entstandenen Hauptgebäude der Lomonossov-Universität in Moskau. Denn aus diesem hatte, ehe sich die mit der Innenaufteilung kaum kompatible Nutzung für universitäre Zwecke ergab, eigentlich ein von einer Lenin-Statue bekrönter Wohn- und Hotelkomplex werden sollen. Wer das in seinen Dimensionen ungleich kleiner ausgefallene Rigaer Pendant heute als Fremdkörper im Stadtbild beschreibt, liegt damit vielleicht nicht falsch, weiß jedoch meist wenig über das Vorgehen von Architekten wie Rudnev im Vorfeld eines derartigen Projekts. Vor der Planung des Kultur- und Wissenschaftspalastes in Warschau, eines weiteren Bauwerks gleicher Stilrichtung, unternahm dieser sogar eine Rundreise durch Polen, um sich mit nationalen Besonderheiten der polnischen Architektur vertraut zu machen. Die Ornamentik des Warschauer Baus wurde hierdurch tatsächlich beeinflusst – und so erscheint auch die Interpretation zulässig, in Riga seien Details wie die Verwendung von Keramikschmuck an bestimmten Fassadenpartien als verhaltene Anklänge an die lettische Nationalromantik zu verstehen. Dass besagte Keramiken damals in Moskau gefertigt wurden, steht einer solchen Deutung keineswegs entgegen, sondern unterstreicht nur, welche gestalterischen Spielräume sich in jener Zeit aus der Grundformel ergaben, Kunst- oder Bauwerke hätten national in ihrer Form, jedoch sozialistisch in ihrem Inhalt zu sein. Auf die UdSSR insgesamt bezogen handelte es sich hier-

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bei zwar eher um eine Formel der 1920er und 1930er Jahre; in den baltischen Republiken, denen erst noch eine Phase des Hineinwachsens in das Sowjetsystem zuzugestehen war, fand sie ihre Anwendung jedoch gleichsam zeitversetzt. Die bis in Teile der Fachliteratur gelangte Fehlannahme, ähnlich wie den Warschauer Entwurf habe Lev Rudnev auch denjenigen für Riga persönlich erstellt, bezieht ihren Reiz derweil aus einem biographischen Detail: In der Stadt an der Düna kannte der gebürtige Russe sich nämlich bereits seit der Zeit um 1900 bestens aus, da er selbst für einige Jahre hier zur Schule gegangen war. Die Grundstückswahl, die für das Akademie-Hochhaus getroffen wurde, führte zum Verlust des vielleicht interessantesten Holzbautenensembles in Rigas Moskauer Vorstadt; denn auf der betreffenden Fläche hatte zuvor ein noch aus der Zeit des Wiederaufbaus der Vorstädte nach 1812 stammender zweigeschossiger russischer Handelshof gestanden. Das Hochhaus-Vorhaben schien aus Erwägungen, die mit der Stadtsilhouette als Ganzer zu tun hatten und bei denen der noch gar nicht wiederhergestellte Turmhelm der Petrikirche bereits mitgedacht wurde, gerade in diesen Bereich zu passen; darüber hinaus sollte es seinerzeit jedoch auch einen grundlegenden Wandel des Charakters der Moskauer Vorstadt einleiten. Faktisch hat diese Gegend Rigas seither freilich nicht in der erhofften Weise an Wohnqualität oder Flair hinzugewonnen. Ihr Gesicht blieb vielmehr weitgehend unverändert, so dass der schon angesprochene Fremdkörper-Effekt, den das Akademie-Gebäude hervorruft, sich inzwischen wohl in erster Linie auf die Moskauer Vorstadt als unmittelbare Umgebung und erst an zweiter Stelle auf Riga insgesamt beziehen lässt.

Wirft man kurz einen Blick auf weitere Rigaer Bauten, deren Eingänge ebenfalls mit wuchtigen Säulenreihen versehen wurden und die hierdurch ebenso deutlich noch der Architekturtradition der Stalinzeit angehören, so bleibt der 1960 fertig gestellte Kulturpalast des elektrotechnischen Werkes »VEF« hervorzuheben, der sich heute in kommunalem Besitz befindet und Dutzenden von kulturellen Institutionen als Spiel- bzw. Ausstellungsstätte dient. Investitionen in den denkmalgeschützten Bau ließen sich in jüngerer Zeit daher besonders gut rechtfertigen, seit man wusste, dass Riga 2014 »Kulturhauptstadt Europas« sein würde. Zu den vergleichsweise hochwertigen und dabei sicher originellsten baulichen Hinterlassenschaften der Jahre bis 1960 zählte ferner ein brückenartiger Gang über die Rīdzenes iela (Riesingstraße), der das Ende der 1930er Jahre errichtete Armeewarenhaus, das auch in sozialistischer Zeit weiter als Kaufhaus diente, mit seinem Lagergebäude verband und dessen äußere Gestaltung in Anspielung darauf, dass ganz in der Nähe im Mittelalter der Rigebach verlaufen war, Venedigs Seufzerbrücke nachahmte. Einer zu Beginn des 21.  Jahrhunderts durchgeführten Vergrößerung des Kaufhaus-Komplexes, 234  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

die den Abriss des Lagergebäudes erforderlich machte, fiel dann auch besagter Anklang an die weltweit berühmteste über Wasser hinweg von einem Gebäude ins andere führende überdachte Brücke mit zum Opfer – und so versinnbildlicht den einstigen Rigebach in diesem Bereich heute nur mehr die schnurgerade zentrale Passage, die den modernen Einkaufskomplex erschließt und in zwei Hälften gliedert. Das Seufzerbrückenmotiv verarbeiteten im 20. Jahrhundert freilich auch Architekten in anderen Teilen der Welt, selten jedoch in Erinnerung an ein Gewässer, das gar nicht mehr existiert. Was das Hinzuwachsen weiterer Hochhäuser betrifft, gingen die 1960er Jahre an den zentralen Teilen Rigas noch fast spurlos vorüber. Mitte der 1970er Jahre wurde dann das links der Düna errichtete neue Pressehaus zum ersten bezugsfertigen Ableger einer nächsten Generation von Hochhausbauten. Von der Zahl seiner Stockwerke her übertraf es das Gebäude der Akademie der Wissenschaften minimal. Das lange Intervall zwischen den Fertigstellungen dieser beiden Gebäude zeitigte derweil diverse unverwirklichte oder während der Verwirklichung abgeänderte Hochhaus-Pläne. Viel Raum für Neues schien dabei stets der Bereich der einstigen Zitadelle zu bieten, wo es außer der ehemaligen orthodoxen Kathedrale St. Peter und Paul, aus der 1987 schließlich der Konzertsaal »Ave Sol« wurde, keine seinerzeit für erhaltenswert erachteten Bauten gab. Als unmittelbar nach 1945 zunächst ein repräsentativ umbauter und für Militärparaden sowie Arbeiteraufmärsche tauglicher »Platz der Republik« ins Auge gefasst war, hatte es sogar Entwürfe gegeben, die auch einen Abriss der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Kirche nahe legten. Die Pläne für diesen »Platz der Republik« lebten, nachdem man sie in den 1950er Jahren vorübergehend aufgegeben hatte, Mitte der 1960er Jahre in völlig veränderter Form wieder auf; und diesmal erbrachten sie ein reales, wenn auch erst 1978 vollendetes Ergebnis – nämlich jenes 24-geschossige Gebäude, das seine Umgebung seitdem überdeutlich beherrscht und das, weil sein Hauptnutzer Lettlands Landwirtschaftsminister ist, im Volksmund gelegentlich »Silage-Turm« (lett. »Skābbarības tornis«) genannt wird. Laut ursprünglicher Planung sollte es indes nur eines von insgesamt drei derartigen Gebäuden an dieser Stelle sein. Ähnliche Gedanken verfolgte Rigas damalige Architektenelite im Zusammenhang mit dem unwesentlich jüngeren »Hotel Latvija« an der Elizabetes iela (Elisabethstraße): Auch zu ihm hätten sich eigentlich noch mehrere weitere Hochhausbauten gleichen Typs gesellen sollen. Bedenken in Bezug auf die Konsequenzen solcher Ideen wurden gerade in den frühen 1970er Jahren staatlicherseits allzu leicht mit der Meinung eines Dissidenten gleichgesetzt und zum Teil unmissverständlich abgestraft. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Im Falle des Architekten und Denkmalpflege-Experten Andrejs Holcmanis (* 1920, † 2009) geschah dies in Form einer deutlichen beruflichen Degradierung. Gegen Ende des Jahrzehnts setzte sich die Haltung der Skeptiker gleichwohl durch: Neben knappen Finanzen waren auch die Erkenntnis, dass je nach Blickwinkel schon der »Silage-Turm« für sich allein die Altstadt beinahe erdrückt, sowie Unzufriedenheit über die lange Dauer seiner Errichtung ausschlaggebend dafür, dass auf den Bau der beiden Nachbarhochhäuser nunmehr verzichtet wurde. Die Zitadelle blieb mit der fragwürdigen vertikalen Dominante, die man ihr aufgepfropft hatte, jedenfalls das, was sie von der Altstadt aus betrachtet immer schon war, nämlich eine Art Stiefkind Rigas. Nebenbei schwächte sich das Interesse, im Zitadellenbereich einen vollwertigen »Platz der Republik« anzulegen, auch noch dadurch ab, dass ein zentrales Denkmal, wie man es für einen solchen Platz mit hätte einplanen müssen, um 1975 bereits im »Siegespark« (lett. »Uzvaras parks«) jenseits der Düna entstand, den die Staatsmacht damit symbolpolitisch stark aufwertete. Eine Bühne für Massenveranstaltungen kultureller Art existierte unterdessen seit 1955 in Form der großen Estrade im Stadtpark Mežaparks: Der Zweck dieses Baus verband sich zwar in erster Linie mit den seit 1873 im Fünfjahresrhythmus gefeierten und nur in den Zeiträumen der Weltkriege jeweils ausgefallenen lettischen Sängerfesten; jedoch war er nicht a priori hierauf beschränkt. Was das grundsätzliche Fördern der Sängerfest-Tradition anbetrifft, so entsprach gerade dies – eine strenge Überwachung der LiederAuswahl vorausgesetzt – der sowjetischen Vorstellung von einer das System stabilisierenden Berücksichtigung nationaler Kulturen. Erscheinungsformen antisowjetischer Widersetzlichkeit   im sowjetzeitlichen Riga

Die Frage nach dem richtigen Maß an Anpassung oder Nichtanpassung an das Sowjetsystem stellten sich in der Lettischen SSR nicht nur große Teile der Bevölkerung, sondern besonders während der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch Teile der kommunistischen Führungszirkel. Zweifel an der Richtigkeit des unbegrenzten Zuzugs von Personen aus anderen Sowjetrepubliken ließen damals eine nationalkommunistische Reformbewegung um den stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden Eduards Berklavs (*  1914, †  2004) entstehen. Einen ersten Tabu-Bruch beging Berklavs, als er seine lettischen Landsleute aufrief, der LKP beizutreten, und so überhaupt erst 236  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass Letten in der Partei unterrepräsentiert waren; denn eigentlich galten Statistiken darüber, wie sich deren Mitgliederbestand nach Nationalitäten auffächerte, als ein streng zu hütendes Geheimnis. Vor und erst recht nach den späten 1950er Jahren wurden sie auch stets dementsprechend behandelt. Misstrauen bei den russischen Parteifunktionären, die über die Linientreue der lettischen Kommunisten wachen sollten, schürte Berklavs allerdings auch in einem Zusammenhang, der das Erscheinungsbild Rigas betraf. Die Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken machten es sich seinerzeit nämlich immer mehr zur Gewohnheit, in den Parkanlagen der Stadt ausgiebig zu picknicken und dort Blumen zu pflücken. Versuche, dieser Unsitte durch das Aufstellen von Schildern sowie durch Zeitungsaufrufe Herr zu werden, führten nicht zum erhofften Ergebnis. Eine letzte Möglichkeit sahen Berklavs und seine Genossen in der Verhaftung einiger derjenigen, die durch neuerliches Fehlverhalten auffallen würden. Indem sie diese zu Freiheitsentzug verurteilen ließen, gelang es wie erwartet, ein Exempel zu statuieren und den gewünschten Effekt zu erzielen. Bereits im Vorfeld hatten die Parteioberen sich darauf verständigt, dass die Verurteilten nach wenigen Wochen aus der Haft zu entlassen seien. Dennoch zog dieses Vorgehen für Berklavs verständlicherweise eine Nachfrage aus Moskau nach sich, ob es stimme, dass man in der Lettischen SSR mit Gefängnisstrafen für das Ausrupfen von Blumen belangt werde. Mag speziell diese Episode eher wie eine Posse wirken, so nahm, ausgelöst durch andere Vorgänge, Berklavs’ Karriere als Kommunist ein umso ernsteres Ende: Statt wie vorgesehen die Nachfolge von Vilis Lācis als Ministerratsvorsitzender antreten zu können, wurde Berklavs 1959 ins russische Vladimir verbannt und durfte seine Heimatrepublik achteinhalb Jahre lang nicht mehr betreten. Auch andere, die dem lettischen Nationalkommunismus angehangen hatten, wurden damals aus ihren Ämtern gedrängt. Die letzten Jahre unter Chruščev und besonders die Herrschaftszeit Brežnevs werden aus innersowjetischer Perspektive rückblickend oft als »Phase der Stagnation« bezeichnet. Diesen Terminus so zu verstehen, als wäre auch der Widerstandsgeist der Letten in diesen Jahrzehnten vollends erlahmt, griffe indes zu kurz. Andererseits sagen spektakuläre Einzelaktionen wie die versuchte Selbstverbrennung des Studenten Ilja (Elijahu) Rips (*  1948) am Rigaer Freiheitsdenkmal im April 1969, mit der dieser dem Vorbild des Tschechen Jan Palach (* 1948, † 1969) folgen und ebenfalls gegen die damaligen Vorgänge in Prag protestieren wollte, nur wenig über die Haltung der Bevölkerung als Ganzer aus. Ähnlich singulär nahm sich in Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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diesem Fall die Reaktion des Regimes aus, das Rips nach seinem vereitelten Selbstverbrennungsversuch zunächst in die Psychiatrie einweisen ließ, ihm 1971/72 jedoch die Ausreise nach Israel ermöglichte, wo er zu einem angesehenen Professor für Mathematik aufstieg. Interessant erscheint deswegen gerade beim Blick auf diese Zeit und auf eine Stadt wie Riga die Frage nach dem Ausmaß an gleichsam »kollektiver« Bereitschaft der Bevölkerung, das Regime herauszufordern, und nach der Art der Gegensteuerungsversuche des Regimes. Antworten erlaubt dabei wohl kein anderes Anschauungsobjekt so sehr wie Rigas Ehrenfriedhöfe, also das Ensemble aus Waldfriedhof (lett. Meža kapi) und Brüderfriedhof (lett. Brāļu kapi), neben dem ab 1929 schließlich noch der Rainis-Friedhof (lett. Raiņa kapi) entstand. Anfang Dezember 1967 beispielsweise ließ der Chef des KGB auf Republikebene dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Lettlands vertraulich mitteilen, dass von Jahr zu Jahr mehr Letten in ihrer Eigenschaft als evangelische Christen den Totensonntag dazu nutzten, Rigaer Friedhöfe, und zwar vorzugsweise den Brüder- und den Waldfriedhof, aufzusuchen und dort rote und weiße Kerzen so zu platzieren, dass deren farbliche Anordnung an die Flagge der 1918 gegründeten unabhängigen Republik erinnerte. Indem sie die Sphäre des Religiösen als Grauzone für ihre eigentlich politische Aktion gebrauchten, sahen die Betreffenden sich vor einer möglichen Festnahme geschützt; jedoch mussten sie damit rechnen, von Sicherheitskräften namentlich erfasst zu werden, und meist mit ansehen, wie diese die aufgestellten Kerzen sofort wieder entfernten. Noch subtilere Bekenntnisse entgingen dem Blick der Aufseher zunächst womöglich sogar, was an der übergroßen Menge der Besucher lag – 1967 angeblich 70000 allein auf den beiden genannten Friedhöfen – und was dadurch begünstigt wurde, dass viele erst nach Einbruch der Dunkelheit eintrafen. Schnell bildeten sich dann zum Beispiel Spaliere vor den Gräbern von auf dem Waldfriedhof bestatteten Politikern der Zwischenkriegszeit wie Jānis Čakste (* 1859, †  1927, ab 1922 Staatspräsident Lettlands), Zigfrīds Meierovics und Jānis Balodis (* 1881, † 1965, 1931–1940 Kriegsminister Lettlands). Der KGB-Chef der Lettischen SSR hielt, was dies betraf, unter anderem die starke Beteiligung von Studenten für beunruhigend. Auf die Tagesordnung des Zentralkomitees der LKP gerieten jene Mutproben 1967 aber vor allem deshalb, weil für 1968 der 50. Jahrestag der Proklamation der Republik bevorstand und weil dessen kalendarische Nähe zum Totensonntag nun einmal durchaus brisant war. Im Vorfeld des 40. Jahrestages hatte die Parteiführung 1958 zusätzlich zu den vielen Schützen, »roten« wie »weißen«, die ohnehin auf dem Brüder238  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

friedhof beigesetzt waren, weitere Angehörige »roter« Schützenverbände dorthin umbetten lassen, um den Friedhof zu etwas zu machen, was er vorher nie explizit hatte sein sollen: einem »Denkmal für die Lettischen Schützen«. Seitdem schaukelten Zumutungen seitens der Sowjetadministration und die Bereitschaft eines Teils der lettischen Bevölkerung zu wagemutigen Reaktionen sich gleichsam wechselseitig hoch. Staatlicherseits bestand die letzte Eskalationsstufe – praktiziert ab etwa 1980 – im Bestatten von Parteiveteranen in einer Zone, die der feinsinnigen Ursprungsplanung dieses Friedhofs nach nie für Bestattungen vorgesehen war. Ohnehin glich es aber ja, Gestaltungsfragen hin oder her, einer Entweihung, wenn Parteifunktionäre ihre letzte Ruhe auf einem Friedhof finden sollten, der einmal für Männer angelegt worden war, die in der einen oder anderen Weise für Lettlands Freiheit gekämpft hatten. Abgestellt werden musste dies erst 1989, nachdem die Bevölkerung Mut gefasst hatte, sogar hiergegen dezidiert zu protestieren. Völlig andersartig, politisch-gesellschaftlich jedoch ebenso aussagekräftig war damals die Einstellung der Rigaer Bevölkerung gegenüber dem im späten 18. Jahrhundert angelegten Großen Stadtfriedhof (lett. Lielie kapi). Obwohl hier neben bekannten Deutschbalten, darunter zum Beispiel Architekten wie Christoph Haberland, Johann Daniel Felsko und Reinhold Schmaeling, auch Wegbereiter des »Nationalen Erwachens« der Letten wie Krišjānis Valdemārs (* 1825, † 1891) oder Krišjānis Barons (* 1835, † 1923) bestattet waren, galt dieser Friedhof stets als ein primär deutschbaltisches Kulturrelikt – eine Zuschreibung, die ihn nach 1945 besonders anfällig für Plünderungen und Vandalismus machte. Ob der in den 1960er Jahren getroffene Beschluss, die Friedhofsfläche in einen »Memorialpark« mit gleichzeitigem Erholungswert für die Bevölkerung umzuwandeln, dem Vandalismus Einhalt gebot oder ihm vielmehr nur eine andere Erscheinungsform eröffnete, lässt sich unterschiedlich bewerten. Legitim erschien dieser Beschluss vor allem deshalb, weil Überlegungen, dass aus dem Großen Stadtfriedhof eines Tages eher ein Park werden könnte, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals aufgekommen waren. Er besaß daher nichts von der Sprengkraft, die Mitte der 1950er Jahre eine vergleichbare Ankündigung in Bezug auf den Brüderfriedhof in sich trug, sondern wurde von der Bevölkerung eher gleichgültig aufgenommen. Die politische Führung verstand ihn so, als hätte sie sich – ganz entgegen ihren Gewohnheiten – geradezu ein Denkmalpflegeprojekt auferlegt; in der Frage jedoch, wie viele der Grabdenkmäler und Kapellen erhaltenswert sein mochten, gelangte sie zu immer wieder neuen Auflistungen, deren Umfänge stark schwankten. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Nachdem die Umwandlung in einen »Memorialpark« offiziell vollzogen war, wurde das vormalige Friedhofsareal 1968/69 zunächst einmal zerschnitten, nämlich durch die Senču iela (wörtlich: »Straße der Vorfahren«), eine neue öffentliche Straße genau im Bereich der vorherigen Nahtstelle zwischen dem orthodoxen und dem nichtorthodoxen Friedhofsteil. An der Gleichgültigkeit der Bevölkerung änderte diese brachiale Maßnahme aber ähnlich wenig wie die spätere Zerstörung unzähliger Grabstellen durch Bulldozer, die sich bis 1986 hinzog. Eine immerhin dreistellige Zahl von Objekten blieb dabei ausgespart – deutlich mehr, als manche es noch Anfang der 1980er Jahre für nötig erachtet hatten. Ihrem Namen wenig Ehre machte in diesem Kontext die »Gesellschaft für Natur- und Denkmalschutz« (lett. »Dabas un pieminekļu aizsardzības biedrība«), eine nominell nicht regierungsabhängige Institution, über deren Führungsspitze jedoch gemeinhin die Kommunistische Partei entschied. Dieser Gesellschaft war das ehemalige Friedhofsgelände 1982 übertragen worden; und einige Verantwortliche verstiegen sich daraufhin zu der Idee, sie könnte hier auch ihren Sitz errichten lassen. Einem dazu durchgeführten Wettbewerb verweigerten sich dann zahlreiche Architekten: Als es um die Bereitschaft oder Nichtbereitschaft ging, Vorschläge zur Bebauung eines Areals zu erarbeiten, das noch kurz zuvor als Begräbnisstätte gedient hatte, gab es insofern auch im Zusammenhang mit dem Großen Stadtfriedhof einmal einen Moment, in dem couragiert Haltung bewiesen wurde. Ein klein wenig legte sogar der Wettbewerbssieger diese Haltung an den Tag, denn der gekürte Entwurf von Andris Kronbergs (* 1951) sah eine von schlanken Säulen getragene Gebäudegruppe vor, die etliche Meter über der Erdoberfläche gleichsam hätte schweben sollen. Die Chancen auf Realisierung waren für ein derart futuristisches Projekt von Anfang an gering; ob es andernfalls durch Proteste verhindert worden wäre, erscheint indes fraglich. Selbst nach der Wende von 1990/91 veränderte sich die Art, wie die verbliebenen Friedhofsreste wahrgenommen wurden, nicht schlagartig. Viel bewirkt hat in dieser Hinsicht erst deren Aufnahme in eine 2004 breit publik gemachte »Liste der 100 am meisten bedrohten Kulturdenkmäler Lettlands«. Für das sowjetzeitliche Riga charakteristische   Produktionsstätten und Institutionen

Im vorletzten Unterkapitel wurde bereits das elektrotechnische Werk »VEF« erwähnt, als es um dessen noch immer für kulturelle Zwecke genutzten Kulturpalast aus dem Jahre 1960 ging. Das Werk selbst produzierte seinerzeit 240  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Transistorgeräte, Fernsprechapparate und verschiedenste andere elektrotechnische Kleinartikel. Seine damalige Bedeutung lässt sich nicht zuletzt daran bemessen, dass es einer der beiden Endpunkte der ersten Rigaer MetroStrecke geworden wäre, sofern die Stadt – wie gegen Ende der Sowjetzeit geplant – tatsächlich eine Metro bekommen hätte. Ferner wurde es gern Gästen aus dem Ausland gezeigt; bei dem schon erwähnten Besuch einer DDRDelegation um Walter Ulbricht im Juni 1959 etwa nahm sich hierfür auch Chruščev Zeit. In der Gegenwart ist die Abkürzung »VEF«, die für »Valsts Elektrotehniskā Fabrika« – »Staatliche Elektrotechnische Fabrik« – steht, vornehmlich deshalb noch immer in aller Munde, weil sie als Name eines professionellen Basketballvereins weiterlebt. Dieser wurde bereits 1929 als damaliger Werksklub gegründet. Gern erklärt er sich daher heute, auch wenn seine Existenz zwischen 1992 und 2007 unterbrochen war, zum landesweit ältesten Vertreter der als Lettlands Nationalsport geltenden Ballsportart. Ein führender örtlicher Industriebetrieb der Sowjetzeit war ferner das Werk »Sarkanā Zvaigzne« (»Roter Stern«), das nach 1945 zunächst nur Fahrräder herstellte, im weiteren Verlauf jedoch Mopeds zu seinem wichtigsten Erzeugnis machte. An dieses Werk schloss sich räumlich unmittelbar die seinerzeit als Lieferantin von Zügen für nahezu sämtliche Sowjetrepubliken gefeierte Waggonbaufabrik an, ein Betrieb, dessen Tradition nahtlos in die Industrialisierungshochphase Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichte. Sowohl in der Radio- als auch in der Automobilfertigung arbeitete während seiner eigenen frühen Berufsjahre der 1972 zum Präsidenten eines örtlichen Oldtimer-Clubs gewordene Viktors Kulbergs (* 1948, † 2013). Kulbergs ließ der Gedanke nicht los, dass einer so sehr durch ihre Fahrzeugindustrie geprägten Stadt wie Riga auch ein Automuseum gut zu Gesicht stünde, und ohne ihn wäre dieser Gedanke wohl nicht unbedingt schon während der Sowjetzeit in die Tat umgesetzt worden. Architektonische Entwürfe für jenes »Motormuzejs«, wie es auf Lettisch heißt, lagen jedenfalls bereits Mitte der 1980er Jahre vor, woraufhin 1989 die Einweihung erfolgen konnte. Der damalige Niedergang der UdSSR und das Fehlen irgendwelcher vergleichbarer Vereine und Einrichtungen in Gorbatschows Riesenreich bescherten dem »Antīko automobiļu klubs« und dem »Motormuzejs« günstige Voraussetzungen für den Erwerb ihrer so genannten »Kreml-Kollektion«, einer ansehnlichen Zahl ausländischer Limousinen, die führende sowjetische Politiker entweder selbst benutzt oder bei Besuchen anderer Staatsoberhäupter geschenkt bekommen oder nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Kriegsbeute für sich abgezweigt hatten. In Kulbergs’ Biographie folgten auf die Gründung und anfängliche Leitung des Museums noch die im Rahmen der Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Privatisierung Anfang der 1990er Jahre vollzogene Gründung der GmbH »Auto Rīga«, Vorstandsmitgliedschaften bei anderen Unternehmen sowie eine Reihe von Ehrenämtern. Das Riga der Sowjetzeit als Film-Stadt An der Šmerļa iela, vom Automuseum wiederum nicht weit entfernt, befanden sich seit 1961 die Rigaer Filmstudios, deren Tradition bis in das Jahr 1940 zurückreicht. Nach einer Phase reger Tätigkeit unter deutscher Besatzung fand sie eine kurzzeitige Unterbrechung, als im Vorfeld der Rückeroberung Rigas durch Stalin die meisten damaligen Filmschaffenden außer Landes flohen und einen Großteil der technischen Ausstattung nach Deutschland mitnahmen. Dessen ungeachtet setzte sich Rigas Geschichte als Film-Stadt sehr bald unter sowjetischen Vorzeichen fort. Bereits 1948 wurde die Produktion von Spiel- und Dokumentarfilmen organisatorisch unter einem Dach zusammengeführt, wenn auch anfangs noch unter einem Namen, aus dem beide Genres herausklangen. 1958 wich dieser der simplen Bezeichnung »Kinostudio Riga« (lett. »Rīgas Kinostudija«), mit der sich infolge der veränderten politischen Großwetterlage unter Chruščev zugleich der Charakter der Filme stark veränderte: Waren dokumentarische Filme sowjetlettischer Machart bis dahin durch ihr Pathos und ihren Belehrungseifer aufgefallen, so wurde ab etwa 1960 meist ein eher subjektiver Zugang zum jeweiligen Thema entwickelt. Bei einem der ersten derartigen Dokumentarfilme, einer Arbeit des Regisseurs und späteren Politikers Aloizs Brenčs (* 1929, † 1998), drang dieser neuartige Stil schon in der Titelformulierung »Mana Rīga« (»Mein Riga«) unüberhörbar durch. Auch bei der Verarbeitung fiktionaler oder historischer Stoffe erinnerte seither praktisch nichts mehr an die Ästhetik von Vertretern des klassischen sowjetischen Films wie dem gebürtigen Rigenser Sergej Eisenstein (Ėjzenštejn, * 1898, † 1948). In den 1970er Jahren beschäftigte Eisenstein die hiesigen Filmemacher dann trotzdem noch einmal – nun jedoch als jemand, dem einer von etlichen Rigaer Dokumentarfilmen, die als Porträts bekannter Persönlichkeiten konzipiert waren, gewidmet wurde. Filminhalte so aufzubereiten, dass einerseits das politische Risiko gering blieb, andererseits aber Bekenntnisse zur lettischen Nationalität in sie einflossen, bedeutete für die in ihrer großen Mehrheit lettischen Regisseure oft eine Gratwanderung. Der politische Umbruch ab Mitte der 1980er Jahre ermöglichte dann umso mutigere Filme und bildete zugleich deren zentrales Thema. Die dadurch bewirkte Steigerung westlichen Interesses an lettischen Filmen ließ in Vergessenheit geraten, in wie vielen Fällen diese bereits während der vorangegangenen Jahrzehnte auf Filmfestivals in Westeuropa prämiert worden waren. Aufgrund der Menge der produzierten Filme und der guten Ausstattung der Studios mit Nebeneinrichtungen aller Art lag die Zahl der an das »Kinostudio Riga« gebundenen Arbeitsplätze im vierstelligen Bereich. Als Kulisse für Außenaufnahmen wählten die Filmstudios bei vielen ihrer Produktionen die Rigaer Altstadt, die in

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dieser Funktion allerdings sogar so beliebt war, dass bisweilen auch Filmteams aus anderen Sowjetrepubliken hier Dreharbeiten durchführten. Nach 1990 erwies es sich als unmöglich, an all dies anzuknüpfen. Dass bis dahin so viele Filme hatten entstehen können, verdankte sich nun einmal der Finanzierung durch den Staat. Zwänge, in Konkurrenz zueinander Markterfolge erzielen zu müssen, hatte es für Rigas Filmkünstler nie gegeben. Umso unerfreulicher erscheint der mittlerweile ausgebrochene Streit darüber, wem aus heutiger Sicht die Rechte an einigen der filmischen Werke aus der Sowjetzeit zustehen.

