Strukturelle Zwänge – Persönliche Freiheiten: Osmanen, Türken, Muslime: Reflexionen zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Gedenkband zu Ehren Petra Kapperts [Bilingual ed.] 3110200554, 9783110200553

Der vorliegende Band zum Gedenken an die Hamburger Turkologin Petra Kappert konzentriert sich auf das Thema gesellschaft

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Strukturelle Zwänge – Persönliche Freiheiten: Osmanen, Türken, Muslime: Reflexionen zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Gedenkband zu Ehren Petra Kapperts [Bilingual ed.]
 3110200554, 9783110200553

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Zum Wirken Petra Kapperts
„Das osmanische Muster“: Das frühe Ideal des M. Żiyāʾ (Gökalp) anhand ausgewählter Artikel in der Wochenschrift Peymān (Diyārbekir 1909)
Babushkas on a Turkish beach: Postmodernist Elements in Adalet Ağaoğlu’s Yazsonu
Reformer versus Reformen: Zum Gehalt jungosmanischer Tanẓīmāt-Kritik
Materielle Kultur und – zuweilen – gesellschaftliche Werte: Das Europabild in den Berichten osmanischer Gesandter des XVIII. Jahrhunderts
Die Hamidiye-Milizen: Grenzland außer Kontrolle
„Etwas hässlich, aber man kann dort leben“ Einige Anmerkungen zum Dorf Şirince – Selçuk – Izmir
Am Çırçıp: Einst und jetzt
Orhan KEMAL und Kemal TAHİR im Vergleich: Das Bild der Arbeiterin und Bäuerin in ausgewählten Romanen
Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag aus Istanbul von 1842
A unified Turkic script system: A short note on the sudden end of a long dream
Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei zwischen staatsideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit
Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen II: Jakutisches im Tumunchanskischen (nach S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“)
Baku, die Stadt der toten Dichter. Ein Beitrag zur sowjetischen und postsowjetischen Denkmalpolitik in Aserbaidschan (mit 5 Abb.)
Carl Brockelmann und die türkische Sprachreform
Der Eid bei den Osmanen
Şahmeran’ın Bacakları: Murathan Mungans Neuerzählung eines alten Mythos
Orthographische Nachahmungen beim Schriftwechsel in der Türkei 1928
Veränderungen der religiösen Praxis und Einstellungen türkischstämmiger Muslime in Deutschland
Akademische Freiheit und politische Eingriffe in türkische Universitäten während der Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960)
Die Provinz hat keine Namen
Regionale Reformen im Osmanischen Reich als persönliches Anliegen: Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki, als Beobachter und Akteur am Vorabend der Tanzimat
„Die undankbaren Enkelinnen“ – Kritische Diskurse über Kemalismus, Identität und Geschlecht in der Türkei
Backmatter

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Strukturelle Zwänge ⫺ Persönliche Freiheiten



Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam“

Herausgegeben von

Lawrence I. Conrad

Neue Folge

Band 21

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Strukturelle Zwänge ⫺ Persönliche Freiheiten Osmanen, Türken, Muslime: Reflexionen zu gesellschaftlichen Umbrüchen Gedenkband zu Ehren Petra Kapperts Herausgegeben von

Hendrik Fenz

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020055-3 ISSN 1862-1295 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Laufen

Professor Dr. Petra Kappert

03. April 1945 – 23. Mai 2004

Inhalt

Einleitung .................................................................................................. 13 Zum Wirken Petra Kapperts ...................................................................... 25 Sabine Adatepe „Das osmanische Muster“: Das frühe Ideal des M. ĩiyƗ‫( ގ‬Gökalp) anhand ausgewählter Artikel in der Wochenschrift PeymƗn (DiyƗrbekir 1909) ...................................................................................... 31 Petra de Bruijn Babushkas on a Turkish beach: Postmodernist Elements in Adalet A÷ao÷lu’s Yazsonu .................................................................................... 47 Christiane Czygan Reformer versus Reformen: Zum Gehalt jungosmanischer Tan਌ƯmƗtKritik ......................................................................................................... 65 Suraiya Faroqhi Materielle Kultur und – zuweilen – gesellschaftliche Werte: Das Europabild in den Berichten osmanischer Gesandter des XVIII. Jahrhunderts............................................................................................... 81 Hendrik Fenz Die Hamidiye-Milizen: Grenzland außer Kontrolle ............................... 105 Detlev Finke „Etwas hässlich, aber man kann dort leben“ Einige Anmerkungen zum Dorf ùirince – Selçuk – Izmir .......................................................... 127 Barbara Flemming Am ÇÕrçÕp: Einst und jetzt ....................................................................... 145

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Inhalt

Mediha Göbenli Orhan KEMAL und Kemal TAHøR im Vergleich: Das Bild der Arbeiterin und Bäuerin in ausgewählten Romanen ................................. 169 Gerd Gropp & Ramin Shaghaghi Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag aus Istanbul von 1842 ......... 183 Lars Johanson A unified Turkic script system: A short note on the sudden end of a long dream............................................................................................... 211 Yasemin Karakaúo÷lu Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei zwischen staatsideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit........ 219 Michael Knüppel Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen II: Jakutisches im Tumunchanskischen (nach S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“) .. 235 Klaus Kreiser Baku, die Stadt der toten Dichter. Ein Beitrag zur sowjetischen und postsowjetischen Denkmalpolitik in Aserbaidschan (mit 5 Abb.) .......... 249 Jens Peter Laut CARL BROCKELMANN und die türkische Sprachreform .......................... 277 Maurus Reinkowski Der Eid bei den Osmanen........................................................................ 297 Börte Sagaster ùahmeran’Õn BacaklarÕ: Murathan MUNGANs Neuerzählung eines alten Mythos................................................................................... 323 Wolfgang-E. Scharlipp Orthographische Nachahmungen beim Schriftwechsel in der Türkei 1928 ................................................................................... 331 Faruk ùen & Martina Sauer Veränderungen der religiösen Praxis und Einstellungen türkischstämmiger Muslime in Deutschland ........................................... 341

Inhalt

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Martin Strohmeier Akademische Freiheit und politische Eingriffe in türkischen Universitäten während der Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) ............................................................................................ 369 Tevfik Turan Die Provinz hat keine Namen.................................................................. 395 Michael Ursinus Regionale Reformen im Osmanischen Reich als persönliches Anliegen: Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki, als Beobachter und Akteur am Vorabend der Tanzimat ............................... 405 Heidi Wedel „Die undankbaren Enkelinnen“ – Kritische Diskurse über Kemalismus, Identität und Geschlecht in der Türkei .............................. 429 Zu den Mitwirkenden dieses Bandes....................................................... 455 Verzeichnis der Abbildungen & Tabellen ............................................... 465 Index........................................................................................................ 467

Danke Zwischen der Idee zu diesem Buch und dem nunmehr vorliegenden Band verging die Zeit schnell. Der Arbeit an der Universität widme(te) ich meine Zeit, längere und kürzere Auslandsreisen wollten aufgearbeitet werden, und meine in dieser Zeit geborenen Söhne fordern meine Aufmerksamkeit ein. Trotz der Unterbrechungen stand das Buch sehr weit oben auf der „todo list“, auch wenn es nicht immer einfach war, daran festzuhalten. Herzlichen Dank daher meiner Frau, Christine Peter-Fenz, deren Optimismus mich nie daran hat zweifeln lassen, daß der Band erscheinen wird. Auch gilt mein Dank den Autorinnen und Autoren des Bandes, die neben ihren Forschungsergebnissen ihre Geduld und Langmut mit- und Verzögerungen gegenüber Verständnis aufbrachten. Bei zwei Kollegen des Asien-Afrika-Institutes der Universität Hamburg möchte ich mich ebenfalls bedanken. Bei Dr. Karin Hörner für ihre Ratschläge und die Zeit, die sie in coffeinreiche brain stormings investierte. Bei Prof. Dr. Lawrence Conrad, Herausgeber der Zeitschrift „Der Islam“, der das Buch ohne zu Zögern in diese Reihe aufnahm. Dr. Sabine Vogt und Herr Florian Ruppenstein von deGruyter haben mir mit ihren Kenntnissen und nützlichen Tips zur Gestaltung des Bandes geholfen, die einem Sammelband immanenten Untiefen zu umschiffen.

Einleitung Dieses Compendium, gedacht, eine herausragende Turkologin zu ehren, sollte kein Gedenkband werden. Ursprünglich hatte ich eine Festschrift im Sinn, anläßlich des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Petra Kappert. Sie sollte diesen Tag jedoch nicht mehr erleben. Als sie am 26. Mai 2004 starb, war sie 59 Jahre alt. So wurde aus der Festschrift ein Gedenkband. Und eine Herzensangelegenheit. ****** Gesellschaftliche Umbrüche: Unter diesem zentralen Begriff versammeln sich Beiträge, die in einem weiten Bogen von Zentralasien über Iran bis nach Deutschland reichen und durch Jahrhunderte gehen: angefangen im frühen Osmanischen Reich bis in die Bundesrepublik der Gegenwart. Der thematische Fächer ist dabei weit geöffnet und birgt historische, sprachgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Beiträge, ebenso wie soziologische, rechtsphilosophische und politologische Untersuchungen. Im wesentlichen zeichnen sich vier inhaltliche Bereiche ab: Osmanisches Reich, Literatur, Schrift & Sprache sowie moderne Türkei. Begleitet werden diese von Artikeln, die sich nur schwer in o.g. Rubriken einordnen lassen. Lange habe ich nach einem passenden Titel gesucht. Er sollte zweierlei leisten: Zum einen die thematische Fassung vorgeben, in dem sich die Facetten der Hamburger Turkologie auf das trefflichste zu spiegeln vermögen, zum anderen sollte er an die Persönlichkeit Petra Kapperts erinnern. Der Haupttitel „Strukturelle Zwänge – Persönliche Freiheiten“ bringt – wie ich hoffe – die inhaltliche Konzentration auf gesellschaftliche Spannungsfelder ebenso mit, wie er dem persönlichen Engagement und dem beharrlichen Einsatz der hier Gewürdigten gegen die Unzulänglichkeiten des Lebens und für Offenheit, Toleranz und Fortschritt gerecht wird. Der Untertitel „Osmanen, Türken, Muslime: Reflexionen zu gesellschaftlichen Umbrüchen“ wirft Licht auf die Ausrichtung des Bandes, auf die historische und geographische Dimension wie auf das Moment der Veränderung und des Wandels von und in Gesellschaften. Viele der hier Beitragenden haben einen Bezug zu Hamburg, sei es über ihr Studium, die Promotionsphase, oder durch ihre Arbeit an und mit

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der Hamburger Turkologie. So ist das Werk denn auch Ausdruck der Breite und Vielfalt der durch Petra Kappert über mehr als zwei Jahrzehnte gestalteten Turkologie. Sabine ADATEPE, Christiane CZYGAN, Suraiya FAROQHI, Hendrik FENZ, Barbara FLEMMING, Maurus REINKOWSKI und Michael URSINUS beschreiben gesellschaftliche Phänomene im Osmanischen Reich, oder, wie Gerd GROPP & Ramin SHAGHAGHI, persisch-hanseatische Handelsbeziehungen im 19. Jahrhundert. FLEMMING zeichnet die in Südostanatolien liegende Region ÇÕrçÕp nach und damit einen Schauplatz der Geschichte, an dem nicht nur die Einwanderung der Türkmenen oder die Entstehung des Alevilik sichtbar werden, sondern auch die Spannungen zwischen Osmanen und Safawiden. Mit den Überlegungen FAROQHIs zum Europa-Bild osmanischer Gesandter geht es in das 18. Jahrhundert und zu der Frage nach den „Werten“, die diese Gesandten dem Sultanshof übermittelten. Stehen bei CZYGAN die später als Jungosmanen bekannten Tanzimatkritischen Intellektuellen NƗmÕল KemƗl und ĩiyƗ‫ ގ‬Bey im Zentrum der Untersuchung, so ist es bei ADATEPE der frühe Mehmed ĩiyƗ‫( ގ‬Gökalp) als Verfechter eines Osmanismus. Die als Hamidiye im Auftrag Sultan ‫ޏ‬AbdülতamƯd II. in den östlichen Provinzen des Reiches agierenden kurdischen Reitermilizen untersucht FENZ mit Blick auf deren systemstabilisierende Wirkung im zerfallenden Reich. Einer anderen osmanischen Region widmet sich URSINUS, der das aktive Intervenieren des britischen Konsul Charles Blunt in die osmanische Politik Mitte des 19. Jahrhunderts in Saloniki und Ioannina untersucht. REINKOWSKI nimmt sich mit der Untersuchung des Eides eines „zeitlosen“ rechtsphilosophischen Themas an, wobei der Eid sowohl dem Zusammenhalt von Gruppen diente als auch der Machtsicherung von Herrschern. GROPP & SHAGHAGHI schlagen, indem sie die Handelsbeziehungen zwischen Persien und Hamburg im 19. Jahrhundert untersuchen, einen Bogen um das Osmanische Reich und verdeutlichen den regen Austausch zweier politisch wie flächenmäßig so gegensätzlicher Staaten. Mit türkischer Literatur wiederum beschäftigen sich Petra van BRUIJN, Mediha GÖBENLI, Börte SAGASTER und Tevfik TURAN. Der Schwerpunkt hier liegt auf einzelnen türkischen Schriftstellern, wie Orhan Kemal und Kemal Tahir bei GÖBENLI, Adalet Aۜaoۜlu bei van BRUIJN und Murathan Mugan bei SAGASTER. Allen drei gemeinsam ist die

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autorenzentrierte Analyse, über die sich die Autorinnen den jeweiligen Werken zuwenden. TURAN geht mit Reflexionen zur Provinz in der türkischen Kurzgeschichte einen auf das Sujet „Provinz“ weisenden anderen Weg. Sprache und Schrift charakterisieren einen weiteren Schwerpunkt des Bandes, dem sich Lars JOHANSON, Michael KNÜPPEL, Jens Peter LAUT und Wolfgang SCHARLIPP zuwenden. Johanson berichtet von der Vision aber auch dem Scheitern eines einheitlichen Schriftsystems für die türkischen Sprachen, die auch heute noch mit unterschiedlichen Schriftsystemen aufwarten. SCHARLIPP konzentriert sich auf die Schriftreform in der Türkei 1928 und verdeutlicht, anhand ausgewählter Beispiele wie den „orthographischen Nachahmungen“, die teilweise verschlungenen Wege der Implementierung des Lateinalphabetes. LAUT wiederum tritt mit einem wenig bekannten und hier erstmalig ins Deutsche übertragenen Text Carl Brockelmanns an, in dem dieser sprachgeschichtliche und sprachreformerische Ideen zum Deutschen und Türkischen vorträgt. Außerhalb dieses Fokus liegt der sprachwissenschaftliche Beitrag KNÜPPELS. Seine Ausführungen zum Jakutischen in tungusischen Sprachen weisen akribisch die Übernahme fremder Sprachelemente in eine andere Sprache – hier: das Tumunchanskische – auf. Die Türkei nach dem II. Weltkrieg steht im Zentrum von Detlef FINKE, Yasemin KARAKAùOۛLU, Martin STROHMEIER und Heidi WEDEL. Dabei variieren Brennweite und Motiv durchaus beachtlich. Bei FINKE ist es ein fast ethnographisch zu benennender Bericht über das Schöne oder doch eher Häßliche des Ortes ùirince (bei Selçuk). Zentral ist die Suche nach der etymologischen Bedeutung des Wortes, verbunden mit einer Charakterisierung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Das Imagegefälle des Lehrerstandes in der Türkei macht KARAKAùOۛLU mit ihrer Untersuchung deutlich und zeigt die Diskrepanz zwischen dem Einsatz von Lehrern als nationalideologische Multiplikatoren und der Vernachlässigung ihrer primären Aufgabe als Pädagogen und Erzieher. In der nächsthöheren Instanz, der Universität, wird diese staatsideologische Omnipräsenz deutlich. STROHMEIER zerlegt exakt den politischen Mechanismus mit dem akademische Freiheit in der Zeit der Demokratischen Partei (1950–60er Jahre) beschnitten und ausgegrenzt wurde.

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WEDEL führt in die Diskurse über das Frauenbild in kemalistischen, islamistischen und kurdischen Bewegungen ein und deren Bedeutung für Identitätskonzepte und Modernisierungsansprüche. Bezogen auf Deutschland sezieren ùEN und SAUER den religiösen Alltag unter türkischstämmigen Muslimen in Deutschland, ihre Organisationsstruktur und den Grad der Religiosität. Dazu bedienen sie sich Umfragen aus den Jahren 2000 und 2005, anhand derer sie Tendenzen sichtbar werden lassen. Klaus KREISER beweist mit seinem Beitrag über Denkmalpolitik in Aserbaidschan zum einen, wie sehr diese durchdrungen war von der jeweilig gültigen Staatsideologie (sowjetisch vs. national) und wie zum anderen dem Fall des Sowjetreiches der von Denkmälern folgte.

Zu den Beiträgen Die Gliederung des Bandes folgt der alphabetischen Reihenfolge der Autoren/innen. Cluster zu bilden wäre ein anderer Weg gewesen, die Beiträge thematisch bzw. chronologisch zu ordnen. Also: Osmanisches Reich, Zentralasien/Kaukasus, moderne Türkei, Europa. Oder: Sprache, Literatur, Religion, Kulturelles. Einige der Beiträge bleiben, wie Puzzleteile, am Ende übrig, da sie nirgends in das Bild zu passen scheinen. Was machen damit: ein patchwork? Das würde den Beiträgen kaum gerecht. So also der traditionelle Weg einer alphabetischen Reihung, auch auf die Gefahr hin, daß es thematische und chronologische Sprünge gibt. Die Mehrzahl der Interessierten wird, so meine Hoffnung, den eigenen Interessen folgend, selektiv lesen und die Sprünge als tolerabel ansehen. Im Folgenden möchte ich die Autoren/innen selbst zu Wort kommen lassen, geben doch deren eigene Zusammenfassungen ein komprimiertes wie adäquates Bild ihrer Beiträge ab. Sabine ADATEPE: „Das osmanische Muster“: Das frühe Ideal des M. ĩiyƗҴ (Gökalp) anhand ausgewählter Artikel in der Wochenschrift PeymƗn (DiyƗrbekir 1909) Bevor Ziya Gökalp zum türkisch-nationalistischen Vordenker wurde, vertrat er die Integrationsidee des Osmanismus, wie seine Artikel in der 1909 in DiyarbakÕr erschienenen Wochenschrift PeymƗn belegen. Drei davon sind hier näher betrachtet. Die hier propagierte osmanische Hochzivilisation im Sinne einer Kulturnation, in der ethnische Herkunft und Religion zweitrangig sind, sollte durch die Verbindung östlicher Spiritualität mit

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westlicher Technologie zustande kommen und gemeinsam mit dem Konstitutionalismus das zerfallende Osmanische Reich erhalten. Petra de BRUIJN: Babushkas on a Turkish beach: Postmodernist Elements in Adalet A÷ao÷lu’s Yazsonu The novel Yazsonu (Summer’s End, 1980), written by Adalet AöAOöLU (*1929), one of Turkish leading novelists, contains several postmodern elements that stress the fictional nature of the novel world, such as: the creation of multiple novel realities, intertextuality, the use of mythology, homonyms and motto as independent statements. Whereas Orhan Pamuk has attracted considerable public acclaim as the postmodernist Turkish author, AöAOöLU has tended to remain outside the spotlight of international attention. This article shows that Pamuk was neither the first nor the only Turkish author writing postmodern fiction. Christiane CZYGAN: Reformer versus Reformen: Zum Gehalt jungosmanischer TanܲƯmƗt-Kritik Der Artikel untersucht die unterschiedlichen Sichtweisen von NƗmÕল KemƗl und ĩiyƗ Bey in der Zeitschrift ‫ۉ‬urrƯyet und beleuchtet damit die scharfe zeitgenössische Kritik, der die Tan਌ƯmƗt-Reformen ausgesetzt waren. Suraiya FAROQHI: Materielle Kultur und – zuweilen – gesellschaftliche Werte: Das Europabild in den Berichten osmanischer Gesandter des XVIII. Jahrhunderts Die Auswertung der osmanischen Berichte über das frühneuzeitliche Europa, selbst der schon längst publizierten, steckt noch in den Anfängen. Doch zeichnen sich schon jetzt einige Fragen ab, deren nähere Untersuchung sich lohnen dürfte. So sollte man näher auf die Rolle der Musik als ‚interkulturelles‘ Kommunikationsmittel eingehen: Unter bestimmten Umständen konnte bemerkenswerterweise diese Rolle sowohl der osmanischen wie auch der europäischen Musik zufallen. Die ‚Kulturdiplomatie‘ Ebubekir Ratibs, der zu Ende des XVIII. Jahrhunderts als Gesandter Selims III. in Wien fungierte, sollte in diesem Zusammenhang ebenso diskutiert werden wie die Beschreibungen von Orgeln durch Autoren des späteren XVII. und mittleren XVIII. Jahrhunderts. Unter einem ganz anderen Gesichtspunkt lassen sich die Vorstellungen osmanischer Beobachter von gewissen in West- und Zentraleuropa sich langsam etablierenden ‚Systemen‘ und Netzwerken untersuchen, etwa im Handel, Postwesen oder Geldverkehr: das Funktionieren dieser und anderer Zusammenhänge versuchten nach 1750 Ahmed Resmi und besonders Abdürrahim Efendi ihren Lesern –

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durchaus nicht kritiklos – zu erklären. Hier läßt sich auch eine Brücke zu den ‚Modernisierern‘ des folgenden Jahrhunderts schlagen. Hendrik FENZ: Der Hamidiye-Staat: Grenzland außer Kontrolle Im Zentrum steht neben der Entstehungsgeschichte der Hamidiye und deren Lebens- und Handlungsweisen in den ostanatolischen Gebieten vor allem das politische Kalkül der Zentralmacht, das hinter der Gründung der Hamidiye schlummerte. Welche Interessen verband das Herrscherhaus mit der Gründung dieser Milizen und wie waren die Steuerungsprozesse angelegt? Dies umfaßt nicht nur eine historische Analyse der Ursachen, sondern ebenso militärische und sozioökonomische Aspekte. Detlef FINKE: „Etwas häßlich, aber man kann dort leben“ – Einige Anmerkungen zum Dorf ùirince – Selçuk – Izmir Etwa zehn Kilometer östlich der Stadt Selçuk und nahe Ephesos, in der Provinz Izmir, liegt das kleine Dorf ùirince. Der Name des Dorfes bedeutet „schön, charmant“. In früheren Zeiten war das damals griechisch besiedelte Dorf jedoch als Çirkince bekannt, mit der entgegengesetzten Bedeutung von „häßlich“. Es gibt hinsichtlich seiner Gründung drei Legenden. Dieser auf osmanische und europäische Quellen zurückgreifende Beitrag untersucht den Wahrheitsgehalt dieser Legenden. Barbara FLEMMING: Am ÇÕrçÕp: Einst und jetzt Ausgehend von einem aktuellen Ereignis öffnet der Aufsatz ein Fenster zur Geschichte eines Teiles der Provinz ùanlÕurfa an der syrischen Grenze (jetzt Teil des Südostanatolien-Projekts), die im Osten vom Fluß ÇÕrçÕp begrenzt wird, den eine alte Handelsroute überquerte. Man muß bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts hinabsteigen, um die Einwanderung der Türkmenen in Nordmesopotamien und die Entstehung des heterodoxen Alevilik kennenzulernen. In der Ebene von Dede GarkÕn fand 1516 die Schlacht statt, in der der Osmanenstaat die Safawiden besiegte und damit aus heutiger Sicht einen Grundstein zum nationalen türkischen Einheitsstaat legte. Mediha GÖBENLI: Orhan KEMAL und Kemal TAHIR im Vergleich: Das Bild der Arbeiterin und Bäuerin in ausgewählten Romanen In diesem Artikel werden, nach der Vorstellung der Autoren, ihre Frauenfiguren in ausgewählten Romanen verglichen. Obwohl beide Autoren als realistisch bezeichnet werden können, weisen sie in Bezug auf ihre Frauencharaktere erhebliche Unterschiede auf, die vor allem auf ihrer Geschichtskonzeption beruhen. Während in Kemal Tahirs Romanen kaum reale Frauen vorhanden sind – wenn überhaupt, dann lediglich als sexuelle Objekte

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oder als „böse oder armselige Wesen“ – sind in Orhan Kemals Romanen Frauenfiguren aus dem realen Leben gegriffen, die für sich und ihre Familien sorgen und mit der Zeit als Mensch und Frau ein Bewußtsein erlangen. Gerd GROPP & Ramin SHAGHAGHI: Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag aus Istanbul von 1842 At the time of the forced conclusion of the Paris Treaty with Great Britain in 1857, Iran took the chance to engage into various international contracts with other states, among them the unique trade agreement before the establishment of the German Reich with the three German Free and Hanseatic Republics of Hamburg, Lübeck and Bremen. This trade treaty, however, was based on a preliminary agreement already signed in 1842 between Patrick Colquhoun, the representative of the three German Hanseatic Cities in Istanbul, and the Iranian side. Both treaties have been achieved in the context of the unpreventable opening of Iranian borders to international trade and also Iran’s efforts not to acquiesce to the British and Russian pressure to monopolize the Iranian foreign trade. They further bear witness to the efforts of the German Hanseatic Cities to avail themselves of the opportunities which arose from the abolishment of the so called “Navigation Acts” and the launching of new international “Free Trade”. Apart from presenting and introducing both preliminary and ratified contracts, this contribution tries further to investigate all individuals who acted as parties to them. Particular consideration is given to the Persian envoys to Istanbul and Paris in view of the prominent role they played in the establishment of a modern foreign diplomacy and as pioneers of transformation and reformation of internal policies in Iran. Finally, a concise look is taken at the development of the German-Iranian trade relationship up to the 1950’s. Lars JOHANSON: A unified Turkic script system Der Aufsatz behandelt die vergeblichen Bemühungen um ein einheitliches Schriftsystem für moderne türkische Sprachen. Ausgehend von der Entwicklung der türkischen Schriftsprachen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden mögliche Maßnahmen in Richtung auf eine Vereinheitlichung diskutiert. Die disparaten kyrillischen Schriftsysteme verhinderten literarische Kontakte zwischen türkischen Gruppen. Der führende Turkologe Nikolaj A. Baskakov (1905–1996) bereitete einen Vorschlag zu ihrer Standardisierung vor, den er aber nicht mehr öffentlich vorlegen konnte. Auch heute noch werden die türkischen Sprachen nach unterschiedlichen Prinzipien geschrieben.

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Yasemin KARAKAùOۛLU: Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei zwischen staatsideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit In diesem Beitrag soll gezeigt werden, inwiefern die Türkische Republik als junger Nationalstaat den Pädagogen als zentrale Instanz zur Vermittlung der nationalen Werte und Orientierungen einsetzte und wie dies korrespondiert mit einer zunächst hohen Wertigkeit dieses Berufsstandes in der Türkei, die durch eine ökonomische Verarmung im Laufe der letzten drei Jahrzehnte unterhöhlt wurde. Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei haben in den letzten 80 Jahren eine wechselvolle Geschichte erlebt. Bei der Umgestaltung der Gesellschaft wurde ihnen eine tragende Rolle zugesprochen, ihre professionelle Qualifikation dafür jedoch häufig aus Gründen der dafür notwendigen Zeit und angesichts fehlender finanzieller Ressourcen vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit werden Bestrebungen unternommen, das Auseinanderklaffen zwischen Ideal und Wirklichkeit sowohl durch eine neue Politik der Studienplatzzuweisung als auch durch eine neue, leistungsbezogene Lehrerbesoldung aufzuheben. Michael KNÜPPEL: Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen II: Jakutisches im Tumunchanskischen (nach S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“) Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den jakutischen Elementen im Tumunchanskischen Dialekt sowie mit den Jakutisch-Tumunchanskischen „Parallelen“ und basiert auf dem in S. M. Shirokogorov’s „Tungus Dictionary“ enthaltenen Material. Klaus KREISER: Baku, die Stadt der toten Dichter. Ein Beitrag zur sowjetischen und postsowjetischen Denkmalpolitik in Aserbaidschan Denkmäler spielten im Habitus der sowjetischen Periode der Republik Aserbaidschan (1920–1991) eine wichtige Rolle. Die Statuen erlaubten die Darstellung des „fortschrittlichen“ kulturellen Erbes der Titularnation im Rahmen der sowjetischen Doktrin „national in der Form, sozialistisch im Inhalt“. Obwohl Nizâmî zum Nationaldichter erklärt wurde, bildete das russische (Puškin) und sowjetische (Lenin) Vermächtnis einen sichtbaren Teil des Kanons wie in anderen Sowjetrepubliken auch. Nach der Unabhängigkeitserklärung am 5. Oktober 1991 wurde eine große Zahl weithin sichtbarer Statuen (Kirov) gestürzt, während die Bilder ethnischer Aserbaidschaner, obwohl Teil des sowjetischen Systems, verschont blieben. Jens Peter LAUT: Carl Brockelmann und die türkische Sprachreform Der berühmte Orientalist Carl Brockelmann (1868–1956) hat sich in einem kaum bekannten und nur in türkischer Übersetzung erhaltenen Vorwort zu

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Sadri Maksudi Arsals Werk Türk Dili için („Um der türk. Sprache willen“, Istanbul 1930) interessante Gedanken zu Fragen der Sprachgeschichte des Deutschen und Türkischen und zu den sprachreformerischen Aktivitäten in beiden Idiomen gemacht. Im vorliegenden Artikel wird, nach einer konzisen Vorstellung von Brockelmann und Arsal, dieses Vorwort in deutscher Übersetzung geboten, und im Anhang wird der türkische Text zugänglich gemacht. Die Wichtigkeit des Dokuments liegt u.a. darin, daß es sich um eine der wenigen zeitgenössischen Stimmen aus dem Ausland zur türkischen Sprachreform handelt. Maurus REINKOWSKI: Der Eid bei den Osmanen Der Eid als Mittel des Zusammenhaltes von gesellschaftlichen Verbünden kann nahezu als ein „ethnologisches Urphänomen“ gelten. Obwohl der Eid im frühen Islam eher abgelehnt wird, kann er sich bald in den islamischen Staaten und Gesellschaften etablieren. Bemerkenswert ist die Kontinuität von Eidinstitution wie etwa der bayҵa (der Beteuerung der Loyalität gegenüber dem Herrscher) durch die Jahrhunderte bis hinein in die osmanische Zeit. In der osmanischen Geschichte sind auch zahlreiche Beispiele für die Heranziehung fremder gewohnheitsrechtlicher Eide durch den Staat als Mittel der Machtsicherung bekannt. Aufgrund der noch sehr lückenhaften Literatur über den Eid können wir noch keine Aussagen darüber treffen, ob die osmanische Gesellschaft arm oder reich an Eiden war. Börte SAGASTER: ùahmeran’Õn BacaklarÕ: Murathan Mungans Neuerzählung eines alten Mythos Murathan Mungan zählt heute – auch über die Grenzen der Türkei hinaus – zu den bekanntesten zeitgenössischen Autoren der Türkei. Er ist ein vielseitiger Autor, der oft Stoffe aus Märchen, Volkserzählungen, Volksstücken und Mythologien verwertet, die er in einen modernen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt. Die Handlung seiner Erzählung „ùahmeran’Õn BacaklarÕ“ aus dem 1986 erschienenen Erzählband Cenk Hikâyeleri verläuft auf zwei Ebenen: Im in der Gegenwart einer anatolischen Kleinstadt angesiedelten Bereich eines Meister-Lehrlingsverhältnisses, und im sagenhaften Bereich des Mythos von ùahmeran, dem Schlangenkönig, den der Meister seinem Schüler während dessen Lehrzeit vorträgt: ølyas, der von Meister Mahir in die Kunst der ùahmeran-Malerei eingeführt wird, löst sich nach Erlernen des Handwerks von seinem Meister, um von der anatolischen Provinz in die Stadt zu gehen und einen anderen Beruf, die Kunst des Schreibens, zu erlernen. Das Verhältnis des Schülers zu seinem Lehrer, das er schließlich durch einen ‚Verrat‘ beendet, hat seine Parallele im Stoff des Mythos. In diesem verrät der von ùahmeran so freundlich in dessen

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Reich beherbergte und geliebte Mensch den Schlangenkönig an die Menschen, die ihn fangen und töten. Wolfgang SCHARLIPP: Orthographische Nachahmungen beim Schriftwechsel in der Türkei 1928 Es herrscht die allgemeine Auffassung, daß die arabische Schrift nicht geeignet ist, türkische Sprachen zu schreiben. Diese verkehrte Auffassung beruht darauf, daß meist kein Unterschied zwischen Alphabet und Orthographie gemacht wird. Nachdem dieses Thema im späten Osmanischen Reich lange diskutiert wurde, geschah unter Atatürk der rasche Wechsel zur Lateinschrift. Der vorliegende Artikel zeigt anhand einiger Beispiele, wie stark die Orthographie der in der neuen Schrift geschriebenen Texte, zur Zeit der Einführung der Lateinschrift, von orthographischen Eigenheiten der osmanischen Orthographie beeinflußt war. Faruk ùEN & Martina SAUER: Veränderungen der religiösen Praxis und Einstellungen türkischstämmiger Muslime in Deutschland In den letzten Jahren wird der Islam in der deutschen Öffentlichkeit wie in der Politik stärker wahrgenommen und zum Gegenstand und Akteur der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland, wenngleich er häufig als Problem in der Integrationsdebatte gesehen wird. Anhand von repräsentativen Befragungsdaten türkischstämmiger Migranten, werden die verschiedenen Facetten des religiösen Alltagslebens, der Grad der Religiosität, die Bedeutung der Einhaltung muslimischer Vorschriften und die Organisationsstrukturen untersucht. Durch den Vergleich zweier Befragungen aus den Jahren 2000 und 2005 werden Veränderungen und Entwicklungen aufgezeigt. Martin STROHMEIER: Akademische Freiheit und politische Eingriffe in türkische Universitäten während der Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) Der Machtwechsel von der Republikanischen Volkspartei zur Demokratischen Partei (DP) unter Führung von Adnan Menderes (Mai 1950) fand an den Universitäten Unterstützung. Als jedoch Professoren die Regierung attackierten, versuchte diese, Kritiker ihrer Politik durch Erlaß und Anwendung von Gesetzen einzuschüchtern und ihrer Lehrämter zu entheben. Obwohl diese Versuche, die akademische Freiheit zu beschneiden, letzten Endes scheiterten, so trugen sie nicht unwesentlich dazu bei, daß weite Teile der Professoren- und Studentenschaft den Putsch der Militärs gegen das Menderes-Regime begrüßten.

Einleitung

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Tevfik TURAN: Die Provinz hat keinen Namen: Literarische Reflexionen zur Region in der türkischen Kurzgeschichte Nicht nur Nähe baut ein Autor auf, der einen realen Schauplatz für seine Geschichte nimmt, sondern er stellt sich auch einem doppelten Anspruch: Seine Fiktion um diesen Ort wird nicht nur auf eine interne Stimmigkeit hin geprüft werden, sondern auch als literarische Umformung des Realen. Doch, wer viel Realität in seine Literatur einbezieht, macht sich zusätzlich auf einer außerliterarischen Ebene angreifbar, weil es immer reichlich Leser gibt, die die Fiktionalitätskonvention der Literatur nicht teilen. Könnte es deshalb sein, daß die namentlich genannten Schauplätze der im ganzen anonymen Großstadt für den Autor unverfänglicher sind als das ausgewiesene Provinznestchen, aus dem er womöglich noch stammt? Michael URSINUS: Regionale Reformen im Osmanischen Reich als persönliches Anliegen: Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki, als Beobachter und Akteur am Vorabend der Tanzimat Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki seit 1835, changiert innerhalb von knapp fünf Jahren vom neu ernannten konsularischen greenhorn zum einflußreichen active player auf politischer Bühne, unterstützt durch die Ernennung Mustafa Nuri Paschas zum Gouverneur von Yanya (Ioannina) im Sommer des Jahrs 1837. Blunts Agenda: Einflußnahme auf die örtlichen Gewalten nicht nur allgemein im Sinne des Drängens der britischen Regierung auf Reform im Osmanischen Reich speziell zur Besserung der Lage der christlichen Untertanen, sondern auch konkret durch Unterstützung der reformistischen Politik des Provinzgouverneurs vornehmlich durch die Instrumente des investigative reporting sowie (direkter oder indirekter) reformist interference. Sein Engagement zur Förderung und Umsetzung der reformistischen Politik Mustafa Nuri Paschas erreicht einen vorläufigen Höhepunkt, als Blunt anstelle von dessen offiziellem kaymakam in Saloniki die Rolle des eigentlichen Vertrauensmannes des osmanischen Gouverneurs einnimmt. Heidi WEDEL: „Die undankbaren Enkelinnen“ – Kritische Diskurse über Kemalismus, Identität und Geschlecht in der Türkei Die Aspekte der „Frauenbefreiung durch den Staat“, lange als zentrales Element der kemalistischen Reformen gewürdigt, wurden seit den frühen 1980er Jahren von einigen türkischen Feministinnen kritisiert. Kurz danach begannen Identitätsbewegungen wie die islamistische und später die kurdische Bewegung, entgegen dem kemalistischen Verständnis die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitäten innerhalb der Republik einzuklagen. Sie reduzierten aber ebenfalls Frauen auf die Rolle der „entsexualisierten Mitstreiterin“. Seit den 1990er Jahren setzen Frauen in jenen Bewegungen

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gegen diese kulturelle Konstruktion von Geschlecht ein eigenes Frauenbild. Diese Diskurse, die exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der symbolischen Bedeutung der Frauenfrage sowohl für Modernisierungs- als auch für Identitätspolitiken stehen, werden in diesem Artikel diskutiert und in ihren gesellschaftlichen Kontext gestellt.

Einige technische Anmerkungen Der Band bleibt bei der alten Rechtschreibung. Aus Bequemlichkeit, da die Mehrzahl der Beiträge dieser Schreibweise folgt. Aus Überzeugung, da ich wenig Sinnvolles darin sehe, gewohntes Unvollkommenes durch ungewohntes Unvollkommenes zu ersetzen. Die räumliche und zeitliche Streuung der Aufsätze – aber auch die Vorlieben der Autoren/innen – werden durch die Benutzung verschiedenen Umschriften deutlich. Dem habe ich insofern Rechnung getragen, als daß ich auf eine Vereinheitlichung zugunsten der individuellen Beiträge verzichtet habe. So bleiben, auch wenn die Aufsätze in sich konzise und stringent daherkommen, Unterschiede in der Schreibweise ein und desselben Namens erhalten.

Zum Wirken Petra Kapperts Unsäglich! Mit diesem Wort werde ich wohl immer Petra Kapperts erinnern. Sie benutzte diesen Begriff gerne, wenn es darum ging, politische Entwicklungen in der Türkei zu kommentieren, fachliche Entgleisungen Studierender („mit dem Ende der Oktoberrevolution verstarb Herr Bolschewiki…“) zu überstehen, oder sich gegen Fanatismus, gleichviel ob religiös oder politisch, auszusprechen. Zu einem Zeitpunkt, als es ihr nach Langem deutlich besser zu gehen schien, starb Frau Prof. Dr. Petra Kappert. Damit verlor die Hamburger Turkologie ihre über zwei Jahrzehnte den Arbeitsbereich gestaltende Lehrstuhlinhaberin. Schon mit der stark sprachwissenschaftlich orientierten Turkologie, erinnert sei hier nur an die Grand Dame des Alttürkischen, Annemarie von GABAIN (Professorin 1948–1968, gest. 1993), entwickelte die Turkologie ihr internationales Renommee. Das Fach hatte bis Petra Kappert eine relativ kurze Geschichte in Hamburg hinter sich. Mit von GABAIN wurde das Fach 1948 von der Islamkunde getrennt und konzentrierte sich mit Alttürkisch und zentralasiatischen Turksprachen auf den sprachwissenschaftlichen und sprachgeschichtlichen Zweig der Turkologie. Mit Barbara Flemming, die als Akademische Rätin zwischen 1969 und 1979 am Institut arbeitete und danach Professorin für Turkologie in Leiden/NL war, verschob sich der Fokus auf den türkischen Raum und es kamen die literaturund geschichtswissenschaftliche Ebene hinzu. Nochmals – diesmal um die Osmanistik – erweiterte Hanna Sohrweide, Honorarprofessorin 1980 (gest. 1984) die Hamburger Turkologie. In guter Tradition führte Petra Kappert ab 1979 die thematische Ausweitung des Faches fort und machte es zu einer Institution in Deutschland. Von den Sprachen und Kulturen der frühen Türken in Zentralasien im 6. Jahrhundert, über die Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei, bis hin zur türkischen Gemeinschaft in Deutschland reichte ihre wissenschaftliche Expertise. Es ist ihr zu verdanken, daß die Hamburger Turkologie dem in der noch immer gültigen Magisterstudienordnung von 1986 selbsterhobenen Anspruch, die „Geschichte und Kultur der Turkvölker von ihren Anfängen bis zur Gegenwart auf der Basis ihrer Literatursprachen“ zu lehren, gerecht

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wurde. Und es bleibt – unter den Bedingungen eines standardisierten Bachelor/Master-Studiums – nur zu hoffen, daß dieses Versprechen weiterhin erfüllbar bleibt. Wenn auch ihre ersten grundlegenden Arbeiten das Osmanische Reich im Visier hatten, speziell die Regierungszeit unter Sultan SüleymƗn ঱ƗnnjnƯ, konzentrierte sich Petra Kappert später verstärkt auf die türkische Literatur, auf das Verhältnis von Islam und Laizismus und auf Entwicklungen in den (postsowjetischen) Turkrepubliken. Dabei gingen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn und politisches Engagement Hand in Hand. Als Mitunterzeichnerin der „Taschkenter Resolution“ warnte sie schon 1999 vor Terrorismus und Extremismus. Nicht nur fern der Heimat war sie gesellschaftspolitisch aktiv, sondern auch wenn es um jene so oft irreführend als „Integration der türkischen Muslime“ bezeichnete innerdeutsche Debatte ging. Erinnert sei hier nur an das Deutsch-Türkische Symposium der KörberStiftung im Jahr 1995, bei dem sie sich engagierte. Mit der Ausrichtung des Internationalen Turkologentages 1999 in Hamburg zeigte sie sich zudem als “aktives Mitglied der Zunft“ (aus: Hamburgische Orient-Blätter 6–7, 2006, S. 6). Ihr Ausspruch: „Ich bin keine Lehrerin!“, bezog sich auf ihre zahlenmäßig immer stärker anwachsenden Seminare, die ihr Bild und ihren Anspruch vom intrinsisch motivierten und begeisterten Jungforscher nicht selten, ja, wohl immer häufiger, verschwimmen ließen. Daß man sich bei ihr zu Hause traf, osmanische Texte studierte und debattierte, wurde seit Mitte der 1990er Jahre zusehends seltener und gehört zur Geschichte der Hamburger Turkologie. Die Seminare nahmen einen für die Turkologie beachtlichen Umfang an. Die von ihr so intensiv geförderte Ausbildung von Türkischlehrern mag hier eine Rolle gespielt haben. So manches Mal fanden sich Magisterstudierende als Minderheit im Kurs wieder. Das wachsende Interesse am Fach ließ Hamburg zu einer der größten Turkologien im deutschsprachigen Raum werden. Eine Erhöhung der personellen Kapazitäten ging damit nicht einher. Im Gegenteil: Die einzige Assistentenstelle (C1) wurde in den 90er Jahren in eine halbe Promotionsstelle umgewandelt. Dies sollte der Status quo über viele Jahre bleiben. Erst 2007 beendete die Einrichtung einer Juniorprofessur diesen unwürdigen Zustand. Die Absolventen der Hamburger Turkologie hat es bisher in viele Richtungen und Weltgegenden, inner- wie außerhalb der Universität, ja außerhalb des eigentlichen turkologischen Berufsbildes (wenn es dieses jemals gegeben haben sollte) verschlagen. Sie landeten bei Medien, arbeiten an Museen oder als Unternehmer. Einige von ihnen blieben dem Fach

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als Hochschullehrer und Dozenten treu. Bedarf es eines Beweises für die Kompatibilität der Turkologie mit der Berufswelt, so ist er in dieser Streuung zu finden. Selbstredend ist dies gleichfalls der stille Abgesang auf die rein akademische, sich selbstgenügende Forschung. Andererseits: Schauen wir einmal auf die Entstehungsgeschichte des Asien-Afrika-Institutes, so gelangen wir zum 1908 gegründeten Kolonialinstitut, dem Vorläufer der Hamburger Universität. In dieser Institution war das Ausbildungsziel klar definiert: Kolonialbeamte sollten hier ihre landesspezifischen und sprachlichen Kompetenzen erwerben. Was schon vor 100 Jahren galt, das „Verständnis zu wecken für fremde Kultursysteme und fremde Eigenart“, dürfte im Zeitalter der Globalisierung nicht minder wichtig sein. Insofern nahm die von Petra Kappert gepflegte Turkologie äußere Impulse auf und blieb ein offenes System, das sich – auch jenseits des Elfenbeinturmes – an den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientierte. Bestes Beispiel ist der von ihr initiierte Studiengang „Lehramt Türkisch“. Diese Lehrerausbildung, die in ihrer Art einzigartig in Deutschland ist und unbedingt ihre Nachahmer finden sollte, ist erfolgreich. Seit das Lehramtsmodul (für die Bereiche Grund- und Mittelstufe, Oberstufe, Berufsschulen) Mitte der 90er Jahre seine ersten Studierenden empfang, nahm deren Zahl kontinuierlich. Eine Studie zum Verbleib der Absolventen steht noch aus, es zeigt sich – aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – daß die überwiegende Mehrheit der Immatrikulierten erfolgreich das Erste Staatsexsamen absolviert und anschließend auch Referendariat und Zweites Staatsexamen übersteht. Es liegt im Ermessen der Politik, hier den güldenen Worten von Integration, Förderung bildungsferner Gruppen, Akzeptanz als Einwanderungsland usw. usf. Taten in Form fachspezifischer Lehrerstellen folgen zu lassen. Sonst bliebe der Lehramtsausbildung letztlich Zukunft und Erfolg versagt und die Mühen und Anstrengungen Petra Kapperts in dieser Richtung wären umsonst gewesen. Petra Kappert war eine aufmerksame Beobachterin und – wie sie selbst sagte und es vielfach seine Bestätigung fand – mit dem Gedächtnis eines Elefanten gesegnet. Erst einmal festgehalten, tauchte vermeintlich Vergessenes Jahre später mit einer exakten Wiedergabe auf. Dieses Gedächtnis wird fehlen. Der vielen Worte zum Trotz. Ihr Verlust bleibt, persönlich wie beruflich, nur eines: Unsäglich!

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Bibliographie Petra Kappert Monographien & Sammelbände FENZ, Hendrik & KAPPERT, Petra (Hg.): Turkologie für das 21. Jahrhundert. Herausforderungen zwischen Tradition und Moderne. Tagungsband zur Turkologenkonferenz 1999. Wiesbaden: Harrassowitz, 2006. KAPPERT, Petra & TURAN, Tevfik (Hg.): Türkische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main: Insel, 1992. KAPPERT, Petra (Hg.): Din Dersleri 1. Hamburg: EBV, 1986. KAPPERT, Petra & NIEMEYER, Rolf: Islamischer Religionsunterricht für muslimische türkische Schüler in Hamburger Schulen: Kurzfassung. Hamburg: Staatliche Pressestelle, 1985. KAPPERT, Petra: Din Dersleri 3. Hamburg: EBV, 1985. KAPPERT, Petra & NIEMEYER, Rolf & SOMMER-HUNDERLAGE, Ümran: Islamische Feste und Feiertage: eine Informationsschrift für Lehrer. Hamburg: IfL-Schriftenreihe 1, 1985. KAPPERT, Petra (Hg.): Geschichte Sultan SüleymƗn ۗƗnnjnƯs von 1520 bis 1557 oder ܑabaۘƗt ül-MemƗlik ve DerecƗt ül-MesƗlik. In Faks. herausgegeben nach der Handschrift Berlin. Stuttgart: Steiner, 1981. KAPPERT, Petra: Die osmanischen Prinzen und ihre Residenz Amasya im 15. und 16. Jahrhundert. Leiden: Nederlands Inst. vor het Nabije Oosten, Uitgaven van het Nederlands Historisch-Archeologisch Instituut te Istanbul 42, 1976. KAPPERT, Petra: Din Dersleri 3, 2: ÖЂretmen ElkitabÕ. Hamburg: EBV, ohne Jahr.

Artikel in Sammelbänden KAPPERT, Petra: Türken in Berlin 1871 bis 1945: Epilog, in: FENZ, Hendrik & KAPPERT, Petra (Hg.): 2006: S. 31–43. KAPPERT, Petra: Die Ghasalen in August Graf von Plates orientalischer Dichtung, in: NEUWIRTH, Angelika u.a.: Ghazal as world Literature II: from a literary genre to a great tradition: the Ottoman ghazel in context. Würzburg: Ergon, (Istanbuler Texte und Studien) 2006, S. 317–322. KAPPERT, PETRA: Zur Geschichte der „traditionellen deutsch-türkischen Freundschaft“, in: KÖRBER-STIFTUNG (Hg.): Kultur-Kontakte. Deutsch-Türkisches Symposium 1995. Hamburg 1996, S. 25–48.

Bibliographie Petra Kappert

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KAPPERT, Petra: Aziz Nesin – Symbolfigur der türkischen Moderne und die Zeitschrift „Marko Paúa“, in: GOßMANN, H.Ch. (Hg.): Begegnungen zwischen Christentum und Islam: Festschrift für Hans-Jürgen Brandt. Ammersbek bei Hamburg: Verlag an der Lottbek, 1994, S. 75–89. KAPPERT, Petra: From romanticism to colonial dominance: historical changes in the European perception of the Middle East, in: HIPPLER, J. & LUEG, A.: The next threat: Western perceptions of Islam. London: Pluto Press with Transnational Institute, 1995, S. 32–56. KAPPERT, Petra: Azerbajdžan zwischen Nationalismus und religiöser Reaktion, in: NITSCHE, P. (Hg.): Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Frankfurt/Main: Lang, 1994, S. 119–130. KAPPERT, Petra: Europa und der Orient, in: HIPPLER, Jochen & LUEG, Andrea (Hg.): Feindbild Islam. Hamburg: Konkret Literatur-Verlag, 1993, S. 44–76. KAPPERT, Petra: Atatürks Erben – kommen nach Marx die Mullahs?, in: ROTTER, Gernot (Hg.): Die Welten des Islam: Neunundzwanzig Vorschläge, das Unvertraute zu verstehen. Frankfurt/Main: Fischer, 1993, S. 123–134. KAPPERT, Petra: Türkische Literatur, in: GROTHUSEN, Klaus Detlev (Hg.): Südosteuropa-Handbuch. Bd. 4: Türkei, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, S. 621–649. Kappert, Petra: Zwei Kulturen – und die Schwierigkeiten des gegenseitigen Verständnisses, in: BRANDT, Hans-Jürgen & HAASE, Claus-Peter (Hg.): Begegnungen mit Türken, Begegnungen mit dem Islam. Bd. 3, Hamburg: EBV, 1983, S. 138–151. KAPPERT, Petra: Die Türkei heute. Zur innenpolitischen Entwicklung des Landes nach Eingreifen der Militärs 1980, in: BRANDT, Hans-Jürgen & HAASE, Claus-Peter (Hg.): 1983, S. 33–46. KAPPERT, Petra: Zeitgenössische türkische Literatur: Themen und Tendenzen, in: BRANDT, Hans-Jürgen & HAASE, Claus-Peter (Hg.): Begegnungen mit Türken, Begegnungen mit dem Islam. Bd. 1, Hamburg: EBV, 1981, S. 1–18.

Artikel in Zeitschriften & Zeitungen KAPPERT, Petra: NigƗr H࡮ ƗnÕm: Dichterin und Dame von Welt im ausgehenden Osmanischen Reich, in: Frauen, Bilder und Gelehrte (2002), S. 315–332. KAPPERT, Petra: Ein unbequemer Repräsentant seiner Nation: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für den türkischen Schriftsteller Yaúar Kemal, in: Das Parlament Bd. 47 (1997) 42 vom 10.10., Beilage, S. iii. KAPPERT, Petra: Comeback in der Türkei, in: DU (1994), vii–viii, 640, S. 164–65. KAPPERT, Petra: Zwischen Laizismus und Reislamisierung, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 47 (1997), i–ii, S. 30–33.

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KAPPERT, Petra & VEENKER, Wolfgang: Annemarie von Gabain, in: Universität Hamburg Bd. 24 (1993) 2, S. 53. KAPPERT, Petra: Kardeúler arasÕnda çekiúme de olur, in: Görüú, østanbul 1993, S. 17– 30. KAPPERT, Petra: Scholl-Latour und das Reich des Bösen: mehr als nur ein Mißverständnis einer Koranzeile; Spiel mit Ressentiments und Feindbildern; im Fernsehen und im Buch: „Den Gottlosen die Hölle“, in: KLEMM, Verena & HÖRNER, Karin: Das Schwert des „Experten“: Peter Scholl-Latours verzerrtes Araber- und Islambild. Heidelberg: Palmyra 1993, S. 129–142. KAPPERT, Petra: Almanya, Almanya – zum Deutschlandbild in der modernen türkischen Literatur, in: Zeitschrift für Türkeistudien 1 (1987) S. 148–162. KAPPERT, Petra: Mustafa Kemal Atatürk, in: Journal für die Geschichte (1987) S. 28– 42. KAPPERT, Petra: Anwälte des kleinen Mannes. Zur modernen türkischen Prosa, in: Jahresring (1984/1985) S. 38–46. KAPPERT, Petra: Grundsätzliche Überlegungen zur Einführung islamischen Religionsunterrichts für türkische Schüler, in: o.A., Hamburg 1984, S. 18–39. KAPPERT, Petra: Osmanische Inschriften in Syrien, in: Damaszener Mitteilungen 1 (1983) S. 103–121. KAPPERT, Petra: Zur Turkologie in Deutschland, in: Türkiye YazÕlarÕ, Juni (1982), S. 32–51. KAPPERT, Petra: Der Edle Räuber in der engagierten türkischen Literatur: Köro÷lu, historischer Rebell und literarischer Held, in: WZKM 71 (1979) S. 177–194. KAPPERT, Petra: Muতibb Efendis Paris-Bericht. Die Französische Revolution aus der Sicht eines osmanischen Diplomaten, in: Der Islam 55 (1978) S. 83–97. KAPPERT, Petra: Zur Charakteristik osmanischer historisch-narrativer Quellen des 16. Jahrhunderts. XIX. Deutscher Orientalistentag, Freiburg i.Br. 1975, in: ZDMG Suppl. III, 2 (1977), S. 1204–1209. KAPPERT, Petra: MuৢtafƗ b. CelƗls „TabakƗtü l-MemƗlik“ als Quelle für die osmanische Geschichte des 16. Jahrhunderts, in: Studi Preottomani e Ottomani, Napoli 1976, S. 135–143. KAPPERT, Petra & KELLNER, Heinkele & WURM, H.: Dissertationen zur Geschichte und Kultur des Osmanischen Reiches, angenommen an deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten seit 1945, in: Der Islam 49 (1972), S. 110–119.

Herausgeberin der Reihen Mîzân: Studien u. Texte zur Literatur d. Orients. Wiesbaden: Harrassowitz. HITAT: Hamburger Islamwissenschaftliche Artikel und Texte. Hamburg u.a.: LIT. (gemeinsam mit Prof. Dr. Gernot Rotter).

„Das osmanische Muster“: Das frühe Ideal des M. ĩiyƗ‫( ގ‬Gökalp) anhand ausgewählter Artikel in der Wochenschrift PeymƗn (DiyƗrbekir 1909) Sabine Adatepe (Hamburg) Ziya Gökalp, Chefideologe und nationalistischer Vordenker an der Zeitenwende vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik, ist, so die gängige Auffassung, hinlänglich bekannt und bearbeitet. Der Mythos Gökalp als Spiritus rector der Turkisten hat jedoch eine weniger bekannte Vorgeschichte: M. ĩiyƗ‫ ގ‬als überzeugter Anhänger der Integrationsidee des Osmanismus. 1876 in DiyarbakÕr, dem damals multikulturellen DiyƗrbekir, geboren, erhielt Mehmed ĩiyƗ‫ގ‬1 auf Betreiben von Vater TevfƯk Efendi, Verwaltungsbeamter aus angesehener Zaza-Familie, und nach dessen Tod 1890 von Onkel HasƯb Efendi neben der Schulbildung schon früh eine umfassende Bildung sowohl in westlich-europäisch als auch in östlich-islamisch geprägten Wissenschaften. Während seines Studiums an der Istanbuler Mülkiyye BƗytar Mekteb-i ҵAlƯsi lernte er führende Köpfe der jungosmanischen Bewegung wie øbrƗhƯm Temo und øshƗk SüknjtƯ2 kennen, ebenso wie den Turkisten HüseyƯnzƗde ‫ޏ‬AlƯ3. Seine Unterstützung der damals noch illegalen Jungosmanen büßte er 1898 mit einem Jahr Haft und der an–––––––––––––––– 1

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Der später als Familienname geführte Name „Gökalp“ wurde erstmalig 1911 von M. ĩiyƗ‫ ގ‬während seines Anschlusses an die turkistisch ausgerichtete intellektuelle Jungtürken-Spitze in der Zeitung Genç Kalemler als Pseudonym benutzt (vgl. Büyük Larousse, Bd. 9, S. 4667), also nach der hier behandelten Periode. Temo (1865–1945) u. SüknjtƯ (1868–1903) hatten mit ‫ޏ‬Abdullah Cevdet 1889 die øttihƗd-Õ ҵOsmƗnƯ Cemҵiyeti gegründet, aus der 1895 die ‫ޏ‬OsmƗnlÕ øttihƗd ve TerakkƯ Cemҵiyeti hervorgehen sollte; ausführlich hierzu vgl. u.a. HANøOöLU, ùükrü: Bir Siyasal Örgüt Olarak OsmanlÕ øttihad ve Terakki Cemiyeti ve Jön Türklük. Bd. I, østanbul 19892 und TEVFøK, Ebuzziya: Yeni OsmanlÕlar Tarihi. østanbul 1973. Der aus Aserbaidschan stammende HüseyƯnzƗde ‫ޏ‬AlƯ (Turan) (1864–1941) befand sich unter den Gründern des Komitees für Einheit und Fortschritt; als führender Kopf der turkistisch-turanistischen Bewegung gehörte er zu den Gründern der Türk Yurdu Cemҵiyeti (1911) und des Türk OcaƥÕ (1912); vgl. u.a. ÜLKEN, Hilmi Ziya: Türkiye'de Ça÷daú Düúünce Tarihi. østanbul 19923.

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schließenden Verbannung nach DiyƗrbekir. Frisch verheiratet und in die Verwaltungslaufbahn eingetreten, nahm er dort den Kontakt zur jungen Freiheits- und Konstitutionalismusbewegung wieder auf. Ende 1908 übertrug ihm die Gesellschaft für Einheit und Fortschritt das Amt des Inspektors für die Niederlassungen DiyƗrbekir, Van und Bitlis. Kurz nach den Feierlichkeiten zur Proklamation der II. Konstitution am 23.07.1908 trat die Verbindung M. ĩiyƗ‫ގ‬s und seiner Freunde als ‫ޏ‬OsmƗnlÕ øttihƗd ve TerakkƯ Cemҵiyeti DiyƗrbekir ùuҵbesi ins Licht der Legalität. U.a. hielt M. ĩiyƗ‫ ގ‬Vorträge über die Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, über die schlimme Zeit des Absolutismus und die Vorzüge des neuen Regimes im neugegründeten øttihƗd ve TerakkƯ KulnjbÕ. Ab Juni 1909 gab M. ĩiyƗ‫ ގ‬gemeinsam mit gleichgesinnten Freunden die Wochenschrift PeymƗn heraus. Am 18. September 1909 reiste er zum Kongreß der Gesellschaft für Einheit und Fortschritt nach Saloniki und kehrte nicht wieder in die Redaktion der PeymƗn – und auch nur kurzzeitig überhaupt nach DiyƗrbekir – zurück. Der Philosoph und Soziologe Hilmi Ziya Ülken markiert hier den Wendepunkt: Als Ziya nach Saloniki ging, durchlebte er eine ernsthafte psychische Wende. Er ließ von diesen Gedanken ab. Da waren die Artikel über die Korrektur der Medresen, über die Alten und die Neuen, über die Reform der Klöster, lediglich die hier verfochtenen Gedanken behielt er sein Leben lang bei.4

„Diese Gedanken“ nun, die M. ĩiyƗ‫ ގ‬jahrelang umgetrieben hatten und die er, wie seine Artikel in der PeymƗn unmittelbar vor der „Wende“ zeigen, vehement verfochten hatte, bevor er sie 33-jährig hinter sich lassen sollte, sind Gegenstand dieser Betrachtung. PeymƗn erschien mit insgesamt 47 Ausgaben einmal wöchentlich montags als erste Lokalzeitung5 in DiyƗrbekir. Die erste Ausgabe datiert vom 28.06.1909, die letzte vom 06.06.1910. Der Umfang betrug vier Seiten mit je drei Spalten auf 25 x 37 cm, lediglich eine Sonderausgabe zum ersten Jahrestag der Proklamation der II. Konstitution kam mit einer Doppelnummer von acht Seiten heraus. Herausgeber war während der gesamten Zeit ihres Erscheinens MƯrƯkƗtibizƗde ùükrƯ Efendi6. –––––––––––––––– 4 5

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Ebd.: S. 305. Vorgänger war die amtliche Zeitung DiyƗrbekir. VakƗ'iҵnƗme-yi resmƯ-yi vilƗyet (1869–1931), zweisprachig osmanisch-armenisch, nach dem Vorbild der nach der Kommunalverwaltungsreform von 1864 in allen VilƗyets geschaffenen VilƗyetZeitungen. M. ĩiyƗ‫ ގ‬s Vater M. TevfƯk Efendi und M. ĩiyƗ‫ ގ‬selbst fungierten zeitweilig als Chefredakteure und Autoren. M. ùükrƯ (Asena) war vermutlich ein Bruder MƯrƯkƗtibizƗde Ahmed CemƯls, Freund M. ĩiyƗ‫ގ‬s aus Kindertagen und Mitbegründer der DiyƗrbekirer Abteilung der Gesellschaft für Einheit und Fortschritt. ùevket BEYSANOöLU bezog zahlreiche Informationen zur PeymƗn aus persönlichen Gesprächen mit ihm, dem „Herausge-

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Der Name der Zeitung – peymƗn7 – steht programmatisch für das Freiheitsverständnis der Herausgeber: Der Bund zwischen Gott und Mensch schreibt fest, daß der Mensch seinem Schöpfer gegenüber untertan, den Menschen gegenüber jedoch frei zu sein habe.8 Über den Pakt zwischen „Schöpfer und Geschöpf“, wie M. ĩiyƗ‫ ގ‬es ausdrückte, hinaus steht PeymƗn für einen „Gesellschaftsvertrag“9 bzw. konkret für die Verfassung, ist also ein Bekenntnis zum Konstitutionalismus. Inhaltlich ist ein breiter Themenfächer abgedeckt: Politik mit einem Schwerpunkt auf Konstitutionalismus und Absolutismus, Lokalpolitisches, Soziologisches, Kultur, Ethik, Bildung, Justiz, Beamtentum und Verwaltungsreform, Religion, Presse, Beschlüsse und Fermane, überregionale und lokale Kurznachrichten, Hinweise und Ankündigungen. Glossen und Kommentare dominieren die eingeschränkte Auswahl der journalistischen Ausdrucksformen. Bis einschließlich Nr. 18 liegt der Schwerpunkt bei ideologisch geprägten Artikeln – im Sinne eines fikir gazetecili÷i10 – zu politischen, sozialen oder religiösen Themen. Danach ist eine zunehmende Wendung in Richtung auf ein Amtsblatt zu verzeichnen.

–––––––––––––––– ber und Chefredakteur dieser Zeitung“, in den Jahren 1952–53, s. Anm. XXI v. BEYSANOöLU in GÖKALP, Ziya: ùaki øbrahim DestanÕ ve Bir Kitapta ToplanmÕú ùiirler. østanbul 1976, S. 142. 7 (Persisch) „Vertrag, Pakt, Übereinkommen, Bündnis, Bund, Versprechen“ aber auch „gemeinschaftliche Unternehmung“. 8 So M. ĩiyƗ‫ ގ‬u.a. in seinem hier nicht behandelten Artikel Hürriyetiñ menbaҵlarÕna toƥru (PeymƗn Nr. 2). Grundlage des religiös verstandenen Bundes ist der im jüdischen Glauben verankerte Bund zwischen Gott und Abraham, der letzteren und alle ihm nachfolgenden Menschen verpflichtet, die von Gott gegebenen Gesetze und Gebote einzuhalten. Im Koran ist mehrfach auf diesen Bund (‫ޏ‬ahd) und die Notwendigkeit, ihn einzuhalten, hingewiesen. 9 Vgl. Rousseaus Idee des Contrat Social. 10 Meinungsjournalismus, der, mit der französischen Revolution aufgekommen, durch die Bearbeitung sozialer, ökonomischer und philosophischer Themen eine erzieherische Wirkung erzielen will. Vgl. ùAPOLYO, Enver Behnan: Türk Gazetecili÷i Tarihi ve Her Yönü ile BasÕn. Ankara 1969, S. 6–10. Der deutsche Zeitungswissenschaftler Emil DOVIFAT formulierte zugespitzt: „Jede Zeitung zeigt eine Gesinnungshaltung. Das ist in ihrer Natur begründet und der Maßstab ihres eigentlichen Wertes. Vgl. DOVIFAT, Emil: Zeitungslehre. Berlin 19766, Bd. 1, S. 16.