Neue Wohnbezirke für immer mehr Menschen und die   umstrittenen Rigaer Metro-Planungen

Der 21. Juli, der »Tag der Wiederherstellung der Sowjetmacht in Lettland«, musste, wenn es in der Stadt etwas Bedeutendes einzuweihen galt, wiederholt als Datum hierfür herhalten. So wurde zum Beispiel am 21. Juli des Jahres 1957 die heutige »Steinbrücke« (lett. »Akmens tilts«) dem Verkehr übergeben; seinerzeit erhielt sie den Namen »Oktoberbrücke« (lett. »Oktobra tilts«). Die an dieser Stelle nun nicht mehr benötigte Pontonbrücke verschob man flussabwärts, wobei sie dort – anders als die spätere »Wantenbrücke« (lett. »Vanšu tilts«) – nicht zur geradlinigen Verlängerung einer der Straßen am rechten Flussufer wurde. Wer die Pontonbrücke jetzt vom linken Ufer her befuhr, hatte vielmehr den Drei-Sterne-Turm des Schlosses unmittelbar vor Augen. Ausgedient hatte die Pontonbrücke erst, als 1981, und zwar wieder in einem Juli, die ersten Autos über die »Wantenbrücke« rollten, die im Vorfeld gern mit der wenige Jahre zuvor fertig gestellten Donau-Brücke im Zentrum von Bratislava verglichen wurde. Spätestens seit der Eröffnung des Flughafens am Westrand der Stadt im Oktober 1974 war dieser Brückenschlag eigentlich unabdingbar, wenn auch nicht primär aufgrund hoher Passagierzahlen, sondern angesichts der schon gebauten sowie noch geplanter Wohnviertel in den Stadtbezirken Zolitūde und Imanta. Allein in Imanta lebten 2010 noch annähernd 50000 Menschen. 1974 war es um diesen Stadtteil herum nach intensiver Bebauung mit Hochhäusern, die den sowjetischen Normtypen »464«, »467« und »602« entsprachen, sogar noch einmal zu einer Verlegung der offiziellen Stadtgrenze gekommen. Auch wenn derartige Stadtbereiche über jeweilige LebensmittelLäden – teilweise benannt nach den Hauptstädten benachbarter Sowjetrepubliken und Ähnlichem – verfügten, hatten ihre Bewohner selbstverständlich auch immer wieder Wege ans rechte Düna-Ufer zurückzulegen. Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Noch ehe die »Wantenbrücke« Gestalt annahm, begannen deshalb die Diskussionen über ein Verkehrsprojekt, zu dem ebenfalls Düna-Querungen gehört hätten – allerdings unterirdische: Als es in den frühen 1970er Jahren zu ersten Vorüberlegungen zum Bau einer Rigaer Metro kam, waren zunächst zwei U-Bahn-Trassen im Gespräch. Im Laufe der 1980er Jahre entwickelte sich daraus dann ein Konzept mit drei Strecken, die alle drei unter anderem auch unter dem Flussbett hindurch verlaufen sollten. Immerhin sah dieses Konzept keine Streckenführungen unter der Altstadt vor, was die unzähligen Kritiker, die das U-Bahn-Projekt gegen Ende des Jahrzehnts auf den Plan rief, jedoch kaum beruhigte – und das aus unterschiedlichen Gründen: Zunächst hätte trotzdem Anlass zur Sorge um Baudenkmäler bestanden; denn die von der Bahnstation Zasulauks im Westen bis zur Bahnstation Zemitāni im Nordosten reichende Strecke, von der man sich die meisten Entlastungseffekte erhoffte und mit deren Verwirklichung man laut offiziellen Angaben bereits 1990 beginnen wollte, sollte ab dem Hauptbahnhof einen Verlauf nehmen, mit dem die Untertunnelung etlicher Jugendstil-Viertel verbunden gewesen wäre. Noch schwerer wog für viele Letten jedoch die Befürchtung, ein U-Bahn-Bau könnte einschneidende Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung nach sich ziehen und sogar die seinerzeit nur knappe lettische Bevölkerungsmehrheit in ihrer Republik gefährden. Mit Metros wurden Städte in der UdSSR üblicherweise bedacht, sobald ihre Einwohnerzahl die Millionengrenze überschritten hatte. Dies war bei Riga in den 1970er und 1980er Jahren noch keineswegs der Fall, schien jedoch nach Lage der Bevölkerungsentwicklung nur eine Frage der Zeit zu sein. Eine Metro-Baustelle, die dem Erreichen der Millionenmarke gewissermaßen vorgriff, konnte nun sogar beschleunigend dazu beitragen, dass diese durchbrochen wurde; denn schon die Großbaustelle selbst hätte einen massenhaften Zuzug von Arbeitern aus anderen Sowjetrepubliken in Gang gesetzt. Noch weit größere Zuwandererwellen hätte Riga jedoch mutmaßlich nach Fertigstellung der Metro-Strecken zu verkraften gehabt – gleichsam im Sinne einer bevölkerungspolitischen Amortisierung des Projekts. Manchen lettischen Beobachter beschlichen daher gewisse Vorahnungen, als sich offenbarte, dass die geplanten Metro-Stationen nicht durchweg dort entstehen sollten, wo die Bevölkerungsdichte in den betreffenden Stadtbezirken besonders hoch war. Trugen die politisch Verantwortlichen sich also bereits mit Absichten, später um diese oder jene Station herum weiteren Wohnraum für zuziehende Russen, Weißrussen und Ukrainer zu schaffen? Unschwer konnte man sich ausmalen, wie eines Tages behauptet werden würde, hierfür sei Riga jetzt dank seiner Metro bestens gerüstet. 244  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Da es um 1987 allerdings noch wenig opportun gewesen wäre, derartige Szenarien offen zu debattieren, und niemand in dem Verdacht stehen wollte, Nationalist zu sein, konzentrierte sich die Kritik an den Metro-Plänen zunächst monatelang auf technische Aspekte. Warnungen vor den schwierigen Bodenverhältnissen – konkret vor dem Wassergehalt der über einem Untergrund aus Dolomit lagernden Schichten aus Lehm und Sand – führten dabei insofern nicht weit, als vergleichbare Schwierigkeiten bereits beim Bau der U-Bahn im damaligen Leningrad überwunden worden waren. Ein anderer Einwand, der mit diesen Bodenverhältnissen zu tun hatte, erschien jedoch schlagkräftig: Durch den stetigen Abtransport von Erdreich hätte während der Bauzeit mit einer extremen Verschmutzung der Straßen zwischen dem jeweiligen Aushub-Bereich und der Abladestelle auf der Insel Lucavsala gerechnet werden müssen. Kritisch wurden auch die Entwürfe kommentiert, die ein örtliches Kollektiv um den Architekten Gunārs Melbergs (*  1929, † 1999) für die Knotenpunkte, an denen die U-Bahn-Linien einander kreuzen sollten, vorgelegt hatte. Angeblich deuteten sich darin unnötig lange Fußwege für Umsteiger sowie eine völlige Außerachtlassung behindertengerechter Gestaltungsweisen an. Manche Skeptiker appellierten auch ganz einfach an die ökonomische Vernunft: Eine Bewirtschaftung mit Gewinn, wie Riga sie um die Wende zum 20. Jahrhundert bei Verkehrsträgern wie Straßenbahnen oder Dampfschiffen noch gekannt hatte, lag ein Jahrhundert später bei der potenziellen U-Bahn im Bereich der Utopie bzw. hätte nur dann annähernd erreicht werden können, wenn punktuelle Folgekosten – etwa durch größere Reparaturnotwendigkeiten oder durch Überschwemmungen – nie eingetreten wären. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass der U-Bahn-Bau bis auf eine von der Lettischen SSR zu übernehmende Restsumme, die maximal 20 Millionen Rubel betragen hätte, auf gesamtstaatlicher Ebene finanziert werden sollte. Ebenso wenig fielen die in Statistiken ausgewiesenen Fahrgastzahlen ins Gewicht, denen zufolge innerhalb der gesamten UdSSR die Bürger Rigas diejenigen waren, die ihre öffentlichen Verkehrsmittel am dritthäufigsten nutzten. Mit solchen Statistikwerten konnte höchstens dann gut argumentiert werden, wenn es für die Befürworter darum ging, Städte auszustechen, die in der Frage, wo die nächste sowjetische Metro entstehen würde, mit Riga konkurrierten. Während der Spätzeit der Sowjetunion waren dies vor allem Odessa und Omsk. In Rückblicken klingen inzwischen mitunter Zweifel an, ob die MetroPlanungen zum Zeitpunkt der Demonstrationen, die es gegen sie gab, aus Moskauer Sicht überhaupt noch auf der Agenda standen oder ob nicht vielRiga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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leicht nur die Stadtobrigkeit vor Ort diesen Anschein aufrechterhielt, da so stets suggeriert werden konnte, Riga sei der Zentralmacht in Moskau lieb und teuer und dürfe in dem U-Bahn-Projekt eine Art Gunstbeweis sehen. Als wichtiger Zeitzeuge versichert insbesondere der damalige Stadtarchitekt Gunārs Asaris (* 1934), nie habe ihm irgendeine Bestätigung vorgelegen, dass es nach den ersten Untersuchungen und Kostenschätzungen in den 1970er Jahren zu noch weiteren vorbereitenden Arbeiten im Bereich der projektierten Metro-Trassen gekommen wäre. Denkbar scheint demnach, dass das Vorhaben von Moskauer Seite bereits um 1980 stillschweigend aufgegeben wurde, als sich abzeichnete, um wie viel höher die Ausgaben für einen Kilometer U-Bahn in Riga im Vergleich zu den Durchschnittskosten pro Kilometer bei anderen sowjetischen Metro-Projekten ausfallen würden: Im weißrussischen Minsk beispielsweise, wo 1977 der Bau einer Metro begann, beliefen sie sich nur auf gut die Hälfte dessen, was bei Experten-Besuchen an der Düna veranschlagt worden war. Eine U-Bahn für die Metropole des Baltikums wäre somit absehbar – umgerechnet auf die Streckennetzlänge – zur kostspieligsten in der sowjetischen Geschichte geworden. Bei den Planungselementen, von denen nicht nur Asaris, sondern der gesamten interessierten Öffentlichkeit noch bis Ende der 1980er Jahre Entwurfsskizzen präsentiert wurden, handelte es sich bezeichnenderweise tatsächlich immer nur um diejenigen, für die zwecks Steigerung der Akzeptanz des Projekts von vornherein örtlichen Stellen die Zuständigkeit übertragen worden war. 1983 hatten Lettlands Architekten zum Beispiel die Gelegenheit, im Rahmen eines Wettbewerbs Einfallsreichtum hinsichtlich der möglichen Innengestaltung der geplanten Stationen an den Tag zu legen. Die mit Prunk überladenen Vorbilder in Moskau und dem damaligen Leningrad galt es dabei nicht zu kopieren; jedoch waren sie der beste Beweis, wie viele Möglichkeiten es gab, einer jeden U-Bahn-Station ein spezifisches Gesicht zu verleihen. 1988 war in der Auseinandersetzung mit dem Metro-Projekt ein Stadium erreicht, in dem nicht mehr nur – wie noch im Jahr zuvor – Tausende durch Unterschriften-Einsendungen ihre ablehnende Haltung bekannten, sondern der Protest sogar auf die Straße getragen wurde, und dies recht unvermittelt: Eine besonders aktive Gruppe von Metro-Gegnern, die für den 27.  April 1988 eine Kundgebung auf der Esplanade plante, wurde durchaus auch selbst von dem Umstand überrascht, dass hieraus ein Demonstrationszug erwuchs, wie Riga ihn seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Dass die Demonstration solche Ausmaße annahm, war nicht unwesentlich das Ergebnis eines kurzfristigen Verbots, tatsächlich die Esplanade für die vorgesehene Kundgebung zu nutzen. Ersatzweise lag eine Genehmigung vor, diese auf dem weniger zen246  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

tralen Areal des »Arkādijas parks« jenseits der Düna abzuhalten. Auf dem Weg dorthin erregten die Demonstranten daraufhin aber erst recht das Aufsehen, das hatte unterbunden werden sollen, so dass sich ihnen spontan immer mehr Menschen anschlossen. Als der Protestzug nach Durchquerung des Stadtkerns schließlich das zugewiesene Gelände auf dem jenseitigen Flussufer erreichte, bestand er infolgedessen aus über 10000 Teilnehmern. Die letzten Jahre der Sowjetunion aus Rigaer Sicht

Der 1988 von den Metro-Gegnern angesteuerte »Arkādijas parks« mit seiner Freilichtbühne wurde im weiteren Verlauf der Jahre 1988 und 1989 vor allem zum Treffpunkt für öffentliche Versammlungen des im Februar 1987 gegründeten Naturschutzclubs (lett. »Vides aizsardzības klubs«, VAK) unter dem Vorsitz von Arvīds Ulme (* 1947). Geht man von einer Assoziierbarkeit bestimmter Örtlichkeiten in der Stadt mit jeweils einem bestimmten der damaligen Aktionsbündnisse aus, so wurde mit dem Freiheitsdenkmal derweil am stärksten die 1986 von drei Arbeitern aus Liepāja gegründete Menschenrechtsgruppe »Helsinki 86« in Verbindung gebracht. Diese wagte hier bereits 1987 am 14. Juni, dem Jahrestag der Deportationen von 1941, eine Blumenniederlegung in Erinnerung an die damaligen Opfer. Ein wenig wurde durch diesen 14. Juni 1987 allerdings auch der Basteiberg zu einem mit »Helsinki 86« assoziierbaren Ort; denn auf ihm mussten die mehreren hundert Personen, die dem durch Mundpropaganda sowie mit Hilfe von »Radio Free Europe« lancierten Aufruf zu der Blumenniederlegung gefolgt waren, zunächst ausharren, bis auf dem Denkmal-Vorplatz am späten Nachmittag ein Kinderfest endete, das die Staatsmacht in aller Eile organisiert hatte, um das Vorhaben von »Helsinki 86« zu erschweren. Als effektiv erwiesen sich in dieser Hinsicht dann selbst in den Abendstunden noch die für das Fest aufgebauten Lautsprecher: Sie wurden nun dazu benutzt, möglichst viel von dem, was am Fuß des Denkmals gesungen und verlesen wurde, zu übertönen. Die Versammlung löste sich daraufhin erst gegen Mitternacht auf. »Helsinki 86« erklärte in verschiedenen Stellungnahmen, das Freiheitsdenkmal sei nur deswegen Anlaufpunkt für Aktionen im Angedenken an die Opfer des stalinistischen Terrors, weil es für Letztere kein gesondertes Monument gebe: Das eigentliche Ziel müsse darin bestehen, den Terroropfern der 1940er Jahre ein eigenes Denkmal zu setzen. In der Folgezeit erklärten führende lettische Kommunisten diese Forderung für durchaus legitim, Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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sorgten aber gleichzeitig dafür, dass einzelne Mitglieder von »Helsinki 86« unter Vorwänden verhaftet oder sogar ins westliche Ausland abgeschoben wurden. Dessen ungeachtet organisierte die Gruppe für den 23. August 1987 erstmals eine Demonstration gegen den genau 48 Jahre zuvor geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt und gegen die Tatsache, dass die UdSSR auch nach 48 Jahren immer noch leugnete, dass mit dem Deutschen Reich seinerzeit geheime Zusatzvereinbarungen getroffen worden waren. Die Gruppenmitglieder selbst wurden daraufhin am Morgen dieses Augusttages, soweit es ihnen überhaupt geglückt war, bis ins Zentrum Rigas zu gelangen, in eine Wohnung abgedrängt und dort festgesetzt – womit jedoch nicht verhindert werden konnte, dass die angekündigte Demonstration tatsächlich stattfand. Da sie nicht gänzlich gewaltfrei verlief, kam es zu etlichen Verhaftungen. Schätzungen der Gesamtteilnehmerzahl beliefen sich auf 5000. Für den 18. November desselben Jahres bereitete »Helsinki 86« eine Feier aus Anlass des Unabhängigkeitstages der Republik Lettland vor. Um Mittel und Wege zur Eindämmung der Teilnehmerzahl bemüht, regten die Behörden diesmal an, möglichst viele Schulausflüge an dem betreffenden Tag veranstalten zu lassen, um so zumindest jüngere Leute aus der Stadt und damit zugleich von der erwarteten Demonstration fern zu halten. Die Staatsmacht beließ es jedoch nicht bei derartigen Vorkehrungen, sondern riegelte an diesem 18. November 1987 den Bereich um das Freiheitsdenkmal mit einigem Erfolg ab, so dass potenzielle Demonstranten auf andere Örtlichkeiten verwiesen waren und selbst dort wenig Bewegungsspielraum bekamen. Als nächster historischer Stichtag rückte der 25. März ins Blickfeld, an dem sich die Deportationen von 1949 jährten. Da ein Erinnern an die Opfer mit dem durch Gorbatschows Reformen gestifteten neuen Geist in der Sowjetunion durchaus vereinbar war, ging es aus Sicht der Staatsmacht nun hauptsächlich darum, »Helsinki 86« die Initiative zu einem solchen Erinnern zu entreißen und zum Ort des Erinnerns nicht wieder das Freiheitsdenkmal werden zu lassen. Beides gelang ihr letztlich nur mit Einschränkungen. Keine fünf Wochen später wurde dann durch die bereits geschilderte Anti-Metro-Demonstration eine neue Dimension des Protests erreicht; und ebenfalls im April erregte das Begräbnis des Dissidenten Gunārs Astra (* 1931, † 1988) Aufsehen, der erst im Januar 1988 amnestiert und Anfang Februar aus dem Gefängnis entlassen worden war. Dass es für den 14. Juni einen erneuten Demonstrationsaufruf von »Helsinki 86« geben würde, stand beinahe schon außer Frage. Kontraste zu dem Anblick ein Jahr zuvor ergaben sich an besagtem Tag zum einen durch 248  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

eine zigfach größere Beteiligung sowie zum anderen dadurch, dass auf Rigaer Straßen zum ersten Mal nach viereinhalb Jahrzehnten wieder lettische Flaggen geschwenkt wurden. Die Sicherheitskräfte traten dennoch zurückhaltend auf, was dem lettischen Fernsehen eine geplante Berichterstattung über den Demonstrationszug erleichterte. Da dieser darin als Aktion zur Unterstützung des politischen Kurses Gorbatschows ausgegeben werden sollte, wurden die Fernsehbilder so zusammengestellt, dass von den Flaggen nichts zu sehen war. Der 21. Juli, eigentlich Bestandteil eines sowjetkonformen und nicht eines sowjetkritischen Gedenktage-Kalenders, wurde in jenem Sommer 1988 dazu umfunktioniert, für die Wiedereinführung der lettischen Flagge zu demonstrieren. Knapp dreieinhalb Monate später wehte diese ein erstes Mal wieder auf einem der Türme des Rigaer Schlosses – auch wenn die offizielle Rückkehr zu den alten Staatssymbolen erst 1990 verfügt wurde. Beinahe wie selbstverständlich versammelten sich am 18. November 1988 daraufhin bereits unzählige Menschen rund um das Freiheitsdenkmal: Spätestens seit am 23. August 1988 ebenso ungehindert hatte demonstriert werden können wie zuvor am 14. Juni, rechnete kaum noch jemand mit Behinderungen durch die Sicherheitsorgane. Internationale Aufmerksamkeit für die Ereignisse der »Singenden Revolution«, wie sie seit dem Frühsommer 1989 zunächst vor allem in Estland genannt wurde, entstand durch die am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, formierte Menschenkette von Vilnius über Riga bis Tallinn. Auch für sie wurde innerhalb Rigas eine Verlaufsstrecke gewählt, die das Freiheitsdenkmal in die Aktion einbezog. Dichter und höher als je zuvor war dessen nähere Umgebung an diesem Tag mit Blumen übersät. An normalen Tagen befand es sich hingegen auch 1989 immer noch inmitten lebhaften Verkehrsgeschehens – ein Ärgernis, das im Februar sogar selbst zum Anlass für Protestaktionen genommen wurde, da ja längst Klarheit darüber bestand, wie sehr der viele Verkehr dem Denkmal schadete. Das politische Umfeld hatte sich mittlerweile durch die Gründung der Volksfront (lett. Tautas fronte) am 8. Oktober 1988 – einer Sammelbewegung des Reform-Lagers, wie sie damals in allen drei baltischen Republiken in vergleichbarer Art aufkam – stark verändert. Anfangs gingen innerhalb der Volksfront viele noch davon aus, auf eine Autonomie Lettlands unter dem Dach der Sowjetunion hinzuarbeiten; dieser Gedanke wich 1989 jedoch zusehends der Forderung nach einem vollauf unabhängigen Staat, die später zum Sieg der Volksfront bei den Wahlen zum Obersten Sowjet der Lettischen SSR am 18. März 1990 führte. 1988 war mit entsprechenden Riga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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Forderungen bereits die Organisation und spätere Partei LNNK (»Latvijas nationālās neatkarības kustība«, wörtlich: »Bewegung der nationalen Unabhängigkeit Lettlands«) in Erscheinung getreten. Zu ihren Gründern gehörte der einstige Nationalkommunist Eduards Berklavs, dem nach seiner Rückkehr aus Vladimir 1968 jede politische Betätigung untersagt worden war. Um nicht tatsächlich mundtot zu sein, hatte Berklavs sich in den Folgejahren immer wieder brieflich an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Lettischen SSR gewandt, was schließlich – obwohl er mitunter nicht einmal seinen Namen genannt oder nicht einmal mit eigener Hand geschrieben hatte – aufgeflogen war und zu einer Anklage geführt hatte. Zur Einstellung des Verfahrens war es dann offenbar nur deshalb gekommen, weil Gorbatschow zu jener Zeit Wert darauf legte, auf internationalem Parkett behaupten zu können, in der Sowjetunion herrsche Meinungsfreiheit. Schwierigkeiten, gegenüber dem Westen sein Gesicht zu wahren, ergaben sich für Gorbatschow später ausgerechnet im Vorfeld seiner Wahl zum Präsidenten der UdSSR, nachdem Litauen am 11. März 1990 seine vollständige Unabhängigkeit erklärt hatte. Von den Volksfronten Estlands und Lettlands hätten nach den Wahlsiegen, die sie eine Woche darauf errangen, gleichartige Unabhängigkeitserklärungen erwartet werden können; sie beließen es jedoch dabei, am 30. März respektive 4. Mai einen Übergangszeitraum auszurufen und die völlige Unabhängigkeit als dessen anvisierten Endpunkt zu bezeichnen. Estland und Lettland blieben damit harte Zwangsmaßnahmen erspart, wie Litauen sie ab Mitte April 1990 in Form einer Energie-Blockade durchstehen musste. Gorbatschow reagierte stattdessen zunächst nur, indem er ihre Proklamationen von März und Mai per Dekret für ungültig erklärte. Wie viel Nervosität die auf Unabhängigkeit gerichtete Politik der baltischen Republiken in Moskau hervorrief, zeigte sich aber umso deutlicher, als man dort ab Herbst 1990 nicht mehr durch Gespräche zur Wiedervereinigung Deutschlands abgelenkt war. Ihren traurigen Höhepunkt fand die weitere Entwicklung, zu der in der Hauptstadt Lettlands auch eine Reihe nächtlicher Explosionen im Dezember gehörte, zuletzt in den »Blutsonntagen« von Vilnius und Riga: In der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 1991, genau eine Woche nach der Erstürmung des Fernsehzentrums in Vilnius, die infolge eines rücksichtslosen Einsatzes von Panzern insgesamt 14 Menschenleben gekostet hatte und deretwegen sogar noch an jenem 20. Januar Abertausende russischer Demonstranten Transparente mit Aufschriften wie »Hände weg von Litauen« durch Moskau trugen, wurde in Riga das lettische Innenministerium Ziel eines nicht minder brutalen Gewaltakts. Inwieweit die dafür verantwortlichen 250  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

OMON-Truppen – Spezialeinheiten unter dem Dach des sowjetischen Innenministeriums – mit dem grundsätzlichen Einverständnis Gorbatschows handelten, liegt bis heute im Dunkeln. Wahrscheinlich ist jedoch, dass der Staatspräsident sehr wohl unterrichtet war und lediglich annahm, die Einheiten würden noch einmal ähnlich unblutig vorgehen wie bei einem bereits erfolgten Zugriff auf Rigas Pressehaus im November 1990. Der lettische Filmemacher Juris Podnieks (* 1950, † 1992) hatte am 13. und 14. Januar 1991 schon die Ereignisse in Vilnius, wohin er zwecks Vorstellung seines Films »Homeland« eingeladen worden war, hautnah miterlebt und erkannte deshalb sofort, welchen dokumentarischen Wert Aufnahmen von der Aktion gegen das Rigaer Innenministerium haben würden. Für die Fortsetzung zu »Homeland«, an der er damals noch feilte, konnte Podnieks das, was er in jener Nacht filmisch einfing, später in der Tat verwenden – allerdings um den Preis, dass zwei seiner engsten Mitarbeiter sich im Kugelfeuer der OMON-Truppen tödliche Verletzungen zuzogen: Der 1949 geborene Kameramann und Regisseur Andris Slapiņš, der im Zuge der Flucht des Filmteams in Richtung Basteiberg bereits dort verblutete, und Podnieks’ neun Jahre jüngerer Kameramann Gvido Zvaigzne, der nach zweieinhalb Wochen im Krankenhaus starb, waren die beiden prominentesten unter den insgesamt fünf damaligen Todesopfern von Riga. Slapiņš starb somit an genau dem Hügel, auf dem sich gut dreieinhalb Jahre zuvor die Gruppe »Helsinki 86« mit ihren Sympathisanten in Vorbereitung auf ihre erste öffentlichkeitswirksame Aktion versammelt hatte. Vielen, denen dies wie ein böses Omen vorkam, gaben die Ergebnisse der Referenden vom 3. März 1991 neuen Auftrieb: An diesem Tag sollte in Lettland wie auch in Estland ermittelt werden, zu wie viel Prozent die jeweilige Republikbevölkerung hinter der Idee der Unabhängigkeit stand. Mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 73,7 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 87,6 Prozent war der Ausgang der Befragung überraschend eindeutig, was bedeutete, dass keineswegs nur Letten für die Unabhängigkeit gestimmt hatten. Dies galt besonders auch in Riga mit seiner damals überwiegend nichtlettischen Bevölkerung. Zur Anerkennung der Unabhängigkeit durch das westliche Ausland sollte knapp sechs Monate später der so genannte Augustputsch gegen Gorbatschow führen. Für Lettland war es im Laufe dieser ereignisreichen Tage kaum mehr als eine Randnotiz wert, dass zu den Moskauer Verschwörern auch der 1990 zum Innenminister der UdSSR aufgestiegene Boris Pugo (* 1937, † 1991) zählte, der seine Parteikarriere großteils in Riga gemacht hatte, und dass Pugo sich den Konsequenzen des Scheiterns der Verschwörung durch Selbstmord entzog. Bitterkeit regte sich eher aufgrund der UnterRiga als Hauptstadt der Lettischen SSR 

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stützung der Putschisten durch Alfrēds Rubiks (* 1935), Rigas Bürgermeister der Jahre 1984–1990. Rubiks wurde hierfür 1995 zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt, allerdings schon 1997 wieder aus der Haft entlassen. 2009 zog er als Abgeordneter ins Europa-Parlament ein. Wie gut man sich in Riga Mitte 1991 auf Ereignisse wie diesen Umsturzversuch vorbereitet hatte, erscheint im Nachhinein beinahe gespenstisch. Die Jēkaba iela ( Jakobstraße) war damals beidseitig durch Betonblöcke abgeriegelt, um Fahrzeugen jeglicher Art den Weg zum Republikparlament zu verwehren. Auch nachdem am 6. September 1991 die zum Jahresende 1991 als Staatswesen zu Grabe getragene Sowjetunion die drei baltischen Republiken aus ihrem Verband entlassen und damit de facto als unabhängig anerkannt hatte, blieben diese Barrikaden noch längere Zeit an ihrem Platz. Rascher wieder verschwunden waren lediglich die zusätzlichen Panzersperren, die sich, zum Schutz beispielsweise des Radio-Gebäudes, in Straßenzügen der näheren Umgebung befunden hatten, damit potenzielle Militärfahrzeuge möglichst schon dort hätten aufgehalten werden können. Für die letzte und entscheidende Phase der nationalen Wiedergeburt wurden – in Lettland stärker als in Litauen oder Estland – die damaligen Barrikaden und Sperren zum zentralen Symbol. Ihren Bewachern ist seit 2001 ein spezielles Museum, das »1991. gada barikāžu muzejs« (»Museum der Barrikaden des Jahres 1991«), gewidmet. Es wird von einem teilweise aus diesen einstigen Bewachern bestehenden Verein betrieben und befindet sich in einem Haus an der Krāmu iela (Krämerstraße), in dem seinerzeit, während der Verteidigung der Barrikaden, heiße Getränke und sonstige Aufwärmmöglichkeiten bereitgehalten wurden. Zu besonderen Anlässen wird in Riga unterdessen auch gern mit größeren Installationen, als das kleine Museum sie bieten kann, an den Mut von damals erinnert – so zuletzt 2010, als über den gesamten Domplatz Stellwände mit Fotos aus den Jahren der »Singenden Revolution« verteilt waren. Sie sollten an die Erklärung vom 4. Mai 1990 erinnern, mit der nach lettischem Verständnis die neuerliche Unabhängigkeit ihren Anfang genommen hat.

2. Jahre des Neubeginns nach 1991 Eigentumsfragen, Rückschläge bei der Rettung des Bauerbes und andere unliebsame Themen

Dem Rechtsverständnis nach wurde Anfang der 1990er Jahre die Geschichte einer Republik Lettland fortgeschrieben, die 51 Jahre lang okkupiert ge252  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

wesen, jedoch völkerrechtlich nie untergegangen war. Was den in diesem Kontext eingeleiteten Privatisierungsprozess anbetrifft, liegt einerseits die Vermutung nahe, dieser sei der schwierigste massenhafte Eigentümerwechsel gewesen, den Riga in seiner Geschichte erlebt hat: Erfahrungen mit Eigentumsumschichtungen in großem Maßstab hatte man zwar schon um 1920 im Gefolge der damaligen Agrarreform ein erstes Mal gesammelt; bei dieser einen großen Veränderung im Bereich des Grund- und Immobilienbesitzes war es aber nun einmal nicht geblieben. Andererseits ließe sich angesichts der Stringenz, mit der 1991 die Rechtszustände von Mitte 1940 zugrunde gelegt wurden, ebenso gut behaupten, bei der Privatisierung ab 1991 habe es sich sogar um einen vergleichsweise einfach angelegten Umschichtungsvorgang gehandelt. Komplikationen bereiteten höchstens Objekte, die erst nach 1940 entstanden waren, also zum Beispiel der Flughafen, bei dem sich die Frage stellte, inwieweit hier der Firma »Aeroflot« Eigentumsrechte zustanden. Gelöst wurde das Problem in diesem Fall durch eine Aufteilung der lettischen »Aeroflot«-Filiale in mehrere Einzelfirmen. Ein exemplarischer Eindruck von der Art der Entscheidungen, die im Anschluss an die Wiederherstellung der Unabhängigkeit zu fällen waren, ergibt sich, wenn man auf einige bekannte Rigaer Kirchengebäude blickt. Die erforderlichen Abwicklungen verliefen hier nicht etwa umso konfliktreicher, je stärker ein Gebäude zwischenzeitlich zweckentfremdet worden war: Die um 1880 errichtete orthodoxe Christi-Geburt-Kathedrale beispielsweise war in den 1960er Jahren zu einem »Haus des Wissens« erklärt, im oberen Teil in ein Planetarium umgewandelt und in einem seitlichen Altarbereich mit einem Café ausgestattet worden, das der Volksmund hintersinnig »Ohr Gottes« nannte. Seit in ihr Mitte 1991 erstmals nach knapp drei Jahrzehnten wieder Glaubensausübung möglich war, schien ihr heutiger Status als »Kathedrale des Bischofs für Riga und ganz Lettland« zu keinem Zeitpunkt mehr strittig. Konkurrierende Interessen stießen hingegen besonders bei Kirchen im Gebiet der Altstadt aufeinander. In der Petrikirche fand am 29. Juni 1991, auf den Tag genau 50 Jahre nach ihrer weitgehenden Zerstörung, zum ersten Mal wieder ein Gottesdienst statt. Eine Vorentscheidung darüber, wem die Besitzrechte an St. Petri als Gebäude zustehen, bedeutete dies allerdings noch lange nicht. Die heiß diskutierte Frage, ob das ehrwürdige Bauwerk aus dem Besitz des Staates in den der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands übergehen sollte, blieb der Stadtöffentlichkeit vielmehr als ein Thema auch des 21. Jahrhunderts erhalten; denn da die Gemeinschaft deutscher evangelisch-lutherischer Gemeinden, in deren Händen sich die Petrikirche bis 1939 befand, der evangelischJahre des Neubeginns nach 1991 

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lutherischen Kirche Lettlands nicht untergeordnet war, kann Letztere keine Ansprüche als etwaige Rechtsnachfolgerin geltend machen. Ein Gesetz von 1992 über die Rückgabe ehemals kirchlichen Besitzes an die Organisationen der Religionsgemeinschaften ist auf diesen Fall somit nicht anwendbar. Ein zu dem Gesetz von 1992 getroffener Kabinettsbeschluss bezüglich einer möglichen Nichtrückgabe von Baudenkmälern, die für den Staat von besonderer Bedeutung sind, hätte bewirken können, dass der evangelischlutherischen Kirche Lettlands auch der Dom vorenthalten geblieben wäre, obwohl die kirchliche Seite sich in diesem Fall in einer etwas günstigeren Ausgangsposition befand. Der Eindeutigkeit halber wurden deshalb für den Dom nach und nach mehrere Sondergesetze verabschiedet, welche die evangelisch-lutherische Kirche als rechtmäßige Eigentümerin bestätigten. Zugunsten der evangelisch-lutherischen Kirche wurde auch die Frage des Besitzrechtes an der Reformierten Kirche in der Mārstaļu iela (Marstallstraße) entschieden, obwohl es im heutigen Riga ebenso eine reformierte Gemeinde gibt und auch diese den Bau für sich reklamierte. Als maßgeblich galt allein die Rechtssituation im Jahr 1940, unabhängig davon, wie die Tatsache zu bewerten sein mochte, dass der Staat das Kirchengebäude vor diesem Stichjahr in die Hände der Lutheraner gegeben hatte. Den Reformierten erschien dieser Ausgang Anfang der 1990er Jahre beinahe ebenso unbefriedigend wie das Schicksal, das ihrem einstigen Gotteshaus zuvor – gegen Ende der Sowjetzeit – beschieden war, als es zu einem Tonstudio umfunktioniert und damit offiziell zu einer Außenstelle der Schallplattenfirma »Melodija« wurde. Der evangelisch-lutherischen Kirche bleibt in diesem Fall immerhin ein gewisser Anlass zum Schmunzeln; denn nachdem ihr die Reformierte Kirche übertragen, gleichzeitig aber die Petrikirche vorenthalten wurde, gehört ihr statt des höchsten nun zumindest der schiefste Kirchturm der Stadt. Auch für kleine Museen, wie sie in der Sowjetzeit typischerweise in den Geburtshäusern oder zeitweiligen Wohnungen namhafter Persönlichkeiten eingerichtet wurden, konnte die Privatisierung der Gebäude, in denen sie sich befanden, potenziell das Aus bedeuten. So musste zum Beispiel ein erst 1987 zum 100. Geburtstag des Raketenbaupioniers Friedrich Zander geschaffenes Museum 2004/05 aus der Holzvilla im Stadtteil Šampēteris weichen, in der Zander seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Während die meisten Exponate daraufhin im Hauptgebäude der Universität einen neuen Ausstellungsplatz fanden, war bezüglich der unter Denkmalschutz stehenden Villa – ähnlich wie bei vielen Rigaer Immobilien, die um oder nach 2004 den Eigentümer wechselten – 2011 von einem Versteigerungstermin zu lesen.

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In der Marktwirtschaft genauso verloren wie in der Planwirtschaft? Rigas Holzarchitektur aus dem 19. Jahrhundert Wie ein Symbol dafür, dass nicht bei allen Fehlentwicklungen, die Ende der 1980er Jahre Protest ausgelöst hatten, unter den neuen Bedingungen bessere Ergebnisse erreichbar waren, konnte bereits 1994 der Abriss des ehemaligen Cafés »Flora« gedeutet werden. Mit dem zweigeschossigen Holzbau an der Brīvības iela (Freiheitsstraße) verband sich schon deshalb eine besondere Aura, weil Anfang 1838 in einem sehr ähnlichen Haus in unmittelbarer Nähe Richard Wagner eine Wohnung bezogen hatte. Als sich 1996 Enkelsohn Wolfgang Wagner (* 1919, † 2010) auf die Rigaer Spuren seines Großvaters begab, wäre man daher dankbar gewesen, wenn dem Gast aus Deutschland wenigstens dieses pittoreske Nachbargebäude noch hätte gezeigt werden können. Das Eckhaus selbst, in dem Richard Wagner gewohnt hatte, war kurz vor dem Ersten Weltkrieg abgerissen worden: Zu einer Zeit, zu der in der Stadt längst eine Wagner-Gesellschaft existierte und zu der das Bürgertum regelmäßige Aufführungen von Wagner-Opern bereits zu schätzen wusste, hatte es als eines der letzten von damals sehr vielen Vorstadt-Holzhäusern einem fünfstöckigen Neubau Platz machen müssen. Sein Verschwinden bleibt insofern ein deutliches Indiz dafür, dass auch die sonstigen Reste von Rigas Holzbautenbestand – die sich 1997 als ein wesentlicher Grund für die Anerkennung des gesamten Stadtzentrums als UNESCO-Weltkulturerbe erweisen sollten – unwiederbringlich verloren gegangen wären, wenn der Erste Weltkrieg ein Jahrzehnt später begonnen oder überhaupt nicht stattgefunden hätte. Zwar setzte sich die Dezimierung dieses Teils des lokalen Bauerbes de facto auch in den 1920er und 1930er sowie in den 1950er bis 1980er Jahren weiter fort, jedoch nie wieder in demselben Tempo wie vor 1914. Nach 1990 hätte sie dann eigentlich ganz zum Stillstand gebracht werden sollen; doch wie sich inzwischen abzeichnet, konnte ihr nicht einmal der UNESCO-Schutz einen endgültigen Riegel vorschieben. Eine Mitschuld am Scheitern der Rettung des Cafés »Flora« muss sich rückblickend die zuständige Denkmalschutzbehörde nachsagen lassen, da sie dem als möglicher Investor aufgetretenen Landwirtschaftskollektiv »Iecava«, dessen Konzept eine Wiederbelebung des Gebäudes und seines Hinterhofs durch Geschäfte und Hotelzimmer vorsah, allzu strikte Auflagen gemacht hatte. Parallel dazu hatte sich die finanzielle Lage bei »Iecava« massiv verschlechtert, so dass der Ruin des Investors letztlich auch das Schicksal eines der damals ältesten Rigaer Holzbauten besiegelte. Besucher aus dem deutschsprachigen Raum könnten dies sogar im Zusammenhang mit Heinz Erhardt (* 1909, † 1979), dem vermutlich bekanntesten in Riga geborenen Deutschen des 20. Jahrhunderts, bedauerlich finden; denn ehe Erhardt 1938 nach Berlin übersiedelte und dort den Grundstein seiner späteren Schauspielkarriere legte, arbeitete er ganz in der Nähe des »Flora« in der Musikalienhandlung seines Großvaters Paul Neldner (* 1852, † 1929). Dieser wiederum war um 1900 einer der erfolgreichsten Musikverleger des Zarenreichs gewesen.

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Kulturtouristen, deren Interesse an der Stadt durch prominente Sympathieträger wie Erhardt vielleicht noch gestärkt werden mag, sind die tendenziell wichtigsten, nicht jedoch die einzigen Riga-Reisenden des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Ähnlich wie andere ostmitteleuropäische Metropolen musste Lettlands Hauptstadt sich während der 1990er Jahre daher zum Beispiel auch auf eine zunehmende Sichtbarkeit des Phänomens Prostitution einrichten. Die Klärung möglichen Handlungsbedarfs schob es dabei – ebenfalls ähnlich wie andere Metropolen – eher widerwillig vor sich her, auch wenn dieser nicht mehr in derselben Weise klein geredet wurde wie gegen Ende der Zarenzeit, als die Wahrnehmbarkeit im Straßenbild schon einmal vergleichbare Ausmaße angenommen hatte: Anwohner der heutigen Avotu iela bzw. früheren Sprenkstraße, die 1911 eine Eingabe an die Stadtverwaltung machten und darin um eine Umbenennung ihrer durch käufliche Liebe in Verruf geratenen Straße baten, sollen seinerzeit die Antwort erhalten haben, eine Beseitigung des von ihnen beklagten Problems sei vermutlich schneller erreichbar als die eventuelle Gewöhnung aller betroffenen Bürger an einen neuen Straßennamen. Ein knappes Jahrhundert später pflegt die Stadt Riga zumindest partiell einen etwas offensiveren Umgang mit dem Thema Prostitution – begleitet von der Erkenntnis, dass es immer noch mit den gleichen Stadtvierteln assoziiert wird. Sie stützt sich dabei nicht nur auf Ergebnisse von Umfragen, sondern hat auch selbst schon zum Mittel der Bevölkerungsbefragung gegriffen. Konkret sah sie sich hierzu 1998/99 durch eine staatliche Vorgabe zur Eingrenzung der Prostitution veranlasst und wollte daraufhin ermitteln, ob eine Beschränkung der Zulässigkeit von Prostitution auf bestimmte Straßen mehrheitlich befürwortet wird. Dies war klar der Fall. Die Zusatzfrage, ob es Straßen gibt, die den Rigensern in diesem Zusammenhang besonders geeignet erscheinen, führte zu einer gelegentlichen Nennung der Ausfallstraßen entlang der Düna. Auffallend häufig wurde jedoch vor allem die Aleksandra Čaka iela genannt – der an der Mündung der Avotu iela beginnende Abschnitt der einstigen Marienstraße. Was die weiteren Entwicklungen hinsichtlich des noch immer kaum eingedämmten Prostitutionsgeschehens betrifft, lässt sich vorwegnehmen, dass es später, in Rigas ersten Jahren als Hauptstadt eines EU-Landes, immer öfter in einem Atemzug mit einem anderen Thema genannt wurde, das seinerseits deutlich höhere Wellen schlug: Neben Warschau, Belgrad oder Bukarest hat inzwischen nämlich auch die Hauptstadt Lettlands sich den Ruf zugezogen, viele ertrügen hier die allgegenwärtige Prostitution mit weitaus größerer Gelassenheit als die jährliche Durchführung einer Homosexuellenparade. Die seit 2005 veranstalteten Rigaer Christopher Street Days stellten das sonst 256  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

so einhellige Bekenntnis zur Meinungsfreiheit auf scheinbar harte Bewährungsproben. Die Parade des Jahres 2006 beispielsweise wurde kurzerhand verboten – aufgrund von Sicherheitsbedenken, wie es hieß. Erst im Nachhinein erging ein Gerichtsurteil, das dieses Verbot für rechtswidrig erklärte. Lettische Politiker empfahlen daraufhin für die Folgejahre den von einem Zaun umgebenen Wöhrmannschen Garten als Veranstaltungsort, da dieser Zaun angeblich eine Minimierung der Sicherheitsrisiken ermöglichte. 2009 sorgte der Stadtrat wiederum mit einem generellen Verbot für Schlagzeilen, das einen Tag vor dem geplanten Christopher Street Day jedoch vom zuständigen Verwaltungsgericht aufgehoben wurde. Die ausländische Presse vermied es weitgehend, in diesem Zusammenhang mit dem Finger auf Riga zu zeigen – anders als in den 1990er Jahren bei einer nicht minder sensiblen Frage: Damals litt das Image der Stadt im westlichen Ausland ein wenig darunter, dass zum Lieblingsthema einiger Journalisten das angeblich erbarmungslose Auftreten einer vermeintlichen »Sprachpolizei« avancierte, die die Lettischkenntnisse der hinter den Ständen und Theken des Zentralmarkts tätigen älteren Russinnen überprüfte. Rückverweise auf die Sprachenpolitik der Sowjetzeit kamen in einschlägigen Berichten hierüber meist nicht vor. Wie aufgeladen die Stimmung zwischen Letten und Russen seinerzeit war, illustriert auch mancher Vorgang, den eine Stadtgeschichte wohl nur en passant aufgreifen sollte, um die Verantwortlichen nicht unverdient aufzuwerten. Dies gilt zum Beispiel in Bezug auf einen Sprengstoff-Anschlag auf das sowjetische Siegesdenkmal im »Siegespark« (lett. »Uzvaras parks«) Anfang Juni 1997, bei dem es sogar zwei Tote gab – allerdings unter den Tätern. Die Wiedererschaffung von Schwarzhäupterhaus   und Rathausplatz

Zur Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit gehörte um 1991 zunächst für viele Letten eine Herausstellung all dessen, was der vorangegangenen Fremdherrschaftszeit bis 1918, so kritisch man diese 700 Jahre auch werten mochte, einen im Vergleich zur Sowjetzeit eindeutig positiveren Anstrich zu geben schien. Der Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses wurde gleichsam zum sichtbarsten Ausdruck einer entsprechenden Geschichtsauffassung. Als deren Sinnbilder konnten das Gebäude selbst und sein Untergang interpretiert werden: Für die Letten stellte das Schwarzhäupterhaus nicht im engeren Sinne ein Zeugnis ihrer eigenen Geschichte dar; Jahre des Neubeginns nach 1991 

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doch noch viel fremder war ihnen der Ungeist, der 1948 in der Vernichtung der Überreste dieses Bauwerks gipfelte. Die vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen beinahe reflexartige Rückwendung zu dem großteils deutschen Erbe, mit dem in diesem Fall so schmählich umgegangen worden war, manifestierte sich 1992 zunächst in der Gründung des Vereins »Domus Rigensis«. Dieser verschrieb sich einer intensiven Kontaktpflege zwischen Letten und Deutschbalten und legt noch immer einigen Wert auf die Feststellung, dass die Initiative hierzu von Letten ausging. Sie fußte auf Anregungen, die bereits Ende der 1980er Jahre artikuliert wurden, nachdem es dem Architekten Pēteris Blūms (* 1949) geglückt war, eine fachmännische Restaurierung des später zum Sitz von »Domus Rigensis« gewordenen Hauses an der Ecke von Kungu (Herren-) und Grēcinieku iela (Große Sünderstraße bzw. in sowjetischer Zeit Imanta Sudmaļa iela) durch die polnische Firma PKZ zu erwirken. Nach der einstigen Besitzerfamilie seitdem »Mentzendorffhaus« (lett. »Mencendorfa nams«) genannt, wurde das Gebäude auch im Inneren großteils so hergerichtet, wie es einem Rigaer Bürgerhaus des späten 17. Jahrhunderts entsprach. Musealer Charakter einerseits und andererseits der Zweck, Anlaufpunkt für deutschbaltisch-lettisches Miteinander zu sein, gingen hier somit eine bemerkenswerte Symbiose ein. Dass das Mentzendorffhaus – seinerseits ein Gebäude, das nie vollständig zerstört worden und insofern ein authentischer Ort geblieben war – sich derart sinnvoll mit Leben füllen ließ, machte eine Beantwortung der Frage, ob Ähnliches einen Steinwurf entfernt auch bei einem wiedererrichteten Schwarzhäupterhaus gelingen konnte, keineswegs leichter. Denn ähnlich wie in anderen Städten, in denen die Wiedererrichtung eines zerstörten Wahrzeichens zur Debatte stand oder noch steht, mangelte es auch in Riga nicht an Gegnern des Kopierens eines untergegangenen Originalbaus. Stärker als andernorts wurde hier das Für und Wider allerdings um die Argumentation bereichert, das zu rekonstruierende Baudenkmal stelle ein entscheidendes Element eines viel größeren Denkmals, nämlich des Altstadtensembles, dar; und eine Wiedereinfügung des in diesem Gesamtdenkmal fehlenden Elements, also des Schwarzhäupterhauses, sei ebenso legitim, wie es legitim gewesen sei, nach dem Zweiten Weltkrieg die Petrikirche durch ihren Turmhelm zu vervollständigen, der kriegsbedingt nicht mehr im Original existierte. Unterschwellig herrschte neben alldem auch das Empfinden vor, dass ein Wiederaufbau, der schon während der Sowjetzeit vielen als so wünschenswert galt, dass 1983 sogar gewagt wurde, ihn in einem Architekturmodell der Altstadt unkommentiert mit anzudeuten, nicht ohne triftigen Grund plötzlich verworfen werden konnte. Vielmehr eignete er sich als Symbol für die Über258  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

windung aller politischen Hindernisse, die ihn zuvor hatten undurchführbar erscheinen lassen. Der Prozess seiner Popularisierung aber begann eben schon vor dem Systemwechsel – nämlich in der Phase, in der auch erste Gedanken an den später »Domus Rigensis« getauften Verein aufkamen. Angesichts der zahlreichen baulichen Veränderungen, die das Schwarzhäupterhaus im Laufe der Jahrhunderte erlebt hatte, war die bei fast jedem Rekonstruktionsprojekt aufkommende Frage, ob der Zustand zum Zeitpunkt der Zerstörung oder aber irgendein früherer, gleichsam idealtypischer Gebäudeanblick nachgeahmt werden soll, in Riga mit besonders viel Bedacht zu klären. Auch wenn einzelnen lettischen Architekten das Aussehen des Gebäudes um 1800 als Grundlage der Rekonstruktion sinnvoller erschien, setzte sich bei der abschließenden Entscheidung der historisch letzte und somit am genauesten durch Fotografien dokumentierte Originalzustand durch. Während ab 1996 der Rohbau des neuen Schwarzhäupterhauses bereits über die Bauzäune emporwuchs, liefen ambitionierte Architektenwettbewerbe zur Gestaltung des übrigen Rathausplatzes und der westlich angrenzenden Fläche bis zum Düna-Ufer an. Die Ergebnisse, die sie hervorbrachten, erwiesen sich jedoch als kaum verwertbar. Am abstrusesten erschien die Idee, die 1938 in diesem Bereich abgerissenen Viertel historisierend wiedererstehen zu lassen, sie mit an Stadtmauertürme erinnernden Ecktürmen zu versehen und einen solchen Gesamtkomplex als Hotel zu nutzen. Was das seit November 2003 wieder in Funktion befindliche Rathaus betrifft, so war es die städtische Selbstverwaltung, die dessen Wiedererrichtung durchsetzte. Das Recht, in dieser Hinsicht vollendete Tatsachen zu schaffen, statt den Planungsprozess für die Umgebung des Platzes weiter abzuwarten, sprach sie sich unter Verweis auf ihren eigenen Bedarf an Büroflächen zu: Dieser verschärfte sich im Laufe der 1990er Jahre, da sie ein von ihr genutztes Gebäude an der Krišjāņa Valdemāra iela an das Außenministerium übergeben sollte. Mit der bisherigen und vermutlich dauerhaften Wirkungslosigkeit ihres am 16. Februar 1999 gefassten Abrissbeschlusses für das Gebäude des Okkupationsmuseums, den ungeliebten Nachbarn des Schwarzhäupterhauses, scheint die Stadt sich unterdessen arrangiert zu haben. Interessanterweise waren nie Bestrebungen zu erkennen, über das Schicksal eines solchen Gebäudes ein offizielles – wenn auch vielleicht nicht bindendes – Bevölkerungsvotum einzuholen. Unabhängig von Abrissplänen für das zum Okkupationsmuseum gemachte einstige Schützenmuseum wurde stets von einer Art Bleiberecht für das um 1970 in Verbindung mit dem Museumsbau konzipierte Denkmal ausgegangen, wobei nach dem Systemwechsel von 1991 natürlich nicht mehr von Jahre des Neubeginns nach 1991 