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øki Söz PeymƗn erscheint in DiyƗrbekir als erste eigenständige (husnjsƯ) Zeitung. [...] Das Wunschziel der PeymƗn ist eine nationale (millƯ) und aufrichtige (samƯmƯ) osmanische Hochzivilisation, die aus der Vereinigung der östlichen Weisheit mit der westlichen Bildung und deren Einzigartigkeit hervorgehen soll. Die gesellschaftliche Aufgabe der PeymƗn besteht darin, die wahren Grundlagen dieser künftigen vorzüglichen Zivilisation herauszufinden und aufzuzeigen.11

So lautet eine Art Editorial in der ersten Ausgabe der PeymƗn. Der selbstgesteckte Anspruch ist in hohem Maße in den ersten Ausgaben der Zeitung erfüllt: Zu einem relativ breiten Themenspektrum wird der Status quo kritisch untersucht und nachfolgend ein Lösungsweg bzw. eine Alternative aufgezeigt. Obwohl M. ĩiyƗ‫ ގ‬nie eine offizielle Position in der PeymƗn bekleidete, wird das Blatt aufgrund der Dichte seiner Artikel von der ersten bis zur zehnten Ausgabe vielfach als „seine“ Zeitung empfunden. Unstrittig läßt sich auf jeden Fall von einer geistigen Vaterschaft M. ĩiyƗ‫ގ‬s sprechen, da auch die 37 Ausgaben nach seinem Ausscheiden der zu Beginn eingeschlagenen ideologischen Bahn folgten. Drei Artikel aus der Feder M. ĩiyƗ‫ގ‬s12 aus den ersten drei Ausgaben der Zeitung sollen hier beispielhaft für die vertretene Ideologie des Osmanismus stehen.

ҵølm-i ictimƗҵ – „Soziologie“ (PeymƗn Nr. 1, Rubrik SiyƗsiyyƗt/Politik, Mehmet Mehdi) In diesem grundlegenden Artikel entwirft M. ĩiyƗ‫ ގ‬die „Gesellschaftswissenschaft“ – die Soziologie, die später seine Domäne werden sollte. Statt –––––––––––––––– 11 Alle eindeutig M. ĩiyƗ‫ ގ‬zugeschriebenen Artikel finden sich in türkischer Umschrift in GÖKALP, Ziya (hg. v. ùevket BEYSANOöLU): Makaleler I. DiyarbekirPeyman-Volkan Gazetelerindeki YazÕlar. østanbul 1976. Soweit festgestellt werden konnte, befand sich die umfassendste Sammlung der PeymƗn im Archiv der Universitätsbibliothek DiyarbakÕr in der Privatsammlung BEYSANOöLUs, ist dort, wie die Recherche der Autorin im August 1992 vor Ort ergab, jedoch nicht mehr vorhanden. Diese Ausgabe ist es auch, die auf Mikrofilm gespeichert wurde, um in der türkischen Nationalbibliothek Ankara archiviert zu werden (Mikrofilm Nr. B 384). 12 M. ĩiyƗ‫ ގ‬schrieb unter den Pseudonymen HüseyƯn VedƗd, Mehmed MehdƯ, Mehmed NƗ'il und TevfƯk SedƗd in der PeymƗn. Weitere ohne Unterschrift erschienene Artikel sind aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Merkmale sowie nach Angaben ùevket BEYSANOöLUs M. ĩiyƗ‫ ގ‬zuzuordnen. BEYSANOöLU beruft sich dabei auf die Notizen des Herausgebers der PeymƗn, M. ùükrƯ (Asena) (vgl. GÖKALP 1976, a.a.O., S. 119).

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sich jedoch in Wissenschaftstheorie zu ergehen, unternimmt M. ĩiyƗ‫ ގ‬die konkrete Anwendung auf die osmanische Situation, wie sie sich dem Soziologie-Aspiranten präsentiert, was dem Artikel in diesem Zusammenhang Bedeutung verleiht: Die Osmanen verfügen über einen großen Wissenschaftszweig, der – wenn sie sich bemühen – den anderen Nationen (millet13) überlegen sein kann. Dieses Teilstück der Wissenschaft, hervorgegangen aus dem Streben nach Eroberungen der letzten Jahrhunderte, ist die Gesellschaftswissenschaft. Die osmanische Nation besteht aus zahlreichen Bevölkerungsteilen14. Diese Bevölkerungsteile haben eigene Sprachen, Traditionen, Religionen und unterschiedliche Charaktere; bei den Osmanen finden sich alle sozialen Formen, die den verschiedenen Epochen der Entwicklung der Zivilisation angehören. Für den osmanischen Soziologen (ma‫ޏ‬úer-úinƗsƯ) ist eine Weltreise unnötig. Ihm bietet sich ein äußerst reiches Forschungsfeld vor seinen Augen dar. Außerdem haben sich in der Geschichte des Islam und der Osmanen beim Studium der wissenschaftlichen Grundsätze sehr gute Grundlagen für die Soziologie ergeben.

So stellt sich für M. ĩiyƗ‫ ގ‬die osmanische Gesellschaft als ideales Studienobjekt dar und trägt zugleich die Ansätze für wissenschaftliche Methoden der Forschung bereits in sich. Die Notwendigkeit, sich überhaupt mit dem – für den osmanischen Bereich neuen – Feld der Soziologie zu beschäftigen, erwächst aus der Zusammensetzung der osmanischen Nation, die „über keine natürliche Ordnung und naturgegebene Gleichheit“ verfüge. Soziologie stellt für M. ĩiyƗ‫ގ‬ den Ansatz zur Untersuchung der bisherigen Krisen dar, die „alle der Verschiedenheit der Meinungen und dem Zusammenstoß der Gefühle“ entsprangen, und als Wege zu den dringlichen Lösungen: So wie es die Aufgabe der persönlichen Bildung ist, die Naturanlagen [des Individuums] je nach Erfordernis der Situation zum Erfolg zu bringen, so ist es Aufgabe der Bildung der Gesellschaft, eine Übereinstimmung mit dem Wissen um die gesellschaftlichen Beziehungen zu erzielen.

–––––––––––––––– 13 „millet“ bezeichnete im osmanischen Kontext ursprünglich eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Millet-Systems; unter dem Einfluß europäischer nationalistischer Ideen wandelte sich der Begriff später zur ethnisch verstandenen „Nation“ (vgl. LEWIS, Bernard: Die politische Sprache des Islam. Berlin 1991, S. 70f.). BERKES bemerkt, daß der Terminus „millet“ im obigen Sinn von den Begriffen „cema‫ޏ‬Ɨt“ (religiöse Gemeinde) und „‫ޏ‬unsnjr“ (vor allem ethnische Gemeinschaft) verdrängt worden sei (vgl. BERKES, Niyazi: Development of Secularizm in Turkey. Montreal 1964, S. 331). 14 Das arabische ‫ޏ‬unsnjr (Pl. ‫ޏ‬anƗsÕr), wörtl. „Element“, ist in diesem Zusammenhang fast durchgehend wertneutral als Bevölkerungsteil zu verstehen. Die Übersetzung benutzt sowohl „Element“ als auch „Bevölkerungsteil“.

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Die Gleichsetzung von Mensch und Gesellschaft – so wie der Körper aus Gliedern besteht, bestehe auch die Gesellschaft aus Gliedern; der Mensch beziehungsweise der Organismus als Metapher für die Gesellschaft, Krankheit des Organismus als Bild für die Krankheit der Gesellschaft – ist auch in der Tradition muslimischer Denker wie etwa Ibn Haldnjn gängig. M. ĩiyƗ‫ ގ‬folgt dieser Tradition, wenn er wiederholt die sieche Gesellschaft mit einem kranken menschlichen Organismus vergleicht. Die Soziologie ist ihm eine Form der Therapie: Indem die Soziologie kränkliche Ideen, die aus Unstimmigkeiten in Sprache, Ethnie, Religion, Klasse und Beruf entstanden sind, aufs Korn nimmt, abbaut und an ihrer Stelle gesunde Gedanken entwickelt, führt sie zu einer Beendigung der Meinungsverschiedenheiten und emotionalen Zusammenstöße. Sie diagnostiziert die sozialen Krankheiten und zeigt notwendige Heilmittel und Schutzmaßnahmen für die Heilung und die Bewahrung der Gesundheit der Nation auf.

Auf die besonderen Verhältnisse der osmanischen Gesellschaft eingehend, soll sie beweisen, „daß Rasse (‫ޏ‬Õrk15) eine provisorische Gesellschaftsform sei, und aus der Mischung und Angleichung der zahlreichen Völker, die unter einer politischen Verwaltung leben, ein neues Modell formen [...]“. Die konkret zu beantwortenden Fragen der Zeit seien: Sind die osmanischen Völker (ƗkvƗm) zu einer vollständigen Mischung und Homogenisierung fähig? Kann aus den verschiedenen Elementen, die sie beinhalten, eine freundschaftliche Einheit und eine osmanische Nation eines Herzens und einer Art entstehen? Wenn diese freundschaftliche Einheit eine mögliche und vorbestimmte Sache ist, welche Mittel müssen dann zu ihrer schnellen Umsetzung angewendet werden?

Der Artikel endet mit der Aufforderung an osmanische Soziologen, sich in aller Ausführlichkeit der Beantwortung dieser Fragen zu widmen – womit M. ĩiyƗ‫ގ‬s a priori sein eigenes Betätigungsfeld umreißt.

Türklük ve ҵOsmƗnlÕlÕk – „Türkentum und Osmanentum“ (PeymƗn Nr. 2, Rubrik SiyƗsiyyƗt / Politik, Mehmed Mehdi) Die ersten Gründer der Gestalt der osmanischen Gesellschaft verfolgten frei von Herkunftsgefühlen und erhaben über Stammesgedanken – im Unterschied zur Neigung in jener Zeit – ein fantastisches Ziel: Frei von überlieferten Traditionen bemühten sie sich, eine neue, zu jeder Art von sozia–––––––––––––––– 15 „‫ޏ‬Õrk“ (Pl. ‫ޏ‬urnjk), arab., ursprünglich „Wurzel, Ader, Abstammung“, ist meist mit „Rasse“ übersetzt, einem im historischen Kontext bekanntermaßen üblichen Terminus, was auch hier den Ausschlag für „Rasse“ statt „Nation“ gab.

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ler Erfindung und Bestrebung geeignete Nation auf die Bühne der Geschichte zu stellen. Die Osmanen traten das Erbe des „türkischen Staates der Seldschuken“ an, hatten aber nicht den Anspruch, „ein neuer Zweig (sülƗle) der seit dreitausend Jahren in Asien und Ost-Europa [...] lebenden alttürkischen Hakane zu sein“. Um ein völlig neues Leben zu beginnen, war es nötig, die alten Bande zu kappen und die historische Vorgeschichte vollständig zu vergessen. Um die „jungen Menschen“ der Zeit zu sein, lehnten die ersten Osmanen ihre Vergangenheit mit allen Traditionen ab und wandten ihre Blicke ausschließlich der Zukunft zu.

Hier entwirft M. ĩiyƗ‫ ގ‬sein Ideal der „osmanischen Nation“ und deren Erfolgsrezept, durch das die Osmanen ihr über Jahrhunderte bestehendes Reich zur Blüte bringen konnten, nämlich durch die Abkehr von der „alttürkischen“ Idee des „Turanismus“: Wenn die Osmanen sich bemüht hätten, das alttürkische Hakanat neu zu errichten, hätten sie keinen Erfolg haben können. Denn türkischer Hakan hieß realer Herrscher über ein sehr ausgedehntes fantastisches Land zu sein, das „TurƗn“ genannt wurde und alle Länder umfaßte, in denen die türkische Sprache gesprochen wurde. Ein mit dem Anspruch auf einen so historischen und großartigen Titel auftretendes Herrschaftshaus wäre gezwungen gewesen, universale Eroberungszüge zu unternehmen, um jenes Land der Fantasie in einen tatsächlichen Besitz umzuwandeln und aus jener utopischen (ma‫ޏ‬nevƯ) Herrschaft eine greifbare, tatsächliche Regierung zu bilden.

Am Beispiel Cengiz HƗns, der „tatsächlich alle Länder, in denen Türkisch gesprochen wurde, unter seiner Fahne“ vereinigte und „das utopische Land ‚TurƗn‘ erneut zu einem [...] Sultanat“ machte, wird der notgedrungene Zerfall eines Reiches aufgezeigt. Dieses sollte den Osmanen, die sich ja „weit von Turkestan, von der Heimat der Türken“ befanden, als warnendes Beispiel gelten und sie ein von „Zeit und Raum“ losgelöstes Modell anstreben lassen, ein „nationales Modell“ (enmnjzec-i millƯ), das mehr als aus natürlichen, angeborenen „Mustern“ aus Erziehung und Entwicklung entstehen sollte, indem verschiedene Völker, die keine Blutsverwandten (kan kardeúi) waren, zu Seelenverwandten (cƗn kardeúi) gemacht wurden. Dieses „fantastische Modell“ (enmnjzec-i muhayyel) verfügte zunächst lediglich – „wie alle Ziele der Vollkommenheit“ – über eine „geistige Gestalt (vücnjd-Õ zihnƯ) und entbehrte einer äußeren Gestalt (vücnjd-Õ hƗricƯ)“. Zunächst brauchte diese Idee einen Namen, der „erhaben sein mußte, wie die Wörter, die den gesamten Inhalt des Geistes bekräftigen und andauern lassen, und der ausgefeilt (rakƯk) sein mußte wie die Wörter, die besonderen Gedanken Charakter verleihen. Aus diesem Bedürfnis heraus wurde das ehrenhafte Wort „Osmane“ geboren“.

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Unter der Bezeichnung „Osmane“ bildete sich nun das „Osmanentum“ (ҵosmƗnlÕlÕk), indem Persönlichkeiten16, die für den Aufbau des späteren Osmanischen Reiches kämpften und nichttürkisch-osmanischen, zum Teil auch nicht-muslimischen Volksgruppen angehörten, sich „zuerst osmanisch“ fühlten. M. ĩiyƗ‫ ގ‬stellt fest, daß ein Blick auf die „Biographie der Großwesire, Wesire und Beylerbeyis“ zeige, „daß fast alle Großen, die der Gründung und Stärkung dieses Staates dienten, aus den osmanischen Elementen stammten“. Unter „‫ޏ‬anƗsÕr-Õ ҵosmƗniyye“ – osmanische Elemente bzw. Bevölkerungsteile – ist hier die Vielzahl unterschiedlicher Ethnien und Religionsgemeinschaften zu verstehen, wie aus M. ĩiyƗ‫ގ‬s nachfolgenden Überlegungen zum Thema „Türken“ hervorgeht. Zunächst stellt M. ĩiyƗ‫ ގ‬dar, was er unter dem Weg der „Erziehung und Entwicklung“ (terbiyye ve tekƗmül) versteht, und nennt die drei von den Staatsgründern eingerichteten „Eliteschulen“: die Endernjn-Õ HümƗynjn, die Paúa DƗiҴreleri und das Janitscharenkorps (yeñiçeri ocaƥÕ). Die ‫ޏ‬AcemƯ Oƥlanlar17, die aus der ausgewählten Jugend der verschiedenen Bevölkerungselemente zusammengestellt wurden, wurden auf eine dieser drei Schulen gegeben und dort erzogen. Da diese Helden (dilƗver), die auf diesen Schulen herangezogen wurden, sich eine reine geistige Abstraktion von allen rassischen Eigenheiten aneigneten, wurden sie zu wahren Osmanen.

Was M. ĩiyƗ‫ ގ‬unter „wahren Osmanen“ vor allem im Unterschied zum historischen Vorbild des „türkischen Musters“ versteht, führt er anschließend aus: Mehr als die Existenz aller Rassen (‫ޏ‬urnjk), inklusive der türkischen, stellten die wahren Osmanen bei einer Aussiebung eine neue und erhabene historische Nation (millet) dar. Das osmanische Muster war völlig anders als das türkische Muster. Wer Türke blieb, konnte nicht Osmane werden. Wer Osmane war, war nicht mehr Türke. Die am militärischen und politischen Leben teilhabende Elitejugend – egal welcher Herkunft – osmanisierte sich. Aber Osmanisierung war nicht Türkisierung. Wer von den Türken am öffentlichen Leben teilnehmen wollte, mußte sich ebenso wie die Individuen der übrigen Bevölkerungsteile osmanisieren. Das herrschende Element waren nicht die Türken, sondern die Osmanen.

–––––––––––––––– 16 Beispielhaft nennt der Text die Namen von ‫ޏ‬Abdurrahman ƤƗzƯ, Koñur Alp, Samsa Çavuú, MihƗl ƤƗzƯ, Evrenos ƤƗzƯ und Kara HalƯl. 17 Schüler der ҵAcemƯ OcaklarÕ, also 14–20-jährige nichtmuslimische Jungen aus der sog. Knabenlese (devúirme). Ihre Ausbildung bestand aus zwei Teilen: zunächst fünf Jahre Unterricht in Osmanisch-Türkisch, islamischem Wissen und Dienstleistung für einen Herrn, danach spezielle Ausbildung für den Dienst im Palast oder Janitscharenkorps. Erst Murad III. hob 1582 den Zwang der Herkunft der Schüler aus der devúirme auf (vgl. u.a. PAKALIN, Mehmet Zeki: OsmanlÕ Tarih Deyimleri ve Terimleri Sözlü÷ü. østanbul 1946, Bd. 1, S. 7–18).

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Statt Assimilation oder auch nur Integration, also Bildung von etwas gemeinsamen Neuem, einer dritten, den ursprünglichen Milieus zudem überlegenen Kraft: die osmanische Nation. Hierzu gehörte konstituierend auch eine neue Sprache: Dementsprechend bildete sich auch eine neue osmanische Sprache, die anders war als Türkisch und darüber hinausging. Diese neue Sprache folgte der umfassenden gesellschaftlichen Wandlung, wandte sich morphologisch, syntaktisch und lexikalisch vom Alttürkischen ab und wurde vollkommen Osmanisch. So wie die Osmanen sich nicht als Türken bezeichneten, so nannten sie auch ihre Sprache nicht „Türkisch“18. Die osmanische Nation, osmanische Sprache, osmanische Literatur, alle osmanischen Einrichtungen und Traditionen waren Früchte der sechshundertjährigen osmanischen Geschichte. Wenn es in der türkischen Geschichte ein türkisches Volk, ein Land TurƗn gegeben hat, so betrachten die Osmanen diese Begriffe als Kunstausdrücke der sozialen Altertumsforschung. Da der Name „Türke / türkisch“ der Name des wichtigsten Bestandteils der nationalen Mixtur (terkƯb-i millƯ) der Osmanen ist, ist er verehrungswürdig. Aber es ist ebenso sicher, daß Osmane / osmanisch nicht Türke / türkisch heißt.

Eine deutlichere Abfuhr an alle Turkisten und Turanisten unter Wahrung der historischen Bedeutung des „türkischen Elements“ ist kaum vorstellbar. Im Gegensatz zu anderen Artikeln stellt M. ĩiyƗ‫ ގ‬hier nicht Bestehendes in Frage und überlegt Lösungsmöglichkeiten, sondern stellt sein Ideal zum Erhalt des bröckelnden Osmanischen Reiches historisch beschreibend dar. Die Furcht vor der Übermacht des türkischen Elementes beziehungsweise dessen politische Ausnutzung in der Auseinandersetzung mit den übrigen „Elementen“ des Reiches ist deutlich herauszulesen, Begrifflichkeiten wie „ҵosmƗnlÕ“ hier und „türk“ dort für Nation und Sprache sind M. ĩiyƗ‫ ގ‬von äußerster Wichtigkeit. Die Idee des Turanismus entlarvt er als Utopie, realistisch ist ihm das seines Erachtens historisch gelungene Experiment des osmanischen Schmelztiegels.

–––––––––––––––– 18 Hier spiegelt sich der Streit um die Benennung und Bedeutung der Sprache innerhalb der Osmanisten wider: Während M. ĩiyƗ‫ ގ‬eindeutig für „Osmanisch“ plädierte, präferierte die Zeitung MizƗn die Bezeichnung „Türki“, da „OsmanlÕ“ doch die Bezeichnung für einen Staat sei, Sprache und Ethnie (cinsiyyet) jedoch älter und deshalb vorzuziehen seien (vgl. MARDøN, ùerif: Jön Türklerin Siyasi Fikirleri 1895–1908. østanbul 1989, S. 89).

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Yeñi ҵOsmƗnlÕlar – Die „neuen“ Osmanen bzw. Jungosmanen (PeymƗn Nr. 3, Rubrik SiyƗsiyyƗt / Politik, ohne Unterschrift) Die „neuen Osmanen“19 sind für M. ĩiyƗ‫ ގ‬diejenigen, die sich vom Absolutismus abkehren und den Konstitutionalismus vorantreiben: Die neuen Osmanen unterscheiden sich von den alten nicht nur durch ihre Liebe zum Konstitutionalismus. Dieses junge Wesen hat außer dem Konstitutionalismus zwei weitere Ziele: erstens die osmanische Einheit und zweitens den Fortschritt der Zivilisation.

Das Wesen des Konstitutionalismus bilde die „Herrschaft der Logik“ (hƗkimiyyet-i mantÕk) und: Da die Logik der gesunde Verstand der Menschheit ist, kann sie sich nicht in einem Individuum oder in zahlreichen Individuen verkörpern; das aktive Hirn dieses umfassenden Verstandes kann nur in der Gesamtgestalt einer Nation liegen. Dies ist die Herrschaftsquelle, zu der der Konstitutionalismus die Nation motiviert. Die „osmanische Einheit“ (‫ޏ‬osmƗnlÕ ittihƗdÕ) ist kein Hören auf das Gewissen (tehessüs-i vicdƗnƯ), sondern eine Bemühung der Logik (ictihƗd-Õ mantÕkƯ).

Grundelement der Einheit sei das Individuum, so daß M. ĩiyƗ‫ ގ‬in seiner Beweisführung für die Notwendigkeit der „osmanischen Einheit“ von den individuellen Eigenschaften ausgehend auf das „Begreifen“ der Nation durch einen geistigen Reifungsprozeß kommt: Zweifellos ist das erste Gefühl, das ein Individuum im Innersten des Herzens verspürt, die Liebe zu seinem Volk (kavmiyyet-i husnjsiyyeye muhabbet), die seiner Bildung, Sprache und Literatur entspricht. Das Begreifen, daß die Nation erhabener und humaner ist als der Stamm, beruht auf der freiheitlichen Anstrengung eines einzigartigen Geistes. Da die Grundbildung (terbiyye-yi ibtidƗ‫ގ‬iyye) ohne selbstkritisches Nachdenken ebenso wie die angeborenen Naturtriebe akzeptiert wird, ist sie eine Art geistige Gefangenschaft. Um von Neuem zu einer hohen und hervorragenden freidenkenden Erziehung zu kommen, ist es notwendig, durch das Vergessen des Bewahrten das Feld des Gewissens zu einer leeren Tafel zu machen. Dieses Prinzip, das im Osten von Imam ƤazƗlƯ, im Westen von Descartes als die philosophische [geistige] Erneuerung des Menschen (úahsÕñ teceddüd-i felsefƯsi) spezifiziert wurde, kann auch auf die zivilisatorische Erneuerung der Nation (milletiñ teceddüd-i medenƯsi) angewendet werden.

–––––––––––––––– 19 M. ĩiyƗ‫ ގ‬verwendet parallel zueinander „yeñi ҵOsmƗnlÕlar“ (neue Osmanen) und „genç ҵOsmƗnlÕlar „ (junge bzw. Jungosmanen). Er bezieht sich nicht eindeutig ausschließlich auf die allgemein als „Jungosmanen“ bezeichnete politische Gruppierung, wobei anzumerken ist, daß es sich bei dieser keineswegs um einen homogenen, klar einzugrenzenden Personenkreis im Sinne etwa von Parteimitgliedern handelte.

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Descartes, Begründer des modernen Rationalismus, stellte für alles Erkennen ein sicheres Wahrheitskriterium auf, nachdem im Vorwege alles Wissen methodisch in Zweifel gezogen worden war – das „Vergessen des Bewahrten“ wie M. ĩiyƗ‫ ގ‬es hier ausdrückt, Tabula rasa also. ƤazƗlƯ, der grundlegende sunnitische Theologe und Philosoph islamischer Mystik, bemühte sich mit seinem führenden Werk „Belebung der Wissenschaften“, auf rationale Dialektik gegründete Mystik mit „Gesetzesfrömmigkeit“ zu verbinden. Aus der Geistesgeschichte steigt M. ĩiyƗ‫ގ‬ scheinbar übergangslos in die Niederungen politischer Realität hinab und führt als Beispiel für die Verschmelzung verschiedenster individueller Elemente nach dem „Vergessen des Bewahrten“ die „Bevölkerung der Vereinigten Staaten“ an: Wenn man die ausschließlich in die Zukunft blickenden Individuen dieser Nation, die aus der Mischung verschiedener Elemente zustande gekommen ist, fragt: „Zu welchem Bevölkerungsteil gehörst du?“, wird man zur Antwort nichts anderes als ein entschiedenes „Ich bin Amerikaner“ erhalten.

M. ĩiyƗ‫ ގ‬geht nicht weiter auf das – zum damaligen Zeitpunkt unkritisch als Inbegriff der Moderne, des Fortschritts verstandene – amerikanische Vorbild ein, sondern paßt das vorgestellte Idealbild in einer berühmt gewordenen und bis heute gern aus dem Zusammenhang gerissen zitierten Analogie dem Osmanischen Reich an: Das osmanische Land ist das freie und fortschrittliche Amerika des Ostens. Die jungen Osmanen, die Angehörige der unterschiedlichen Bevölkerungsteile sind, die in diesem gesegneten Land leben, empfinden allem anderen voran das Gefühl des Osmanentums (‫ޏ‬OsmƗnlÕlÕk) und sind stolz auf den prachtvollen Namen Osmane. Obwohl diese neuen Generationen ihre Stammessprachen und Volksliteraturen bewahren, sind sie zu der Einsicht gelangt, daß unter dem allgemeinen Titel Osmane eine modernere (daha ‫ޏ‬asrƯ) und vollkommenere (daha mütekƗmil) Zivilisation neu geschaffen werden kann. Die jungen Osmanen hoffen, daß dieser edle Gedanke der Internationalisten (beyne‫ގ‬l-mileliyynjn), die dafür arbeiten, daß in der ganzen Welt die Nationen zu Freundschaft und vollständiger Einheit kommen, auch in der osmanischen Welt zur Anwendung kommt.

Die „neuen Osmanen“ sind für M. ĩiyƗ‫„ ގ‬Neudenker“ (nevendƯúler), Initiatoren, die, egal welchem Bevölkerungsteil sie angehören, für die Vereinheitlichung aller Bürger arbeiten, indem sie dem neuen Leben und neuen zivilisierten Umfeld nacheifern und den umfassenden Kreis des Ehrgefühls von der Beschränkung auf einen Bevölkerungsteil befreien. So wie der Oberbegriff „Amerikaner“ in den Vereinigten Staaten eine über die Völker hinausgehende nationale Bedeutung beinhaltet, so drückt ihres Erachtens auch die Gesamtvorstellung „Osmane“ im Osten einen von Volkseigenschaften abstrahierten gesellschaftlichen Inhalt aus.

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Hier tritt M. ĩiyƗ‫ ގ‬uns als begeisterter Osmanist entgegen, er bezeichnet die Jungosmanen, die sich zum Begreifen der „osmanischen Einheit“ aufgeschwungen haben, als „gerettete Schar“ (zümre-yi nƗciyye), deren Individuen vor jeder ethnischen Zugehörigkeit sich zum Osmanentum bekennen: Die zu dieser geretteten Schar gehörenden Türken sagen: „Wir sind zuerst Osmanen und danach Türken“, die Araber: „Wir sind zuerst Osmanen und danach Araber“ [...]

Dieses „nationale Muster“ (destnjr-Õ millƯ) führt M. ĩiyƗ‫ ގ‬außer für Araber und Türken expressis verbis für Armenier, Griechen, Kurden, Albaner, Bulgaren, Lasen, Juden und Tscherkessen auf.20 Mit den „Kriterien, die die Jungosmanen von den Reaktionären (irticƗҵiyynjn)21 unterscheiden“ – nämlich „die Ziele des Konstitutionalismus und der osmanischen Einheit“ – schließt M. ĩiyƗ‫ ގ‬den Kreis vom Beginn seines Artikels und geht darüber hinaus auf die Gefahr durch die „Reaktionäre“ – „diejenigen, die für die Vernichtung der Grundlagen des Konstitutionalismus arbeiten“ ebenso wie „diejenigen, die sich um die Zerstörung der nationalen Einheit (vahdet-i milliye) und territorialen Integrität (tamƗmiyyet-i mülkiyye) des Osmanentums bemühen“ – in der konkreten Situation der Vereins- und Parteienbildung ein: Es können keine politischen Vereine und Parteien mit dem Ziel der Spaltung der Bevölkerungsteile (tefrƯk-i ‫ޏ‬anƗsÕr) und der Rückkehr zum Absolutismus (i‫ޏ‬Ɨde-yi istibdƗd) in unserem Land gebildet werden, da das osmanische Gesetz denjenigen, die für die Änderung der bestehenden Regierungsform [i.e.: des Konstitutionalismus] arbeiten, und diejenigen, die gegen die territoriale Integrität des heiligen Vaterlandes verstoßen, mit harten Strafen droht. Verbot und Bestrafung solch verräterischer Bewegungen hat die Zivilverwaltung unter ihr gesetzliches Dach genommen. Da der Fortschritt nicht eindeutig festgeschrieben werden kann, können nur in zulässigem Rahmen gemäßigte und breitangelegte Parteien gegründet werden.

M. ĩiyƗ‫ ގ‬führt hier in seine Betrachtung der Ziele der Jungosmanen unmittelbar den Begriff „Fortschritt“ (terakki) ein. Ausgehend vom Textbeginn setzt er „Reaktion“ (irticƗҵ) gleich mit den „alten Osmanen“ und „Fortschritt“ mit den „neuen“ bzw. Jungosmanen. Der Artikel suggeriert, daß –––––––––––––––– 20 Der Historiker und Soziologe Niyazi BERKES (a.a.O., S. 332) zitiert diese Stelle (ohne Angabe der PeymƗn als Quelle) als Beleg für M. ĩiyƗ‫ގ‬s frühen Osmanismus, wobei er das Zitat jedoch auf Türken, Araber und Griechen verkürzt. 21 „irticƗ‫( “ޏ‬arab.), wörtl.: „zurückgeben, zuwenden, zurück- bzw. rückwärtsgehen“, auch: „zurückbleiben“; also im Prinzip wertneutral „Rückbesinnung auf die Wurzeln“ bedeutend, wird politisch jedoch im Sinne von „reaktionärer Haltung“ benutzt, meist zur Diffamierung religiöser Bewegungen. Da auch M. ĩiyƗ‫ ގ‬es eindeutig negativ konnotiert, übersetze ich mit „Reaktion“, „reaktionär“ usw.

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der „Fortschritt“ der Jungosmanen das Begreifen der „osmanischen Einheit“ sei. Zur Erreichung dieses Zieles, dieses „Fortschrittes“, sieht M. ĩiyƗ‫ ގ‬zwei Wege: Der Fortschritt wird entweder über den Weg der Nachahmung (taklƯd) oder den der Neuschaffung (ibdƗ‫ )ޏ‬erreicht. Der Fortschritt, der über den Weg der Imitation zustande kommt, ist so, als pflückten wir die Blumen aus Nachbars Garten und pflanzten sie in unserem eigenen Garten ein.

Zur Nachahmung hatte sich das amerikanische Modell angeboten. Der Fortschritt, der durch die Neuschaffung hervorgerufen wird, ist wie das Aufziehen der Blumen aus Samen und deren Veredelung. Ersterer dieser beiden Gärten der Zivilisation ist dazu verurteilt, in kürzester Zeit zu verwelken, der zweite hingegen hat ein langes Leben vor sich, dessen Form je nach Wunsch gestaltet wird.

In die seinerzeit heftig geführte Debatte, ob es richtig sei, ein Modell aus dem Westen zu übernehmen, oder inwieweit eine Imitation sinnvoll sei, ohne der eigenen Identität zu schaden, steigt M. ĩiyƗ‫ ގ‬gar nicht erst ein – das „Verwelken des imitierten Gartens“ ist ihm Warnung genug – sondern gibt programmatisch vor: Der Weg des Fortschritts, den die jungen Osmanen vorziehen werden, ist der neu zu schaffende Fortschritt, der aus der Vereinigung des geistigen Segens des Ostens (úarkÕñ fuynjĪ-Õ ma‫ޏ‬neviyyesi) mit der materiellen Vollendung des Westens (ƥarbÕñ kemƗlƗt-Õ mƗddiyesi) besteht.

M. ĩiyƗ‫ ގ‬stand mit der Ablehnung der „Imitation“ des Westens, aber einer Anerkennung seiner technologischen Überlegenheit und dem Plädoyer für eine Verschmelzung der östlichen mit den westlichen Vorzügen in der Tradition zahlreicher osmanischer Intellektueller seiner Zeit, die „eine kritiklose Übernahme der abendländischen Zivilisation als Weg zum Fortschritt“ ablehnten.22 Im Schlußsatz prophezeit er seinem Fortschrittsmodell eine glänzende Zukunft: Die osmanische Nation wird unter der weisenden Führung der Jungosmanen bis ans Ende in Konstitutionalismus und vollkommener Freundschaft leben und ständig weiter voranschreiten.

Ein frommer Wunsch, wie wir heute wissen und wie M. ĩiyƗ‫ ގ‬möglicherweise selbst schon bald nach Publikation dieser Artikel erkannte, weshalb er sich wenig später einem der Konkurrenzmodelle – dem Turkismus – verschreiben sollte. Im programmatischen Vorwort øki söz in PeymƗn Nr. 1 wurde als eines der Ziele der Zeitung die Schaffung einer „osmanischen Hochzivilisation“ –––––––––––––––– 22 Vgl. z.B. DEBUS, Esther: Sebilürreúâd. Frankfurt a.M. 1991, S. 207.

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aus der Verschmelzung östlicher Weisheit mit westlicher Bildung festgeschrieben. M. ĩiyƗ‫ ގ‬bleibt diesem Motto treu, mehr noch, er füllt es in seinen Artikeln mit Leben unter Betrachtung jeweils einzelner Aspekte der osmanischen Gesellschaft und hier speziell unter Berücksichtigung der lokalen Tagesordnung. Der wichtigste Gedanke des Osmanismus, der die vielleicht bedeutendste geistige Strömung im Osmanischen Reich des ausgehenden 18. bis hinein ins 20. Jahrhundert darstellte, ist die gleichberechtigte Einheit aller – religiös und ethnisch unterschiedlichen – „Elemente“ bzw. Bevölkerungsteile (ittihƗd-Õ ҵanƗsÕr) – zur Bewahrung der Reichsintegrität, worunter sowohl der Erhalt der Grenzen des Reiches durch Eliminierung separatistischer Bestrebungen und Verhinderung jeder Einmischung von außen, als auch das gesellschaftliche Zusammenleben innerhalb des Reiches, das tatsächliche Zusammenwachsen zu einer – osmanischen – Nation nach dem amerikanischen bzw. französischen Modell der „geistigen Nation“ bzw. Kulturnation im Gegensatz zur „rassischen Nation“ deutschen Musters zu verstehen ist. Gemeinsam ist allen Anhängern, bei ansonsten durchaus unterschiedlichen Auffassungen über Inhalte und Wege, die Forderung nach Konstitutionalismus. Die rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger war die wichtigste Voraussetzung für die Herstellung einer tatsächlichen Einheit der unterschiedlichen Communities. Für das Zusammenwachsen zu einem „nationalen Modell“ galten, neben so konkreten Forderungen wie der nach umfassender Personalreform, die Einrichtung von Schulen, an denen die Kinder der unterschiedlichen Gruppen gemeinsam zu unterrichten seien, eine „Missionierungstätigkeit“ im Sinne einer Propagierung des osmanistischen Gedankens sowie die Schaffung und Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache und Kultur als grundlegende Instrumente. Die Religion der Mehrheit – der Islam – sollte vor allem in ethnisch gemischten Grenzregionen als Bindeglied eingesetzt werden. Die Artikel M. ĩiyƗ‫ގ‬s u.a. in der PeymƗn bestechen durch ihre Anschaulichkeit und Praxisnähe, mit z.T. direkten Aufforderungen zum Handeln an die lokale Bevölkerung. Das Streben nach einer allgemeinen Reformpolitik und die Aufforderung an alle Bürger, aus der Passivität und Erwartungshaltung gegenüber dem Staat herauszutreten und selbst aktiv zu werden, wie auch zahlreiche Artikel in der PeymƗn widerspiegeln, sind Ausdruck des Wunsches nach einer effektiven Transformation der Gesellschaft.

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Bibliographie BERKES, Niyazi: Development of Secularizm in Turkey. Montreal 1964. DEBUS, Esther: Sebilürreúâd. Frankfurt a.M. 1991. DOVIFAT, Emil: Zeitungslehre. Bd. I, 6. Aufl., Berlin 1976. TEVFøK, Ebuzziya: Yeni OsmanlÕlar Tarihi. østanbul 1973. GÖKALP, Ziya: Makaleler I. Diyarbekir-Peyman-Volkan Gazetelerindeki YazÕlar. østanbul 1976. GÖKALP, Ziya: ùaki øbrahim DestanÕ ve Bir Kitapta ToplanmÕú ùiirler. østanbul 1976. Mit einem Vorwort von ùevket BEYSANOöLU. HANøOöLU, ùükrü: Bir Siyasal Örgüt Olarak OsmanlÕ øttihad ve Terakki Cemiyeti ve Jön Türklük. Bd. I, 2. Aufl., østanbul 1989. LEWIS, Bernard: Die politische Sprache des Islam. Berlin 1991. MARDøN, ùerif: Jön Türkleirn Siyasi Fikirleir 1895–1908. østanbul 1989. PAKALIN, Mehmet Zeki: OsmanlÕ Tarih Deyimleri ve Terimleri Sözlü÷ü. Bd. I, østanbul 1946. ùAPOLYO, Enver Behnan: Türk Gazetecili÷i Tarihi ve Her Yönü ile BasÕn. Ankara 1969. ÜLKEN, Hilmi Ziya: Türkiye’de Ça÷daú Düúünce Tarihi. 3. Aufl., østanbul 1992.

Babushkas on a Turkish beach: Postmodernist Elements in Adalet A÷ao÷lu’s Yazsonu Petra de Bruijn (Leiden) Adalet AöAOöLU is one of the leading Turkish novelists of the closing decades of the twentieth century. But whereas Orhan Pamuk has attracted considerable public acclaim as the postmodernist Turkish author, AöAOöLU has tended to remain outside the spotlight of international attention. This is certainly not due to the quality of her novels, all of which – with their meticulous composition and sharp eye for detail – have met with great success in Turkey. AöAOöLU was one of the first authors to break with the strictly social-realist trend in Turkish literature. In this article I wish to show that Yazsonu, published as early as 1980, contained postmodernist elements, which would make it an early postmodernist Turkish novel.

Adalet A÷ao÷lu: life and work Adalet AöAOöLU was born in 1929 in NallÕhan, a small provincial town on the road that links Istanbul and Ankara in Northwest Anatolia. Her family comprised her parents, an elder brother and two younger brothers, one of whom was the famous actor and playwright Güner Sümer (1936–1977), who died of cancer at an early age. The family moved to Ankara, where Adalet went to high school. While still at school, she began writing poetry and made her first attempts at a novel. She went on to study French language and literature at the famous Dil, Tarih ve Co÷rafya Fakültesi (Literature, History and Geography Faculty) of the University of Ankara. She wrote theatrical reviews and, after completing her studies in 1951, worked for 20 years at Radio Ankara. During this period she wrote and adapted innumerable radio plays and began writing stage plays. She went to Paris and Munich in the early fifties to improve her knowledge of playwriting. At the end of the fifties, she accompanied her husband Halim AöAOöLU to the United States for a period of two years. In the sixties and seventies AöAOöLU wrote and translated many plays, including Evlilik Oyunu (The Marriage Play, 1964), ÇatÕdaki Çatlak

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Petra de Bruijn

(Crack in the Roof, 1969), Kozalar (Cocoons, 1973) and Kendini Yazan ùarkÕ (The Song that Writes Itself, 1976). In 1961 she co-founded the first private Turkish theatre, Ankara Meydan Sahnesi (Ankara Square Theatre), and later translated plays for the famous Ankara Sanat Tiyatrosu (Ankara Art Theatre).1 In the late eighties and early nineties, after a 20-year break, she turned once again to writing plays, producing Çok Uzak Fazla YakÕn (1991) and Duvar Öyküsü (1992). Most of her plays employ a blend of realistic dialogue and French absurdism. After the military coup of 12 March 1971, AöAOöLU began publishing short stories and novels. To date she has published eight novels, four collections of short stories, several collections of essays and several memoirs, or memoir-novels, as AöAOöLU called them.2 As in her plays, AöAOöLU employs a style of realistic descriptions within an obviously questionable novel reality.

Features of postmodernist texts For a practical, comprehensive description of the features of postmodernist texts, I consulted two books by Dutch scholars on literature theory for students of literature: Jan van LUXEMBURG, Mieke BAL and Willem G. WESTSTEIJN (hereafter referred to as LUXEMBURG et al), Over literatuur 3 and F.W. KORSTEN, Lessen in Literatuur.4 Following Brian MCHALE,5 KORSTEN takes ontological doubt as the dominant feature in postmodernist texts: “De terugkerende vraag is in welke wereld het subject zich bevindt.”6 LUXEMBURG et al are not as unequivocal in their description but they arrive at the same conclusion: “In postmodernistische literatuur en kunst wordt de status van de werkelijkheid in twijfel getrokken.”7 This –––––––––––––––– 1 2

3 4 5 6 7

AND, Metin: Cumhuriyet Dönemi Türk Tiyatrosu (1923–1983). Ankara 1983, p. 228. For an overview of her life and works, see Halim AöAOöLU: Herkes kendi kitabÕnÕn içini tanÕr*. Adalet A÷ao÷lu’nun yazarlÕ÷ÕnÕn 55. yÕlÕ onuruna. østanbul 2003; Tanzimat’tan Bugüne EdebiyatçÕlar Ansiklopedisi. østanbul 2001, vol. 1, pp. 16– 20. LUXEMBURG, Jan van & BAL, Mieke & WESTSTEIJN, Willem G.: Over literatuur. Bussum 1996 (3d ed.), pp. 233–244. KORSTEN, F.W.: Lessen in Literatuur. Utrecht/Nijmegen 2005 (2nd ed.), pp. 251ff. MCHALE, Brian: Postmodernist Fiction. New York/London 1987, pp. 6–13. “The recurring question is: in which world does the subject exist.”, in: KORSTEN, F.W.: 2005, p. 252. “In postmodernist literature and art, the status of reality is called into question.”, in: LUXEMBURG et al: 1996, p. 233.

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does not mean that postmodernists question the existence of reality. They simply emphasize the idea that we can only enter a possible world through a narration, a history or, as KORSTEN calls it, a ‘representation’8: … dat men in het postmodernisme de functies van objecten en materialen breder dan enkel in termen van directe of praktische functionaliteiten ziet. Men is geïnteresseerd in mogelijkheden an sich, inclusief onvoorziene mogelijkheden of zelfs mogelijkheden die in deze wereld onmogelijk zijn.9

From LUXEMBURG et al’s and KORSTEN’s descriptions, I have distilled the following checklist of postmodernist features: 1. Postmodernist texts question the existence of a single reality. More than one novel world is represented. These worlds are ‘virtual’ in the sense that they are not yet realized. The boundaries between the different novel worlds are diffuse, and are frequently crossed. Characters live in different spaces – a heterotopous. The function of language is ambiguous. On the one hand, language has the power to shape history, but on the other it cannot grant history the status of reality. In the postmodernist novel, reality is a linguistic product, a fact which is explicitly stated. 2. To contrast with historical concepts of style and genre, several styles and genres are fused in postmodernist fiction. 3. Postmodernist fiction contains elements of the detective novel. The central question is not what could have happened but, more importantly, in which of the possible novel worlds it has happened. 4. The ontological ambiguity of history – historical reality can only be represented in fiction – makes history a favourite theme of postmodernist novelists. The boundary between facts and fictions is crossed in historical novels because it is impossible to reconstruct what happened in reality. 5. Postmodernist texts consist of a combination of occurrences which do correspond and ones which do not correspond to our perception of reality. Elements of science fiction or the fantastic are presented as perfectly normal in the possible co-existing novel worlds. 6. Postmodernist texts may feature paranoia. As a result of representations of more than one possible novel world, characters feel that they are being watched over and followed. –––––––––––––––– 8 9

KORSTEN, F.W.: 2005, p. 253. “… that in Postmodernism the function of objects and materials can be seen more broadly than simply in terms of direct or practical functionality. The possibilities themselves are the object of interest, including unexpected possibilities or even possibilities that are impossible in this world.”, in: KORSTEN, F.W.: 2005, p. 254.

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7. In postmodernist texts, mottos function as independent statements or symbols. They do not necessarily refer to the theme of the text that they precede. 8. Due to the performative power of language, homonyms are frequently employed, emphasizing both meanings of the word used. 9. From an awareness of the shaping power of language, postmodernist fiction focuses on marginal narratives, in order to tell another history and to create the possibility of another identification. 10. Serial ordering: in postmodernist texts, the information is represented through serial ordering, in which the elements are placed alongside one another. This sometimes makes the texts difficult or elitist, with their endless string of occurrences containing arbitrariness, irrationality, discontinuity and contradictions. 11. A postmodernist text points explicitly to other texts (or other media, film, television). This intertextuality stresses the fictionality of the text and works in a similar fashion to Brecht’s ‘alienation effect’. 12. When the author’s name appears in the text or, as often occurs, the author becomes a character in the novel, a critical literary border is crossed. This marks the boundary between fact and fiction: every novel is a (fictional) world. When this world fuses with the real world, an ontological carnival occurs that is caused by bringing fictionality up for discussion. The novel world that emerges from this process has no other form of existence than a linguistic one. It consists solely of text. 13. Post-modern novels can be socially concerned in an indirect way – indirect, but not necessarily less probing.

Postmodernism in Yazsonu Yazsonu was first published in 1980, just before the military coup of that same year.10 Ellen W. ERVIN devotes a lengthy chapter to Yazsonu in her 1988 dissertation The Novels of Adalet AöAOöLU: Narrative Complexity and Feminist Social Consciousness (1988), which contains extensive translated quotes from the novel.11 Although ERVIN focuses ‘on a close textual reading of the novels within the context of [AöAOöLU’s] cultural situation –––––––––––––––– 10 In order to structure my comments, I have used a narratological method as developed by BOVEN, Erica van & DORLEYN, Gillis: Literair Mechaniek. Inleiding tot de analyse van verhalen en gedichten. Bussum 2003 (2nd edition, 1st edition 1999). 11 ERVIN, Ellen W.: The Novels of Adalet A÷ao÷lu: Narrative Complexity and Feminist Social Consciousness. Dissertation Columbia University, New York 1988.

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as a Turkish woman’,12 she makes many comments that are helpful for detecting postmodernism in AöAOöLU’s texts. I will include these, where appropriate. Plot summary Yazsonu tells the story of a novelist who, on her doctors’ advice, travels at the end of the season to a small hotel on the southern coast of Turkey. She is wanting to take a rest from the hectic city life with its political stresses at the end of the eighties.13 Although she has no intention of working on any projects, the outlines of a new narrative press themselves upon her. She becomes aware that she is writing a novel about a woman called Nevin, a translator by profession, who five years earlier, in 1974, spent a short holiday with six of her friends and relatives in the abandoned cottage next to the hotel. They are her former husband Hasan, her brother Fuat, her friend Do÷an and his girlfriend Meriç, and Memet, a friend of her son Güney. The latter was killed as a first-year student during the political upheavals of May 1972, following the military coup of 12 March 1972, and Nevin is still mourning his death. For her, this holiday is a way of bringing together once more all those connected to her and to Güney. Nevin arrives first so that she can clean the cottage and prepare it for the others. A hotel is being built next door. Kadir, the night watchman, lives in a small hut on the beach with his wife Hatice, his son Yusuf and two other children. Yusuf is also present in the novelist’s hotel, as a boy working there and playing with an old typewriter. Curious, he watches Nevin constantly and, together with his mother, helps her clean the cottage. Nevin and her group spend a wonderful, harmonious holiday together, becoming closer to one another. Nevin is even reconciled with her former husband. When everybody leaves, Nevin stays on for a few days. She writes a kind of journal about her life, about Güney and the others. On the last night, summer has finally ended and there is a rainstorm. Nevin hears an intruder enter the cottage and this is where the journal ends. The novelist has great difficulty giving her novel a proper ending. As a result, we, the readers, do not find out exactly what happens to Nevin. There is a suggestion that she flees from the intruder and jumps off a cliff.14 –––––––––––––––– 12 ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 2. 13 ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 235–237. Ervin follows the analysis of the Chronology of Yazsonu made by Ahmet OKTAY: Anlatmak: Yaúam Üzerine UydurmanÕn YollarÕ (Narration: The Ways of Invention about Life), in: Yazko Edebiyat, vol. 6, April 1981, pp. 73–83. (original source not available). 14 For a more elaborate discussion, see ERVIN, Ellen W.: 1988, pp. 231–235.

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Questioning reality The central theme in Yazsonu is a novelist’s involvement in the creative process of writing, and with this, the shaping of several novel realities. In reality we have an author, AöAOöLU, who resembles the novelist in Yazsonu and who could very well have taken a short holiday in the Mediterranean at the end of summer. However, AöAOöLU is not present in the novel, except for several small clues. For example, at the end of chapter two, when she reflects as she definitively enters Nevin’s world: ‘Gerçi, úimdi çok so÷uk bir odadayÕm. DÕúarda lapa lapa kar. CamlarÕmÕ buz tutmuú’.15 Clearly, it is not the novelist at the hotel on the south coast at the end of summer who was writing this. There is also a suggestion at the start of chapter four that the novelist is unable to record everything she receives from Nevin’s world: O ara, (sahibine Nevin dedi÷imiz) tanÕdÕk sesin, bütün gece bana boyna anlattÕklarÕnÕ defterime geçirmeye de özendim ama, pek beceremedim. Hem Nevin olmadÕ÷Õm için, hem düú gücüm onunki denli geniú olmadÕ÷Õ için. Sonra, düúler bazan, görüldü÷ünden öte, bire bin katÕlarak anlatÕlabilir, bazan da, uykudan uyandÕ÷ÕnÕzda her úey, her söz, sizde açÕk seçiktir ama, bir türlü dile getiremezsiniz.16

The novelist suggests here that what we have read in chapter three could not have been her words. Since they are not, the only logical conclusion is that they are AöAOöLU’s. As a final example, we can point to a poem, previously recited by Do÷an, one of Nevin’s friends, which is repeated at the end of the novel: So÷uk katÕ topra÷Õn KÕyÕya aktÕ÷Õ zamandÕr bu Yaúam yitti÷i zaman Da÷ koyaklarÕnda. Davar, davul, çadÕr, çuval ve mavzer Yörük iúi yayÕk sesi Bir avcÕdÕr ölüm úimdi Dirim bir ceylân Ve biz

–––––––––––––––– 15 ‘In reality, I am now in a very cold room. It is snowing heavily. My windows are frozen.’ Yazsonu, p. 105. See also ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 252–253. 16 ‘In this time, I tried to write down all night long in my notebook what the familiar voice (whose owner we said was Nevin) had told me at length, but I couldn’t succeed. Partly because I wasn’t Nevin, and partly because my imaginative power was not as strong as hers. Or else, sometimes dreams can be told exaggerating what has been seen and at other times, everything, every word, is clear for you when you wake up, but you are somehow not capable of putting them into words.’ Yazsonu, p. 243.

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Aúkla kinin ateú hattÕnda Ölüme bir ça÷rÕ YÕkÕma kÕúkÕrtÕyÕz Gö÷üú gö÷üúe geldi÷i ân Da÷larla deniz.17

At the first occurrence, the group is gathered on the bench overlooking the sea. Do÷an first recites: Hepimizin yaúamÕ bir úakadÕr belki. Geçmiúte ya da úimdi.18

This is of course a reference to the fact that they are only characters in a novel. He then quotes a poem by the Spanish poet Manuel about Güney (the south) in which death is an important theme, a poem which is partially quoted by the dark youth on page 27 at the start of the novel. The poem reminds them all of Güney. When Do÷an has pulled himself together, he recites the above poem. The first four lines of the poem are repeated by Do÷an when he wakes up one morning at sunrise to take a morning walk.19 At the last occurrence, the poem is recited by the blond youth at the end of the novel, as he, together with the novelist, stands at the fountain watching the arrival of the heavy vehicles that have come to tear down the cottage. The novelist remarks: Yüzüne bakÕp kalmÕútÕm. ùaúkÕndÕm. O diziler Do÷an’Õn, Do÷an’Õn de÷ilse Nevin’in, hattâ benim, kendimin sanÕyordum. Belki de Yusuf’un yazÕ makinesinde bir araya getirebildi÷i ilk dertli toplu sözcüklerdir, diye de düúündüm, ama ne yalan söyleyim, bana en az inandÕrÕcÕ gelen bu oldu. Dizeler herhalde benim, kendimindi.20

Here we see the whole range of possible novel worlds: AöAOöLU in the real world is writing a novel about a novelist who writes a novel about a –––––––––––––––– 17 ‘This is the time when the cold, hard earth / Flows down to the shore, / The time when life is destroyed / In the mountain valleys. / Goats, drums, tents, sacks and guns / nomad handwork and drawling voices / Death is a hunter now / Life is a gazelle / And we, / On the firing line between love and hate / A call to death / We are provoked to destruction / At the moment when / The mountains and the see / Come face to face’, Adalet AöAOöLU: Yazsonu. østanbul 1981 (2nd imprint, 1st imprint 1980), p. 129–130 (further Yazsonu); translated by ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 277. 18 ‘All our lives are perhaps jokes / In the past and now’, Yazsonu, p. 129. 19 Yazsonu, p. 201. 20 ‘I remained looking at his face. I was surprised. These lines were Do÷an’s, and if they were not Do÷an’s, they were Nevin’s, I even considered them mine, my own. I thought, or maybe they were the first well-organized words which Yusuf had been able to get together on the typewriter, but let me not lie about it, this possibility seemed to me to be the least likely. Probably the lines were mine, my own.’ Yazsonu, p. 256. Translated partly by ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 278.

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translator who writes a novel, in which a character reads a poem. Another, unlikely, possibility is that Yusuf wrote the poem. Since this poem functions inside the novel world, it would be possible that he wrote Nevin’s report, which was found by the novelist invented by AöAOöLU. It is obvious that what we have here is precisely the postmodernist concept of more than one possible world and the diffuse borders between those possible worlds. Yazsonu relates the process of becoming involved in a new novel world. AöAOöLU makes this a very subtle process, in which involvement gradually grows. It begins on page 8, with a momentary flash, “Bir ân”.21 This concept of a moment is a very important motif in Yazsonu. AöAOöLU distinguishes it from the ordinary meaning of the word by using the archaic spelling with a circumflex. In AöAOöLU’s vocabulary it means a moment in which a character has a very intense and clear vision of events that have happened and that are happening right at that moment. It is more or less a collision of past and present in a single moment. Bir ân. Hep o ölçuye, ölçe÷e sÕ÷maz küçük ân’lar… O ân’lar içinde ansÕzÕn bir ÕúÕk çakar. IúÕ÷Õn düútü÷ü yer, nesne, zaman; bu ÕúÕk çakÕmÕna dek önceden bildi÷iniz, algÕlayÕp duyumsadÕ÷ÕnÕz ne varsa hepsi, rengini, biçimini, derinli÷ini çarpÕtÕr. Dönüútürüp de÷iútirir. Nerdeyse elle tutulur ölçüde belirgin tasarÕlarÕnÕzÕ da geriletir, örter, siler. Ân, kendi ÕúÕ÷Õyla düútü÷ü yerde, tam kendisi olarak gerçekleúir. Büyük bir dalganÕn, kumsalda her úeyin üstünü örtüp geri çekilmesi gibi, geride yepyeni, öncekine hiç benzemeyen, el de÷memiú bir yüzey bÕrakarak çekilip gider. O yeni, henüz hiçbir el ve aya÷Õn de÷medi÷i kumsalÕn yüzeyi, baúka bir dalgaya – bir ân’lÕk baúka bir ÕúÕk çakÕmÕna – dek öylece, gözünü dünyaya ilk açmÕú bir çoçuk bakÕúÕ denli saf, lekesiz kalÕr. Bir ân. ArtÕk çok úey görmüú, çok úey görmüú oldu÷u için de, o sonsuz saflÕ÷Õ algÕlama yetene÷inden yoksun bulunan gözlerimiz, en kÕsa süreli çakÕúlarÕn gerçekler içindeki en yalÕn gerçe÷ini bir yanÕlsama olarak de÷erlendirir.22

–––––––––––––––– 21 Yazsonu, p. 8. 22 ‘A momentary flash. Always these small moments that don’t fit into measurements or scales. … At these moments suddenly a light flashes. The place, the object or the time on which the light falls distorts the color, the form and the depth of everything we knew, perceived and felt before this flash of light. It transforms and changes it. Even our plans that were so clear that they were almost tangible are set back, covered and whipped out. The moment materializes as its perfect self, at the spot where its own light falls. As if a large wave at the beach has covered everything and has receded, it leaves behind a brand new, untouched surface, which does not resemble anything which existed before. This new surface, not yet touched by any hand or foot, stays so pure, immaculate as the glance of child that opened his eyes for the first time to the world, until another wave – another momentary flash of light. A moment. Our eyes, which have seen so much now, and which are deprived of the ability to perceive this endless pureness because they have seen so

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This concept is found in many of AöAOöLU’s novels, although it is only explicitly described and philosophized upon in Yazsonu.23 In Yazsonu it manifests itself as the moments in which the novelist gains inspiration for her novel. Yazsonu is divided into four chapters. In the first chapter, a first-person narrator24 tells her own story. The focalization is with the novelist, and her imagination is triggered in flashes. The novel world of Nevin gradually acquires shape. Chapter one ends at the moment when the novelist notices that the cottage blinds are opening. It is inevitable for the novelist to enter Nevin’s novel world. In the second chapter, the novelist tells the story of Nevin opening up her cottage out of a figural narrative situation. As a third-person narrator, she herself is present in the form of first-person narrative comments between brackets. For example: Otobüsten bir kadÕn indi. YaúÕ belirsiz. ønce. KadÕnlÕ÷Õ çarpÕcÕ de÷il. Erkeksi de de÷il. (Gözlerimde her úey artÕk iyice somut, diyorum. Yine de pek emin de÷ilim).25

The focalization stays with the woman writer. At the end of chapter two, the novelist discovers the name of the woman in the cottage when Hatice, her neighbour, asks her name. At that moment, she is so involved in Nevin’s novel world that it is a completely natural step to become this character. In the long third chapter, the novelist’s involvement in her novel world is such that it is written in the first person. Nevin is the narrator and –––––––––––––––– much, consider the most bare realities in the realities of the shortest flashes, as an illusion.’ Yazsonu, p. 7–8. 23 The concept of a moment of time-thickening is found in all AöAOöLU’s novels on a structural level. All novels are structured with a frame story in which the main character lives through a short, but intense time, in which related events are presented through associative flashbacks. For instance, in Ölmeye Yatmak (Lying down to die), the frame story, in which a woman rents a hotel room from 7.22 until about 9 o’clock and lies down naked in order to take stock of her then confusing life. Adalet AöAOöLU presents, in flashbacks, the lives of Aysel and eight of her classmates from primary school, who grew up in the thirties, forties and fifties in the ‘new’ rapidly changing Turkish society, in which many of the traditional rules and values were replaced by imposed ‘modern western’ rules and values. This structure of a frame story, in which the main character of the novel lives through a short but intense time, can be found in all AöAOöLU’s novels. In Yazsonu, it can be interpreted at a structural level as the short period in which the novelist stays at the hotel or the short time that Nevin takes to reflect on her life. 24 For the analytic terms of the narrative situation, see KEEN, Suzanne: Narrative Form. Hampshire and New York 2003, pp. 30–54. 25 “A woman got off the bus. Of indeterminate age. Slender. Her femininity was not striking. Nor her masculinity. (I had everything now quite concrete before my eyes, I have to say. But in spite of that, I am not so sure.)” Yazsonu, p. 38.

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we are presented with her journal. In the final chapter, the narration has returned to the novelist, who is also the focalizer of this chapter. It has started to rain and the novelist has stopped hearing voices and receiving flashes from Nevin’s world. She decides that it is time to return to the city. She feels that the spell is broken just at the moment when she has understood Nevin completely. As mentioned above, the novel ends with the destruction of the cottage and a clear reference to all being fiction. Mythology AöAOöLU emphasizes the ambiguity of the novel world in several ways. As we have seen, she does so on a structural level with the ‘Babushka’ construction of an author within an author within an author. On a semantic level, AöAOöLU plays with mythology and the possibility of using it metaphorically. Mythology and mythological characters are important motifs in Yazsonu, perhaps not so unexpected for a novel set on the Turkish Mediterranean coast, with its many ancient ruins.26 The six characters in Yazsonu who make up Nevin’s group of visitors – referred to as “altÕ Atlas kÕzÕ”, “altÕ Hyad kÕzÕ”27 – compare themselves to the ancient gods: Ayakizlerimizi, önceki gün, akúamüstü çizdi÷imiz çizgileri, yazdÕ÷ÕmÕz yazÕlarÕ, adlarÕ, henüz silmemiúti. Henüz yaúÕyoruz. Do÷an yazdÕ: Biz tanrÕyÕz. Hasan, açmaya, anlatmaya çabalamÕútÕ: TanrÕlar tanrÕ olmayÕ bilememiúlerse, insan da olamamÕúlarsa ve yüzyÕllardÕr yalnÕz insanla insan varsa, insanÕn insanÕ hiçlememesi, bizim biz olmamÕza ba÷lÕ. Derken söylemiúti: Biz, hiçkimse de÷iliz. Sonra yazdÕ: Biz, kendimiziz.28

Following the complicated logic of this highly philosophical fragment, we may conclude that AöAOöLU’s characters are here comparing themselves to gods. As we know, gods only exist in stories and in the minds of human –––––––––––––––– 26 See also ERVIN, Ellen W.: 1988, pp. 255–264. 27 “The six daughters of Atlas”, “The Hyades”, Yazsonu, p. 105, 109. Not the Pleiades as ERVIN states in A÷ao÷lu, p. 256. 28 “Our footprints, the lines that we drew the other day, at sunset, the things we wrote, the names, were not yet whipped out./ We still live./ Do÷an wrote: We are gods./ Hasan had tried to clarify the matter: If gods could not have known that they were gods, and if they could not have been human either and if for thousands of years there were only humans, than the fact that humans would not disregard humans completely, would depend on our being ourselves./ Therefore, he had said: We, are nobody at all./ Then he wrote: We, are ourselves.” Yazsonu, p. 107.

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beings. This is equally true of novel characters; their existence is just as dependent on what human beings invent. It is no coincidence that AöAOöLU has chosen the Hyades as a metaphor for her group of six characters. For the ancient Greeks, the Hyades, like the Pleiades and the Hesperides, were the daughters of Atlas; their mother was Pleione. They were believed to herald the arrival of spring showers and autumn storms. Their name is derived from the Greek word “to rain”. They committed suicide from grief at the death of their brother Hyas, who was killed by a lion while out hunting. Zeus changed them into a cluster of stars.29 In Yazsonu, the group of six arrive at the end of summer, just before the autumn rains. When they leave, the rains have started. They have come to this place first of all to commemorate Güney, their son, relative and friend. Several other deities are referred to in Yazsonu, but the above examples are sufficient to show AöAOöLU’s use of mythology and mythological metaphors to stress the fictional nature of the novel world.30 Homonyms Homonyms are another device that AöAOöLU uses to emphasize the ‘novelishness’ of Yazsonu. First of all, Yazsonu, the novel’s title, is written as one word, which is not the customary Turkish spelling (yaz sonu). In this condensed form, Yazsonu could be translated as ‘summer’s end’, meaning the end of the tourist/summer season, just before autumn sets in, with its rain and storms. Ahmet OKTAY interprets it as a clue that time is the subject of the novel because nearly all events are told in retrospect.31 Equally, Yazsonu could be interpreted as an imperative form, ‘write the end’. In these terms, the title of the book could be interpreted as a task set by the author AöAOöLU for her characters, the novelist and Nevin, to write the end of the novel, which both of them are unable to do. Nevin cannot finish her journal because she is interrupted by an intruder; the novelist has difficulty conceiving a single end as she sees more than one as being possible.32 On the level of characterization, AöAOöLU stresses the arbitrariness of names. The novel’s main character is called Nevin by the novelist, who –––––––––––––––– 29 Windows to the Universe team, Hyades, see: www.windows.ucar.edu/cgibin/ tour_def/mythology/hyades.html, the University Corporation for Atmospheric Research (UCAR). ©1995–1999, 2000 The Regents of the University of Michigan; ©2000–05 University Corporation for Atmospheric Research, 16 January 2006. 30 See for more on Mythology in Yazsonu: ERVIN, Ellen W.: 1988, pp. 257–264. 31 Oktay, “Anlatmak”, cited from ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 250–251 (original source not available). 32 ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 270.