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einem Denkmal für die »roten« lettischen Schützen die Rede war, sondern jegliche politische Farbbezeichnung wegfiel. Als Teil des Umgangs der wieder unabhängigen Republik Lettland mit dem Schützendenkmal ist der Umstand zu verstehen, dass unmittelbar vor ihm in den 1990er Jahren die Endstationen von gleich drei Trolleybus-Linien angelegt wurden. Der neuen Verwaltung schien dies eine für jedermann deutbare und gerade deswegen sehr geeignete Reaktion auf die Geringschätzung zu sein, die in genau gleicher Weise die Sowjetadministration zuvor einem anderen Rigaer Gedächtnisort entgegengebracht hatte: Eine ganz ähnliche Konzentration von Trolleybus-Verkehr hatte es, gepaart mit einer Straßenbahn-Haltestelle, zwischen 1950 und 1990 im direkten Umfeld des lettischen Freiheitsdenkmals von 1935 gegeben. Rigas 800-Jahr-Feier und andere besondere Ereignisse

Um eine Wiederholung der Problematik von 1901, dass große Teile der Bevölkerung sich von geplanten Stadtjubiläumsfeierlichkeiten vorab kaum angesprochen fühlten, zu vermeiden und um anzudeuten, dass statt der deutschen Stadtgründung von 1201 beinahe ebenso gut die erste Erwähnung des Namens Riga als Bezugspunkt für eine Jubiläumsfeier in Betracht käme, wurde für die 800-Jahr-Feier von 2001 ein Konzept entwickelt, das bereits die Jahre ab 1998 einbezog. Jedem dieser Jahre wurde ein Motto zugeordnet, das – wie zum Beispiel die für 1999 gewählte Überschrift »Mūsu Rīga« (»Unser Riga«) – darauf abzielte, möglichst viele Bewohner implizit vor die Frage zu stellen, wie stark sie sich mit ihrer Stadt identifizieren. Den Auftakt der eigentlichen Feierlichkeiten flankierten vom 7. bis 10. Juni 2001 die 21. »Hansetage der Neuzeit«, mit deren Ausrichtung Riga dem Vorbild anderer einstiger Hansestädte folgte, die im Laufe der vorangegangenen beiden Jahrzehnte ebenfalls Stadtjubiläen und die Gastgeberrolle für die Hansetage des jeweiligen Jahres miteinander kombiniert hatten. In das Festwochenende wurde zugleich die Einweihung der Kopie einer Bronzestatue Bischof Alberts eingebettet, deren Original 1897 an der Südwand des Doms angebracht und 1915 zusammen mit vier Glocken des Doms ins Innere Russlands abtransportiert worden war: Nachdem seit 1996 Spendensammlungen für eine Nachbildung dieses verlorenen Denkmals stattgefunden hatten, woraufhin ein entsprechender Auftrag an drei lettische Künstler ergangen war, konnte die wiedererstandene Statue Alberts am 9. Juni 2001 als Geschenk der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft zum 800. Geburtstag der Stadt übergeben werden. Eine Wiederbeschaffung von etwas, das seit 260  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

dem Ersten Weltkrieg gefehlt hatte, erfolgte 2001 ferner für das südseitige Vordach am Turmhelm der Jakobikirche: Hier hatte zuvor achteinhalb Jahrzehnte hindurch keine Glocke mehr gehangen. Die traditionell »BlasiusGlocke« genannte Glocke von einst hieß im Volksmund auch »Armsünderglocke«, da es in ferner Vergangenheit angeblich üblich war, sie während der Vollstreckung von Todesurteilen zu läuten. Belege für eine derartige Praxis konnten jedoch nie gefunden werden. Für ein Happening ganz eigener Art sorgte Mitte August 2001 Evgenij Gomberg (* 1953), einer der finanzkräftigsten Geschäftsleute unter den Russen Rigas und rechtmäßiger Besitzer der 1910 eingeweihten Reiterfigur Peters des Großen, die Lettland nach einer 1934 vonseiten Estlands veranlassten Hebung des Schiffes, mit dem sie während des Ersten Weltkriegs untergegangen war, notgedrungen zurückgekauft hatte. Gomberg ließ sie von seinem Privatgelände aus in den Kronvalds-Park vor das Gebäude der Hafenverwaltung transportieren – übrigens liegend, da andernfalls zahlreiche Trolleybus-Oberleitungen gefährdet gewesen wären – und wartete gespannt die Reaktionen der Schaulustigen ab. Während diese sich teils neugierig, teils aber auch ablehnend verhielten, brachten Politiker verschiedener Parteien ihre Empörung zum Ausdruck: Den Sozialdemokraten um Rigas damaligen Bürgermeister Gundars Bojārs (* 1967), der vorab über Gombergs Absichten informiert war, schlug der Vorwurf entgegen, sie seien trojanische Pferde im lettischen Staat, wenn sie Vertretern der russischen Minderheit derartige Aktionen ermöglichten. Im Hintergrund stand dabei, wenn auch nur indirekt angesprochen, die damalige Debatte um Erleichterungen im Einbürgerungsrecht für Lettland-Russen. Das überraschende Gastspiel Peters des Großen im öffentlichen Raum dauerte infolgedessen nur drei Tage – länger wollte kein politisch Verantwortlicher den wohlhabenden Denkmal-Besitzer gewähren lassen, da es sonst wohl zu einer noch stärkeren Erhitzung der Gemüter gekommen wäre. Nicht zurückgewiesen wurde unterdessen Gombergs Initiative, 2001 am Originalstandort nahe der östlichen Ecke der Esplanade eine Kopie des 1913 enthüllten und wenige Jahre später auf den Grund der Ostsee gesunkenen Denkmals für den russischen Feldherrn Michail Bogdanovič Barclay de Tolly (* 1761, † 1818) zu platzieren. Dass Gomberg auch hierbei zu großzügiger Finanzierungshilfe bereit war, überrascht wenig. Bemerkenswerter erscheint, dass er diese ebenso leistete, als bald darauf Rigas 1912 verstorbenes Stadthaupt George Armitstead durch ein Denkmal geehrt werden sollte. Dessen Einweihung nahm – wie im Zusammenhang mit Armitstead schon einmal erwähnt – im Oktober 2006 die britische Königin Elizabeth II. vor. Jahre des Neubeginns nach 1991 

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Das Denkmal Peters des Großen hat seinen bislang letzten Standort auf einem Parkplatz, der zum Grundstück Brīvības iela 223 gehört, gefunden. Gombergs Hoffnung, der 100. Geburtstag der Reiterskulptur 2010 könnte zum Anlass genommen werden, sie von dort in einen öffentlichen Bereich zurückkehren zu lassen, blieb unerfüllt. Einen von Gombergs privater Denkmalpolitik völlig unbeeinflussten Schritt stellte derweil die umfassende Restaurierung des Freiheitsdenkmals rechtzeitig zum Stadtjubiläumsjahr 2001 dar. Mit ihr unterstrich der Staat, dass er zum Geburtstag seiner Hauptstadt nicht nur Geschenke wie die Statue Bischof Alberts entgegennehmen wollte, sondern dass es für ihn auch die zeitliche Nähe zwischen Hauptstadt-Geburtstag und zehntem Jahrestag der neuerlichen Unabhängigkeit Lettlands zu akzentuieren galt. Schäden, die auch nach der halbherzigen Restaurierung von 1980/81 geblieben waren, wurden nun umso gründlicher beseitigt. Wie viel Bedeutung dem Freiheitsdenkmal gerade unter Exilletten nach wie vor zukam, bewies sich dabei auf zweifache Weise: Dem Komitee, das im Vorfeld Spenden mobilisiert hatte, saß mit Raimonds Bulte (* 1925) ein Exilant vor, der 1992 erstmals nach Jahrzehnten wieder in sein Heimatland gereist war; und von den eingesammelten Spenden stammten immerhin zwei Drittel aus Exilkreisen. Als ein markantes Ereignis der Zeit nach der Jahrtausendwende sticht ferner die Einweihung des Denkmals für Kārlis Ulmanis hervor. Sie fand am 63. Jahrestag der Deportation des damaligen Staatspräsidenten aus Lettland statt; und resümiert man jenen 22. Juli 2003 im Wissen darum, wie Einweihungsakte zu Ulmanis’ eigener Zeit als Präsident typischerweise abliefen, so könnte man von einer Zeremonie ganz nach Ulmanis’ Geschmack sprechen. Nach einer Andacht im Dom zog das Festpublikum vormittags zunächst zum Schloss – und damit in einen Bereich, der für die Platzierung des Denkmals durchaus geeignet erschienen war, jetzt jedoch nur durch das feierliche Ablegen von Blumen Würdigung fand. Die Standortwahl war stattdessen auf eine Stelle unweit des Außenministeriums- und späteren Stadtratsgebäudes an der Krišjāņa Valdemāra iela gefallen, weil es hieß, hier habe Ulmanis sich weitaus öfter und lieber aufgehalten. Am zu enthüllenden Denkmal folgten schließlich Reden der Saeima-Vorsitzenden, des Ministerpräsidenten und des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften. Unter den Zuhörern befanden sich dabei auch drei Patensöhne Ulmanis’, von denen einer aus Australien und einer aus den USA angereist war. Der Tag endete mit einem abendlichen Konzert, zu dem alle geladen waren, die für das Denkmal gespendet hatten. Dank einer Vielzahl von Kleinstspenden konnten die Initiatoren eine Gesamtspendensumme von fast 75000 Lati vermelden, zu der, wie betont wurde, nicht nur Letten beigetragen hatten. Dass es ein solches Denkmal nunmehr 262  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

gab, regte zugleich ein wenig zum Schmunzeln an, da sich hartnäckig das Gerücht hält, einer der unverwirklicht gebliebenen Plätze, die in den 1930er Jahren für Riga geplant wurden, sei schon damals, also zu Ulmanis’ Lebzeiten, als Standort eines späteren Ulmanis-Denkmals gehandelt worden. Auch von den verschiedenen Staatsbesuchen, die Lettland seit 1991 auszurichten hatte, hinterließ manch einer seine ganz eigenen Spuren im Erscheinungsbild der Stadt. Im Vorfeld einer sechsstündigen Visite von USPräsident Bill Clinton im Juli 1994 beispielsweise wurden die Uniformen, die die Ehrenwachen vor dem Freiheitsdenkmal seit ihrer Wiedereinführung am 11. November 1992 getragen hatten, für zu martialisch befunden und durch etwas gefälligere ersetzt. Ende November 2006 schließlich gelangte Lettland als zweiter der sieben im März 2004 zu NATO-Mitgliedern gewordenen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas in die Gastgeberrolle für ein Gipfeltreffen des Verteidigungsbündnisses. Eilig wurde im Vorfeld manche Rigaer Örtlichkeit aufpoliert – offenbar in Sorge, der Stadt mangle es für das prestigeträchtige Ereignis an Glanz. Beiderseits der Kalnciema iela, der Hauptverbindungsstraße zwischen Flughafen und Stadtkern, ließ Präsidentin Vaira VīķeFreiberga (* 1937, 1999–2007 Staatspräsidentin Lettlands) überstürzt ein Ensemble zweigeschossiger Holzbauten frisch anstreichen, das so idealtypisch wie kaum ein anderer vergleichbarer Bebauungsrest die traditionelle Rigaer Vorstadtarchitektur repräsentiert. Das wenig fachgerechte Auftragen der für die empfindlichen Holzfassaden ungeeigneten Farben drohte den Häusern allerdings mehr zuzusetzen als die fünf Jahrzehnte Sowjetherrschaft, die sie mit viel Glück überdauert hatten, und löste einigen Schrecken bei Rigas Denkmalpflegern aus. Betrachtet man Randerscheinungen wie diese, so hatte die Stadt andere moderne Großereignisse schon mit weniger Nervosität überstanden – darunter zum Beispiel den in der Skonto-Halle ausgetragenen »Eurovision Song Contest« dreieinhalb Jahre zuvor.

3. Riga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 Wirtschaftskrise und Bevölkerungsschwund als Sorgen   der Gegenwart

Dass Lettland 2008 in eine schwere Wirtschaftskrise stürzte, auf deren Höhepunkt es nur durch massive Hilfen des Internationalen Währungsfonds, der EU und seiner skandinavischen Nachbarländer vor der ZahlungsunRiga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 

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fähigkeit bewahrt werden konnte, lässt sich beim Anblick der Hauptstadt höchstens durch genaueres Hinsehen wahrnehmen. Zumindest deren Zentrum bietet großteils weiterhin ein Abbild der vorangegangenen Boomphase im Anschluss an den EU-Beitritt. Den damaligen Aufschwung hatte eine nahezu uneingeschränkte Verfügbarkeit günstiger Kredite eingeleitet, für die skandinavische Banken und ihre Töchter im Baltikum, denen es um die Sicherung von Marktanteilen ging, gesorgt hatten. Wie sprunghaft daraufhin die Binnennachfrage anstieg, spiegeln diverse Shoppingcenter-Projekte wider, so etwa in Rigas Altstadt die Erweiterung des einstigen Armeewarenhauses aus den 1930er Jahren, dessen Verkaufsfläche neu aufgeteilt und auf einen Schlag mehr als verdoppelt wurde. Von der dabei erfolgten Beseitigung eines verspielten architektonischen Details, nämlich einer Imitation der Seufzerbrücke in Venedig, welche die (mittlerweile überbaute) Rīdzenes iela überbrückte, war an einer früheren Stelle dieses Buches schon die Rede. Neben größeren Vorhaben wie dem Kaufhaus-Ausbau stachen gerade in der Altstadt seinerzeit zudem allerlei bauliche An- und Einfügungen ins Auge, die als bloße Provisorien zur lediglich vorübergehenden Unterbringung von Ladenlokalen gedacht waren: Offenkundig versprach bei zentraler Lage selbst eine nur auf wenige Jahre angelegte Nutzung dieses oder jenes noch bebaubaren Quadratmeters verlockende Gewinnmargen. Regelrecht vertan wurde die Chance, mit dem ab 2004 ins Baltikum geflossenen Kapital Investitionen zugunsten exportorientierter Industrien zu tätigen, was eine längerfristige wirtschaftliche Stabilisierung der baltischen Staaten hätte bewirken können. Bis weit in das Jahr 2007 hinein schürte das von immer positiveren Zukunftserwartungen stimulierte Konsumverhalten stattdessen in erster Linie die Nachfrage nach Immobilien und beschwor damit eine letztlich unheilvolle Entwicklung herauf. Als tendenziell nachhaltigste Investition, zu der es im Riga jener Boomjahre kam, mag vor diesem Hintergrund die Errichtung einer Vielzahl neuer Hotels zu werten sein, auch wenn sie teilweise nur einem durch Billigfluglinien gesetzten Tourismus-Trend gehorchte. Zu ihren Folgen gehörte jedenfalls eine Arbeitskräfteverknappung im Bauwesen, und da erschwerend die Abwanderung vieler Arbeitskräfte ins Ausland hinzutrat, wurde in dieser wie auch in anderen Branchen eine spürbare Lohnanhebung bald unvermeidlich. Die höheren Löhne wiederum brachten Lettland noch stärker in Schieflage, weil mit ihnen auch die Lohnstückkosten auf ein ungesundes Niveau anstiegen. Als hieraus Wettbewerbsnachteile für die ohnehin wenigen exportintensiven Industriezweige resultierten, während die Importe nachfragebedingt weiter zunahmen, war es für die Banken endgültig an der Zeit, ihre Kreditvergabe264  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Praxis zu korrigieren. Der Boom erreichte damit – und zwar schon einige Monate vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise von 2008/09 – sein abruptes Ende. Das Szenario einer Bankenrettung auf dem Wege sukzessiver Verstaatlichung erlebte Lettland so bereits etwas früher als andere europäische Länder, nämlich ab Mitte 2008. Arbeitsplatzverluste ließen von da an nicht lange auf sich warten, wobei gerade der öffentliche Sektor – darunter Krankenhäuser, aber auch Institutionen wie die staatlichen Universitäten – hart getroffen wurde. Am deutlichsten war die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen wiederum am Beispiel der Baubranche zu erahnen; denn sah man sich innerhalb Rigas eben nicht nur im Stadtzentrum um, sondern zum Beispiel auch jenseits der Düna, so entdeckte man ab 2009 manche erst kurz zuvor in Angriff genommene Baustelle, auf der plötzlich Stillstand herrschte. Unterdessen hatte sich die zu Beginn des Jahrzehnts von vielen mit Sorge prophezeite Verwandlung des Kiepenholms (lett. Ķīpsala) in ein regelrechtes »In-Viertel« in einer zumindest aus Nostalgikersicht sehr wohltuenden Weise verlangsamt. Schilder, denen zufolge hier selbst an Stellen mit spektakulärem Altstadtblick noch manch altes Holzhaus zum Verkauf stand, kündeten indirekt jedoch vom Ernst der Lage. Dass die meisten damals unterbrochenen Bauarbeiten inzwischen doch noch zum Abschluss gelangt sind und dass vor allem das Prestigeprojekt der Nachwendezeit schlechthin – die gegenüber der Altstadt emporragende neue Nationalbibliothek – dank hinreichender Spendenbeiträge nicht mehr weiter aufgeschoben werden musste, mag als Signal, das neuerlichen Optimismus rechtfertigt, interpretierbar sein. Zweifel, ob die Talsohle überhaupt schon durchschritten ist, schwinden jedenfalls. Umso größere Besorgnis bereitet derweil die kontinuierlich negative Bevölkerungsentwicklung. Nimmt man den kurz nach Ende der Sowjetzeit gemessenen Spitzenwert von rund 900000 zum Ausgangspunkt, so hat Riga seitdem pro Jahrzehnt über 100000 Einwohner verloren: 2011 wurde laut Volkszählungsergebnis sogar die Marke von 660000 bereits unterschritten. Dieser Abwärtstrend ist, nachdem er während der ersten Jahre nach der politischen Wende zunächst durch ein gewisses Maß an Abwanderung von Russen, Weißrussen und Ukrainern seinen Anfang nahm, inzwischen vor allem mit der Attraktivität der Arbeitsmärkte anderer EU-Staaten sowie mit geringen Geburtenraten und einer kaum gestiegenen Lebenserwartung zu erklären. Die beengten Wohnverhältnisse gegen Ende der Sowjetzeit und der danach in Gang gekommene Anstieg der Mieten veranlassten in den 1990er Jahren sowie in den Boomjahren ab 2005 zudem manchen, der beruflich an Riga gebunden blieb, zu Riga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 

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einer Wohnsitzverlegung ins Umland. Wurde hieraus auch kein Massenphänomen, so waren diese Fälle doch zu zahlreich, als dass sie durch Wohnortwechsel in umgekehrter Richtung vollauf hätten kompensiert werden können. Von der Sorge der späten 1980er Jahre, Rigas Einwohnerzahl könnte in immer ungesündere Dimensionen ausufern und die Maßstäbe einer insgesamt kleinen Republik zusehends sprengen, sieht Lettland sich somit ein für alle Mal befreit – auch wenn weiterhin signifikant viele seiner Bürger Hauptstädter sind. Bei letzterer Aussage macht es inzwischen nur noch wenig Unterschied, ob man unter »Bürgern« tatsächliche Staatsbürger oder aber sämtliche Bewohner des Landes verstehen will; denn von den rund zwei Millionen Landesbewohnern verfügten 2011 immerhin bereits 83,5 Prozent über die lettische Staatsangehörigkeit. Innerhalb Rigas waren es 74 Prozent, so dass hier inzwischen ungefähr jeder zweite nichtlettische Einwohner die Staatsbürgerschaft erworben hat. In die Jahre gekommene Rigaer Wahrzeichen in neuen Rollen Das heutige Lebensgefühl in der schrumpfenden Metropole drückt sich nicht zuletzt in humorvollen, ganz dem Internet-Zeitalter entsprechenden Arten der Inszenierung mancher ihrer Wahrzeichen aus. »Milda« etwa, die Frauengestalt auf dem Freiheitsdenkmal, wurde 2010 zur Protagonistin eines Internet-Comics, der erzählt, wie auch sie nicht von der Wirtschaftskrise verschont bleibt, arbeitslos wird und dadurch erstmals Zeit hat, sich in Lettland umzusehen. In anderen Fällen gehen die Inszenierungen Hand in Hand mit kommerziellen Interessen, zum Beispiel mit denen der Schokoladenfirma »Laima«, die bestrebt ist, weiterhin von der Bekanntheit der im Volksmund seit 1936 nach ihr bzw. ihren Werbeaufschriften benannten Uhr zu profitieren, die den Weg von der Altstadt in Richtung Freiheitsdenkmal flankiert. Im Mai 2010 initiierte die Firma unter anderem einen offiziellen Rekord, indem sie 2500 Menschen mobilisierte und eine Minute lang Zärtlichkeiten austauschen ließ, wofür natürlich nur der Bereich rund um die Uhr als Örtlichkeit in Frage kam – Rigas beliebteste Stelle für den Beginn von Rendezvous, wie es nach wie vor heißt. Sieht man von derartigen Ausnahmeereignissen ab, so ist in den Augen junger Rigenser des 21. Jahrhunderts freilich kaum etwas so sehr aus der Mode gekommen wie Verabredungen an der Laima-Uhr. Und selbst die älteren Generationen, von denen sich die Jugend der Stadt auf diese Weise unterscheiden möchte, beobachten mittlerweile amüsiert, dass hauptsächlich Touristen diejenigen sind, die den vermeintlich so populären Brauch weiter pflegen. Unbeirrt setzt die Firma »Laima« jedoch ihre Gegenakzente: 2010 sponserte sie sogar eine Fernsehshow, die anderen Städten die Möglichkeit eröffnete, ebenfalls mit einer Laima-Uhr beschenkt zu werden – mit dem Ergebnis, dass eine solche seit 2012 auch auf

266  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

dem Bahnhofsvorplatz des 50 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Sigulda (Segewold) aufragt, das sich nun »Stadt der Liebe« nennen darf. Für die dortige Uhr wurde ein in die heutige Zeit passendes Design gewählt, wohingegen man das Original in Riga 1999 wieder exakt so gestalten ließ, wie es von 1936 an ausgesehen hatte. Zwischenzeitliche Veränderungen hatten sich hier unter anderem dadurch ergeben, dass während der sowjetischen Herrschaft auch Ankündigungen politischer Art an der Uhr angebracht wurden.

Kulturlandschaft und Bildungswesen als ideelle Reichtümer

Weltweit geläufig ist der Name Riga heute nicht zuletzt dank einer Reihe namhafter Musiker, die in der Stadt geboren wurden, darunter Mariss Jansons (* 1943), der 2003 beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie 2004 beim Amsterdamer Concertgebouw-Orchester die Position des Chefdirigenten antrat, ferner der Violinist Gidon Kremer (* 1947), der 1997 das aus jungen Instrumentalisten aus Estland, Lettland und Litauen bestehende Kammerorchester »Kremerata Baltica« gründete, sowie in noch jüngerer Zeit vor allem Andris Nelsons (* 1978, 2003–2007 Chefdirigent an der Lettischen Nationaloper), der 2007 vom City of Birmingham Symphony Orchestra als Chefdirigent verpflichtet wurde. Auch wenn Jansons die damalige Hauptstadt der Lettischen SSR bereits früh verließ, bleiben seine Spuren hier dank der Tatsache präsent, dass mitunter ein und dieselbe Wohnung mehrere prominente Bewohner nacheinander gehabt hat, ohne dazwischen sonderlich ummöbliert worden zu sein: Genau dort, wo der spätere Dirigent einen Teil seiner Kindheit verbrachte, zog nach der Familie Jansons Anfang 1951 der Schriftsteller Andrejs Upīts (* 1877, † 1970) ein; und zu dessen Ehren sind die Räumlichkeiten an der Ecke von Brīvības und Elizabetes iela seit 1974 als Museum zugänglich. Während für Jansons vor allem das damalige Leningrad und für Kremer gerade auch Moskau eine wichtige Ausbildungsstation war, zehrt von dem Karriereweg, den Nelsons einschlagen konnte, hauptsächlich das Renommee der »Jāzeps-Vītols-Musikakademie Lettlands«. Diesen etwas komplizierten Namen – auf Lettisch »Jāzepa Vītola Latvijas Muzikas akadēmija« – trägt das Ende 1919 geschaffene staatliche Konservatorium seit den 1990er Jahren im Gedenken an seinen Gründungsrektor, den Komponisten Jāzeps Vītols (* 1863, † 1948, 1919–1935 Rektor des Konservatoriums). Inzwischen ist an Rigas Musikakademie eine beachtliche Anzahl ausländischer Studierender anzutreffen, wozu sicher ebenfalls die Erfolge lettischer Musiker im Ausland beigetragen haben. Riga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 

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Neben dem Konservatorium kann auch Lettlands Kunstakademie auf eine bis 1919 zurückreichende Geschichte verweisen. Andere Differenzierungen im Hochschulwesen traten erst in jüngerer Vergangenheit ein: Aus einer bis 1990 als »Institut für Medizin« und dann als »Akademie für Medizin« bezeichneten Lehr- und Forschungsanstalt – dem Ergebnis einer Verselbständigung der medizinischen Fakultät der Universität seit dem Jahr 1950 – entwickelte sich 2002 eine dritte Rigaer Universität neben der »Universität Lettlands« und der Technischen Universität. Zur »Rigaer Technischen Universität« war 1990 das »Rigaer Polytechnische Institut«, das seit 1958 an die Tradition der gleichnamigen Institution der späten Zarenzeit angeknüpft hatte, erklärt worden. Die neue, dritte Universität führt den Namen »Rigaer Stradiņš-Universität« (lett. »Rīgas Stradiņa Universitāte«) und bietet nicht nur Ausbildungsmöglichkeiten in Medizin und Pharmazie, sondern auch in den Bereichen Europa-Studien, Rechtswissenschaft und Kommunikationswissenschaft. Statt nach einer Einzelperson ist sie nach einer ganzen Familie benannt, deren Mitglieder unterschiedlichste Wissenschaftsgebiete vertreten haben oder noch immer vertreten und allesamt Kinder oder Enkel des Chirurgen, Onkologen und Medizinhistorikers Pauls Stradiņš (* 1896, † 1958) sind. Über die drei Universitäten und die schon genannten Akademien hinaus bereichern den Hochschulstandort Riga diverse privat organisierte Lehreinrichtungen, darunter die »Riga Graduate School of Law«, eine 1998 gegründete Hochschule für Rechtswissenschaft. Dass neben öffentlich-rechtlichen auch private Einrichtungen wichtige Funktionen übernommen haben, gilt daneben für den Museumssektor und hier in besonderer Weise für das von auswärtigen Besuchern in früheren Jahrzehnten teilweise vermisste Holocaust-Gedenken. Wurde bis Ende der Sowjetzeit das unrühmlichste Kapitel der jüngeren Vergangenheit oft nur mit einer um den Begriff »Opfer des Faschismus« kreisenden Terminologie abgehandelt, so entstand eben doch bereits 1989 das Museum und Dokumentationszentrum »Ebreji Latvijā« (»Juden in Lettland«). Untergebracht ist es in einem 1925 und damit im Geburtsjahr seines Initiators, des Historikers Marģers Vestermanis, fertig gestellten Bau, der seinerzeit als jüdisches Vereins- und Theatergebäude dienen sollte. Es gehört inzwischen zu den nicht allzu zahlreichen privaten Museen, die in Lettland staatliche Akkreditierung genießen. Was die Holocaust-Gedenkkultur insgesamt betrifft, verdichteten sich 2001 durch den 60. Jahrestag des »Blutsonntags« von 1941 vor allem Impulse von außen und mündeten darin, dass an dem betreffenden November268  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

tag im Bereich des Erschießungsplatzes im Wald von Rumbula eine neue Gedenkstätte eingeweiht wurde, deren Elemente teilweise das Ergebnis von Initiativen der Heimatstädte der hier Ermordeten sind. Ein wichtiger Schritt hin zur Verstetigung und festen Verankerung von Holocaust-Gedenken im heutigen Riga kam schließlich noch hinzu, als Anfang Februar 2010 Rigas stellvertretendes Stadtoberhaupt Ainārs Šlesers (* 1970) und der eine Generation ältere Vorsitzende und Rabbi der örtlichen jüdischen Gemeinde eine Absichtserklärung zur Gründung eines Rigaer Ghetto-Museums unterzeichneten. Seit dessen Eröffnung kann nunmehr vermerkt werden, dass Lettlands Hauptstadt nach Warschau die zweite Stadt in der postsozialistischen Staatenwelt ist, die über ein derartiges Ghetto-Museum verfügt. Einen Baudenkmalpfleger mag ein solches Museum kaum darüber hinwegtrösten, dass das ehemalige Ghetto-Gebiet ein Stadtbereich ist, in dem der Verfall alter Bauten, darunter vieler hölzerner, besonders schnell und großteils irreparabel voranschreitet. Doch auch in der Altstadt sind einzelne Bauten dadurch, dass erforderliche Restaurierungsarbeiten bislang nicht zum Abschluss gebracht werden konnten, zu Dauerbaustellen geworden, und dies zum Teil mehr im übertragenen denn im wörtlichen Sinne. Beim Dannensternhaus am westlichen Ende der Mārstaļu iela (Marstallstraße), einem der Objekte, auf die diese Behauptung am meisten zutrifft, begannen entsprechende Arbeiten bereits in den 1980er Jahren. Schädigungen der Bausubstanz durch Fehlnutzung während der vorangegangenen Jahrzehnte hatten damit ihr Ende, und fast schienen Erwartungen berechtigt, der wertvolle Barockbau würde ab Mitte der 1990er Jahre und damit genau zum 300. Jahrestag seiner Fertigstellung wieder im alten Glanz erstrahlen. Ein bei Reparaturen am Dach ausgebrochener Brand im Juni 1996 machte stattdessen jedoch vieles schon Erreichte wieder zunichte. Dieser Rückschlag hätte womöglich nicht ganz so demoralisierend gewirkt, wenn wenigstens ein Nutzungskonzept in Sicht gewesen wäre. Dass das Dannensternhaus einst – in Zeiten, in denen es noch kein Hotelwesen im modernen Sinne gab – eine der ersten Adressen zur Unterbringung hochrangiger Gäste Rigas war, sollte keine Anregung sein, es als Luxus-Hotel zu kommerzialisieren, könnte aber sehr wohl zu anderen sinnvollen Ideen führen. Dennoch tritt man in der Frage einer künftigen Zweckbestimmung seit Jahrzehnten auf der Stelle. Aufmerksamkeit vonseiten der Denkmalpfleger gebührt derweil mehr denn je dem Schloss, seit in der Nacht zum 21. Juni 2013 auch in dessen Dachstuhl ein Brand wütete. Dieser weckte böse Erinnerungen an 1996, wobei er sich als noch folgenschwerer darstellt, da die Säle im oberen Teil des Nord- und des Ostflügels des Schlosses allesamt in Mitleidenschaft geRiga als Hauptstadt eines EU-Mitgliedslandes seit 2004 