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only learns of it through her own novel character Hatice.33 In the third chapter, however, she is called Nevim, a name given to her by Memet. He writes the name in the sand one day, after Do÷an writes “Biz yaúadÕk.”34 He later explains that it is a blend of Nevin and Efendim: Baútan bu yana Nevin’le Efendim arasÕ bocalayÕp duruyordun Memet. øúte oldu. KÕsacasÕ, Nevim.35

The names Nevin and Nevim derive from the word nevi, meaning ‘kind’. In the context of Yazsonu, the name may have been chosen to indicate that Nevin represents a certain type of woman: western-orientated, modern, intellectual and living in the big city. In addition, we have the possessive suffix ‘n’ for the second person in the case of Nevin, and the possessive suffix ‘m’ for the first person in the case of Nevim. This ties in well with the novelist’s level of involvement in Nevin’s world. In both the second and final chapters, when the novelist is not yet – or no longer – completely absorbed in Nevin’s world, it becomes Nevin, ‘your kind’. In the third chapter, however, the novelist disappears from the text as narrator and Nevim (‘my kind’) becomes a first-person narrator. The name Güney means ‘south’. In Yazsonu it refers to Turkey’s Mediterranean coast, where Güney spent so many happy holidays with his parents. It is depicted as a kind of untouched paradise, a place where intellectual, westernized city dwellers can recuperate from their stressful, threatening lives that are so far removed from nature and their own cultural background. Before the late seventies, Turkey’s southern coast was such a paradise. Since then, it has rapidly become spoilt by the construction of large hotels and holiday villages. The difference in lifestyle between Nevin and her group and the night watchman and his family is elaborately thematized in Yazsonu.36 In those years, left-wing intellectuals like the novelist and Nevin and her group claimed to be defending the rights of the lower classes. In reality, however, they had no idea how the lower classes lived. This is just as true of their housemate, the kapÕcÕ (doorkeeper) who migrated from the countryside, as of the people living in Anatolia.37 Holidaying on the Mediterranean, they are not prepared to give up their western –––––––––––––––– 33 ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 253. 34 “We lived.” Yazsonu, p. 122. 35 “From the outset, you kept on hesitating between Nevin and Madam, Memet. That is how it happened. In brief, Nevim.” Yazsonu, p. 123. 36 See ERVIN, Ellen W.: 1988, pp. 264–270. 37 For an interesting account of the sociological position of doorkeepers and the like, see ÖZYEGøN, Gül: The Doorkeeper, the Maid and the Tenant: Troubling Encounters in the Turkish Urban Landscape, in: KANDøYOTø, Deniz & SAKTANBER, Ayúe (eds): Fragments of Culture. The Everyday of Modern Turkey. 2002, pp. 43–72.

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lifestyle with its attendant sexual morals. For instance, Nevin and the women in her group like to swim and sunbathe in bikinis, whereas the local women would never remove their clothes in public. Mottos Mottos occur above every chapter in Yazsonu. As we have seen, mottos function in postmodernist texts as independent statements or symbols. They are not necessarily a reference to the theme of the subsequent text. This is partly true of the mottos in Yazsonu. The one preceding the first chapter is an extract from a poem by Mikhail LERMONTOV (1814–1841), the Russian romantic poet known for his passion for democratic freedom:38 Özlemi fÕrtÕnadÕr, Bulursa dinginli÷i Bulur ancak KasÕrganÕn koynunda39

It comes from ‘The Sail’, written in 1832. AöAOöLU is referring here to the content of the first chapter, in which the novelist comes to the coast to seek rest from her turbulent life in the city, but instead of rest she becomes involved in a new project. Of greater interest for the postmodernist context of this text, however, is the fact that AöAOöLU uses this poem to refer to the entire novel in the novel project, since Nevin’s novel ends with stormy events on a stormy night and the novel itself ends on the level of the novelist with the windy, rainy day after the storm. Even more interesting in this respect is the fact that the mottos in chapters two and four are related and can be read as couplets from the same poem. Chapter two and also chapter four: Gördüm nasÕl Nar alacasÕna bulandÕ÷ÕnÕ Da÷larÕn denizin Birkaç adÕm ötede Duruyor kumsal Gümüú kanatlÕ kuúlar Öreninde özlemin.40

–––––––––––––––– 38 See: www.namdar.dircon.co.uk/aaRussian/Lermon/lermonbio.htm, Russian Literature Online, consulted 19 January 2006. 39 “Her (or his or its) longing is the storm / If she should find repose / She will only find it / in the bosom of the storm.” Yazsonu, p. 5. 40 ‘I saw how the mountains and the seas / washed in the hue of pomegranates. / Sandy shore is a few steps away, / silver winged birds / in the ruins of longings.’ Yazsonu, p. 36, translated by M. E. YILDIRIM.

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Bak, o dedi÷in kuúlar úimdi A÷Õr a÷Õr çekilip gitti.41

Both mottos refer to the content of the chapters they precede. The second links the holiday of Nevin’s group at the beach with the death of Güney, seeing the ‘birds’ as Nevin’s group and the ‘ruins of longings’ as Nevin’s difficulties in pulling herself together after Güney’s death and her hope for a happy, commemorative holiday. The fourth motto speaks for itself: the novelist’s flashes of inspiration are gone, Nevin’s group has gone home, Nevin has disappeared, her world has faded away and the autumn rains have started. Both chapters two and four have the same narrative situation: they are focalized by the novelist and they have a third-person figural narrative situation. These linked mottos strengthen the relationship between these representations of the novelist’s world. Above chapter three we find the motto: Ne kadar yalnÕz Bir yÕldÕz Beni yalnÕz YalnÕzlÕ÷Õm ço÷altÕr.42

This clearly refers to the content of the third chapter, in which Nevin’s visitors leave and she stays a few days longer in order to write her journal. Interestingly, these words recur on page 143. Nevin notices that the weather is changing; it is clouding over so that it will take longer before she can see a particular star. She quotes the motto and comments: “Yok, de÷Õl. Bizi yalnÕz … Bizi yalnÕz / YalnÕzlÕklar ço÷altÕr.”43 A text placed above a chapter, presumably by the novelist in her world, becomes part of her character Nevin’s world. Here once again, we see clearly a postmodernist fusion of different novel worlds. Intertextuality In addition to these clear features of postmodernism in Yazsonu, several minor points can be made. Although intertextuality is not emphatically present in Yazsonu, references to mythology and to LERMONTOV have already been mentioned. In addition, a fragment of the last scene of CHEKHOV’s Three Sisters is quoted right at the start of the novel. In this scene the three sisters Olga, Irina and Masha have been left behind at the man–––––––––––––––– 41 ‘Look, these birds you were talking about / They slowly took off and left now.’ Yazsonu, p. 243. 42 ‘How lonely / a star / only my loneliness multiplies me.’ Yazsonu, p. 106. 43 ‘No, it is not that. Only our loneliness multiplies us… only us.’ Yazsonu, p. 143.

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sion in the countryside to live a life of total oblivion. AöAOöLU has combined the very last lines of the play, spoken by Olga, with some lines spoken by Irina a little earlier. The fragment, which is quoted in Yazsonu, is: Bir gün, bütün bunlarÕn nedeni anlaúacak. Bütün acÕlarÕn, olmazlÕklarÕn üstünü örten giz perdesi kalkacak. Ama úimdi, yaúamak gerek. (…) Zaman geçecek. Bizler sonsuzlu÷a karÕúaca÷Õz. Yüzlerimizin çizgisi, seslerimizin tÕnÕsÕ bile insanlarÕn belle÷inden silinecek. Bizden onlara en küçük bir anÕ kalmayacak. Bu yeryüzünde bir zamanlar kaç kiúi oldu÷umuz da unutulacak. Ne ki, bizim acÕlarÕmÕz, bizden sonra gelenlerin sevinci olacak. Aúk, mutluluk, anlaúma yeryüzünü sarÕp sarmalayacak. øúte ancak o zaman, bugünleri yaúamÕú olanlar sevgiyle, iyilikle anÕlacaklar. (Müzik!...) øúitiyor musunuz, nasÕl da canlÕ, úen? (Insan, yok olmak istemiyor. Gelecek insanlar, bir anlam veremedikleri acÕlarÕmÕzÕ iyilikle anacak olsalar bile; biz bunu düúlesek, buna inansak bile…) Muzi÷in sesini biraz daha duyabilirsek, bu böyle biraz daha sürerse, sanki, neden yaúadÕ÷ÕmÕzÕ, yaúarken neden bu denli acÕ çekti÷imizi kendimiz de analayaca÷Õz. Ah bir bilebilsek!.... Bir bilebilsek!...44

The text in italics is the quote from Three Sisters, and the text between brackets a commentary by the novelist. When checked against an English translation, it emerged that the fragment comes from the last scene in which the three sisters stand with their arms around each other. The text that precedes the first brackets is a fragment from Irina’s last speech: IRINA. (Leans her head on Olga's breast.) The time will come, and everyone will know the meaning of all this, why there is all this suffering, and there won't be any mysteries, but meanwhile, we must go on living…45

Then a passage about working by Irina and the start of Olga’s speech are omitted.46 –––––––––––––––– 44 ‘One day, the reason for all this will be understood. The curtain of mystery covering all suffering and failure shall rise. But, now, it is necessary to live. (…) Time will pass. We will become part of eternity. The lines of our faces, even the tone of our voices shall be wiped out from people’s memory. There shall not be left the smallest memory of us with them. It shall have been forgotten on this earth with how many people we once have been. Only, our misery will be joy for those who will come after us. Love, happiness, harmony will have been spread over the earth. You see, only then shall those who lived today be remembered with affection and kindness. (Music!..) Do you hear, how lively and happy? (A human being, doesn’t want to disappear. Even if people in the future, would remember with kindness, our sufferings to which no meaning could be given; even if we would imagine this, if we would believe in this….) If only we could hear the sound of the music a little longer, if this would continue a little like this, as if we ourselves too could understand why we lived and why we suffered so much. Ah, if we only knew!... if we only knew!...’ Yazsonu, p. 6. 45 CHEKHOV, Anton P.: Three Sisters. Translated by Gerard R. LEDGER, 1998, see: www.oxquarry.co.uk/threesis.htm, consulted 20 January 2006.

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The time will come when we will be gone forever, we will be forgotten, our faces, our voices, and even how many of us there were. But our suffering will be transformed into happiness for those who live after us, peace and contentment will cover the earth, and they will remember and bless with kind words all those who live now. My dearest, dearest sisters, our life is still not finished. We will go on living. The music is playing so happily, so cheerfully, that it seems, in just a little time, we will know why we live, and why there is all this suffering… If only we could know! If only we could know!47 AöAOöLU has created an intertextual relationship between CHEKHOV’s play about three sisters forced to live their miserable lives far away from Moscow, the centre of Russian intellectual life at that time, and Yazsonu. In Three Sisters CHEKHOV was commenting against the despotic political system in Russia. Masha, Olga and Irina envied their brother, Professor Andrey and his wife, who had returned to the civilized life of the big city. In Yazsonu, the fragment functions firstly as a reference to the difficult repressive political situation in Turkey in the seventies and eighties. Secondly, it refers to the longings of people left behind after a loss, like Nevin, who is mourning Güney.48 And lastly, it can be interpreted as relating to the contrast between the primitive life of the Anatolian countryside and civilized city life. Social commitment Although Yazsonu is not a political novel, political and social commitment is present in the form of several motifs relating to the political situation of Turkey in the seventies and early eighties. This was a period in which Turkey rapidly became radicalized. Many left-wing intellectuals were tortured in prisons or disappeared, and the late 1970s saw a daily increase in political violence by extreme left-wing and right-wing groups.49 Yazsonu tells the story of those who did not wish to become involved in this violence and radicalization; however, the political situation affected the everyday –––––––––––––––– 46 (IRINA:) We must work, we must work! Tomorrow I will leave on my own, I will teach in a school and I'll give all my life to those perhaps who need it. It's already autumn, soon it will be winter, the snow will fall, but I will be working, I will go on working… OLGA. (Embraces both sisters.) The music is playing so cheerfully, it's so full of high spirits that one wants to stay alive. Oh God, Oh God!, in: CHEKHOV, Anton P.: 1998. 47 CHEKHOV, Anton P.: 1998. 48 See also ERVIN, Ellen W.: 1988, p. 225. 49 ZÜRCHER, Eric, J.: Turkey, a Modern History. London/New York 1993, pp. 271ff.

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lives of everyone in the big cities. The characters in Yazsonu are stressed, and Güney’s murder demonstrates how deeply the political situation encroached on personal life.50

Conclusion Yazsonu carries many of the hallmarks of postmodernism. Several possible novel worlds co-exist and interfere with one another. Although there are no fantastic, supernatural or science-fiction events in Yazsonu, the characters are equated with ancient mythological characters, which emphasizes their fictional nature. We find both homonyms and the postmodernist use of mottos, and the author creates intertextuality, especially with CHEKHOV’s Three Sisters. Yazsonu is the antithesis of a social-realist novel; it is highly philosophical and poetic. However, the political situation in Turkey is a background presence in the novel in several respects. Since these postmodernist features dominate the novel’s structure and semantic layer, we can call Yazsonu a postmodernist novel. When the work was first published, such literature was still unknown in Turkey, thus making Yazsonu one of the first postmodernist Turkish novels. The features we have identified in Yazsonu also occur in AöAOöLU’s other novels, such as Ölmeye Yatmak, Bir Dü÷ün Gecesi, HayÕr… and Romantik bir Viyana YazÕ. For example, in her first novel Ölmeye Yatmak (Lying Down to Die, 1973), a middle-aged woman lies down in a hotel room to commit suicide. During her brief stay there she reflects on her life. The reader learns her personal history as a woman who grew up as one of the first generations of modern secular Turkish women, and that of her classmates. AöAOöLU uses several narratological techniques such as transcribed radio broadcast, newspaper articles, dairy fragments and letters in order to emphasize the confusing and sometimes frightening nature of events. Although further research is needed before we can determine the extent to which these techniques in Ölmeye Yatmak and other novels by AöAOöLU can be called postmodernist, we can nevertheless conclude that AöAOöLU was ahead of her contemporaries in Turkey with her novel Yazsonu.

–––––––––––––––– 50 For a more elaborate discussion, see ERVIN, Ellen W.: 1988, pp. 237–241.

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Reformer versus Reformen: Zum Gehalt jungosmanischer Tan਌ƯmƗt-Kritik Christiane Czygan (Hamburg) Die als Tan਌ƯmƗt bezeichnete Periode von 1839–1878 im Osmanischen Reich zeichnete sich durch eine Fülle von Reformen aus, die in ihrer Summe sicherlich weniger auf eine planvolle Neuordnung ausgerichtet waren, sondern vielmehr zweierlei Motiven unterlagen: Erstens dem Versuch, die dringlichsten Mißstände zu beseitigen, und zweitens angesichts im Zuge des immer stärker intervenierenden Europas Maßnahmen zu ergreifen, die dem Osmanischen Reich einen Platz im „europäischen Konzert“ einräumen und damit die Zukunftsfähigkeit des Reiches gewährleisten sollten. Eine eindeutige Differenzierung der Motive scheint nicht möglich, da für die meisten Reformen sowohl die Beseitigung von Mißständen als auch das Streben nach Modernisierung in unterschiedlichem Maße eine Rolle spielten. Das Edikt von ƤülপƗne, mit dessen Proklamation am 3.11.1839 die Tan਌ƯmƗt-Ära eingeleitet wurde, verlieh den dringlichen finanzpolitischen Problemen angesichts der leeren Staatskassen mit der Reform des Steuerwesens Ausdruck.1 Der Einsatz staatlich angestellter Steuereintreiber und die daraus resultierende Abschaffung der traditionellen Besteuerungsform, iltizƗm, sollte dem Fiskus durch die bessere Kontrollmöglichkeit der Einnahmen zu Gute kommen und zugleich dem Mißbrauch an der Bevölkerung durch kontrollierbare, der Regierung verpflichtete Beamte Einhalt gebieten.2 Die im Edikt von ƤülপƗne proklamierte Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen und die Bezeichnung aller Untertanen als Osmanen sollte einerseits einen identifikationsstiftenden Zusammenhalt angesichts der zunehmenden Unruhen in den Provinzen gewährleisten und andererseits den europäischen Forderungen nach größerer Autonomie der –––––––––––––––– 1 2

www.verfassungen.de/tr/, gesichtet am 22.03.2006. PAMUK, ùevket: OsmanlÕ ømparatorluЂu’nda ParanÕn Tarihi. østanbul 20033, S. 205; Tan਌ƯmƗt, in: Encyclopaedia of Islam [EI]. Leiden 20002, Bd. 10, S. 202–203; SUNAR, ølkay: State and Economy in the Ottoman Empire, in: øSLAMOۛLU-øNAN, Huri: The Ottoman Empire and the World-Economy, Cambridge 1987, S. 63–87.

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millets entgegenkommen.3 Die Gleichstellung wurde in den fünfziger Jahren durch die Aufhebung der für Nichtmuslime geltenden Kopfsteuer, cizye, zugunsten einer allgemeinen Besteuerung für alle Untertanen (1855)4 sowie eines neuen für Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen geltenden Strafrechts (1858)5 weiter vorangetrieben. Den formalen Höhepunkt dieses Gleichstellungsprozesses stellte die Proklamation des Reformdekrets vom 18.02.1856 dar, das islamische Bezüge ausklammerte, den Europäern neue Rechte einräumte und das millet-System durch die Bestätigung der jeweiligen Eigenständigkeit stärkte. Gerade die Betonung der jeweiligen Eigenständigkeit lief jedoch der Idee des alle Untertanen zusammenführenden Osmanentums eklatant zuwider.6 Weitere Unruhe entstand sicherlich durch die Neuordnung der Verwaltungsgebiete, die wenige Jahre darauf wieder aufgehoben wurde und unter anderer Bezeichnung mit neuen Gebietszuordnungen zu Verschiebungen der verwaltungsrelevanten Zuständigkeiten führte.7 Die Abschaffung von Wirtschaftsmonopolen und die Öffnung gegenüber den auf Überschuß und damit Export angelegten europäischen Märkten schwächten die eigenen Manufakturen und Gewerbebereiche in erheblichem Maße.8 Die hundertprozentige Abwertung des neu eingeführten Papiergeldes, ۘƗҴime, das, als Schuldschein konzipiert, einen Ausweg aus der massiven Staatsverschuldung eröffnen sollte, führte zu Versorgungsengpässen und chaotischen Zuständen.9 Fand das weitestgehend von Muৢ৬afƗ ReúƯd Paúa (1800–1858) entworfene Dekret von 1839, trotz seiner Anpassungs- und Umsetzungsschwierigkeiten, in der Hauptstadt auch unter den Muslimen eine breite Unterstüt–––––––––––––––– 3

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www.verfassungen.de/tr/, gesichtet am 22.03.2006; Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 202, 204; Millet ve AzÕnlÕklar, in: Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi [TCTA]. østanbul 1985, Bd. 4, S. 1015. Tan਌ƯmƗt, in: EI 20002, Bd. 10, S. 204; OsmanlÕ ømparatorluۜunda azÕnlÕk sorunu, in: TCTA, 1985, Bd. 4, S. 1003; ùENER, Abdüllatif: OsmanlÕ Vergi ReformlarÕ, in: YøLDøZ, HakkÕ Dursun: 150. YÕlÕnda Tanzimat. Ankara 1992, S. 262. Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 206. www.verfassungen.de/tr/, gesichtet am 22.03.2006; Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 204. 1846 wurde die Anzahl der als eyƗlet bezeichneten Verwaltungseinheiten von 28 auf 36 erhöht. 1867 wurde die ältere Bezeichnung, vilƗyet, wieder eingeführt und die Verwaltungsgebiete selbst wurden wieder vergrößert. Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 203, 205. QUARTERT, Donald: Main Problems of the Economy during the Tanzimat Period, in: YøLDøZ, HakkÕ Dursun: 1992, S. 215; Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 203. PAMUK, ùevket: 20033, S. 27, 231; DAVISON erwähnt geplünderte Bäckereien als Reaktion auf die wertlos gewordenen ۘƗҴimes; Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 207.

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zung, wandelte sich diese nach der Proklamation des zweiten Reformdekrets 1856 angesichts der unverhohlenen Dominanz europäischer Interessen, die das Dekret zu einem fremdbestimmten, dem europäischen Diktat folgenden Werk diskreditierten.10 So bildete die Unzufriedenheit mit den proklamierten Maximen und mit den durch die eingeleiteten Reformen entstandenen konkreten Veränderungen das Ferment, das sich in der Öffentlichkeit durch das neu entstandene Pressewesen vervielfältigte. Junge Männer scharten sich um øbrƗhim ùINƖSƮ (1826–1871), den Begründer einer der ersten freien Zeitungen namens Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr (Gedankenskizzen), die 1862 gegründet wurde.11 Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr sollte – trotz personeller Wechsel und politisch bedingter Schließungen – zur langlebigsten unabhängigen Zeitung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts avancieren.12 Weitere, meist fachspezifische Zeitungen folgten in den frühen Sechzigern. Die im Januar 1867 herausgegebene Zeitung Mu‫ې‬bir (Nachrichtenübermittler) ging noch einen Schritt weiter als Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, indem sie politische Kommentare veröffentlichte, die rasch aufeinanderfolgende Publikationsverbote nach sich zogen.13 In der Forschung wurde jahrzehntelang aufgrund von Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱s (1849–1913) Schilderungen als Zeitzeuge angenommen, daß die für Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr Publizierenden einer 1865 gegründeten Geheimgesellschaft mit einer straffen Organisation angehörten, aus der heraus nahtlos die Bewegung der Jungosmanen entstand.14 Auch wenn es vielleicht im Wesen von Geheimgesellschaften –––––––––––––––– 10 LEWIS, Bernard: The Emergence of Modern Turkey. New York 20023, S. 115–128; DAVISON, Roderic H.: Reform in the Ottoman Empire 1856–1876. Princeton 1963, S. 100–103. 11 NEUMANN, Christoph K.: Buch- und Zeitungsdruck auf Türkisch, 18. bis 20. Jahrhundert, in: HANEBUTT-BENZ, Eva & GLASS, Dagmar & ROPER, Geoffrey: Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle Begegnung. Westhofen 2002, S. 236–237; KABACALI, Alpay: BaúlangÕcÕndan Günümüze Türkiye’de Matbaa BasÕn ve YayÕn. østanbul 2000, S. 67–68. 12 Unter wechselnder Leitung erschien Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr von 1862 bis 1868, wurde zwischen 1909 und 1912 unter leicht abgewandelten Bezeichnungen erneut publiziert und endete in der letzten Phase zwischen 1913 bis 1920 durch die trotz Unbenennungen fortlaufende Numerierung mit der Nummer 3028. Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, in: Türk Dili ve EdebiyatÕ Ansiklopedisi. østanbul, Bd. 8, 1998, S. 279–280. 13 TOPUZ, HÕfzÕ: Yüz soruda Türk BasÕn Tarihi. østanbul 1973, S. 18–19; KABACALI, Alpay: 2000, S. 85. Mu‫ې‬bir erschien vom 01.01.1867–27.05.1867 mit 55 Nummern. Die erste Schließung erfolgte nach der 32. Nummer, die zweite mit der 55. Nummer. 14 Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱: Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar, 17, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr 2 CumƗdƯ‫ގ‬l-aপÕr 1327/22.06.1909; CZYGAN, Christiane: The Self-portrait of the Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar Cem‫ޏ‬Ưyeti in the Journal ণurrƯyet, in: UNBEHAUN, Horst: The Middle Eastern Press as a Forum for Literature. Frankfurt am Main 2004, S. 41–42.

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liegt, überzeugende abschließende Ergebnisse erheblich zu erschweren, so spricht heute vieles gegen die Existenz einer derartigen Organisation, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Forschungsarbeiten von Kaya BøLGEGøL.15 Relativ sicher läßt sich heute nachweisen, daß es eine lineare Verbindung zwischen einer wie auch immer zusammengesetzten Geheimbewegung und den späteren Jungosmanen nicht gegeben hat. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob überhaupt eine Geheimbewegung existierte oder nicht vielmehr mehrere – für einen Kreis von unzufriedenen Gebildeten zugängliche – Zirkel nebeneinander bestanden. Über die Unzufriedenheit in Istanbul finden wir auch Berichte in der französischen Presse. Les nouvelles que nous recevons de Constantinople sont alarmantes. Une révolution y couve sous les cendres, prête à s’allumer. Le peuple s’arme en secret; les ministres sont aux abois, dans l’attitude de médecins au chevet d’un malade qui agonise et qui n’a plus qu’une seule chance d’être sauvée. … Ce remède héroïque, c’est celui conseillé par le Prince Mustapha-Fazil-Pacha.16

Trotz dieser dramatisierenden Darstellung und der ihr innewohnenden Übertreibungen mit eindeutiger Tendenz kann angenommen werden, daß in Istanbul bereits im Frühjahr 1867 nur noch ein schmaler Grat zwischen latenter Unzufriedenheit und schwelender Unruhe existierte. Dieser atmosphärische Hintergrund unterstreicht die Spontanität der entstehenden Verbindungen und spricht gegen eine in jeder Hinsicht klar strukturierte Bewegung. Entgegen DAVISONs Darstellung waren mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle, die sich später in Paris als Jungosmanen bezeichneten, aufgrund ihrer Beteiligung an einem gescheiterten Komplott gegen den amtierenden Großwesir ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa (1815–1871) ins Exil geflüchtet, da im Juni 1867, zum Zeitpunkt des versuchten Attentats, bereits drei der sieben Männer in Paris weilten.17 –––––––––––––––– 15 BøLGEGøL, Kaya M.: YakÕn †aЂ Türk Kültür ve EdebiyatÕ üzerinde AraútÕrmalar: Yeni OsmanlÕlar. Ankara 1976, S. 355–401. 16 FAGNON, A.: Nouvelles de Constantinople, in: La Liberté, 1867, 06.04.1867, S. 2. 17 Tan਌ƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 207. So trennen sowohl der Chronist Ebnj‫ގ‬ĪĩiyƗ TEVFƮ঱ als auch der Forscher Kaya BøLGEGøL den Personenkreis in Paris in unmittelbar in das Komplott Beteiligte und Außenstehende. BøLGEGøL, Kaya M.: 1976, S. 318–320; Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱: 1909, 27 CumƗdƯҴl-evvel 1327/17.06.1909. Während wir von Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱, aber auch aus der türkischen Historiographie, relativ wenig über das Komplott erfahren, berichtet die zeitgenössische französische Presse dezidiert über die Ereignisse in Istanbul. So wird erst durch sie eine zeitliche Datierung möglich. Les Nouvelles de Constantinople, in: La Liberté, 1867, 16.06.1867, S. 2; CAHUN, Leon: Nous lisons dans le Temps, in: La Liberté, 1867, 17.06.1867, S. 2; ZøA, A.: A Monsieur le directeur du journal la Liberté, in: La Liberté, 1867, 18.06.1867, S. 1; laut Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱ flüchteten NƗmÕল KEMƖL, ĩIYƖ Bey (später Paúa) und ପAlƯ SU‫ޏ‬AVƮ bereits Ende Mai nach Paris, siehe

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Jenseits des Diskurses um Geheimbewegung und Komplott spricht heute vieles dafür, daß die nach Paris Flüchtenden zwar miteinander bekannt waren, aber erst im europäischen Exil eine gemeinsame Identität suchten und sich dort unter der Bezeichnung Yeñi ҵO‫܈‬mƗnlÕlar CemҵƯyeti als Jungosmanen formierten.18 Die sieben Männer, die sich im Frühjahr 1867 zunächst in Paris einfanden, wiesen als gemeinsame Nenner publizistische Tätigkeiten für die Zeitungen Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr und Mu‫ې‬bir auf sowie das Bestreben, staatlichen Sanktionen, in Form von Ämtern in Provinzverwaltungen oder Festungshaft, zu entgehen. Im Zeitraum zwischen Ende Mai und Mitte Juli 1867 verließen sie heimlich das Osmanische Reich und reisten nach Paris, wo sie mit Muৢ৬afƗ ReúƯd Paúa (1829–1875) zusammentrafen. Muৢ৬afƗ ReúƯd Paúa verfügte über enorme Reichtümer aus den ägyptischen Gütern und war bereits 1866 – aufgrund des Verdachts konspirativer Aktivitäten – offiziell ins Exil verbannt worden.19 Erste Versuche der Geflüchteten, die Pariser Öffentlichkeit mittels der französischen Presse über die Verhältnisse im Osmanischen Reich aufzuklären, mündeten in juristische Verwicklungen.20 1868 beschloß die Gruppe, eine osmanische Zeitung für die türkische Öffentlichkeit herauszugeben. Aufgrund der wesentlich liberaleren britischen Pressegesetzgebung entschied man sich für einen Umzug nach London.21 Im August 1867 wurden die arabischen Bleibuchstaben aus ƖƥƗh Efendis (1832–1885) Istanbuler Druckerei nach London gebracht und die Zeitung Mu‫ې‬bir herausgegeben.22 Die Namensgebung war sicherlich als Anknüpfung an die verbotene Istanbuler Vorgängerin gedacht. Interne Streitigkeiten, insbesondere zwischen NƗmÕল KEMƖL (1840–1888) und ‫ޏ‬ƖlƯ SU‫ޏ‬AVƮ –––––––––––––––– 18 19

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Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱: Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar 40, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, 1909, 30. ùaҵbƗn 1327/17.09.1909. CZYGAN, Christiane: 2004, S. 42–43. Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱: Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar 12, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, 1909, 24 CumƗdƯҴl-evvel 1327/14.06.1909; PAKALIN, Mehmed Zeki: Tanzimat Maliye NazirlarÕ, østanbul, 1939, Bd. 2, S. 5–7; †ELøK, Hüseyin: Mustafa FazÕl Paúa ve Yeni OsmanlÕlar Cemiyeti’nin tüzüۜü, in: Tarih ve Toplum, 1992, S. 6. COLOMBE, Marcel: Une Lettre d’un Prince Égyptien du XIXe Siècle au Sultan Ottoman Abd alAziz, in: Orient, 1958, S. 24. ĩøA: La Jeune Turquie, in: La Liberté, 1867, 26.06.1867; La Jeune Turquie, in: Le Mémorial Diplomatique, 1867, 22.06.1867; Le Siècle et la Liberté…, in: Le Mémorial Diplomatique, 1867, 29.06.1867. Ziya Bey ayant interjeté appel …, in: Le Mémorial Diplomatique, 1867, 21.11.1867. JONES, Aled: Powers of the Press: Newspapers, Power and Public in the Nineteenth-Century England. Cambridge 1996, S. 10–26. Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TEVFƮ঱: Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar 68, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, 1909, 28 Rama਌Ɨn 1327/14.10.1909.

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(1838–1878), führten zur Spaltung der Jungosmanen.23 Im Juni 1868 erschien zunächst unter REùƖD BEYs (1844–1902) Leitung die Zeitung ‫ۉ‬urrƯyet (Freiheit), die zum eigentlichen Medium der Jungosmanen avancierte, auch wenn sie im späteren Verlauf weitestgehend von NƗmÕল KEMƖL und ĩIYƖ BEY (1829–1880) verfaßt wurde. Gründe dafür waren die Rückkehr von REùƖD und NNjRƮ BEY (1844–1906) nach Paris, die Distanz zu ‫ޏ‬ƖLƮ SU‫ޏ‬AVƮ, die wesentlich radikaleren Wege, die MEণMED BEY (1843–1874) einschlug sowie die Tatsache, daß über ƖƤƖH EFENDIs Verbleib nichts Konkretes bekannt war. Die Zeitung ‫ۉ‬urrƯyet als Organ der Jungosmanen suggerierte also eine Einheit, die so auch der osmanischen Leserschaft glaubwürdig vermittelt werden konnte, da besonders NƗmÕল KEMƖL in seinen Artikeln zwar relativ häufig die Bezeichnung Yeñi ҵO‫܈‬mƗnlÕlar verwendete, wenn es um die Darstellung eigener Positionen ging, aber auf Berichte interner Natur, etwa über die aktuell aktiven Vertreter oder ihre außerjournalistischen Aktivitäten, vollständig verzichtet wurde. Der Bezeichnung Yeñi ҵO‫܈‬mƗnlÕlar CemҵƯyeti wohnt folglich ein Dualismus inne, der aus einer konsequent aufrecht gehaltenen Fiktion heraus entstand. Durch die Nutzung der Presse, in diesem Fall über die Zeitung ‫ۉ‬urrƯyet, wurde die Illusion einer jungosmanischen Bewegung durch die enorme Resonanz im Osmanischen Reich zumindest in der Wahrnehmung der Rezipienten Realität, die wiederum der Bezeichnung „Bewegung“ eine gewisse Berechtigung verleiht. In der Sekundärliteratur wird die Kritik der Jungosmanen an Tan਌ƯmƗt generell mit ihrer Kritik an den wichtigsten Protagonisten von Tan਌ƯmƗt in der Periode zwischen 1856 und 1871 begründet. Vor allem ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa, aber auch Fu‫ގ‬Ɨd Paúa stünden im Fadenkreuz der Kritik und seien für eskalierende Konflikte in den Provinzen, die Wirtschaftskrise sowie die europäische Einmischung in innerosmanische Angelegenheiten verantwortlich.24 Grundsätzlich ist die Fokussierung auf die Verfehlungen von ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa und Fu‫ގ‬âd Paúa in ‫ۉ‬urrƯyet immer wieder herauszulesen. Dennoch scheint es lohnenswert, einmal anhand konkreter Textpassagen dem Gehalt der –––––––––––––––– 23 DERS.: Yeñi ‫ޏ‬OৢmƗnlÕlar 55, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, 1909, 15 Rama਌Ɨn 1327/ 01.10.1909; DERS.: Yeñi ପOৢmƗnlÕlar 105, in: Yeñi Ta‫܈‬vƯr-i EfkƗr, 8 ਍Ư‫ގ‬l-লa’de 1327/22.11.1909. 24 LEWIS, Bernard: 20023, S. 138–139, 157; KORAY, Enver: Yeni OsmanlÕlar, in: YøLDøZ, HakkÕ Dursun: Ankara 1992, S. 550–555; KURAN, Ercümend: The Impact of Nationalism on the Turkish Elite in the Nineteenth Century, in: POLK, William, R.: Beginnings of Modernization in the Middle East: The Nineteenth Century. Chicago 1968, S. 110; SUNGU, Ihsan: Tanzimat ve Yeni OsmanlÕlar, in: Tanzimat I. Yüzüncü YÕl Dönümü Münasebetile. østanbul 1940, S. 777; TanܲƯmƗt, in: EI, 20002, Bd. 10, S. 207; YAPP, Malcolm: The Making of the Modern Near East 1792–1923. London 1987, S. 115–116.

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Tan਌ƯmƗt-Kritik nachzugehen, um aus dem Detail heraus Sichtweisen transparent zu machen. Grundsätzlich sollte zwischen NƗmÕল KEMƖLs und ĩIYƖ BEYs Sichtweise in Bezug auf Tan਌ƯmƗt differenziert werden. So verlieh ĩIYƖ BEY seiner Kritik an Tan਌ƯmƗt, aber auch an ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa und Fu‫ގ‬Ɨd Paúa, der teilweise ein stark polemisierender Impetus innewohnte, nach NƗmÕল KEMƖLs Trennung von ‫ۉ‬urrƯyet in wesentlich stärkerem Weise Ausdruck, so daß diese in ihrer Zuspitzung besonders interessant ist. In den Artikeln „Sultan ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ül-‫ޏ‬azƯz [vor der Entscheidung] ĩiyƗ Bey oder ‫ޏ‬AlƯ Paúa?“25, in denen ein fiktionaler Dialog mit dem Sultan stattfindet, wird nur kurz auf Fu‫ގ‬Ɨd Paúas Unterschlagungen hingewiesen26, um dann den Fokus ganz auf den Großwesir ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa zu richten.27 Die konkrete Kritik beschränkte sich dabei auf zwei Aspekte: Erstens auf die Entlassung von Beamten der Hohen Pforte aus persönlichen Motiven und zweitens darauf, daß Reformmaßnahmen, wie die Einführung von Provinzverwaltungen oder die scheinbare Verbesserung der Infrastruktur, bloße Makulatur zur Besänftigung der europäischen Diplomaten seien.28 So unterbreitete ĩIYƖ BEY dem Sultan den Vorschlag, ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa als Verwalter nach Zypern zu versetzen, denn nur in der Provinz sei man vor seinen Machenschaften sicher. Öyle ise úimdi ৢadr-Õ a‫ޏ‬਌am ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa’yÕ ৢadƗretden ‫ޏ‬azl ile ঱ÕbrÕs müteৢarrÕflÕƥÕna naৢb ediƾiz bu ÕৢlƗতƗtÕƾ cümlesi ৬abƯ‫ޏ‬at-Õ maৢlaতat olarak তuৢnjle gelür.29 Wenn es so ist, daß Sie jetzt den Großwesir ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa seines Amtes entheben und als Verwalter von Zypern einsetzten, käme es dem gesamten Reformprozeß zu Gute.30

ĩIYƖ BEY schien sich sehr wohl der kommunikativen Fähigkeiten ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas im Umgang mit den europäischen Mächten und in diplomatischen Kreisen bewußt zu sein, da er primär lediglich gegen dessen Unersetzbarkeit nach konkreten Argumenten suchte, darüber hinaus aber auch subtile –––––––––––––––– 25 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869; Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 12 Receb 1286/18.10.1869. 26 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869, S. 5. 27 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869, S. 5–7; Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 12 Receb 1286/18.10.1869, S. 1–6. 28 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869, S. 5. 29 Ebd.: S. 5. 30 Ebd.: S. 5, Übersetzung der Autorin.

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suggestive Mittel einsetzte. So appellierte ĩIYƖ BEY zum einen an den Souveränitätsanspruch des Sultans, indem er darlegte, daß sich weder Diplomaten noch Regierungen in die Rechte eines anderen Landes einmischen dürften und zum anderen an die Autorität des Sultans in seiner Position als Kalif. Ne demek Siz biri লullanmamaল isterseƾiz de aƾa sefƗretler rƗĪƯ olur mÕ olmaz mÕ diye düúünürseƾiz তƗ‫ގ‬iz oldÕƥÕƾÕz mesned-i পÕlƗfet-i kübrƗ bu menzileden biƾ derece bƗlƗdÕr.31 Ich bitte Sie, Sie stehen als Kalif im Rang tausend Mal höher als jene Diplomaten, über deren Zustimmung Sie nachdenken, wenn Sie einen Ihrer Angestellten nicht mehr beschäftigen wollen.32

Dieser Wechsel der Diskursebene vom Argumentativen zum Suggestiven wurde im weiteren Verlauf zunächst beibehalten, indem alle Krisengebiete des Reiches aufgeführt und einfach durch ihre Benennung im Kontext der Entlassung ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas implizit mit diesem in Verbindung gebracht wurden.33 Von der suggestiven Ebene glitten ĩIYƖ BEYs Ausführungen immer stärker ins Polemische ab, deren Zuspitzung sich in folgendem Fazit widerspiegelt: – Ha biz bu ƗdamÕ def‫ ޏ‬etsek yerine kimi getürmeli. MeydƗnda bulÕnanlarÕƾ তƗlleri ma‫ޏ‬lnjm. – Kimi getürürseƾiz getüriƾiz. AৢÕl maলৢad menba‫ޏ‬-Õ fesƗdÕƾ izƗlesidir. Bi‫ގ‬l-farĪ anÕƾ yerine bir ৢÕrÕল তammƗlÕ getürilse elbette ziyƗde maĪarret edemez.34 – Ach ja, wenn wir diesen Mann verjagten, wer sollte an seine Stelle treten. Der Zustand der zur Verfügung Stehenden ist bekannt. – Wen auch immer Sie einsetzen wollen, nehmen Sie ihn. Das eigentliche Ziel ist es, die Quelle des Übels abzustellen. Angenommen, es würde an [‫ޏ‬ƖlƯ Paúas] Stelle ein Lastenträger eingesetzt werden, so könnte er keinen größeren Schaden anrichten.35

Nach diesen Ausführungen scheinen drei der in der Sekundärliteratur genannten Aspekte der Tan਌ƯmƗt-Kritik ihre Bestätigung zu finden: Erstens die persönliche Bekämpfung ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas, zweitens die ihm zugeschriebene Verantwortlichkeit für sämtliche Konflikte in den Provinzen und drittens der Vorwurf, ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas Verwestlichungskurs sei Auslöser für die verstärkte europäische Einmischung in die Angelegenheiten des Reiches. –––––––––––––––– 31 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869, S. 5. 32 Ebd.: S. 5, Übersetzung der Autorin. 33 Ebd.: S. 6. 34 Ebd.: S. 6. 35 Ebd.: S. 6, Übersetzung der Autorin.

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Neben den offensichtlichen persönlichen Animositäten gegenüber ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa spiegelt sich in der Fokussierung auf diesen einen Repräsentanten der Regierung ein Politikverständnis wider, das noch ganz auf eine Persönlichkeit fixiert ist und damit in seiner Wahrnehmung noch nicht dem modernen Verständnis folgte, das politische Entwicklungen als Prozesse mit vielfältigen Einflußfaktoren wahrnahm. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch in der Sekundärliteratur bislang unerwähnt geblieben und findet auch in diesen teilweise sehr von Polemik geprägten Artikeln seinen Ausdruck: Die Wahrnehmung der Bevölkerung durch die Autoren und die Artikulation der Lebensverhältnisse der Bevölkerung in den Provinzen und der Hauptstadt. So werden die Reformen als den existentiellen Bedürfnissen der Bevölkerung zuwiderlaufende Maßnahmen dargestellt,36 denen ein Reformverständnis innewohnt, das das Wohlergehen der Bevölkerung als Indikator für das Gelingen der Reformen bewertet. Fraglich ist, ob ein derartiger Ansatz nicht grundsätzlich mit dem Prinzip der Tan਌ƯmƗt-Reformen kollidieren mußte, da die Tan਌ƯmƗtReformen ja in ihrer Struktur von oben nach unten verliefen, d.h. von der Regierung entwickelt, entschieden und angeordnet wurden, ohne die Bevölkerung an diesem Entscheidungsprozeß partizipieren zu lassen. An eine Revolution hatte ĩIYƖ BEY sicherlich nicht gedacht, auch schien ĩIYƖ BEY wenig der konsequenten Entwicklung von Reformen von unten in ihrer demokratischen Ausprägung zugeneigt zu sein. Als Voraussetzung dafür erachtete er die Verwirklichung eines höheren Bildungsniveaus, für das er stetig plädierte und dessen Vorantreiben ein wesentlicher Anteil seines journalistischen Engagements darstellte.37 So scheinen diese Artikel, die sicherlich in besonderem Maße der großen Einsamkeit und dem Aufbegehren gegen das Scheitern des Projekts ‫ۉ‬urrƯyet nach der Trennung des wichtigsten Begleiters Ausdruck verleihen, aus einer Verquickung von persönlich motivierter Personalkritik, einem auf einen Verantwortlichen fixierten Politikverständnis und der Wahrnehmung der Bevölkerung als politischem Faktor zu bestehen. Während ĩIYƖ BEY Tan਌ƯmƗt-Kritik im Kontext ihrer Protagonisten entwickelte, bildeten für NƗmÕল KEMƖL die Gesetze den strukturellen Ausgangspunkt. ĩIYƖ BEY bewertete, vielleicht auch aufgrund seiner erfah–––––––––––––––– 36 Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 Receb 1286/11.10.1869, S. 1–2. 37 Besonders ausführlich befaßt sich ĩIYƖ BEY in folgenden Artikeln mit dem Thema Bildung: TürkistƗnÕƾ esbƗbÕ tedennƯsi, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 7 RebƯ‫ގޏ‬l-aপÕr 1285/27.07.1868, S. 1–3; ùi‫ޏ‬ir u ønúƗ‫ގ‬, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 20 CumƗdƯ‫ގ‬l-evvel 1285/07.09.1868, S. 4–7; Bizde Ɨdam yetiúmiyor, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 29 ùab‫ޏ‬Ɨn 1285/14.12.1868, S. 1–2; VilƗyet ni਌ƗmƗtÕ, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 29 ਍Ư‫ގ‬l-তecce 1285/12.04.1869, S. 1–5.

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rungsbedingten Desillusionierung, Politik in Bezug auf die regierenden Persönlichkeiten. Im Gegensatz dazu orientierte sich NƗmÕল KEMƖL vom Ansatz her am System selbst und vertrat damit eine wesentlich idealistischere Sichtweise. So verglich er im Kontext von Tan਌ƯmƗt die verschiedenen Gesetzesformen und zog in der für ihn typischen Weise einen weiten Bogen, indem er die ùerҵƯa der europäischen Gesetzgebung gegenüberstellte und dabei seine Loyalität gegenüber dem islamischen Recht mit dem Postulat der islamischen Überlegenheit unterstrich. Erst nach diesen grundsätzlichen Betrachtungen wendete er sich den für die Tan਌ƯmƗt-Zeit spezifischen Gesetzen zu. Im folgenden Diskurs bildete das Ƥül‫ې‬Ɨne ‫ۏ‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn den Maßstab. Er kritisierte weder das Edikt noch stellte er es in Frage, sondern er verwendete es für die Beurteilung politischer Praktiken wie der Verhängung der Todesstrafe. SƗnƯyen লavƗnƯn-i cedƯdeniƾ esƗsÕ i‫ޏ‬tibƗr olÕnan ƤülপƗne ঩a৬৬-Õ hümƗynjn’Õƾ úimdiye লadar resmen hƯç bir fÕলrasÕ laƥv olÕnmadÕƥÕ ve তƗlbuki তükm-i úer‫ޏ‬Ư laতÕল [olmadan] kimse তaললÕnda i‫ޏ‬dƗm cezƗsÕ icrƗ‫ ގ‬olÕnamamaল anda muৢarraত bulÕndÕƥÕ তƗlde icrƗ-yÕ ÕতkƗmÕnda fetvƗya aৢlƗ mürƗca‫ޏ‬at olÕnmayan cezƗ‫ ގ‬লƗnnjnnƗmesiniƾ gerek bƗlƗda münderic olan iki mƗddesinde ve gerek sƗ‫ގ‬ir bir çoল mevƗdÕnda লatla müte‫ޏ‬allÕল তükmler naৢÕl bulÕndÕ.38 Zweitens wurde bislang kein Artikel des ƤülপƗne ঩a৬৬-Õ hümƗynjns, dem Kernstück der neuen Gesetze, offiziell aufgehoben; obwohl nach islamischem Recht eindeutig festgelegt ist, daß niemandem gegenüber die Todesstrafe ausgeübt werden darf, ohne ein ausdrücklich erteiltes Fetwa, so ist es fragwürdig, wie nach den zwei obigen Artikeln des Strafgesetzes und den zahlreichen Artikeln bezüglich der Todesstrafe eine solche Entscheidung getroffen werden konnte.39

Tatsächlich enthält das Ƥül‫ې‬Ɨne ‫ۏ‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn einen Passus zur Todesstrafe; wesentlicher für die Filterung der Sichtweise ist jedoch, daß NƗmÕল KEMƖL das Ƥül‫ې‬Ɨne ‫ۏ‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn und das islamische Recht gleichermaßen als Garanten der Rechtsordnung heranzog und diese zur Begründung seiner Kritik an der politischen Praxis der Verhängung der Todesstrafe dienten. Während in dieser Passage die bestehenden Gesetze als Maßstab des politischen Handelns herangezogen wurden, ging NƗmÕল KEMƖL in einem wesentlich früheren Artikel noch einen Schritt weiter, indem er nicht weiter spezifizierten Passagen der neuen Gesetze das Niveau einer Verfassung zuschrieb und damit das propagierte Ideal einer Verfassung mit den in der Realität bereits vollzogenen Dekreten in einer Weise verband, als bedürfe es nur noch eines kleinen juristischen Schrittes zur vollständigen Realisierung des Ideals. So verlieh NƗmÕল KEMƖL in –––––––––––––––– 38 øn Allah ya‫ގ‬mnjr bi‫ގ‬l-‫ޏ‬ve‫ގ‬l-iতsƗn, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1869, 5 ùevvƗl 1285/18.01.1869, S. 5. 39 Ebd.: S. 5, Übersetzung der Autorin.

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dem viel zitierten Artikel Ve’úƗvirhum fƯҴl-Ɨmir40 andeutungsweise dem Ƥül‫ې‬Ɨne ‫ۏ‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn und I‫܈‬la‫ۊ‬Ɨt fermƗnÕ Modellcharakter für eine Verfassung: Bu gün elde ƤülপƗne ঩a৬৬Õ var. IৢlƗতƗt fermƗnÕ var. Geçenki nu৬ল-Õ hümƗynjn var. VƗলÕ‫ޏ‬Ɨ bunlarÕƾ hey‫ގ‬et-i ‫ޏ‬umnjmƯyesine baলÕlsa ba‫ޏ‬Ī-Õ ‫ޏ‬ibƗreleriniƾ ma‫ޏ‬nƗyÕ তaলƯলƯ ve lƗzÕmƯsÕndan oldÕলca ni਌ƗmƗt-Õ esƗsƯye denebilecek bir ৬ƗলÕm লavƗ‫ޏ‬id istimbƗ৬ olÕnabilür.41 Heute gibt es das Edikt von Gülhane. Es gibt das Reformdekret, jene kürzlich [verkündete] Verordnung. Wenn man genauer deren allgemeine Struktur betrachtet, können manche Erklärungen von ihrem eigentlichen Sinn und ihren Zielsetzungen her bereits als [wesentliche Elemente] einer Verfassung bezeichnet werden.42

Aus den zitierten Passagen geht hervor, daß NƗmÕল KEMƖL offensichtlich in keinerlei Weise eine Differenzierung der beiden großen Tan਌ƯmƗtDekrete vornahm. Dies ist umzog erstaunlicher, als er sich ansonsten als Fürsprecher der Gemeinschaft der Gläubigen darzustellen wußte, für die gerade das I‫܈‬la‫ۊ‬Ɨt fermƗnÕ keinerlei Verbesserungen versprach. Angesichts der verbreiteten NƗmÕল KEMƖL-Rezeption mag dies Irritationen hervorrufen, dennoch läßt dieser Widerspruch grundsätzlich zwei Thesen zu: 1. Der Inhalt der jeweiligen Gesetze war für seine Argumentation irrelevant, da es gar nicht um die spezifischen Gesetze selbst ging, sondern um Gesetze als ordnungsgebende Instanz an sich. 2. Die Gemeinschaft der Muslime hatte für ihn nicht die immer wieder betonte Bedeutung, sondern war für ihn lediglich der gewählte Rezipientenkreis, dessen vielfältigen Kommunikationsstufen und Regelwerke ihm vertraut waren. In Ermangelung weiterer Belege, die die zweite Thesen stützen könnten, erscheint die Interpretation wahrscheinlicher, daß Gesetze als ordnungsgebende Instanz eine Autorität genossen, die eine kritische Reflexion im Detail erübrigte, weil er Gesetze nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern ihres Status wegen favorisierte. Diese idealisierende Sichtweise der Gesetze ist noch entfernt von der Moderne, in der Gesetze nicht für sich wirksam sind, sondern erst im Zusammenspiel mit den sie hervorbringenden und wahrenden Instanzen ihre Wirkung entfalten. Diese Auswahl zeigt NƗmÕল KEMƖL im Lichte seiner idealisierenden Wahrnehmung der Gesetze, die die Tan਌ƯmƗt-Verordnungen mit einbe–––––––––––––––– 40 Ve‫ގ‬úƗvirhum fƯ‫ގ‬l-Ɨmir, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 30 RebƯ‫ގޏ‬-evvel 1285/20.07.1868, S. 1– 5. 41 Ve‫ގ‬úƗvirhum fƯ‫ގ‬l-Ɨmir, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 30 RebƯ‫ގޏ‬-evvel 1285/20.07.1868, S. 1– 5, hier S. 2. 42 Ebd.: S. 2, Übersetzung der Autorin.

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zieht. Jedoch lassen sich auch in NƗmÕল KEMƖLS Artikeln polemisierende Passagen gegen ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa finden. Büyük kƗtib úöhretine ma਌her olanlarÕƾ bir çoƥÕ তƗlƗ ৬oƥrÕ imlƗ‫ ގ‬bilmez o ma‫ޏ‬rifetle kendini idƗreyi ‫ޏ‬Ɨleme লƗdir ਌ann eder. MeselƗ‫ޏ ގ‬ƖlƯ Paúa gibi. ৡnjret-i tefƯ਌i [tevfƯ਌i] o তƗlde emr-i taতৢƯli ise bu mertebede olan bir ৬arƯলÕƾ yetiúdirdiۜi Ɨdamlardan ne me‫ގ‬mnjl olÕnsun.43 Die Mehrheit der zu Ruhm gekommenen bedeutenden Schreiber beherrscht immer noch nicht die Rechtschreibung. Mit diesem „Kenntnisstand“ glauben sie ermächtigt zu sein, die Welt zu lenken. Wie beispielsweise ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa. Wenn aber schon die falsche Schreibweise von tevfƯĪ nach Ausbildung schreit, was soll dann erst von Männern, deren [sprachliche Entwicklung] sich auf diesem Niveau befindet, erwartet werden.44

NƗmÕল KEMƖLs Polemik erscheint im Vergleich zu jener von ĩIYƖ BEY harmlos, weil ihr kein Impuls zur Veränderung, etwa ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas Absetzung, innewohnt. So spielte NƗmÕল KEMƖL lediglich auf ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas Herkunft aus einfachen Verhältnissen an und richtete den Fokus auf ein falsch geschriebenes Wort, das er zum Ausdruck mangelnder Bildung überhöhte. In keinerlei Weise setzte er sich mit ‫ޏ‬ƖlƯ Paúas politischem Handeln auseinander, sondern schien nur bestrebt, ihn lächerlich zu machen und seine eigene Überlegenheit auf diesem Gebiet unterstreichen zu wollen. Auffällig ist, daß die gesamte den Jungosmanen zugeschriebene Tan਌ƯmƗt-Kritik sich in den untersuchten Passagen von ĩIYƖ BEY widerspiegelt, nicht aber bei NƗmÕল KEMƖL. Während NƗmÕল KEMƖL, wenn überhaupt, nur punktuell Kritik übte, so scheint ĩIYƖ BEY wesentlich umfassender den gesamten Tan਌ƯmƗt-Prozeß im Lichte dessen Scheiterns wahrzunehmen. So zeigt sich eine Differenz zwischen NƗmÕল KEMƖL und ĩIYƖ BEY in Bezug auf Tan਌ƯmƗt in der Reaktion auf die politische Praxis. Während NƗmÕল KEMƖL höchstens selektiv auf konkrete Ereignisse (wie der drohenden Todesstrafe) reagierte, denen er seine idealisierende Sichtweise der Gesetze als Korrektiv gegenüberstellte, so forderte ĩIYƖ BEY grundlegende personelle Veränderungen, da er die Regierenden als Hauptverantwortliche für die politische Praxis bewertete. Sowohl NƗmÕল KEMƖL als auch ĩIYƖ BEY schienen, trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze, nur äußere Formen der Moderne wahrzunehmen, ohne die Moderne in ihrer Komplexität zu berücksichtigen. So propagierte NƗmÕল KEMƖL Gesetze, ohne das komplexe Regelwerk der Judikative zu berücksichtigen, während ĩIYƖ BEY die Regierenden als politische Weichensteller sah, dabei aber die –––––––––––––––– 43 BedƯhƯyƗtdan bir লaĪƯye der ki …, in: ‫ۉ‬urrƯyet, 1868, 16 Receb 1285/02.11.1868, S. 4. 44 Ebd.: S. 4, Übersetzung der Autorin.

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vielfältigen internationalen Entwicklungen und deren Einflüsse auf politische Prozesse außer Acht ließ. Ein persönlicher Nachtrag: Die Faszination für diese Epoche und die vielfältigen ihr innewohnenden Widersprüche vermochte Frau Prof. Dr. Kappert in ganz besonderer Weise zu vermitteln. Ihre Fragen und Anregungen bildeten den Impuls für mein eigenes Dissertationsvorhaben, das sie trotz schwerer Krankheit mit großer Aufmerksamkeit bis zu ihrem Tod begleitete.

Bibliographie

Abkürzungen EI TCTA

Encyclopaedia of Islam Tanzimat’tan Cumhuriyet’e Türkiye Ansiklopedisi

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Christiane Czygan

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Reform versus Reformer

Nr. 25 Nr. 30 Nr. 42 Nr. 85

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Bizde Ɨdam yetiúmiyor, 29. ùab‫ޏ‬Ɨn 1285/14.12.1868. øn Allah ya‫ގ‬mnjr bi‫ގ‬l-‫ޏ‬ve‫ގ‬l-iতsƗn, 5. ùevvƗl 1285/18.01.1869 VilƗyet ni਌ƗmƗtÕ, 29. ਍Ư‫ގ‬l-তecce 1285/12.04.1869. Sul৬an ‫ޏ‬Abd‫ގ‬ul-‫ޏ‬azƯz ঩Ɨn (ĩIYƖ BEY) (‫ޏ‬ƖLƮ PAùA), 5. Receb 1286/11.10.1869.

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Materielle Kultur und – zuweilen – gesellschaftliche Werte: Das Europabild in den Berichten osmanischer Gesandter des XVIII. Jahrhunderts Suraiya Faroqhi (Istanbul) Osmanische Gesandtschaftsberichte sind, wenn auch sporadisch, seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder bearbeitet worden. Die Ergebnisse wurden entweder als reine Textausgaben publiziert oder, vor allem seit den 1970er Jahren, als Editionen mit Einleitung, mehr oder weniger ausführlichem Kommentar und zuweilen Übersetzung in eine westliche Sprache bzw. ins moderne Türkei-Türkisch.1 In der älteren Forschung wurden solche Arbeiten oftmals unternommen, weil sie einen Beitrag zu den internationalen und interkulturellen Beziehungen darstellten, wie sie von der Elite des Osmanischen Reiches gehandhabt wurden. Dieser Aspekt ist sicherlich ausschlaggebend gewesen für die in der kurzlebigen aber gehaltvollen Zeitschrift Tarih VesikalarÕ (1941–1949, mit Unterbrechungen) enthaltenen Texte, aber auch für Autoren wie Münir AKTEPE, Norman ITZKOWITZ und Max MOTE, die sich in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Materie beschäftigt haben.2 Andererseits waren die Arbeiten Richard KREUTELs und seiner Mitarbeiter, die zum ersten Mal den Gesandtschaftsbericht Kara Mehmed Paúas zugänglich gemacht haben, von dem Interesse an der Geschichte Wiens geleitet, insbesondere an der Belagerung von 1683. Ein zweiter Fokus war –––––––––––––––– 1

2

KARAMUK, Gümeç: Ahmet Azmi Efendis Gesandtschaftsbericht als Zeugnis des osmanischen Machtverfalls und der beginnenden Reformära unter Selim III. Bern 1975; ALÎ EFENDø, Morali Seyyid et MUHøBB EFENDø, Seyyid Abdürrahim: Deux ottomans à Paris sous le Directoire et l’Empire, Relations d’ambassade, übs., eingeleitet und kommentiert von YÉRASIMOS, Stéphane: Le Méjan: 1998; HATTÎ EFENDø, Mustafa: Viyana Sefâretnâmesi, hg. von SAVAù, Ali Ibrahim: Ankara 1999; NUM’ÂN EFENDø, Ebû Sehl: Tedbîrât-Õ Pesendîde (Be÷enilmiú Tedbirler), hg. von SAVAù, Ali øbrahim: Ankara. Türk Tarih Kurumu, 1999. [MEHMED EFENDø, Nahifi]: Mubadele – An Ottoman-Russian Exchange of Ambassadors, übs. und kommentiert von ITZKOWITZ, Norman und MOTE, Max: Chicago, London 1970; EMNÎ, Mehmed, Mehmed Emnî Beyefendi (Paúa)’nÕn Rusya Sefâreti ve Sefâret-nâmesi, hg. von AKTEPE, Münir: Ankara 1974.

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das Werk des berühmten osmanischen Reiseschriftstellers Evliya Çelebi. Denn jedenfalls für die kurze Zeitspanne von Evliyas Besuch in der Hauptstadt der österreichischen Habsburger (1665) lassen sich diese beiden sonst so verschiedenen Thematiken sehr gut miteinander verbinden.3

Die Diskussion belebt sich Die Situation änderte sich, wenn auch nur allmählich, durch die kurz nacheinander erschienenen Bücher von Edward SAID und Bernard LEWIS sowie den durch diese beiden Arbeiten ausgelösten Polemiken.4 Zunächst haben eine Reihe von Fachkollegen/innen die Berichte europäischer Reisender untersucht. Dabei stand im Hintergrund die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß sich in den Reisebeschreibungen von Autoren aus West- und Zentraleuropa über das Osmanische Reich die Herausbildung einer Vorstellung vom „Anderen“ nachweisen läßt, die den von Edward SAID mit Bezug auf die arabische Welt im XIX. Jahrhundert herausgearbeiteten, wissenschaftlich verbrämten Vorurteilen entsprechen könnte. Dabei lag der Akzent auf den Abhängigkeiten der Texte untereinander und in concreto auf den von Autor zu Autor weitergetragenen Stereotypen, die „Türken“ und Muslime betrafen.5 Was dagegen osmanische Beobachter ihrerseits – und insbesondere die Gesandten – über die Außenwelt und damit über Europa zu sagen hatten, wurde erst später zum Diskussionsthema. Für mehrere Historiker/innen, die sich mit diesem Fragenkreis auseinandersetzten, war es zunächst einfach wichtig, einige intellektuelle Osmanen „in eigener Sache“ zu Wort kommen zu lassen. Bernard LEWIS’ Behauptungen über die angeblichen Defizite in der Wahrnehmung des Westens durch die Muslime wurden deswegen von Historikern des Osmanenreichs viel weniger beachtet als das Buch von Edward SAID, und dies, obschon LEWIS sich ausdrücklich mit –––––––––––––––– 3

4 5

[EVLøYA ÇELEBø]: Im Reiche des Goldenen Apfels, des türkischen Weltenbummlers Evliya Çelebi denkwürdige Reise in das Giaurenland und in die Stadt und Festung Wien anno 1665, übersetzt und erläutert von KREUTEL, Richard F., PROKOSCH, Erich und TEPLY, Karl: Vienna, 2. Ausgabe 1987. Diese Ausgabe enthält auch den Bericht von Mehmed Paúa selbst. SAID, Edward: Orientalism. New York 1978; LEWIS, Bernard: The Muslim Discovery of Europe. New York, London 1982. YÉRASIMOS, Stéphane: Les voyageurs dans l'Empire ottoman (XIVe – XVIe siècles), Bibliographie, itinéraires et inventaire des lieux habités. Ankara 1991; sowie die Einleitungen des gleichen Verfassers zu französischen Reisebeschreibern des XVII. Jahrhunderts: z. B. THÉVENOT, Jean: Voyage du Levant, hg. und eingeleitet von YÉRASIMOS, Stéphane: Paris, gekürzter Neudruck 1980.

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dem Osmanischen Reich beschäftigt hatte und dies auf Said nur sehr bedingt zutraf. Erst in einer ganz neuen Arbeit, im Mai 2006 erschienen, wird ausdrücklich auf LEWIS“ Behauptung zurückgegriffen, „die Muslime“ und damit die Osmanen hätten Europa „nicht verstanden“ und seien deswegen nicht in der Lage gewesen, die Moderne wirklich zu assimilieren.6 Der Verfasser øbrahim ùøRøN kommentiert in diesem Kontext, daß der ursprünglich eher „vernünftige“ Bernard LEWIS, dessen Buch über die osmanisch-türkische Modernität aus den fünfziger Jahren noch heute respektiert wird, erst in der „Verteidigungsposition“ gegenüber SAID zu seinen kaum zu verifizierenden Behauptungen gekommen sei, die europäische Orientalistik sei „interesselos“ und nur von wissenschaftlichen Motiven geleitet.7 In diesem Zusammenhang wirft ùøRøN LEWIS vor, bei der Auswahl seiner Beispiele in dessen Buch The Muslim discovery of Europe sehr einseitig vorgegangen zu sein; so habe er immer die feindseligsten und Neuheiten am wenigsten zugänglichen Autoren herausgegriffen und andererseits deren jeweilige Gegner im Schatten belassen. ùøRøN ist der Meinung, daß letzterer Aspekt im Werk von LEWIS von der türkischen Kritik u.a. deswegen so wenig beachtet worden ist, weil letzterer in den türkischarmenischen Polemiken der vergangenen dreißig Jahre stets die türkische Seite vertreten hat und man ihm diese Geste bis heute zugute hält. ùøRøNs eigenes Buch zielt nun darauf hin, die Ansichten von Osmanen, die sich zu dem Europa-Thema schriftlich geäußert haben, in einen historischen Zusammenhang mit der Situation heutiger türkischer Intellektueller zu setzen. Nach Ansicht ùøRøNs wissen Letztere zwar nicht, ob sie jemals in Europa „ankommen“ werden und ob sie dieses überhaupt beabsichtigen. Aber der Verfasser ist sich auch darüber klar, daß es von dem Punkt, an dem man sich im türkischen intellektuellen Leben heute befindet, keinen Weg zurück in die angebliche Sicherheit der osmanischen Kultur etwa des XVI. Jahrhunderts geben kann. Sein Buch soll also auch als eine Polemik gegen laudationes temporis acti und „Integrismus“ gelesen werden. øbrahim ùøRøN hat, was die osmanische Sicht auf Europa betrifft, eine Periodisierung vorgeschlagen. Dabei ist es sein besonderes Verdienst, daß er osmanische Vorstellungen von Europa und europäische Vorstellungen von den Osmanen zueinander in Beziehung setzt. Auch kann man seinem Argument nur zustimmen, daß selbst innerhalb der relativ begrenzten Gruppe von Leuten, die im Osmanischen Reich Bücher verfaßt haben, die Meinungen über aus Europa eindringende Novitäten keineswegs einhellig –––––––––––––––– 6 7

ùøRøN, øbrahim: OsmanlÕ ømgelerinde Avrupa. Ankara 2006. ùøRøN, øbrahim: 2006, S. 18–26; er bezieht sich auf: LEWIS, Bernard: The Emergence of Modern Turkey. Oxford, 2. Auflage 1968.

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waren. Dabei unterscheidet ùøRøN zwischen Rechts- und Gottesgelehrten (ulema), die zumeist konservative Meinungen vertraten und „regulären“ Bürokraten, die es von ihrer schöngeistigen Bildung her leichter hatten, sich für Neuerungen zu interessieren, auch wenn diese aus dem nichtmuslimischen Bereich kamen. Allerdings wird, wenn ich das richtig sehe, diese Unterscheidung für das XIX. Jahrhundert zunehmend problematisch, da nämlich der Umbau des osmanischen Staatsapparats in der Epoche der sogenannten Tanzimat sehr wohl die Unterstützung auch von einer Anzahl hochrangiger ulema genoß.8 Was nun die Periodisierung anbelangt, so unterscheidet ùøRøN vier Epochen. In der Zeitspanne vor dem Frieden von Karlowitz (1699) gingen osmanische Autoren fraglos von der Überlegenheit der islamischen Welt aus. Dies änderte sich im beginnenden XVIII. Jahrhundert, als einige Verfasser zugaben, daß in manchen Bereichen die europäische Kultur sich auf gleicher Ebene mit der eigenen befand. Dem folgte die Epoche von 1730 bis 1839, in der nach Ansicht osmanischer Beobachter Europa in vieler Hinsicht „eine Nasenlänge voraus“ war. Das vierte Stadium war dann die Zeitspanne von 1839 bis zum Ende des Osmanenreichs 1922, in der sich die Osmanen im allgemeinen Europa unterlegen fühlten.9 Diesen Perioden entsprechen nach ùøRøNs Meinung verschiedene Weltsichten, die man auch in Europa vorfindet. In der „ältesten“ (osmanisch: kadim) Epoche kann man sogar von Zeitgleichheit sprechen, zumindest was das XV. und vielfach auch das XVI. Jahrhundert betraf, da jeweils die Religion, egal ob nun Christentum oder Islam, den Grund für die Geringschätzung des jeweils „Anderen“ bildete. Aber im Europa des XVI. Jahrhunderts kristallisierte sich eine Weltsicht heraus, die ùøRøN mit dem Ausdruck „der Renaissance gemäß“ umschreibt; auf der europäischen Seite wurde in diesem Rahmen das Osmanische Reich als zumindest in militärischen, politischen und auch juridischen Bereichen als überlegen eingestuft. So dachten insbesondere diejenigen Autoren, die, wie etwa der Gesandte Ferdinands I, Ogier Ghiselin de Busbecq, den absolutistischen Herrscher als Idealbild und den Sultan als eine Verkörperung dieses Ideals ansahen.10 Diese „der Renaissance gemäße“ Weltsicht fand sich im osmanischen Bereich im XVIII. und frühen XIX. Jahrhundert wieder. –––––––––––––––– 8

NEUMANN, Christoph: Das indirekte Argument: Ein Plädoyer für die Tanzîmat vermittels der Historie; Die geschichtliche Bedeutung von Ahmed Cevdet Paúas Ta'rƯh. Münster, Hamburg 1994. 9 ùøRøN, øbrahim: 2006, S. 356–357. 10 BUSBEQUIUS, Augerius Gislenius: Legationis turcicae epistolae quatuor, hg. von MARTELS von, Zweder, ins Niederländische übs. von GOLDSTEEN, Michel: Hilversum 1994, S. 102–103.

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Was nun die modernistische Sichtweise anbelangt, so setzte sie in Europa in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts ein. Dabei brachte der beginnende „Orientalismus“, wie in den letzten zwanzig Jahren öfters aufgezeigt, jene von SAID dargestellte, kolonialistisch eingefärbte Geringschätzung der islamischen Welt mit sich. Bei den Osmanen erfolgte der Übergang zur Modernität unter sehr verschiedenen Vorzeichen erst um etwa 1839, wobei übrigens bis zum Untergang des Reiches Elemente der „Weltsicht der Renaissance“ bei vielen Autoren immer wieder auftauchten. Zwar habe ich gewisse Vorbehalte gegenüber der von ùøRøN vorgeschlagenen Chronologie. So bin ich mir nicht sicher, ob man einige wenige Personen wie den Gesandten und Autor Yirmisekiz Mehmed efendi (um 1670–1732) oder auch den damaligen Großwesir Damad øbrahim Paúa (um 1662–1730) wirklich als für ein ganzes Zeitalter charakteristisch ansehen sollte. Ich würde vielmehr meinen, daß man diese Epoche, die wir oft zu verklären geneigt sind, eher mit den vorhergehenden Jahrhunderten zusammensehen sollte. In diesem Sinne kann man auch darüber streiten, ob das Nachdenken über die Niederlage von 1774 in der osmanischen Sicht auf Europa nicht einen größeren Stellenwert hatte als die begrenzten Ansätze in der höfischen Kultur zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts. All das wäre näher zu untersuchen. Aber trotz dieser Probleme hat ùøRøNs Diskussion den großen Vorteil, daß hier europäische und osmanische Weltsichten miteinander in Beziehung gesetzt und mit den gleichen Kategorien analysiert werden. Der Autor hat es damit geschafft, von der zählebigen Vorstellung weg zu kommen, die beiden seien inkommensurabel; und das ist eine Umstellung, die auch meiner Meinung nach seit langem fällig und überfällig ist.

Zielsetzungen Das alles sind weitgespannte Themen, die viel ausführlicher diskutiert werden müßten, als es im Rahmen dieses kurzen Textes möglich ist. Die vorliegende Untersuchung setzt sich deshalb sehr viel bescheidenere Ziele. Wir werden versuchen, aus den Texten des XVIII. Jahrhunderts, insbesondere aus solchen, die dessen mittleren und späteren Jahren entstammen, jene Beobachtungen osmanischer Gesandter herauszufiltern und zu analysieren, die sich auf die materiellen Errungenschaften, denen sie in Europa begegneten, sowie die dazu gehörigen institutionellen Rahmenbedingungen beziehen. Dazu ist in der vorhandenen Literatur schon einiges geleistet worden; aber es gibt noch immer viel zu tun. Vollständigkeit soll nicht angestrebt werden; sie ist im Rahmen eines Artikels auch gar nicht möglich.

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Im Vergleich zu den materiellen und organisatorischen Aspekten werden wir die „Werte“ expressis verbis nur sehr wenig ansprechen, auch wenn sie im Hintergrund der Darstellung durchaus präsent sind. Dies hat zunächst einmal den Grund, daß osmanische Gesandte viel häufiger von technischen bzw. organisatorischen Errungenschaften sprechen, als von den immateriellen Dingen, die man heute als „Werte“ bezeichnet. Schließlich waren die Gesandten, um deren Schriften es hier geht, nicht auf der Suche nach neuen Werten, sondern zunächst nach Dingen, die dazu beitragen sollten, das Leben des Sultanshofes und der osmanischen herrschenden Schicht angenehmer und vielfältiger zu gestalten. Der Bericht des Yirmisekiz Mehmed efendi ist ein gutes Beispiel für solche Zielsetzungen. Seit der Mitte des XVIII. Jahrhunderts verschiebt sich dagegen der Akzent: die Botschafter berichten nun meistens, wenn auch nicht ausschließlich, von Neuerungen im technischen und organisatorischen Bereich, die vielleicht für das Überleben des Reiches von Bedeutung sein können. Wir werden sehen, daß sie dabei auf einige Werte stießen, die sie für akzeptabel hielten; allerdings galt der gesellschaftliche Gesamtkontext in Europa – also einschließlich dessen, was wir unter „Werten“ verstehen – oft als eher unerfreulich. Es gibt auch noch einen anderen Grund, warum ich eine „Wertediskussion“ z. Zt. für verfrüht halte. Weil der Begriff „Werte“ in den Primärquellen nicht vorkommt, kann die Diskussion nur im engen Zusammenhang mit der Sekundärliteratur geführt werden; diese aber beruht nach wie vor auf einer sehr kleinen und vielleicht nicht einmal repräsentativen Auswahl von Texten. Da aber ein Fortschritt in diesen Forschungen nur durch die Ausweitung der Quellenbasis zu erreichen ist, erscheint es klüger, die „Wertediskussion“ auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Bevor wir mit der Erörterung der Gesandtschaftsberichte im Detail beginnen, muß allerdings etwas über den sozialen und politischen Hintergrund und in diesem Zusammenhang auch über die Schreibkonventionen berichtet werden, welche die Autoren osmanischer Berichte über die europäische Außenwelt von ihren jeweiligen Vorgängern übernommen hatten. Denn gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts existierte bereits ein solches „standardisiertes“ Format, das in den Jahren um 1720 von Yirmisekiz Mehmed efendi und seinen Kollegen entwickelt worden war. Es müßte näher untersucht werden, welche Autoren nach etwa 1750 begannen, den Bericht Mehmed efendis als ein literarisches Muster zu betrachten, dem sie folgen konnten. Nach 1790 allerdings, unter stark veränderten politischen Rahmenbedingungen, erschienen diese Erzählkonventionen jedoch nur noch von begrenzter Anwendbarkeit. Als ältester Gesandtschaftsbericht gilt ein Text, von einem sonst nicht näher bekannten Taceddin verfaßt, der in der Regierungszeit Mehmeds II.

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(r. 1451–1481) am Akkoyunlu-Hofe Uzun Hasans gewesen ist. Sehr viel jünger ist der Bericht eines gewissen Hidayet Çavuú, der als erster von einem europäischen Herrscher, nämlich vom Kaiserhof Ferdinands I. (1503–1564) berichtet hatte.11 Nach dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse folgt auf diesen Bericht jedoch eine große Lücke. Denn der nächste Text, der uns überliefert ist, berichtet in knapper Form über den Besuch Kara Mehmed Paúas in Wien im Jahre 1665. Die dürren Worte des Autors, der wahrscheinlich mit dem Gesandten selbst identisch ist, ergänzt der Bericht des osmanischen Reisenden Evliya Çelebi, der seinerzeit am Hofe Murads IV. (r. 1623–1640) als Page gedient hatte. Nach Ausweis nicht nur seines eigenen Berichts sondern auch aufgrund eines habsburgischen Archivdokuments ist bekannt, daß Evliya im Gefolge Mehmed Paúas den Kaiserhof wirklich besucht hat. Obschon kein eigentlicher Gesandtschaftsbericht und überdies bis ins XIX. Jahrhundert hinein weitgehend unbekannt, ist die Darstellung Evliyas wegen des lebendigen Interesses, das der Verfasser der materiellen und in gewissem Maße auch der weltlich-intellektuellen Kultur Wiens entgegenbrachte, in gewissem Sinn ein Vorläufer der hier zu behandelnden Berichte aus dem XVIII. Jahrhundert.12 So sehen zumindest wir Heutigen eine intellektuelle Verbindung, obwohl das auf die Zeitgenossen kaum zugetroffen haben dürfte. Allerdings muß gleich eine Einschränkung angefügt werden: Evliya versuchte, seine Reiseabenteuer in einer Form darzustellen, wie sie auch bei mündlichen Erzählern (meddah) geläufig war. Manche Beschreibungen von Personen wie von Dingen dürften demgemäß neben deren realer physischer Erscheinung auch den Erzählkonventionen der meddahs geschuldet sein. In diese Kategorie fällt etwa die Beschreibung des edelsteingeschmückten Kaiserthrones, oder genau genommen der verschiedenen Thronsessel, die Evliya in der Wiener Burg gesehen haben will.13 Ausflüge ins Wunderbare sind bei Evliya nicht selten. Aber oft gehen sie von wirklich beobachteten Phänomenen aus, die er detailreich beschreibt und dann mit viel Phantasie überhöht. So will der Autor unter den Wiener „Lüftlmalereien“, die er sicherlich an vielen Häusern vorgefunden hat und über deren Naturnähe er sich anerkennend äußert, eine Darstellung der von den Habsburgern verlorenen Schlacht von Párkány (1663) sowie der osmanischen Niederlage von St. Gotthard/Raab im folgenden Jahre gesehen haben. In diesem Zusammenhang kommentiert Evliya auch, daß in –––––––––––––––– 11 KARAMUK, Gümeç: 1975, S. 121–123. Die Autorin stützt sich auf die bisher einzige – wenn auch inzwischen etwas veraltete – bibliographische Zusammenstellung osmanischer Gesandtschaftsberichte: UNAT, Faik Reúat: OsmanlÕ Sefirleri ve Sefaretnâmeleri, vervollständigt und hg. von BAYKAL, Bekir SÕtkÕ: Ankara 1968. 12 [EVLøYA ÇELEBø]: 1987, S. 232–233. 13 Z. B. [EVLøYA ÇELEBø]: 1987, S. 208–209.

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diesen öffentlich gezeigten Bildern der Kaiser in seiner ganzen „kamellippigen“ Häßlichkeit abgebildet sei und daß dieser die Naturnähe der Darstellung überdies durch eine dem Maler gewährte Pension honoriert habe. Auch sonst meint Evliya, daß „in allen ihren Geschichtswerken“ Siege und Niederlagen der Habsburger getreulich, also ohne Beschönigung, zu lesen seien.14 Auch technisches Interesse war Evliya nicht fremd: So beschrieb er kurz die Maschine, die in der habsburgischen Prägestätte die Taler ausstanzte und gleichzeitig mit einer Prägung versah; der Verfasser meinte, es könnten an dieser Maschine pro Tag problemlos „fünfzigtausend“ Piaster/Taler gemünzt werden. Und auf der alleralltäglichsten Ebene erregte der drehbare Barbierstuhl, der dem Handwerker das allseitige Schneiden erlaubte, ohne daß dieser sich hätte von seinem Platze rühren müssen, das Interesse des Reisenden. Was die Berührungsfläche zwischen materieller Kultur und musikalischer Darbietung anbelangte, so war Evliyas Beschreibung der Orgel bemerkenswert; er kommentierte, daß sie sich zwar einerseits süß und bewegend, andererseits aber auch wie das Brausen des Antichrist anhörte. Doch wurde dies keineswegs irgendwelchen überirdischen Kräften zugeschrieben, sondern es war, wie Evliya ausdrücklich betonte, das Ergebnis einer mit kluger Erfindungsgabe zusammengestellten Kombination von geeigneten Pfeifen.

An der Grenze Zwischen Mehmed Paúas bzw. Evliyas Reise und den nächsten Besuchen bei auswärtigen Höfen, von denen Berichte von Gesandten des Sultans überliefert sind, liegt wiederum eine längere Zeitspanne, nämlich über ein halbes Jahrhundert. Dazwischen hatte ein osmanischer Großwesir noch einmal den Versuch gemacht, Wien zu erobern (1683), und in dem nachfolgenden für die Osmanen unglücklichen Krieg ging Ungarn an die Habsburger verloren. Die neue Situation wurde im Frieden von Karlowitz offiziell bestätigt (1699). Bislang sind leider keine Berichte des osmanischen Beauftragten gefunden worden, der zur praktischen Umsetzung dieses Friedensschlusses zusammen mit dem aus Bologna stammenden gelehrten habsburgischen General Luigi Fernando Marsigli die neue Grenze abgeschritten ist.15 Dafür existiert ein Bericht des Ebu Sehil Nu‫ޏ‬man efendi über die Grenzziehung von 1740–41, als im Belgrader Frieden (1739) die Habsbur–––––––––––––––– 14 [EVLøYA ÇELEBø]: 1987, S. 240–241. 15 STOYE, John: Marsigli’s Europe. New Haven, London 1994, S. 168–215.

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ger Belgrad an das Osmanische Reich zurückgeben mußten.16 Laut Vertrag sollte der Verlauf von Donau und Save nun die Grenze zwischen den beiden Reichen bilden. Dabei stellten allerdings die zahlreichen Inseln innerhalb dieser Flüsse ein großes Vermessungsproblem dar: diese sollten nämlich jeweils demjenigen Reiche gehören, dem sie, geographisch gesehen, am nächsten lagen. Außerdem war Rücksicht darauf zu nehmen, daß beide Seiten auf der Donau Kähne benützten, die flussaufwärts getreidelt werden mußten; nicht überall waren aber beide Ufer für Treidelpfade geeignet. Darüber hinaus mußte Vorsorge dafür getroffen werden, daß die Schiffe beider Seiten überwintern konnten, wenn, wie es öfter geschah, die Donau zufror. Es war also eine Aufgabe der Vermessungstechnik wie auch der Diplomatie, hier Lösungen zu finden, die für beide Herrscher akzeptabel waren. Der Bericht des Nu‫ޏ‬man efendi ist insofern etwas Besonderes, als der Verfasser trotz seiner Ausbildung als Rechts- und Gottesgelehrter und seiner Anwartschaft auf eine entsprechende Professur an einer hohen Schule (medrese) bedeutende Kenntnisse in der Landvermessung mitbrachte und dazu noch großes technisches Geschick besaß. Außerdem scherte er sich viel weniger um die Konventionen der Höflichkeit unter osmanischen Amtsträgern, als das sonst üblich war. So erfährt der Leser recht viel über die Spannungen innerhalb der osmanischen Kommission und auch über die Mittel, mit denen habsburgische Amtsträger wie auch diejenigen des Sultans versuchten, sich gegenseitig einander „auszutricksen“. Für unsere Zwecke ist interessant, daß Nu‫ޏ‬man efendi ausführlich über die Landvermessungsgeräte berichtet, welche die Österreicher benutzten und die der Autor für besser hielt, als diejenigen, die seiner eigenen Kommission zur Verfügung standen. Nachdem er diese Geräte, die von den Österreichern offenbar geheim gehalten wurden, in Holz notdürftig nachgebaut hatte, wurde er zwar von Mitgliedern der Gegenseite kräftig ausgelacht.17 Er aber wehrte sich mit dem Hinweis darauf, daß er die Geometrie und Landvermessung aus den Büchern islamischer Autoren erlernt hatte und forderte die habsburgischen Spezialisten auf, ihre Kenntnisse mit den seinigen zu messen. Auch hat Nu‫ޏ‬man efendi ebenso wie sein Vorgänger Evliya die Beschreibung einer Orgel hinterlassen, die der letztgenannte Verfasser in –––––––––––––––– 16 [NU‫ޏ‬MÂN EFENDø, Ebû Sehil]: Molla und Diplomat, Der Bericht des Ebû Sehil Nuҵmân Efendi über die österreichisch-osmanische Grenzziehung nach dem Belgrader Frieden 1740/41, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von PROKOSCH, Erich: Graz, Wien, Köln 1972; NUM’ÂN EFENDø, Ebû Sehl: Tedbîrât-Õ Pesendîde (Be÷enilmiú Tedbirler), hg. von SAVAù, Ali øbrahim: Ankara 1999. 17 PROKOSCH (1972, S. 215) kommentiert, daß nicht die Geräte geheimgehalten wurden, sondern nur die damit angefertigten Karten.

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Sibiu in einer evangelischen Kirche gesehen hatte. Allerdings spricht der jüngere Autor etwas ausführlicher über die Pfeifen und auch über das technische Beiwerk, als es sein Vorgänger getan hatte. Insgesamt verdient Nu‫ޏ‬man efendis Werk mehr Aufmerksamkeit, als es bisher erhalten hat, schon deshalb, weil es deutlich zeigt, daß keineswegs alle Religionsgelehrten so konservativ dachten, wie øbrahim ùøRøN und viele andere Kollegen gemeint haben und immer noch meinen.

Die Aufwertung der Diplomatie im frühen XVIII. Jahrhundert und der Aufschwung des Gesandtschaftsberichts Trotz einzelner Erfolge wie eben der Rückgewinnung von Belgrad scheint die Erkenntnis, daß in Konflikten mit den Nachbarn militärische Siege keineswegs mehr garantiert werden konnten, seit Beginn des XVIII. Jahrhunderts in Istanbuler Regierungskreisen zu einer Aufwertung der Diplomatie geführt zu haben. Das berühmteste Beispiel dafür ist zweifellos die Gesandtschaft des Yirmisekiz Mehmed efendi, der 1720 den französischen Hof in Versailles besuchte, dort einiges Aufsehen erregte und über seine Erlebnisse einen Bericht schrieb, in denen Besonderheiten der französischen höfischen Kultur einschließlich der Gärten von Versailles herausgestellt wurden.18 Aber auch nach Iran wurde damals ein Gesandter namens Dürri Ahmed efendi ausgeschickt, der sich durch gute Persisch- und sonstige Landeskenntnisse auszeichnete.19 Dieser berichtete relativ ausführlich über den iranischen Hof – wobei sich Kritik an der „verfehlten Politik“ von Schah Soltan Husayn und Bewunderung für persische Musik und Dichtung in etwa die Waage hielten. Auch einige Berichte über Textilgewerbe, Festungen und deren Ausstattung sowie die angeblichen Sympathien der sunnitischen Untertanen des Schahs für den Osmanensultan, mit anderen Worten Beobachtungen zu „Land und Leuten“, fehlten in Dürri Ahmeds Bericht durchaus nicht. Jedenfalls zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts war also der Blick des osmanischen Hofes keineswegs nur auf den Westen –––––––––––––––– 18 MEHMED EFENDø: Le paradis des infidèles. Un ambassadeur ottoman en France sous la Régence, with an introduction by VEINSTEIN, Gilles: Paris 1981; GÖÇEK, Fatma Müge: East Encounters West, France and the Ottoman Empire in the Eighteenth Century. New York, Oxford, Washington 1987; TopkapÕ à Versailles, Trésors de la Cour ottomane, l'album de l'exposition. Musée National des Châteaux de Versailles et de Trianon, 4 mai – 15 août 1999. Paris 1999, S. 316–334. 19 FAROQHI, Suraiya: Der osmanische Blick nach Osten: Dürrî Ahmed Efendi über den Zerfall des Safawidenreichs 1720–21, in: ROHRSCHNEIDER, Michael & STROHMEYER, Arno (Hg.): Wahrnehmungen des Fremden, Differenzerfahrungen von Diplomaten in Europa (1500–1648). Münster 2007, S. 375–398.

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fixiert. Man könnte vermuten, daß manche osmanischen Amtsträger erkannt hatten, daß der Wienfeldzug Kara Mustafa Paúas (1683) schlecht bzw. überhaupt nicht diplomatisch vorbereitet worden war und daß es nun galt, solche Fehler mit Hilfe weitgespannter Gesandtschaftsnetzwerke in Zukunft zu vermeiden.20 In dieser Phase konzentrierte sich das osmanische Interesse auf die zeremoniellen Aspekte des jeweiligen Besuchs: Zur Enttäuschung des kulturgeschichtlich interessierten heutigen Lesers liegt deswegen der Akzent oft sehr stark auf protokollarischen Fragen. Betrachtet man jedoch die Angelegenheit pragmatisch, also von dem Zweck aus, dem solche Berichte für Verfasser wie Adressaten dienen sollten, dann erkannt man, wie wichtig die protokollarischen Probleme seinerzeit gewesen sind. Denn wer wann, wie und unter welchen Bedingungen bei diesem oder jenem Herrscher vorgelassen wurde, konnte als ein Indiz dafür dienen, wie wichtig der betreffende Gesandte/Geschäftsträger von dem empfangenden Hof genommen wurde.21 Andererseits wurde aber das Können des Ausgesandten daheim besonders daran gemessen, ob er seinem Sultan oder König „den gebührenden Respekt“ hatte verschaffen können. Zur gleichen Zeit war es für einen osmanischen Amtsträger wichtig, sich den Sultan und Großwesir geneigt zu machen. Ganz gleich, was der Schreibende selbst denken mochte, die Vorlieben und Abneigungen des Hofes bestimmten in erheblichem Maße, was beschrieben bzw. nicht beschrieben wurde. Außerdem waren die finanziellen Mittel oftmals knapp bemessen, und so erklärt sich, warum manche Autoren von Gesandtschaftsberichten des XVIII. Jahrhunderts ausführlich darüber berichteten, wie sie mit den Wertgegenständen verfahren waren, die sie zu Repräsentationszwecken aus Istanbul mitbekommen hatten und die sie nach der Rückkehr wieder einhändigen mußten.22 Auch muß man in Rechnung stellen, daß die Gesandtschaftsberichte keine „geheime Verschlußsache“ waren. Oft wurden sie schon einige Jahre nach Abfassung den offiziellen Chronisten zur Verfügung gestellt, die sie als Zitate in ihre Werke inserierten. Deshalb wäre es kaum angemessen gewesen, die arcana imperii im Detail zu diskutieren; dafür gab es die mündliche Berichterstattung.23 Allerdings existierte in dieser Frage durch–––––––––––––––– 20 AKSAN, Virginia: Ottoman Sources on Europe in the Eighteenth Century, in: Archivum Ottomanicum, 11 (1986–88), S. 5–16. 21 ROOSEN, William: Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: The Journal of Modern History, 52 (1980) 3, S. 452–476. 22 Dabei ging es auch um die Verwaltung „immaterieller Güter“. Oft wurde nämlich für die Dauer der Reise eine Beförderung ausgesprochen, die bei der Rückkehr hinfällig wurde. Wahrscheinlich wollten die meisten Gesandten diese ihre „provisorischen“ Ränge auch weiterhin behalten. 23 KARAMUK, Gümeç: 1975, S. 126–127.

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aus ein gewisser Ermessensspielraum, und Dürri Ahmed efendi führte etwa, was diplomatische Fragen anbelangte, eine offenere Sprache als viele seiner Kollegen.

Besuche in Rußland Der Kalte Krieg hat, wie in vielen anderen Bereichen, unsere Perspektiven auch in der osmanischen Geschichte verengt. So vergessen wir leicht, daß für die Sultane und Wesire des XVIII. Jahrhunderts das Zarenreich ein relativ „neuer“ Gegner war, der deswegen mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als etwa England oder Frankreich, mit denen es noch keine territorialen Verwicklungen gab. In osmanischen Regierungskreisen hatte man damals relativ wenige Erfahrungen mit den Stärken und Schwächen des Zarenreichs. Hatten doch im XVI. Jahrhundert die Sultane, obwohl sie größere Pläne zeitweilig durchaus gehegt hatten, nur eine einzige Kampagne und keineswegs einen „großen“ Krieg geführt, um die Zaren an der Annexion von Astrachan zu hindern.24 Auch im XVII. Jahrhundert waren die militärischen Konfrontationen noch relativ begrenzt.25 Doch war man in Istanbul, wegen der eher unglücklichen Schwarzmeerpolitik Peters des Großen, im mittleren XVIII. Jahrhundert eher geneigt, die militärische Potenz Rußlands zu unterschätzen; darauf folgte im Krieg von 1768–1774 ein böses Erwachen. Trotzdem gehörte der russische Hof, nunmehr im europäisch-barocken St. Petersburg residierend, zu den von osmanischen Gesandten dieses Jahrhunderts am häufigsten aufgesuchten Zielorten.26 Man würde erwarten, daß der Absolutismus der Zaren bei den osmanischen Botschaftern „gut ankam“, da diese ja auch in einem Milieu lebten, in dem die Allmacht des Sultans zumindest postuliert wurde, wenn auch die Wirklichkeit oft anders aussah. Wenn allerdings Christoph NEUMANN Recht hat, dann war für osmanische Beobachter ein System wie das von den Zaren aufgebaute, in dem Klientelbeziehungen keine (oder genauer gesagt: keine dem Außenstehenden leicht sichtbare) Rolle spielten und alles zumindest angeblich strikt nach bürokratischen Vorschriften ablief, –––––––––––––––– 24 KURAT, Akdes Nimet: Türkler ve ødil boyu (1569 Astarhan seferi, Ten-ødil kanalÕ ve XVI.–XVII. yüzyÕl OsmanlÕ-Rus münasebetleri). Ankara 1966. 25 Eickhoff, Ekkehard: Venedig, Wien und die Osmanen, Umbruch in Südosteuropa 1645–1700. Stuttgart, 2. Auflage 1988, S. 290–304. 26 NEUMANN, Christoph: The Russian Experience: Necati Efendi in Captivity. Unveröffentlichtes Manuskript; ich danke dem Autor dafür, daß er mir diese Arbeit zugänglich gemacht hat.

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kaum nachzuvollziehen.27 Die Dinge wurden dadurch noch erschwert, daß während des XVIII. Jahrhunderts der russische Verwaltungsapparat rapide ausgebaut wurde. Deshalb waren Praktiken, die bei einem früheren Besuch gültig gewesen waren, zu der Zeit, als der nächste osmanische Gesandte erschien, u. U. bereits abrogiert, was für einen an Präzedenzfällen orientierten osmanischen Diplomaten wie ùehdi Osman (in St. Petersburg 1757) häufig zu Reibungen führte.28 Überdies war die Bürokratie des Zaren selbst daran interessiert, Gesandte des Sultans in eine möglichst ungünstige Position zu manövrieren. Da zu alledem die Vorschrift der Kapitulationen, daß nämlich osmanische Gefangene aus dem letzten Krieg, die sich nicht hatten taufen lassen, in die Heimat zurück zu schicken wären, von der russischen Seite ganz offensichtlich unterlaufen wurde, war das diplomatische Debakel perfekt. Diese Situation war einem Bericht über materielle Kultur ebenso wenig günstig wie der hochosmanische Schreibstil ùehdi Osmans mit seiner für sachliche Beschreibungen nicht eben dienlichen Rhetorik. Trotzdem lassen sich aus dem Bericht des Botschafters einige wenige Angaben herausfiltern. So berichtete er, daß die Zarin den normalerweise 360-Stunden langen Weg von St. Petersburg nach Kiew in acht Tagen zurückgelegt hätte, weil vorher alles so gründlich vorbereitet worden wäre, daß in minimaler Zeit die Pferde gewechselt und alle Bedürfnisse der Reisegesellschaft hätten befriedigt werden können. Das war also eine organisatorische und keine im engeren Sinn technische Leistung, auf welche die Russen nach Aussage des Gesandten recht stolz waren.29 Aber ùehdi Osman berichtete auch über die Waffenfabrik in Tula, in die er kurz vor seiner Abreise noch geführt worden war.30 Der Botschafter notierte, daß in dieser Fabrik die Gewehre für 150.000 Soldaten hergestellt werden konnten und daß sämtliches Räderwerk sowie Sägen und Hammer mit Wasserkraft betrieben würden, so daß nur die Schmiedearbeit „von Hand“ zu machen war. Auch kommentierte er, daß die Geräte ähnlich wie eine Wassermühle funktionierten. Schließlich bekam ùehdi Osman sogar einige Gewehre und Pistolen als Muster der „neuen Kunstfertigkeit“ (sanayi-i cedide) mit auf die Reise.

–––––––––––––––– 27 NEUMANN, Christoph: The Russian Experience. 28 [ùEHDÎ OSMAN]: ùehdî Osman Efendi Sefaretnamesi, hg. von UNAT, Faik Reúat: Tarih VesikalarÕ I (1941–42) 1, S. 66–80; 2, S. 156–159; 3, S. 232–240; 4, S. 303– 320; 5, S. 390–400. 29 [ùEHDÎ OSMAN]: hg. von UNAT, Faik Reúat: (1941–42) 1, S. 76. 30 EBD.: 5, S. 391.

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Berichte über Frankreich und den deutschsprachigen Raum Trotz der eben geschilderten Fälle wurden insgesamt Beschreibungen von Erzeugnissen der materiellen Kultur erst in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts sowie zu Beginn des XIX. zu einem wirklich zentralen Anliegen osmanischer Gesandter. Als ein schönes Beispiel könnte man die beiden Berichte von Ahmed Resmi (1700–1783) über seine Reisen nach Wien und Berlin anführen.31 Der erste Bericht beschreibt eine Gesandtschaft, die dem habsburgischen Hof die Nachricht von der Thronbesteigung Sultan Mustafas III. (r. 1757–1774) überbringen sollte. Hier berichtet der Autor zwar am liebsten über die Orte, die sich zwar in Grenznähe befanden, aber noch zum osmanischen Territorium gehörten. Aber als er 1763 nach Berlin geschickt wurde, hatte sich seine Perspektive erheblich gewandelt, und dies wollen wir am Beispiel seiner Darstellung von Handel und Verkehr erörtern. Der Handel im nördlichen Europa war ein Thema, zu dem auch weitgereiste Osmanen sehr wenig Information hatten. Für das mittlere XVII. Jahrhundert zeugen davon die kuriosen Erfindungen, die Evliya Çelebi zu diesem Thema aus der Feder geflossen sind.32 Ahmed Resmi machte sich deshalb daran, seinen Lesern nicht nur zur Geographie sondern auch zu den Handelswegen einiges Wissenswerte mitzuteilen. So hören wir etwas über die Bedeutung der Weichsel als Verbindungsweg zwischen Krakau, Warschau und Gdansk sowie über die Bedeutung dieser letztgenannten Hafenstadt für die Ernährung Europas; auch Amsterdam und Hamburg wurden im Zusammenhang mit dem nordeuropäischen Getreidehandel erwähnt.33 Spree und Oder wurden ebenfalls als Handelswege gewürdigt; diese Form des Binnenhandels war für den osmanischen Leser sicherlich auch deswegen bemerkenswert, weil es im Reich der Sultane eigentlich nur auf dem Nil und der Donau sowie – mit Einschränkungen – dem Euphrat und Tigris eine Flußschiffahrt gab. In diesem Zusammenhang nannte Ahmed Resmi die auf nordeuropäischen Flüssen zirkulierenden Schiffstypen bei ihren osmanischen Namen und betonte, daß die – relativ – große Sicherheit vor Raubgesindel es diesen langsamen Schiffen ermöglichte, die nötigen –––––––––––––––– 31 [AHMET RESMø]: Ahmet Resmi Efendi’nin Viyana ve Berlin Sefaretnâmeleri, ins moderne Türkische übersetzt von ATSIZ, Bedriye: østanbul 1980; AKSAN, Virginia: An Ottoman Statesman in War and Peace, Ahmed Resmi Efendi, 1700–1783. Leiden 1995. 32 Vgl. dazu FAROQHI, Suraiya: The Ottoman Empire and the World Around it, 1540s to 1774. London 2004, S. 204–206. 33 [AHMET RESMø]: übs. von ATSIZ, Bedriye: 1980, S. 48–51.

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Rohstoffe manchmal bis vor die Tore der Werkstätten zu bringen, die sie jeweils bearbeiten sollten. Auch bei der Beschreibung Berlins spielte die Binnenschiffahrt eine Rolle, wobei Ahmed Resmi deutlich machte, daß die Voraussetzung dafür die seit Beginn des XVIII. Jahrhunderts erfolgte Kanalisierung der Flüsse gewesen war.34 Allerdings meinte der Gesandte, daß wegen des Unglaubens der Bewohner auf ihrem Fleiß und auch auf ihrer Rechtlichkeit in Handelsdingen kein rechter Segen läge; als Beleg führte er die vielen Armen an, die ihm im Laufe seiner Reisen begegnet waren. Gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts begann Sultan Selim III. (r. 1789–1807), der den osmanischen Thron erst vor kurzem bestiegen hatte, ein ganz neues Projekt: Er schickte nämlich eine Reihe von Leuten aus seinem Umfeld als Gesandte in europäische Hauptstädte aus, die Informationen über Institutionen sammeln sollten, die sich eventuell auch für das Osmanische Reich als nützlich erweisen könnten.35 Ein wegen seines großen Umfangs immer noch zum größten Teil ungedrucktes Manuskript verdanken wir Ebubekir Ratib efendi (1749–1799), der vor allem militärische, aber auch auf den Handel bezügliche Informationen in Wien gesammelt hat.36 Außerdem hat dieser Amtsträger aber auch einen kürzeren Gesandtschaftsbericht verfaßt, der vor einigen Jahren publiziert wurde.37 Während seiner Tätigkeit in Wien, die im Jahre 1792 nur wenige Monate andauerte, konnte Ebubekir Ratib auf gut informierte osmanische wie auch auf habsburgische Gehilfen zurückgreifen: dazu gehörte der bekannte Schriftsteller und Diplomat Mouradjea d’Ohsson, der als Dragoman der schwedischen Botschaft in Istanbul den osmanischen Verwaltungsapparat des späten XVIII. Jahrhunderts recht genau kannte. Offensichtlich hatte Ebubekir Ratib efendi beabsichtigt, daß sein Bericht direkt in praktische Maßnahmen umgesetzt werden sollte, insbesondere was die Ausbildung der Militärs betraf, über die er in seinem großen Werk aufgrund zahlreicher österreichischer Quellen eingehend berichtete. Deshalb hatte er die entsprechenden Institutionen nach Möglichkeit auch selbst in Augenschein genommen. Zu einer praktischen Auswertung ist es allerdings nicht gekommen, z. T. wegen der Opposition der Janitscharen, aber z. T. auch wegen der dauernden Rivalitäten zwischen den Beratern –––––––––––––––– 34 Ebd.: S. 56–59. 35 Im selben Zusammenhang wurde Ahmed Azmi nach Berlin geschickt; vgl. Fn 1. 36 FINDLEY, Carter: Ebu Bekir Ratib’s Vienna Embassy Narrative: Discovering Austria or Propagandizing Reform in Istanbul?, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, LXXXV (1995), S. 41–80. 37 [EBUBEKøR RATøB]: Ebubekir Ratib Efendi’nin Nemçe Sefaretnamesi, hg. von UÇMAN, Abdullah: østanbul 1999. Leider ist die einschlägige Dissertation von Sema ARIKAN noch immer nicht als Buch erschienen.

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Selims III. selbst; diese Intrigen sollten nach dreijähriger Verbannung auf Rhodos dem Autor bereits im Jahre 1799 das Leben kosten.38 Ebubekir Ratib efendis technisch-praktische Interessen waren auf den militärischen und kommerziellen Bereich begrenzt; aus einer kurzen Beschreibung eines Naturalienkabinetts, das er in Pest-Budapest besucht hatte, läßt sich erschließen, daß ihm naturwissenschaftliche Probleme im engeren Sinn nicht besonders am Herzen lagen. Dafür galt sein Interesse in bemerkenswerter Weise den Kulturinstitutionen: So widmete er einen Abschnitt seines kürzeren Berichts der Ausbildung von zukünftigen Sekretären für den habsburgischen diplomatischen Dienst im Osmanischen Reich und äußerte sich anerkennend über das sprachliche Niveau der jungen Studenten.39 Unterwegs nach Wien machte er halt in Sibiu und danach im ehemals osmanischen, aber damals bereits habsburgischen Temeschwar; an beiden Orten besuchte er das Theater und verglich die Bühnenbilder der Oper mit ihren unverzichtbaren Kulissen mit den hayal genannten osmanischen Schattenspielen.40 Leider gibt uns der Autor keine Auskunft darüber, warum er diesen für die osmanische Praxis nicht unmittelbar relevanten Angaben relativ breiten Raum gab. Man könnte sich vorstellen, daß Selim III., der selbst ein bedeutender Komponist osmanischer Musik war, seinen Gesandten eigens nach Theatern, Akademien und Bibliotheken gefragt hatte. Allerdings entfaltete Ebubekir Ratib, der sich selbst für die europäischer Malerei interessierte, auf kulturellem Gebiet auch beträchtliche Eigeninitiative. So berichtete er, daß mehrere Adlige aus Pressburg/Bratislava ein Interesse an osmanischer Musik bekundet hätten; daraufhin hätte er Vorführungen auf dem saz genannten Saiteninstrument veranlaßt, das er vorsorglich mitgebracht hatte. Diese Konzerte hätten großen Anklang gefunden. Einige der Zuhörer hätten sich überdies damit revanchiert, daß sie ihrerseits die eigenen Musiker vorspielen ließen.41 Diese Aussagen waren sicher nicht unrealistisch, wenn man bedenkt, daß Ebubekir Ratibs Aufenthalt kurz nach der Uraufführung der Zauberflöte stattfand. Allerdings kannte man im Habsburgerreich eher die unter osmanischen Musikkennern als „grob“ geltende Janitscharenmusik und nicht die kammermusikalischen Darbietungen, mit denen Ebubekir Ratib seine Gesprächspartner bekannt machte. Es wäre schön, wenn man herausbekommen könnte, mit welchen Personen Ebubekir Ratib seine „kulturdi–––––––––––––––– 38 SHAW, Stanford J.: Between Old and New: The Ottoman Empire under Selim III, 1789–1807. Cambridge MA 1971, S. 371–372. 39 [EBUBEKøR RATøB]: hg. von UÇMAN, Abdullah: 1999, S. 92–93. 40 Ebd.: S. 60–62. 41 Ebd.: S. 78–79.

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plomatischen“ Beziehungen angeknüpft hat; vielleicht wird sich das eruieren lassen, wenn die Erforschung seines Werks weiter gediehen ist.

Die ersten ständigen Gesandtschaften Ganz am Ende des XVIII. Jahrhunderts machte Selim III. zum ersten Mal den Versuch, in vier europäische Hauptstädte Gesandte zu schicken, die nicht bloß kurzfristig eine bestimmte Angelegenheit regeln, sondern auf mehrere Jahre residieren sollten; ausgewählt wurden Paris, London, Wien und Berlin. Politisch gesehen, war das Experiment nicht besonders erfolgreich, zunächst wegen der schweren politischen Krise, in der sich das Osmanische Reich nach dem endgültigen Verlust der Krim (um 1781) und der napoleonischen Besetzung Ägyptens (1798–1801) befand, aber auch wegen der relativen Unerfahrenheit der ausgeschickten Diplomaten sowie den geringen finanziellen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen.42 Dabei handelte es sich z. T. um außerordentlich kluge und gebildete Persönlichkeiten. So war Aziz efendi, der nach Berlin geschickt worden war und dort 1798 starb, ein vorzüglicher Prosaschriftsteller, dessen Werk posthum, in der Mitte des XIX. Jahrhunderts, einen beträchtlichen Erfolg erlebte und heute als eine Frühform des osmanischen Romans angesehen wird.43 Leider hat Aziz efendi seine Erfahrungen als Gesandter in seinen literarischen Werken nicht thematisiert. In Paris befand sich in den ersten Jahren des XIX. Jahrhunderts in der Person des Abdürrahim Muhibb efendi ebenfalls ein als Religionsgelehrter ausgebildeter und systematisch denkender Mann als osmanischer Botschafter. Dieser hatte zudem reichlich Zeit, Erfahrungen zu sammeln, weil er von seiner eigenen Regierung wie von der Napoleons mehr oder weniger „vergessen“ wurde und deswegen von 1806–1811 in Paris mehr oder weniger sich selbst überlassen blieb. Abdürrahim efendi betrieb die Nachrichtensammlung nach Kriterien, die er selbst ausgearbeitet hatte und die ganz neuartig waren. Anders ausgedrückt entfernte er sich stärker, als seine Vorgänger es getan hatten, von dem für Gesandtschaftsberichte aus Europa zu dieser Zeit offenbar als kanonisch geltenden Muster des Yirmisekiz Mehmed efendi (um 1720). So ließ Abdürrahim Muhibb efendi den sonst üblichen Besuch bei der Porzellanfabrik in Sèvres und in der Pariser Gobelinmanufaktur aus, wahr–––––––––––––––– 42 ALÎ EFENDø und ABDÜRRAHMAN EFENDø, hg. von YÉRASøMOS, Stéphane: 1998, S. 60. 43 AYNUR, Hatice: Ottoman Literature, in: The Cambridge History of Turkey. Cambridge 2006, Bd. 3, S. 481–520, siehe S. 519–520.

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scheinlich weil ihm klar geworden war, daß deren Produkte für die osmanische Regierung nur von sehr begrenztem praktischem Wert waren.44 Diese Distanzierung von seinem bekannten Vorgänger begründete der Autor expressis verbis mit den veränderten Zeiten: nicht nur wären in den letzten neunzig Jahren neue Erfindungen und Entwicklungen hinzu gekommen, Mehmed efendi hätte auch keine Auskünfte über Regierungsform und Technologie Frankreichs vermittelt. Gerade solche Informationen wären aber jetzt dringend nötig geworden.45 Dafür konzentrierte sich Abdürrahim efendi auf die allgemeine Verwaltung von Paris, das Justiz-, Post- und Geldwesen sowie Textil- und andere Fabriken, zumindest soweit wie die Bürokratie Napoleons bereit war, ihm die Besichtigung der entsprechenden Anlagen zu gestatten. In seiner Darstellung betonte Abdürrahim efendi die zentrale Rolle des Geldes: Für alles Erdenkliche würden Gebühren bezahlt, das Staatssäckel hätte seinen Vorteil davon, aber die Existenz öffentlich angeschlagener Preise und Gebühren verhinderte sehr viele Streitigkeiten und den damit verbundenen Zeitverlust.46 Desgleichen hatte der Autor sich davon überzeugt, daß die Kommunikation in sich einen wichtigen Faktor für den materiellen Fortschritt bildete; in diesem Zusammenhang beschrieb er die Benutzung der öffentlichen Post durch Kaufleute und andere Nicht-Mitglieder des Staatsapparats. Aber auch das damals noch sehr neue Conservatoire des Métiers, in dem sich Personen, die an der Entwicklung von Verfahren und Geräten interessiert waren, über das bereits Erreichte unterrichten konnten, wurde von Abdürrahim efendi ausführlich beschrieben. Dabei kamen die Vermeidung von Doppelarbeiten und auch das Patentsystem zur Sprache; in diesem Kontext bedauerte es der Verfasser, daß ein erfinderischer osmanischer Untertan namens Arakel keinerlei öffentliche Förderung erfahren hatte.47 Bei seinen Besichtigungen stellte sich der Autor zuweilen ganz präzise Fragen, deren Lösung der Augenschein erbringen sollte; über die doch eher passive Aufzeichnung von den z. B. in einem Naturalienkabinett gesehenen Dingen, wie wir sie bei Ebubekir Ratib beobachten, war Abdürrahim efendi längst hinausgekommen. So fragte er sich, wie es denn möglich wäre, Baumwollstoffe so zu bedrucken, daß die Stellen, an denen die Druckplatten zusammenkämen, unsichtbar blieben und die Stoffe daher „wie gemalt“ –––––––––––––––– 44 ALÎ EFENDø und ABDÜRRAHMAN EFENDø, hg. von YÉRASøMOS, Stéphane: 1998, S. 57. Auf S. 44–62 findet sich eine gute Darstellung der Anliegen Abdürrahim efendis durch den Herausgeber Stéphane YÉRASIMOS. 45 EBD.: S. 170. 46 EBD.: S. 196–200. 47 EBD.: S. 209–210.

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aussähen.48 Auf die Lösung dieses Problems war dann seine Beschreibung abgestimmt. Auch war der Gesandte im Unterschied zu vielen seiner Vorgänger in gewissem Grade an den naturwissenschaftlichen Grundlagen von technischen Neuerungen interessiert. So diskutierte er kurz die Fragen, die sich französische Chemiker in diesen Jahren stellten, wobei er ausdrücklich die neu entstehende Chemie von der Alchemie abgrenzte – allerdings wurde auch hier die praktische Anwendung nie aus dem Blick verloren.49 Insofern kann man Abdürrahim efendi als einen frühen Vertreter jener osmanischen Untertanen betrachten, die seit Mitte des XIX. Jahrhunderts in Paris und anderswo Medizin oder technische Fächer studierten.

Zum Abschluß Bei der vorliegenden Diskussion handelt es sich um eine Skizze; und dementsprechend gehen die Schlußfolgerungen in verschiedene Richtungen auseinander, wie es eben geschieht, wenn ein Forschungsprojekt sich noch in den Anfängen befindet. Sozusagen im Vorfeld der hier behandelten Zeitspanne ist es bemerkenswert, wie viele Themen, die später für das Europabild der Osmanen wichtig wurden, im „Reiseroman“ Evliya Çelebis bei der Beschreibung Wiens zumindest angedeutet sind. Es wäre zu untersuchen, wie weit der literarische Topos von den kunstvollen Ungläubigen, dessen Geschichte im osmanischen Bereich noch zu untersuchen wäre, Evliya die Formulierung seiner realistischen Beobachtungen wie auch seiner offenkundigen Fiktionen zumindest erleichtert hat. Unser Befund bestätigt die Neubewertung dieses Reisenden, die sich in der Forschungsliteratur der letzten Jahre abzeichnet. Es wird heute häufiger konzediert, daß Evliya nicht nur als ein charmanter Erzähler und schlechter Historiker einzuordnen ist – das war er übrigens auch –sondern daß er das feine Sensorium vieler Künstler für die Neuheiten seiner eigenen Zeit besaß. Desgleichen zeigt unsere Diskussion, daß für den Umbruch im Europabild so mancher Osmanen die Regierungszeit Ahmeds III. (r. 1703– 1730) weniger wichtig war als die folgenden Jahrzehnte; ich würde also ùøRøNs Periodenbildung entsprechend modifizieren. Solch eine Modifikation würde übrigens den Befunden mancher Kunsthistoriker/innen entsprechen, die ebenfalls die Bedeutung der sogenannten Tulpenzeit (1718–1730) neuerdings heruntergespielt haben.50 Daran soll aber keineswegs die Be–––––––––––––––– 48 EBD.: S. 220–223. 49 EBD.: S. 227. 50 ARTAN, Tülay: Arts and architecture, in: The Cambridge History of Turkey. Cambridge 2006, S. 408–480, siehe S. 454; ERøMTAN, Can: Ottomans Looking West?

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hauptung geknüpft werden, es gäbe notwendigerweise eine etwas geheimnisvolle Parallelität zwischen Literatur und bildenden Künsten. Als eine weitere wichtige Beobachtung lohnt es sich festzuhalten, daß ein Mitglied des religiösen und juristischen Establishments, wie es Nu‫ޏ‬man efendi gewesen ist, durchaus eine ernsthafte Bildung in naturwissenschaftlichen oder technischen Fragen und sogar ein Interesse an der fachlichen Kommunikation mit Nicht-Muslimen entwickeln konnte. In diesem Zusammenhang würde es sich lohnen, mit Spezialisten der osmanischen Wissenschaftsgeschichte Verbindung aufzunehmen. Diese können uns vielleicht über die Netzwerke, in denen solche Kenntnisse verbreitet wurden, ein wenig aufklären und auch über die Möglichkeiten „interkulturellen“ Austauschs auf wissenschaftlich-technischem Gebiet, die im Istanbul des XVIII. Jahrhunderts doch zahlreicher gewesen sind, als es auf den ersten Blick erscheinen könnte. In einem ganz anderen Kontext ist das Werk Nu‫ޏ‬man efendis auch als ein wichtiges Selbstzeugnis zu betrachten. Daß es in den immer noch recht kleinen Kanon der osmanischen Erzählungen in der Ich-Form keinen Eingang gefunden hat, mag als ein Indiz dafür angesehen werden, daß viele Historiker/innen des Osmanenreichs die Behauptung von der mangelnden Selbstreflexion unter Intellektuellen der islamischen Welt vor dem XIX. Jahrhundert immer noch weit ernster nehmen, als sie es offenkundig verdient. Als ich mit dieser Studie begann, hatte ich eigentlich geplant, daß sie ein reiner Forschungsbericht werden würde. Doch hat sich bei der Arbeit herausgestellt, daß selbst, was die schon seit langem gedruckten Primärquellen anbelangt, die Auswertung noch in den Anfängen steckt. Es ist also unvermeidbar, auf Schritt und Tritt auf diese Primärquellen zu rekurrieren. Was nun die immateriellen „Werte“ anbelangt, so ist uns einiges Unerwartete begegnet: Es würde sich lohnen, näher auf die Rolle der Musik als „interkulturelles“ Kommunikationsmittel einzugehen, und zwar konnte unter bestimmten Umständen diese Rolle sowohl der osmanischen wie auch der europäischen Musik zufallen. Ebubekir Ratibs „Kulturdiplomatie“ könnte in diesem Zusammenhang ebenso diskutiert werden wie die Beschreibungen von Orgeln durch Evliya und Nu‫ޏ‬man efendi. Unter einem ganz anderen Gesichtspunkt könnte man von den „Systemen“ sprechen, im Handel, im Postwesen und im Geldverkehr, deren Funktionieren Ahmed Resmi und besonders Abdürrahim efendi ihren Lesern zu erklären versuchten. –––––––––––––––– The Origins of the Tulip Age and its Development in Modern Turkey. London 2008.

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Auf lange Sicht wäre es wünschenswert, eine systematische Inventarisierung der osmanischen Diskussionen von in Europa vorgefundener materieller Kultur zu versuchen. Neben den hier besprochenen Autoren sollten auch deren Zeitgenossen zu Worte kommen, die, weil unveröffentlicht, in dieser Darstellung überhaupt nicht behandelt worden sind. Durch solch ein Unternehmen ließen sich die wichtigen Vorarbeiten øbrahim ùøRøNS und der Kollegen/innen, die sich z.Zt. mit Ich-Erzählungen in der arabischen und osmanisch-türkischen Literatur beschäftigen, ein erhebliches Stück weiterbringen.

Bibliographie AHMET RESMø: Ahmet Resmi Efendi’nin Viyana ve Berlin Sefaretnâmeleri, ins moderne Türkische übersetzt von ATSIZ, Bedriye: østanbul 1980. AKSAN, Virginia: Ottoman Sources on Europe in the Eighteenth Century, in: Archivum Ottomanicum, 11 (1986–88), S. 5–16. Dies.: An Ottoman Statesman in War and Peace, Ahmed Resmi Efendi, 1700–1783. Leiden 1995. ALÎ

EFENDø,

Morali Seyyid et MUHøBB EFENDø, Seyyid Abdürrahim: Deux ottomans à Paris sous le Directoire et l’Empire, Relations d’ambassade, übs., eingeleitet und kommentiert von YÉRASIMOS, Stéphane: Le Méjan 1998.

ARTAN, Tülay: Arts and architecture, in: The Cambridge History of Turkey. Cambridge 2006, S. 408–480. AYNUR, Hatice: Ottoman Literature, in: The Cambridge History of Turkey. Cambridge 2006, Bd. 3, S. 481–520. BUSBEQUIUS, Augerius Gislenius: Legationis turcicae epistolae quatuor, hg. von MARTELS von, Zweder, ins Niederländische übs. von GOLDSTEEN, Michel: Hilversum 1994. EBUBEKøR RATøB: Ebubekir Ratib Efendi’nin Nemçe Sefaretnamesi, hg. von UÇMAN, Abdullah: østanbul 1999. EICKHOFF, Ekkehard: Venedig, Wien und die Osmanen, Umbruch in Südosteuropa 1645–1700. Stuttgart, 2. Auflage 1988. EMNÎ, Mehmed: Mehmed Emnî Beyefendi (Paúa)’nÕn Rusya Sefâreti ve Sefâret-nâmesi, hg. von AKTEPE, Münir: Ankara 1974. ERøMTAN, Can: Ottomans Looking West? The Origins of the Tulip Age and its Development in Modern Turkey. London 2008. EVLøYA ÇELEBø: Im Reiche des Goldenen Apfels, des türkischen Weltenbummlers Evliya Çelebi denkwürdige Reise in das Giaurenland und in die Stadt und Festung Wien anno 1665, übersetzt und erläutert von KREUTEL, Richard F. & PROKOSCH, Erich & TEPLY, Karl: Vienna, 2. Ausgabe 1987.

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Die Hamidiye-Milizen: Grenzland außer Kontrolle

Hendrik Fenz (Freiburg) Wer solche Verbündete hat, wie es die „streitbaren und primitiven“ Hamidiye waren, der braucht keine Feinde mehr.1 Als Sultan Abdülhamid II. (‫ޏ‬AbdülতamƯd II.) 1890 das Dekret2 zur Aufstellung kurdischer Reitermilizen unterschrieb, sollte diese „Sultansgarde“ – denn nichts anderes bedeutet die begriffliche Ableitung „Hamidiye“ – für Ruhe und Ordnung sorgen. Gleichermaßen als Fluch und Segen überzogen nunmehr bewaffnete Milizen zu Tausenden die ostanatolischen Provinzen des Osmanischen Reiches. Als sich die vom Sultan höchstpersönlich berufenen kurdischen “Zauberlehrlinge” als Hamidiye selbständig zu machen begannen, ausgerüstet mit dessen Waffen und Munition, waren auch die ersten Massaker an Armeniern nicht mehr fern. Es waren britische Zeitungen, die ihre Stimmen mahnend und anklagend erhoben, angesichts dessen, was Abdülhamid II. im Osten des Reiches außer Kontrolle geraten war.3 He is a monarch who sits on his throne solely in virtue of the tolerance of other Powers, assuming the airs of a mighty prince who can pose as the victim of misrepresentation and calumny at the very time when his deeds are crying to heaven for vengeance and secure in the immunity which he enjoys through crimes, can still persevere in his career of cruelty and blood. The spectacle is too ludicrous, but, alas! This miserable caricature of a monarch is able to work his own will.4

–––––––––––––––– 1

2 3 4

So eine im anderen Zusammenhang gemachte Beschreibung durch den britischen Botschafter am Sultanshof, (Sir) Philip Currie, vgl. dazu: FOREIGN OFFICE, GREAT BRITAIN: Blue Book, Turkey. 1896, No. 1, Correspondence Respecting the Introduction of Reforms in the Armenian provinces of Asiatic Turkey. London 1896, Nr. 7923, Currie an Kimberley (19. Januar 1895). Siehe das Gesetz zur Gründung der Hamidiye, in: BAùBAKANLIK ARùøVø, YÕldÕzAkten: Hamidiye Süvari AlaylarÕna dair Kanunnâmedir, 1308/1890–91. Zur Rolle ‫܇‬âkir Paschas auch: KARACA, Ali: Anadolu IslahâtÕ ve Ahmet Эâkir Paúa (1838–1899). østanbul 1993, S. 172–206. Rogers, J. Guinness: The Massacres in Turkey, in: Nineteenth Century, 40 (1896, Oct.) 235, S. 654ff.

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Diese Worte werfen nicht nur ein Licht auf das heftige Vorgehen des Sultans sondern ebenso auf die Interaktionen des Osmanischen Reiches mit den europäischen Mächten. Einerseits blieb das Reich durch Europas Gnaden am Leben, anderseits agierte der Sultan, ohne daß Europa ihn stoppen wollte oder konnte. Was sich über zwei Jahrzehnte entwickeln sollte, war eine von Istanbul sanktionierte substaatliche Parallelstruktur. Den internationalen Beobachtern, Konsularbeamte, Militärs, Missionare, waren die Zustände sehr wohl bekannt und sind ebenso gut dokumentiert. So läßt am 21. Januar 1899 Oberstleutnant Massy aus Erzurum seiner britischen Majestät mitteilen, daß er hoffe, Plünderung und Raub durch die Kurden unterbinden zu können, seien diese doch „in den letzten Jahren eine Geißel für die christliche Landbevölkerung“ geworden.5 Einerseits war eine Gemengelage bestehend aus militärischen, ethnischen, religiösen und sozialen Gründen für das Aufstellen der Hamidiye verantwortlich, deren einzelne Elemente durchaus, je nach Region und Zeitpunkt, unterschiedlich dominieren konnten. Andererseits war das treibende und zentrale Anliegend des Sultans die enge Einbindung der tribalen Stammesgebiete in das osmanische System. Diese Elemente zusammen bilden ein Konfliktquadrat, dessen einzelne Eckpunkte nur bei gleichzeitiger Mißachtung anderer Eckpunkte erreicht werden konnten. Militärische Sicherung

Kurdische

Antiarmenische Re-Emiratisierung Funktion

Islamisierung

Seßhaftmachung/Zivilisierung

Mein ursprünglicher Forschungsansatz, die Hamidiye hätten zu einer Stabilisierung der Region beigetragen, ließ sich im Laufe der Untersuchung nicht halten. Im Gegenteil, scheint es doch so zu sein, daß die durch Abdülhamid II. angepeilten Hauptziele schlichtweg verfehlt wurden, ja: Das zentrale Element seiner Absichten, die Integration der Stammesgebiete in –––––––––––––––– 5

Massy diente in Erzurum als britischer Konsul. Schreiben von Massy an Sir N. O’Conor (Marquess of Salisbury) vom 21. Januar 1899, in: PUBLIC RECORD OFFICE, London, Standort: FO 195/2059, zitiert nach: KLEIN, Janet: 2002b, S.144. Massy bezieht sich hier anscheindend auf den Bezirk Dersim, […] which is now so wild and unsubdued that no Government official can penetrate into it unguarded”.

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die Strukturen des Osmanischen Reiches, wurde durch eine „NeoEmiratisierung“ sogar konterkarikiert. Im folgenden möchte ich auf drei Aspekte näher eingehen und lediglich den Aspekt der Seßhaftmachung außer Acht lassen, erhält diese „Agrar-Frage“ erst ab 1908, mit der Machtübernahme durch das Komitee für Einheit und Fortschritt, verstärkt Aufmerksamkeit.

Forschungsstand Die Literatur zu den Hamidiye war und ist überschaubar. Dem wegweisenden (und neutralen) Beitrag von DUGUID (1973), folgten in den 1990er Jahren vermehrt Arbeiten zum kurdischen Nationalismus, etwa van BRUINESSEN (1989) und BEHREND (1993). Es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis Janet KLEIN 2002 die erste wirklich umfassend zu benennende Arbeit zu den Hamidiye-Milizen vorlegte. Wen wundert es, daß sie sich auf diesem weitgehend unbestellten Feld der Hamidiye-Forschung mit einigen exemplarischen Fällen (z.B. Mîran-Stamm, Agrarfrage) eines Teilstückes widmet. So versteht sich denn dieser Beitrag als eine weitere Furche auf dem reichhaltigen und noch viele Überraschungen bereithaltenden Forschungsfeld und bedeutet für mich eine Vorstudie zu der Frage, ob und wie bzw. wieweit der Institutionentransfer des Osmanischen Reiches in die peripheren Gebiete erfolgreich war. Augenfällig ist bei der Betrachtung der Literatur eine gewisse Segmentierung der Forschungsbeiträge entlang ethnisch-nationaler Linien. Dabei scheint sich die ethnische Zugehörigkeit der Autoren in den jeweiligen nationalen Positionen zu spiegeln. Oder auch umgekehrt! Demnach clustert sich die Literatur in: x national-armenisch: Die Gründung der Milizen sei eingebettet gewesen in eine osmanische Strategie einer im Völkermord 1915 mündenden gezielten Armenierverfolgung (z.B. KEVORKIAN 1992, 1995, 2006). x national-türkisch: Die Milizen agierten allein aufgrund ihrer ihnen innewohnenden Gewaltbereitschaft antiarmenisch, keinesfalls jedoch zentral gesteuert (z.B. GÜRÜN, 1985) x national-kurdisch: Die Milizen seien, trotz ihres eigenständigen und durchaus gewaltbereiten Agierens als zentral organisierte und kontrollierte Vorläufer der heutigen Dorfmilizen zu betrachten (z.B. AYTAR, 1992) x hamidistisch: Die türkischen Vertreter plädieren für eine die territoriale Integrität und islamische Einheit erhaltene Strategie durch den Sultan (z.B. KODAMAN 1979, 1987).

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Auch wenn die einzelnen Positionen nur einen Aspekt hervorheben, ist all dies im Kern richtig. Die Milizen waren antiarmenisch, sie waren gewalttätig, sie waren zentral eingesetzt und sollten zentrale Interessen durchsetzen, sie sollten kontrolliert und die Stammesgebiete nicht zuletzt befriedet werden. Ebenso ist der historische Bezug zu den heutigen Dorfmilizen nicht von der Hand zu weisen.6 Diese Phalanx tendenzieller Literatur zu durchbrechen fällt umzog schwerer, als der Zugriff zu dem in türkischen Archiven verborgenen Quellenmaterial nicht barrierefrei ist und man sich oftmals in einem Labyrinth zu verlieren schient. Denn spricht man die Hamidiye an, ist gleichfalls die „Armenier-Frage“ virulent, eine Frage, auf die türkische Behörden allergisch zu reagieren gewohnt sind.

Vertrag, Verschwörung, Vorgeplänkel Das Osmanische Reich – selbst schon von Zerfall bedroht und wirtschaftlich wie militärisch ausgelaugt – galt im „langen 19. Jahrhundert“ als jener Garant der Stabilität, der das äußerst fragile Machtsystem zwischen den europäischen Mächten nicht kollabieren ließ. Als Alliierter im Krimkrieg 1853–56 fand sich das Osmanische Reich an der Seite Frankreichs und Großbritanniens wieder. […] they accepted explicit membership in the otherwise ‚Christian‘ diplomatic system of the Concert of Europe: full-fledged membership in Europe itself, a logical culmination of the Tan਌îmât.7

Jedoch kulminierte die etwa über die „Kapitulationen“ bewußt herbeigeführte Schwäche des Osmanischen Reiches 1876 im Berliner Kongreß darin, daß es in die Rolle des Statisten abgedrängt wurde.8 Als ein mittelbares Ergebnis der Tanzimat (tan਌ƯmƗt) kann der Versuch gewertet werden, die peripheren kurdischen Gebiete des Reiches stärker an das Zentrum zu binden und mit diesem zu vernetzen, verbunden mit der –––––––––––––––– 6

7 8

Vgl.: KLEIN, Janet: Power in the Periphery: The Hamidiye Light Cavalry and the struggle over Ottoman Kurdistan, 1890–1914. Princeton & An Arbor 2002a, S. 12ff. HODGSON, G.S.: The Venture of Islam. London & Chicago 1974, S. 232. Veranschaulicht auch in dem Gemälde von Anton von Werner. Otto von Bismarck brachte der osmanischen Delegation wenig Sympathie entgegen. Der schwere Stand der osmanischen Delegation mag allerdings auch in der Person des Unterhändlers Mehmed Ali Pascha zu finden sein, war dieser doch der aus Preußen stammende und zum Islam konvertierte Ludwig Karl Friedrich Detroit, dessen Anwesenheit Bismarck als „Taktlosigkeit“ bezeichnete.