269

zogen wurden – von Wasserschäden an zahllosen Ausstellungsstücken des im Schloss angesiedelten Historischen Museums ganz zu schweigen. Staatsoberhaupt Andris Bērziņš (* 1944, seit 2011 Staatspräsident Lettlands), übrigens nur einer von insgesamt drei prominenten lettischen Politikern mit diesem Namen, befand sich während der Brandnacht außer Gefahr, denn seine Kanzlei war aufgrund der Bauarbeiten, die das Feuer direkt oder indirekt verursacht haben dürften, ins Schwarzhäupterhaus ausgelagert. Ein wenig beklemmend erschien bei beiden Brandereignissen, demjenigen am Dannensternhaus 1996 ebenso wie demjenigen am Schloss 2013, die zeitliche Nähe zur Sommersonnenwende-Nacht, in der überall in Lettland – begleitet von ausgelassenen Feiern – die traditionellen Johannisfeuer entfacht werden. 2014 wiederholt sich in Lettland nun etwas, was 2011 der nördliche Nachbar Estland vorgemacht hat – nämlich dass das Jahr, in dem der größten Stadt des Landes die Rolle einer »Kulturhauptstadt Europas« zufällt, zugleich zum Jahr der Euro-Einführung wird. Bei dem im September 2003 abgehaltenen Referendum über Lettlands EU-Beitritt, der für den 1. Mai 2004 bevorstand, lag die Zustimmung in Riga mit 59 Prozent unterhalb des Landesdurchschnitts von 67 Prozent; um die Stadtgrenzen herum, im Landkreis Riga (lett. Rīgas rajons), kamen hingegen 71 Prozent zustande. Ein potenzielles Referendum über den Euro im Jahre 2013 hätte zweifellos ungünstigere Werte ergeben. Davon unabhängig könnten Investitionen wie diejenigen rund um das Kulturhauptstadtjahr 2014 die allgemeine Zustimmung der Bevölkerung zur EU durchaus ansteigen lassen. Für die Stadt nützlich wären sie vor allem dann, wenn sie dazu beitrügen, dass diese im kommenden Jahrzehnt nicht noch einmal ähnlich viele ihrer Einwohner durch Abwanderung verliert wie in den ersten zehn Jahren seit dem Beitritt zur EU.

270  Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

CHRONOLOGISCHER ÜBERBLICK ZUR   GESCHICHTE RIGAS 12. Jh.

1186

1198

1201

1205 1207 1211

1226

Im Gebiet der heutigen Altstadt Rigas existieren zwei livische Dörfer, die jedoch nicht zu den wichtigsten im Siedlungsgebiet der Liven gehören, sondern erst gegen Ende des Jahrhunderts in einem gewissen Umfang Bedeutung für den überregionalen Handel gewinnen. Der Augustinerchorherr Meinhard, der zwei Jahre zuvor zur Verbreitung des Christentums an die untere Düna gekommen ist, wird zum Bischof der Liven geweiht. Zu Meinhards Bischofssitz wird das südöstlich der späteren Stadt Riga gelegene Uexküll. Gefecht mit noch heidnischen Liven, das mit dem Tod von Meinhards Nachfolger Berthold endet und bei dem es sich um das früheste historische Ereignis handelt, in dessen Zusammenhang der Chronist Heinrich von Lettland später den Namen Riga nennt Bischof Albert I. vollzieht nahe der Mündung des Rigebachs in die Düna die Gründung der künftigen Stadt Riga und macht diese zu seinem Bischofssitz. Mutmaßlich 1202 wird hier zur militärischen Absicherung der beabsichtigten Missionsarbeit der Orden der »Fratres milicie Christi de Livonia«, später geläufig geworden unter dem Namen Schwertbrüderorden, gegründet. Beginn der Entstehung des Zisterzienserklosters Dünamünde nahe der damaligen Mündung der Düna in die Ostsee Anzunehmender Zeitpunkt der Errichtung einer ersten steinernen Stadtmauer für die Stadtanlage von 1201 Albert legt den Grundstein für die heutige Domkirche St. Marien, die bereits seine zweite Domkirche ist. Anders als die erste, die 1215 abbrennt, liegt sie außerhalb der 1201 abgesteckten Stadtanlage – und stattdessen in einem Bereich, in den sich die Stadt erst ab 1215 ausdehnt. Der päpstliche Legat Wilhelm von Modena bestimmt den endgültigen Verlauf der Grenzen der Stadtmark – ein Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas 

271

1229 1234 1237

1253

1279

1282 1297

1305 1330

Schritt, in dessen Konsequenz Bischof Alberts Rechte an der Stadtmark an den inzwischen existierenden Rat der Stadt fallen und bei dem es darum geht, dem Landbesitz von Schwertbrüdern, Domkapitel und Zisterziensern, der sich in der Stadtmark bis zu diesem Zeitpunkt entwickelt hat und der laut einer Festlegung von 1225 eindeutig nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit untersteht, weitere Ausdehnungsmöglichkeiten zu entziehen. Handelsvertrag mit dem Fürsten von Smolensk Dominikaner gründen das erste der insgesamt drei Klöster, die es während des Mittelalters im Stadtinneren gibt. Nach einer schweren Niederlage des Schwertbrüderordens gegen die Litauer übernimmt der seit 1226 im nachmaligen Ostpreußen eingesetzte Deutsche Orden das Erbe der Schwertritter in Livland. Dem 1245 zum Erzbischof für Preußen und Livland erklärten Albert Suerbeer wird Riga als endgültiger Amtssitz zugewiesen, womit das Bistum Riga zum Erzbistum aufsteigt. Rechtsmitteilung an die neue Stadt Hapsal, die Einblicke in die Entwicklung des rigischen Stadtrechts in einer Phase erlaubt, in deren Verlauf dieses rigische Recht sehr stark dem Stadtrecht Hamburgs angeglichen wird Visby, Lübeck und Riga schließen ein Bündnis von grundlegender Bedeutung für die im Entstehen begriffene Städtehanse, in die Riga damit fortan einbezogen ist. Die Zerstörung eines von den Bürgern errichteten Brückenbaus, der angeblich den Schiffsverkehr in den Rigebach behindert, und die anschließende Demolierung der Ordensburg durch die Bürger werden zu Auslösern einer 33-jährigen Fehde zwischen dem Orden auf der einen und dem Erzbischof und der Stadt auf der anderen Seite. Verkauf Dünamündes an den Deutschen Orden, der aus dem bisherigen Kloster nahe der Flussmündung eine Ordensfestung macht Im Zuge der Beilegung der 1297 begonnenen Fehde fällt die Herrschaft über Riga, die seit der Stadtgründung stets der Bischof bzw. Erzbischof ausgeübt hat, an den Deutschen Orden. Eine als der »nackende Brief« bezeichnete

272  Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas

Urkunde überträgt dem Orden in diesem Zusammenhang den Sandturm sowie den Heiliggeistturm; Letzterer wird Teil eines von den Bürgern zu errichtenden neuen Ordensschlosses an der Düna. 1334 Erste Erwähnung des späteren Schwarzhäupterhauses 1406–1409 Errichtung des gotischen Chors der 1209 erstmals erwähnten Petrikirche 1452 Durch den (später mehrfach erneuerten) Kirchholmer Vertrag kommt es erstmals zu einer Aufteilung der Stadtherrschaft zwischen Erzbischof und Deutschem Orden. 1484 Zerstörung des Ordensschlosses durch die Bürger, die später zu dessen Wiederaufbau gezwungen werden. Dieser zieht sich bis 1515 hin. 1522 Eine Disputation in der Petrikirche bietet Andreas Knöpken Gelegenheit zur Verteidigung der Lehre Luthers und wird zum Schlüsselmoment für die Ausbreitung der Reformation in Riga. 1524 Bilderstürmereien in Rigaer Kirchen 1525 Wolter von Plettenberg, seit 1494 Landmeister des Deutschen Ordens in Livland, übernimmt die Schutzherrschaft über Riga und übt sie die kommenden fünf Jahre allein – ohne Beteiligung des Erzbischofs – aus. 1526 wird Wolter die Reichsfürstenwürde zuteil, in der Kaiser Karl V. ihn 1530 bestätigt. 1558–1582/83 Der von dem Moskowiter Ivan IV. ausgelöste Livländische Krieg beendet die Existenz Alt-Livlands. Rasch unterstellt sich dessen nördlicher Teil der Herrschaft Schwedens; die zentralen Teile fallen derweil, vorerst mit Ausnahme Rigas, an Polen-Litauen (das 1569 unter dem Eindruck dieses Krieges von einer bloßen Personal- zu einer Realunion umgeformt wird), während sich südlich und westlich von Riga das von Polen-Litauen abhängige Herzogtum Kurland und Semgallen bildet, das bis 1795 besteht. 1581 Mangels Alternativen unterstellt sich schließlich auch Riga der Herrschaft Polen-Litauens und setzt damit eine schon 1562 gemachte Ankündigung in die Tat um. 1584–1589 Proteste gegen die vom polnischen König 1582 angeordnete und vom Rigaer Rat nach anfänglichem Zögern in Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas 

273

1621 1656

1666 1700

1710 1750 1764

1785

1796 1802 1812

die Wege geleitete Einführung des gregorianischen Kalenders münden in einem grundsätzlichen Aufbegehren der Bürgergemeinde gegen die Ratsgewalt. Nach dem Ende der fünfjährigen »Kalenderunruhen« wird Riga die Rückkehr zum julianischen Kalender gestattet. Ende der Polenzeit: Riga unterstellt sich nach mehrmonatiger Belagerung der Herrschaft Schwedens. Riga erlebt eine erfolglose russische Belagerung im Zuge des Ersten Nordischen Krieges, der 1655 beginnt und der für Schweden 1660 mit dem Frieden von Oliva (mit Polen-Litauen nebst anderen beteiligten Mächten) und 1661 mit dem Frieden von Kardis (mit Russland) endet. Einsturz des mittelalterlichen Turms der Petrikirche, für die daraufhin der noch heute prägende Barockturm entworfen wird Aufgrund der Einnahme Dünamündes durch sächsische Truppen zählt Riga bereits in der Anfangsphase des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) zu dessen wichtigsten Schauplätzen. 1701 folgt die für Schweden siegreiche Schlacht an bzw. auf der Spilwe. Ende der Schwedenzeit: Riga unterstellt sich nach mehrmonatiger Belagerung der Herrschaft Russlands. Grundsteinlegung für einen während der kommenden eineinhalb Jahrzehnte verwirklichten Rathausneubau Als Lehrer an der Domschule kommt der junge Johann Gottfried Herder nach Riga. Er bleibt insgesamt fünf Jahre in der Stadt und wird hier unter anderem auf lettisches Volksliedgut aufmerksam. Auf Geheiß Katharinas der Großen tritt eine im übrigen Zarenreich bereits zehn Jahre zuvor eingeführte neue Stadtordnung nunmehr auch in den Städten Livlands und Estlands in Kraft. Paul I. hebt die von seiner Mutter Katharina verordneten Reformen weitgehend wieder auf; Riga kann zu seiner alten Stadtverfassung zurückkehren. Gründung der »Literärisch-praktischen Bürgerverbindung« Aus Sorge vor einem Angriff eines Teils der napoleonischen Armee ergeht – letztmals in Rigas Geschichte – der

274  Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas

1816–1819 1834 1837–1839 1856

1857–1863

1861 1862 1868 1873

1878

1881

1889–1892

Befehl, die Vorstädte niederzubrennen. Anders als in früheren Fällen erweist er sich dieses Mal als übereilt. Bauernbefreiung in den Ostseeprovinzen, die eine erste Vorbedingung für die starke Zuwanderung nach Riga während der zweiten Jahrhunderthälfte schafft Gründung der »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen« Kapellmeister an Rigas 1782 gegründetem Stadttheater ist für knapp zwei Jahre der junge Richard Wagner. Nach Ende des Krimkriegs, in dessen Verlauf die Stadt einmal mehr die mit ihrem Status als Festung verbundenen Beschwernisse hat hinnehmen müssen, hebt Zar Alexander II. den Festungsstatus auf. Beseitigung der frühneuzeitlichen Festungswälle und Umwandlung des betreffenden Areals in Grünanlagen, Boulevards und Grundstücke für repräsentative neue Bauten; unter anderem für das Stadttheater entsteht während dieser Zeit ein entsprechender Neubau. Riga bekommt Anschluss an das Eisenbahnnetz des Zarenreichs. Aufnahme des Lehrbetriebs am Rigaer Polytechnikum Gründung des »Rigaer Letten Vereins« (lett. »Rīgas Latviešu biedrība«, RLB) Im heutigen Viesturdārzs bzw. früheren »Kaisergarten«, einer Parkanlage aus der Zeit Peters des Großen, findet das erste gesamtlettische Sängerfest statt. Die Chöre nehmen zuvor Aufstellung vor dem Haus des organisatorisch verantwortlichen »Rigaer Letten Vereins«. An die Stelle der alten Stadtverfassung tritt die russische Städteordnung von 1870. In den Folgejahren wächst der Druck, in Schule, Justiz und Verwaltung statt der deutschen die russische Sprache anzuwenden. Eine nach der Ermordung Alexanders II. einsetzende Welle von Judenpogromen im Zarenreich, die über mehrere Jahre hinweg anhält, erfasst im ersten Jahr auch Riga. Nochmaliger Umbau von Justiz und Verwaltung, durch den die Stadtverordnetenversammlung größer, die Zahl der Wahlberechtigten jedoch kleiner wird Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas 

275

1899 1901

13.1.1905

1909 1913

Aug. 1915

Sept. 1917

18.11.1918 3.1.1919

28.9.1919

Erstmals kommt es zu einem größeren Streik in Rigaer Fabriken. So aufwändig wie kein anderes Rigaer Stadtjubiläum davor oder danach wird die 700-Jahr-Feier der Stadt begangen. Ab diesem Festjahr verkehren in Riga zudem die ersten Straßenbahnen. Schüsse der Polizei auf einen Demonstrationszug von Arbeitern führen zu 78 Toten und lösen einen Generalstreik aus, woraufhin Riga zu einem wesentlichen Schauplatz der Ersten Russischen Revolution wird. Der erste Serien-Pkw des Zarenreichs verlässt ein Rigaer Werk, aus dem später, während der Sowjetzeit, die für ihre Kleinbusse bekannte Fabrik »RAF« wird. Mit gut 500000 erreicht Rigas Einwohnerzahl einen vorläufigen Höchststand. Erst in den 1950er Jahren wird diese Zahl aufs Neue erreicht und danach rasch überschritten. Obwohl die Deutschen 1913 nur noch ein Sechstel der Gesamtbevölkerung ausmachen, dominieren sie noch immer – wenn auch inzwischen knapper als früher – die Stadtverordnetenversammlung. Ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs rückt infolge der Einnahme Kurlands durch die Deutschen die Frontlinie nahe an Riga heran; die Stadt selbst liegt jedoch noch auf der russischen Seite der Front und erlebt nun unzählige Evakuierungen von Industriebetrieben. Einnahme der Stadt durch die Deutschen im Zuge einer leichten Verlagerung der Frontlinie, die danach bis Anfang 1918 im nördlichen und östlichen Umland Rigas verläuft In einer feierlichen Sitzung des »Lettländischen Volksrats« wird im heutigen Nationaltheater, dem damaligen Zweiten Stadttheater, die Republik Lettland proklamiert. Einnahme Rigas durch die Truppen einer sowjetlettischen Regierung unter Pēteris Stučka, die den vom »Volksrat« eingesetzten Regierungsapparat aus Riga verdrängt und die viereinhalb Monate später ihrerseits zum Aufgeben gezwungen ist Eröffnung der staatlichen Universität Lettlands in den einst für das Polytechnikum errichteten Gebäuden

276  Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas

11.11.1919

11.8.1920

18.3.1921 1922

1923 1930 1931 1932 15.5.1934 18.11.1935 11.11.1936 Okt. 1939

17.6.1940 5.8.1940

29.6.1941

In den Stadtteilen links der Düna kann die von Pavel Bermondt-Avalov angeführte »russische Westarmee«, die den bürgerlichen Regierungsapparat Lettlands stürzen und danach gegen den Bolschewismus zu Felde ziehen will, endgültig zurückgeschlagen werden. Unterzeichnung des Friedensvertrages von Riga zwischen Sowjetrussland und der Republik Lettland, nach dessen Wortlaut russische Ansprüche auf lettisches Gebiet »für alle Zeiten« ausgeschlossen werden Unterzeichnung des polnisch-sowjetischen (bzw. polnisch-russisch-ukrainischen) Friedensvertrages von Riga Erste Flüge vom Flughafen im (erst 1924 eingemeindeten) Vorort Spilve. Das einstige Ordensschloss wird unterdessen zum Amtssitz des Staatspräsidenten der Republik Lettland. Die Jakobikirche wird zur katholischen Bischofskirche erklärt. Fertigstellung des aus vier vormaligen Zeppelinhangars bestehenden neuen Zentralmarkts Unversöhnliches Ende im »Domstreit«: Die deutsche Domgemeinde sieht sich aus ihrem Gotteshaus gedrängt. Eröffnung des Freilichtmuseums am Rande Rigas Kārlis Ulmanis, der vom bisherigen Parlament legitimierte Ministerpräsident, vollzieht einen Staatsstreich und führt fortan ein autoritäres Regime an. Einweihung des Freiheitsdenkmals Einweihung des Brüderfriedhofs Beginn der Umsiedlung der Deutschbalten, die auf Grundlage eines deutsch-sowjetischen Protokolls vom 28.9. ihre Heimat aufgeben und sich in den neu geschaffenen Reichsgauen »Danzig-Westpreußen« und »Wartheland« ansiedeln sollen Nach einem sowjetischen Ultimatum rückt die Rote Armee in Lettland ein. Nach sorgsamer Inszenierung einer Bitte um Aufnahme in die UdSSR wird dieser Bitte offiziell stattgegeben; die sowjetische Annexion Lettlands findet damit ihren Abschluss. Beschuss der Rigaer Altstadt durch die Wehrmacht. Unter anderem geht an diesem Tag der Turm der Petrikirche in Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas 

277

Flammen auf – »angezündet von Bolschewiken und Juden«, wie die deutschen Besatzer anschließend behaupten. Die Rote Armee befindet sich, während dieser Beschuss stattfindet, schon im Rückzug, und es beginnt die gut dreijährige Okkupation Lettlands durch Deutschland. 30.11./8.12.1941 Massenerschießungen im Wald von Rumbula als Konsequenz aus der Ankündigung, das Rigaer Ghetto werde fortan zur Unterbringung von Juden aus dem Reich benötigt 13.10.1944 Rückeroberung Rigas durch die Rote Armee 23.5.1948 Sprengung der Reste des Schwarzhäupterhauses 1955 Fertigstellung der vor allem für Sängerfeste genutzten Estrade im Stadtpark Mežaparks, in den während der Sowjetzeit außerdem die Volkswirtschaftsausstellung der Lettischen SSR integriert ist 11.11.1959 Schaffung der neuen Stadt Jūrmala, nachdem die meisten ihrer Stadtteile zuvor knapp 14 Jahre lang einen Stadtbezirk Rigas gebildet haben 1961 Mit der Inbetriebnahme neuer Räumlichkeiten beginnen drei sehr produktive Jahrzehnte für die Rigaer Filmstudios. 1967 Die Altstadt erhält den Status einer staatlichen Schutzzone. 1974 Eröffnung des heutigen internationalen Flughafens, nachdem Rigas zentraler Flughafen bis dahin derjenige im Stadtteil Spilve gewesen ist, der noch 1954 ein repräsentatives Empfangsgebäude im Stil der Stalinzeit erhalten hat 1981 Eröffnung der über den Kiepenholm hinweg die Düna querenden »Wantenbrücke« (lett. »Vanšu tilts«), die in den darauf folgenden Jahren zunächst »Gorkij-Brücke« (lett. »Gorkija tilts«) genannt wird 15.2.1985 Unterzeichnung eines Städtepartnerschaftsabkommens mit Bremen als der Stadt, aus der frühneuzeitlichen Verklärungen zufolge die Kaufleute stammten, die Livland im 12. Jahrhundert »entdeckt« haben sollen. Rigas erste Partnerstadt überhaupt wurde zuvor 1964 das finnische Pori; zur ersten Partnerstadt in Deutschland wurde 1974 Rostock. 278  Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas

1986

1987–1991 27.4.1988 23.8.1989

4.5.1990

20.1.1991 19.8.1991

1993 1994 21.5.1996 1997

Fertigstellung des 368,5 Meter hohen Rigaer Fernsehturms auf der (zuvor von historischer Vorgängerbebauung befreiten) Düna-Insel Zaķusala, über die seit 1976 Rigas südlichste Düna-Brücke – »Salu tilts« (»Brücke der Inseln«) bzw. seinerzeit zunächst »Maskavas tilts« (»Moskauer Brücke«) genannt – verläuft Mit offiziell jeweils über 900000 zum jeweiligen Jahresanfang erreicht Riga die höchsten Einwohnerzahlen seiner Geschichte. Großdemonstration gegen den möglichen Bau einer UBahn, wie ihn die Stadtobrigkeit seit Anfang des Jahrzehnts immer entschiedener ankündigt Bildung einer Menschenkette von Tallinn über Riga bis Vilnius in Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt vom 23.8.1939, in dessen geheimen Zusatzvereinbarungen Estland und Lettland sowie später auch Litauen der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen wurden Deklaration des Obersten Rates der Lettischen SSR über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland: Lettland erklärt seine Unabhängigkeit in dem Sinne, dass ab sofort eine Übergangsperiode beginne, an deren Ende die vollständige Unabhängigkeit von der UdSSR stehen werde. Ein Versuch sowjetischer Spezialeinheiten, das lettische Innenministerium zu stürmen, fordert fünf Todesopfer. Beginn eines gegen Michail Gorbatschow gerichteten Putschversuchs in Moskau, der bewirkt, dass die 1990 erfolgten Unabhängigkeitserklärungen Estlands, Lettlands und Litauens nunmehr zügig von zahlreichen westlichen Staaten anerkannt werden Verbesserung der zuvor katastrophalen Wasserqualität in der Rigaer Bucht dank einer neuen Kläranlage für die Großstadt Riga Das einstige Ordensschloss wird erneut zum Sitz des Staatspräsidenten. Beginn des Wiederaufbaus des Schwarzhäupterhauses Anerkennung einer die Altstadt, den Boulevard-Bogen sowie die nördlich und nordöstlich angrenzenden Viertel Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas 

279

umfassenden, 4,38 Quadratkilometer großen Fläche als Weltkulturerbe der UNESCO Mai 2003 Riga ist Gastgeberstadt für den »Eurovision Song Contest«. 2004 Lettland wird am 29.3. in die NATO und am 1.5. in die Europäische Union aufgenommen. 28./29.11.2006 In Riga findet der erste auf ehemals sowjetischem Gebiet abgehaltene NATO-Gipfel statt. 2008 Lettland gerät in eine schwere Wirtschaftskrise, deren Bewältigung harte lohnpolitische Einschnitte erfordert. 2011 Volkszählungsergebnisse zeigen, dass Rigas Einwohnerzahl seit 1991 noch stärker zurückgegangen ist als vermutet. Für das Jahr 2030 werden jetzt 500000 Einwohner prognostiziert. Juni 2013 Brand im Rigaer Schloss, der dessen Prunksäle erheblich beschädigt 2014 Mit dem nordschwedischen Umeå teilt Riga sich für ein Jahr den Titel »Kulturhauptstadt Europas«.

280  Chronologischer Überblick zur Geschichte Rigas

ABBILDUNGSNACHWEISE S. 15 S. 35

S. 38

S. 79

S. 93

S. 99

S. 102

S. 104

Aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammende Ansicht Rigas (Kupferstich von F. Hogenberg; aus: Wilhelm Neumann, Riga und Reval, Leipzig 1908, S. 3) Die älteste überlieferte Ansicht Rigas – um 1540 angefertigt für die Kosmographie des Sebastian Münster (mutmaßlich von H. Hasentöter als Holzschnitt gefertigt; aus: Constantin Mettig, Geschichte der Stadt Riga, Riga 1897, neben S. 204) Die zu vermutende Bauplanung Johann Rumeschottels für die Petrikirche in einer Ende des 19. Jahrhunderts von dem Architekten Wilhelm Bockslaff vorgenommenen zeichnerischen Rekonstruktion (aus: Wilhelm Bockslaff, Kunstgeschichtliche Bemerkungen über die St. Petri-Kirche in Riga und ihre Vorgänger in Mecklenburg, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte, Bd. 14, Riga 1890, S. 236–273, hier Fig. 32) Das Aussehen des Turms der Domkirche zwischen 1596 und 1776 – zeichnerisch dargestellt von Johann Christoph Brotze im Jahre 1775 (aus: Johans Kristofs Broce [ Johann Christoph Brotze], Zīmējumi un apraksti, Bd. 1, hrsg. v. T. Zeids, Rīga 1992, hier Fig. 147) Schwedens Vorbereitungen auf die siegreiche Schlacht an der Spilwe 1701, dargestellt aus nordwestlicher Perspektive (in schwedischen Militärarchivsbeständen aufbewahrter Stich eines unbekannten Autors aus dem frühen 18. Jahrhundert) Rigas Rathausplatz auf einem Aquarell von 1829 (als Original von G. C. Scharlow im Besitz des Rigaer Museums für Geschichte und Schifffahrt; aus: Wilhelm Neumann, Riga und Reval, Leipzig 1908, S. 57) Ausschnitt aus einer Zeichnung Johann Christoph Brotzes, die die Kirche der Schmerzensreichen Gottesmutter in ihrer klassizistischen Ursprungsform und mit ihrem seinerzeit auf den Schlossplatz ausgerichteten Altarraum zeigt (aus: Johans Kristofs Broce [ Johann Christoph Brotze], Zīmējumi un apraksti, Bd. 1, hrsg. v. T. Zeids, Rīga 1992, hier Fig. 173 [Ausschnitt]) Die äußere Gestalt des Schlosses zwischen 1682 und 1783 (aus: Johans Kristofs Broce [ Johann Christoph Brotze], Zīmējumi un apraksti, Bd. 1, hrsg. v. T. Zeids, Rīga 1992, hier Fig. 86) Abbildungsnachweise 

281

S. 105

Das Schloss nach der von Katharina II. veranlassten Errichtung eines dreigeschossigen neuen Flügels an der Stelle des vormaligen Zeughauses (aus: Johans Kristofs Broce [ Johann Christoph Brotze], Zīmējumi un apraksti, Bd. 1, hrsg. v. T. Zeids, Rīga 1992, hier Fig. 87) S. 120 Rigas Börse um 1900 (aus: Wilhelm Neumann, Riga und Reval, Leipzig 1908, S. 59) S. 128 Das von Ludwig Bohnstedt entworfene Deutsche Stadttheater, aus dem später Lettlands Nationaloper wurde (aus: Wilhelm Neumann, Riga und Reval, Leipzig 1908, S. 60) S. 133 Der Herderplatz mit der in den 1880er Jahren abgerissenen Bebauung zwischen seiner Nordseite und dem Turm des Doms (aus: Das Baltenbuch. Die baltischen Provinzen und ihre deutsche Kultur, hrsg. v. P. Rohrbach, Dachau o. J. [1916], S. 18) S. 150 Der Rathausplatz um 1900 mit der wenige Jahre zuvor in seiner Mitte aufgestellten Rolandsfigur (aus: Das Baltenbuch. Die baltischen Provinzen und ihre deutsche Kultur, hrsg. v. P. Rohrbach, Dachau o. J. [1916], S. 14) S. 189 Teile der Bebauung auf der Fläche des späteren Domplatzes (aus: Andris Caune, Riga pod Rigoj, Riga 1989, S. 43) sowie Häuser, die einst an die Außenseite der Stadtmauer angebaut worden waren und die dem Neubau des Kriegsmuseums Platz machen mussten (aus: Das Baltenbuch. Die baltischen Provinzen und ihre deutsche Kultur, hrsg. v. P. Rohrbach, Dachau o. J. [1916], S. 12) S. 204 Blick auf die Dachlandschaft der südlichen Teile der Altstadt (aus: Wilhelm Neumann, Riga und Reval, Leipzig 1908, Vorsatzblatt) Farbabbildungen S. 209–224 Riga in den Jahren 1993–2007 (© Andreas Fülberth)

282  Abbildungsnachweise

FACHLITERATUR ZUR GESCHICHTE RIGAS Wollte man Sachbuch-Titel zu Riga so vollständig wie nur möglich auflisten, so würde dies den Rahmen einer »Kleinen Stadtgeschichte« ganz sicher sprengen. Auf den Versuch, eine systematische Bibliographie zu erstellen, soll hier deshalb bewusst verzichtet werden. Schon die bloße Aufzählung von Reisebüchern könnte sonst ganze Seiten füllen. Und auch die wissenschaftliche Fachliteratur zur Geschichte Rigas hat längst einen Umfang erreicht, der es nahe legt, an dieser Stelle nur auf eine Reihe zentraler deutschsprachiger Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte zu blicken und daneben exemplarisch einige wenige lettischsprachige Titel anzuführen. Äußere Anlässe wie die Jubiläen namhafter Institutionen und insbesondere das 800-jährige Stadtjubiläum 2001 haben bewirkt, dass ein relativ großer Anteil dessen, was seit den 1980er Jahren zu Fragen rigischer Stadtgeschichte auf Deutsch erarbeitet wurde, vorzugsweise Eingang in Tagungsbände gefunden hat. Gleich zwei Bände mit einer vielfältigen Mischung von Einzelbeiträgen legte im Zusammenhang mit Rigas Stadtjubiläum das Herder-Institut in Marburg vor: In dem einen (2005 herausgegeben von Ilgvars Misāns und Horst Wernicke) wird vor allem das mittelalterliche sowie das schwedenzeitliche Riga betrachtet, während der andere (2004 herausgegeben von Eduard Mühle und Norbert Angermann) der Entwicklung der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet ist. Eine gleichzeitige Bestandsaufnahme hinsichtlich stadthistorischer Forschungsliteratur zu Riga, wie sie in diesen Bänden leider fehlt und auch in den vorliegenden Zeilen eben nur in knappster Form möglich ist, darf derweil von einem – derzeit ebenfalls am Herder-Institut entstehenden – Tagungsband erwartet werden, der an eine 2012 unter Leitung von Ilgvars Misāns veranstaltete baltische Städtehistoriker-Konferenz in Riga anknüpft. Durch eine recht stringente Konzeption zeichnet sich daneben ein 2004 von Erwin Oberländer und Kristine Wohlfart herausgegebener Sammelband über Riga als »Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches« aus, dessen einzelne Beiträge jeweils eine der verschiedenen Nationalitäten im Riga der Jahre 1857–1914 in den Mittelpunkt rücken. Mehrere der Autorinnen und Autoren dieses Bandes sind überdies mit einschlägigen Dissertationen hervorgetreten, in denen Aspekte der Geschichte vor allem der Rigaer Letten und der Rigaer Juden detailreich vertieft werden. Als weiteres Sammelwerk aus jüngerer Zeit sei der Band »Erinnerungsmetropole Riga« (2010 herausgegeben von Michael Jaumann und Klaus Schenk) genannt, in dem Fachliteratur zur Geschichte Rigas 

283

über rein geschichtswissenschaftliche Fragestellungen hinaus auch interessante Facetten rigischer Literaturgeschichte behandelt werden. Deutschsprachige Monographien zu bestimmten Abschnitten der Geschichte Rigas können hier nicht in aller Vollständigkeit aufgelistet werden; hervorgehoben seien daher zwei Werke, die, obwohl inzwischen jeweils rund ein halbes Jahrhundert alt, auch im Lichte neuerer Forschungserkenntnisse noch immer kaum einer Aktualisierung bedürfen: Neben der 1968 von Wilhelm Lenz veröffentlichten Dissertation über »Riga zwischen dem Römischen Reich und Polen-Litauen in den Jahren 1558–1582« liefert diesen Qualitätsbeweis ganz besonders Friedrich Benninghovens Schrift »Rigas Entstehung und der frühhansische Kaufmann« von 1961, an der aus heutiger Perspektive lediglich aufgrund archäologischen Kenntniszuwachses inhaltliche Minimalkorrekturen vorzunehmen wären. Als Fachzeitschrift, in der schon während der Sowjetzeit mancher Aufsatz über Grabungsergebnisse in Riga und die aus ihnen zu ziehenden stadtgeschichtlichen Rückschlüsse zu lesen war, spielte die – mittlerweile in »Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung« umbenannte – Marburger »Zeitschrift für Ostforschung« eine gewisse Rolle. Zu den Autorinnen und Autoren gehörte in diesem Fall neben westlichen Kennern Rigas, die sich gleichsam aus der Ferne an der Auswertung von zuvor auf Lettisch oder Russisch publizierten Befunden beteiligten, wiederholt auch der zuständige Archäologe vor Ort, Andris Caune. In der Nachwendezeit hat sich nunmehr in Riga selbst das Fachperiodikum »Senā Rīga« (»Das alte Riga«) etabliert, das in jedem seiner Bände zu jeweils etwa einem Drittel stadtarchäologische, stadtgeschichtliche und kunst- respektive architekturgeschichtliche Einzelthemen aufgreift. Da nach jedem Beitrag eine Zusammenfassung auf Deutsch oder Englisch folgt, ist »Senā Rīga« auch für Interessierte, die des Lettischen nicht mächtig sind, keinesfalls nutzlos. Dass Geschichte, Archäologie und Architekturgeschichte sich in Lettland nicht allzu strikt voneinander abzugrenzen versuchen, spiegelt sich ebenso in den Inhaltszuschnitten vieler sonstiger dortiger Publikationen wider. Hierzu zählt beispielsweise ein 2007 in zweiter, umfassend aktualisierter Auflage erschienenes Werk des 2009 verstorbenen Andrejs Holcmanis über Rigas Altstadt als städtebauliches Denkmal (im Originaltitel: »Vecrīga – pilsētbūvniecības piemineklis«). Breit angelegte Darstellungen wie diese überdecken ein wenig das Manko, dass seit Constantin Mettigs 460-seitiger »Geschichte der Stadt Riga« von 1897 nicht nur auf Deutsch kein Überblickswerk ähnlichen Umfangs zur Geschichte Rigas mehr erschienen ist, sondern auch auf Lettisch eine kompakte Gesamtdarstellung lediglich in 284  Fachliteratur zur Geschichte Rigas

Form der 1978 bzw. 1980 publizierten Bände »Feodālā Rīga« (»Das feudalzeitliche Riga«) und »Rīga sociālisma laikmetā 1917–1975« (»Riga im Zeitalter des Sozialismus 1917–1975«) vorliegt. Zu vollständigen Übersetzungen lettischsprachiger Monographien in westliche Sprachen ist es beim Thema Riga bislang fast ausschließlich im architekturgeschichtlichen Bereich gekommen; erfreulich für deutschsprachige Leser mag hierbei zum Beispiel sein, dass einzelne Schriften des örtlichen Experten Jānis Krastiņš zum Rigaer Jugendstil in deutscher Übersetzung verfügbar sind.

Fachliteratur zur Geschichte Rigas 

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PERSONENREGISTER Adolf Friedrich v. Mecklenburg (* 1873, † 1969, designierter Herzog für ein »Vereinigtes baltisches Herzogtum« [1918]) 172 Alberich v. Troisfontaines (* ?, † frühestens 1252, Zisterzienser u. Chronist) 19, 27 Albert Suerbeer siehe Suerbeer, Albert Albert v. Bekeshovede (Albert I. v. Riga, * um 1165, † 1229, ab 1199 Bischof v. Livland) 19–22, 24–30, 39–41, 49, 260, 262, 271, 272 Albert v. Stade (* ?, † frühestens 1256, Benediktiner-Abt, später vermutlich Franziskaner, Chronist) 19 Aleksej Michajlovič (* 1629, † 1676, ab 1645 Zar) 85, 90 Alexander I. (* 1777, † 1825, ab 1801 Zar) 115, 117 Alexander II. (* 1818, † 1881, ab 1855 Zar) 125, 126, 128, 275 Alexander III. (* 1845, † 1894, ab 1881 Zar) 154 Alunāns, Ādolfs (* 1848, † 1912, Schauspieler, Regisseur u. Theaterautor) 140 Ambundi de Swan, Johannes (* vor 1384, † 1424, ab 1418 Erzbischof v. Riga) 58 Apsītis, Vaidelotis (* 1921, † 2007, Architekt) 233 Arājs, Viktors (* 1910, † 1988, am Holocaust beteiligter Kollaborateur) 202, 203, 205, 208 Armitstead, George (* 1847, † 1912, ab 1901 Stadthaupt) 131, 155–157, 159, 160, 261 Arnold v. Lübeck (* ?, † 1211 oder 1214, Benediktiner-Abt u. Chronist) 18, 19 286  Personenregister

Asaris, Gunārs (* 1934, 1970–1998 Stadtarchitekt) 246 Astra, Gunārs (* 1931, † 1988, 1961 für 15 Jahre verbannter u. 1983 nochmals inhaftierter Dissident) 248 August II. (der Starke, * 1670, † 1733, ab 1694 Kurfürst v. Sachsen, 1697–1706 sowie ab 1709 König v. Polen) 92, 93 Bākule, Irēna (* 1945, Architekturexpertin) 25 Balodis, Jānis (* 1881, † 1965, 1931–1940 Kriegsminister Lettlands) 238 Barclay de Tolly, Michail Bogdanovič (* 1761, † 1818, Generalfeldmarschall) 261 Barons, Krišjānis (* 1835, † 1923, Schriftsteller u. Volkskundler) 239 Báthory, Stephan siehe Stephan Báthory Baumanis, Jānis Fridrihs (* 1834, † 1891, Architekt) 121, 186 Benninghoven, Friedrich (* 1925, Historiker) 16, 22–24 Berens, Carl (* 1725, † 1789, Ältermann der Großen Gilde) 105 Berens, Johann Christoph (* 1729, † 1792, Ratsherr) 105, 106 Bergs, Kristaps siehe Kalniņš, Kristaps Berklavs, Eduards (* 1914, † 2004, kommunistischer Politiker, später ein führender Kopf der Freiheitsbewegung) 236, 237, 250 Berlioz, Hector (* 1803, † 1869, frz. Komponist) 114 Bermondt-Avalov, Pavel (* 1877, † 1973/74, 1919 Befehlshaber der

»russischen Westarmee«) 174, 175, 184, 277 Bernhard II. zur Lippe (* um 1140, † 1224, ab 1211 Abt v. Dünamünde u. ab 1218 Bischof v. Selonien) 27 Bernhard v. der Borch (* ?, † 1488, 1471–1483 livländ. Ordensmeister) 62 Berthold v. Loccum (* ?, † 1198, ab 1196 Bischof der Liven) 18, 19, 21, 271 Bērziņš, Andris (* 1944, seit 2011 Staatspräsident Lettlands) 270 Bērzkalns, Pēteris (* 1899, † 1958, Architekt u. Stadtplaner) 178 Bindenschuh, Rupert (* 1645, † 1698, Baumeister) 91, 98 Birkerts, Gunnar (* 1925, Architekt) 229 Bismarck, Otto Fürst v. (* 1815, † 1898, 1871–1890 Reichskanzler) 200 Blankenfelde, Johann v. siehe Johann v. Blankenfelde Blaumanis, Rūdolfs (* 1863, † 1908, Dramatiker) 190, 191 Blomberg, Siegfried (* ?, † 1374, ab 1370 Erzbischof v. Riga) 56, 57 Blūms, Pēteris (* 1949, Architekt u. Denkmalpfleger) 258 Bockslaff, Wilhelm (* 1858, † 1945, Architekt) 38, 121 Bohnstedt, Ludwig (* 1822, † 1885, Architekt) 127, 128 Bojārs, Gundars (* 1967, 2001–2005 Rigaer Stadtratsvorsitzender bzw. Bürgermeister) 261 Bonifaz VIII. (* um 1235, † 1303, ab 1294 Papst) 52 Bonifaz IX. (* um 1350, † 1404, ab 1389 Papst) 58 Borch, Bernhard v. der siehe Bernhard v. der Borch

Bornhaupt, Carl (* 1802, † 1889, Mitinitiator des Rigaer Polytechnikums) 129 Bosse, Harald Julius v. (* 1812, † 1894, Architekt) 120, 122 Brandenburg-Ansbach, Wilhelm v. siehe Wilhelm v. BrandenburgAnsbach Brenčs, Aloizs (* 1929, † 1998, Filmregisseur u. Kommunalpolitiker) 242 Breverus, Johannes (* 1616, † 1700, Professor für Rhetorik u. später für Theologie) 83 Brežnev, Lev (* 1906, † 1982, sowjetischer Politiker, 1960–1964 sowie ab 1977 Staatsoberhaupt der UdSSR) 163, 237 Briesmann, Johann (* 1488, † 1549, Reformator) 69 Brinken, Hans zum (* ?, † 1589, Ältermann der Großen Gilde) 77, 78 Brotze, Johann Christoph (* 1742, † 1823, Pädagoge u. Ethnograf ) 79, 99, 100, 102–104, 153 Browne, Georg (* 1698, † 1792, ab 1783 Statthalter v. Livland u. Estland, zuvor Generalgouverneur dieser Provinzen) 108 Bugenhagen, Johannes (* 1485, † 1558, Weggefährte M. Luthers) 67 Bulmerincq, August Michael v. (* 1859, † 1933, Historiker u. Jurist) 16 Bulmerincq, Wilhelm Robert v. (* 1862, † 1953, 1913–1915/17 Stadthaupt) 169 Bulte, Raimonds (* 1925, Spendenkomitee-Vorsitzender im Vorfeld einer Restaurierung des Freiheitsdenkmals) 262 Büngner, Robert (* 1815, † 1892, 1878–1885 Stadthaupt, 1876 geadelt) 148

Personenregister 

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Čaks, Aleksandrs (* 1901, † 1950, Dichter) 127, 179 Čakste, Jānis (* 1859, † 1927, ab 1922 Staatspräsident Lettlands) 238 Campenhausen, Balthasar v. (* 1689, † 1758, Generalleutnant) 192 Chodkiewicz, Jan (* 1537, † 1579, 1566–1578 Administrator Livlands) 74 Christian I. (* 1426, † 1481, König v. Dänemark [ab 1448], Norwegen [ab 1450] u. Schweden [1457– 1464]) 60, 61 Christoph v. Mecklenburg (* 1537, † 1592, letzter Koadjutor des Erzbistums Riga) 63, 73 Chruščev, Nikita (* 1894, † 1971, sowjetischer Politiker) 163, 237, 241, 242 Clinton, Bill (* 1946, 1993–2001 Präsident der USA) 263 Cukurs, Herberts (* 1900, † 1965, am Holocaust beteiligter Kollaborateur) 208 Dahlberg, Erik (* 1625, † 1703, Festungsbaumeister, 1696–1702 Generalgouverneur v. Livland) 89, 94 Deglavs, Arnolds (* 1904, † 1969, 1940/41 u. 1944–1951 Verwaltungschef der Stadt Riga) 195 Dietze, Otto (* 1832, † 1890, Architekt) 125 Dolen, Engelbert v. siehe Engelbert v. Dolen Eberhard v. Monheim (* um 1275, † nach 1346, 1328–1340 livländ. Ordensmeister) 53 Ecke, Nikolaus (* 1541, † 1623, Bürgermeister, Witwenheim-Stifter) 80, 81 288  Personenregister

Eisenstein (Ėjzenštejn), Michail (* 1867, † 1921, Architekt) 130 Eisenstein (Ėjzenštejn), Sergej (* 1898, † 1948, Filmregisseur, Sohn v. M. Eisenstein) 242 Elizabeth II. (* 1926, brit. Königin) 157, 261 Engelbert (* ?, † 1209, Augustinerchorherr, Bruder Alberts v. Bekeshovede) 21, 22, 27, 28 Engelbert v. Dolen (* ?, † 1347, ab 1341 Erzbischof v. Riga) 56 Engels, Friedrich (* 1820, † 1895, Theoretiker des Sozialismus) 85 Erasmus v. Rotterdam (* spätestens 1469, † 1536, Humanist) 67 Erhardt, Heinz (* 1909, † 1979, Schauspieler, Neffe v. R. Erhardt) 255, 256 Erhardt, Robert (* 1878, † 1940, 1919/20 Finanzminister Lettlands) 169 Ermsons, Ādolfs (* 1900, † 1978, 1940 Stadthaupt) 195 Essen, Magnus Gustav v. (* 1758, † 1813, 1812 Befehlshaber über die Truppen u. Ziviloberbefehlshaber in Liv- u. Kurland) 116 Felsko, Johann Daniel (* 1813, † 1902, 1844–1879 Stadtarchitekt) 119, 123, 125, 132, 133, 239 Ford, Henry (* 1863, † 1947, Gründer der »Ford Motor Company«) 193 Forsyth, Frederick (* 1938, brit. Schriftsteller) 208 Frank, Gabriel (* ?, † 1677, vermeintlicher Verursacher eines Stadtbrands) 85 Franz Joseph I. (* 1830, † 1916, ab 1848 Kaiser v. Österreich u. König v. Ungarn) 125

Franz v. Assisi (* 1181/82, † 1226, Ordensstifter) 39 Friedrich v. Pernstein (* um 1270, † 1341, ab 1304 Erzbischof v. Riga) 56 Fromhold v. Vifhusen (* ?, † 1369, ab 1348 Erzbischof v. Riga) 56, 57 Garibaldi, Giuseppe (* 1807, † 1882, ital. Freiheitskämpfer) 230 Giese, Martin (* ?, † 1589, Advokat, Anführer der »Kalenderunruhen«) 77, 78 Goltz, Rüdiger von der (* 1865, † 1946, Generalleutnant u. Freikorpsführer) 173, 174 Gomberg, Evgenij (* 1953, Unternehmer) 261, 262 Gorbatschow (Gorbačev), Michail (* 1931, sowjetischer Politiker, 1990/91 Präsident der UdSSR) 163, 241, 248–251, 279 Gottfriedt, Johann Daniel (* 1768, † 1831, Baumeister) 117 Gotthard Kettler siehe Kettler, Gotthard Graß, Carl (* 1767, † 1814, Dichter u. Maler) 107 Grīnbergs, Teodors (* 1870, † 1962, erster Erzbischof der evangelischlutherischen Kirche Lettlands) 201 Grube, Stefan (* ?, † 1483, ab 1480 Erzbischof v. Riga) 61 Guleke, Reinhold (* 1834, † 1927, 1881–1906 Universitätsarchitekt in Dorpat) 134 Gustav II. Adolf (* 1594, † 1632, ab 1611 König v. Schweden) 81–83, 92

Hamann, Johann Georg (* 1730, † 1788, Philosoph u. Schriftsteller) 105 Hartknoch, Johann Friedrich (* 1740, † 1789, Verleger) 105, 106 Hartwig II. (* ?, † 1207, ab 1184 Erzbischof v. Hamburg-Bremen) 20, 21 Heesters, Johannes (* 1903, † 2011, Schauspieler u. Sänger) 81 Heinrich v. Lettland (* ?, † nach 1259, Priester u. Chronist) 17–19, 21–26, 50, 63, 271 Helewegh, Hermann (* ?, † 1489, Ratsherr u. Chronist) 59 Henning Scharpenberg siehe Scharpenberg, Henning Herder, Johann Gottfried (* 1744, † 1803, Dichter u. Philosoph, 1802 geadelt) 98, 105–107, 109, 132, 133, 220, 228, 274 Hilbig, Gustav (* 1822, † 1887, Architekt, Professor am Rigaer Polytechnikum) 129, 188 Hilchen, David (* 1561, † 1610, Stadtsyndikus) 78 Hildebrand, Michael (* 1433, † 1509, ab 1484 Erzbischof v. Riga) 62 Himmler, Heinrich (* 1900, † 1945, nationalsozialistischer Politiker) 204, 205 Himsel, Nikolaus (* 1729, † 1764, Arzt, Forschungsreisender u. Sammler, 1754 geadelt) 105, 135 Holcmanis, Andrejs (* 1920, † 2009, Architekt u. Denkmalpfleger) 236 Holtei, Karl v. (* 1798, † 1880, Schriftsteller u. Schauspieler) 113 Hude, Hermann v. der (* 1830, † 1908, Architekt) 134

Haberland, Christoph (* 1750, † 1803, Baumeister) 99, 113, 239

Innozenz VI. (* spätestens 1292, † 1362, ab 1352 Papst) 57 Personenregister 

289

Irbe, Kārlis (* 1861, † 1934, 1922– 1931 Bischof der evangelischlutherischen Kirche Lettlands) 182 Ivan III. (* 1440, † 1505, ab 1462 Großfürst v. Moskau) 66 Ivan IV. (der Schreckliche, * 1530, † 1584, ab 1547 Zar) 70, 71, 75, 273 Jakob Kettler siehe Kettler, Jakob Jansen, Hermann (* 1869, † 1945, Architekt u. Stadtplaner) 158 Jansons, Mariss (* 1943, Dirigent) 267 Jasper Linde siehe Linde, Jasper Jeckeln, Friedrich (* 1895, † 1946, »Höherer SS- und Polizeiführer Ostland«) 204, 205, 208 Joffe, Adolf (* 1883, † 1927, 1920 russ. Verhandlungsführer in Friedensgesprächen mit Lettland) 176 Johann I. (* 1455, † 1513, König v. Dänemark [ab 1481], Norwegen [ab 1483] u. Schweden [1497– 1501]) 61 Johann Freytag v. Loringhoven (* um 1430, † 1494, ab 1483 livländ. Ordensmeister) 62 Johann v. Blankenfelde (* um 1471, † 1527, ab 1524 Erzbischof v. Riga) 63 Johann v. Mengden (* um 1400, † 1469, ab 1450 livländ. Ordensmeister) 60 Johann v. Schwerin ( Johann III., * ?, † 1300, ab 1294/95 Erzbischof v. Riga) 52 Johann v. Sinten ( Johann IV., * ?, † 1397, 1374–1393 Erzbischof v. Riga) 57, 58 Johann v. Wallenrode (* um 1370, † 1419, 1393–1418 Erzbischof v. Riga) 58, 59 Johannes Ambundi de Swan siehe Ambundi de Swan, Johannes 290  Personenregister

Joseph II. (* 1741, † 1790, ab 1765 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) 96, 101 Kalniņš, Kristaps (* 1843, † 1907, Unternehmer) 139 Kant, Immanuel (* 1724, † 1804, Philosoph) 105 Karl IV. (* 1316, † 1378, ab 1355 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) 57 Karl V. (* 1500, † 1558, 1530–1556 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) 62, 273 Karl VIII. Knutsson (* 1409, † 1470, 1448–1457, 1464/65 u. 1467– 1470 König v. Schweden) 61 Karl X. Gustav (* 1622, † 1660, ab 1654 König v. Schweden) 90 Karl XI. (* 1655, † 1697, ab 1660 König v. Schweden) 90 Karl XII. (* 1682, † 1718, ab 1697 König v. Schweden) 93 Karl v. Södermanland (* 1550, † 1611, ab 1604 als Karl IX. König v. Schweden) 81 Katharina II. (die Große, * 1729, † 1796, ab 1762 Zarin) 98, 104, 105, 107–109, 111, 113, 147, 274 Kennan, George Frost (* 1904, † 2005, Diplomat u. Historiker) 182, 183, 185 Kerkovius, Ludwig Wilhelm (* 1831, † 1904, 1890–1901 Stadthaupt) 149 Kettler, Gotthard (* 1517, † 1587, 1559–1561 livländ. Ordensmeister, danach Herzog v. Kurland u. Semgallen) 71, 74, 78, 87 Kettler, Jakob (* 1610, † 1682, ab 1642 Herzog v. Kurland u. Semgallen) 87

Kirhenšteins, Augusts (* 1872, † 1963, kommunistischer Politiker) 194, 195 Knieriem, Woldemar v. (* 1849, † 1935, 1905–1916 Direktor des Polytechnischen Instituts) 168 Knöpken, Andreas (* um 1468, † 1539, Reformator) 67, 68, 273 Knöpken, Jakob (* ?, † ?, Domherr, Bruder A. Knöpkens) 67 Knut VI. (* 1162/63, † 1202, ab 1182 König v. Dänemark) 21 Konrad v. Wallenrode (* um 1350, † 1393, ab 1391 Hochmeister des Deutschen Ordens) 58 Kremer, Gidon (* 1947, Musiker) 267 Kronbergs, Andris (* 1951, Architekt) 240 Kronvalds, Atis (* 1837, † 1875, Publizist, Linguist u. Pädagoge) 192 Kulbergs, Viktors (* 1948, † 2013, Gründer des Rigaer Automuseums) 241 Kundziņš, Pauls (* 1888, † 1983, Architekt u. Volkskultur-Forscher) 190, 227 Kuphaldt, Georg (* 1853, † 1938, 1880–1915 Stadtgartendirektor) 154, 157, 177 Kuusik, Edgar (* 1888, † 1974, estn. Architekt) 188 Kviesis, Alberts (* 1881, † 1944, 1930–1936 Staatspräsident Lettlands) 185 Lācis, Vilis (* 1904, † 1966, Schriftsteller u. kommunistischer Politiker) 194, 237 Lamze, Arnolds (* 1889, † 1945, Stadtplaner) 178, 188 Laube, Eižens (* 1880, † 1967, Architekt) 226