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Hoffnung auf effektivere Kontrolle der tribalen Gebiete. Damit einher ging eine mission civilisatrice in Form einer „Türkisierung“, bei der in die bestehende und bis dato für das osmanische Zentrum uninteressante tribale Peripherie eingegriffen werden sollte. Der Krieg gegen Rußland 1876–78 ließ neben Tod und Verwüstung einmal mehr das kollektive türkisch-osmanische Gedächtnis einen Alptraum durchleben, dessen Kern die Furcht vor dem Verlust einer weiteren christlich geprägten Region – diesmal in Ostanatolien – war. Das Vertragswerk des Berliner Kongresses sollte die Situation nicht besser machen. Auch wenn die teilnehmenden europäischen Staaten die armenische Delegation – ähnlich der osmanischen – weitgehend ignorierten, waren die im Artikel 61 festgeschriebenen Garantien ein Erfolg für die armenische Minderheit im Osmanischen Reich und erschienen den Muslimen als ein weiterer Beweis einer „christlich-abendländischen Verschwörung“. The Sublime Porte undertakes to carry out, without further delay, the improvements and reforms demanded by local requirements in provinces inhabited by the Armenians, and to guarantee their security against the Circassians and the Kurds. It will periodically make known the steps taken to this effect to the Powers, who will superintend their application.9

Die Vogelperspektive gibt den Blick frei auf eine geschichtsträchtige Region, die für des Sultans schwächelnde, seine Provinzen zunehmend verlierende Osmanische Reich eine lebenserhaltene Rolle spielte: als Frontlinie und militärischer Puffer zum mächtigen Rivalen Rußland sowie als wirtschaftlich ergiebige Quelle. Es war zudem die Region, in der die zentrale Bürokratie nur einen verschwindend geringen administrativen Wirkungsgrad besaß. So gering, daß die Region der osmanischen Zentralverwaltung quasi entzogen blieb. Als von armenischer und kurdischer Seite gleichermaßen deklariertes Stammland galten die ostanatolischen Gebiete hochgradig spannungsgeladen, zumal die Aktivitäten der von Rußland aus im Osmanischen Reich agierenden national-armenischen Gruppierungen zum Teil terroristische Ausmaße annahmen.10 Mit anderen Worten: Eine Region, die – obwohl peripher – die zentralen Interessen des Reiches ebenso bedrohen wie bestärken konnte. –––––––––––––––– 9

ANDERSON, M.S. (ed.): The Great Powers and the Near East 1774–1923. London 1970a, S. 112. 10 Dazu auch: NALBANDIAN, Louise: The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties through the Nineteenth Century. Berkeley 1963; SUNY, Ronald G.: Looking toward Ararat: Armenia in modern history. Bloomington u.a. 1984; KÉVORKIAN, Raymond: Le génocide des Arméniens. Paris 2006, S. 17–70.

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Nach KLEIN lag das mit der Gründung der Hamidiye verbundene Hauptziel weder im Schutz der östlichen Grenzen oder im Puffer zu Rußland, noch in der Sammlung (nicht nur) der kurdischen Stämme unter einen panislamischen Schirm. Es waren weder außenpolitische, militärische oder religiöse Aspekte, die – wenngleich gewollt – an erster Stelle standen, sondern es war die Einverleibung der kurdischen Stammesgebiete in das zentrale Verwaltungssystem des Osmanischen Reiches. Damit war nichts weniger verbunden als eine Fortführung der Tanzimat, bei der – idealtypisch – die Eckpfeiler der Reform in den Boden der östlichen Reichsgebiete gerammt werden sollten: stehende Truppen, Steuerpflicht, staatliche Gerichtsbarkeit. Der Anstoß zur Aufstellung der Hamidiye kam Mitte der 1880er Jahre und beruhte auf früheren Erfahrungen im Umgang mit zu eigenwillig agierenden kurdischen Clanführern. So etwa den 1879 sich unter Scheich Ubeydullah versammelnden kurdischen Stämmen, die gegen die im Berliner Vertrag (Artikel 61) als nachteilig und proarmenisch empfundenen Bedingungen kämpferisch angingen. Nach OLSON sah sich Ubeydullah, inmitten eines Machtvakuums zwischen Iran und dem Osmanischen Reich, als eigenständiger Herrscher.11 Dem galt es zu begegnen. Erste Schritte einer Stabilisierung und stärkeren Kontrolle der Region führten zu einer – noch unstrukturierten und reaktiven – Unterstützung loyaler kurdischer Stämme gegen Ubeydullah. Über welchen nationalen Anspruch („The Kurdish nation is a people apart …“)12 und welches militärische Gewicht Ubeydullah verfügte, macht eine Aussage über dessen Bereitschaft zur Teilnahme am Krieg gegen Rußland deutlich. Sheikh Ubeydullah said that he had collected at least 40,000 cavalry and auxiliary soldiers and entered the war without any provisions or payment for seven months.13

Aus einer völlig anderen Richtung, aber mit einer ähnlichen die kurdische Autonomie beschränkenden Zielsetzung, kam der in Rußland zwischen 1878 und 1889 agierende osmanische Botschafter ‫܇‬âkir Pascha. Dieser empfahl dem Sultan die Aufstellung einer der russischen Kosaken-Armee nachempfundenen kurdischen Armee.14 Was nicht ganz unumstritten war, –––––––––––––––– 11 OLSON, Robert: The Emergence of Kurdish Nationalism 1880–1925. Austin 1989, S. 1–7. 12 Zitiert nach OLSON, Robert: 1989, S. 2. 13 Zitiert nach: KILIÇ, Mehmet Firat: Sheikh Ubeydullah’s Movement. Ankara: Bilkent University 2003. 14 Zu der Person ‫܇‬âkir Paschas und dessen politischen Wirken siehe: KARACA, Ali: 1993, S. 173ff.

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gab es doch Stimmen, die einer solchen kurdischen Kosaken-Truppe die Qualität absprachen und auf Erfahrungen in Rußland hinwiesen. I would remark however that in Turkey there would be a considerable danger of its being an inefficient Cossack system. […] in Russian Military Circles […] many officers seem to regard them as quite useless for fighting.15

Mag dies für Rußland und seine Kosaken zugetroffen haben, die Kämpfer um Ubeydullah dürften allein durch ihre schiere Anzahl eine erhebliche Wirkung erzielt haben.

Zusammensetzung und Aufbau der Hamidiye Der Aktionsradius der einzelnen Regimenter, von denen es bereits im Anfangsjahr 40 gab, mag überschaubar gewesen und im wesentlichen den traditionellen Stammesgrenzen gefolgt sein. Die militärische Struktur sowie Größe und Zusammensetzung der Milizen waren im Gesetz von 1308/1890 festgelegt. So hatte jedes der ƗlƗy (Regimenter) mindestens 512, nicht aber mehr als 1.152 Kämpfer zu haben, die größeren ‫ގ‬aúƯret (Nomadenstämme) stellten jeweils ein eigenes oder mehrere Regimenter, kleinere Stämme wurden innerhalb eines Regimentes in Kompanien zusammengefaßt. Die Dienstpflicht fiel in erster Linie auf das 17. bis 20. Lebensjahr, daran schloß sich eine gestaffelte Reservistenzeit an. Jeweils zwei Führungsleute eines jeden Regimentes reisten zu einer – allerdings qualitativ begrenzten – Ausbildung nach Istanbul. Zudem hatte jedes Regiment als „lebendes Pfand“ einen Jungen nach Istanbul abzustellen, der – in einem „Goldenen Käfig“ – eine militärische Ausbildung (oder sollte man eher von Indoktrination sprechen!) an der süvâri mektebi (KavallerieSchule) erhielt und als mulâzim (Leutnant) entlassen wurde.16 Die ersten sechs Regimenter wurden ab 1891 vorwiegend in den zu Rußland und Iran liegenden Grenzregionen aufgebaut. Diese Regionen wiesen zum Teil einen deutlichen Anteil an armenischer Bevölkerung auf, was im übrigen auch auf die Provinzstädte wie Diyarbekir, Erzurum, Bitlis, Van u.a. zutraf.17 –––––––––––––––– 15 RECORD OF THE FOREIGN OFFICE, Embassies and Consulates Turkey, FO 195/1617, Chermside to White, Report A, Erzurum Dec. 22. 1888, zitiert nach: KLEIN, Janet: 2002a, S. 33. 16 Siehe: Gesetz zur Gründung der Hamidiye, in: BAùBAKANLIK ARùøVø, YÕldÕzAkten: Hamidiye Süvari AlaylarÕna dair Kanunnâmedir, 1308/1890–91. 17 SHAW, Stanford J. & SHAW, Ezel K.: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Bd. 2: Reform, Revolution and Republic: The Rice of Modern Turkey, 1808–1975. Cambridge u.a. 1977, S. 246; KLEIN, Janet: 2002a, S. 353ff., listet die

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RegimentsNr. 1 2 3 4 5 6

Stammesgebiete SipkanlÕ SipkanlÕ Spiki (SipikanlÕ) Zilan Zilan Karapapak

armenischer Bevölkerungsanteil % in den Gebieten 3 3 3 30 30 30

Abb. 1: Regimenter nach Region und armenischem Bevölkerungsanteil18

Die ethnische Herkunft der in den meist als kurdische Hamidiye bezeichneten Regimentern Dienstleistenden sollte nicht auf kurdische Nomaden begrenzt bleiben. Auch hier hat das Gesetz zur Gründung der Milizen (Artikel 19) klare Vorgaben gemacht und von turkmenischen, karakalpakische, kurdischen und arabischen Soldaten (in dieser Reihenfolge) gesprochen. Nichts kann die ethnische Heterogenität der Milizen, aber auch deren Bedeutung für Abdülhamid II. besser personifizieren, als der Kommandeur der Hamidiye, Zeki Pascha, der nicht nur tscherkessischer Herkunft, sondern auch über eine im Sultansharem lebende Schwester Schwager des Sultans war. Geboren 1846 war er schon mit 32 Jahren Divisionsgeneral, anschließend wurde er über mehrere Stationen kurz hintereinander erst stellvertretender Feldmarschall der IV. Armee (Russische Front), ein Amt das der Sultan ausschließlich für ihn schuf, anschließend Feldmarschall (1887/8). Zeki Pascha sollte über zwei Jahrzehnte die zentrale Figur in Ostanatolien und Herr über die Hamidiye sein. Chermside, britischer Militärattaché, beschrieb diesen als energischen, ambitionierten und vorurteilsfreien Menschen, als „thorough soldier“.19

–––––––––––––––– Anzahl und Herkunft der Regimenter akribisch auf. Gleichzeitig verweist sie auf eine Diskrepanz über die Anzahl der Regimenter. Anders als bei SHAW & SHAW (63 Regimenter) tauchen 64, 65 und sogar 641/2 Regimenter auf: siehe hierzu die Anmerkung bei KLEIN (2002a) auf Seite 34, Fußnote 23. 18 Detailliert dazu: KARACA, Ali: 1993, S. 179f.; KLEIN, Janet: 2002a, S. 353–359, letzere berichtet zudem von den Schwierigkeiten der Lokalisierung einzelner Stämme. 19 RECORD OF THE FOREIGN OFFICE, Embassies and Consulates Turkey, FO 195/1794, Chermside report, 17. Januar 1893, zitiert nach KLEIN, Janet: 2002a, S. 151.

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Die auf Stammesebene organisierten paramilitärischen Verbände standen im steten Kampf um Einfluß und Macht untereinander. Der innerhalb ihrer Herrschaftsgebiete gewährte konfessionsübergreifende Schutz und die damit verbundene (scheinbare) Sicherheit der dort lebenden Bevölkerung hatte weniger ethisch-moralische als vielmehr fiskalische Gründe, unterlagen die kurdischen wie armenischen, alevitischen wie yezidischen Bauern und Dörfer einem Steuerdruck seitens der herrschenden Stammesführer. Die Vorteile für die in den Dienst genommenen Stämme lagen auf der Hand: Nicht nur konnten die Stammesangehörigen den langandauernden regulären Militärdienst umgehen, sondern es lockten auch Steuererleichterungen. Das Argument der Steuererleichterung bzw. -befreiung wird vielfach (z.B. BRUINESSEN) angeführt. Dabei suggeriert der Begriff, daß die Stammesführer Steuern an das Osmanische Reich abführen würden. Das Gegenteil schien der Fall zu sein, zumindest wenn man den Worten des britischen Oberst Chermside Vertrauen schenkt: […] Moslems were exempted on payment of a tax proportionate to the number of males liable to service. … The Kurds do not pay this tax as yet […].20

Vor allem aber stärkte die Anerkennung als Hamidiye die Machtbasis der einzelnen Stammesführer in den Gebieten. Darüber hinaus waren sie allein dem Oberkommandieren der IV. Armee, Zeki Pascha, Rechenschaft schuldig und standen somit außerhalb der offiziellen Gerichtsbarkeit, was die den Milizen angehörenden Stämme umzog unberechenbarer machte. Gedeckt durch diese Hierarchie blieben „Privat-Feldzüge“ der Hamidiye oft ungesühnt und die regionalen Exekutivkräfte machtlos. Unter dem Schutz höchster Stellen entwickelte sich so eine Parallelgewalt in den östlichen Gebieten. In den Anfangsjahren konnte der Sultan mit den Ergebnissen zufrieden sein: Die Loyalität der „integrierten“ Stämme ihm gegenüber schien gestärkt, die innerkurdischen Konflikte minderten die Gefahren antiosmanischer Revolten und die armenischen Aktivitäten schienen eingegrenzt. Aber gerade die Parallelstrukturen wurden zum gefährlichen Moment im ostanatolischen Machtpoker. Anders als geplant konnten sich, wie im Falle Ibrahim Paschas oder Mustafa Paschas (Mîran), übermächtige Stammesführer etablieren, deren Gebiete einen Staat im Staate bildeten.21 –––––––––––––––– 20 RECORD OF THE FOREIGN OFFICE, Embassies and Consulates Turkey, FO 195/1617, Chermside to White, Report A, Erzurum Dec. 22. 1888, zitiert nach: KLEIN, Janet: 2002, S. 33. 21 Detailliert dazu: BOZARSLAN, Hamit: Tribus, confréries et intellectuels: Convergence des réponses kurdes au régime Kémaliste, in: VANER, Semih (ed.): Modernisation Autoritaire en Turquie et en Iran. Paris 1991, S. 64ff; BRUINESSEN, Martin van: Agha, Shaikh and State. London 1992; KLEIN, Janet: 2002a, S. 125–190.

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Die Vision der Mission Zeichnete sich die Politik Abdülhamid II. durch einen steten Wechsel zwischen formaler Modernisierung und praktischer Stagnation aus, so gehörten Reformen auf militärischem Gebiet zum Kernbereich der Machtabsicherung. Mehrere Gründe standen hinter diesem Versuch, Reformen wenigstens regional weiterzuführen: Neben ökonomischen Gründen wie dem Staatsbankrott 1875 und militärischen wie der Kriegsniederlage 1878 und den territorialen Verlusten auf dem Balkan forderten zunehmend sich religiös artikulierende Konflikte ihren Tribut. Ein sozioökonomisches Gefälle zwischen den ethnischen Gruppen produzierte einen Sozialneid, der sich auf religiöser und ethnischer Ebene entlud. Schon im ersten Überblick zeigt sich ein Spannungsdreieck, das aus Osmanischem Reich, europäischen Mächten und Rußland bestand. Dazwischen – zerrieben und von allen Seiten als militärisches wie politisches Faustpfand gehandelt, standen die christlichen Armenier, denen es an weitergehendem Rechtsschutz mangelte.22 Fühlten sich die Armenier von ihren christlichen Großmächten alleine gelassen, so sah dies die islamische Bevölkerung nicht selten anders. Im Wechselspiel der Interessen stand die islamische Bevölkerung des Osmanischen Reiches gegen eine – aus muslimischer Sicht scheinbare – Einheit aus (christlichen) Europäern und (christlichen) Armeniern. Die Auswirkungen der europäischen Staatsschulden-Kommission, die Eröffnung des Suez-Kanals oder die Besetzung Ägyptens: All dies wurde gewertet als der christliche Versuch, die Hoheit über das Osmanische Reich zu erlangen. Antichristliche Ressentiments, noch geschürt durch armenische Unruhen, waren die Folge und entluden sich 1894–96 in Pogromen. Abdülhamid II. versprach sich insofern vielerlei von seinen Milizen. Sie sollten: 1. den Machterhalt in den strategisch wichtigen Ostgebieten, vor allem gegen russische Interessen, sichern helfen, 2. die Aktionen armenischer Revolutionäre ver- oder wenigstens behindern, 3. die panislamischen Ansprüchen des Sultans umsetzen und 4. die Stammesgebiete in das osmanische Steuersystem integrieren und zur „Zivilisierung der nomadisierenden Stämme beitragen helfen.

–––––––––––––––– 22 Deren Situation sollte sich weder durch die Klausel im Berliner Vertrag, noch durch den Erlaß des Sultans (irƗde) von 1895/96 sonderlich verändern.

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1.1. Geostrategische Mission Ausländische Mächte, allen voran das britische Empire, bewerteten die Lage im Osten des Reiches durchaus kritisch. Einerseits aufgrund des stetigen russischen Vordrängens, das die britischen Machtinteressen und die Sicherheit der Kolonien beeinflußte (das „Great Game“ war im vollen Gange, die britischen Truppen gerade in Afghanistan ausgelöscht worden), andererseits aufgrund der inneren Schwäche des Osmanischen Reiches. So nimmt es kein Wunder, wenn der britische Botschafter, Sir A.H. Layard, „a strong hand and the power to rule“ forderte.23 Die Herrschaft in den östlichen und rußlandnahen Provinzen – so das Kalkül Abdülhamid II. – sollte über eine Doppelstrategie gesichert werden. Der aktiven submilitärischen Integration der Stämme über den Weg der Protektion und finanziellen wie militärtechnischen Unterstützung stand eine Politik von divide et impera zur Seite. Indem Stämme als Hamidiye rekrutiert wurden und andere nicht, entbrannte ein intertribales Konkurrenzverhalten, das ein konzertiertes kurdisches Zusammengehen unmöglich machte, dabei die Machtkonzentration auf einzelne Stämme förderte. Diese innertribalen Verhältnisse wie auch die Interaktionen der Stämme mit ihren Nachbarn bestimmten die Aktivitäten der Milizen. Umgeben von Armeniern, Russen und Arabern, von Christen, Schiiten und Sunniten gleichermaßen, agierten sie in einem ethnischen und religiösen Minenfeld. Und dies in der Regel alles andere als diplomatisch und dezent. Sie sollten der osmanischen Zentrale dienen und bereicherten sich selbst schamlos. Es war nicht übertrieben, von „organisiertem Raub und legalisiertem Mord“ zu sprechen. Die Kurden scheuten sich nicht mehr, offen zu erklären, daß sie die Armenier vernichten wollten, und daß man ihnen versichert habe, sie würden sich nicht vor Gericht dafür verantworten müssen.24

Anders als das von Ubeydullah vermutete Machtvakuum im östlichen Anatolien, war die Region bis Ende des 19. Jahrhunderts intensiven geostrategischen Interessen der Großmächte ausgesetzt: Rußland drängte in das Reich und in die Provinzen, russisch-armenische Revolutionäre bewegten –––––––––––––––– 23 Layard papers, 15. May 1878, zitiert nach: SALT, Jeremy: Britain, the Armenian Question and the Cause of Ottoman Reform: 1894–96, in: MES 26 (1990) 3, S. 308–322, hier S. 309. 24 TERNON, Yves: Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes. Darmstadt 1977, S. 59. TERNON führt an dieser Stelle zwei Quellen an: Blue Book, 1893, Nr. 3 und Nr. 6; Depesche des englischen Konsuls in Erzurum, Charles S. Hampton, 28. Febr. 1891 (TERNON zitiert MCCOLL, M.: L’Arménien devant l’Europe, in: Revue des Deux-Mondes, Sept.– Okt. 1896).

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sich missionierend durch die vornehmlich armenischen Siedlungsgebiete. Großbritannien als selbsternannter Retter der christlichen Minderheit setzte Sultan Abdülhamid II. mehr oder weniger diplomatisch unter Druck, um weitere Reformen und verbrieften Minderheitenschutz durchzusetzen. Der britische Botschafter Layard beschwor 1878 die Zukunft: […] we may come triumphantly out of our difficulties and promote our interests and those of humanity and civilisation at the same time.25

Und doch schien in seinen Erwartungen viel Pessimismus mitzuschwingen: What do you think of the Treaty of Berlin? It appears to me that if ever an apple of discord was thrown amongst nations, this is the one. I see in it the elements of future wars and disorders without number […] I anticipate no end of trouble and bloodshed for years to come in this unhappy country.26

Zumindest auf geostrategischem Feld konnte Abdülhamid II. mit seinen Hamidiye punkten. Für Rußland gab es für den gesamten Zeitraum seit der Bildung der Milizen bis zur Jungtürkischen Revolution keine territorialen Erfolge zu verbuchen. 1.2. Panislamische Mission Indem Abdülhamid II. in seiner Politik verstärkt auf die islamische Gemeinschaft als Identifikationsbasis setzte, forcierte er die religiösen Spannungen noch. Es muß gefragt werden, ob das von vielen Autoren hervorgehobene panislamische Engagement Abdülhamid II. wirklich so bedeutsam war?27 Wenden wir uns nochmals dem Begriff „sunnitischen Hamidiye“ zu. Mit der Eingrenzung auf „sunnitisch“ erliegen wir einer ersten unerlaubten wie irreführenden Einschränkung, gab es doch sehr wohl Versuche und Bemühungen, auch andere – nichtsunnitische – Stämme in die Milizen einzubinden. Zwar existierten de facto nur sunnitisch-kurdische Regimenter bzw. Kompanien, der Staat versuchte sich aber auch an einer Einbindung alevitischer und yezidischer Clans. Die yezidischen Kurden in der Region Mosul wurden auf zweifache Weise zum Ziel osmanischer Integrationsbemühungen. Einmal bei dem Versuch, sie zum „wahren“ Islam zu bekehren, zum anderen, indem die osmanischen Militärs sie massiv be-

–––––––––––––––– 25 Layard papers, 15. May 1878, zitiert nach: SALT, in: MES 26 (1990) 3, S. 309. 26 LORD NEWTON: Lord Lyons. London 1913, ii, S. 160. 27 Etwa KODAMAN, DUGUID, AYTAR u.a.

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drängten, eigene Infanterieregimenter für die Hamidiye aufzustellen. Erste Bestrebungen durch Zeki Pascha gab es schon 1891/92.28 Als Häretiker des „wahren“ – sunnitischen – Glaubens angesehen, setzte Abdülhamid II. sein missionarisches Instrumentarium auf die Yeziden an. Entsprechend eines standardisierten Verfahrens aus „Zuckerbrot und Peitsche“ sollten die „Abtrünnigen“ in das hanefitische Glaubenssystem über- und eingeführt werden: 1. beratende Kommission 2. finanzielle Zuwendungen etc. 3. Strafexpedition Bevor in der dritten Stufe die „Peitsche“ zum Einsatz kam, überredeten, protegierten und bestachen osmanische Behörden lokale Stammesführer mit allerlei Vergünstigungen bis hin zu Einladungen an den Sultanshof.29 Im konkreten Fall lagen die Zielvorstellungen von Abdülhamid II. und ‫܇‬âkir Pascha (Religion vs. Militär) weit auseinander. Während der Sultan dem spirituellen Traum einer „Hanefitesierung“ der Yeziden folgte, ging es ‫܇‬âkir Pascha vornehmlich um die militärische Einbettung in das osmanische System. Letztendlich setzte sich Abdülhamid II. mit seinem Ansinnen durch.30 Der „Integrationserfolg“ war allerdings nur über die dritte Stufe einer Strafexpedition zu erreichen. After repeated unsuccessful attempts through the centuries to bring them back to the true path, eighty villages of the Yezidi and thirty villages of the Shi’a have acceded to the honour of the True Faith. Yesterday, their leaders, with total freedom of conscience, accepted my invitation to come to Mosul and become Muslim.31

Nicht nur yezidische, auch alevitische Stämme aus Dersim sollten für die Hamidiye verpflichtet werden. Wie bekannt, dürften diese schwerlich unter dem Banner des sunnitischen Panislamismus zu subsummieren sein. Im Bemühen um diese alevitischen Stämme Dersims zeigen sich exemplarisch nicht nur die osmanischen Intentionen, sondern auch die mit –––––––––––––––– 28 Dazu: DERENGIL, Selim: The well-protected domains. Ideology and Legitimation of Power in the Ottoman Empire 1876–1909. London/New York 1998, S. 68–92. 29 Vgl. dazu: DERENGIL, Selim: 1998, S. 69f.; GUEST, John: The Yezidis. A Study in Survival. London & New York 1987, S. 125f; Derengil (1998, S. 71) hebt etwa die 13.000 kuruú hervor, die vom Sultanshof für einen Schul- und Moscheebau bereitgestellt wurden. 30 DERENGIL (1998, S. 70) zitiert aus einem Memorandum ‫܇‬âkir Paschas, in: BAùBAKANLIK ARùøVø, Y.Mtv 51/61, 18 Zilkade 1308/18. Juni 1891. 31 Telegramm von General Ömer Vehbi Pascha an die Hohe Pforte, in: BAùBAKANLIK ARùøVø, Irade Dahiliye 53, 7 A÷ustos 1307/20. August 1892, zitiert nach: DERENGIL, Selim: 1998, S. 71.

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der Missionierung verbundenen politischen, religiösen, ethnischen und sozialen Schwierigkeiten. Erstens: Dersim war eine der möglichen Einfallstore Rußlands in das Osmanische Reich. Dieses Tor und dessen (alevitische) Torhüter galt es zu schützen, zu stärken und unempfindlich gegenüber russischen Avancen zu machen. Zweitens: Dersim war eine Region mit einem hohen armenischen Bevölkerungsanteil. Diese Armenier sollten kontrolliert werden, einerseits, um armenische Revolutionspropaganda, andererseits, um die befürchtete „Kollaboration“ mit Rußland zu unterbinden. It is proposed to raise a force of Kurdish infantry32 in the Dersim district, the conditions of enlistment in which would be similar to those governing the present Hamidieh cavalry. Mehmet Ali Pasha is of [the] opinion that this project has already been sanctioned from Constantinople to be begun in [the] spring. Some twenty or thirty battalions would be raised. These auxiliaries would be organized as a special mountain infantry force, trained for guerilla warfare, good shots, who would dispute the passage of the difficult mountain tracks of this intricate country. This project, should it be carried out, will, doubtless, have disadvantages as well as advantages. It may be that these people, when lawfully permitted to carry arms, may do much harm in time of peace, while, in the event of war, it is hardly to the Dersim fastnesses that the Russians would at first betake themselves, while, once surrounded and cut off, Kurds would probably throw in their lot with the victorious Russians.33

Den umworbenen Stämmen war die Aufnahme in die Hamidiye oftmals der letzte Schutz vor diesen. Als Teil der unter besonderen Schutz stehenden Milizen war man vor Übergriffen fremder Hamidiye-Clans besser geschützt: weniger juristisch denn aufgrund der gestellten Waffen und Munition sowie der weitgehenden Straffreiheit. Bereits 1892, zum Zeitpunkt der Schaffung der kurdischen Kavallerieregimenter, hatte der Oberkommandierende des IV. Korps sich bei den einflussreichen Führern der verschiedenen Stämme von Dersim umgesehen, aber seine Avancen wurden mit zu großer Gleichgültigkeit aufgenommen. […] Man geht davon aus, dass die Ereignisse von 1895 und 1896 und besonders die Rolle der kurdischen Führer der Hamidiyekavallerie wie Kör Hüseyin Pascha, Emin Pascha und Haci Timur Pa-

–––––––––––––––– 32 Dies wären die ersten nicht als Kavallerie konzipierten Regimenter gewesen. 33 Massy an Sir N. O’Conor (Marquess of Salisbury) vom 21. Jan. 1899, in: PUBLIC RECORD OFFICE, London, Standort: FO 195/2059, zitiert nach: KLEIN, Janet: Wessen Hamidiye? Ein kritischer Blick auf den sunnitischen Faktor bei der Aufstellung der kurdischen Stammesregimenter unter Sultan Abdülhamid II., in: Kurdische Studien, 2 (2002b) 1, S. 131–154, S. 145.

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scha, deren finstere Missetaten ungestraft blieben, die Stammeschefs von Dersim dazu veranlasst haben, die Vorschläge des Müúir zu akzeptieren.34

So waren nicht nur alevitische Stämme wie die Hormek Überfällen durch die CibranlÕ ausgesetzt, auch vor ihren sunnitischen Glaubensbrüdern machten Letztere nicht Halt.35 Wobei es im Ergebnis keine Rolle für die Opfer spielte, ob sie als „zweite Wahl“ galten und erst „besucht wurden“, nachdem man armenische oder alevitische Dörfer ausgeplündert hatte.36 Die religiöse Inkorporation etwa der Yeziden folgte letztendlich dem größeren Plan, die mit der 1856 festgeschriebenen Freiheit der Religion(en) gefährdete muslimische Vormachtstellung zu sichern. ‫܇‬âkir Pascha erklärte dazu, „the basis of power (üs-ü saltanat) is the Muslim population, the power of the state will increase in proportion to the number of its Muslim subjects […].37 1.3. Antiarmenische Mission Die Konsolidierung des (multiethnischen und multireligiösen) Osmanischen Reiches sollte über die staatliche Demonstration islamischen Selbstbewußtseins erfolgen, der Sultan selbst stilisierte sich zum Garanten des wahren Glaubens. In enger Wechselwirkung damit stand der aufflammende armenische Widerstand gegen das Osmanische Reich. Auch hier machte sich eine Doppelstrategie bemerkbar: Die armenischen Aktionen, oftmals von russischem Territorium ausgehend, waren ihrem Charakter nach sowohl antiosmanisch als auch antimuslimisch, Terror als Mittel der Interessendurchsetzung galt den armenischen Kommandos als legitimes Werkzeug. Die daraus resultierende muslimische (Gegen)-gewalt war kalkulierter Bestandteil eines Planes, der die europäischen Großmächte zum Handeln zwingen sollte.

–––––––––––––––– 34 Der französische Vizekonsul Srabien in Erzurum an den französischen Botschafter in Konstantinopel, 10. März 1899, in: MINISTÈRE DES AFFAIRES ÉTRANGÈRES, Centre des Archives diplomatiques de Nantes, Srabien an Constans, Nr. 5; Erzurum, 10.03.1899 (Ambassade de Constantinople, E Séries-Thématiques, Turquie, Affaires Arméniennes/116), zitiert nach: KLEIN, Janet: 2002b, S. 146. 35 Zu den Hormek auch: MCDOWALL, David: A modern History of the Kurds. London 1996, S. 60f. 36 Vgl. dazu auch: KLEIN, Janet: 2002b, S. 132, Fußnote 6. 37 Zitiert nach: DERENGIL, Selim: 1998, S. 91.

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Die sich im auslaufenden 19. Jahrhundert formierenden armenischen revolutionären Bewegungen Hunchak38 und Daschnaktsution39 bildeten nicht nur die Speerspitze eines sich formierenden national-armenischen Widerstandes, sie waren gleichsam auch Ausdruck eines innerarmenischen sozio-ökonomischen und kulturellen Stadt-Land-Gefälles. Gegründet von Intellektuellen der urbanen armenischen Eliten, hatten sie mit den in den Dörfern lebenden armenischen Bauern wenig gemein. Oder, wie SUNY es plastisch ausdrückt: “[…] while urban Armenians lived in nineteenth-century surroundings, Armenian villagers still lived as they had a hundred years earlier”.40

Das teils aggressive Vorgehen der armenischen Revolutionäre ist ein Aspekt, der in die Bewertung der Politik Abdülhamid II. sowie der Aktionen und Handlungsmotive der Hamidiye-Milizen mit einfließen muß. And one spring evening in 1891, when he [Abdülhamid, H.F.] and Vambéry41 were peacefully sipping their after-dinner coffee, in the Chalet Kiosk at Yildiz, he suddenly said with an air of cold determination, ‘I tell you I will soon settle those Armenians. I will give them a box on the ears which will make them smart and relinquish their revolutionary ambitions’.42

Es mag dahingestellt bleiben, ob dies der Prolog zu den 1894 beginnenden Massakern an Armeniern war. In diese Massaker, die mit Kenntnis und Billigung des Hamidiye-Kommandeurs und Armeegenerals Zeki Pascha über die armenischen Dörfer hereinbrachen, waren auch und gerade die Hamidiye verstrickt.43 Interessant ist das im Nachgang erhobene Kon–––––––––––––––– 38 Sozialdemokratische Partei Hunchakian (ɦʏʘʂɸʃ ɻɼʋʏʆʗɸʖ əʍʐɸʆʌɸʍ ʆʏʙʔɸʆʘʏʙʀʌʏʙʍ), gegründet 1887 in Europa mit dem Ziel, „Armenien“ aus dem Osmanischen Reich zu befreien. 39 Armenisch Revolutionäre Föderation (əɸʌ ɞɼʉɸʚʏʄɸʆɸʍ ɍɸʎʍɸʆʘʏʙʀʂʙʍ, Hay Heghapokhakan Dashnaktsutiun), gegründet 1890 in Tiflis mit den Zielen, armenische Dörfer vor Übergriffen militärisch zu schützen und eine armenische Unabhängigkeit zu erlangen. 40 SUNY, Ronald G.: Looking toward Ararat. Armenia in Modern History. Bloomington & Indianapolis 1993, S. 19. 41 Armin VAMBÉRY, 1832–1913, war nicht nur universeller Orientalist und Reisender, sondern auch enger Freund Sultan Abdülhamid II. 42 HASLIP, Joan: The Sultan. The Life of Abdul Hamid II. London 1958/1973, S. 212. Hier zeigt sich eine Eigentümlichkeit hinsichtlich des Gründungsdatums der Hamidiye. Haslip führt aus, daß zwei Tage später „an Imperial irade announced the formation of an irregular force of Kurdish cavalry to be known as the Hamidieh, the ‘Sultan’s Own,’ to be used for operations against the Armenian rebels” (ebd.). 43 Zu den Massakern und dem zwei Jahrzehnte folgenden Massenmord 1915 gibt es eine unübersichtliche Zahl an Literatur, daher seien hier lediglich die folgenden beiden Werke erwähnt: HOVANNISSIAN, Richard G.: Armenia on the Road to Inde-

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strukt, mit dem die Gründung der Hamidiye-Milizen rechtfertigt werden sollte. Demnach seien sie als antiarmenischer Schutzwall aufgestellt worden Reflektiert wurde (und wird) dabei auf die national-revolutionären Aktivitäten vor allem von Hunchak und Daschnaktsution, ungeachtet der Tatsache, daß diese Geheimverbände in etwa zeitgleich mit der Gründung der Milizen auftauchten, keinesfalls also deren Ursache sein konnten. Aus damaliger kurdischer Perzeption allerdings waren weder Milizen noch Kurden für die Greueltaten und Überfälle verantwortlich zu machen, sondern einzig der Sultan allein: Bevor [Abdülhamid II., H.F.] auf den Thron gelangte, waren die Kurden ein kluges und zivilisiertes Volk, das brüderliche Beziehungen zu den Armeniern pflegte und jegliche Konfrontationen vermied. Was geschah dann? Verwandelten sich Kultur und Wissen der [kurdischen] Zivilisation in Barbarei, Ignoranz und organisierte Rebellion? Wer sonst als die Angehörigen der Hamidiye-Regimenter übte diese Kriegsgreuel aus, bewaffnet durch und stolz auf ihre Loyalität zum Sultan. So haben wir beispielsweise Mustafa Pascha, den Chef des Miran-Stammes […]. Er, der Sultan, ernannte ihn zum Pascha und führte ihn als Kommandeur eines HamidiyeRegimentes. Nicht vorzustellen, was solch eine Person fähig ist, zu tun – ein Verräter, dessen eigener Sohn sein Feind wurde, eine Person, die seine Schwiegertochter schockierte. Würde so einer nicht auch Armenier schlachten und selbst bei Muslimen plündern?44

Die Massaker führten im Ergebnis zum Eingreifen des Sultans, der 1895 mit einem Erlaß ausgleichend zu reagieren versuchte. In dem 40 Punkte umfassenden Erlaß gibt es mit Artikel 25 einen direkten Bezug zu den Hamidiye. The use of Hamidiye cavalry only in conjunction with regular troops – ‚at ordinary times and when not on service the Hamidiye cavalry shall not wear uniforms and carry arms‘.45

Der Reformversuch, der weitgehende Zugeständnisse an die armenische Community machte, kam durch den nicht unerheblichen Druck der ausländischen Mächte zustande. Vor allem Großbritannien fühlte sich genötigt, auf Abdulhamid II. einzuwirken, um die christliche Minderheit zu schützen. Dies ging soweit, daß mit der Idee einer direkten Intervention zugunsten der Armenier gespielt wurde, habe das Empire doch die moralische Pflicht zum Schutz der Armenier übernommen. –––––––––––––––– pendence. Berkeley & L.A. 1967; KÉVORKIAN, Raymond: Le Génocide des Arméniens. Paris 2006. 44 BEDIR KHAN, Abdurrahman: Kürdler ve Ermeniler, in: Kurdistan, No. 26, 1 Kanun-i Evvel 1316/14. Dezember 1900, Reprint, herausgegeben durch: BOZARSLAN, Emin: Kurdistan reprint, Bd. 2, Uppsala 1991. 45 Zitiert nach: SALT, Jeremy: 1990, S. 317.

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We have encouraged them [the Armenians, H.F.] for our own purposes to organise themselves and rebel, and the Sultan has now got them by the throat, and, backed by Europe, is defying us to come on and deliver them. If we do not go to war we shall be sitting down under the greatest affront we have suffered as a nation.46

Die antiarmenischen Aktionen der Milizen sind unzweifelhaft belegt und folgen den Intentionen des Sultans. Auch wen die Hamidiye die armenischen Revolutionäre in ihrer konspirativen Arbeit behinderten, führten die Pogrome zu alles anderem als einer stabilen Lage in Ostanatolien.

Fazit Wurden die von Abdülhamid II. anvisierten Ziele erreicht? Nimmt man sich das zu Anfangs erwähnte Konfliktquadrat als Kriterium, dann ist die Antwort ein überwiegendes NEIN. Militärische Sicherung: Die Gründung der Hamidiye war zwar insofern erfolgreich, als eine geostrategische Stabilität erreicht wurde. Was weniger mit der militärischen „Schlagkraft“ der Milizen als vielmehr mit einer gewissen russischen Zurückhaltung zusammenhing. 1. Antiarmenische Funktion: Zwar wurde armenische Propaganda erschwert, Aktivitäten von armenischer Seite hielten jedoch bis etwa 1903 an. Bestes Beispiel war der armenische Überfall auf eine Bank in Konstantinopel am 24. August 1896.47 Die Gründung der paramilitärischen Milizen, deren Bewaffnung und mangelnde Kontrolle sowie die allen juristischen Restriktionen weitgehend entzogenen Stammesführer waren für den Anstieg ethnischer Spannungen und Pogrome unmittelbar verantwortlich. 2. Zivilisierung: Weder konnten die kurdischen Stämme „zivilisiert“, noch seßhaft gemacht werden. Inner- wie interethnischen Spannungen blieben erhalten und verstärkten sich noch. 3. Islamisierung: Nichtsunnitische Religionsgruppen (Aleviten, Yeziden) sollten zum „wahren“ Islam bekehrt werden. Nur über massiven Druck konnte dies – räumlich wie zeitlich befristet – erreicht werden, allerdings ohne Langzeitwirkung.

–––––––––––––––– 46 BLUNT, Wilfrid Scawen: Turkish Misgovernment, in: The Nineteenth Century, 40 (1896) 237, November, S. 844. 47 Dazu auch: SUNY, Ronald G.: 1993, S. 79.

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Mit der Inkorporation in das osmanische Rechtssystem, begriffen auch als mission civilisatrice, war folgende Hoffnung der osmanischen Elite verbunden: […] the ‚barbaric‘ tribes could be transformed into peaceful agriculturalists in body and Ottoman (indeed) Turkish ‚citizens‘ in spirit.48

Die osmanische Intention der Seßhaftmachung der Stämme traf – begleitet durch einen allgemeinen Trend zu Landnahme – auf einen „Zeitgeist“, den die Regierung gleich mehrfach auszunutzen versuchte: x Ansiedelung der Stämme x Verstetigung kurdischer Loyalität x Landenteignung von armenischen Osmanen und deren damit verbundene – und gewollte – Migration und, daraus resultierend, x eine von potentiell armenischen „Kollaborateuren“ gesäuberte Grenzregion. Die Milizen entfalteten ihren Einfluß auf die lokalen Machtstrukturen nicht langsam und vereinzelt, sondern unmittelbar und die Kernbereiche der Macht betreffend. Die Hamidiye-Stammesführer nutzten ihr „Recht auf Rechtlosigkeit“, um ihre Interessen gegen kleinere nicht protegierte Stämme durchzusetzen. Dieses von Abdülhamid II. beabsichtigte und von Zeki Pascha tolerierte Lobby-Gefälle führte mit den Jahren zu einem Machtzuwachs der Stämme in einem Umfang, daß von einer Verschiebung des fragilen machtpolitischen Status quo gesprochen werden muß. Einer Verschiebung die zu einer „Neo-Emiratisierung“ der Stämme führen sollte.49 Häufig herangezogen, dient Ibrahim Pascha als gut dokumentiertes Beispiel eines solchen Neo-Emirates. Hinter dem geplanten Institutionen-Transfer vom Zentrum zur Peripherie versteckt sich der Versuch, über die Einführung von im Osmanischen Reich erprobten und verläßlich funktionierenden wie kontrollierbaren Organisationsstrukturen die archaischen Regeln und Stammestraditionen in der kurdischen Peripherie in ihrem Handlungsfreiraum zu beschneiden. Dieser Institutionen-Transfer sollte eine unerwartete Langzeitwirkung entfalten. Weit nach ihrem Ende gaben die Hamidiye dem erwachenden kurdischen Nationalismus ebenso Impulse wie der 70 Jahre später (1978) gegründeten PKK ihre separatistische Rechtfertigung. Schauen wir auf die mit Waffen, Munition und Privilegien ausgestatteten Dorfmilizen, die ab –––––––––––––––– 48 Vgl. dazu auch: DERENGIL, Selim, 1998, Kap. 3; KLEIN, Janet: 2002a, S. 5f.; Reinkowski, Maurus: 2005, S. 26f. 49 Vergleiche dazu auch: DUGUID, Stephen: The Politics of Unity: Hamidian Policy in Eastern Anatolia, in: MES, 9 (1973) 2, S. 139–155; KLEIN, Janet: 2002a, S.187ff.

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1984 das türkische Militär in seinem „Antiterrorkampf“ gegen die PKK unterstützen sollten, dann tritt diese Langzeitwirkung der Hamidiye augenfällig hervor. Kurdish tribal groups, which receive weapons and payment as well as virtual immunity from prosecution from the Turkish state. Both the automatic weapons and the hand grenades used in the bloodbath had been provided by the state to the assailants in their function as village guards.50

Ein Dreivierteljahrhundert nach Abdülhamid II. findet sich genau dieses Element in der paramilitärischen Miliz wieder. Diesmal in der national zwangshomogenisierten Türkei, die ihre Ostgebiete zu schützen und stabilisieren sucht(e).51

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–––––––––––––––– 50 Diese Aussage bezieht sich auf das Massaker in Bilge im Mai 2009, Provinz Mardin, bei dem 44 Personen starben. LEICHT, Justus: Massacre in Kurdish area highlights Turkey’s “village guard” system, in: word socialist website, unter www.wsws.org/articles/2009/may2009/turkm13.shtml (Zugriff am 13. Mai 2009). 51 Dazu auch: TAPAN, Berivan: Terörün Bekçileri. Hamidiye AlaylarÕndan Günümüze Koruculuk. østanbul 2007.

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„Etwas hässlich, aber man kann dort leben“ Einige Anmerkungen zum Dorf ùirince – Selçuk – Izmir Detlev Finke (Hamburg) Nach einer Fahrt von sieben oder acht Kilometern auf einer steilen und kurvenreichen Straße von Selçuk aus in östlicher Richtung ins Gebirge hinein erreicht der Bus das in 350 m Höhe gelegene Dorf ùirince.1 Ab und zu glitzert und flimmert es am Wegesrand zwischen den Büschen hervor – Schmirgel, der im 19. Jahrhundert in dieser Gegend industriell abgebaut wurde. Nach dem Aussteigen vor dem Artemis-Restaurant bietet sich ein herrlicher Ausblick über den Ort: Häuser aus Stein in zweistöckiger Bauweise mit großen, regelmäßigen Fenstern, eingebettet in eine grüne Hügellandschaft – ein wahrlich hübscher Anblick. Und genau das bedeutet ùirince, „recht hübsch“, wie die Übersetzung des Namens besagt. Das Restaurant selbst, ein prächtiger Steinbau mit flachem rotem Ziegeldach, ist das ehemalige Schulgebäude, das nach Auskunft des Betreibers 1849 als solches geplant und erbaut wurde. Damals lebten hier Griechen und der Ort hieß Çirkince, was nun ganz im Gegenteil „ziemlich häßlich“ bedeutet. Wann und wie das Dorf gegründet wurde ist unsicher, Spuren von Besiedlung gehen bis ins 5. Jahrhundert zurück. Schon damals soll die Gegend ein idealer Zufluchtsort vor Feinden wie auch vor der Malaria gewesen sein, welche die Bewohner von Ephesos plagten. Hinzu seien das gute Klima, reichlich Wasser und fruchtbarer Boden gekommen. Einer Überlieferung zufolge sei der Ort von Einwohnern aus Ephesos, die vor den türkischen Eroberern flohen, gegründet worden, einer anderen zufolge in der Zeit der „Talfürsten“ (derebeyler). Und als Erklärung, warum das Dorf Çirkince (= häßlich) hieß, wird folgende Geschichte erzählt: In der Zeit der „Talfürsten“ ersuchten einige Leute ihren Herren darum, fortziehen zu dürfen, und sagten, daß sie einen Ort gefunden hätten, wo sie sich nieder–––––––––––––––– 1

Diesen kurzen Besuch machte ich im Jahre 2000 im Rahmen des 14. Symposiums der CIEPO in Çesme. Die Umschrift türkischer und osmanischer Begriffe und Zitate erfolgt in moderner türkischer Schreibweise, wie sie im Türkçe Sözlük oder im Yeni Redhouse festgelegt ist. Ausnahmen bilden klare Abweichungen wie z.B. berü statt beri.

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lassen könnten. Auf seine Frage, ob dieser Ort schön sei, antworteten sie: „Nein, etwas häßlich“, und so blieb der Name Çirkince.2 Einer ganz anderen Quelle zufolge wurde das Dorf um 1835 von einem Griechen namens Haiç Panayot gegründet. Dieser als äußerst verschlagen und mißgünstig beschriebene Mann gab denen, die ihn nach dem Dorf fragten, stets die Antwort „etwas häßlich, aber man kann dort leben“. In der Tat verhinderte diese Aussage den Zuzug weiterer Leute, wenn auch nur für kurze Zeit.3

Abb. 1: ùirince, Foto: Giedke

Hier schon zeigt sich, daß es schwierig ist, über diesen Ort zu berichten. Denn das Dorf wurde erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts für den Tourismus entdeckt. Bis dahin hatte sich kaum jemand für diesen Ort interessiert. Das bedeutet z.B., daß kein Reiseführer, der vorher erschienen ist, ùirince erwähnt, keine Reisekarte den Ort zeigt. Hinzu kommt, daß die heutigen Einwohner im Rahmen des im Friedensvertrag von Lausanne –––––––––––––––– 2 3

Diese Angaben folgen dem Prospekt des Artemis ùirince Sarap Evi & Restaurant, der damals überreicht wurde. KILIÇ, Ömer: Tarihî Selçuk ve Efes Rehberi. øzmir 1971, S. 58.

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vereinbarten Bevölkerungsaustausches (nüfus mübadelesi) zwischen der Republik Türkei und Griechenland 1924 hier angesiedelt wurden. Somit ist hier ein Bruch der Tradition entstanden, eine Erscheinung, die man auch in anderen Gegenden der Ägäis-Region beobachten kann. Schon vor diesem Austausch, etwa nach den Balkankriegen 1912–13 kamen Aussiedler in diese Region, später weitere muhacirlar (im lokalen Dialekt macurlar) aus Jugoslawien und Bulgarien. Zudem gab und gibt es eine Zuwanderung aus Zentral- und Ostanatolien. Somit reichen die Erinnerungen und Überlieferungen der Bewohner heute selten über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hinaus. Dies erschwert die Recherche vor Ort, außerdem ist der Zugang zu Archivquellen schwierig. Zudem ist ein Teil von ihnen bei dem Brand von Izmir 1922 verlorengegangen. All dies hat dazu geführt, daß dieser Ort weniger erforscht oder dokumentiert ist als andere Stätten in der Türkei. Zudem ist anzumerken, daß das Interesse an der regionalen und lokalen Geschichte in der Türkei erst in letzter Zeit wieder erwacht ist, nachdem entsprechende Bemühungen in den 30er und 40er Jahren, gefördert vor allem durch die „Volkshäuser“ (Halkevleri), eingeschlafen waren. Letztendlich hat der aufstrebende Tourismus es erforderlich gemacht, daß Informationen zur jeweiligen Örtlichkeit bzw. Region bereitgestellt und verbreitet werden. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht einfach, aus den verschiedenen Reiseführern und Internetseiten4 ein Bild über die Geschichte des Ortes zu gewinnen, denn in einigen Fällen weichen Aussagen, Daten und Überlieferungen voneinander ab. Spuren der ersten Besiedlung weisen auf das 5. Jahrhundert zurück. Der Dorfbrunnen versorgte das Aquädukt, das zum Bezirk der unter Kaiser Justinian (527–565) erbauten Johanneskirche in Selçuk auf dem Südhang des sogenannten Ayasoluk-Hügels führte, mit Wasser. Einsiedler und Mönche kamen in die Gegend. Drei Kilometer nördlich von ùirince finden sich Reste eines byzantinischen Klosters aus dem 12. Jahrhundert. Im Oktober 1304 wurde Ephesos von den Türken erobert, aber es handelte sich nicht um die antike Stadt, deren Ruinen heute von zahlreichen Touristen bewundert werden, sondern um die Siedlung, welche sich um die Johanneskirche gebildet hatte. Das antike Ephesos war längst verlassen. Dieser Ort war bekannt unter dem Namen Haghios Theologos, das ist der „heilige Gottesmann“, den die Legende mit dem Evangelisten Johannes in Verbindung bringt. Die Türken nannten die Stadt Ayasolu÷, die Venezianer und –––––––––––––––– 4

Zu nennen sind die Internetseiten: www.ephesusguide.com/sirince, www.my-merhaba.com/de, www.kulturturizm.gov.tr, www.sirincerehberi.com, www.hiddenturkey.com, www.nisanyan.com (Stand Mitte 2006).

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Genuesen, die verstärkt Handelskontakte mit diesem Ort aufnahmen, Altoluogo.5 Die folgenden Jahrhunderte liegen im Dunkeln, es kursieren nur einige wenige legendenhafte Überlieferungen. Erst für das 19. Jahrhundert lüftet sich der Schleier. Und bei einer Besichtigung des Dorfes werden die Geschehnisse deutlich. Im 19. Jahrhundert heißt der Ort Çirkince, in europäischen Quellen Tchirkindje, und ist von Griechen bewohnt, welche ihn, wegen des Unvermögens, den Laut „tsch“ auszusprechen, Kirkinje nannten. Von den Bauten aus jener Zeit sind neben der bereits erwähnten Schule zwei Kirchen und gut 200 Häuser erhalten geblieben. In der Umgebung gibt es weitere Überreste von Kapellen und anderen Gebäuden. Die eine Kirche steht in der Mitte des Dorfes und ist Johannes dem Täufer gewidmet. Sie wurde 1805 erbaut, nach einer anderen Quelle 1832, und in neuester Zeit mit Mitteln einer privaten Stiftung aus den USA restauriert. Die andere Kirche, die des Heiligen Demetrios, steht am Ortsrand und ist dem Verfall preisgegeben. Sie soll gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden sein. Der Ort blühte auf durch den Anbau und Export von Feigen und Tabak. Er soll vor dem Bevölkerungsaustausch 3.000 bis 4.000, nach anderen Angaben sogar 9.000 Einwohner gehabt haben. 1924 wurden hier 4.000 türkische Aussiedler aus Griechenland – die einen sagen aus Kavala, die anderen sagen aus Saloniki – angesiedelt. Auf Anordnung des Präfekten von Izmir wurde der Ort in ùirince umbenannt. Jedoch kamen die Neuansiedler dort nicht zurecht. Und so verfielen die Gärten, Bäume wurden abgeholzt, Häuser abgerissen und eine stetig steigende Anzahl der Umsiedler zog nach Selçuk oder øzmir.6 Einen weiteren Rückschlag bildete später die Einschränkung bzw. das Verbot des Tabakanbaus. So sank die Zahl der Einwohner auf 700 bis 800. Die Wende kam mit der Wiederentdeckung der Schönheit und des einmaligen architektonischen Ensembles des Dorfes. Dadurch wurde es aus seinem entlegenen Dasein befreit – man bedenke, daß die Straße zum Dorf erst 1986 asphaltiert wurde. Das Dorf wurde unter Denkmalschutz gestellt, –––––––––––––––– 5

6

Zur Geschichte der Stadt siehe DARKOT, Besim: Ayasuluk, in: øA, Bd. 2, S. 56–57; TAESCHNER, Fr.: Ayasoluk, in: EI2, Vol. I, S. 777–778; EMECEN, Feridun: Ayasuluk, in: Türkiye Diyanet VakfÕ øslâm Ansiklopedisi, cilt 4, S. 225–227; BROCKHOFF, Wilhelm: Studien zur Geschichte der Stadt Ephesos vom IV. nachchristlichen Jahrhundert bis zu ihrem Untergang in der ersten Hälfte des XV. Jahrhundert. Dissertation, Jena 1905; ARIKAN, Zeki: XIV–XVI. yüzyÕllarda Ayasulu÷, in: TTK Belleten LIV/209 (1990), S. 121–77; FINKE, Detlev: Die Stadt Ayasolu÷ (Ephesos/Selçuk) im 15. und 16. Jahrhundert nach osmanischen Steuerregistern. Unveröffentl. Magisterarbeit, Hamburg 1991. 1935 hatte ùirince 1.288 Einwohner.

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Touren für Touristen organisiert, Gebäude restauriert, kurzum: langsam ging es wieder aufwärts, die Einwohnerzahl stieg auf 1.500. Heute spielt der Tourismus eine wichtige Rolle. Aus Selçuk und KuúadasÕ kommen Tagesausflügler, daneben gibt es eine Reihe von Pensionen, in denen sich jene einquartieren, die dem Rummel der touristischen Zentren entfliehen wollen. Und auch einige Pensionäre wählten den Ort als Ruhesitz. Es entstanden einige Lokale und Kaffeehäuser sowie Läden, in denen neben den üblichen Souvenirs auch einheimische Produkte wie Olivenöl, Wein, Olivenseife, Obst, Ziegenkäse und diverse Handarbeiten angeboten werden. Aber der Tourismus ist nur ein Zubrot: Haupterwerb bleibt die Landwirtschaft. Es wird Wein angebaut, der in häuslichen Betrieben zu Wein verarbeitet wird. Ferner gibt es Obstanbau, vor allem die Pfirsiche gelten als die besten im Lande, und die Äpfel werden zu einem besonderen Apfelwein gekeltert. Oliven geben den Rohstoff für Öl und Seife. Doch der Tourismus hat den Bewohnern des Dorfes eine neue Perspektive gegeben, die Infrastruktur und die Vermarktung der einheimischen Erzeugnisse wurden verbessert.

Gründungsmythen Wie oben kurz beschrieben, gibt es drei Berichte bezüglich der Gründung von Çirkince: erstens durch Flüchtlinge nach der Eroberung von Ephesos bzw. Ayasolu÷ durch die Türken (1304), zweitens durch „Freigelassene“ in der Zeit der „Talfürsten“ und drittens durch einen gewissen Haiç Panayot um 1835. Der erste Bericht beruht auf einer Aussage, die 1892 der damalige Dorfvorsteher von Çirkince, Constandinidis, zu Protokoll gab. Sie lautet: Das Dorf hat seinen Ursprung in sieben Familien, welche nach der Eroberung von Ephesos in Sklaverei gerieten. Es gelang diesen sieben Familien, den Türken zu entfliehen und sich in die Gebirge in der Gegend von Ephesos zu retten, wo sie einen Ort suchten, an dem sie verborgen bleiben konnten. Sie wählten diesen gänzlich entlegenen Ort und ließen sich dort nieder.7

Nach byzantinischen Quellen ergab sich die Stadt Ephesos bzw. Ayasolu÷ türkischen Truppen unter der Führung eines gewissen Sasan bzw. Sasa Be÷ am 24. Oktober 1304. Obwohl die Übergabe durch Vertrag erfolgte, wurde die Johanniskirche geplündert, ein Teil der Bewohner getötet, ein anderer –––––––––––––––– 7

SCHECK, Frank Rainer: Türkische Westküste. Von den Dardanellen bis Marmaris. Köln 1997, 2. aktualisierte Aufl. (Dumont Reise-Taschenbücher), S. 156.

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Teil nach Tire umgesiedelt. Bei dieser Umsiedlung könnten einige Familien geflohen sein.8 Der genannte Sasa Be÷ war ein Gefolgsmann und zugleich Schwiegersohn des Menteúe Be÷, der die im Südwesten Kleinasiens gelegene Landschaft Karien erobert hatte. Sasa Be÷ war in das Gebiet des Küçük Menderes vorgedrungen, aber dann erschien ein Kommandant (subaúÕ) des Germiyano÷lu Yakub Be÷ namens AydÕno÷lu Mehmed Be÷ in dieser Region, der um 1308 Sasa Bey vertrieb und die Dynastie der AydÕno÷ullarÕ begründete.9 1390 okkupierte der osmanische Sultan YÕldÕrÕm Bayezid I. deren Herrschaftsgebiet. 1402 kam Timur dorthin und setzte das alte Herrschergeschlecht wieder ein. Nach einer Zeit der Wirren kam das Gebiet 1426 endgültig unter osmanische Herrschaft. Administrativ wurde es als Provinz unter der Bezeichnung Aydin Sancaig bzw. Livâ-yi Aydin eingegliedert. Zur gängigen Verwaltungspraxis gehörten die Durchführung von Steuererhebungen und die Ausfertigung von Steuerregistern.10 In einem Register der Stiftungen der Provinz AydÕn (defter-i evkâf-i livâ-yi Aydin) aus dem Jahre 1529 findet sich folgender Eintrag: Kazâ-yi Ayasolug der livâ-yi Aydin el-mahruse. (Gerichtsbezirk Ayasolug in der beschützten Provinz Aydin). Karye-i Yayla der nahiye-i Cirkince tabi-i Ayasolug vakf-i Aydinogli Isa Beg ber cevâmi-i u der nefs-i Ayasolug ve Birgi ve Keles ve türbe-i u der Birgi. Hane 16, imam 1, pir-i fani 1, malul 1, bennak 16, resim 192. (Dorf Yayla im Gebiet von Cirkince von Ayasolug, Stiftung des Aydinoglu Isa Beg für seine Moscheen in Ayasolug-Stadt, Birgi und Keles und für sein Grabmal in Birgi. Haushalte 16, Imam 1, Greis 1, Behinderter 1, verheiratete Kätner 6, Steuern 192). Cemaat-i Kefere der karye-i mezkure vakf-i Isa Beg el-merhum ber cevâmi-i selase ve türbe-i u. Hane 2, çift 1, resim 33, bennak 1, resim 12, cizyeleri hass-i sahîdir 120. Bunlardan gayri isbu karyede bazi kefere kadim el-eyyâmdan

–––––––––––––––– 8

WITTEK, Paul: Das Fürstentum Mentesche. Studie zur Geschichte Westkleinasiens im 13.–15. Jh. Istanbul 1934 (Istanbuler Mitteilungen Heft 2), Nachdruck Amsterdam 1967, S. 39–40. 9 EBD.: S. 40–41; AKøN, Himmet: AydÕno÷ullarÕ tarihi hakkÕnda bir araútÕrma. Ankara 1968, ilaveler yapÕlmÕú ve düzeltilmiú 2. baski, S. 15–29. 10 Zu den Registern siehe COOK, M.A.: Population Pressure in Rural Anatolia 1450– 1600. London 1972, S. 46–49 und S. 52–55 sowie FINKE, Detlev: Towards a Classification of the Ottoman Fiscal Surveys (Tapu tahrir defterleri, Defatir-i hakaniye), 15th and 16th centuries, in: Essays on Ottoman Civilization. Proceedings of the XIIth Congress of the Comité International d’Études Pré-Ottomanes et Ottomanes, Praha 1996 (Archiv Orientální Supplementa VIII). Praha 1998, S. 129–136.

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mütemekkinlerdir fa’amma resm-i bennaklari ve cizyeleri Mentese vilayetine tabi Balatda olan Menteseogli imaretine vakifdir. Ol kefereden hemân rüsum-i ösriye ve topraga müteallik rüsum-i örfiyeleri camiler vakfi içün alinur kendüler imaret vakfinin reayasidir. (Gemeinschaft der Christen in dem genannten Dorf, Stiftung des verstorbenen Isa Beg für seine drei Moscheen und sein Grabmal. Haushalte 2 = Vollhof 1, Steuern 33, verheirateter Kätner 1, Steuern 12, ihre Kopfsteuern von 120 sind kaiserliches Eigentum. Außer diesen sind in diesem Dorf einige Christen seit alter Zeit wohnhaft, aber ihre Hofsteuer und Kopfsteuer sind dem Moscheekomplex des Menteseoglu, der sich in Balat in der Provinz Mentesche befindet, gestiftet. Von diesen Christen werden die Abgaben des Zehnten und die an den Boden gebundenen gewöhnlichen Steuern für die Stiftung der Moscheen erhoben, sie selbst sind Untertanen der Stiftung des Moscheekomplexes.)11

Hier wird der Ortsname Çirkince – deutlich lesbar – als nahiye erwähnt. Dieser Ausdruck bezeichnet in den Steuerregistern den Zusammenschluß mehrerer benachbarter Orte unter einer fiskalischen Einheit. In diesem Fall ist es die Stiftung des øsa Be÷, der die Einkünfte dieser Einheit zufließen. Zu dem erwähnten Dorf Yayla und der christlichen Gemeinschaft ebendort kommen die Dörfer Ezine, KÕzÕlca, Ulucak und Turgud hinzu, deren Bewohner alle Muslime sind. Die einzigen Christen in der nahiye von Çirkince sind die alteingesessenen zwei Haushalte in Yayla und eine zahlenmäßig nicht bestimmte Gruppe von Christen, die seit „altersher“ dort wohnen, aber nicht dieser Stiftung unterstellt und steuerpflichtig sind – zumindest was die Hofsteuer und die Kopfsteuer anbetrifft – sondern einer anderen Stiftung in der benachbarten Provinz Menteúe. In einem Register für die Stiftungen der Provinz Menteúe finden sich entsprechende Angaben. Auch wenn dieses Register im Jahre 1563 – also 34 Jahre nach der oben zitierten Quelle – ausgefertigt wurde, so ergeben sich doch einige Anhaltspunkte. Unter den evkâf-i imaret ve medrese-i Ilyas Beg der nefs-i Balat (Stiftungen für den Moscheekomplex und die Medrese des Ilyas Beg in Balat-Stadt) findet sich folgender Eintrag: Cemaat-i gebrân-i karye-i Bafa12 mütemekkinân der kazâ-yi Ayasolug vakf-i imaret ve medrese-i mezbure tabi-i Balat. Hane neferen 9. (Gemeinschaft der Christen des Dorfes Bafa, wohnhaft im Gerichtsbezirk Ayasolug, Stiftung des genannten Moscheekomplexes und der Medrese, administrativ zu Balat gehörig. Haushalte Anzahl 9).13

–––––––––––––––– 11 KK 571, Bl. 33b, auch abgedruckt bei AKøN, Himmet: 1968, S. 154–155. 12 Der Ortsname taucht auf derselben Seite der Quelle noch mal auf in der Form karye-i Bafa nam-i diger Mersined ve Kapu, (Dorf Bafa auch genannt Mersined und Kapu). Heute heißt der Ort Çamiçi.

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Eindeutig handelt es sich bei diesen Christen um jene, die seit „altersher“ im Dorfe Yayla im Gebiet von Çirkince leben. Und wie die Quelle zeigt, ist diese Gruppe von Christen die einzige innerhalb der genannten Stiftung. Alle anderen Bewohner bzw. Untertanen in den der Stiftung unterstellten Dörfern sind Muslime. Sind hiermit diese Christen aus Bafa als Zugewanderte nach Yayla erkannt, so lassen sie sich auch in einem Register von 1529 finden. Dort wird ihre Anzahl mit 16 Haushalten angegeben.14 Damit beträgt die Anzahl der christlichen Haushalte im Dorfe Yayla im Jahre 1529 insgesamt 18. Dies scheint keine besonders große Zahl zu sein, aber alle Dörfer dort sind nicht sehr groß: In Yayla sind 16 Haushalte registriert (ohne die o.g. Christen), in Ezine sieben, in KÕzÕlca 13, in Ulucak 18 und in Turgud 12. Die Auflistung der einzelnen Steuern und Abgaben erfolgt für die gesamte nahiye, nicht für jedes Dorf getrennt, die Summe aller Einkünfte beträgt 10.000 akçe. Unter den Posten wie Zehnten und Mühlensteuer sind zwei besonders bemerkenswert: Harac-i baâgt ve harac-i baçgehâ-yi [mehrere Wörter unleserlich] ceviz ve kiraz ve gayrehu 3.450. (Steuern auf Weinberge und Gärten mit [unleserlich] Nüssen und Kirschen und anderem 3.450). Resm-i hum an gebrân-i reaya-i vakf-i mezkur ve gebrân-i vakf-i Mentese Oilg ki bunda sakinlerdir 2.000. (Faß-Steuer von den christlichen Untertanen der genannten Stiftung und der Christen der Stiftung des Menteúeo÷lu, die hier wohnen 2.000).15

Die zwei Einträge belegen, daß in diesem Gebiet in besonderem Maße Wein und Obst angebaut wurde (die Abgaben sind höher als die Summe der Zehnten auf die verschiedenen Getreidesorten) und daß Wein hergestellt wurde, und zwar von den Christen. Denn die Assoziation des Wortes hum (Faß) mit Wein wird deutlich im Begriff humhane = meyhane = úarap evi (Weinschenke). Damit ist klar, daß im 16. Jahrhundert im Gebiet von Çirkince die landwirtschaftliche Produktion ähnlich war wie die heute – nur von Oliven keine Spur. Somit zeigt sich, daß die Wurzeln von Çirkince ins 16. Jahrhundert, sondern noch weiter zurückreichen, wie die Worte –––––––––––––––– 13 TD 338, S.7. Die Übersetzung des Begriffes imaret als „Moscheekomplex“ stützt sich darauf, daß das Gebäude sowohl eine Moschee als auch die „Armenküche“ und die Medrese in sich einschließt. Die Stiftung wurde errichtet im Jahre 1404, vgl. WITTEK, Paul: 1967, S. 150–151. 14 TD 166, S. 511. 15 KK 571, Bl. 34b.