Leijonmarck, Sven (* 1649, † 1728, schwed. Staatsbeamter) 84, 86 Lenin (Vladimir Il’ič Ul’janov, * 1870, † 1924, Theoretiker des Kommunismus, Revolutionsführer) 163, 230–233 Lessing, Gotthold Ephraim (* 1729, † 1781, Dichter) 113 Liepiņš, Roberts (* 1890, † 1978, 1936–1940 Stadthaupt) 195, 197 Linde, Jasper (* ?, † 1524, ab 1509 Erzbischof v. Riga) 56, 67, 69 Lindner, Johann Gotthelf (* 1729, † 1767, Domschulrektor) 105 Lipke, Jānis (* 1900, † 1987, Retter zahlreicher Rigaer Juden) 207 Lohmüller, Johannes (* ?, † vor 1560, Ratssekretär) 68 Lohse, Hinrich (* 1896, † 1964, 1941–1944 »Reichskommissar für das Ostland«) 199, 204 Luther, Martin (* 1483, † 1546, Reformator) 67–69, 80, 273 MacDonald, Jacques (* 1765, † 1840, frz. General) 116 Marie v. Hessen-Darmstadt (Marija Aleksandrovna, * 1824, † 1880, Gemahlin Alexanders II.) 126 Maximilian II. (* 1527, † 1576, ab 1564 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) 74, 75 Mecklenburg siehe Adolf Friedrich bzw. Christoph v. Mecklenburg Meierovics, Zigfrīds (* 1887, † 1925, ab 1918 zweimal Außenminister u. 1921–1924 zweimal Ministerpräsident Lettlands) 176, 238 Meinhard v. Segeberg (* ?, † 1196, ab 1186 Bischof der Liven) 17–19, 21, 22, 271 Melanchthon, Philipp (* 1497, † 1560, Humanist u. Reformator) 67 Personenregister 

291

Melbergs, Gunārs (* 1929, † 1999, Architekt u. Stadtplaner) 245 Mengden, Johann v. siehe Johann v. Mengden Menšikov, Aleksandr Danilovič (* 1673, † 1729, Feldmarschall) 97 Merkel, Garlieb Helwig (* 1769, † 1850, Schriftsteller) 107, 177, 178 Mettig, Constantin (* 1851, † 1914, Historiker) 124 Michael Hildebrand siehe Hildebrand, Michael Mohrmann, Karl (* 1857, † 1927, Architekt, Professor am Rigaer Polytechnikum) 134 Möller, Heinrich (* ?, † 1603, Domschulrektor) 77, 81 Mollyn, Nicolas (* ?, † 1625, Drucker) 78, 79, 82, 83 Moltke, Helmuth Graf v. (* 1800, † 1891, Generalfeldmarschall) 200 Mościcki, Ignacy (* 1867, † 1946, 1926–1939 Staatspräsident Polens) 131 Münster, Sebastian (* 1488, † 1552, für seine Kosmographie bekannter Theologe) 35 Napoleon (Napoléon Bonaparte, * 1769, † 1821, 1804–1814/15 Kaiser der Franzosen) 104, 115, 116 Nauck, Ernst (* 1819, † 1875, erster Direktor des Rigaer Polytechnikums) 129 Neldner, Paul (* 1852, † 1929, Musikalienverleger) 255 Nelsons, Andris (* 1978, Dirigent) 267 Neuburger, Carl David (* 1842, † 1897, Architekt) 134 Neumann, Wilhelm (* 1849, † 1919, Architekt u. Kunsthistoriker) 134, 144, 154, 155 292  Personenregister

Neuner, Georg (* ?, † 1587, Oberpastor) 77 Neurath, Konstantin Frhr. v. (* 1873, † 1956, 1932–1938 Reichsaußenminister) 192 Niedra, Andrievs (* 1871, † 1942, Pfarrer u. Schriftsteller) 174 Nikolaus I. (* 1796, † 1855, ab 1825 Zar) 125 Nikolaus II. (* 1868, † 1918, 1894– 1917 Zar) 151, 177 Nikolaus v. Nauen (* ?, † 1253, ab 1231 Bischof v. Riga) 30 Nyenstede, Franz (* 1540, † wahrscheinlich 1622, Bürgermeister, Witwenheim-Stifter) 81, 101, 106 Oettingen, August Georg Friedrich v. (* 1823, † 1908, 1862–1868 Gouverneur v. Livland, 1886–1889 Stadthaupt) 148 Oettingen, Maximilian v. (* 1843, † 1900, Kommunalpolitiker) 149 Oettinger, Johann Friedrich v. (* 1714, † 1767, Baumeister) 98, 99 Oltarževskij, Viačeslav (* 1880, † 1966, Architekt) 233 Oxenstierna, Axel (* 1583, † 1654, ab 1612 schwed. Kanzler) 82 Palach, Jan (* 1948, † 1969, tschech. Student) 237 Palme, Olof (* 1927, † 1986, schwed. Politiker) 168 Paul I. (* 1754, † 1801, ab 1796 Zar) 111, 274 Paulucci, Filippo (* 1779, † 1849, 1812–1829 Generalgouverneur v. Livland u. Kurland [1819–1829 auch v. Estland]) 116, 177, 178 Pelše, Arvīds (* 1899, † 1983, kommunistischer Politiker) 230

Pernstein, Friedrich v. siehe Friedrich v. Pernstein Peter I. (der Große, * 1672, † 1725, ab 1682 Zar) 94–98, 110, 117, 151, 261, 262, 275 Pflug, Robert (* 1832, † 1885, Architekt) 121 Philip, Herzog v. Edinburgh (* 1921, brit. Prinzgemahl) 157 Philipp v. Ratzeburg (* ?, † 1215, ab 1204 Bischof v. Ratzeburg) 18, 29 Philipp v. Schwaben (* vor 1178, † 1208, ab 1198/1204 Röm. König) 21 Piłsudski, Józef (* 1867, † 1935, poln. Marschall u. Politiker) 131 Pimenov, Stepan (* 1784, † 1833, 1814–1830 Petersburger Kunstakademie-Professor) 117 Pirang, Heinz (* 1876, † 1936, Architekt) 130 Podnieks, Juris (* 1950, † 1992, Filmregisseur) 251 Possevino, Antonio (* 1534, † 1611, Jesuit) 76 Plettenberg, Wolter v. siehe Wolter v. Plettenberg Praunheim, Rosa v. (* 1942, Filmregisseur) 197, 198 Pučiņš, Edgars (* 1924, † 2009, 1960–1970 Stadtarchitekt) 232 Pugo, Boris (* 1937, † 1991, ab 1990 sowjetischer Innenminister) 251 Pumpjanskij, Aaron (* 1835, † 1893, Rabbiner) 143 Pupurs, Jānis (* 1901, † 1977, 1940 Stadthaupt) 195 Quarenghi, Giacomo (* 1744, † 1817, ital. Architekt) 117

Radziwiłł, Mikołaj (* 1512, † 1584, 1565–1579 Großkanzler v. Litauen) 72, 75 Rainis, Jānis ( Jānis Pliekšāns, * 1865, † 1929, Dichter u. Politiker) 229, 230 Ramm, Nikolaus (* ?, † 1532, Prediger an der Jakobikirche) 68–70 Redlich, Clara (* 1908, † 1992, Archäologin u. Historikerin) 24, 25, 42, 50 Reinberg, August (* 1860, † 1908, Architekt) 153, 154 Reutern, Johann (* 1635, † 1698, aus Lübeck zugewanderter Patrizier, 1691 geadelt) 91 Rips, Ilja (Elijahu) bzw. Il’ja (* 1948, Mathematiker) 237, 238 Rodenburg, Johann (* ?, † 1657, Festungsbaumeister) 88 Roschmann, Eduard (* 1908, † 1977, Ghetto- u. KZ-Kommandant) 208 Rosenberg, Alfred (* 1893, † 1946, 1941–1945 »Reichsminister für die besetzten Ostgebiete«) 131, 199 Rubiks, Alfrēds (* 1935, 1984–1990 Exekutivkomitee-Vorsitzender bzw. Bürgermeister der Stadt Riga) 252 Rudnev, Lev (* 1885, † 1956, Architekt) 233, 234 Rumeschottel, Johann (* ?, † ?, Baumeister, erweiterte 1406–1409 die Petrikirche) 37, 38 Sachs, Hans (* 1494, † 1576, Meistersinger) 69 Samson, Hermann (* 1579, † 1643, Oberpastor, ab 1622 Generalsuperintendent v. Livland) 80, 82, 83 Sauerbruch, Ernst Ferdinand (* 1875, † 1951, Chirurg) 181 Personenregister 

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Scharpenberg, Henning (* ?, † 1448, ab 1424 Erzbischof v. Riga) 58, 59 Scherwinsky, Max (* 1859, † 1909, ab 1888 Gewerbeschuldirektor) 152 Schiller, Friedrich (* 1759, † 1805, Dichter, 1802 geadelt) 107, 113 Schmaeling, Reinhold (* 1840, † 1917, 1879–1915 Stadtarchitekt) 127, 141, 239 Schnéevoigt, Georg (* 1872, † 1947, finn. Dirigent) 152 Schöning, Thomas (* ?, † 1539, ab 1528 Erzbischof v. Riga) 62, 63 Schröder, Gerhard (* ?, † 1657, Drucker) 83 Schumann, Clara (* 1819, † 1896, Pianistin) 114 Schwerin, Johann v. siehe Johann v. Schwerin Šeremetev, Boris Petrovič (* 1652, † 1719, Generalfeldmarschall) 94, 95, 97 Seuberlich, Hermann (* 1878, 1938 verschollen, Architekt) 144 Shakespeare, William (* 1564, † 1616, engl. Dichter) 114 Siegfried Blomberg siehe Blomberg, Siegfried Sievers, Jakob Johann v. (* 1731, † 1808, Staatsmann u. Diplomat) 108 Sigismund II. August (* 1520, † 1572, ab 1548 [bzw. formal jeweils schon davor] König v. Polen u. Großfürst v. Litauen) 63, 72 Sigismund III. Wasa (* 1566, † 1632, ab 1587 König v. Polen u. Großfürst v. Litauen, 1592–1599 König v. Schweden) 78, 80, 86 Silvester Stodewescher siehe Stodewescher, Silvester 294  Personenregister

Sinten, Johann v. siehe Johann v. Sinten Sixtus IV. (* 1414, † 1484, ab 1471 Papst) 61 Skalbe, Kārlis (* 1879, † 1945, Dichter) 184 Skujin, Friedrich (* 1890, † 1957, Architekt) 227 Slapiņš, Andris (* 1949, † 1991, Filmregisseur u. Kameramann) 251 Šlesers, Ainārs (* 1970, Unternehmer u. Politiker) 269 Sonntag, Karl Gottlob (* 1765, † 1827, ab 1803 Generalsuperintendent v. Livland) 107 Spengler, Oswald (* 1880, † 1936, Kulturphilosoph) 181 Stahlecker, Walter (* 1900, † 1942, ab 1941 Befehlshaber der »Einsatzgruppe A«) 202, 203, 208 Štālbergs, Ernests (* 1883, † 1958, Architekt) 184, 230 Stalin (Iosif Vissarionovič Džugašvili, * 1879, † 1953, sowjetischer Diktator) 163, 194, 195, 230, 242 Stanisław II. August Poniatowski (* 1732, † 1798, 1764–1795 König v. Polen u. Großfürst v. Litauen) 101 Stefan Grube siehe Grube, Stefan Steinbrecht, Conrad (* 1849, † 1923, Leiter v. Wiederherstellungsarbeiten an der Marienburg) 135 Sten Sture der Ältere (* um 1440, † 1503, 1470–1497 schwed. Reichsverweser) 61 Stephan Báthory (* 1533, † 1586, ab 1576 König v. Polen u. Großfürst v. Litauen) 74–76, 78, 81, 86 Stodewescher, Silvester (* ?, † 1479, ab 1448 Erzbischof v. Riga) 56, 57, 59–61 Stradiņš, Pauls (* 1896, † 1958, Mediziner) 268

Stranga, Aivars (* 1954, Historiker) 177 Stromberg, Niels (* 1646, † 1723, 1709/10 Generalgouverneur v. Livland) 95 Stučka, Pēteris (* 1865, † 1932, 1918/19 Chef einer sowjetlettischen Regierung) 173, 174, 180, 225, 231, 276 Stüler, Friedrich August (* 1800, † 1865, Berliner Baumeister) 129 Sudmalis, Imants (* 1916, † 1944, kommunistischer UntergrundAktivist) 201 Suerbeer, Albert (* um 1200, † 1273, ab 1253 Erzbischof v. Riga) 30, 52, 63, 272 Suvorov-Rymnikskij, Aleksandr Arkadevič (* 1804, † 1882, 1848–1861 Generalgouverneur der Ostseeprovinzen) 123, 124, 132 Švitrigaila (* um 1370, † 1452, lit. Großfürst) 59 Tastius, Johann (* ?, † 1586, Obervogt) 77 Tegetmeyer, Sylvester (* ?, † 1552, Reformator) 67, 68 Theoderich (* 1170, † 1236, Bruder Alberts v. Bekeshovede) 21 Theoderich v. Treyden (* ?, † 1219, mutmaßlich erster Abt v. Dünamünde, ab 1211 Bischof v. Leal) 22, 26, 27, 63 Thomas Schöning siehe Schöning, Thomas Tīlmanis, Osvalds (* 1900, † 1980, 1934–1950 u. 1956–1958 Stadtarchitekt) 233

Ulbricht, Walter (* 1893, † 1973, ab 1960 DDR-Staatsratsvorsitzender) 228, 241 Ulmanis, Kārlis (* 1877, † 1942, 1936–1940 Staatspräsident Lettlands) 172–175, 185–188, 190, 191, 193–195, 199, 226, 262, 263, 277 Ulme, Arvīds (* 1947, Politiker u. Umwelt-Aktivist) 247 Upīts, Andrejs (* 1877, † 1970, Schriftsteller) 267 Valdemārs, Krišjānis (* 1825, † 1891, führender Kopf der Junglettenbewegung) 239 Valters, Ēvalds (* 1894, † 1994, Schauspieler) 81 Veckalns, Andrejs (* 1879, † 1942, Politiker) 179 Velde, Henry van de (* 1863, † 1957, belg. Architekt) 165 Vestermanis, Marģers (* 1925, Historiker) 268 Vietinghoff, Otto Hermann v. (* 1722, † 1792, Musik- u. Theatermäzen) 106, 112, 113 Vifhusen, Fromhold v. siehe Fromhold v. Vifhusen Vīķe-Freiberga, Vaira (* 1937, 1999–2007 Staatspräsidentin Lettlands) 263 Vītols, Jāzeps (* 1863, † 1948, erster Rektor des Rigaer Konservatoriums) 267 Volz, August (* 1851, † 1926, Bildhauer) 149 Vyšinskij, Andrej (* 1883, † 1954, 1949–1953 sowjetischer Außenminister) 194, 196 Wagner, Richard (* 1813, † 1883, Komponist) 113–115, 255, 275 Personenregister 

295

Wagner, Wolfgang (* 1919, † 2010, Enkel v. R. Wagner) 255 Waldemar II. (* 1170, † 1241, ab 1202 König v. Dänemark) 40 Waldis, Burkhard (* um 1490, † 1556, Franziskaner u. späterer Dichter) 69, 70 Wallenrode siehe Johann bzw. Konrad v. Wallenrode Welling, Gotthard (* ?, † 1586, Ratssyndikus) 77 Wenzel (* 1361, † 1419, 1376/78– 1400 Röm. König) 58 Wiesenthal, Simon (* 1908, † 2005, Gründer v. Dokumentationszentren) 208 Wilhelm II. (* 1859, † 1941, 1888– 1918 dt. Kaiser) 170, 172 Wilhelm v. Brandenburg-Ansbach (* 1498, † 1563, 1539–1561 Erzbischof v. Riga) 63, 72, 73 Wilhelm v. Modena (* um 1184, † 1251, päpstlicher Legat) 29, 41, 49, 271 Witte (Vitte), Sergej Jul’evič (* 1849, † 1915, 1892–1903 russ. Finanzminister, 1905/06 Ministerpräsident) 152

296  Personenregister

Wittrock, Hugo (* 1873, † 1958, 1941–1944 kommissarischer Oberbürgermeister) 199, 200 Wöhrmann, Anna Gertrud (* 1750, † 1827, Stifterin des nach ihr benannten Parks »Vērmanes dārzs«) 118 Wolter v. Plettenberg (* um 1450, † 1535, ab 1494 livländ. Ordensmeister) 62, 67, 225, 273 Wülbern, Johann Heinrich (* 1712, † 1750, Zimmermann) 98 Zāle, Kārlis (* 1888, † 1942, Bildhauer) 184, 230 Zander, Friedrich (* 1887, † 1933, Raketenbauer) 168, 254 Zeidaks, Andrejs (* 1874, † 1964, 1915–1944 Stadtgartendirektor) 186 Zinov’ev, Michail Alekseevič (* 1838, † 1895, ab 1885 Gouverneur v. Livland) 149 Zvaigzne, Gvido (* 1958, † 1991, Kameramann) 251

ORTS-, GEBÄUDE- UND STRASSENREGISTER Auf Querverweise von den lettischen hin zu den deutschen oder von den deutschen hin zu den lettischen Namen bestimmter Städte und Örtlichkeiten wurde in Fällen verzichtet, in denen zwei derartige Einträge unmittelbar untereinander gestanden hätten. Bei baltischen Städten dient jeweils deren deutscher Name als Nachschlageform, da sie im Buch zumeist in Kontexten erwähnt sind, die zeitlich vor dem Aufstieg des Lettischen, Estnischen und Litauischen zu offiziellen Amtssprachen liegen. Heutige Stadtteile Rigas (sowie Orte, die nur zwischen 1946 und 1959 eingemeindet waren) sind dagegen unter ihren lettischen Namen verzeichnet, da die meisten von ihnen frühestens ab dem Industrialisierungszeitalter eine stadtgeschichtliche Rolle gespielt haben. Eine Ausnahme bildet das schon im Mittelalter zu erheblicher Bedeutung gelangte Dünamünde bzw. Daugavgrīva, bei dem daher zu »Dünamünde« als Nachschlageform verwiesen wird. Auch bei Straßennamen führen der Eindeutigkeit halber alle Querverweise hin zu den lettischen Formen von heute; lediglich bei den Namen von Plätzen und Parks lag es eher nahe, sie unter jeweiligen deutschen Namen einzuordnen – jedenfalls sofern der lettische und der deutsche Name einander lautlich ähneln, was bei Plätzen öfter vorkommt als bei Straßen. Flüsse sind nur erfasst, sofern sie ausschließlich oder größtenteils durch Rigaer Stadtgebiet flossen oder fließen; sonstige Gewässer finden sich ebenfalls nur registriert, sofern sie in Riga oder dessen nächster Nähe liegen. Inseln sind auch bei etwas größerer Entfernung von Riga berücksichtigt, wobei jeweils zum deutschen Namen hinverwiesen wird. Abterode 70 Ādaži siehe Neuermühlen Āgenskalns (Hagensberg) 100, 140 Aglohn (lett. Aglona) 181 Aizpute siehe Hasenpoth Akademie der Wissenschaften (Gebäude der) 221, 232–235 Akmens tilts siehe Steinbrücke Alberta iela (Albertstraße) 130, 214, 215, 224 Albertplatz (lett. Alberta laukums) 186 Albertstraße siehe Alberta iela Aldaru iela (Große Brauerstraße) 32, 90

Aleksandra Čaka iela ([der altstadtferne Abschnitt der früheren] Marienstraße) 127, 186, 256 Alexander-Boulevard siehe Brīvības bulvāris Alexander-Pforte 117, 185 Alexander-Straße siehe Brīvības iela Alexanderschanzengarten 97 Alksnāja iela (Reformierte Straße) 50 Alte Gertrudenkirche 47, 140 Altstadt (im Sinne der gleichnamigen Straße) siehe Vecpilsēta Amatu iela (Gildstubenstraße) 23, 120 Amsterdam 267 Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

297

Andreja Pumpura iela (Andreasstraße) 47 Anglikanische Kirche 123, 218 Antwerpen 79 Archangel’sk 87 Architekturmuseum 212 Arkādijas parks 247 Armeewarenhaus (das spätere Zentralkaufhaus) 187, 234, 264 Aspazijas bulvāris (Theater-Boulevard) 131, 164, 179 Audēju iela (Weberstraße) 33, 34, 187, 232 Automuseum 241, 242 Avignon 56 Avotu iela (Sprenkstraße) 256 Babitsee (auch Babbitsee, lett. Babītes ezers) 49 Bad Segeberg siehe Segeberg Bahnhof siehe Hauptbahnhof Bahnhofstraße siehe Gogoļa iela Baldohn (lett. Baldone) 116 Bastei-Boulevard siehe Basteja bulvāris Basteiberg (lett. Bastejkalns) 14, 126, 191, 247, 251 Basteja bulvāris (Bastei-Boulevard) 150, 165 Belgrad 256 Bergs-Basar (lett. Berga bazārs) 139 Bergstraße (Große) siehe Kalna iela Berlin 113, 121, 124, 125, 127, 153, 154, 158, 170–172, 205, 206, 227, 255 Bexhövede 20 Biķernieki (Bickern) 203, 206, 207 Birka 16 Bischofspfalz (im Sinne der einstigen Pfalz westlich des heutigen Doms) 30, 74, 135 Bischofspfalz (im Sinne der ersten Pfalz Alberts I., an deren Stelle 298  Orts-, Gebäude- und Straßenregister

heute die Johanniskirche steht) 23–25, 39 Blaumaņa iela (Große Newa-Straße) 191 Bolderāja (Bolderaa) 123–125, 178 Börse (Gebäude der) 120–122, 220 Brāļu kapi siehe Brüderfriedhof Brambergshof siehe Daugmale Brandenburg an der Havel 31 Bratislava (Preßburg) 243 Brauerstraße (Große) siehe Aldaru iela Brauerstraße (Kleine) siehe Mazā Aldaru iela Bremen 17, 21, 29, 30, 278 Bremerhaven 20 Brest-Litovsk 172 Brīvības bulvāris (Freiheitsboulevard [um 1900 Alexander-Boulevard]) 117, 179, 226, 231 Brīvības iela, Brīvības gatve (Freiheitsstraße [um 1900 Alexander-Straße bzw. weiter stadtauswärts Livländische Chaussee]) 85, 117, 231, 255, 262, 267 Brücke der Inseln (Salu tilts, in sowjetischer Zeit: Maskavas tilts) 279 Brüderfriedhof (lett. Brāļu kapi) 167, 184, 238, 239, 277 Bruņinieku iela (Ritterstraße) 193 Buenos Aires 208 Bukarest 256 Cammin (poln. Kamień Pomorski) 67 Cēsis siehe Wenden Charkov 168 Christi-Geburt-Kathedrale 140, 154, 218, 253 Chur 58 Dahlen (lett. Dole) 17 Dannensternhaus 213, 269, 270 Danzig 202, 207, 277 Daugavgrīva siehe Dünamünde

Daugavpils siehe Dünaburg Daugavpils iela (Dünaburger Straße) 205 Daugmale (Brambergshof ) 16, 17 Dole siehe Dahlen Dom, Domkirche (im Sinne der heutigen Domkirche St. Marien) 14, 15, 29, 30, 37, 39, 60, 68, 79, 80, 82, 96, 100, 132–135, 182, 186, 200, 201, 218, 220, 228, 254, 260, 262, 271, 277 Dom, Domkirche (im Sinne des 1215 abgebrannten ersten Doms Alberts I.) 23, 24, 39, 271 Dommuseum (Vorläufer des »Rigaer Museums für Geschichte u. Schifffahrt«) 106, 112, 135, 228 Domplatz (lett. Doma laukums) 40, 120, 165, 186, 187, 189, 191, 220, 252 Dorpat (estn. Tartu) 21, 52, 55, 56, 65, 66, 71, 85, 116, 130, 140, 168, 171 Dorpater Straße siehe Tērbatas iela Dortmund 29 Dresden 99 Drohiczyn 75, 77 Dubrovnik 149 Dünaburg (lett. Daugavpils) 123, 124, 134, 198 Dünaburger Straße siehe Daugavpils iela Dünamünde (lett. Daugavgrīva) 26, 27, 49, 53, 92, 93, 103, 178, 206, 271, 272, 274 Dzirnavu iela (Mühlenstraße) 115, 144 Eckau (lett. Iecava) 116 Eisenbahnbrücke 123, 137, 159, 166 Elizabetes iela (Elisabethstraße) 125, 200, 235, 267 Ellerbrok 31, 51

Esplanade 15, 125, 140, 152–154, 222, 230, 231, 246, 261 Fellin (estn. Viljandi) 52, 116 Fernsehturm 279 Filmstudios 81, 242, 278 Florenz 121 Flughafen (im Sinne des in den 1920er Jahren angelegten Flugfeldes im heutigen Stadtteil Spilve) 93, 277, 278 Flughafen (im Sinne des modernen internationalen Flughafens knapp südwestlich des derzeitigen Stadtrands) 243, 253, 263, 278 Freiheitsboulevard siehe Brīvības bulvāris Freiheitsdenkmal (lett. Brīvības piemineklis) 117, 157, 183–185, 196, 209, 226, 229–231, 237, 247–249, 260, 262, 263, 266, 277 Freiheitsstraße siehe Brīvības iela Freilichtmuseum 223, 227, 228, 277 Ganību dambis (Weidendamm) 139 Gelnhausen 21 Genua 208 Georgskirche (im Sinne der heute als Kunstgewerbemuseum genutzten Kirche der einstigen Ordensburg) 23, 25, 36, 37, 39, 211 Gertrudenkirche (Alte) siehe Alte Gertrudenkirche Ghetto-Museum 269 Gildstubenstraße siehe Amatu iela Gogoļa iela (Bahnhofstraße) 144 Goldingen (lett. Kuldīga) 66 Gorkij-Brücke siehe Wantenbrücke Görlitz 99 Goslar 134 Gotland 26, 27, 29, 41, 44, 99 Graz 208 Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

299

Grēcinieku iela (Große Sünderstraße) 201, 232, 258 Grevesmühlen 134 Griesenberg (lett. Grīziņkalns) 156, 161 Groningen 29 Große Bergstraße siehe Kalna iela Große Brauerstraße siehe Aldaru iela Große Gilde (im Sinne des Gebäudekomplexes zwischen Zirgu, Meistaru u. Amatu iela) 41, 42, 44 (?), 119, 121, 122, 190, 219, 224 Große Königstraße siehe Riharda Vāgnera iela sowie Ķēniņa iela Große Küterstraße siehe Miesnieku iela Große Lärmstraße siehe Trokšņu iela Große Neustraße siehe Jauniela Große Newa-Straße siehe Blaumaņa iela Große Peitaustraße siehe Peitavas iela Große Pferdestraße siehe Zirgu iela Große Sandstraße siehe Smilšu iela Große Schlossstraße siehe Pils iela Große Schmiedestraße siehe Kalēju iela Große Sünderstraße siehe Grēcinieku iela Großer Stadtfriedhof (lett. Lielie kapi) 101, 239, 240 Haapsalu siehe Hapsal Hagensberg siehe Āgenskalns Hahnenklee 134 Haithabu 16 Hamburg 30, 46, 113, 170, 208, 272 Hannover 128 Hapsal (estn. Haapsalu) 44, 272 Hasenpoth (lett. Aizpute) 173 Hauptbahnhof 124, 183, 195, 221, 244 Heiliggeistturm 53, 273 Helsinki (Helsingfors) 125, 152 Herderplatz (lett. Herdera laukums) 132, 133, 186, 228, 229 Herford 30, 31 300  Orts-, Gebäude- und Straßenregister

Herrenstraße siehe Kungu iela Herrnhut 92, 192 Hildesheim 30 Hinzenberg (lett. Inčukalns) 170 Holme (lett. Mārtiņsala) 17, 18, 20, 48 Iecava siehe Eckau Ikšķile siehe Uexküll Imanta 178, 243 Inčukalns siehe Hinzenberg Irkutsk 169 Jägelsee (lett. Juglas ezers) 49, 227 Jakobikirche 34, 37–39, 67, 68, 76, 77, 80, 103, 104, 107, 140, 181, 182, 186, 219, 261, 277 Jakobskasernen 150 Jakobstädtsche Straße siehe Jēkabpils iela Jakobstraße siehe Jēkaba iela Jakobstraße (Kleine) siehe Mazā Jēkaba iela Jam Zapolski (russ. Jam Zapol’skij) 75 Jāņa iela ( Johannisstraße) 23 Jaroslawstraße siehe Ludzas iela Jaunavu iela (Kleine Jungfernstraße) 98 Jauniela (Große Neustraße) 14, 28, 39, 187 Jēkaba iela ( Jakobstraße) 32, 104, 120, 252 Jēkabpils iela ( Jakobstädtsche Straße) 204 Jelgava siehe Mitau Jena 107 Jesuskirche 89 Johanniskirche 23–25, 39, 81, 85, 92, 101, 210, 219 Johannisstraße siehe Jāņa iela Juglas ezers siehe Jägelsee Jungfernhof (lett. Jumpravmuiža) 205, 206

Jungfernstraße (Kleine) siehe Jaunavu iela Jūrmala 143, 228, 278 Kairo 154 Kaisergarten siehe Viesturdārzs Kaiserwald (Rigaer Villenviertel, 1943/44 Name eines Konzentrationslagers) 157, 158, 177, 206, 208 Kalēju iela (Große Schmiedestraße) 33, 106 Kaļķu iela (Kalkstraße) 23, 24, 47, 89, 141, 165, 190, 231, 232 Kalmar 60 Kalna iela (Große Bergstraße) 204 Kalnciema iela (Kalnezeemsche Straße) 263 Kardis (estn. Kärde) 274 Kassel 22, 70 Katharinenkirche 39 Katlekaln (lett. Katlakalns) 178 Kaufstraße siehe Tirgoņu iela Kaunas 199 Kemmern (lett. Ķemeri) 228 Ķēniņa (bzw. Ķēniņu) iela (Kleine Königstraße) 190 Ķēniņa iela (im Sinne eines heute nicht mehr existenten Abschnitts der Großen Königstraße) 187 Kerč 125 Kiepenholm (lett. Ķīpsala) 101, 178, 265, 278 Kiev 125 Ķīpsala siehe Kiepenholm Kirchholm (lett. Salaspils) 59–62, 81, 273 Ķīšezers siehe Stintsee Kleine Brauerstraße siehe Mazā Aldaru iela Kleine Gilde (im Sinne des Gebäudes südlich der Ecke v. Amatu u. Meistaru iela) 41, 42, 121, 190, 219

Kleine Jakobstraße siehe Mazā Jēkaba iela Kleine Jungfernstraße siehe Jaunavu iela Kleine Königstraße siehe Ķēniņa (bzw. Ķēniņu) iela Kleine Lärmstraße siehe Mazā Trokšņu iela Kleine Münzstraße siehe Mazā Monētu iela Kleine Neustraße siehe Mazā Jauniela Kleine Peitaustraße siehe Mazā Peitavas iela Kleine Sandstraße siehe Mazā Smilšu iela Kleine Schlossstraße siehe Mazā Pils iela Kleine Schmiedestraße siehe Meistaru iela Kleisti 178 Klostera iela (Klosterstraße) 104, 181, 212 Kobronschanze 89, 90, 93, 177 Kokenhusen (lett. Koknese) 56, 57, 61, 66 Köln 146, 205 Königsberg (russ. Kaliningrad) 31, 104, 105, 114, 199 Königstraße (Große) siehe Riharda Vāgnera iela sowie Ķēniņa iela Königstraße (Kleine) siehe Ķēniņa (bzw. Ķēniņu) iela Konservatorium 267, 268 Konstanz 58 Kopenhagen 99, 193 Krāmu iela (Krämerstraße) 39, 79, 252 Krāslavas iela (Palisadenstraße) 144 Krefeld 129 Kriegsmuseum 188, 189, 223 Krišjāņa Barona iela (Suworow-Straße) 191 Krišjāņa Valdemāra iela (Nikolaistraße) 156, 259, 262 Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

301

Kronvalda bulvāris (Puschkin-Boulevard) 156 Kronvalds-Park (lett. Kronvalda parks, vormals Schützengarten) 153, 154, 192, 261 Kubsberg (einstiger Hügel im Bereich der Esplanade) 15, 47 Kuldīga siehe Goldingen Kulm (poln. Chełmno) 55, 65 Kungu iela (Herrenstraße) 28, 34, 198, 258 Kunstakademie 122, 267 Kunstmuseum (dasjenige in der vormaligen Börse) 122 Kunstmuseum (Städtisches [siehe auch: Nationalgalerie]) 112, 155, 230 Kurtenhof (lett. Salaspils) 206 Küterstraße siehe Miesnieku iela Lāčplēša iela (Romanow-Straße) 163, 203 Laima-Uhr 179, 266 Laipu iela (Stegstraße) 23, 39 Lärmstraße (Große) siehe Trokšņu iela Lärmstraße (Kleine) siehe Mazā Trokšņu iela Leipzig 107, 113, 134 Lemsal (lett. Limbaži) 66, 91, 92 Leningrad siehe Sankt Petersburg Libau (lett. Liepāja) 160, 167, 173, 174, 198, 223, 247 Lielie kapi siehe Großer Stadtfriedhof Liepāja siehe Libau Limbaži siehe Lemsal Limerick 108 Līvu laukums (nach dem Zweiten Weltkrieg entstandener Platz in der Altstadt) 190 Loccum 18, 19 Lübeck 18, 29, 37, 41, 45, 51, 58, 61, 64, 69, 272 Lublin 73 302  Orts-, Gebäude- und Straßenregister

Lucavsala siehe Lutzausholm Ludwigsburg 134 Ludzas iela ( Jaroslawstraße) 161 Lüttich 58 Lutzausholm (lett. Lucavsala) 93, 175, 245 Magdeburg 18, 21, 30, 114 Mangaļsala (Magnusholm) 228 Mannheim 113 Maria-Magdalenen-Kirche 39, 76, 103, 181 Marienfeld 26, 27 Marienstraße siehe Marijas iela sowie Aleksandra Čaka iela Marijas iela ([bis 1940 die gesamte, heute nur noch der altstadtnahe Abschnitt der früheren] Marienstraße) 126, 185 Mārstaļu iela (Marstallstraße) 34, 91, 254, 269 Mārtiņa kapi siehe Martinsfriedhof Mārtiņsala siehe Holme Martinsfriedhof (lett. Mārtiņa kapi) 100 Maskavas iela (Moskauer Straße, lett. bis 1940 auch Latgales iela) 144, 204 Mazā Aldaru iela (Kleine Brauerstraße) 105 Mazā Jauniela (Kleine Neustraße) 98 Mazā Jēkaba iela (Kleine Jakobstraße) 187 Mazā Monētu iela (Kleine Münzstraße) 23, 37 Mazā Peitavas iela (Kleine Peitaustraße) 50 Mazā Pils iela (Kleine Schlossstraße) 104, 181 Mazā Smilšu iela (Kleine Sandstraße) 131 Mazā Trokšņu iela (Kleine Lärmstraße) 32

Meistaru iela (Kleine Schmiedestraße) 190 Meldorf 77 Mentzendorffhaus 258 Merķeļa iela (Paulucci-Straße) 186 Meža kapi siehe Waldfriedhof Mežaparks 157, 236, 278 Miesnieku iela (Küterstraße oder Große Küterstraße) 33 Mīlgrāvis (Mühlgraben) 137 Minsk 176, 246 Mitau (lett. Jelgava) 99, 114, 124, 169, 175, 180 Mitauer Vorstadt 116, 156 Moskau 70, 85, 90, 168, 172, 173, 176, 195, 200, 232, 233, 237, 245, 246, 250, 251, 267, 279 Moskauer Brücke siehe Brücke der Inseln Moskauer Straße siehe Maskavas iela Moskauer Vorstadt 48, 104, 140, 141, 159, 161, 203, 205, 221, 234 Mühlenstraße siehe Dzirnavu iela Mühlgraben siehe Mīlgrāvis Münster 29, 41–43 Münzstraße (Kleine) siehe Mazā Monētu iela Narva 45, 71, 85, 140, 201 Nationalbibliothek 191, 229, 265 Nationalgalerie 155, 203 Nationaloper 127, 128, 157 Nationaltheater 157, 276 Naumburg 27 Neuermühlen (lett. Ādaži) 52 Neumünster 21 Neustraße (Große) siehe Jauniela Neustraße (Kleine) siehe Mazā Jauniela Newa-Straße (Große) siehe Blaumaņa iela Nikolaistraße siehe Krišjāņa Valdemāra iela Nižnij Novgorod 168

Novgorod 65, 66, 198 Odessa 162, 245 Oger (lett. Ogre) 170 Okkupationsmuseum 216, 232, 259 Oktober-Brücke siehe Steinbrücke Oliva 90, 274 Omsk 245 Ordensburg (im Sinne der Schwertritter- und nachmaligen Deutschordensburg der Zeit bis 1297) 23, 24, 36, 39, 52, 53, 272 Ordensschloss siehe Schloss Ösel (estn. Saaremaa) 44, 49, 52, 55, 99, 199 Oxford 157 Padis (estn. Padise) 53 Palasta iela (Palaisstraße) 96 Palisadenstraße siehe Krāslavas iela Paris 153 Pärnu siehe Pernau Paulskirche 39 Paulucci-Straße siehe Merķeļa iela Peitaustraße (Große) siehe Peitavas iela Peitaustraße (Kleine) siehe Mazā Peitavas iela Peitavas iela (Große Peitaustraße) 144, 203 Peldu iela (Schwimmstraße) 33, 34 Pernau (estn. Pärnu) 64, 116 Peter-Pauls-Kirche (1786–1886 Rigas orthodoxe Kathedrale) 103, 140, 235 Petersburg siehe Sankt Petersburg Petersburger Vorstadt 130, 139, 140 Petrikirche 24, 25, 37, 38, 50, 52, 57, 67, 68, 82, 91, 98, 149, 186, 189, 198, 204, 211, 216–219, 223, 227, 234, 253, 254, 258, 273, 274, 277 Petrograd siehe Sankt Petersburg Pferdestraße (Große) siehe Zirgu iela Pforta 27 Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

303

Pils iela (Große Schlossstraße) 120 Pilsētas kanāls siehe Stadtkanal Pleskau siehe Pskov Polock 31, 32, 103 Poltava 94 Polytechnikum, Polytechnisches Institut (im Sinne der Gründung von 1862) 129, 130, 134, 148, 157, 168, 169, 180, 268, 275, 276 Polytechnisches Institut (im Sinne der Neugründung von 1958) 231, 268 Pori (Björneborg) 278 Prag 30, 58, 237 Preekuln (lett. Priekule) 173 Priedaine (Kiefernhalt [heute ein Stadtteil Jūrmalas]) 228 Priekule siehe Preekuln Pskov 21, 31, 66, 124 Pulverturm (Sandturm) 29, 34, 35, 89, 126, 130, 131, 150, 188, 223, 273 Puschkin-Boulevard siehe Kronvalda bulvāris RAF (Rigaer Autobusfabrik) 276 Raiņa bulvāris (Thronfolger-Boulevard) 126, 129 Rainis-Friedhof (lett. Raiņa kapi) 238 Rakvere siehe Wesenberg Ramerturm 35 Rathaus 40, 54, 72, 80, 98, 99, 109, 119, 149, 153, 174, 198, 227, 231, 232, 259, 274 Rathausplatz (lett. Rātslaukums) 98, 99, 149, 150, 186, 188, 189, 198, 217, 229, 259 Ratzeburg 29 Rauna siehe Ronneburg Reformierte Kirche 123, 254 Reformierte Straße siehe Alksnāja iela Regensburg 134 Reuternhaus 91 304  Orts-, Gebäude- und Straßenregister

Reval (estn. Tallinn) 45, 55, 61, 64–66, 72, 85, 111, 125, 131, 140, 164, 201, 249, 279 Rīdzene siehe Rigebach Rīdzenes iela (Riesingstraße) 89, 234, 264 Riesing siehe Rigebach Riesingstraße siehe Rīdzenes iela Rīgas Jūrmala (Rigascher Strand) 228 Rīgas Stradiņa Universitāte siehe Stradiņš-Universität Rigebach (lett. Rīgas upe) 13, 14, 19, 20, 23, 26, 28, 29, 31, 34, 38, 47, 48, 50–54, 89, 234, 235, 271, 272 Rigeholm 48, 51 Riharda Vāgnera iela (Große Königstraße) 112, 114 Rimini 208 Rītabuļļi 178 Ritterschaftshaus (heute das Gebäude des Parlaments) 121, 151, 225 Ritterstraße siehe Bruņinieku iela Rolandsfigur 149, 150 Rom 56 Romanow-Straße siehe Lāčplēša iela Ronneburg (lett. Rauna) 56, 62 Roop (lett. Straupe) 66 Rosenstraße siehe Rozena iela Rostock 37, 38, 68, 278 Rote Düna (lett. Sarkandaugava [ein Seitenarm der Düna, dessen lettischer Name sich auch auf den angrenzenden Stadtteil übertragen hat]) 97, 100, 139 Rozena iela (Rosenstraße) 33 Ruhenthal (lett. Rundāle) 99 Rumbula 205, 269, 278 Rundāle siehe Ruhenthal Rybinsk 167 Saaremaa siehe Ösel Saeima siehe Ritterschaftshaus

Salaspils siehe Kirchholm sowie Kurtenhof Salu tilts siehe Brücke der Inseln Šampēteris 178, 254 Sandstraße (Große) siehe Smilšu iela Sandstraße (Kleine) siehe Mazā Smilšu iela Sandturm siehe Pulverturm Sankt Petersburg (einschließlich der Stellen, an denen die Stadt dem Zeitkontext gemäß als »Petrograd« oder »Leningrad« erwähnt ist) 97, 106, 111, 113, 115, 117, 120, 123, 124, 127, 140, 159, 168, 183, 245, 246, 267 Saratov 168 Sarkandaugava (siehe auch: Rote Düna) 139, 147 Säulenstraße siehe Stabu iela Scharrenstraße siehe Skārņu iela Schaulen (lit. Šiauliai) 28, 116 Scheunenstraße siehe Šķūņu iela Schleswig 16 Schlock (lett. Sloka) 143, 228 Schloss (das ab 1330 angelegte Ordensschloss an der Düna, das im 20. Jahrhundert Amtssitz des lettischen Staatspräsidenten wurde) 29, 53, 54, 60, 62, 81, 89, 101, 104, 105, 117, 174, 201, 218, 226, 229, 243, 249, 262, 269, 270, 273, 277, 279, 280 Schlossplatz (lett. Pils laukums) 101–104, 118, 145, 176 Schlossstraße (Große) siehe Pils iela Schlossstraße (Kleine) siehe Mazā Pils iela Schmerzensmutterkirche 102, 145 Schmiedestraße (Große) siehe Kalēju iela Schmiedestraße (Kleine) siehe Meistaru iela Schützengarten siehe Kronvalds-Park

Schwarzhäupterhaus (lett. Melngalvju nams) 43, 44, 54, 68, 114, 151, 153, 176, 189, 198, 216, 217, 229, 231, 232, 257–259, 270, 273, 278, 279 Schwedentor (lett. Zviedru vārti) 32, 90 Schwertbrüder-Burg siehe Ordensburg Schwimmstraße siehe Peldu iela Segeberg 17 Segewold (lett. Sigulda) 52, 267 Seifenberg siehe Ziepniekkalns Semgaller Hafen 20, 63 Senču iela (über den Großen Stadtfriedhof hinweg gebaute Straße aus der Sowjetzeit) 240 Sevastopol’ 125 Šiauliai siehe Schaulen Siegespark (lett. Uzvaras parks) 177, 191, 236, 257 Sigtuna 16 Sigulda siehe Segewold Skārņu iela (Scharrenstraße) 23 Šķirotava (als Bahnstation-Name) 205 Skonto-Halle 263 Šķūņu iela (Scheunenstraße) 23, 28, 33, 34, 39, 201 Sloka siehe Schlock Šmerļa iela (eine Nebenstraße der Brīvības gatve) 117, 242 Smilšu iela (Große Sandstraße) 32, 105, 159, 187 Smolensk 29, 272 Soest 22, 29, 41–43 Spilve bzw. Spilwe (ursprünglich Name einer Feuchtwiesenfläche links der Düna, später ein Stadtteilname) 93, 274, 277, 278 Sprenkstraße siehe Avotu iela Stabu iela (Säulenstraße) 85, 144, 203 Stade 17, 44 Stadtkanal (lett. Pilsētas kanāls) 14, 126, 127, 154, 157 Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

305

Stadttheater (Deutsches bzw. Erstes [siehe auch: Nationaloper]) 127, 128, 156, 167, 275 Stadttheater (im Sinne des früher auch »Muße« genannten heutigen Richard-Wagner-Saals) 112–115, 275 Stadttheater (Zweites [siehe auch: Nationaltheater]) 156, 276 Stegstraße siehe Laipu iela Steinbrücke (Akmens tilts, in sowjetischer Zeit: Oktobra tilts) 243 Stintsee (lett. Ķīšezers) 49, 157 Stockholm 84, 88, 90 Stradiņš-Universität 268 Straupe siehe Roop Stutthof 207 Sünderstraße (Große) siehe Grēcinieku iela Suomenlinna siehe Sveaborg Suworow-Straße siehe Krišjāņa Barona iela Sveaborg (finn. Suomenlinna) 125 Swirgsdenholm (lett. Zvirgzdu sala) 13 Tallinn siehe Reval Tartu siehe Dorpat Teātra iela (Theaterstraße) 113 Technische Universität 268 Tērbatas iela (Dorpater Straße) 193, 226 Theater siehe Stadttheater Theater-Boulevard siehe Aspazijas bulvāris Theaterstraße siehe Teātra iela Thoreyda siehe Treyden Thronfolger-Boulevard siehe Raiņa bulvāris Tilsit (russ. Sovetsk) 115 Tirgoņu iela (Kaufstraße) 54, 98 Tönning 77 Treptow an der Rega (poln. Trzebiatów) 67, 68 306  Orts-, Gebäude- und Straßenregister

Treyden (lett. Turaida) 22, 40 Trokšņu iela (Große Lärmstraße) 31, 90 Tuckum (lett. Tukums) 124, 198 Turaida siehe Treyden Tver’ 168 Uexküll (lett. Ikšķile) 17–20, 22, 170, 271 Umeå 280 Universität (im Sinne der heutigen »Universität Lettlands«) 130, 175, 180–182, 200, 225, 231, 254, 268, 276 Uzvaras parks siehe Siegespark Vaiņode siehe Wainoden Valga bzw. Valka siehe Walk Valmiera siehe Wolmar Vaļņu iela (Wallstraße) 89, 165, 187, 190 Vanšu tilts siehe Wantenbrücke Vecpilsēta bzw. Vecpilsētas iela (Altstadt[straße]) 31 VEF (Staatliche Elektrotechnische Fabrik) 234, 240, 241 Venedig 120, 234, 264 Ventspils siehe Windau Vērmanes dārzs siehe Wöhrmannscher Garten Viesturdārzs (Kaisergarten [auf Peter den Großen zurückgehende Rigaer Parkanlage]) 96, 97, 117, 200, 275 Viljandi siehe Fellin Vilnius siehe Wilna Visby 26, 29, 41, 64, 272 Vitebsk 138 Vladimir 237, 250 Wainoden (lett. Vaiņode) 183 Waldfriedhof (lett. Meža kapi) 101, 201, 238

Walk (estn. Valga, lett. Valka) 59, 172, 198 Wallstraße siehe Vaļņu iela Wantenbrücke (lett. Vanšu tilts, in sowjetischer Zeit: Gorkija tilts) 243, 244, 278 Warburg 30 Warschau 123, 233, 234, 256, 269 Weberstraße siehe Audēju iela Weidendamm siehe Ganību dambis Weimar 113 Wenden (lett. Cēsis) 52, 66, 172, 174 Wesenberg (estn. Rakvere) 45 Wien 74, 75, 125 Wilna (lit. Vilnius) 72, 159, 201, 206, 249–251, 279 Windau (lett. Ventspils) 66, 198 Wisby siehe Visby Witebsk siehe Vitebsk Wittenberg 70, 82 Wöhrmannscher Garten (lett. Vērmanes dārzs) 118, 119, 140, 257

Wolmar (lett. Valmiera) 66, 172 Zaķusala (eine Düna-Insel) 279 Zasulauks (als Bahnstation-Name) 168, 244 Zemitāni (als Bahnstation-Name) 244 Zentralgefängnis 161, 197 Zentralkaufhaus siehe Armeewarenhaus Zentralmarkt (lett. Centrāltirgus) 48, 183, 232, 257, 277 Ziedoņdārzs (Park neben der Aleksandra Čaka iela) 185, 186 Ziepniekkalns (Seifenberg) 175 Zirgu iela (Große Pferdestraße) 23, 51, 120, 187, 190 Zirkus 186 Zitadelle 89, 92, 103, 126, 140, 232, 235, 236 Zolitūde 178, 243 Zoo 157 Zürich 157 Zvirgzdu sala siehe Swirgsdenholm

Orts-, Gebäude- und Straßenregister 

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Tamar a Griesser-PeČar

maribor/marburG an der dr au eine kleine sTadTGeschichTe

Die einzigartige Stadt an der Drau, Kulturstadt, Universitätsstadt, Weinstadt, Industriestadt, Erzbischofssitz, Wintersportzentrum, hat sich ihre Erhebung zur Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2012 gewiss verdient – und muss dennoch in mancher Hinsicht erst entdeckt werden. 2011. 384 S. 38 S/w Abb. br. 135 x 210 mm. ISbN 978-3-205-78720-4

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KONR AD GÜNDISCH, HAR ALD ROTH

FÜNFKIRCHEN/PÉCS GESCHICHTE EINER EUROPÄISCHEN KULTURHAUPTSTADT

Fünfkirchen/Pécs ist 2010 Europäische Kulturhauptstadt. Die Stadt teilt sich diesen Titel mit Istanbul und Essen/Ruhrgebiet. Europa im Kleinen kann an der rund zweitausendjährigen Geschichte der Stadt Fünfkirchen/Pécs im heutigen Südungarn abgelesen werden. Die Römer gründeten hier die Provinzhauptstadt Sopianae, die sich zu einem frühchristlichen Zentrum entwickelte. Im mittelalterlichen Königreich Ungarn wurde Quinque Ecclesiae, „fünf Kirchen“, ein bedeutendes Handelszentrum mit Bischofssitz, zahlreichen Ordensniederlassungen und der ersten Universität des Landes. Ungarn und Deutsche prägten die befestigte Stadt. Während der rund eineinhalb Jahrhunderte der osmanischen Besetzung im 16. und 17. Jahrhundert veränderte sich zwar die Bewohnerschaft, Südslawen und Muslime wurden nun dominant, die wirtschaftliche Funktion aber blieb erhalten. Daran konnte die habsburgische Herrschaft anknüpfen. Die neuen Herren des von den Osmanen zurückeroberten Landes siedelten im Umfeld der Stadt deutsche Bauern an, was der Region den Namen „Schwäbische Türkei“ einbrachte. Als deren Hauptort wurde Fünfkirchen zu einer Stadt zahlreicher Kulturen, Sprachen und Religionen. 2010, 170 S. BR. 16 S. FARB-ABB., 21 S/W-ABB. , 2 KARTEN 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-78438-8

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Har ald rotH

Kronstadt in siebenbürgen eine Kleine stadtgescHicHte

Kronstadt – rumänisch Brașov, ungarisch Brassó – liegt im Burzenland unmittelbar am Fuße der Karpaten und im Zentrum des jungen EU-Staates Rumänien. Die Geschichte der Region setzt mit der Berufung des Deutschen Ordens durch den ungarischen König Andreas II. im Jahre 1211 ein. Die Kreuzritter sollten das Land gegen die heidnischen Kumanen verteidigen und diese missionieren. Die Erschließung des Landes durch deutsche Siedler hinterließ Spuren, die noch acht Jahrhunderte später nachwirken. Als Hauptort dieses stets von einer gewissen Selbstständigkeit geprägten Landstrichs wurde Kronstadt zur größten Stadt Siebenbürgens. Neben dem reichen sächsischen Handelsplatz entstand ab dem ausgehenden Mittelalter auch eine auf lange Sicht hin kulturell bedeutende rumänische Gemeinde. Im 16. Jahrhundert ging von Kronstadt die lutherische Re formation Siebenbürgens aus. Das auf eine lange sächsische Dominanz im 19. Jahrhundert folgende ausgeglichene Verhältnis zwischen den drei siebenbürgischen Völkern – Sachsen, Ungarn und Rumänen – währte nur kurz. Je nach regierendem Nationalstaat dominierten hier zunächst die Ungarn, dann die Rumänen. 2010. 245 S. Mit 17 S/w-Abb. iM text u. 25 fArb. Abb. Auf 16 tAf. frAnz. br. 135 x 210 MM. iSbn 978-3-412-20602-4

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K arsten Brüggemann / r alph tuchtenhagen

tallinn Kleine geschichte der stadt

Die estnische Hauptstadt Tallinn, das alte Reval, geht in seinen Ursprüngen auf eine estnische Burg zurück, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts von Dänen erobert wurde. Seit ihrem Beitritt zur Hanse führte die Stadt trotz wechselnder Oberherrschaften ein Eigenleben, das vor allem durch Handel und Handwerk geprägt war. Ungeachtet der Zugehörigkeit zu Schweden und zum Russischen Reich dominierten die deutschen Bürger die städtischen Belange bis in das 20. Jahrhundert hinein. In der Stadt lebten neben Esten und Deutschen auch Schweden, Finnen, Russen und Juden. Nach dem Sturz des Zaren wurde Tallinn für zwei Jahrzehnte Hauptstadt der Republik Estland. Infolge des Hitler-Stalin-Paktes und der sowjetischen Annexion des Landes lag Tallinn dann für ein halbes Jahrhundert jenseits des Eisernen Vorhangs. Nach der »Singenden Revolution« und dem Zusammenbruch der UdSSR wurde es wieder zur Hauptstadt Estlands. Heute ist die mittelalterlich geprägte Altstadt UNESCO-Weltkulturerbe, und im Jahre 2011 wird Tallinn Kulturhauptstadt Europas sein. 2011. 361 S. Mit 18 S/w Abb. und 14 S/w u. 8 fArb. Abb. Auf 16 tAf. frAnz. broSchur. 135 x 210 MM. iSbn 978-3-412-20601-7

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