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kadim el-eyyâmdan zeigen. Doch leider sind hierzu keine älteren Dokumente zu finden.16 So bleiben dann nur die mündlichen Überlieferungen übrig. Es ist durchaus möglich, daß 1304 einige christliche Familien entflohen und sich im Dorfe Yayla niederließen, andere jedoch von Sasa Be÷ in den Herrschaftsbereich seines Schwiegervaters nach Bafa verbracht wurden. Einhundert Jahre später wurde dieser Ort der Stiftung des Menteúeo÷lu ølyas Be÷ zugewiesen. Irgendwann siedelten die erwähnten christlichen Familien bzw. deren Vorfahren von dort nach Yayla in der Provinz AydÕn über, wobei sie aber weiterhin in der Provinz Menteúe steuerrechtlich registriert waren. Dazu bedurfte es eines Aktes der Freilassung, denn ein Wohnortwechsel war nur unter Auflagen möglich, und das dürfte erst recht für Stiftungsland gegolten haben. In diesem Punkt vermischt sich diese Legende mit der von der Freilassung aus den Händen der „Talfürsten“, die aber in eine spätere Zeit – das 18. Jahrhundert – verlegt wird. In dem Motiv der Freilassung dürfte ein Körnchen Wahrheit liegen, denn 1529 waren alle Untertanen der genannten Stiftung des øsa Be÷, zu der Çirkince gehörte, von der als avârÕz bekannten Abgabe befreit.17 Dies war durchaus ein Anreiz für manche Leute, sich auf Stiftungsland niederzulassen. So war Urla damals die größte Stadt in der Provinz AydÕn. Denn sie gehörte zu den Stiftungen des Moscheekomplexes der Valide-i Hazret-i Padiúah in Manisa und ihre Einwohner waren vom avârÕz und allen tekâlif-i divaniye genannten Sonderabgaben befreit.18 Daher wurde immer wieder versucht, solche Zuwanderungen zu verhindern. Die Steuerregister von 1529 zeigt uns die Existenz einer christlichen Bevölkerung in dem Dorfe Yayla innerhalb der nahiye von Çirkince in der Provinz AydÕn, bestehend aus zwei dort ursprünglich angesiedelten und aus 16 aus Bafa im Gebiet von Menteúe übergesiedelten Haushalten. Dies ist bemerkenswert, weil es in dem gesamten Gebiet der Provinz AydÕn –––––––––––––––– 16 So fehlen die Originalurkunden, wie in TD 35 M., S. 11 vermerkt: øsa Be÷in [...] evkâfÕnÕn tevzinamesi zayi olub... (die Urkunde über die Verteilung der Ausgaben der Stiftungen des øsa Be÷ ist verschollen), auch abgedruckt bei AKøN, Himmet: 1968, S. 137. Auch gibt es keine weiteren vollständig erhaltenen Stiftungsregister für die Provinz AydÕn, sondern nur einige Fragmente, die aber keine Angaben hierzu enthalten. 17 KK 571, Bl. 34b. Zu dieser Abgabe siehe SAHøLLøOۛLU, Halil: AvarÕz, in: Türkiye Diyanet VakfÕ øslam Ansiklopedisi, cilt 4, S. 108–109. 18 Vgl. TD 166, S. 400. In Urla gab es 1.423 Haushalte und 605 Ledige, darunter waren 95 bzw. 48 Christen. Demgegenüber wurden in Tire 1.224 Haushalte, davon 49 christliche und 64 jüdische, sowie 412 Ledige gezählt, TD 166, S. 371. Der besagte Moscheekomplex ist heute bekannt als Sultan Camii.

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sonst so gut wie keine Dörfer mit christlichen Bewohnern gab.19 Die Christen bildeten eine Minderheit und lebten vornehmlich in den Städten Ayasolu÷, Birgi, øzmir, Urla und Tire. In der Provinz AydÕn gab es 1530 insgesamt 22 Städte (nefs) und 800 Dörfer (kurâ) mit insgesamt 62.524 Untertanen (reaya), und zwar 50.416 Haushalte und 12.108 Ledige, von denen nur 449 Haushalte und 109 ledige Christen waren.20 Gegen 1600 brach das alte System zusammen. Inflation, Mißwirtschaft, Schwächung der Zentralgewalt setzten ein und Aufstände suchten das Land heim. Es wurden keine Steuererhebungen dieser Art mehr durchgeführt, wenn auch die Finanzverwaltung in einigen Fällen weiterhin auf die alten Register zurückgriff. Selbst wenn manche Details der Lokalgeschichte noch immer im Dunkeln liegen, so kann man – was die Demographie anbetrifft – für die Folgezeit gewisse Entwicklungen feststellen. Im 15. und 16. Jahrhundert kann man einen allgemeinen Anstieg der Bevölkerungszahl konstatieren.21 Danach scheint es zu einer Verringerung der Bevölkerung gekommen zu sein. Als allgemeine Gründe kann man anführen, daß kein Nachzug von türkischen Stämmen aus dem Osten kam, wo das safawidische Persien eine Barriere bildete. Zudem brachten die fortwährenden Kriege hohe Verluste in der männlichen Bevölkerung mit sich. Auf regionaler Ebene spielten Aufstände, Seuchen, Erdbeben und andere Katastrophen eine große Rolle, und das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.22 Und auf lokaler Ebene waren die Gründung des Ortes KuúadasÕ Anfang des 17. Jahrhunderts23 und der –––––––––––––––– 19 So zählt im Gerichtsbezirk Birgi das Dorf Dere Bodamiye 48 muslimische und 5 christliche Haushalte. Noch interessanter ist der Fall des Dorfes Ada øgide (Adagide). Dort gab es neben 42 muslimischen und 47 christlichen Haushalten noch eine cemaat-Õ müslimanân ki karye-i mezbure keferesinden islama gelmiúlerdir hane 12 (Gemeinschaft der Muslime, die von den Christen des genannten Dorfes zum Islam gekommen sind, Haushalte 12), TD 166, S. 429. 20 Die Zahlen basieren auf den Angaben in der muhasebe-i livâ-yÕ AydÕn (Rechnerische Aufstellung der Provinz AydÕn), TD 166, S. 477. Nicht berücksichtigt sind die Angehörigen der Provinzstreitkräfte (Lehensreiter, Burgbesatzungen, müsellemân ve piyadegân einschließlich ihrer yamaklar) von insgesamt über 9.000 Mann. 21 Vgl. COOK, M.A.: 1972, S. 44. 22 Siehe dazu BAYKARA, Tuncer: øzmir úehri ve tarihi. Bornova/øzmir 1974 (Ege Üniversitesi Arkeoloji Enstitüsü yayÕnlarÕ No.2), S. 82–87. 23 Der Ort ist eindeutig eine türkische Gründung. Die These von der Gründung des Ortes als Scala Nova durch Genuesen im 14. Jahrhundert ist nicht haltbar. Ein hinzugefügter Eintrag aus dem Jahre 1618 in das letzte für dieses Gebiet 1575 ausgefertigte Register sagt deutlich: Mülk-i Hazret-i Mehmed Pasa [...] cezire-i KuúadasÕ haric ez defter tabi-i øzmir (Besitz des Mehmed Pascha, Insel KuúadasÕ, nicht verzeichnet im Register, administrativ zu øzmir gehörig), KK 167, Bl. 42b. Tatsächlich ist der Ort KuúadasÕ in keinem früheren Register zu finden. Zudem er-

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Niedergang von Ayasolu÷ in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts24 von Bedeutung. Aber Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich die demographische Situation, als eine Zuwanderung von Griechen, zunächst wohl von den Inseln, einsetzte.25 Ein Musterbeispiel ist AyvalÕk, eine Neugründung, die binnen kurzer Zeit aufblühte und nur von Griechen bewohnt war, ausgenommen von einigen Familien osmanischer Beamter.26 Mit der Zeit wurde in verschiedenen Städten die türkische Bevölkerung in die Minderheit gedrängt, aber auch in einigen Dörfern.27 Eines dieser Dörfer war Çirkince. Dokumentieren läßt sich dies zum einen anhand der oben erwähnten Bautätigkeit Anfang bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts (Kirche Johannes des Täufers und Schule), zum anderen anhand statistischer Angaben. Sultan Mahmud II. hatte beschlossen, eine Volkszählung durchführen zu lassen, was dann 1831 geschah. Demnach wurden in Ayasolu÷ 69 „Islam“ und 698 „Reaya“, d.h. Christen, gezählt.28 Man muß aber bedenken, daß hier nur die männliche Bevölkerung erfaßt wurde und daß unter Ayasolu÷ nicht mehr jener Gerichtsbezirk zu verstehen ist, wie er 1529 bestand, sondern eine wesentlich kleinere Einheit. Gebiete, die früher dazu gehörten, waren zwischenzeitlich ausgegliedert und als eigenständige Gerichtsbezirke verzeichnet worden, z.B. Akçaúehir (Söke) und KÕzÕlhisar (TorbalÕ). Somit dürfte es sich hier um ein kleineres Gebiet gehandelt haben, das nur den Ort Ayasolu÷ und seine nähere Umgebung umfaßte und vermutlich auch Çirkince in sich einschloß. Wichtige Informationen bietet Vital CUINET, der um 1890 im Auftrage der osmanischen Regierung die asiatische Türkei untersuchte. Damals –––––––––––––––– 24

25 26 27

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wähnt die Quelle den Bau eines Turmes (kule), einer Karawanserei (han) und eines Anlegers (iskele). Die Berichte der Reisenden Evliya †ELEBø (1671), le BRUYN (1678) und WHEELER (1682) belegen dies, wenn auch die Gründe nicht ganz geklärt sind: Abwanderung bzw. Umsiedlung von Einwohnern nach KuúadasÕ, Unruhen oder Überfälle, Seuchen oder eher ein Erdbeben, denn die lebenswichtige Wasserleitung war damals schon zerstört. Vgl. hierzu KREISER, Klaus & NEUMANN, Christoph K.: Kleine Geschichte der Türkei. Bonn 2005, S. 272 und 307. Vgl. YORULMAZ, Ahmet: AyvalÕk’Õ gezerken. AyvalÕk 1998, 5. basÕm, S. 48. Zum „Gründungsmythos“ dieser Stadt siehe ebd., S. 35–40. Vgl. BAYKARA, Tuncer: XIX. yüzyÕlda Urla yarÕmadasÕnda nüfus hareketleri, in: DERS.: OsmanlÕlarda medeniyet kavramÕ ve ondokuzuncu yüzyÕla dair araútÕrmalarÕ. øzmir 1992, S. 125–134 und DERS.: BatÕ Anadolu’daki Rum nüfusunun XIX. yüzyÕldaki durumu, in: Ebd.: S. 146–157. KARAL, Enver Ziya: OsmanlÕ ømperatorlu÷unda ilk nüfus sayÕmÕ 1831. Ankara 1943, S. 207.

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bildete KuúadasÕ einen Landkreis innerhalb der Provinz øzmir. Er war unterteilt in eine nahiye (Unterbezirk) namens „Tchirkindje – Ayasolouk“, welche 13 Dörfer umfaßte. Der Landkreis hatte insgesamt 15.363 Einwohner, von denen 8.775 Muslime, 6.189 griechisch-orthodox, 200 Ausländer, 59 armenisch-gregorianisch und 140 israelitisch waren. Der Ort „Tchirkindje – Ayasolouk“ selbst hatte 11 muslimische und 2.782 griechischorthodoxe Einwohner.29 Bei den 11 Muslimen handelte es sich um osmanische Beamte, die in Ayasolu÷ selbst wohnten, dem offiziellen Sitz des müdür (Direktor) der nahiye. Im übrigen waren die Einwohner der anderen Dörfer der nahiye ausschließlich Muslime.30 Ferner berichten europäische Reisende über Çirkince. Ephesos hatte besonders seit der Mitte des 17. Jahrhundert das Interesse europäischer Reisender und Forscher geweckt und es blieb nicht aus, daß einige davon während ihres Aufenthaltes in Ephesos nach Çirkince kamen. So hielt sich der Engländer F.V.J. ARUNDELL in den Jahren 1832 und 1833 dort auf. Bei seiner Ankunft wurde er von einem Mann gastfreundlich aufgenommen, der mit seinem Bruder einen Laden in Ayasolu÷ betrieb.31 Über den Ort schreibt er: Das Dorf ist ein beachtliches von mindestens 300 Häusern, alle griechisch. Die allgemeine Sprache des Dorfes ist Türkisch, wenn sie auch einiges in ihrer eigenen Sprache können.32

Er schätzt die Bevölkerung auf „ungefähr fünfzehnhundert Personen“.33 Er besuchte die Kirche und die zwei Priester.34 Dort zeigte man ihm ein altes Manuskript, welches angeblich vom Heiligen Johannes selbst geschrieben worden sei, was schon von CHISHULL über 100 Jahre zuvor erwähnt worden war. Das Buch, so ergab sich aus der Lesung von zwei Randnotizen, war aus Samos oder Kreta gebracht und seine Bindung 1787 repariert worden.35 Verbunden mit der Kirche war ein Schulraum, in dem 10 kleine Mädchen versammelt waren.36 Er traf auf „zahlreiche Dorfbewohner, die von ihrer Arbeit in der Ebene unten zurückkehrten. Die meisten von ihnen waren Frauen und gekleidet nach türkischer Art“, während „die Männer –––––––––––––––– 29 CUINET, Vital: La Turquie d’Asie III. Paris 1894, S. 497–498. 30 Ebd.: S. 505. Die geringe Einwohnerzahl von Ayasolu÷ bestätigt WOOD, John T.: 1877, S. 14, der um 1870 nicht mehr als 20 feste Einwohner zählte, die übrigen Häuser wurden nur während der Erntezeit von Leuten aus Çirkince bewohnt. 31 ARUNDELL, Francis V.J.: Discoveries in Asia Minor II. London 1834, S. 262. 32 Ebd.: S. 266. 33 Ebd.: S. 270. 34 Ebd.: S. 262. 35 Ebd.: S. 266–267. CHISHULL kam 1699 nach Ephesos. 36 Ebd.: S. 264.

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sämtlich bewaffnet sind wie die Türken mit Pistolen und Dolchen, ein Privileg, das sie sich wohl verdient haben, dadurch, daß sie oft erfolgreich gegen die samiotischen Räuber benutzt haben, von denen viele von den Männern aus Kirkindje getötet wurden“.37 Und er lernte unter anderem einen Schulmeister namens Panyottes kennen – anscheinend identisch mit dem oben erwähnten „Gründervater“ HaçÕ Panayot.38 Während mehrmaliger Aufenthalte in Ephesos kam der Entdecker der Ruinen des Artemisions, John Turtle WOOD, 1868 nach Çirkince. Er berichtet folgendes: Der Anblick dieses Dorfes beeindruckt die Person, die sich ihm das erste Mal nähert, als sehr eigenartig mit Häusern, die eine äußerst furchterregende Front aus strahlenförmigen, um die Fenster herum geschmierten Flächen weißer Tünche zeigen, um – wie sie sagen – den bösen Blick fern zu halten. [...] Diese Art des Anstrichs gibt den Häusern, die aus kleinen Steinen gebaut und mit einem flachen Lehmdach gedeckt sind, ein armseliges Aussehen. [...] Dennoch ist Kirkinje nicht ein so armer Ort wie es scheint. Die Einwohner sind fleißig und bebauen den Boden in der Ebene von Ephesus und meilenweit ringsum. An Festtagen kommen die Frauen heraus bekleidet mit bequemen und eleganten Kleidern in hellen Farben und machen eine große Schau mit Goldmünzen, die sie aufreihen und als Armband oder Halskette tragen.39

In der Kirche sieht er ebenfalls jenes Manuskript – seiner Meinung nach eine Liturgie, zusammengestellt aus den vier Evangelien – das, wie die Priester erzählten, auf wundersame Weise in einer Höhle in Ephesus gefunden worden sein soll.40 Darüber hinaus bietet er zur Gründung des Ortes Informationen: Als die Malaria von Jahr zu Jahr zunahm, verließen die Einwohner nicht nur Ephesus, sondern Ayasolouk, und nahmen vor rund zweihundert Jahren ihren Wohnsitz in dem heutigen Dorf Kirkinje auf dem Gebirgszug, der die östliche Seite der Ebene abgrenzt.41

An anderer Stelle vermerkt er: Es wird behauptet, die Einwohner dieses Dorfes stammten von den alten Bewohnern von Ephesus ab, welche vor gut zweihundert Jahren als eine Gruppe in die gesünderen Wohnsitze hoch oben in den Bergen umzogen.42

Aus diesen beiden Berichten läßt sich folgern, daß die damaligen Bewohner die Gründung ihrer Siedlung in die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts da–––––––––––––––– 37 38 39 40 41 42

Ebd.: S. 270. Ebd.: S. 272. ARUNDELL, Francis V.J.: Discoveries in Asia Minor II. London 1834, S. 262. Ebd.: S. 161. Ebd.: S. 14. Ebd.: S. 92.

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tierten. Als Grund dafür wird die Malaria genannt, die immer wieder in der Schwemmlandebene des Küçük Menderes ausbrach und erst im 20. Jahrhundert endgültig eingedämmt werden konnte. Vielleicht hatten sich damals einige griechische Familien aus Ayasolu÷ entschlossen, den Ort zu verlassen, waren im Gebirge auf die Nachfahren jener in den Registern von 1529 verzeichneten Christen von Çirkince getroffen und hatten sich dort niedergelassen.

Abb. 2: Abschlußrechnung für das Finanzjahr 1179/1766 (Quelle: TKSA D.5802).

Die Angaben in offiziellen Dokumenten aus dem 17. und 18. Jahrhundert über Çirkince sind spärlich. Im TopkapÕ SarayÕ Arúivi finden sich Dokumente betreffend Ausgaben und Einnahmen der Stiftung des øsa Be÷s. In dreien wird auch Çirkince erwähnt. Wenn auch diese drei Quellen von geringer Aussagekraft sind, so ist eine positive Entwicklung erkennbar: Wie oben gesehen, wurden im Jahre 1529 für die Dörfer in der nahiye Çirkince Einnahmen in Höhe von 10.000 Akçe registriert. Im Jahre 1617 betrug die Steuerpacht für die Orte Kuyumcu und Çirkince zusammen 30.000 und im Jahre 1641 36.000. Im Jahre 1766 wird Çirkince in der Abschlußrechnung des Verwalters der Moscheen des øsa Be÷ erstmals als

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rechnung des Verwalters der Moscheen des øsa Be÷ erstmals als Dorf bezeichnet, und zwar in dem Eintrag irad-Õ karye-i Çirkince ve tevabihâ fi sene 24.000 (Einnahmen des Dorfes Çirkince und seiner Umgebung 24.000).43 So könnte eine größere Siedlung entstanden sein, doch die vorliegenden Informationen lassen nur den Schluß zu, daß der eigentliche Aufschwung des Dorfes erst im 19. Jahrhundert erfolgte, als nämlich der Zuzug von Griechen von außerhalb einsetzte. Hierzu macht WOOD im Jahr 1868 folgende Beobachtung: Große Gruppen von Griechen, die manchmal aus mehreren Familien bestanden, kamen nach Ayasolouk auf ihrem Weg zwischen Smyrna und Scala Nova (KuúadasÕ). Manchmal zogen sie durch zu irgendeinem Jahrmarkt in Chios oder anderswo, manchmal wanderten sie von einem Ort zum anderen und führten alle ihre Möbel und persönliche Habe mit sich.44

Ebenso interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der griechischen Schriftstellerin Dido SOTIRIU, die 1911 in AydÕn geboren wurde und einen Teil ihrer Kindheit in Çirkince verbrachte, worüber sie in ihrem bekanntesten Roman berichtet, der unter dem Titel Benden selam söyle Anadolu’ya (in Deutsch: Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat) in der Türkei erschienen ist und ein großes Echo hervorgerufen hat. Ihr Vater stammte aus Volos in Thessalien (Mittelgriechenland), ihr Großvater mütterlicherseits aus Rhodos und war Lehrer am Gymnasium von Fener in Istanbul gewesen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden eine der Kirchen und die Schule erbaut. Der erwähnte HaçÕ Panayot bzw. Panyottes hat den Ort mit Sicherheit nicht 1835 gegründet, wie behauptet wird, aber vielleicht war er der erste offiziell anerkannte Dorfvorsteher, was ihn mehr oder weniger zum eigentlichen Gründer des „klassischen“ Çirkince machen dürfte. Das Verhältnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen war zumeist gut nachbarlich, auch wenn es Spannungen gab, wie sie selbst unter guten Nachbarn üblich sind. So vermerkt WOOD: „Die Streitigkeiten zwischen eingeborenen Türken und Griechen waren manchmal ernst, aber noch öfter belustigend“.45 Manchmal sorgte auch die politische griechisch-türkische Großwetterlage für Trübungen, bis Großmannssucht und politische Blindheit zu einem abrupten Ende dieser Ära führte. Wenn der erlittene Schmerz nur ein böser Traum gewesen wäre. Grüße meine Heimat, Schwiegersohn des blinden Mehmed, grüße Anatolien von mir. Möge uns kein Groll entgegenschlagen, weil wir seinen Boden mit Blut getränkt haben. Mö-

–––––––––––––––– 43 TKSA D. 7339 (I), D. 8439 und D. 5802. 44 WOOD, John Turtle: 1877, S. 105. 45 Ebd.: S. 158.

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ge Gott den Schlächtern, die Bruder für Bruder niedermetzelten, tausendmal die gerechte Strafe geben (D. SOTIRIU).

Ein großer Teil der griechischen Umsiedler fand in Nea Ephesos bei Katerini eine neue Heimat. In den letzten Jahren kamen einige von ihnen zurück, um ihre alte Heimat zu besuchen, und wurden dort herzlich empfangen.

Abkürzungen EI2 øA KK TD TKSA

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Am ÇÕrçÕp: Einst und jetzt Barbara Flemming (Leiden) Am Mittwoch, dem 7. Februar 2007, kam es in der ilçe CeylanpÕnar der Provinz ùanlÕurfa zu einem Unfall, bei dem zehn zumeist junge Personen im „ÇÕrpÕ“ ertranken. Die Anteilnahme in den Medien war groß. Besonders Alevis erinnerten sich an den Dede GarkÕn, der da gelebt hatte, wo die alte Karawanenstraße von Aleppo nach Mosul den ÇÕrçÕp überquerte. Hier war das Schlachtfeld, auf dem 1516 die Einverleibung der Landschaft Diyarbekir ins Osmanische Reich besiegelt wurde. Hier führt heute die Fernstraße 400 als neue „Seidenstraße“ nach Iran und Irak.

1. Die ÇÕrçÕps Mit dem Flußnamen ÇÕrçÕp (Djirdjib)1 werden mindestens drei größere Bach- oder Flußläufe bezeichnet, die, anstatt in einem Bett zu fließen, von den Bergschwellen nach Süden ein Netz von Wadis (dere yata÷Õ) durch die Ebene ziehen, wo sie einer Senke zugeführt werden, die heutzutage das Quellgebiet des Westlichen Chabur ist, des einzigen dauernd wasserführenden Zuflusses des Euphrat in Obermesopotamien. Im Sommer sind sie wasserarme Wadis; im Winter jedoch führen sie starke Wassermengen und verwandeln sich in reißende Flüsse.

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Von Carl RITTER (Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen, oder allgemeine vergleichende Geographie. Die Erdkunde von Asien. Band VII. Zweite Abtheilung. Das Stufenland des Euphrat- und Tigrissystems. Berlin 1844, S. 255) wurde der ÇÕrçÕp (irrtümlich) als westlicher Dschagschak oder Djachdjack bezeichnet.

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Abb. 1: ÇÕrçÕp, Südostanatolien

Der bedeutendste unter den ÇÕrçÕps, der Große Ç. (auf verschiedenen Karten Büyük ÇÕrçÕp, Büyükcircipsuyu, Djurdjub, Curcup Deresi, syr. Jarjab) entspringt in der ilçe Viranúehir am Südhang des 1938 m hohen Karaca

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Da÷, eines erloschenen Vulkans, der wie ein Kap weit in die Ebene hineinblickt. Seine Gipfelfläche ist ein ebenes Grasland, umringt von ausgezackten Basalten.2 Seine Hänge reichen bis weit nach Süden; an ihnen grünten Ende der 1980er Jahre zwischen steinigen Weiden berieselte Felder, auf denen – wie in osmanischer Zeit – Bergreis angebaut wurde.3 Vom 1158 m hohen Kaletepesi (Kel Tepesi?) kommt ein anderer ÇÕrçÕp, der øbrahimiye Çirçibi oder Arslanbaba Deresi. Vom Gözelem Tepe (447 m) kommt der Beúma÷aralar Deresi herab, bei dem es sich vielleicht um den Djirdjib Abu Daradj handelt, dessen Lauf Max von OPPENHEIM so beschrieb, daß das tief eingeschnittene Talbett zunächst südwärts ging, bis es durch eine Felsbarre im rechten Winkel ostwärts abgelenkt wurde. Ein kleiner Ç., Küçük ÇÕrçÕp, scheint noch weiter südwestlich auf Ra‫ގ‬s al ‫ޏ‬Ayn zuzufließen.4 Die ÇÕrçÕps fließen überwiegend südwärts. In einer Senke, in der hunderte von Quellen entspringen, in der heutigen ilçe CeylanpÕnar, verläßt der Büyük ÇÕrçÕp bei einem Grenzdorf, das früher nach ihm benannt war (BüyükçÕrçÕp; jetzt Yeúiltepe und Aydo÷du), nahe der Bahnstation GürpÕnar, das Staatsgebiet der Türkei. Nach seinem Eintritt in das Staatsgebiet der Arabischen Republik Syrien durchfließt der ÇÕrçÕp, der nun Jarjab heißt, noch ein Stück der mesopotamischen Ebene. Südlich von Ra‫ގ‬s al ‫ޏ‬Ayn mündet er bei as-Safih links in den Großen (westlichen) Chabur.

–––––––––––––––– 2 3

4

SINCLAIR, T.A.: Eastern Turkey: An Architectural and Archaeological Survey, Vol. IV. London 1990, S. 177–178. GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: Land an der Grenze. Osmanische Verwaltung im heutigen türkisch-syrischen Grenzgebiet im 16. Jahrhundert. østanbul 1997, S. 37, 51 und 115, mit Abb. 9 und 10. Die Autoren bereisten die Gegend in den Jahren 1988 und 1991. Dieses Bild vermitteln moderne Touristenkarten. Die Lage der Flußbetten in den 1960er Jahren erschließt sich aus der Karte bei Nejat GÖYÜNÇ: XVI. YüzyÕlda Mardin SancaЂÕ. østanbul 1969. Dagegen scheint es, als hätten GÖYÜNÇ und HÜTTEROTH 1997 die Nennung des †ÕrçÕp bewußt vermieden. Die ältere Literatur zum „`Wadi al-Djirdjib' which has not much water in it“ findet sich bei HONIGMANN, E.: „Ra‫ގ‬s al-‫ޏ‬Ayn or ‫ޏ‬Ayn Warda“, in: EI VIII (1995), S. 434.

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2. Zwei Karawanenrouten von Urfa nach Diyarbekir Es gab zwei west-östliche Karawanen- und Heeresrouten von Aleppo nach Osten.5 Die nördliche der beiden führte um die Vulkanmasse des Karaca Da÷6 herum nach Siverek. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war diese Straße, die Vorläuferin der heutigen Fernstraße 360, für den Wagenverkehr nur bedingt brauchbar, weil sie von Basaltblöcken übersät war. Zur Linken breiteten sich die öden Felder gebrochener und zerfallender Lava aus; zur Rechten stieg Terrasse um Terrasse an, nach dem Berg zu, von dem die Lava herabgeflossen war.7 Von Siverek ging es nach dem Verkehrsknotenpunkt Kara Amid (Diyarbekir, DiyarbakÕr), mit Abzweigungen in Richtung Bitlis oder al-Cazira (Cizre) in Richtung Mosul.8 Die ältere, südliche Route benutzte den römischen bzw. byzantinischen Fernweg, der von Edessa (Ruha, Urfa, ùanlÕurfa) durch den Tektek Da÷ über Viranúehir über Brücken9 nach dem damaligen Dunaysir (Koçhisar, KÕzÕltepe),10 Nisibis (Nusaybin), al-Cazira und Mosul führte.

3. Dede GarkÕn, Türkmenen, Alevilik An einer der Brücken an der südlichen Fernstraße, und zwar da, wo sie den ÇÕrçÕp überquerte, lag einst das Ordenshaus (Zaviye) eines Türkmenenscheichs namens Dede GarkÕn oder KarkÕn. Grundlegend für unsere Kenntnis seiner Vita sind hagiographische Berichte, deren einer von Elvan Çele–––––––––––––––– 5

Beide Routen zeigen Karte II in TAVERNIER, Jean-Baptiste: Les six voyages de Turquie et de Perse. Mit Einleitung und Kommentar von YERASIMOS, Stéphane: Introduction et notes, Paris 1981, I; Karte 2 in: BRUINESSEN, Martin van & BOESCHOTEN, Hendrik: Evliya Çelebi in Diyarbekir. Leiden-Köln 1988. 6 SINCLAIR, T.A.: Eastern Turkey: An Architectural and Archaeological Survey, Vol. III. London 1989, S. 408–409; BRUINESSEN, Martin van: The Ottoman Conquest of Diyarbekir, in: BRUINESSEN, Martin van & BOESCHOTEN, Hendrik: 1988, S. 36–37. 7 WIGRAM, W.A.: The cradle of mankind. Life in Eastern Kurdistan. London 1922, Second ed., S. 13. 8 Eine gute Skizze der Etappen der Route Urfa – Diyarbekir – Cizre findet sich bei NIEBUHR, Carsten: Reisebeschreibung nach Arabien und den umliegenden Ländern. Kopenhagen 1778, um ein Vorwort von Dietmar HENZE vermehrter Nachdruck der Ausgaben Kopenhagen 1774–78 und Hamburg 1837. Graz 1968, Tab. L. 9 GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 53, bekamen noch Reste antiker Brücken gezeigt. 10 RITTER, Carl: 1844, S. 366, 373; GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 41, 130; GROOT, A.H. de: Koþhisar IV, in: EI V (1986), S. 248.

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bi 1358/9 stammt.11 Sein Geburts- und Sterbejahr sind unbekannt. Soviel läßt sich immerhin sagen, daß Dede GarkÕn ein Jünger Abu l-Vafa Tac al‫ޏ‬Arifins (gest. 501/1107) war, eines irakischen Sufis teilweise kurdischer Herkunft, und daß er mit den irakischen Türkmenen, die seit dem elften Jahrhundert in das damals noch byzantinische, später seldschukische Obermesopotamien einwanderten,12 ins Land kam. Es ist möglich, daß Dede GarkÕn nicht sein Eigenname, sondern der seines Oguzenstammes KarkÕn war. Die KarkÕn (GarkÕn, Karkun, Kargun) schlossen sich den Aleppo-Türkmenen an, die sich allmählich in Seßhafte und Nomaden teilten.13 Dede GarkÕn, auch Ulu GarkÕn genannt, wirkte durch Askese und Gottesfurcht; seine Lehren gewannen ihm zahlreiche Anhänger; diese trugen Mützen aus Hirschleder. Der Dede gewann die Zustimmung des bei Elvan Çelebi „Sultan“ genannten türkischen Landesfürsten – es gab deren mehrere in Obermesopotamien zu Beginn des 12. Jahrhunderts14 – der ihm siebzehn Dörfer stiftete. Als Scheich der Vefaiyye galt Dede GarkÕn zu Lebzeiten als Garant der Orthodoxie. Seine Predigt und Wundertätigkeit mündeten in eine volkstümliche religiöse Bewegung ein. Einer seiner „vierhundert“ Halifes war der asketische Türkmenenscheich Baba ølyas. Durch dessen Auftreten als „Gesandter Gottes“ (Resulullah) vollzog sich der Eintritt in die muslimische Heterodoxie Anatoliens.15 Dessen Jünger wiederum war der aus Syrien stammende Baba Ishak, der den großen Baba'i-Aufstand anführte, der 1240 den Seldschuken-staat erschütterte.16 –––––––––––––––– 11 ERÜNSAL, øsmail E. & OCAK, Ahmet Yaúar (Hg.): MenâkÕbu'l Kudsiyye Fî MenâsÕbi'l-Ünsiyye. Ankara 1995, xl–xlii. 12 WOODS, John E.: The Aqquyunlu. Clan, Confederation, Empire. Minneapolis und Chicago 1976, S. 40 und 237, Anm. 11 und 12. 13 SÜMER, Faruk: O÷uzlar (Türkmenler). Ankara 1972, 2. Aufl., S. 312–314; In der Liste mit KarkÕn-Dörfern (S. 439–440) kommen in øskilib (Sancak Çorum) Dere-i KarkÕn und KarkÕn-Dere vor. Sollte Dede gemeint sein? Von einem Stamm „Dede GarkÕn“ mit tausend Zelten in der Gegend von Aintab (Gaziantep) erfuhr Carsten NIEBUHR 1766 durch seinen Freund Dr. Patrik Rüssel in Aleppo. 14 FELIX, Wolfgang: Byzanz und die islamische Welt im früheren 11. Jahrhundert. Wien 1981, S. 131–182; SINCLAIR, T. A.: 1990 IV, S. 31f. 15 Sümer, Faruk: a.a.O.; OCAK, Ahmet Yaúar: OsmanlÕ ømparatorlu÷unda Marjinal Sûfilik: Kalenderiler. Ankara 1992, S. 64. Einen Überblick über das weite Feld der Forschung zum heterodoxen Islam in Anatolien gibt Martin van BRUINESSEN in seiner Besprechung von MÉLIKOFF, Irène: Hadji Bektach: un mythe et ses avatars. Leiden 1998, in: Turcica 31 (1999), S. 549–553. 16 KARAMUSTAFA, Ahmet T.: Early Sufism in Eastern Anatolia, in: LEWISOHN, Leonard (Hg.): Classical Persian Sufism: from its Origins to Rumi. London/New York 1993, S. 175–183, mit früherer Literatur.

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Als Aufenthaltsorte des Dede GarkÕn wurden bisher Ablustain/Elbistan und Maraú angenommen, doch kann er auch an der zu seiner Zeit noch blühenden südlichen Karawanenstraße seinen Aufenthaltsort gewählt und sein Grab gefunden haben. Nach den Umwälzungen durch die Mongolenzeit hatte die Konföderation der Akkoyunlu in Diyarbekir ihr Kerngebiet.17 Die Erinnerung an das Wirken des Dede GarkÕn lebt noch heute in der Gegend des ÇÕrçÕp fort, und so wird als sein Halife ein ùeyh øbrahim genannt, dessen Ursprungsort øbrahimiye, unweit des ÇÕrçÕp, gewesen sein soll. Die durch Dede GarkÕn und seinesgleichen angefachte religiöse Bewegung fand in der KÕzÕlbaú-Safawiya ihre ekstatische Fortsetzung. Ihre Anführer wurden zu Heiligen des Alevilik, jenes „religiösen Synkretismus“, der über die KÕzÕlbaú-Safawiya zur Bildung der neuen heterodoxen Glaubensrichtung des Alevilik führen sollte.18 Der Safawide Cunayd, der den Safawidenorden in die heterodox-schiitische, auf Türkmenenstämme gestützte KÕzÕlbaú-Bewegung verwandeln sollte, hielt sich – um 1456 – drei Jahre in Diyarbekir auf. Als Cunayds Enkel Schah øsmail 1507/8 Diyarbekir annektiert und Muhammad Khan Ustaclu als Gouverneur eingesetzt hatte, lebten Reste der Akkoyunlu-Konföderation, türkische und kurdische Stämme,19 teilweise beide dem Boz Ulus angehörig, ziemlich unbehelligt auf dem Karaca Da÷.20 Noch 1526 wurden in dem Dorf Dede GarkÕn drei Scheiche steuerlich erfaßt.21 –––––––––––––––– 17 SINCLAIR, T. A.: 1989 III, S. 385–405. 18 KEHL-BODROGI, Krisztina & KELLNER-HEINKELE, Barbara & OTTER-BEAUJEAN, A.: Alevism in Turkey and comparable syncretistic religious communities in the Near East. Leiden 1997. 19 SÜMER, Faruk: 1972, S. 175–177. Das gemeinsame Auftreten türkmenischer und kurdischer Stämme im seldschukischen Anatolien ist seit langem bekannt; vgl. FLEMMING, Barbara: Landschaftsgeschichte von Pamphylien [...] im Spätmittelalter. Wiesbaden 1964, S. 41–43, øNALCIK, Halil: The Yürüks: Their Origins, Expansion and Economic Role, in: The Middle East and the Balkans under the Ottoman Empire. Bloomington 1993, S. 97; neuerdings BRUINESSEN, Martin van: `AslÕnÕ inkar eden haramzadedÕr!' The Debate on the Ethnic Identity of the Kurdish Alevi, in: KEHL-BODROGI, Krisztina & KELLNER-HEINKELE, Barbara & OTTERBEAUJEAN, A.: 1997, S. 9. 20 BRUINESSEN, Martin van: The Ottoman Conquest of Diyarbekir, in: BRUINESSEN, Martin van & BOESCHOTEN, Hendrik: Evliya Çelebi in Diyarbekir. Leiden-Köln 1988, S. 27–28, 35, 41. 21 GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 61. Als Ordenshaus der Scheiche ist die zaviye zu denken, deren Reste GÖYÜNÇ als ziyaret gezeigt wurden; siehe hier Fußnote 69. Es könnte sich um eine Stiftung aus der Akkoyunlu-Zeit handeln, wie GÖYÜNÇ deren etliche für Mardin behandelt (1969, S. 119–122).

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Schah øsmail war bestrebt, seinem Reich Gebiete außerhalb Irans, in denen er Anhänger hatte, einzuverleiben. Dies trieb wiederum kurdische Fürsten dem osmanischen Sultan in die Arme, der ihnen Autonomie versprach.22 Als Sultan Selim bei ÇaldÕran (am 23. August 1514) die Armee Schah øsmails vernichtet hatte, übergab dieser dem Bruder des in der Schlacht gefallenen Muhammad Khan Ustaclu, seinem Schwager Kara Chan Ustaclu, die safawidische Provinz Diyarbekir. Um zu verteidigen, was davon noch übrig war, belagerte er Amid, dessen Bürger zu dem Osmanensultan übergelaufen waren. Selim I. beauftragte im Sommer 1515 den Beglerbegi (Generalgouverneur) von Erzurum, BÕyÕklÕ Mehmed Paúa,23 mit dem Entsatz von Amid.24 Wirklich mußte Kara Chan Mitte September 1515 die Belagerung von Amid abbrechen. Er marschierte südwärts, um sich bei Birecik mit Türkmenengruppen des Diyarbekir zu vereinigen. Doch schnitt ihm BÕyÕklÕ Mehmed den Weg ab.

4. Schlacht zwischen Koçhisar und Dede GarkÕn In der Ebene zwischen [Eski] Koçhisar und Dede GarkÕn (KarkÕn, auch Karghandede genannt), an der südlichen Karawanenroute, kam es im Rabi` II 922 / Mai 1516 zu jener Schlacht, in der die safawidischen Truppen dem osmanisch-kurdischen Heer unterlagen. Die safawidische Armee, eine der besten, die Schah øsmail noch hatte, mit wenig Infanterie, ohne ein einziges Geschütz, stützte sich ganz auf die KÕzÕlbaú-türkmenische Stammesreiterei. Darunter war ein Türkmenenstamm, in dem die Schwester Schah øsmails und ihr ganzes weibliches Gefolge in Reiterkleidung mitgefochten haben sollen. Kara Chan Ustaclu teilte seine Truppen in zwei Teile. Sein rechter Flügel sollte die kurdischen Reiter, sein linker Flügel den rechten der Osmanen angreifen, mit gänzlicher Umgehung der Janitscharen und der Artillerie. –––––––––––––––– 22 ALLOUCHE, Adel: The Origins and Development of the Ottoman-Safavid Conflict. Berlin 1983, S. 90–99; BRUINESSEN, Martin van: 1988, S. 13–28. 23 BACQUÉ-GRAMMONT, Jean-Louis: Les Ottomans, les Safavides et leurs voisins. Contribution à l'histoire des relations internationales dans l'orient islamique de 1514 à 1524. østanbul 1987, S. 157, 162–163; DERS.: Mehmed Pasha, BÕyÕklÕ, in: EI2 VI (1991), S. 992–993. Faruk SÜMER zufolge war er ein Akkoyunlu-Türke: Safevî Devletinin Kuruluúu ve Geliúmesinde Anadolu Türklerinin Rolü (ùah øsmail ile Halefleri ve Anadolu Türkleri). Ankara 1976, S. 39. 24 øLHAN, M. Mehdi: BÕyÕklÕ Mehmed Paúa'nÕn Do÷u Anadolu'daki Askeri Faaliyetleri, in: IX. Türk Tarih Kongresi. Ankara 21–25 Eylül 1981, Kongreye Sunulan Bildiriler, II. Cilt. Ankara 1988, S. 807–818; BRUINESSEN, Martin van: 1988, S. 16.

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BÕyÕklÕ Mehmed Pascha stand in der Mitte mit den zweitausend Mann Janitscharen und den Geschützen. Seinen rechten Flügel bildete die Reiterei der Lehensinhaber von Anadolu und Karaman. Die kurdischen Fürsten und ihre Stammesheere, die der kurdische Staatsmann Idris Bidlisi ihm zugeführt hatte, wurden an seinem linken Flügel eingesetzt, wo sie eine entscheidende Rolle spielten.25 Die KÕzÕlbaú-Armee wurde fast gänzlich vernichtet. Ihre Reste zerstreuten sich, die meisten in die Ebene nach Sincar zu. Die Safawiden Kara Chan und seine Generäle TurmÕú Chan und Husayn Chan ùamlu fielen. Der Schwester øsmails gelang es, über Tell Afar nach Mosul und von da nach Kirkuk und Tabriz zu fliehen.26 Einige Festungen Diyarbekirs blieben auch nach der Schlacht von Dede GarkÕn/Koçhisar noch in den Händen der KÕzÕlbaú, vor allem Ruha/Urfa, das alsbald erobert wurde.27 Unmittelbare Folge der Schlacht war jedoch die Einnahme Amids. BÕyÕklÕ Mehmed Pascha, der die Stadt im September 1516 besetzte, wurde am 5. November Beglerbegi, Generalgouverneur. Die kurdischen Verbündeten wurden reichlich belohnt; auf ihre schafi`itische Rechtschule wurde Rücksicht genommen.28 Die Schlacht von Eski Koçhisar hat ihren Platz in der Geschichte.29 Von Ferne erschien die osmanisch-safawidische Konfrontation wie ein „türkisch-iranischer“ Konflikt, wie eine „Schlacht der Türken gegen die Perser.“30 Die nationalistische türkische Geschichtschreibung sah durch den Sieg die „Einheit der Türkei gesichert.“31 Der „Sieg der Sunna Anatoliens über die Schia Irans“ wurde hervorgehoben: bei ÇaldÕran sei der –––––––––––––––– 25 BRUINESSEN, Martin van: 1988, S. 16, mit Literatur. 26 HAMMER, Joseph von: Geschichte des osmanischen Reiches II. Pest 1828, S. 446, nach italienischen Geschichtschreibern und Berichterstattern; ausführlich zur Schlacht GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 25–28, 32, 34, 42. 27 BACQUÉ-GRAMMONT, Jean-Louis: 1987, S. 166, 322 und Anm. 651, S. 200. 28 BRUINESSEN, Martin van: 1988, S. 16. Sogar im Pascha-Sandschak gab es drei kurdische Fürsten, ebd. S. 25, Anm. 14. 29 Joseph von HAMMER (1828, S. 461) erinnerte an das römische Reich: „[...] (Die) Herrschaft Osmans in Vorder-Asien hatte nun erst durch die Ausdehnung der Gränzen bis an den Tigris und Euphrat festen Fuss gefasst. Auch das römische Reich glaubte seine Herrschaft in Asien nicht eher genug erweitert und gesichert, als bis die Legionen an den Ufern des Euphrats standen. Nur dieser, nicht der Tigris, bildet die, zwey grossen feindlich sich berührenden Reichen am besten zusagende, natürliche Wassergränze [...]“. 30 „Die blutige Schlacht entschied für die Türken; die geschlagenen Perser [...] suchten die Flucht in der weiten Ebene von Sindschar und auf den Wegen nach Mosul und Kerkuk.“ So C. RITTER nach HAMMER, Joseph von: 1828, S. 446–7. 31 SÜMER, Faruk: 1976, S. 40.

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Grundstein gelegt, bei Eski Koçhisar das Dach aufgesetzt worden.32 Die vielverbreitete Erklärung und Ausdeutung einer spezifisch kurdischen Sunna-Treue geht bei näherer Betrachtung auf eben jenen Idris Bidlisi zurück, der das Bündnis führender kurdischer Familien mit den Osmanensultanen vermittelt hatte. Inzwischen wurde daran erinnert, daß nicht alle kurdischen Stämme, die ins osmanische Reich eingegliedert wurden, feste Sunniten waren.33 Bekanntlich waren auch nicht alle Anhänger des extremschiitischen pro-safawidischen KÕzÕlbaúlÕk.34 Wer nicht wie diese verfolgt werden wollte, tat gut daran, sich zum Sultan loyal zu verhalten.35

5. Heeresdurchzüge auf der Nordroute Trotz der Menschenopfer, die seine KÕzÕlbaú-Verfolgungen kosteten, konnte Selim I. seine militärischen Ziele verwirklichen: Kaum hatten seine Truppen bei Dede GarkÕn und Koçhisar die Safawidenarmee geschlagen, da lieferten sie im August 1516 den Mamluken die entscheidende Schlacht, die den osmanischen Einzug in Kairo im Januar 1517 ermöglichte. Die Nordroute über den Nordrand des Karaca Da÷ wurde unter Sultan Süleyman zur Via militaris: er benutzte sie mehrmals für große Truppendurchzüge. Von den beiden ersten sind Etappenbeschreibungen erhalten. Auf dem Rückweg vom ersten Persienfeldzug „gegen die beiden Irak“ kam Süleyman im Oktober 1535 nach Amid, nahm zwanzig Tage Aufenthalt und feierte mit den Truppen das Opferfest.36 Den Weitermarsch in Richtung Aleppo, etwa auf der heutigen Straße DiyarbakÕr-Siverek, dokumentierte Nasuh MatrakçÕ in den bebilderten Menazil-i Sefer-i `Irakeyn. Das Heer marschierte an den mit Basaltblöcken übersäten Nordhängen des Vulkans entlang. Als XV. Etappe zeichnete Nasuh „nach der Natur“ den KÕzÕldepe am Abhang des Karaca Da÷ Karacadag zeylinde KÕzÕldepe als –––––––––––––––– 32 DANøùMEND, øsmail Hami: øzahlÕ OsmanlÕ Tarihi Kronolojisi 2. østanbul 1971, S. 23. 33 BRUINESSEN, Martin van: 1997, S. 8; DERS.: 1988, S. 14–15. Eine Umfrage, die die Zeitung Milliyet am 21. und 22. März 2007 veröffentlichte, ergab, daß sich heutzutage 22 Prozent von 11.445.000 Kurden in der Türkei als Alevis bezeichnen. 34 Halil øNALCIK (1993, S. 100f.) unterscheidet „KÕzÕlbaú“ als Bezeichnung der prosafawidischen Türkmenen von der Bezeichnung „Yürük“ oder einfach „Türkmen“. 35 SOHRWEIDE, Hanna: Der Sieg der Safaviden in Persien und seine Rückwirkungen auf die Schiiten Anatoliens im 16. Jahrhundert, in: Der Islam 41 (1965), S. 95– 223; SÜMER, Faruk: 1976; GÖLPINARLI, A.: KÕzÕlbaú, in: øA VI (1955), S. 789–795. 36 KAPPERT, Petra: Geschichte Sultan Süleyman Kanunis von 1520 bis 1557 oder Tabakat ül-Memalik ve Derecat ül-Mesalik von Celalzade Mustafa genannt Koca NiúancÕ. Wiesbaden 1981, S. 77.

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roten wulstigen Bergrücken. Den Karaca Da÷ überschreitend, zog das Heer durch den Fluß AkbÕñar; nach Passierung des Kocagöz depesi wurde der Fluß Cüllab östlich von Urfa durchfurtet.37 1548, auf seinem zweiten Persienfeldzug, kam Sultan Süleyman aus Van nach Amid. Wieder wurde Bayram gefeiert, wurden Winterlager bezogen: In Mardin lagen die Truppen von Rumeli, in Urfa die von Anadolu. Den Weitermarsch dokumentierte wiederum Nasuh MatrakçÕ, und zwar etwas ausführlicher: Man zog nördlich des Karaca Da÷ nach Ruha/Urfa, wo man am 14. Dezember 1548 ankam.38 1549 marschierte der Sultan von Aleppo über den Euphrat. Da er in Elmalu erkrankte, gönnte er sich im Juli 1549 einen Erholungsaufenthalt auf der Yayla des Karaca Da÷, die gute Grasung für Pferde und Kamele bot. Evliya Çelebi zufolge ließ er eine Quelle namens Hamrevat vom Karaca Da÷ durch einen unterirdischen Stollen in die Burg von Amid leiten.39 Von da zog er Anfang Oktober 1549 nach der Cülek oder Çülek genannten Ebene bei Amid und entließ danach das Heer in Aintab.40 Der vierte Marsch des von Krankheit und Alter gezeichneten Sultans nach Diyarbekir wurde überschattet von der Hinrichtung des der Rebellion verdächtigten Prinzen Mustafa,41 um derentwillen es zu Unruhen im Heer gekommen war. Der Sultan marschierte vom Winterlager Aleppo aus über Birecik – Ruha/Urfa – wiederum über die Etappe KÕzÕldepe (Mai 1554), das heißt wieder über den Nordabhang des Karaca Da÷. Durch das Schwanken seiner Soldaten sah sich der Sultan gezwungen, außerhalb von Amid am 15. Mai 1554 auf dem am Tigris gelegenen Appellplatz ordugah Çülek einen feierlichen Kriegs-Diwan abzuhalten. Dabei gelang es ihm, die –––––––––––––––– 37 YURDAYDIN, Hüseyin G.: Nasuhü's Silahi (MatrakçÕ). Beyan-Õ Menazil-i Sefer-i ørakeyn-i Sultan Süleyman Han. Ankara 1976, S. 108, 109, Bl. 104a unten, S. 104 oben und S. 104b unten.; op. cit. xxi, 41: görülerek yapÕlmÕúlardÕr. Zu dem Fluß Collab (Colab) vgl. SÜMER, Faruk: 1976, S. 193. Evliya Çelebi war 1646 in Culab. Zu Cellab in Urfa øLHAN, Mehdi M.: Urfa and its environs in 1560s, in: Archivum Ottomanicum 19, Wiesbaden 2001, S. 7. 38 YURDAYDIN, Hüseyin G. (1976, S. 172–173) hat die beiden Itinerare, den illustrierten von 1535 und den nicht illustrierten von 1548 in der Hs. or. oct. 955 der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, in einer Zusammenschau bearbeitet. 39 BRUINESSEN, Martin van & BOESCHOTEN, Hendrik: 1988, S. 146–147. 40 KAPPERT, Petra: 1981, S. 406b–507a, S. 409b; DANøùMEND, øsmail Hami: 1971, S. 262. 41 KAPPERT, Petra: Die osmanischen Prinzen und ihre Residenz Amasya im 15. und 16. Jahrhundert. Istanbul 1976; VEINSTEIN, G.: Süleyman, in: EI IX (1997), S. 836.

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Offiziere der Janitscharen einzeln auf sich einzuschwören.42 Nach acht Tagen ging der Marsch weiter, der im Sommer 1554 zu Süleymans Kriegserklärung an Schah Tahmasp und schließlich zum Friedensschluß von Amasya am 29. Mai 1555 führen sollte.43 Selim I. hatte im Südosten das DulƥƗdÕr-Fürstentum und die Landschaft Diyarbekir erobert. In Diyarbekir erfolgte der erste Zensus 1518, der zweite 1540. Die Landbevölkerung in den unruhigen, von den aus Persien herüberflutenden Einflüssen stark erregten Ostprovinzen wehrte sich anfangs.44 Von „innerer Sicherheit“ ließ sich nach Deportationen, Aufständen, Stammeserhebungen und nicht zuletzt religiösen Unruhen erst sprechen, als diese in furchtbaren Kämpfen mit äußerster Härte niedergeworfen waren.45 Das Grenzvilayet Diyarbekir war zeitweise gegen Persien abgeriegelt. So 1559, als der Provinzgouverneur gegen Prinz Bayezid eingesetzt wurde, der seine Residenz Amasya verlassen hatte und mit einer Truppenmacht zu Schah Tahmasp geflüchtet war. Im Juli 1562 war Prinz Bayezid ausgeliefert und getötet worden. Die summarische Bestrafung seiner Anhänger, der Yevimlü, verstärkte die Reihen der Unzufriedenen nur noch; es gelang der Zentrale nicht, landesweite Unruhen zu unterdrücken. Diese sollten vielmehr in die noch zu erwähnenden Celali-Aufstände münden, die auch Diyarbekir nicht verschonten.46

6. Besteuerung an der südlichen Karawanenroute 1564–1766 1564, zwei Jahre nach dem letzten Prinzenaufstand, ließ die osmanische Verwaltung noch einmal registrieren, welche Steuereinkünfte zugunsten –––––––––––––––– 42 KAPPERT, Petra: 1981, S. 96 und 448a. Zu Felddivans ebd. S. 31f.; DANøùMEND, øsmail Hami: 1971, S. 288. 43 HAMMER, Joseph von: 1828, S. 321–322 und S. 326; VEINSTEIN, G.: EI IX (1997), S. 836. 44 YøNANÇ, Refet & ELøBÜYÜK, Mesut: Maraú Tahrir Defteri (1563), I. Ankara 1988, xxviii–xxix. 45 FLEMMING, Barbara: Sahib-KÕran und Mahdi: Türkische Endzeiterwartungen im ersten Jahrzehnt der Regierung Süleymans, in: KARA, Györgyi (Hg.): Between the Danube and the Caucasus. Budapest 1987, S. 43. Zu enthusiastisch sprechen GÖYÜNÇ und HÜTTEROTH (østanbul 1997, S. 124) von „der bekannten Tatsache [...], daß in den Jahrzehnten der ersten Jahrhunderthälfte, in der Zeit von Kanuni Sultan Süleyman [...], die Macht des Osmanischen Reiches mit der inneren Sicherheit offensichtlich noch wuchs“; vgl. VEINSTEIN, G.: EI IX (1997), S. 832–842. 46 TURAN, ùerafettin: Kanunî'nin o÷lu ùehzâde Bayezid Vak`asÕ. Ankara 1961, S. 173; KAPPERT, Petra: 1976, S. 146–147, 151ff.

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von Sultan und Timar-Berechtigten aus der Provinz Diyarbekir herauszuholen waren.47 Der Beglerbeg bzw. sein Finanzdirektor hatte den der Zentrale zukommenden Teil der Steuern, die irsaliye, in Form von Bargeld oder Naturalien an die Hauptstadt abzuliefern. In der Groß- und Grenzprovinz Diyarbekir, für die seit 1591 der Terminus eyalet gebraucht wurde,48 behielt der Beglerbeg oder Generalgouverneur einen Großteil der Steuern ein. Als er bei der Verleihung von Timaren49 allzusehr seine eigenen Gefolgsleute begünstigte, griff die Zentrale ein und befahl eine Kontrolle sämtlicher Diplome der Timarinhaber in den östlichen Provinzen. Ein neuer Generalgouverneur von Diyarbekir mußte sich 1585 bei seiner Ernennung verpflichten, drei Jahre lang je 20.000 Goldstücke an die zentrale Schatzkammer zu zahlen.50 Über die Finanzbürokratie der Provinz Diyarbekir berichtet Evliya Çelebi, der hier im April und Mai 1655 einige Wochen verbrachte. Am Rande der vulkanischen Abhänge des Karacada÷ und in der Alluvialebene lagen an der Karawanenstraße in etwa gleicher Entfernung voneinander die Dörfer Viranúehir, Dede GarkÕn, Meúkuk und Koçhisar. Über sie läßt sich mit Hilfe des von GÖYÜNÇ und HÜTTEROTH bearbeiteten Defters von Diyarbekir von 1564 und der Reisenden Jean-Baptiste TAVERNIER (März 1644) und Carsten NIEBUHR (Frühjahr 1766) folgendes Bild gewinnen. Der Boden erlaubte den Anbau von Weizen und Gerste; die Flüsse trieben Wassermühlen. Die Verpflichtungen der Bauern und Nomaden gegenüber ihrer Grundherrschaft waren im Register von 1564 festgelegt. Die meisten zahlten den Hebesatz von 1/5, nur Koçhisar und Dede KarkÕn zahlten den schonenden Hebesatz von 1/7. Am leistungsfähigsten war das mit 404 Steuerpflichtigen einwohnerstärkste Nestorianer-Dorf Meúkuk.51 –––––––––––––––– 47 Zu den früheren Registern BRUINESSEN, Martin van: 1988, S. 38–41; øLHAN, Mehdi M.: 2001, S. 15. 48 øNALCIK, Halil: Eyalet, in: EI II (1965), S. 721–724. 49 FEKETE, L.: Die Siyaqat-Schrift in der türkischen Finanzverwaltung. Budapest 1955, S. 104 (zum Recht, Timare bis zu jährlich 4.999 Akçe zu verleihen); ebd. S. 740 und S. 771 (zur irsaliye). 50 Der defterdar hatte die irsaliye unterschlagen und den amtierenden Beglerbegi bestochen. FLEISCHER, Cornell H.: Bureaucrat and Intellectual in the Ottoman Empire. Princeton 1986, S. 104–105. 51 Zu Meúkuk Köyü GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 69 und 153. Heute gibt es hier zwei Dörfer in der ilçe KÕzÕltepe der Provinz Mardin:Büyük ayrÕk und Küçük ayrÕk, vgl. KöyKöy Türkiye Yol AtlasÕ 2004, 203 A1. GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 60, kannte im Jahre 1960 noch ein christliches Büyük ayrÕk und ein muslimisches Meúkuk-Õ ayrÕk, GÖYÜNÇ, Nejet: 1969, S. 69 (Meúkuk-Õ arab, Küçüলmeúkuk).

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An zweiter Stelle kam Dede KarkÕn. Obwohl es mit 183 Steuerpflichtigen weniger Steuerzahler hatte als Koçhisar, entrichteten seine Bauern mehr Steuern für Weizen als letzteres. An dritter Stelle kam Koçhisar (heute KÕzÕltepe), erst an vierter Stelle kam Viranúehir, das in der Steuerleistung weit hinter Koçhisar lag. Von West nach Ost gesehen lag in der Nahiye Viranúehir Davudi Garbi, ein Timar mit sieben Steuerpflichtigen. Es war der westlichste Ort der Kaza. Viranúehir selbst (Constantina, Tela, Antoniopolis, Maximilianopolis),52 ze`amet des Sancakbegs, Sitz des na'ib der Nahiye, damals vor allem Ruinen- und christliches Gräberfeld, entrichtete bei nur 33 Steuerpflichtigen Steuern auf Weizen, Gerste, Reis, Gemüsegarten und Baumwolle; dazu kamen Gebühren für Winterweide und Heu sowie für eine Wassermühle (am ÇÕrçÕp?). Dede Karkin (GarkÕn, Dadacardin), Hass des Sultans, lag im Sancak bzw. der Kaza Berriyecik in der Nahiye Tell Bism. Die Bauern, seßhafte Türkmenen vom Stamme KarkÕn,53 versteuerten, wie gesagt, mehr Weizen als Koçhisar; sie betrieben eine Wassermühle und vor allem eine mit 15.120 akçe belastete Färberei (boyahane), beides Hinweise auf den damals wasserreicheren Fluß ÇÕrçÕp, den hier eine Brücke überquerte. 1644 lag das Dorf (ehemals un gros bourg) in Ruinen. Nur die sehr lange und sehr gut gebaute Steinbrücke war übriggeblieben, auf der man einen Fluß passierte, „der sehr breit war, wenn er über seine Ufer trat“. Zu Höhlenbewohnern geworden, boten die Einheimischen durchziehenden Reisenden Hühner, Butter und Käse an. Nahe bei Dede GarkÕn wurden die Fluren Aƥca Mescid, Aƥce Koru, Ƥibal und Kuyucak sowie Ceviz Yeri (eine Feldflur, mezra`a) und die bei Bogan weidenden Dögerlü (ein wie die KarkÕn den Bozok zugehöriger Türkmenenklan) pauschal besteuert und als Timar vergeben. Sieben Steuerpflichtige zählte Kethudalar nördlich von Dede GarkÕn, neun Steuerpflichtige hatte Yeñice: winzige Dörfer, die Weizen und Getreide versteuerten. Vermutlich an der Karawanenstraße lag Kurb al-MƗ, in der Nahiye Dinabi (am ÇÕrçÕp?), Hass des Sultans, mit neun Haushalten und immerhin 197 Weizen und Gerste versteuernden Einwohnern. Die Karawane erreichte mit der Nahiye Sahra-yi Mardin den Sancak bzw. die Kaza Mardin. Am Rand des vulkanischen Plateaus lag das Dorf Meúkuk oder Meúkok (Cara bei TAVERNIER)54, Meúkinan, heute Büyük ayrÕk, Hass des Sultans. 404 Steuerpflichtige zahlten den vollen Hebesatz –––––––––––––––– 52 Hierzu ausführlich SINCLAIR, T. A.: 1990 IV, S. 191–193. 53 Zu den KarkÕn s. oben Pkt. 3. 54 TAVERNIER, Jean-Baptiste: 1981 II, S. 247–248.

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auf Weizen, Gerste, Gemüsegärten und eine Wassermühle. Die Gesamtbevölkerung bezifferte sich auf 1340 Menschen. Die „Abgaben von Nichtmuslimen“ (øspence oder cizye?) betrugen 10.000. 1644 war eine Karawanserei vorhanden. Damals waren die einheimischen Nestorianer, die eine ärmliche Kirche ihr eigen nannten,55 einigen türkischen Familien untertan. Ein weiteres Dorf KarkÕn, ein Timar, lag nahe bei Meúkuk. 14 Steuerpflichtige versteuerten Weizen und Gerste. Die Ebene vor Koçhisar, das einstige Schlachtfeld von 1516, war 1644 ein zwanzig Meilen langes Blachfeld. Koçhisar, Dunaysir (Cousasar TAVERNIER, Kodsje hissâr, Gunasser oder Dunasser NIEBUHR) war Krongut des Sultans mit 202 Steuerpflichtigen. Die Gesamtbevölkerung bestand aus 712 Personen – das Register ignorierte die „Nichtmuslime“ – und zahlte den schonenden Hebesatz für Weizen, Gerste, Gemüsegarten, Baumwolle, Honig sowie für wiederum eine Wassermühle. 1644 war es ein ziemlich großes Dorf ohne Karawanserei, in dem noch armenische und nestorianische Christen angetroffen wurden, die getrennte Gottesdienste in ihrer Sprache abhielten. Die Nestorianer verwahrten ihre beiden alten Bibeln in „chaldäischer“ Sprache nach jedem Gottesdienst in einer Lade (coffre) unter der Erde. Von drei großen Klöstern waren zwei bis auf die Kirchtürme zerstört, das dritte in eine Moschee umgewandelt. 1766, so Niebuhr, war Koçhisar Residenz eines Sancakbegs unter dem Voyvoden von Mardin.56 Das Register von 1564 verzeichnete, ohne Glaubensrichtungen und Ethnien zu nennen,57 „Nichtmuslime“, das heißt nestorianische und armenische Christen, die ihr Schattendasein führten, dazu an ihren Namen erkennbare Kurden, Bektaschis (ein Bektaú-i Büzürg im Norden von Tell Bism), vermutlich alevitische Türkmenen (Dede KarkÕn) und unverkennbare KÕzÕlbaú im Gebirgskreis von Mardin.58 Die osmanischen Provinzbehör–––––––––––––––– 55 Die „Nestorianer“ dieser Gegend zählten sich zur Kirche des Ostens, und nicht zur römischen Kirche, zu der sie damals noch eine zweifelnde Stellung einnahmen. Vgl. FRAZEE, Charles A.: Catholics and Sultans. The church and the Ottoman Empire 1453–1923. Cambridge 1983, S. 142–144; SINCLAIR, T. A.: 1989 III, S. 222. 56 Das Archivmaterial ist aufgearbeitet in GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 61–69, 153 sowie in GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 55, 114–115, 137, 192, 200, 204. Die Nummern sind P1 und P35 (Dede GarkÕn), M1, M31, M52, M92, M134, M150–I. TAVERNIER, Jean Baptiste: 1981 II, S. 247–248; NIEBUHR, Carsten: 1778, II, S. 366–367 (s. Fußnote 8). 57 GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 127; BRUINESSEN, Martin van: Turcica 31 (1999), S. 558–560. 58 Im hügeligen Plateau des Mardin-Berglandes Kuh-i Mardin hatten sich kurdische Klansleute mit KÕzÕlbaú-Namen (Mehmed b. ùahkulÕ ve gayri, Pir Zeyd ve ùahkulÕ, ùahkulÕ b. ùemseddin, ùah kulÕ und ein KÕlbaú (sic?) keth., Steuerzahler eines Milli-Häuptlings), unter den Schutz des Nomadenfürsten Mahmud Beg gestellt.

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den, auch die Timar-Inhaber, wurden verpflichtet, die prosafawidischen KÕzÕlbaú zu registrieren und zu verfolgen.59 Was folgte, waren Verhaftung, Anklage vor den Gerichten und Verurteilung der KÕzÕlbaú als Verräter und Ketzer, war halb und ganz zwangsweise Umsiedlung, war Flucht über die Grenzen. So mag es zu erklären sein, daß Dede KarkÕn 1644 wüst geworden war. Die KÕzÕlbaú neigten im 16. Jahrhundert zur Flucht nach Persien. Später veranlaßten der Druck des Celali-Aufstands und die Repressalien der Regierung die Bevölkerung zur Auswanderung und Flucht nach Westanatolien.60 Die Obrigkeit verschonte die noch vorhandenen Karawansereien mit Steuern, erhob aber Wegezoll (bac) von Untertanen und Fremden. So wurde in Koçhisar Zoll für Diyarbekir gezahlt. Für Maultier- und Pferdelasten mußten zweieinhalb Piaster gezahlt werden.61 Wo TAVERNIER bemerkt, daß Sultan Murad IV. bei seinem Durchzug 1638 eine Wegstrecke in Ordnung gebracht und eine Brücke habe bauen lassen, notiert NIEBUHR, ein damals gebautes Kastell sei 1766 schon wieder zerstört gewesen. Gegen die Einfälle der Nomaden, die sich gegen Ansiedlungsversuche der Regierung wehrten, und gegen den Druck der Beduineneinfälle war die Sicherheit nicht mehr aufrechtzuhalten.62

7. Viranúehir und KÕzÕltepe an der heutigen „Seidenstraße“ Heute verbinden die Abschnitte 26 und 27 der Fernstraße 400 ùanlÕurfa mit Viranúehir, mitten durch das GAP-System unterhalb des Tektek Da÷Õ. Der Ringkanal rund um die Urfa-Harran-Ebene, deren Landwirtschaft sich noch mitten in der Umgestaltung durch das gigantische Bewässerungsprojekt GAP (Güneydo÷u Anadolu Projesi) befindet, wird im Südosten der Ebene parallel zur Staatsgrenze bis gegen Mardin weitergeführt.63 Angesichts systematischer Umbenennungen – in der Türkischen Republik wird die Inbesitznahme der Landschaft systematisch seit 1956 durch die Ad –––––––––––––––– 59 SOHRWEIDE, Hanna: 1965, S. 192–195. 60 SÜMER, Faruk: 1972, S. 186–189; GRISWOLD, William J.: The Great Anatolian Rebellion 1000–1020 / 1591–1611. Berlin 1983; øNALCIK, Halil: 1993, S. 107 und S. 128, Anm. 46; nach SÜMER, Faruk und WOODS, J. 61 TAVERNIER, Jean-Baptiste: 1981 II, S. 253. 62 SINCLAIR, T. A.: 1989 III, S. 409: die Route sei im 18. und 19. Jahrhundert zu unsicher geworden. 63 HÜTTEROTH, Wolf-Dieter & HÖHFELD, Volker: Türkei. Darmstadt 2002, S. 225 mit Karte.

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De÷iútirme øhtisas Komisyonu64 betrieben – ist es interessant, wie lange Gewässer- und Ortsnamen das Echo vergangener Zeiten bewahrten; bis 1928 hielten sich, ausweislich des Köylerimiz, Dorfnamen wie øbrahimi in der merkez nahiyesi von Viranúehir,65 noch ein anderes øbrahimi, ein Bekdaúi, Maúkok sagir und kebir und manche andere. Die (drei) ÇÕrçÕps gehören neben dem Chabur und reichen unterirdischen Wasserreserven zur GAP-Region. Für das Gebiet von zwei ÇÕrçÕps im Grenzlandkreis CeylanpÕnar wurde unter Leitung des GAP Bölge KalkÕnma ødaresi BaúkanlÕ÷Õ 1990 eine Grundstücksregulierung durchgeführt. Dörfler können in Kursen das Diplom eines Bewässerungsmeisters (Sulama UstasÕ) erwerben; die Mechanisierung der Landwirtschaft wird vorangetrieben. Die Staatsstraße 400 (E 90, früher E 24) ist Teil des Türkiye Transit Karayolu. Sie führt nach Cizre, wo die Fernstraße 430 ihren Weg über Silopi durch die Grenzstation Habur SÕnÕr KapÕsÕ in den Irak hinein verfolgt. Die Staatsstraße 400 setzt ihren Weg über ùÕrnak, Hakkâri und Yüksekova nach Esendere fort, dem Grenzübergang nach Iran (Urmia). An der 400 liegen heute Viranúehir (in der Provinz ùanlÕurfa) und KÕzÕltepe (in der Provinz Mardin). Die Entfernung zwischen den beiden Kreisstädten beträgt nur 75 km, in heutiger Zeit ungefähr anderthalb Stunden per Auto. Auf dieser Strecke, kurz hinter Viranúehir und Eser, wurde Anfang März 2003 mit dem Bau einer für schweres Kriegsgerät geeigneten Brücke begonnen. Überquert werden sollte offenbar das Flußgebiet des Büyük ÇÕrçÕp. Es war die Zeit, als an der Fernstraße 400 der strategische Aufmarsch der Task Force Iron Horse (in der türkischen Presse Demir At genannt) der IV. mechanisierten Infanterie-Division der US-Armee vorbereitet wurde. Vorausabteilungen waren damit beschäftigt, den Troß, den sogenannten Iron Mountain der Division, entlang der Fernstraße 400 aufzustapeln. Ihre Transportschiffe ankerten in den Buchten von Iskenderun und Mersin. Kurz bevor jedoch die Operation Iraqi Freedom von der Türkei aus ihren Anfang nehmen sollte, wurde die Landung der Vierten Infanteriedivision abgebrochen, nachdem die türkische Nationalversammlung ihr Nein zur entsprechenden Regierungsvorlage gesprochen hatte.66 –––––––––––––––– 64 ÖKTEM, Kerem: Creating the Turk's Homeland: Modernization, Nationalism and Geography in the late 19th and 20th Centuries, unter: www.ksg.harvard.edu/ kokkalis/GSW5/oktem.pdf (Zugriff am 27.11.2007). 65 [Dahiliye Vekâleti]: Köylerimiz'in AdlarÕ. østanbul 1928, S. 354f.; vgl. auch GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 37–41. 66 GIRDNER, Eddie J.: Pre-emptive War: The Case of Iraq, in: Perceptions. Journal of International Affairs, IX No. 4, Ankara 2004–2005, S. 12–13. Zum Hergang und

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Bei Viranúehir zweigt die Nordsüdverbindung 905 nach CeylanpÕnar ab. Drei Kilometer vor CeylanpÕnar liegt die Siedlung Evrenpaúa Köyü. Diese wurde auf Veranlassung von Staatspräsident Kenan Evren im Jahre 1986 für 1.800 Özbeken errichtet, die ihre Heimat in Nordafghanistan nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen (Dezember 1979) verloren hatten.67 Die Straße führt durch eine unabsehbare Ebene an den riesigen Ländereien des 1943 gegründeten Landwirtschaftsbetriebs CeylanpÕnar (CeylanpÕnar TarÕm øúletmesi) entlang, der sich bis an die Grenze nach Syrien hin erstreckt. Er gehört zur TøGEM, der Generaldirektion für Landwirtschaftsbetriebe (TarÕm øúletmeleri Genel Müdürlü÷ü). Sie stellt mit CeylanpÕnar und den Betrieben in PÕnar, Beyazkule und Gümüúsuyu das größte Staatsgut der Türkei dar und ist der größte Arbeitgeber in dem Gebiet. Allerdings soll seit den 1980er Jahren die Zahl der Arbeitsplätze von 4.500 auf 1.235 gesunken sein. An die Stelle von versicherten Arbeitern sind Tagelöhner getreten, die von Subunternehmern (taúeron) beschäftigt werden. Im Fall der von einem Subunternehmer betriebenen Milchwirtschaft der TøGEM handelt es sich um unversicherte junge Frauen und Kinder. Hunderte von ihnen werden aus einem Umkreis von vielen Kilometern zur Arbeit ins TøGEM-Gelände gefahren. Als Transportmittel dienten bis vor kurzem Lastwagen, auf deren offener Ladefläche bei gutem Wetter siebzig bis achtzig Menschen Platz fanden. Seit dem Unfall vom Februar 2007 werden Kleinbusse verwendet. An dem eingangs erwähnten Unglückstag, dem 7. Februar 2007, beförderte ein Lkw, Kennzeichen 63 SE 107, Baujahr 1973, auf offener Ladefläche bei Regenwetter nur dreiundvierzig junge Frauen und Kinder zur Arbeit in der Schafmelkanlage der TøGEM. Auf dem umzäumten und bewachten Gelände angekommen, versuchte der Fahrer den in der Nacht zuvor durch Regenfälle angeschwollenen „ÇÕrpÕ“ auf einer beschädigten Brücke zu überqueren. Die Brücke stürzte ein, der Lastwagen fiel in den Fluß und kippte zur Seite. Einundvierzig Menschen fielen von der Ladefläche ins Wasser. Dreiunddreißig Personen, die sich an die Karosserie geklammert hatten, konnten von der herbeigeeilten Bevölkerung mit aufgeblasenen Lkw-Schläuchen und Stricken an Land gezogen werden. Der Fahrer wurde, nachdem er mehrere Personen gerettet hatte, zusammen mit seiner Frau und weiteren jungen Frauen und Kindern von den Fluten mitgerissen und ertrank mit ihnen. Wer hatte den Tod dieser zehn Menschen –––––––––––––––– zur Umdirigierung der 4. ID nach Kuwait: PHILIPPS, David L.: Losing Iraq. Inside the Postwar Reconstruction Fiasco. New York 2005, S. 113–120. 67 SALK, Gundula: Die türksprachigen Afghanistanflüchtlinge in der Türkei, in: Materialia Turcica 17 (1996), S. 69–71, 76; vgl. www.sanliurfa.com/ v1/index.php (Zugriff am 4.12.2007); www.sanliurfa.gov.tr/valilik/ceylancografya.html (Zugriff am 4.12.2007).

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verschuldet? Der Fahrer, der eine Warnung vor der Brücke fahrlässig mißachtet hatte, war tot. Der Subunternehmer konnte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe entkräften: er hatte vor der beschädigten Brücke gewarnt. Ein Hauptvorwurf richtete sich gegen die Kinderarbeit, die niedrigen Löhne der Melkerinnen und das Fehlen einer Versicherung. Für diesen für einen Staatsbetrieb problematischen Zustand wurde eine Art von „Privatisierung“ und Übertragung an Subunternehmer (taúeronlaútÕrma) verantwortlich gemacht.68 Auch die Schulkinder leiden trotz mancher Regulierungen unter den winterlichen Überschwemmungen. Wenn der ÇÕrçÕp zu einem breiten und tiefen Strom anschwillt, ziehen Kinder des Dorfes YukarÕ Karataú, die zur Schule müssen, ihre Schuhe aus und durchwaten den reißenden eiskalten ÇÕrçÕp Deresi. Im Sommer jedoch erfreuen sich die Anwohner ihres ÇÕrçÕp, in dessen trockenem Bett oder Wadi (dere) sie Picknicks halten. Die Fernstraße 400 überschreitet elf Kilometer oberhalb von Dedeköy69 die Grenze zum Vilayet Mardin. Bei Dedeköy wird ein Alevi-Ocak namens ùeyh øbrahimli (ùÕhlÕ), mit Zentrum im Dorf Merzime, verzeichnet.70 Am Abschnitt 28 der 400 liegt Kocatepe ein bucak der ilçe Derik. Die Kreisstadt Derik (früher Tell Bism) liegt 19 km oberhalb der 400. Die heutige Kreisstadt MazÕda÷Õ (früher ùamrah) liegt nördlich von Derik. KÕzÕltepe (früher Koçhisar, Dunaysir) liegt seit 1975 an der Fernstraße 400, dem neuen „øpek Yolu“. Diese Anbindung an den Überlandverkehr – bis in den Irak – hat der Kreisstadt zu schnellem Wachstum verholfen. Zu den dunklen Kapiteln der neuesten Geschichte gehört die Erschießung des –––––––––––––––– 68 GÜNÇIKAN, Berat: TøGEM'in Çocuk øúçileri, in: Cumhuriyet, 27. April 2007; DIES.: Kâr HÕrsÕna Kurban Edilen ҵTøGEM †ocuklarÕ, unter: www.gundemcocuk.org/ index (Zugriff am 4.12.2007); vgl. ÖZMEN, Kemal: Özelleútirme, KayÕt DÕúÕ, øú Cinayeti: 9 Ölü, BøA Haber Merkezi, ùanlÕurfa-østanbul, 8.02.2007, unter: www.bianet.org/kategori/cocuk/91592/ozellestirme-kayit-disiis-cinayeti-9-olu (Zugriff am 4.12.2007) 69 Am Rande des 50–60 Seelen zählenden Dorfes Dede Köy am Büyük †ÕrçÕp (ilçe Viranúehir der Provinz ùanlÕurfa) sah Nejat GÖYÜNÇ in den 1960er Jahren die Reste des Ordenshauses des Dede KarkÕn; er fand auch die Fundamente der Pfeiler der langen Brücke über den Büyük †ÕrçÕp, GÖYÜNÇ, Nejat: 1969, S. 25, 42, 61, 76, 79. Das Dorf liegt an der Provinzgrenze. Daß die historischen Reste auf dem östlichen Ufer, also in der ilçe Derik der Provinz Mardin liegen, ergibt sich aus: Köy Köy Türkiye Yol AtlasÕ, 6. Aufl. Istanbul 2004, S. 202 C2 und Index („ùanlÕ Urfa/Derik”). 70 Hamza AKSÜT zitiert eine ungedruckte, undatierte Dissertation von M. Salih ERPOLAT (Diyarbekir Beylerbeyli÷indeki Yer øsimleri); GÖYÜNÇ, Nejat: XVIncÕ YüzyÕlda Mardin Sanca÷Õ, in: Alevi Forumu: Arguvan Alevileri; Hamza AKSÜT in YOL, Auszug vom 3. Februar 2004, S. 45. Nähere Angaben s.u., Fußnote 73.

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zwölfjährigen Schülers U÷ur Kaymaz zusammen mit seinem Vater, dem Lkw-Fahrer Ahmet Kaymaz, am 21. November 2004 durch Sicherheitskräfte (sie wurden am 18. April 2007 von einem Gericht in Eskiúehir freigesprochen).

8. Ausblick: Eyalet oder Vilayet? Die Provinz Diyarbekir war im Osmanischen Reich, wie erwähnt, ein eyalet gewesen, das heißt, die größte Verwaltungseinheit unter einem beglerbegi (Generalgouverneur). In der Provinzverwaltung wird zäh am alten System und an konstanten administrativen Grenzen festgehalten.71 Daran ändern auch Vilayet-überschreitende Einrichtungen wie etwa GAP, Devlet Su øúleri oder die Eisenbahn- und Straßenbauämter wenig. Im heutigen zentralistisch organisierten Einheitsstaat vertreten die vom Innenminister ernannten Gouverneure (vali) und Landräte (kaymakam), sorgfältig ausgebildete Verwaltungsbeamte, die Regierung und die Minister. Die Befugnisse der gewählten Bürgermeister (belediye baúkanÕ) sind beschränkt; so klagte der Bürgermeister von CeylanpÕnar, er kümmere sich um die Hinterbliebenen des ÇÕrçÕp-Unglücks, werde aber „wegen der Partei, der er angehöre“ alleingelassen.72 Auf oberster Ebene beschäftigt sich die Politik seit den 1980er Jahren mit einer Provinzreform großen Stils; von acht Eyalets (Ankara, østanbul, øzmir, Adana, Erzurum, DiyarbakÕr, Eskiúehir, Trabzon) war die Rede. Am 1. März 2007 sprach sich der seit 1989 im Ruhestand lebende siebte Staatspräsident Kenan Evren im „Sabah“ für Eyalets, regionale Valiliks (bölge valilikleri), aus. Er sprach von Regionen, die sogar von eigenen gewählten Parlamenten regiert werden könnten. Dabei knüpfte er an die entsprechende Gesetzesvorlage von 1983 an. Allerdings, so setzte er hinzu, habe er an eine ferne Zukunft gedacht; allenfalls in zwanzig bis fünfzig Jahren könne ein Eyalet-System eingeführt werden. Einstweilen trennt das Bett des ÇÕrçÕp die Provinzen ùanlÕurfa (Kennzeichen 63) und Mardin (47), hüben die ilçe Viranúehir (Urfa); drüben die ilçe Derik (Mardin). Die Brücke von Dede GarkÕn ist noch vorhanden, wenn auch verfallen; auch eine Türbe ist in unscheinbaren Resten noch –––––––––––––––– 71 FINDLEY, Carter V.: Bureaucratic Reform in the Ottoman Empire. The Sublime Porte, 1789–1922. Princeton 1980, S. 309–313. FINDLEY behandelt das jungtürkische General Law on Provincial Administration vom 26. März 1913, welches bis heute den grundsätzlichen Rahmen für die Provinzverwaltung darstellt. Vgl. auch GÖYÜNÇ, Nejat & HÜTTEROTH, Wolf-Dieter: 1997, S. 42. 72 GÜNÇIKAN, Berat: TøGEM’in †ocuk øúçileri, in: Cumhuriyet, 27.04 2007.

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erhalten und zieht bis heute gläubige Kurden an, die sie als ùirin Dede verehren.73

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–––––––––––––––– 73 Vgl. AKSÜT, Hamza (www.aleviyol.com/forum), der 2003 die Türbe besuchte. AKSÜT, Hamza: Anadolu AleviliЂinin Sosyal ve CoЂrafi Kökenleri. Ankara 2002 (mir nicht zugänglich); AKSÜT, Hamza: Mezopotamya’dan Anadolu’ya. Alevi Erenlerin ølk SavaúÕ (1240), unter: www.aleviforum.com/showthread/php?t=8453 (Zugriff am 27.11.2007); YALÇøN, Alemdar & YøLMAZ, HacÕ: KargÕn OcaklÕ Boyu ile ilgili yeni belgeler, unter: www.hbektas.gazi.edu.tr/portal/html/modules.php? (datiert auf den 14.04.2006, Zugriff am 27.11.2007).

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Am ÇÕrçÕp: Einst und jetzt

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Orhan KEMAL und Kemal TAHøR im Vergleich: Das Bild der Arbeiterin und Bäuerin in ausgewählten Romanen1 Mediha Göbenli (Istanbul)

In der erzählenden Prosa sind vor allem zwei Autoren zu nennen, die die Subkultur der großstädtischen Elendsquartiere immer wieder – und mit großer Publikumsresonanz – thematisiert haben: Kemal Tahir (geb. 1910) und Orhan Kemal (1914– 70). Beide haben selbst im Milieu des unausgebildeten, nur hin und wieder in der Industrie beschäftigten städtischen Subproletariats gelebt und ihre Erfahrungen in Romanen und Erzählungen dargestellt (in ihrer Prosa finden sich erstmals in der türkischen Literatur ‚Werktätige‘, Helden aus dem erst im Entstehen begriffenen Industrie-Proletariat.) Ihre Bücher erschienen seit den fünfziger Jahren, offenbar von der Welle der realistischen Prosa mit vorwiegend ‚dörflichem‘ Inhalt mitgetragen.2

Dies schrieb Petra KAPPERT 1985 über Orhan KEMAL und Kemal TAHøR und stellte damit die Parallele zwischen den beiden Autoren kurz und bündig her. Bei einem weiteren Vergleich fällt auch auf, daß KEMAL und TAHøR ähnliche biographische Hintergründe aufweisen: Beide starteten ihre ersten literarischen Versuche mit Gedichten, verbrachten lange Zeit wegen ihrer politischen Überzeugung im Gefängnis, lernten dort NâzÕm Hikmet kennen und befreundeten sich mit ihm, der sie auch zum Romanschreiben anregte und förderte; beide schrieben mit einem Pseudonym (Kemal TAHøRs richtiger Name lautet øsmail Kemalettin DEMøR; Orhan KEMAL hieß Mehmet Raúit ÖöÜTÇÜ) und behandelten zunächst dörfliche Themen oder innere Migration, und was noch wichtiger ist, beide konnten sich durch ihre schriftstellerische Tätigkeit einigermaßen ihren Lebensunterhalt verdienen. Doch weisen sie auch erhebliche Unterschiede auf wie beispielsweise in Bezug auf ihre Roman- und Geschichtskonzeption. Während Kemal TAHøR den gesellschaftlichen Hauptwiderspruch in der Teilung zwischen der westlichen und östlichen Welt und den Gesellschaften sieht, –––––––––––––––– 1 2

Vortragsthema auf der 6. Turkologenkonferenz 2005 in Frankfurt/a.M., für diesen Gedenkband überarbeitet und ergänzt. KAPPERT, Petra: Zeitgenössische türkische Literatur – Themen und Tendenzen, in: GROTHUSEN, Klaus-Detlev (Hg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd. IV, Türkei. Göttingen 1985, S. 621–649.

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hat Orhan KEMAL eher ein universell historisch orientiertes Weltbild. Wie schlägt sich dieses Weltbild in ihren Romanen nieder? Welche Folgen hat ihre Roman- und Geschichtskonzeption für die Gestaltung ihrer Literatur? Wie gestalten sie ihre Figuren, insbesondere die der Frauen? Das sind also einige Fragestellungen, die bei dieser Untersuchung leitend sind.

Orhan Kemal Zunächst möchte ich Orhan KEMAL, den bekannten Romancier, vorstellen. Mehmet Raúit ÖöÜTÇÜ wurde im Jahre 1914 geboren und verstarb 1970. Er begann seit 1942 unter dem Pseudonym Orhan KEMAL seine schriftstellerische Tätigkeit und wurde 1938 unter dem Vorwand, Gorkis und NâzÕm Hikmets Bücher zu lesen, verhaftet.3 Einen Wendepunkt in seinem Leben und literarischem Schaffen brachte die Begegnung mit NâzÕm Hikmet im Gefängnis von Bursa, der ihn von der Dichtung zum Prosaschreiben motivierte. 1943 wurde Orhan KEMAL aus dem Gefängnis entlassen. Er kehrte nach Adana zurück, wo er in diversen Jobs als Sekretär und Fabrikarbeiter tätig war. 1950 ließ er sich schließlich mit seiner Familie in Istanbul nieder. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schrieb er Romane, Theaterstücke unter diversen Namen, unter anderem auch Drehbücher für Yeúilçam. In der Regel wird Orhan KEMALs literarische Produktion in drei Phasen bzw. Genre unterteilt:4 1. Romane autobiographischen Inhalts: Babaevi (1949) und Avare YÕllar (1950) 2. Romane über die Landarbeiter und Arbeiter in den Gegenden von Çukurova und Adana: Murtaza (1952), Cemile (1952), Bereketli Topraklar Üzerinde (1954), Vukuat Var (1958), HanÕmÕn Çiftli÷i (1961), KanlÕ Topraklar (1963) 3. Romane, die ihren Schauplatz in Istanbuls Elendsquartieren haben: Eskici ve O÷ullarÕ (1962), Müfettiúler Müfettiúi (1966), Devlet Kuúu (1958), El KÕzÕ (1960), Bir Filiz VardÕ (1965). Sehr oft wurde und wird Orhan KEMAL als Maxim Gorki in der türkischen Literatur bezeichnet.5 Nach seinem Tod wurde 1972 unter seinem Namen ein Literaturpreis gegründet. Die Thematik seiner Literatur wählte Orhan KEMAL aus dem Leben „einfacher Menschen“: Bauern und Landarbeiter, Handwerker, Arbeiter, –––––––––––––––– 3 4 5

BEZøRCø, AsÕm & ALTINKAYA, Hikmet: Orhan Kemal. østanbul 1977, S. 16. Vgl. MORAN, B.: Türk RomanÕna Eleútirel Bir BakÕú. østanbul 1991, S. 58; KURDAKUL, ù.: Ça÷daú Türk EdebiyatÕ 2. østanbul 1987, S. 566–569. EBD.: S. 564; UTURGAURø, S.: Türk EdebiyatÕ Üzerine. østanbul 1989, S. 95–96.

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niedere Beamte, Obdachlose und Prostituierte. Für uns sind vor allem die Frauenfiguren von Bedeutung, insbesondere die der Arbeiterin und Bäuerin. Ich konzentriere mich in erster Linie auf diese beiden Frauenfiguren und einführend kann verallgemeinernd festgehalten werden, daß Frauen nur in sehr wenigen Romanen von männlichen Autoren die Hauptrolle spielen. Während Kemal TAHøR zu diesen Autoren gehört, befinden sich unter den Ausnahmen Orhan KEMAL mit Erzählungen und den Romanen Cemile und Bir Filiz VardÕ. Bezogen auf Orhan KEMAL, beschränke ich mich auf die Analyse der Frauenfiguren in seinen folgenden Romanen: Cemile, Murtaza, Gurbet KuúlarÕ, Bir Filiz VardÕ. Mit Cemile6 findet das erste Mal nicht nur die türkische Arbeiterin Eingang in die türkische Literatur, sondern Cemile gilt auch allgemein als der erste Roman in der türkischen Literatur, der das Leben von Arbeitern thematisiert.7 Cemile beginnt im Jahre 1934, der Handlungsort ist die Stadt Adana. Filmisch wird von einer Fernaufnahme in die Stadt eingeführt (S. 7): Unter dem strahlenden Mond streckten sich die weißen Baumwollfelder so weit das Auge blicken konnte; auf den staubigen Wegen, welche die Dörfer mit der Stadt verbanden [...] flossen Lastwagen, Fords mit ihren ungeölten quietschenden Reifen […] beladen mit Baumwoll-Säcken, in die Stadt rein. Kuvvetli ayÕn altÕnda bembeyaz pamuk tarlalarÕ göz alabildi÷ine uzanÕyor, köyleri úehre ba÷layan tozlu yollarda [...] tohumlu pamuk hararlarÕ yüklü Doçlar, ùevroleler, Fordlar, ya÷sÕz tekerleklerinin gÕcÕrtÕsÕ [...] úehre akÕyordu. Von der Ferne sah die Stadt wie ein Strich aus Lichterketten aus. (ùehir uzaklarda bir çizgi, ÕúÕktan bir çizgi gibi gözükmekteydi.)

So erscheint in Cemile von der Ferne die Stadt mit ihren Lichterketten zuerst magisch anziehend, was als literarisches Leitmotiv auf den kommenden Verstädterungs- und Industrialisierungsprozeß hinweist. Nach dieser Einführung in die nächtliche Stadtlandschaft, läuft der Leser und die Leserin über alte Straßen der Stadt; sodann geht eine Tür auf, der weitere folgen, um schließlich mit den Menschen, die aus diesen Türen hervortreten, vor der „bleigrau angemalten Eisentür“ (S. 12) der Fabrik zu landen. Und schließlich findet man, in der Stadt angekommen, das reale Arbeiterviertel mit den Baracken, hergerichtet aus kaputten Dächern und Türen, aus verrosteten Wellblechen und Erde (S. 12–13): Das Arbeiterviertel schlief. Das Arbeiterviertel mit seinen Häusern aus morschen Brettern, verrosteten Helmen und Lehmhaufen sah wie eine Wasserflut aus, eine

–––––––––––––––– 6 7

Im Oktober 2004 wurde Cemile mit 100.000 Exemplaren neu aufgelegt. UTURGAURø, S.: 1989, S. 81.

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Wasserflut, als ob sie von der Ferne, von sehr weit her, sich wälzend, sich schäumend, furchtbare Wirbel hervorrufend gekommen wäre und sich seit Jahren mit der Fabrik, der Pulsschlagader des Arbeiterviertels, vermischt hätte [...]. [...] iúçi mahallesi uyuyordu. Çürümüú tahta, paslÕ teneke ve kerpiç yÕ÷ÕnlarÕndan ibaret evleriyle iúçi mahallesi sanki bir seldi, bir seldi de bu sel, uzak, çok uzaklardan yuvarlana yuvarlana, köpüre köpüre, korkunç anaforlar yapa yapa gelmiú, yÕllardan beri mahallenin nabzÕ gibi atan fabrikanÕn a÷Õr [...]. Die Häuser [...] Arbeiterhäuser. Die morschen Türen dieser Häuser öffneten sich in der Mitte, oder ein schmächtiges Mädchen, eine Frau, oder ein schlaftrunkenes kleines Kind mit seinen riesigen Holzpantoffeln trat hervor. Evler [...] iúçi evleri. Bu evlerin çürük kapÕlarÕ arada açÕlÕyor, ya da dal gibi bir kÕz, bir kadÕn, yahut kocaman takunyalarÕyla küçücük bir çocuk, uyku dolu gözleriyle çÕkÕyor [...].

Auf den ersten Blick scheint Cemile ein Liebesroman (zwischen der gleichnamigen bosnischen Textilarbeiterin und dem Fabriksekretär Necati) zu sein, wobei der Schauplatz dieser Liebesgeschichte die Fabrik und das Arbeiterviertel ist. Die unzureichenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen (unstabile Dächer, mangelnde Ernährung, unzureichender Schlaf, lange Arbeitsstunden), ihre zwischenmenschlichen Beziehungen untereinander oder ihr Verhältnis zum Fabrikbesitzer werden vor allem durch die Technik der Dialoge dargestellt. Diese Dialoge werden unterstützt durch Beschreibungen folgender Art (Cemile, S. 46): Jetzt kamen die Arbeiterinnen der Spinnerei in großer Anzahl in schwarzen Schürzen, weißen Kopftüchern müde hinaus. [...] Nach 12 Stunden anstrengender Arbeit [richteten sie sich] mit der Freude der erreichten Freiheit zur Sonne [...]. ùimdi iplikhanenin kadÕn iúçileri, siyah önlük, beyaz baúörtü kalabalÕ÷Õ halinde, yorgun çÕkÕyorlardÕ. [...] On iki saatlik yorucu bir iúten sonra kavuútuklarÕ hürriyetin neúesiyle güneúe karúÕ [...].

In diesen Zeilen spüren wir vor allem den Respekt und die Bewunderung des Autors für diese Arbeiterinnen. Cemile ist die Tochter einer aus Bosnien emigrierten Familie. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder zusammen in einer der oben beschriebenen Arbeiterbaracken. Die Mutter starb an den Folgen der schlechten Arbeitsbedingungen in der Fabrik (S. 77–78, 93). Cemile wird beschrieben als eine selbstbewußte, fleißige und stolze junge Frau. In Murtaza8 (1952) sind Frauen nur als Nebenfiguren vorhanden. Der Held des Romans, Murtaza, ist ein übereifrig pflichtbewußter Nachtwäch–––––––––––––––– 8

In Übersetzung Murtaza oder Das Pflichtbewusstsein des kleinen Mannes (1979).

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ter in der Textilfabrik, wo auch zwei seiner Töchter – Firdevs und Cemile – arbeiten. Eines Tages werden in der Nachtschicht Firdevs und Cemile von dem pflichtbewußten Vater beim Schlaf ertappt. Während Cemile sich retten kann, wird Firdevs mit dem Kopf an die Wand geschleudert. Sie stirbt an den Folgen des Schlages. Realistisch dargestellt ist Murtazas Frau, die ständig mit den Worten „Abe maaú kaç?“ („Abe, wie hoch ist das Gehalt?“, S. 148–149) einfordert, daß Murtaza statt Stolz auch Geld nach Hause bringen sollte. Obwohl Frauen in Murtaza nur als Nebenfiguren vorhanden sind, handeln sie bewußt und nach ihrem eigenen Willen. So auch im Falle von Murtazas Tochter Cemile, die mit dem Mann davonläuft, den sie liebt, anstatt den von ihrer Familie ausgesuchten Mann zu heiraten. In Bir Filiz VardÕ (1965) ist die Hauptfigur, Filiz, zu Beginn des Romans 16 Jahre alt, fängt in einem Buchladen an zu arbeiten, nicht nur um ihre Familie finanziell zu unterstützen, sondern auch um sich die von ihr begehrten Sachen – Kleidung, Kino, Köstlichkeiten wie Schokolade und Nüsse – leisten zu können. Filiz wird beschrieben als eine auffällig hübsche junge Frau, die sehr anziehend auf die Männer in ihrer Umgebung wirkt. Sie ist sich ihrer Anziehungskraft selbst auch sicher, so daß sie mit diesen Männern, die glauben, sie mit ihrem Geld kaufen zu können, ihre Spielereien treibt. Doch verliebt sie sich eines Tages in einen jungen Arbeiter, der in der Gewerkschaft aktiv ist und mit dem Arbeiter in ihrem Lieblingsroman Ähnlichkeiten aufweist. Dieser Roman im Roman ist ebenfalls von Orhan KEMAL verfaßt, der zum Schluß des Romans als Erzählerfigur auftaucht und von seinem Vorhaben, einen Roman mit der Figur Filiz als Romanheldin zu schreiben, berichtet (S. 193–194). In meinen Romanen habe ich bisher massenhaft Arbeiter, Bauern-Figuren gezeichnet. Diese Figuren sind das Resultat [...] einer ungeordneten Gesellschaft. Was der Grund auch sein mag, es sind Erzählungen oder Romane von Menschenschicksalen hervorgerufen durch schlechte Lebensbedingungen. [...] Seit Jahrhunderten hat der Weltroman zu 98% diese Figuren bearbeitet. Sollte der Roman unserer Zeit auf diesem Weg weitergehen? Sollten wir nicht Figuren zeichnen, die sich dem Schicksal des korrupten Systems nicht beugen, sich nicht beugen sollten? Gibt es heute diesen Typ nicht in der Gesellschaft? Es gibt sie, meine ich. RomanlarÕmda úimdiye kadar yÕ÷Õnla iúçi, köylü tipleri çizdim. Bu tipler, düzensiz bir toplumun yarattÕ÷Õ [...] sonuçlardÕ. Sebep ne olursa olsun, kötü yaúayÕúÕn gerekli kÕldÕ÷Õ mahvedilmiú insanlarÕn hikâye, ya da romanlarÕ. [...] Yüz yÕllar boyunca dünya romanÕ yüzde doksansekiz bu tipleri iúlemiú. Ça÷ÕmÕz romanÕ aynÕ yolda mÕ yürümeli? Bozuk düzenlerin kaderine boyun e÷meyen, e÷memesi gereken tipleri çizmemeliyiz? Böyle tipler bugün, bu toplumda da yok mu? Bence var.

Einleitend mit diesen Worten über seinen Roman und sein Romanverständnis, erkennt der Autor Orhan KEMAL in der Figur der jungen Arbeite-

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rin Filiz diesen Heldentypus, der sich dem „verdorbenen System“ (bozuk düzen) nicht beugt (S. 194): Figuren wie Filiz, die sich gegen die zu einer Art Schicksal gewordenen Notwendigkeiten der Gesellschaft auflehnen [...]. Unser Roman braucht neben den Figuren, die kriecherisch, ängstlich sind und für ihren individuellen Vorteil unentwegt sich erniedrigen und sich ergeben haben, auch Figuren, die sich nicht ergeben haben, sich auflehnen, die zu einem Bewußtsein gelangt sind, um gegen das Schlechte erbarmungslos zu kämpfen. Filiz gibi, içinde yaúadÕklarÕ toplumun birer çeúit kader olmuú gereklerine kafa kaldÕran tipler ... Bizim romanÕmÕza, bizim toplumun el, etek hatta ayak öpen, korkak, bireysel çÕkarlarÕ için alabildi÷ine alçalan, teslim olmuú tiplerin yanÕnda, teslim olmamÕú, baúkaldÕran, kötülüklerle kÕyasÕya savaúabilmek için örgütlenme úuuruna ulaúmÕú tipler lazÕm.

Mit der Zeit bildet sich bei Filiz ein emanzipativer Bewußtseinsprozeß heraus, vor allem nachdem sie anfängt, als Schreibkraft für die Gewerkschaft zu arbeiten. Vorher hatte sie noch nicht einmal den Namen der Gewerkschaft gehört und versucht, wegen der Phonetik einen Bezug mit sendika (Gewerkschaft) und sandÕk (Kiste) herzustellen (S. 270). In der Gewerkschaft begegnet Filiz das erste Mal Männern, die sie nicht als sexuelles Objekt betrachten, sondern ihr freundschaftlich begegnen. Nach diesem Bewußtseinsprozeß versteht Filiz nunmehr die Definition, daß die Arbeiterin ein Mensch ist, der seine Arbeitskraft verkauft („iúçi, eme÷ini satan insandÕr“, S. 281). In einem Dialog mit dem Romancier erkennt Filiz ihr Vorhaben (S. 237): Ich möchte arbeiten, doch möchte ich mich dafür nicht hergeben. Was sie auch sagen: Mittel, Eigentum, Geld von anderen interessieren mich nicht. [...] Der Romancier hatte seinen Entwurf in der jungen Frau gefunden. – Ich werde Sie als eine junge Arbeiterin bearbeiten, die sich nicht ergibt! Ben, çalÕúmak, ama kendimi de vermek istemiyorum. Kim ne derse desin, hiç kimsenin malÕ, mülkü, parasÕ beni ilgilendirmeyecek. [...] RomancÕ tasarladÕ÷ÕnÕ bulmuútu genç kÕzda. – Ben sizi, teslim olmÕyan bir küçük iúçi kÕz olarak iúliyece÷im! Bei jeder Begegnung sprach sie über den Typ im blauen Arbeitsanzug. Sie wundert sich, daß ein Arbeiter so klug sein kann. Gibt es diese Arbeiter tatsächlich in der Türkei? Ich versuche ihr, soweit ich kann, zu erzählen, daß es sie gibt. Auch in der Türkei, überall in der Welt, gibt es viele kluge Arbeiter. Her karúÕlaúmamÕzda bana ikinci ciltteki mavi tulumludan söz açÕyor. SaúÕyor bir iúçinin böylesine akÕllÕ olabilece÷ine. Gerçekten var mÕymÕú böyle iúçiler Türkiye’de. Dilimin döndü÷ünce anlatmaya çalÕúÕyorum ki, var. Türkiye’de de, dünyanÕn her yanÕnda bol bol bulunan akÕllÕ iúçiler var.

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So schlägt sich also die Geschichtskonzeption von Orhan KEMAL in der Sehnsucht einer jungen Arbeiterin nieder (S. 259): Ich empfinde mich in dieser Welt überhaupt nicht frei und gelassen. Du bist an den Ort gebunden, wo du für einen Hungerslohn arbeitest; weil sie dich zur Welt gebracht und großgezogen haben, bist du an deine Eltern gebunden; weil du besorgt bist wegen des Geredes der Nachbarn und Verwandten, bist du an deren Wünsche gebunden. Man ist also niemals an seinen eigenen Willen gebunden. Wissen Sie, was ich möchte? Ich möchte, daß ich in einer Arbeit tätig bin, die ich mag, und daß ich nach der Arbeit die Leute an Orten treffe und spreche, die ich bestimme. Kendimi bu dünyada hiç de hür ve esen saymÕyorum. Bo÷az toklu÷una çalÕútÕ÷Õn yere ba÷lÕsÕn; seni do÷urdular, büyütüp yetiútirdiler diye anana, babana ba÷lÕsÕn; dedikodularÕndan korktu÷un için komúularÕnÕn, hÕsÕm akrabanÕn arzularÕna ba÷lÕsÕn ... Yani, hiçbir zaman kendi kendinin iste÷ine, içinden gelene ba÷lÕ olamÕyorsun. Ne istiyorum biliyor musunuz? østiyorum ki, canÕmÕn istedi÷i iúte çalÕúÕp, iúten çÕktÕktan sonra da diledi÷im yerlerde, diledi÷im insanlarla konuúayÕm.

Allerdings weiß Orhan KEMAL als realistischer Autor auch, daß er seinen Romanfiguren nicht idealistisch begegnen darf, wobei er Realismus mit Patriotismus gleichsetzt. So besteht der Realismus für Orhan KEMAL nicht nur darin, der Gesellschaft, in der man lebt, einen Spiegel vorzuhalten. Der wahre Realismus, der wahre Patriotismus bedeutet, das verdorbene System zu sehen, zu begreifen, woher das Verdorbene kommt, und dann zu versuchen, diese Verdorbenheit aus dem Weg schaffen. Patriotismus bedeutet, die Menschen seiner Heimat zu mögen, das heißt, dafür zu sorgen, daß sie wie Menschen leben. Und gegen die zu kämpfen, die das verhindern.9

Der Roman Gurbet KuúlarÕ (Vögel der Fremde, 1962) ist der Folgeroman von Bereketli Topraklar Üzerinde (Fruchtbare Erde). Während in Bereketli Topraklar drei Freunde aus einem südanatolischen Dorf in die Stadt Adana zogen, um dort Arbeit zu finden, darunter auch der einzig Überlebende im Roman – øflâhsÕzÕn (heilloser) Yusuf – ist der Held diesmal der Sohn von øflâhsÕzÕn Yusuf, der wie sein Vater den Weg in die Stadt einschlägt, und zwar in die Großstadt Istanbul. Mehmet besitzt zwar ebenfalls die dörfliche Naivität der ersten Wanderarbeiter, jedoch ist er nicht völlig hilflos ausgeliefert. Wie sein Vater und dessen Freunde versucht auch er sich einem entfernten Landsmann als Anlaufstelle anzuvertrauen, der sich indes Mehmets nicht annimmt. So findet Mehmet Arbeit auf einer Baustelle und begegnet eines Tages Ayúe, die als Dienstmädchen arbeitet. Nach der Heirat ziehen sie in ein gecekondu-Viertel. Ihr Ziel ist es, hier eine Baracke zu bewohnen, die nach dem ersten Versuch, sie zu errichten, niedergerissen –––––––––––––––– 9

Bir Filiz VardÕ, S. 194.

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wird. Damit endet auch der Roman. Ayúe, äußerlich beschrieben mit „großen Händen, großen Füßen, pausbackig“ (S. 111), ist eine Waise, die vor zehn Jahren aus dem anatolischen Dorf in die Fremde gebracht wurde („garip bir gurbet kuúuydu o“). Sie hat einen einfachen Traum, nämlich ein Dach über dem Kopf mit Kind und Kegel in dem gecekondu-Viertel von Zeytinburnu (S. 114): Müde Männer – in ihren Händen ein Laib Brot, mit Gemüse und Obst gefüllten Paketen – kehren in ihre Nester zurück. Könnte so ein Mann ihr eigener sein. Jung, nicht gutaussehend, in den 30ern, er könnte sogar über dreißig sein. Unter seinem Arm der Laib Brot, in seinen Händen das mit Gemüse gefüllte Einkaufsnetz, müde nach Hause kommend. Könnte sie in den engen Gassen der gecekondu wie Hatca Aba ihm entgegenlaufen, ihm die Pakete nehmen, und mit ihm zusammen nach Hause kommen. Kinder ... Ein Mädchen und zwei Jungen.10 Ellerinde somunlar, sebze meyve dolu ya da birtakÕm paketlerle yuvalarÕna dönen yorgun erkekler. Böyle erkeklerden biri de kendinin erke÷i olsa. Genç, yakÕúÕklÕ de÷il, otuzluk, hatta otuzu da aúkÕn olabilir. Koltu÷unda evinin somunlarÕ, elinde sebze dolu file, yorgun argÕn eve gelse. Ayúe gecekondularÕn daracÕk soka÷Õnda, Hatça abasÕ gibi, koúsa, erke÷inin elinden somunlarla fileyi alsa. sonra eve gelseler. Çocuklar... Bir kÕz iki o÷lan.

In Orhan KEMALs Romanen gibt es natürlich auch Frauenfiguren aus höheren Klassen, z. B. in Gurbet KuúlarÕ die Gattin des Unternehmers Hüseyin Efendi. Hüseyin Efendi selbst stammt aus einem anatolischen Dorf und spricht mit dem Dialekt, den er aus seinem Dorf mitgebracht hat. Mit der Zeit ist er von einem einfachen Lastträger zum Großhändler aufgestiegen. Während seine Frau, eine Städterin, für ihren Mann einen Aufstieg über ihre Beziehungen in der Politik (DP) erhofft und ihn ständig beim Sprechen korrigiert, sehnt sich Hüseyin Efendi nach dem dörflichen Leben. Auffällig ist, daß diese bürgerlichen Frauen keine Namen haben, obwohl sie sich über ihre Ziele genauestens im Klaren sind. So bleibt auch diese Frauenfigur bis zum Ende des Romans die „Frau des Großhändlers“ oder „hanÕm“ (die Dame), die besetzt ist mit Adjektiven wie „berechnend“ und „fuchsig“ (S. 107). Ihr Ziel, für das sie sogar bereit ist, sich zu prostituieren, wird wie folgt dargestellt (S. 106): Diese Frau, die in der ersten Zeit mit den Ministern begann und von Grad zu Grad zu den Abgeordneten sank, wollte dann bei den Generaldirektoren, und danach bei den Direktoren stehen bleiben, aber es ging nicht. Was hatten außerdem die Direktoren und die Finanzberater in ihren Händen? Sie wollte auch keine gewöhnliche Prostituierte sein. Denn so ein Leben war weder nur Geld, oder nur Ruhm. Vielleicht beides. Oder ein drittes, wozu beide gehörten: Posten!

–––––––––––––––– 10 KEMAL, Orhan: Gurbet KuúlarÕ. østanbul 1982, S. 106.

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ølk zamanlar Vekillerden baúlayÕp, mebuslara kadar derece derece düúen bu kadÕn, sonralarÕ Umum Müdürler, daha sonralarÕ da Müdürlerde karar kÕlacaktÕ ama, olmuyordu. Hem sonra ne vardÕ müdürlerin, muhasebecilerin elinde? O alelade bir fahiúe olmak da istemiyordu. Çünkü onca hayat ne sade para, ne de sadece úehvetti. Belki her ikisi. Ya da her ikisinin bulundu÷u bir üçüncü: Mevki!

Insofern ist Orhan KEMAL ziemlich parteiisch, wenn er auf der anderen Seite die Meister (ustalar) positiv darstellt. Sie sind ausgestattet mit einem Klassenbewußtsein, belesen, parteiisch und gebildet. In Gurbet KuúlarÕ legt sich sogar ein Meister wegen den schlechten Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen mit dem Fabrikbesitzer an und kündigt seine Arbeit. Die Worte, die er vor der Kündigung ausspricht (S. 309): Auch die Arbeiterinnen, die im Säure-Nebel unfruchtbar werden, sind Menschen. Auch sie kamen wie ihr zur Welt, um zu leben. Habt ihr keinen Gewissenskonflikt, wenn ihr auf ihre Kosten euren Whisky schlürft? Asit dumanÕ içinde kÕsÕrlaúan iúçi kadÕnlar da insan. Onlar da bu dünyaya en az sizin kadar yaúamak için geldiler. OnlarÕn ölümü bahasÕna viski içerken kalpleriniz sÕzlamÕyor mu?

Während sich die Frauenfiguren aus der höheren Klasse für einen guten Posten des Ehemanns, über den sie sich definieren, prostituieren können, erlangen die Frauenfiguren aus der Unterschicht mit der Zeit ein Bewußtsein nicht nur als Frau, sondern auch als Mensch mit einer bestimmten Klassenzugehörigkeit. So auch Ayúe (S. 312): Anstatt vor fremden Türen zu dienen, würden sie ihren Lebensunterhalt verdienen, indem die eine ihren Maurerberuf ausübte, die andere in der Fabrik in der Nähe als Arbeiterin eine Anstellung fand. El kapÕlarÕnda hizmetçilik etmektense, biri zenaatÕnÕ kullanarak duvarcÕlÕk yapar, öteki de yakÕn fabrikalardan birinde bir kadÕn iúi bulur, sÕrt sÕrta verip geçinir giderlerdi.

Zusammenfassend kann über die weiblichen Romanfiguren von Orhan KEMAL gesagt werden, daß Orhan KEMAL vor allem Frauen aus der einfachen städtischen Bevölkerung wählt. Da alle seine Romane in der Stadt angesiedelt sind, kommen Bäuerinnen nicht sehr häufig vor. Zumindest sind sie entweder Saisonarbeiterinnen oder frisch aus dem Dorf in die Stadt emigriert. Diese Frauen haben anfangs kein Bewußtsein, was sich dann mit der Zeit bzw. durch das, was sie erleben und leben, ändert.

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Kemal TAHøR Kemal TAHøR wurde 1910 in Istanbul als Kind einer recht wohlhabenden Familie geboren. Er arbeitete als Anwaltssekretär, Beamter, Journalist und Übersetzer. Wie Orhan KEMAL wurde er 1938 verhaftet und verbrachte 13 Jahre seines Lebens im Gefängnis. 1950 aus dem Gefängnis entlassen, lebte er fortan als Schriftsteller. Er schrieb und übersetzte unter diversen Namen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie viele Schriftsteller seiner Generation, begann auch Kemal TAHøR seine schriftstellerische Tätigkeit als Dichter. Den Namen Kemal TAHøR nahm der Schriftsteller 1955 an. Die literarische Produktion Kemal TAHøRs kann in zwei Phasen eingeteilt werden: In der ersten Phase schrieb TAHøR vorwiegend Romane, die ihren Schauplatz im ländlichen Gebiet haben: Göl ønsanlarÕ (1955), Sa÷Õrdere (1955), Köyün Kamburu (1959) u. a. Die Thematik seiner Romane in der zweiten Phase, die in der Stadt angesiedelt sind, wählt TAHøR vor allem aus der Geschichte, wie unter anderem in Yorgun SavaúçÕ (1965), Kurt Kanunu (1969), Devlet Ana (1967).11 Im Mittelpunkt meiner Analyse stehen die Frauenfiguren in KarÕlar Ko÷uúu und Kurt Kanunu: KarÕlar Ko÷uúu ist ein autobiographischer Roman, der nach Kemal TAHøRs Tod veröffentlicht wurde. In diesem Roman werden die Gefängniserfahrungen des Autors in Malatya dargestellt. Der Held und Erzähler namens Murat – von anderen Gefängnisinsassen østanbullu gerufen – wurde aus politischen Gründen verurteilt. Die erzählte Zeit ist das Jahr 1943 (S. 176). In KarÕlar Ko÷uúu sind auch Briefe von Murat an N. HIKMET und Volkslieder enthalten. Da der Handlungsort das Gefängnis von Malatya ist, sind alle Protagonistinnen dementsprechend entweder Gefängnisaufseherinnen oder mehrheitlich Häftlinge. Frauen also, die aus diversen Gründen wie Ehebruch, Erschlagen oder Vergiften des Ehemannes oder der Schwiegermutter, Diebstahl u.a. für schuldig erklärt und von der Gesellschaft diskreditiert wurden: Hubuú (S. 20), SÕdÕka (S. 25), Fati (Kurdin, S. 25), Nafia (S. 26, 65), Tözey (S. 79), ùefika (S. 186, 188, 192), Sefer (S. 270), Aduú (S. 302– 303), HanÕm (S. 340). Interessant ist, daß sie alle aus den unteren Klassen stammen, Bäuerinnen (sowohl kurdische als auch türkische), Prostituierte, Frauen aus der Provinzstadt. Die einzige Arbeiterin – tätig in der Textilarbeit – ist im Roman die Tochter des Gefängnisaufsehers Kel Hasan. In einem Dialog mit Murat und Kel Hasan erfahren wir, daß sie 14 Jahre alt ist (wegen der Anstellung in der Fabrik hat man sie über ein gerichtliches Verfahren um zwei Jahre älter gemacht), in der Nachtschicht tätig ist und 12 Stunden unter schlechten Arbeitsbedingungen arbeitet: Sie spuckt Blut –––––––––––––––– 11 Vgl. Tanzimat’tan Bugüne EdebiyatçÕlar Ansiklopedisi. østanbul 2001, S. 495–498.

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und die Brust schmerzt ihr sehr (S. 332–336). Als der Protagonist Murat den Vater nach der schulischen Ausbildung fragt, tut dieser die schulische Ausbildung als unwichtig ab. So hat er seine andere Tochter Nadire, bevor sie 12 wurde, in die Produktionsabteilung der Fabrik gegeben. Murat erinnert sich an Nadire, da er ihr das Gedicht Nikbinlik von NâzÕm HIKMET laut vorgelesen hatte (güzel günler görece÷iz çocuklar, S. 335). Die Kommentare des Autors über Frauen fließen über den Charakter des Helden Murat in den Roman ein: Er bewundert zwar ihren Mut (Siz erkeklerden daha dehúetli mahlûklarsÕnÕz. Erkeklerden úüphesiz daha iyisiniz, S. 84), hat aber gleichzeitig auch Mitleid mit diesen Frauen (S. 122, 124): Mein Herr, das Weibervolk ist ein unglückliches Volk. Während der Istanbuler daran dachte, daß die Frauen unter den aktuellen Bedingungen doppelt so bedauernswert sind als die Männer, zündete er sich eine Zigarette an. Beyim kari milleti bahtsiz bir millet. […] østanbullu bugünkü úartlar içinde, kadÕnlarÕn erkeklerden iki kere bedbaht oldu÷unu düúüne düúüne, bir cigara yaktÕ.

Eine Überschneidung in Kemal TAHøRs und Orhan KEMALs Romanen finden wir, wenn beide aus der Perspektive der dörflichen Figuren die Frauen aus Istanbul beschreiben: In KarÕlar Ko÷uúu heißt es (S. 123): „Eure Istanbuler Frauen, mein Herr, sie lachen viel. […] Denn sie sind kokett.“ („Sizin østanbul karÕlarÕ beyim [...] çok güler. [...] Zahir oynaktÕrlar da gülü gülüveririler.“) In Gurbet KuúlarÕ wird aus der Perspektive von øflâhsÕzÕn Memet die Stadt mit ihren Menschen, und insbesondere die Frauen dargestellt (S. 6, 11, 12). Dann gab es die Weiber in Istanbul. Ihre Lippen ganz rot, ihre Haare total gelockt. Das ist Istanbul, eine Huren-Stadt. Diese Weiber-Hündinnen gab es nirgendwo in der Welt! Sonra karÕlar vardÕ østanbul’da. DudaklarÕ kÕrmÕzÕ kÕrmÕzÕ, saçlarÕ kÕvÕr kÕvÕr karÕlar. østanbul bu, kahpe úehir. Burdaki karÕ kancÕk dünyada yok! Ihren blauen Rock wirbelnd, kam eine Frau die Treppe herunter. Die Beine unter dem wirbelnden Rock wischten sowohl die Stadt-Männer als auch ihre Arbeit fort. Was für ein Weib! Mavi etekleri savrula savrula bir kadÕn iniyordu merdiveni. Savrulan etekler altÕnda görünüp yiten bacaklar aklÕndaki úehir adamÕnÕ da, úehir adamlarÕnÕn iúlerini de silip götürdü. Avrat da avrattÕ hani!

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In Kurt Kanunu fokussiert der Autor thematisch auf die konspirative Arbeit der IttihatçÕ, deren Mitglieder sich, nach dem gescheiterten Komplott, Mustafa Kemal zu ermorden, auf der Flucht befinden. Auch in diesem historischen Roman, der im Jahr 1926 angesiedelt ist (in dem, wie allgemein bekannt, die Istiklâl Mahkemeleri – außerordentliche Gerichte – gegründet wurden; ein Jahr davor, am 13.Feb.1925, im Osten der Türkei der ùeyhSaid-Aufstand begann sowie das Takrir-i Sükun kanunu – das Nationalschutzgesetz – erlassen wurde), erscheinen Frauen in den Nebenrollen als Liebhaberinnen, und zwar geteilt in zwei Kategorien: als „femme fatal“ wie im Falle von BallÕ Naciye (S. 10, 48 „von freizügigen Frauen, ziemlich schlecht“ [„serbest hanÕmlardan, kötüce“]), oder engelhafte, wie Semra HanÕm, Witwe eines Paschas, in ihrer Umgebung empfunden als „fehlerlos“ („respektvoll, liebevoll, gebunden“ (S. 69) oder „mütterlich“ (S. 96). Doch gibt es auch eine dritte Kategorie von Frauen wie Gurbet Hala, die für ihren Mut und Umgang mit Waffen sowie ihre Klugheit als „OsmanlÕ karÕsÕ“ (osmanisches Weib) etikettiert wird (S. 86). Auch die Schwester eines Protagonisten, Perihan, die anfangs „verschlossen, ängstlich nur im Schatten eines Mannes existieren“ konnte (S. 172), sich später jedoch als eine „osmanische“, „echt heldenhafte“ Frau herausstellt (S. 173). Hayriye – die Ehefrau vom Kohlverkäufer, die in diesem Roman als Nebenfigur auftaucht, gehört wohl zu der ersten Kategorie. Sie wird mit den folgenden Attributen besetzt: „gewandt, flink, kokett“ (S. 179), „eine von solchen Frauen, die es mag ‚diskriminiert‘ zu werden“ (S. 112, 115): Wie eine Stute, die bereit ist zum besteigen, ging sie, ihre Mähne auf ihren Schultern schüttelnd, hinein. AygÕrsamÕú kÕsrak gibi, yeleleriyle omuzlarÕnÕ titretip girdi. Ihr festes Fleisch gab krachende Geräusche von sich, ihre Hüften und Schultern zitterten, als ob sie zum Zweiertanz aufgestanden wäre. TÕkÕz eti, sanki kütür kütür ses veriyor, kalçalarÕyla omuzlarÕ ikitelliye çÕkmÕú gibi titriyordu.

Auch diese Zeilen belegen, daß in Kemal TAHøRs Romanen kaum reale Frauenfiguren vorhanden sind. Sie sind lediglich sexuelle Objekte, oder vielleicht als „ausgekochte, fuchsige, böse oder armselige Wesen“ dargestellt. Einzig Piraye – Ehefrau von Hikmet – kann bei Kemal TAHøR gut abschneiden. Vom Erzähler Murat als „yenge“ (Schwägerin) angesprochen, ist Piraye in seinen Augen ein guter und mutiger Mensch, da sie seit vier Jahren auf ihren Gatten wartet, ohne ihn in irgendeiner Weise zu kränken (S. 323).

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Im Gegensatz dazu sind Orhan KEMALs Frauenfiguren aus dem realen Leben gegriffen und es sind keine außergewöhnlichen Frauen, wenn sie für ihre Familien sorgen oder ihr Brot verdienen. Und was noch wichtiger ist: Diese Frauen können sich gegen sexuelle Diskriminierungen wehren. In Orhan KEMALs Literatur sind sie keine sexuellen Objekte, doch sind sie ein Ganzes mit ihrer Sexualität. So ist nach ønci ARAL eine wichtige Eigenschaft von Orhan KEMAL, daß er das erste Mal weibliche Helden – „lebendige Frauen, die eine Sexualität“ haben – in die türkische Literatur eingeführt hat: Bis zu ihm waren Frauen in unserer Literatur in erster Linie ein Produkt des traditionellen männlichen Blickwinkels und sie verblieben einfache Träger des Handlungsstranges. Mit ihm verwandelten sie sich in leidenschaftliche, (hin-)reißende (sic!), reale und beeindruckende Frauenfiguren. Sein Erfolg, Frauen schriftstellerisch, vorurteilslos und mutig darzustellen, hat zweifelsohne auch die nachfolgenden Schriftstellerinnen beeinflußt.12

In Zusammenfassung: Obwohl beide Autoren als realistisch bezeichnet werden können – aufgrund ihrer Themenwahl so eine Art ZOLA der türkischen Literatur – weisen beide in Bezug auf ihre Frauenfiguren erhebliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede beruhen vor allem auf ihrer Geschichtskonzeption: Während Orhan KEMAL einen klaren Klassenstandpunkt vertritt, wird dieser Standpunkt von Kemal TAHøR nicht geteilt, da er wie bereits erwähnt die Betonung auf eine Ost-West-Teilung legt, anstatt auf Klassen.

Bibliographie ARAL, ønci: Rede zum Gedenken an Orhan KEMAL und zur Verleihung des Romanpreises, gehalten am 2. Juni 2005, unter: www.orhankemal.org, Zugriff am 3. Juli 2005, (http://www.mintltd.com/1/okemal/links/189.htm). BEZøRCø, AsÕm & ALTINKAYA, Hikmet: Orhan Kemal. østanbul 1977. KAPPERT, Petra: Zeitgenössische türkische Literatur – Themen und Tendenzen, in: GROTHUSEN, Klaus-Detlev (Hg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd. IV, Türkei. Göttingen 1985, S. 621–649. KEMAL, Orhan: Bir Filiz VardÕ. østanbul 1965. DERS.: Cemile. østanbul 2004. DERS.: Gurbet KuúlarÕ. østanbul 1982.

–––––––––––––––– 12 ønci ARALs Rede zum Gedenken an Orhan KEMAL und zur Verleihung des Romanpreises, gehalten am 2. Juni 2005, unter: www.orhankemal.org., Zugriff am 3. Juli 2005, (http://www.mintltd.com/1/okemal/links/189.htm).

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KURDAKUL, ùükran: Ça÷daú Türk EdebiyatÕ 2. østanbul 1987. MORAN, Berna: Türk RomanÕna Eleútirel Bir BakÕú. østanbul 1991. TAHøR, Kemal: Kurt Kanunu. østanbul 2004. TAHøR, Kemal: KarÕlar Ko÷uúu. østanbul 2000. Tanzimat’tan Bugüne EdebiyatçÕlar Ansiklopedisi. østanbul 2001. UTURGAURø, S.: Türk EdebiyatÕ Üzerine. østanbul 1989.

Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag aus Istanbul von 1842 Gerd Gropp & Ramin Shaghaghi (Hamburg) Oft hat unsere so unglücklich früh verstorbene Petra Kappert über die Kulturkontakte der Türken und Iraner gesprochen und die Absicht begrüßt, die Kultur beider Völker im Iran-Museum Hamburg dem deutschen Publikum verständlich zu machen. Das hier vorgestellte persisch-türkische Dokument soll ein kleiner Beitrag zu diesem Thema sein. ****** Persische Kaufleute hatten sich in Hamburg bereits Ende des 18. Jahrhunderts niedergelassen.1 Nach bescheidenen Anfängen lebte der Handel mit Iran mächtig auf, als mit der Gestaltung des Deutschen Reiches 1871 die Stadt Hamburg nicht nur zum deutschen Zollgebiet erklärt wurde (1881) sondern auch einen zollfreien Freihafen zugestanden bekam (1888). Dort konnten (und können) Güter aus dem Ausland abgabenfrei gelagert und in andere Länder weitergeleitet werden. Besonders der TeppichTransithandel lebte im Freihafen auf, und noch heute werden fast alle Tep–––––––––––––––– 1

HESSE-LEHMANN, Karin: Die Imam Ali Moschee an der Außenalster, ihr Einfluß auf das interkulturelle Zusammenleben: ein Forschungsbericht, in: Volkskundlichkulturwissenschaftliche Schriften der Hamburger Gesellschaft für Volkskunde 12 (2002) 2, S. 4: es ist „seit Ausgang des 18. Jahrhunderts eine iranische Händlerkolonie“ in Hamburg nachgewiesen. Heute zählt die iranische Ansiedlung in Hamburg 18.000 Personen, in ganz Deutschland 120.000. Ich danke Achim ROHDE für dieses Zitat. Im Katalog des Iran-Museum, vermutete ich noch, die Ansiedlung der Perser in Hamburg hätte erst viel später begonnen, GROPP, Gerd: Zarathustra und die Mithras-Mysterien, in: Katalog der Sonderausstellung des Iran-Museum im Museum Rade. Reinbek b. Hamburg/Bremen 1993, S. 49; auch SCHIRAZI, Asghar: The Persian community in Germany, in: Encyclopaedia Iranica, Band X, New York 2001, S. 572–574, erwähnt die frühe Ansiedlung nicht (erst seit 1920); KOCHWASSER, Friedrich: Iran und Wir, Geschichte der deutsch-iranischen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. Herrenalb 1961 S. 50, erwähnt die Teilnahme persischer Kaufleute an den Handelsmessen in Leipzig, Hamburg etc. zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

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piche auf dem Weg von Persien nach Amerika in Hamburg zwischengelagert. Daher gibt es in Hamburg die größte Ansiedlung persischer Teppichhändler außerhalb von Iran. Weniger bekannt sein dürfte, daß die Hansestadt in den Jahren 1842 und 1857, also vor der Reichsgründung, einen Handelsvertrag mit Persien abgeschlossen hatte.2 Der internationale Seehandel bot den drei Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg neue Möglichkeiten, als nach der Befreiung Südamerikas aus der spanischen Kolonialherrschaft (durch Simon Bolivar, 1823–26) die Beschränkungen des Handels mit diesem Kontinent aufgehoben wurden und man der bereits um 1640 von Hugo Grotius3 geforderten „Freiheit der Meere“ näher kam. Gleichzeitig schaffte England 1830 die „Navigation Acts“ ab und führte den „Free Trade“ ein.4 Damit konnten Schiffe aller Nationen englische Häfen anlaufen und mit englischen Kolonialgebieten Handel treiben. Als –––––––––––––––– 2

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Mehrere Hamburger Institute besitzen persische Handschriften. Vor vielen Jahren habe ich in einem Aufsatz auf die neupersischen Manuskripte in der Hamburger Staatsbibliothek (1) aufmerksam gemacht: GROPP, Gerd: Neupersische Handschriften und älteste in Norddeutschland entstandene Persienliteratur, in: WALRAVENS, H. (Hg.): Orientalia, Handschriften und Drucke aus Hamburger Besitz. Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek Hamburg. Osnabrück 1986, S. 46–52; auch auf neupersische Aufschriften mittelalterlicher Keramik im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (2): GROPP, Gerd & GHOUCHANI, Abdollah: Durst nach Wein und Liebesschmerz, Verse auf persischen Trinkschalen, in: Jahrbuch des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, Bd. 17–19, 1998–2000. Hamburg 2002, S. 7–16. Dieses Museum besitzt auch die bedeutende Handschrift des neupersischen Divans von Sultan Suleiman Osmani von 1553, siehe KOHLHAUSSEN, Heinrich: Islamische Kleinkunst, Führer Museum für Kunst und Gewerbe. Hamburg 1930, S. 18. Von dem hier vorgelegten persischen Handelsvertrag hatte ich bereits in meiner Schulzeit gehört, doch erst im Jahr 2000 bekam ich ihn bei einem Besuch im Hamburger Staatsarchiv (3) zu sehen. Neupersische Dokumente bewahren auch die BismarckStiftung (4) in Friedrichsruh bei Hamburg, das Museum für Völkerkunde (5) und das Iran-Museum Hamburg (6) auf. Der Holländer Hugo GROTIUS (de GROOT, 1583–1645) gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Völkerrecht und verfaßte die Schrift „De mare libero“; STIER-SOLOMO, F.: Die Freiheit der Meere und das Völkerrecht. o.O. 1917; HOFMANN, E. G.: Der Grundsatz der Freiheit der Seeschiffahrt im Völkerrecht. o.O. 1956; COLOMBOS, C. J.: The International Law of the Sea. London 19676; FAHL, Gundolf: Der Grundsatz der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis von 1493 bis 1648. Köln 1969; KELLENBENZ, Hermann: Die erste bewaffnete Neutralität und ihre Auswirkungen auf die hamburgische Schiffahrt, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 62 (1976), S. 3–48. Ich verdanke diese Zitate meinem Sohn Holger Gropp. TREVELYAN, George Macaulay: A Shortened History of England. Harmondsworth 19635, S. 467–470; BECKERE, Felix: Die Hansestädte und Mexiko 1825–1867, ein Kapitel hanseatischer Vertragsdiplomatie und Handelsgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 69 (1983), S. 83–102.

Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag

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Frankreich 1830 Algerien besetzte und damit die Rifkabylen-Piraten besiegte, wurde das Mittelmeer von einer großen Gefahr für Handelsschiffe kleinerer Nationen befreit, die den Schutz von Kanonenbooten entbehren mußten.5 Unter diesen neuen Voraussetzungen schlossen die drei Hansestädte seit 1827 Handelsverträge mit mehreren Staaten ab, wie Mexiko, Brasilien, Siam etc.6 Im Jahre 1842 bemühte sich der hanseatische Vertreter in Istanbul, Dr. Patrick Colquhoun, um die Aushandlung eines Handelsvertrages mit Persien.7 „Dr. Patrick Colquhoun (3) ... war der Sohn des seinerzeitigen hanseatischen Generalkonsuls zu London. Er ist aber nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dr. Patrick Colquhoun (1745–1820) (1), der als schottischer Dichter und Publizist bekannt wurde und als Stalhofmeister8 und Generalkonsul der Hansestädte in London bereits in Diensten von Lübeck –––––––––––––––– 5

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PRÜSER, Jürgen: Die Handelsverträge der Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit überseeischen Staaten im 19. Jahrhundert. Bremen 1962, S. 58, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen Bd. 30, dazu: Rezension von LEHE, Erich von: in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 48, (1962), S. 157–159. Diese Handelsverträge sind zusammengestellt bei PRÜSER, Jürgen: 1962, mit Rezension LEHE, Erich von: Hamburg Commercial Treaties from Seven Centuries, in: Hamburg Economic Studies 7. Hamburg 1953; KRESSE, Walter: Die Auswirkungen der Handelsverträge der Hansestädte mit amerikanischen Staaten auf die Hamburger Schiffahrt, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 60 (1974), S. 139–146, enthält Angaben über die Zahl der Schiffsbewegungen; KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 50–51, erwähnt die Handelsverträge der Hansestädte mit Persien nicht. Dr. Konrad Elmshäuser vom Staatsarchiv Bremen war so freundlich, mir in einem Brief diese Mitteilungen über Colquhoun zu machen. Die Amtszeiten der Colquhoun-Dynastie habe ich übernommen von LAPPENBERG, Johann Martin: Listen der bis 1870 in Hamburg residierenden sowie der Hamburg im Ausland vertretenden Diplomaten und Konsuln. Überarbeitet von Christian MAHLSTEDT (Maschinenschriftliches Exemplar im Hamburger Staatsarchiv). Hamburg 1969, S. 238. Der Stalhof (steelyard) in London war das Kontor der Hansestädte in England. Er wurde 1266 unter König Henry III. gegründet und seit 1630 nach dem Niedergang der Hanse von den drei überlebenden Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg geführt, bis er 1853 an die Stadt London verkauft wurde. Das war zu Lebzeiten von James Colquhoun. Die Gebäude standen zwischen der Southwark Bridge und der London Bridge, wurden später abgerissen und an ihrer Stelle die Cannon Street Station erbaut [GROPP], vergleiche dazu: DOLLINGER, Philippe: Die Hanse. Kröners Taschenausgabe, Bd. 371, Stuttgart 19813, S. 137; PAGEL, Karl & NAAB, Friedrich: Die Hanse. Braunschweig 1983, S. 103, 249 (statt Dannon Street lies Cannon Street); BRACKER, Hansjörg (Hg.): Die Hanse, Lebenswirklichkeit und Mythos. Ausstellung Hamburg 1989, S. 149. Die Namen und Amtszeiten der Stalhofmeister von 1619 bis 1853 und der anschließenden hansischen Generalkonsuln in London finden sich bei LAPPENBERG, Johann Martin: 1969, S. 236ff.

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und Hamburg stand.“ Patrick Colquhoun (1) war Stalhofmeister von 1814 bis 1820. Dr. James Colquhoun (1780–1855) (2) war hanseatischer Geschäftsträger, Generalkonsul in London und Stalhofmeister 1820–1853, als der Stalhof verkauft wurde, und erhielt die Würde eines Ehrenbürgers in Bremen 1828, in Hamburg 1834 und in Lübeck 1835.9 Patrick Colquhoun (3) bildete also die dritte Generation einer ganzen Dynastie hanseatischer Vertreter am Stalhof in London im 19. Jahrhundert. Er war 1839 hamburgischer Gesandter im Bundestag Frankfurt, 1840–43 hansischer Beauftragter in Istanbul und 1844–55 Generalkonsul in London. Patrick Colquhoun befand sich 1842 in Istanbul, um die Ratifikationsurkunden des bereits von seinem Vater James 1839 mit der türkischen Regierung abgeschlossenen Handelsvertrages auszutauschen, und hat „die Gelegenheit wahrgenommen, mit dem dortigen persischen Gesandten Verhandlungen anzuknüpfen, die am 16. April 1842 zu einem Vertrage führten. Er wurde jedoch von den Städten nicht ratifiziert“. Dies geschah erst 1857 in Paris.10 Die Nachforschungen über den persischen Gesandten in Istanbul, MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn11, brachten unerwartete Informationen über den Beginn der diplomatischen Beziehungen zwischen Persien und der osmanischen Türkei zu Tage:12 Der von Colquhoun genannte „persian envoy Hadji Jaffa Khaun“ oder „Mirza Djauffer Khaun“ gibt Anlaß zu Spekulationen: MOMTAণEN ALDOULE ŠAQƖQI gibt in seiner Biographie der Beamten des iranischen Außenministeriums an, daß dieses Amt in moderner Form erst durch den Qajarenkönig Fa৬ত-‫ޏ‬Ali-ŠƗh eingeführt worden sei.13 Die Motivation dazu habe, ihm zufolge, ein Brief von Napoleon an den persischen König gege–––––––––––––––– 9

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HERTZ, Hans W.: Das Ehrenbürgerrecht und die Ehrenbürger der 4 Freien Städte Deutschlands von 1795 bis 1933, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 41 (1951), S. 285–329, 303, 315–317; BECKERE, Felix: 1983, S. 91: James Colquhoun handelte 1827 den Handelsvertrag mit Mexiko aus. Ich verdanke diese Zitate meinem Sohn Holger Gropp. PRÜSER, Jürgen: 1962, S. 61. Seine Unterschrift steht unter dem Vorvertrag. In der Archivakte (Senat Cl.VI Nr.14c Vol.1 Fasc.1, Schriftstück 5) berichtet P. Colquhoun, er hätte den „Persian Envoy Hadji Jaffa Khaun“ in Istanbul getroffen, der etwa 50 Jahre alt sei, seit 22 Jahren in der Stadt wohnte und ein vorzügliches Englisch spreche. In Schriftstück 15, einem Entwurf des Vorvertrages, wird er „Mirza Djauffer Khaun“ genannt. Der folgende Text über die Persische Botschaft in Istanbul stammt von Ramin SHAGHAGHI. MOMTAণEN AL-DOULE ŠAQƖQI, MirzƗ MAHDI-঩ƖN & MirzƗ HƖŠEM-঩ƖN, (hrsg. von Ira÷ AfšƗr): Re÷Ɨl-e vezƗrat-e ‫ې‬Ɨre÷e dar ҵa‫܈‬r-e NƗ‫܈‬eri va Moܲaffari. TehrƗn 1365/1987, S. 23–25.

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ben, den niemand übersetzen konnte.14 Der Hof hätte per Rundbrief nach Personen suchen müssen, die des Französischen kundig seien. Daraufhin hätten sich zwei Verwandte des verstorbenen ehemaligen Kanzlers MirzƗ EbrƗhim-঩Ɨn15 beworben. Diese beiden (MirzƗ Abu al-ণasan-঩Ɨn und sein Cousin MirzƗ Moতammad-‫ޏ‬Ali-঩Ɨn) hätten angegeben, daß sie unter Schutzgarantie des Königs den Brief übersetzen würden. Daraufhin seien beide am Hofe von Fa৬ত-‫ޏ‬Ali-ŠƗh als Beamte eingestellt und später als Sondergesandte an den französischen Hof geschickt worden, der eine als Ilþi (Botschafter), der andere als NƗyeb (Stellvertreter). Zur gleichen Zeit seien auch zwei „Schüler“ nach England geschickt worden: MirzƗ öa‫ޏ‬far঩Ɨn Mošir al-Doule und MirzƗ ReĪƗ MohandesbƗši. Laut ŠAQƖQI sei MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn nach MirzƗ Abu al-ণasan-঩Ɨn zum Außenminister ernannt und bereits vor Farroপ-঩Ɨn Amin al-Doule als Ministerresident in Frankreich und England und später in Istanbul beauftragt worden. Der von Colquhoun erwähnte persische Gesandte MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn dürfte meines Erachtens kein geringerer gewesen sein als MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn Mošir alDoule (gest. 1279/1862).16 Er lebte ab 1232/1817 für ca. vier Jahre in London und konnte vermutlich deshalb sehr gut Englisch sprechen. 1252/1836–37 wurde er zum Botschafter in Istanbul, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, ernannt und blieb sieben Jahre, also bis 1841/42, dort.17 Demnach wäre der Vorvertrag mit den drei Hansestädten im letzten Jahr seiner Amtszeit als Botschafter in Istanbul entstanden. Ferner ist MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn zeitlich zwischen MirzƗ Abu al-ণasan-঩Ɨn (Anfang des 19. Jahrhunderts) und Farroপ-঩Ɨn Amin al-Doule (1850er) einzuordnen. Somit kann man mutmaßen, daß er in den 1840er Jahren Gesandter des persischen Hofes in Istanbul war. Der Vertrag von Erzurum zur Bestimmung der iranisch-osmanischen Grenze war das Ergebnis seiner jahrelangen diplomatischen Bemühungen zur Beilegung der iranisch-osmanischen Zerwürfnisse. Diesbezüglich veröffentlichte er das Ergebnis seiner Reisen in die iranisch-osmanischen Grenzregion in einer Studie mit zahlreichen Karten. Nach der Entlassung von MirzƗ ƖqƗ-঩Ɨn Nuri wurde er mit der –––––––––––––––– 14 Dies dürfte nach meinem Dafürhalten um die Jahrhundertwende oder in den Anfangsjahren des 19. Jh.s gewesen sein. 15 Gemeint ist MirzƗ EbrƗhim-঩Ɨn ŠirƗzi, der aufgrund seines Verrats an den ZandHerrschern bzw. seiner Kooperation mit ƖƥƗ Moতammad-঩Ɨn QƗ÷Ɨr zum Kanzler aufstieg, von Fa৬ত-‫ޏ‬Ali-ŠƗh jedoch aufgrund bloßer Verdächtigungen bestialisch hingerichtet wurde. Seine gesamte Sippschaft wurde entweder ermordet oder verhaftet, oder war, wie die beiden oben genannten, flüchtig. 16 RƖ’IN, EsmƗ‫ޏ‬il: FarƗmuš‫ې‬Ɨne va frƗmƗsoneri dar IrƗn. TehrƗn 1357/1979, Bd. 1, S. 422–426. 17 SOLEYMƖNI, Karim: AlqƗb-e re÷Ɨl-e doure-ye QƗ÷Ɨriyye. TehrƗn 1379/2001, S. 150–151.

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Gründung und Leitung von sechs neu gegründeten Ministerien beauftragt. Ihm wird die Mitgliedschaft in einer Freimaurer-Loge nachgesagt.18 Das berühmte „KetƗbþe-ye ƥeybi“ (das „Geheime Buch“) von MirzƗ Malkom঩Ɨn zur Reformierung des Staatswesens in Iran war an ihn adressiert. Er sollte das Buch an den König weiterleiten. Allerdings ist der Umstand, daß er einen Staatsvertrag ohne Erwähnung seines Titels (Mošir al-Doule) unterzeichnet, sehr ungewöhnlich. Der Grund könnte die Tatsache sein, daß das Schriftstück noch kein gültiger Vertrag war. Interessant ist auch eine Anekdote bezüglich der Gründung der neuen offiziellen iranischen Botschaftsresidenz in Istanbul:19 Zur Zeit der Regentschaft des Osmanenkönigs Sultan Mahmud20 konnten die iranischen Kaufleute, die aufgrund ihres schiitischen Glaubens RƗfeĪi genannt wurden und von dem sunnitischen Mob Schikanen zu befürchten hatten, in der Öffentlichkeit nicht in ihrer persischen Tracht erscheinen. Einer der iranischen Kaufleute, Moতammad KalƗvan (gest. 1270/1853), wurde eines Tages von Sultan Mahmud gefragt, warum er die berühmten persischen Pelzmäntel nicht einführe. Moতammad KalƗvan nannte die Furcht vor Mißhandlung iranischer Staatsbürger durch Sunniten als Grund für mangelnde Nachfrage für diese Ware sowie mangelndes Interesse der iranischen Kaufleute an ihrer Einfuhr. Sultan Mahmud schlug vor, daß die Iraner eine eigene Botschaftsresidenz in Istanbul eröffneten, damit ihre Vertreter die persische Tracht obligatorisch anzögen. Die Öffentlichkeit wäre in dem Falle gezwungen, die diplomatischen Vertreter Irans aufgrund ihrer Immunität zu respektieren. Daraufhin wurde in einem Brief an den ‫ۏ‬ƗqƗn21 von den Kaufleuten in Istanbul Moতammad KalƗvan als Vertreter vorgeschlagen. Der König verlieh diesem den Titel ‫ۏ‬Ɨn und ernannte ihn zum offiziellen Konsul Irans (ma‫܈‬la‫ۊ‬at-gozƗr) in Istanbul. Die alte Residenz Irans in Istanbul wurde sodann durch Spenden iranischer Kaufleute zurückgekauft und neu eröffnet. Wirklich effektiv wurden die stetig residierenden Botschaften in Istanbul und Paris erst durch die Einrichtung einer Telegrafenlinie nach Iran 1862. Als türkisch-persische Handschrift liegt ein Manuskript des Vorvertrages von 1842 im Staatsarchiv Hamburg.22 Colquhoun und der persische –––––––––––––––– 18 Ebd.: S. 422. 19 MOMTAণEN AL-DOULE ŠAQƖQI, MirzƗ Mahdi-঩Ɨn & MirzƗ HƖŠEM-঩ƖN: 1987, S. 40–42. 20 Höchstwahrscheinlich Sultan Mahmud II. (1808–1839), da Moতammad KalƗvan 1270/1853 starb (ebd.). 21 Ein Titel des Fa৬ত-‫ޏ‬Ali-ŠƗh QƗ÷Ɨr (1794–1834). 22 Dr. Klaus-J. Lorenzen-Schmidt vom Staatsarchiv Hamburg war so freundlich, uns im Jahre 2000 dieses Dokument zu zeigen, als ich das Staatsarchiv mit meinen Studenten besuchte. Er übergab mir dann auch die hier abgebildete Fotokopie. Ihm

Ein hanseatisch-persischer Handelsvertrag

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Gesandte in Istanbul einigten sich auf einen Text, von dem wir die französische und persische Fassung besitzen, wobei unklar bleibt, welche die ursprüngliche und welche die Übersetzung ist.23 Die persische Fassung des Vertrages ließ der Gesandte von einem türkischen Sekretär niederschreiben. Derselbe Sekretär hat offenbar auch das in Hamburg aufbewahrte Manuskript eines Handelsvertrages mit der Türkei geschrieben, wie der Schriftduktus erkennen läßt (siehe Anhang). Wir haben mit dem Vorvertrag von 1842 demnach eine der seltenen in Istanbul gefertigten diplomatischen Urkunden in persischer Sprache und türkischem Schriftduktus vor uns. Sie zeigt uns die enge kulturelle Beziehung der beiden Völker, aber auch die unterschiedliche Tradition des Kanzleiwesens. Unser Dokument macht deutlich, daß ein persischer Diplomat in Istanbul einen türkischen Sekretär mit seiner Korrespondenz beauftragen konnte.

–––––––––––––––– gilt mein aufrichtiger Dank. Das Dokument trägt die Signatur: „Staatsvertrag IranHamburg (1842), StAH 710–1 I Threse I Yy 10a, Staatsarchiv Hamburg“. 23 Das Wort an‫܈‬i atik (hanseatisch) der persischen Fassung ist offensichtlich vom französischen Text übernommen, aber die islamischen Einleitungsformeln des französischen Textes sind aus der persischen Fassung übersetzt. Diese stellt im ersten Satz die persische Regierung voran, die französische Fassung hingegen die drei Hansestädte. Wahrscheinlich entstanden beide Fassungen gleichzeitig im Zwiegespräch der beiden Gesandten.

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Abb. 1: Freundschafts- und Handelsvertrag mit Persien vom 16.4.184224

–––––––––––––––– 24 Persische Fassung: (Lesung und Manuskript in Druckfassung von Ramin SHAGHAGHI). Der Text ist auf einem quadratischen Blatt festen weißen Papiers mit 36 cm Seitenlänge geschrieben, das einmal gefalzt und dadurch in 4 Seiten aufgeteilt wurde. Beschrieben sind die beiden inneren Seiten. Der Schreiber hat nur etwa 1 mm breite Randstreifen frei gelassen, so daß die beiden Schriftkolumnen in der Blattmitte eng aufeinander treffen.

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Schwer leserlich. Im Text ΪϨΑΎϣ geschrieben. Im Text ΎϬϴΘθ̯ geschrieben. Im Text ̵ϼρ΍ geschrieben. Schwer leserlich. αϮγήϣ ϭ ϝΎϣ ί΍ ϭ ?

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–––––––––––––––– 30 Unverständlich bzw. unbekannter Terminus. 31 Unverständlich bzw. unbekannter Terminus. 32 Offenbar Interpunktionszeichen am Absatzende oder als Füllzeichen um den Blocksatz einzuhalten. 33 Siehe Fn. 14. 34 Siehe Fn. 9. 35 Im Text Ζθϫ ϩΎΠϨ̡ . 36 Im Text ϭΩ ϭ έΎϬ̩ . 37 Schwer leserlich.

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Französische Fassung:38 Au nom de Dieu, le meilleur des noms! Le Chargé d´affaires des trois Républiques Anséatiques, et l´Ambassadeur Extraordinaire du haut Empire de Perse39, résidant à Constantinople, ayant examiné leurs pleins-pouvoirs respectifs, et les ayant trouvés en bonne et due forme, ont arrêté le présent Traité d´amitié et de commerce, compris dans les huit Articles suivants: Article 1. S´il plaira à Dieu clément et miséricordieux, les bases de l´amitié et de la bonne intelligence resteront dorénavant et à jamais fermes et durables, entre les citoyens et sujets des trois Républiques Anséatiques et du haut Empire de Perse. Article 2. Il sera permis aux citoyens et sujets des hautes parties contractantes d´entrer et de sortir et de parcourir avec pleine liberté et sécurité leurs territoires respectifs, d´y faire leurs affaires et leur commerce, d´y voyager, et d´y louer maisons, magasins, et chambres partout où ils le voudront pour leurs affaires de commerce, et selon leurs besoins, sans qu´il y soit mis aucune entrave de la part des autorités locales, qui au contraire doivent user de toute diligence et attention, pour assurer aux voyageurs et commerçants respectifs les égards de la courtoisie convenables; et pour augmenter autant que possible leur tranquillité et repos, et en cas de besoin il leur sera donné de la part du Gouvernement des Firmans et Passeports afin qu´aucun d´entr´eux ne soit pas molesté, mais au contraire protégé. Article 3. Tout voyageur ou commerçant, citoyen ou sujet des trois Républiques Anséatiques ou du haut Empire de Perse, qui visitera leurs territoires respectifs, jouira depuis son arrivée jusqu´à son départ, de toute déférence et distinction, et ils ne seront jamais soumis à aucun impôt ou contribution sous quelque dénomination que ce soit, à l´exception des droits de douane, qui seront prélevés sur leurs marchandises une fois pour tout et dans un seul endroit, comme cela se pratique à l´égard des nations amies.

–––––––––––––––– 38 Der handschriftliche französische Text des Vorvertrages ist im Hamburger Staatsarchiv in der Archivakte „Senat Cl.VI Nr.14c Vol.1 Fasc.1, Schriftstück 20“ enthalten, und im Staatsarchiv Bremen in der Ratsarchivakte „2–C.25. Verhältnisse der Hansestädte mit Persien 1842–1858, Schriftstück 3“. Ich danke den Herren Lorenzen-Schmidt und Elmshäuser für die Kopien. 39 Es regierte Moতammad ŠƗh QƗ÷Ɨr (1834–1848).

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Article 4. Il sera permis par les deux hautes parties contractantes, qu´il soit nommé un Consul dans trois endroits convenables dans leurs Etats, dans le but de protéger leurs citoyens et sujets; – c´est à dire l´Empire de Perse permettra qu´un Consul soit nommé par les trois Républiques Anséatiques pour résider à Tabriz, un autre au siège du Gouvernement Persan, et un troisième au port de Bushire; – et les trois Républiques Anséatiques permettront que trois Consuls Persans résident un dans chacune des trois villes convenables aussi les Consuls jouiront ils de tous les égards d´usage. Article 5. Puisque les Républiques Anséatiques possédant des bâtimens, et font la plupart de leur commerce par mer, par cette raison les pavillons de leurs bâtimens jouiront des mêmes privilèges dans le port de l´Empire de Perse que les pavillons des bâtimens des Puissances amies, – et pareillement le pavillon des bâtimens du haut Empire de Perse sera également respecté dans les ports des trois Républiques Anseatiques. Article 6. Toutes les fois qu´il s´élèvera une différence ou contention entre des citoyens sujets des trois Républiques Anséatiques et des sujets du haut Empire de Perse à l´occasion de leurs affaires de commerce ou autre, alors cette dispute sera réglée d´après les loix et les usages du pays avec la connaissance du Consul ou son interprête et si quelque commerçant d´entre les citoyens ou sujets des deux parties fait banqueroute, ou s´il déclare failli, alors après l´examen de ses registres et ses papiers on procédera à la répartition de ses biens et de ses dettes actives entre ses créanciers avec l´intervention du Consul ou de son interprète, et après cela quelque soit le montant de ses dettes qui n´aura pas été acquitté, ses créanciers seront tenus de lui donner une quittance, et de lui remettre tous ses billets obligatoires dont ils se trouveront teneurs. Et toutes les fois qu´un citoyen ou sujet de l´une des parties vient de mourir tous ses effets et livres seront livrés à son Consul, – cependant les sujets Persans sous le rapport des deux conditions qui précédent, seront traités dans les Etats des Républiques Anséatiques comme la nation la plus favorisée. Article 7. Quoique le présent traité est rédigé sous une forme qui le fait commun aux trois Républiques Anséatiques, Lubeck, Bremen, et Hambourg, cependant il n´existe point de solidarité entre les dites Républiques, de manière que si une ou deux d´entr´eux voudroit par quelque cause se retirer de ce traité, ces Articles ne conserveront pas moins leur pleine force et valeur pour l´autre.

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Article 8. Ce traité d´amitié et de commerce qui est ainsi conclu entre les trois Républiques Anséatiques et le haut Empire de Perse dans les termes ci dessus arrêtés, sera toujours, si Dieu le veut, respecté et estimé par les deux Parties, et il ne sera porté la moindre atteinte à aucune de ses stipulations. Conclusion. Les huit Articles précédents qui ont été ainsi conclus avec l´approbation des Plénipotentiaires de deux Etats, et rédigés en deux copies au même effet, seront, après avoir été signés et scellés par les deux Parties, échangés à Constantinople le 16 Avril 1842, correspondant au 5 Redgel ul Eval 1258.

Nachdem dieser Vorvertrag von den Hansestädten nicht ratifiziert wurde, kam es 1847 in Paris zu neuen Verhandlungen des hanseatischen Ministerresidenten Vincent Rumpff mit dem dortigen persischen Gesandten, bis schließlich Rumpff zusammen mit dem persischen Gesandten Farroপ-঩Ɨn Amin al-Molk am 23.7.1857 in Paris einen Vertrag abschließen konnte, der auch von den Städten ratifiziert wurde. Vincent Rumpff (10.12.1789–13.2.1867) war Ministerresident der Hansestädte in Paris. Er wurde 1789 als Sohn eines gleichnamigen Hamburger Bürgermeisters geboren, studierte in Heidelberg und Göttingen Rechts- und Staatswissenschaften, trat 1814 in den diplomatischen Dienst seiner Heimatstadt ein und nahm 1814– 1815 als Sekretär der hamburgischen Gesandtschaft am Wiener Kongress teil. 1819–1820 war er Sekretär bei den Wiener Konferenzen und von 1824–1864 Ministerresident der Hansestädte in Paris. In dieser Eigenschaft war er auch mit der Ratifikation des Handelsvertrages mit Persien befasst. Als Interessenvertreter der Freien Städte wurde Rumpff auch Ehrenbürger von Frankfurt am Main.40

Unsere Kenntnisse über den persischen Gesandten in Paris, Farroপ-঩Ɨn Amin al-Molk, sind gut fundiert:41 Bei dem Unterzeichner des abschließenden Vertrages in Paris, Farroপ-঩Ɨn Amin al-Doule KƗšƗni42 (1227–88/1812–71), handelt es sich um eine prominente Persönlichkeit der QƗ÷Ɨrendiplomatie.43 Sir Henry Rawlinson nannte ihn „the most in-

–––––––––––––––– 40 Auszug aus einem an mich gerichteten Brief von Dr. Konrad Elmshäuser, Bremen 2006; dazu LAPPENBERG, Johann Martin: 1969, S. 225, 264; MÜLLER, Hartmut: Bremen und Frankreich z. Zt. des Deutschen Bundes 1815–1867. Bremen 1984, S. 15–20. 41 Der folgende Text stammt von Ramin SHAGHAGHI. 42 In vielen Quellen wird er mit seinem 1856 vom König verliehenen Titel Amin alMolk genannt. 43 GAFFARI, F.: Amin-al-Dawla, in: Encyclopaedia Iranica, Bd. 1, 1985, S. 941–943; KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 49.

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fluential man“ in der iranischen Politik. Amin al-Doule war Vertrauter und persönlicher Schatzmeister des Königs.44 In den 1850er Jahren, insbesondere im Jahre 1857, aus dem auch der vorliegende Vertrag stammt, vertrat er bei den meisten iranisch-europäischen Verträgen die iranische Seite als Ilþi-ye kabir (Botschafter), u.a. bei dem berühmten Herat-Vertrag mit Großbritannien.45 Auch der Vertrag mit der Deutschen Zollunion stammt aus diesem Jahr.46 ´Die ersten diplomatischen Kontakte Irans mit den Vereinigten Staaten von Amerika kamen 1856 ebenfalls durch Farroপ-঩Ɨn Amin al-Doule zustande.47 Das außergewöhnliche Vertrauen, das ihm NƗৢer al-Din ŠƗh entgegenbrachte, zeigt sich darin, daß er sowohl mit der Auswahl europäischer Militärberater betraut war als auch die Auswahl der 56 iranischen Studenten, die nach Europa geschickt wurde treffen durfte.48 Wie Mošir al-Doule war auch Amin al-Doule der Freimaurer-Loge beigetreten.49

Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem Shah von Persien 23.7.185750 Das Manuskript des 1857 ratifizierten Vertrages wurde von einem persischen, in Paris anwesenden Sekretär in schöner, kalligraphischer, aber nicht ganz leicht lesbarer Nasta‫ޏ‬liq-Šekaste geschrieben. Der Text ist auf 12 Bögen mit 24 Seiten pergamentartiges weißes Papier geschrieben. Die Seiten eins bis fünf sind unbeschrieben, die Siegel befinden sich auf S. 20– 21. Das Seitenformat ist 26 x 38 cm. Der zweisprachige persisch-französische Text liegt jetzt im Archiv von Lübeck51. Obwohl auch Bremen zu den Vertragspartnern gehörte, verfügt das dortige Staatsarchiv über kein Originaldokument. –––––––––––––––– 44 GAFFARI, F.: 1985, S. 942; RƖ’IN, EsmƗ‫ޏ‬il: 1979, S. 468–477. 45 GAFFARI, F.: 1985, S. 942. 46 Siehe dazu STEIN, Hans (Hg.): Orientalische Buchkunst in Gotha, Ausstellung zum 350jährigen Jubiläum der Forschung- und Landesbibliothek Gotha. Gotha 1997, S. 172–173, Abb. 95; Verträge und Gegenseitigkeits-Erklärungen in Bezug auf Hamburgs Seeschiffahrts-Verkehr. Hamburg 1855, Bd. 10, S. 381–393, Nr. 577. Der deutsche Gesandte war Graf Hatzfeld. Das Dokument der Bibliothek Gotha (Ms orient. P 23a) mißt 34 x 21,5 cm und ist reich mit Kalligraphien und buntem Blumendekor gestaltet, siehe: KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 53–63. 47 GAFFARI, F.: 1985, S. 942. 48 MOMTAণEN AL-DOULE ŠAQƖQI, MirzƗ Mahdi-঩Ɨn & MIRZƖ, HƖŠEM ঩ƖN: 1987, S. 29–30. ŠAQƖQI zählt sich selbst zu dieser Gruppe. Dagegen sind es 42 Studenten bei GAFFARI, F.: 1985, S. 942. 49 In seinem Fall war es die französische Loge Grant Orient, der sich die gesamte iranische Delegation anläßlich des Abschlusses der Pariser Verträge angeschlossen hatte, siehe GAFFARI, F.: 1985, S. 942; RƖ’IN, EsmƗ‫ޏ‬il: 1979, S. 468–477. 50 Persische Fassung (Lesung von Manuchehr TEHERANI und Ramin SHAGHAGHI). 51 Ich danke Frau Prof. Graßmann und der Bibliothekarin Frau Schlegel für die freundliche Genehmigung, diese prächtige Handschrift zu benutzen, und für die

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Der Vertrag wurde nach Vorverhandlungen ab dem Jahr 1842, die aber nicht zum Abschluß eines Vertrages führten, am 23. Juli 1857 abgeschlossen. Am 30. Januar 1858 kam es zum Austausch der Ratifikationsurkunden und am 1.3.1858 wurde der Vertrag publiziert.52

–––––––––––––––– Herstellung eines Mikrofilms. Das Manuskript hat die Signatur „Altes Senatsarchiv Externa, Übersee Nr. 6“. Ich danke Dr. Jan Lokers, Leiter des Archivs der Hansestadt Lübeck, für diese Angaben und für die Publikationserlaubnis. 52 Briefliche Mitteilung von Dr. Konrad Elmshäuser (2006).

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Abb. 3: Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem Shah von Persien 23.7.1857

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–––––––––––––––– 54 Schwer leserlich.

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Deutsche Fassung:55 Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes Der Senat der freien und Hansestadt Lübeck, der Senat der freien und Hansestadt Bremen und der Senat der freien und Hansestadt Hamburg (jeder dieser Staaten für sich besonders), einerseits; und Se. Majestät, dessen Standarte die Sonne, der geheiligte, erhabene, große Monarch, der König der Könige, der unumschränkte Herrscher aller Persischen Staaten56, andererseits; gleichmäßig und aufrichtig von dem Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehungen zwischen ihren gegenseitigen Staaten herzustellen, haben dieselben durch einen den Bürgern und Untertanen der hohen kontrahierenden Teile gegenseitig vorteilhaften und nützlichen Freundschafts- und Handelsvertrag befestigen wollen und zu diesem Zwecke als ihre Bevollmächtigten bezeichnet: Der Senat der freien und Hansestadt Lübeck, der Senat der freien und Hansestadt Bremen und der Senat der freien und Hansestadt Hamburg: den Herrn Vincent Rumpff, ihren Minister-Residenten bei Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen; und Se. Majestät der Kaiser von ganz Persien: Se. Exzellenz Ferrokh-Khan Eminol Molk, Inbegriff aller Größe, Günstling des Königs, Groß-Botschafter des erhabenen Persischen Reiches, Träger des Königlichen Porträts, des blauen Bandes und des diamantenen Gürtels, usw. usw. und die beiden Bevollmächtigten, nachdem sie sich zu Paris vereinigt und ihre in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten ausgewechselt haben, haben die folgenden Artikel festgesetzt. Artikel 1. Vom heutigen Tage an gerechnet soll zwischen den Hanseatischen Republiken, ihren Bürgern und Einwohnern und dem Persischen Reiche und allen Persischen Un-

–––––––––––––––– 55 Text nach LEHE, Erich von: 1953, S. 75–79: (XII) Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem Shah von Persien 23. 7.1857; GRAßMANN, Antjekathrin: Handelsund Schiffahrts-Verträge der Hansestadt Lübeck. Lübeck 1978, S. 88–89: Persien 18.5.1857 (23.7.1857/30.1.1858/19.2.1858). In der Commerzbibliothek, Hamburg, Alte Börse, Adolphplatz, ist auch die 1857 gedruckte Staatsakte “Freundschaftsund Handelsvertrag mit dem Schah von Persien 23.7.1857, Abdruck, H 356i Kps – H 356/3 20 Nr.21“ einzusehen. 56 NƗৢer al-Din ŠƗh QƗ÷Ɨr (1848–1895). Im Gegensatz zur französischen und deutschen Fassung, die vom „Persischen“ Staat sprechen, nennt die persischsprachige Fassung das Land „Iran“. Im Jahr 1935 setzte Reza Schah durch, daß sein Land international Iran genannt werden sollte. Bekanntlich nannten sich schon die Sasaniden um 230 n. Chr. „König der Könige von Iran“, die europäische Bezeichnung „Persien“ geht auf die von den Griechen übernommene achämenidische Praxis zurück, denn Dareios I. nennt sich um 520 v. Chr. in seinen Inschriften „König in Persien“.

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tertanen aufrichtige Freundschaft und ein beständiges gutes Einvernehmen bestehen. Artikel 2. Die Botschafter, bevollmächtigten Minister und andere diplomatische Agenten, welche zu dem anderen zu entsenden und bei ihm zu unterhalten jedem der hohen kontrahierenden Teile gefallen wird, sollen – sie selbst und das ganze Gesandtschaftspersonal – in den respektiven Ländern ebenso empfangen und behandelt werden, wie die Botschafter, bevollmächtigten Minister oder andere diplomatische Agenten der bevorzugtesten Nationen empfangen und behandelt werden, und sie sollen daselbst in jeder Hinsicht derselben Vorrechte und Freiheiten genießen. Artikel 3. Die Bürger und Untertanen der hohen kontrahierenden Teile, Reisende, Kaufleute, Gewerbetreibende und andere, sei es, daß sie ihren Wohnsitz dahin verlegen, sei es, daß sie in dem Gebiete des einen oder des anderen dieser Staaten ansässig sind, sollen geachtet, von den Behörden des Landes und ihren eigenen Agenten kräftig beschützt und in jeder Hinsicht wie die Untertanen der am meisten begünstigten Nation behandelt werden. Sie können gegenseitig jede Art von Waren und Erzeugnissen in dem einen oder anderen dieser Staaten zu Wasser und zu Lande einführen und aus demselben ausführen, dieselben verkaufen, vertauschen, kaufen und nach allen Orten in dem Gebiete des einen oder anderen dieser Staaten hinschaffen. Wohlverstanden jedoch, daß die Bürger und Untertanen dieser Staaten, welche inneren und äußeren Handel betreiben, den Gesetzen des Landes, wo sie handeln, unterworfen sind. Artikel 4. Die Schiffe und die von den respektiven Bürgern und Untertanen der hohen kontrahierenden Teile ein- oder ausgeführten Waren sollen in dem einen oder anderen dieser Staaten sowohl beim Eingange, als beim Ausgange nur dieselben Abgaben entrichten, welche die Schiffe, Waren und Produkte, von den Kaufleuten und Untertanen der am meisten begünstigten Nation ein- oder ausgeführt, beim Eingange und beim Ausgange aus einem dieser Staaten bezahlen; und keine besondere Auflage soll unter irgend welchem Namen und unter irgend welchem Vorwande in dem einen oder dem anderen dieser Staaten verlangt werden können. Artikel 5. Zum Schutze ihrer Bürger und Untertanen und ihres gegenseitigen Handels, und um gute und billige Beziehungen zwischen den Bürgern und Untertanen der respektiven Staaten zu erleichtern, behalten sich die hohen kontrahierenden Teile die Befugnis vor, jeder drei Konsuln zu ernennen. Die Konsuln der Hansestädte werden ihren Wohnsitz in Teheran, in Bender-Bouchir und in Tauris nehmen; die Per-

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sischen Konsuln werden in jeder der Hansestädte residieren. Die Konsuln der hohen kontrahierenden Teile genießen gegenseitig in dem Gebiete des einen oder des anderen dieser Staaten, wo sie ihren Wohnsitz genommen haben, derselben Achtung, derselben Privilegien und Freiheiten, welche in dem einen oder dem anderen dieser Staaten den Konsuln der am meisten begünstigten Nation gewährt sind. Die Hanseatischen diplomatischen Agenten und Konsuln werden weder öffentlich noch heimlich Persische Untertanen unter ihren Schutz nehmen. Die Persischen diplomatischen Agenten und Konsuln werden weder öffentlich noch heimlich Hanseatische Bürger beschützen. Die Konsuln der hohen kontrahierenden Teile, welche in den respektiven Staaten Handelsgeschäfte betreiben, sollen denselben Gesetzen und Gebräuchen unterworfen sein, welchen ihre, denselben Handel betreibenden Landsleute unterworfen sind. Artikel 6. Der gegenwärtige Handels- und Freundschaftsvertrag, befestigt durch die aufrichtige Freundschaft und das Vertrauen, welche zwischen den wohlbestellten Staaten der Hanseatischen Republiken und Persiens bestehen, soll mit Gottes Hilfe von beiden Seiten während zwölf Jahre von dem Tage, an welchem die Ratifikationen ausgewechselt sein werden, an gerechnet, treu beobachtet und aufrecht erhalten werden. Wenn jedoch ein Jahr vor Ablauf des festgesetzten Zeitraums keiner der hohen kontrahierenden Teile dem anderen seine Absicht, die Wirkungen desselben aufhören zu lassen, offiziell angezeigt hat, soll er für die hohen kontrahierenden Teile noch ein Jahr von dem Tage, an welchem er aufgeköndigt ist, an gerechnet, in Wirksamkeit verbleiben, welches auch der Zeitpunkt sein möge, an welchem diese Erklärung erfolgen wird. Es ist indessen wohl verstanden und vereinbart, daß, wenn eine oder mehrere der Hanseatischen Republiken nach Ablauf der zwölf Jahre vom Tage der Auswechselung der Ratifikationen an gerechnet, die Erklärung über das Aufhören des gegenwärtigen Vertrages abgibt oder empfängt, dieser Vertrag nichtsdestoweniger in voller Kraft und Wirksamkeit in bezug auf diejenige der Hanseatischen Republiken verbleiben soll, welche jene Erklärung weder abgegeben noch empfangen hat. Die Bevollmächtigten der hohen kontrahierenden Teile verpflichten sich, die Ratifikationen ihrer respektiven Regierungen entweder in Teheran oder Konstantinopel in dem Zeitraume von 12 Monaten oder früher, wenn es geschehen kann, auszuwechseln. Zur Urkunde dessen haben die gegenseitigen Bevollmächtigten der hohen kontrahierenden Teile den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und ihre Siegel beigedruckt. Ausgefertigt in duplo in französischer und persischer Sprache am 23. des Monats Juli im Jahre Christi Eintausendachthundertsiebenundfünfzig. (L.S.) (gez.) V. Rumpff.

(L.S.) (gez.) Ferrokh-Khan Eminol Molk.

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Die im Handelsvertrag geforderten konsularischen Vertretungen wurden nur einseitig verifiziert. In Hamburg gibt es seit 1858 ein Persisches Konsulat, geführt von (1) Konsul Leopold Lieben Königswarter 1858– 1886 (er war geboren 1823 in Prag, wurde Hamburger Bürger und Bankier), nach kurzer Vakanz (2) Generalkonsul Carl Hermann Theodor von Haase 1888–1893, nach Vakanz (3) Generalkonsul Robert Kirsten 1897–1915 (er war Hamburger Bürger), nach Vakanz (4) Generalkonsul H.A.L Brandt 1925 und nach Vakanz (5) Generalkonsul Henrich Brandt von Fackh. 1929. (6) Im Jahre 1950 wurde von der Iranischen Regierung das bis heute bestehende Generalkonsulat gegründet.57 Die in Teheran, Tabriz und Bandar Bushir vorgesehenen hanseatischen Konsulate wurden dagegen nicht eingerichtet.58 Erst 1885 eröffnete das Deutsche Reich in Teheran eine Botschaft, die, mit Unterbrechungen über die beiden Weltkriege, bis heute tätig ist.59 In den Jahrhunderten davor hatte es nur zeitweilig deutsche Gesandtschaftsreisen nach Persien gegeben.60 –––––––––––––––– 57 LAPPENBERG, Johann Martin: 1969, S. 95; Diplomatische und Konsularische Vertretungen, 1986, S. 67. 58 LAPPENBERG (1969) führt unter den hanseatischen Vertretungen im Ausland keine Konsulate in Persien auf. 59 BAST, Oliver: German-Persian diplomatic relations, in: Encyclopaedia Iranica X, 2001, S. 506–519; GIELHAMMER, Lutz: Deutsche Gesandte in Teheran, zur Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Iran, in: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen 3–4 (1960), S. 273–275: Die Botschafter waren (1) Ernst von Braunschweig 1885–86, (2) Gustav Freiherr von Schenck zu Schweinsberg 1886–92, (3) Nikolaus Graf von Wallwitz 1893–96, (4) Günther Freiherr von Gaertner-Griebenow 1896–98, (5) Artur Graf von Rex 1898– 1906, (6) Wilhelm Stemrich 1906–7, (7) Albert Graf von Quadt-Wyckradt-Isny 1908–12, (8) Heinrich XXXI Prinz von Reuss j.L. und Werner-Otto von Hentig 1912–16, bald darauf Schließung der Botschaft, (9) Rudolf Sommer 1920–23, (10) Graf von der Schulenburg 1923–31, (11) Dr. Wipert von Blücher 1931–35, (12) Dr. Hans Smend 1935–39, (13) Erwin Ettel 1939–40, dann Abbruch der diplomatischen Beziehungen, (14) Dr. Lutz Gielhammer 1953–59, (15) Dr. Reinhard von Ungern-Sternberg 1959–. 60 GIELHAMMER, Lutz: 1960, S. 274: Gesandte waren (1) Johann von Balbi 1529–30 für Kaiser Karl V. an ŠƗh EsmƗ’il ৡafavi, (2) Stephan Kakasch von Zalonkemeny und Georg von Tectander 1602–5 für Kaiser Rudolf II. an ŠƗh ‫ޏ‬AbbƗs I. ৡafavi (3) Wratislaw von Dohna 1609 für Kaiser Rudolf II. an ŠƗh ‫ޏ‬AbbƗs I. ৡafavi (4) Otto Brüggemann und Adam Olearius 1635–39 für Herzog Friedrich III. von HolsteinGottorp an ŠƗh ৡafi I. ৡafavi, (5) Julius Freiherr von Minutoli und Heinrich Brugsch 1860–61 für König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen an NƗৢer al-Din ŠƗh QƗ÷Ɨr. Über frühe persische Gesandtschaftsreisen nach Deutschland schreiben KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 28; HINZ, Walther: Deutschland und Iran im 17. Jahrhundert, in: Forschungen und Fortschritte 11 (1935), S. 408; DERS.: Die ersten

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Der Handelsvertrag von 1857 ließ den Hamburger Handel mit Persien zunächst nur zögerlich beginnen61, da er über die türkischen Häfen Istanbul und Trapezont abgewickelt wurde.62 Erst in der Gründerzeit um 1870 suchten Exportländer wie Deutschland Absatzmärkte für die Über-schüsse aus ihrer Industrieproduktion. Da Persien und die Türkei nicht den Kolonialmächten unterworfen waren, stellten sie einen interessanten Markt dar. Deutsche Handelshäuser beobachteten, daß die Bewohner am Persischen Golf viel Tee tranken und dafür Zucker benötigten und daß dort der Zuckerhut sogar als Scheidemünze verwendet wurde. Hier konnte die riesige Produktion aus Deutschland abgesetzt werden. Aber die deutschen Schiffe trafen im Persischen Golf auf erbitterte englische Konkurrenz, besonders aus Bombay. 1894 wurde ein deutsches Konsulat in Baghdad eröffnet und 1895 ein direkter Liniendienst zwischen Bremen und Basra eingerichtet.63 Der mit Deutschland zusammenarbeitende Großkaufmann Mo‫ޏ‬in al-To÷÷Ɨr beförderte die Waren 1895 auf seinen eigenen Schiffen auf dem Fluß KƗrun in das persische Innenland. Besonders Textilien für Teheran wurden geliefert. Doch durch den englischen Boykott gerieten die deutschen und persischen Kaufleute in eine sehr schwierige Lage. Die Hamburger Firma Wönckhaus handelte1897 mit Perlmutt im Hafen Lingeh (200 km westlich von Bandar Abbas), später auch in Bahrain, Bushir und Bandar Abbas.64 In Südiran abgebautes Eisenerz wurde auf der Insel Hormuz nach Deutschland verladen, dafür gründete man 1911 ein deutsches Konsulat in Basra.65 Die Hamburger Reederei HAPAG unterhielt seit 1906 einen „Arabisch-Persischen Dienst“ am Persischen Golf, doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 kam der deutsche Handel am Golf völlig zum Erliegen. –––––––––––––––– 61

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Iraner in Deutschland, in: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen 3–4 (1960), S. 242ff. BRODACKI, Olaf: Hamburg und der Persische Golf, ein Kapitel wilhelminischdeutscher Wirtschaftsgeschichte, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 77 (1991), S. 35; KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 88–99. Nach dem Brief von Dr. Konrad Elmshäuser, Bremen 2006; KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 51. Briefliche Mitteilung von Dr. Konrad Elmshäuser über Bremen: „Der Handel mit diesem Raum wurde zunächst über das osmanische Reich (v.a. Konstantinopel und Trapezunt) abgewickelt und erlangte auch nach der Ratifikation des Handelsvertrags zunächst keinen bedeutenden Umfang. Dies änderte sich erst allmählich ab dem späten 19. Jahrhundert. Die Verhandlungen um einen Vertrag hatten für Bremen also mehr politischen als wirtschaftlichen Charakter.“ BRODACKI, Olaf: 1991, S. 45. BRODACKI, Olaf: 1991, S. 54 und 56.

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Zwischen den beiden Weltkriegen blühte der Handel mit Persien mächtig auf, als Deutschland 1927–29 und 1933–37 die Eisenbahn von Bandar Shahpur, damals dem einzigen freien persischen Hafen am Persischen Golf, über Teheran nach Bandar Shah, damals dem einzigen freien persischen Hafen am Kaspischen Meer, erbaute.66 Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland ab 1954 sogar zu einem der wichtigsten Handelspartner Persiens, besonders als Abnehmer von Erdöl. Viele Jahre lang belieferten Tanker aus Iran die Ölraffinerien im Hamburger Hafen.67

Anhang Der Handelsvertrag Hamburgs mit der Türkei von 1841–4268 Das Hamburger Staatsarchiv besitzt auch die Handschrift eines Handelsvertrages mit der Türkei (in 10 Artikeln), der sich von dem 1839 ausgehandelten und 1842 ratifizierten Vertrag (in 18 Artikeln) unterscheidet.69 Wie oben erwähnt, ist dieses Dokument offenbar vom selben Sekretär geschrieben wie der Vorvertrag mit Persien aus dem gleichen Jahr. Ich bilde deshalb einen Ausschnitt (§ 6–7) ab. Wie der Vergleich70 mit den bei Graßmann in osmanischer Schrift abgedruckten § 6–7 zeigt, weicht der Text der beiden Verträge von 1839 und 1842 erheblich voneinander ab.

–––––––––––––––– 66 KOCHWASSER, Friedrich: 1961, S. 103–160. 67 ILERI, Muhlis: Hamburg und der Nahe Osten, Struktur und Perspektiven der Wirtschaftsbeziehungen, in: Mitteilungen des Deutschen Orientinstituts 12 (1979), S. 33–53; Kochwasser, Friedrich: 1961, S. 163–320. 68 Handelsvertrag Türkei-Hamburg (1258/1842) im Staatsarchiv Hamburg, Signatur „StAH 710–1 I Threse I Yy 9“. Ich danke Dr. Klaus-J. Lorenzen-Schmidt für die hier abgedruckte Kopie. 69 LEHE, Erich von: 1953, S. 57, (X) Handelsvertrag mit der Türkei 18. 5. 1839; GRAßMANN, Antjekathrin: 1978, S. 28, 65–73, Türkei 1839/1841/1863; ANONYMUS: 1855, S. 18–22, Türkei 18.5.1839 (18 Artikel)/7.9.1841 (10 Artikel); PRÜSER, Jürgen: 1962, S. 58, Türkei. 70 GRAßMANN, Antjekathrin: 1978, S. 72.

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A unified Turkic script system: A short note on the sudden end of a long dream Lars Johanson (Mainz) The following short comments concern the possible unification of Turkic script systems, which has been discussed, pursued and prevented for more than a century.

Supraregional languages As is well known, the Turkic supraregional literary languages Chaghatay and Ottoman, which were in use up to the first part of the 20th century, were written with Arabic script. They had played important roles in the Turkic-speaking world for many centuries. Chaghatay was the dominant written language of Central Asia. It had eventually conquered an immense area of validity and served until a century ago as the written language of Turkestanian Turks, Kazakhs, Tatars and others. Numerous works in Chaghatay were also written and read outside the geographical core areas, for example in Egypt. Ottoman, the prestige language of a huge Empire, played a considerable role also in non-Ottoman parts of the Turkic world, competing with Chaghatay.

Visual simulation Because of the alleged “shortcomings” of their script systems, Chaghatay and Ottoman were understood all over the Turcia. One reason is that their notation in Arabic script essentially represents morphemes in an invariant way. Written coding is visual simulation. The question is how to simulate. Different degrees of phonic detail may be represented. It is possible to apply a more or less narrow phonetic transcription, trying to render phones, the smallest perceptible discrete segments of sound in a stream of speech. But phonetic specifications contain far more detail than is needed for making contrasts in meaning. It is therefore also possible to use a pho-

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nemic transcription that only represents phonemes, the minimal units in a sound system. Each language operates with a relatively small number of phonemes. Most techniques for representing languages in writing apply both phonemic and phonetic principles. It is also possible to choose a notation that represents morphemes in an invariant way. Morphemes, the minimal distinctive units of grammar, are often realized by several allomorphs. Morphophonemic symbols may be used to represent sounds occurring in the same environment within the morpheme without taking phonologically conditioned alternation into account. This is basically true of the representation of Chaghatay and Ottoman in Arabic script.

Suppression of phonetic differences The use of a narrow transcription restricts the potential area of validity, the communication radius of a written language. A less narrow notation may widen the radius through graphic suppression of actual phonetic differences. It may thus even allow wide gaps between the graphic representation and the way texts are read aloud. Geographic and social variation can be made invisible by means of the simulation system chosen. A phonetically oriented script is also problematic because of the increasing asynchronicity between the graphic representation and the phonic substance. It is often claimed that the Arabic script is less suited for representing Turkic, mainly because its vowel signs are not sufficient to denote eight or more Turkic vowels. However, the vowel notation can easily be made unequivocal by means of diacritics, as shown by the practice in modern Uyghur. The Ottoman system made less use of vowel notation than the Chaghatay system, which was based on Old Uyghur conventions. In both cases the defective vowel notation had its advantages: It concealed less essential intralingual variation and interlingual differences. The fact that some written standards could maintain their supraregional validity until rather late was due to this graphic suppression of regional differences in pronunciation.

Regional varieties Eventually, regional varieties of the written standards emerged. The decomposition of the Turkic world after the Timurid period was conserved and reinforced by the Russian expansion in the 18th and 19th centuries.

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Efforts began to establish regional standards to replace Chaghatay, something that was in accordance with the tsarist Russification policy. In the second half of the 19th century, Tatar, Uzbek, Kazakh and Turkmen intellectuals tried to create written languages for their respective “nations”. Ottoman heavily influenced the written languages employed by Azerbaijanians, Tatars and others. The regional varieties were understandable far beyond their core regions. They still did not stand in a direct relation to any spoken variety of their area of validity, but just bore certain typical regional features. As late as the beginning of the 20th century, Ottoman, Tatar, Azeri and Turkestanian Turki still enjoyed considerable supraregional validity. Even at this stage of development, the suppression of certain phonetic details could be seen as advantageous. As late as the first decades of the 20th century there was a discussion among the Tatars whether the use of a defective vowel notation would not be preferable to a narrow phonetic representation by means of ten vowel signs. At the beginning of the 20th century, Tatar and Turkestanian intellectuals began to discuss whether a common written language should replace the different regional languages. Advocates of a cultural panturkism wanted to create a common standard as a unifying bond.

So-called national languages The unification efforts remained fruitless for political reasons. The differentiation that had begun was one step in a development which culminated in the 20th century. This century saw the emergence of new standards with a still more limited radius. Ottoman was replaced by a national Turkish standard created in a language reform which in some respects increased the distance to other Turkic languages. In the Soviet Union, a number of so-called national Turkic languages with limited areas of validity replaced the supraregional ones. From the 1920s onwards, they were codified, grammars and dictionaries being compiled for each of them. The Turkic languages of China developed in relative isolation. It was the aim of the language planners to avoid great gaps between the standard languages and the spoken vernaculars. When they constructed the modern national languages, they thus chose narrower phonetic bases that maximized interlingual differences.

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Unified Roman-based scripts The Arabic script had been used for Ottoman Turkish, Azeri, Turkmen, Uzbek, Tatar, Kazakh, Kirghiz, etc. In the first period of Soviet power, a unified Roman-based script was introduced for a number of Turkic languages. The initiative came from Azerbaijan, where a committee was set up in 1922 to prepare the transition. Lenin had endorsed the change as the first step on the path to a “cultural revolution“ among the Turks. M. I. ISAYEV, who represents the official Soviet opinion on problems of national languages, refers to this as a “historically necessary stage in language development”. A transition to a simpler and more accessible script was urgently needed “in view of the economic and cultural requirements of peoples who were embarking on a socialist construction” (1977: 235). But he adds that mistakes were made in this process. In particular, the Latin alphabet was proclaimed to be “the alphabet of a world communist society” (1977: 249). The new Roman-based script mirrored the phonetics of the national languages rather adequately, highlighting local features, but it still represented an important progress towards a unified Turkic script system.

Cyrillic-based scripts Chuvash and Yakut had never been written with Arabic script. Interestingly enough, a phonetic writing system according to the IPA system was applied for Yakut until 1929, when a transition to the Roman-based script began to take place. For Chuvash, a Cyrillic-based script had been in use for a long time. Already in 1871 I. J. Jakovlev (1848–1930) had created a remarkable graphic system that was essentially based on morphophonemic principles. Between 1937 and 1940, the unified Roman-based script was replaced by Cyrillic-based scripts. According to ISAYEV, a number of shortcomings of the process of Latinization had been revealed: “It is well known that in terms of its range of sounds the Latin alphabet is poorer than the Russian” (1977: 270). But why had the transition to the Cyrillic-based scripts not taken place immediately? “During the first years of Soviet power a transition to the Russian script could easily have been interpreted as a return of the old Russifying policy of tsarist time. A certain period of time was therefore needed before Soviet peoples could realize and sense the need for a transition to the Russian script” (243). The change did not represent “a subordination to Russian culture”, but rather “the most rational form for permitting the numerous peoples of the Soviet Union to develop

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original national cultures as well as an act of friendship toward the Russian people and an expression of the international unity of all Soviet peoples” (270f). The Cyrillic-based script systems were highly disparate, thus impeding contacts between the users of the new standards, even in cases where oral comprehension was unproblematic. The policy was characterized by efforts to design the Turkic written languages as differently as possible. Many actual similarities were concealed.

A proposal A free discussion on how a common script system for the whole Turkic linguistic world might be constructed was impossible during the Soviet era. ISAYEV’s comment on this topic is full of reservations: “it should be noted that for some it has become a fetish” (1977: 367). One interesting example may illustrate the difficulties. Nikolaj A. BASKAKOV (1905–1996), the leading Soviet Turcologist, has been identified with the official language policy and often sharply criticized for it. But in fact he himself pleaded for a standardization of the Cyrillic-based graphic systems. For the 1976 Pan-Union Congress of Turcology in AlmaAta, BASKAKOV had prepared a contribution (1976a), whose abstract I had the opportunity to read before the congress started. BASKAKOV claimed that the development of the languages, their increasingly complex functions in society and the growing demands of international communication necessitated further perfection and interlingual unification of the alphabets of those Soviet peoples which were linguistically close to each other. The Soviet Turkic alphabets and graphic norms had been created at the end of the 1930s without sufficient coordination. Thus common problems had been solved differently for each language. Sometimes the specific properties of the individual languages had not been sufficiently taken into account. Also, the necessity of mutual approach and enrichment of the languages had not always been duly considered. However, the alphabets ought to bring the related languages closer to each other, not to serve as tools for their separation. Unified alphabets for all Turkic languages would allow mutual use of literature in closely related languages of the Soviet Union. The modern Turkic alphabets needed unification. A single system should be created for all of them, in which uniform letters should be fixed for all sounds in compliance with the phoneme inventory of each language. How should this work be carried out in practice? According to BASKAKOV, the alphabets should be unified step by step. Too radical changes might lead to difficulties. After all, the Soviet Turkic populations had been

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accustomed to the existing alphabets in spite of their shortcomings. The author proposes some modest changes as a first step. For instance, in the domain of vowels, the representation of e, ö and ü should be standardized. However, even these modest theses were unacceptable. This is shown by the fact that the announced paper could not be presented at the congress. At the last minute it was replaced by another paper (1976b), in which BASKAKOV speaks of a unified Roman-based transcription for scholarly purposes, e.g. in typological, comparative and historical linguistic studies. The content is basically the same as in a paper the author had given two decades earlier (1959; cf. 1968).

The present situation In the last quarter-century it has become possible again to discuss measures of harmonization or standardization of the Turkic systems of writing. These questions have been discussed intensely in the new Turkic republics and in Turkey. The discussions have sometimes been connected with new dreams of a common Turkic standard language: ideas of removing differences between the languages in order to create a unified standard that might get official status on international platforms like, for instance, Chinese or Arabic. These are unrealistic ideas, since the linguistic differentiation is an accomplished fact and irreversible. Supraregional languages such as Chaghatay cannot be revived. There is no “average” or “normal” Turkic to replace the “national” standard languages. Some advocates of a common writing system have expressed the absurd idea that if only a common alphabet is created, the remaining differences will be unimportant. Of course it would be possible to reduce the differences through coordinated language planning, but this meets insurmountable political obstacles. Particularism is prevailing. The language policies of the new Turkic republics are guided by the wish to create state languages to help establish new national identities for their populations. Not even the relatively realistic goals of harmonizing the writing systems have been reached. It would be perfectly possible to modify graphic systems that cause unnecessary optic differences. For a proposal presented in 1991, see DEVLET (1992). This chance has slipped through the fingers of the reformers. Even today, the Turkic standard languages are, in spite of considerable similarities, written according to quite different graphic systems. Script has specific symbolic values as part of various cultural profiles. Several of the Turkic republics have chosen Roman-based solutions that reflect a “western” symbolic value, but often more or less represent transliterations

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of the Cyrillic spelling. This constitutes a contact obstacle in sharp contradiction to modern communicative needs and advances. The reforms thus conserve the barriers between the languages involved. On the other hand, the Turkic-speaking republics within the Russian Federation are not allowed to introduce Roman-based scripts. For example, in 1999, the State Council of the Republic of Tatarstan had adopted a law which foresaw the return to the Roman-based script that had been in use from 1927 to 1939. However, according to a federal law adopted in 2002, Cyrillic-based alphabets are obligatory for the state languages of the Russian Federation. In China, a planned and introduced shift to Roman-based pinyin script for Uyghur and Kazakh failed in the 1980s because of the resistance of traditionalists who wanted to keep the Arabic script as a bond with the past and thus as a symbol of cultural identity. Rational considerations have thus not been decisive for the choice and design of the Turkic writing systems, and they will probably not influence future decisions. The script systems of the Turkic standard languages will not get essentially closer to each other. This situation thus marks the sudden bitter end of the long dream of a unified script for Turkic.

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Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei zwischen staatsideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit1 Yasemin Karakaúo÷lu (Bremen) Ein persönliches Vorwort Ich widme diesen Beitrag, der meine alte wissenschaftliche Heimat Turkologie mit meinem neuen Wirkungsfeld Pädagogik verbindet, meiner Lehrerin Petra Kappert, die mir nicht nur fachlich, sondern auch persönlich nahe war. Petra Kappert hat meinen Blick auf die Geschichte und Kultur der Türkei entscheidend geprägt. Ich gehörte in den 80er Jahren zu den ersten Studierenden, die Turkologie neben einem Interesse am Land vor allem studierten, weil sie einem Teil ihrer Identität auf die Spur kommen wollten. Fragen nach dem Stellenwert der Türken in der Geschichte, ihrem Beitrag zur Geschichte der Völker und Nationen, konnten kaum durch die rudimentäre Erwähnung von Türken an Schulen in Deutschland der 70er Jahre, etwa als „Türken vor Wien“ oder als „Krankem Mann am Bosporus“, befriedigt werden. Petra Kappert jedoch eröffnete mir in den Seminaren zur türkischen Literatur, Geschichte, zu spezifischen Aspekten der türkischen Kulturen und Sprachen der Turkvölker eine neue, differenzierte Sicht auf diesen Teil meiner Identität. Mit einem abwechslungsreichen Programm, daß sie als „Ein-Frau-Turkologie“ in Hamburg über zwei Jahrzehnte konzipierte und durchführte, brachte sie mir und späteren Studierenden vielfältige Facetten der Disziplin nahe. Sie begeisterte mich schließlich für die neue türkische Literatur, die erst nach ihrem Tod mit der Nobelpreisverleihung an Orhan Pamuk jene öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, die sie ihr schon in den 90er Jahren mit einer Sammlung von ausgewählten Kurzgeschichten zeitgenössischer türkischer Autoren zugeschrieben hatte. Sie war –––––––––––––––– 1

Dieser Aufsatz ist eine gekürzte und um ein persönliches Vorwort erweiterte Fassung der Publikation: Was wurde aus den Soldaten des Wissens? Lehrerbild und Lehrerbildung im Wechselspiel zwischen Staatsideologie und Wirklichkeit, in: RICKEN, Norbert (Hg.): Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialien – Perspektiven. Wiesbaden 2007, S. 397–411.

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Yasemin Karakaúoۜlu

auch eine der ersten in der Turkologie, die sich nicht scheute, das in den 80er Jahren in Orientalistenkreisen wenig salonfähige Thema Migration in den Kanon der Seminare aufzunehmen. Hier fand ich später meinen beruflichen Anknüpfungspunkt. Als Wissenschaftlerin, die sich immer wieder kritisch und engagiert, doch immer um Sachlichkeit bemüht, in den häufig emotional überformten öffentlichen Diskurs um das Türkei-, Türken- und Islambild in Deutschland einmischte, ist sie mir Vorbild für die Rolle der akademischen Experten/innen als Brücke zwischen der Türkei und Deutschland.

Zusammenfassung In diesem Beitrag soll gezeigt werden, inwiefern die Türkische Republik als junger Nationalstaat den Pädagogen als zentrale Instanz zur Vermittlung der nationalen Werte und Orientierungen einsetzte und wie dies korrespondiert mit einer zunächst hohen Wertigkeit dieses Berufsstandes in der Türkei, die durch eine ökonomische Verarmung im Laufe der letzten drei Jahrzehnte unterhöhlt wurde. Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei haben in den letzten 80 Jahren eine wechselvolle Geschichte erlebt. Bei der Umgestaltung der Gesellschaft wurde ihnen eine tragende Rolle zugesprochen, ihre professionelle Qualifikation dafür jedoch häufig aus Gründen der dafür notwendigen Zeit und angesichts fehlender finanzieller Ressourcen vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit werden Bestrebungen unternommen, das Auseinanderklaffen zwischen Ideal und Wirklichkeit sowohl durch eine neue Politik der Studienplatzzuweisung als auch durch eine neue, leistungsbezogene Lehrerbesoldung aufzuheben.

Ein Blick zurück in die jüngere Geschichte: Das Osmanische Reich Um zu verstehen, welchen entscheidenden Einschnitt die Einführung eines nach westlichem Vorbild gestalteten Bildungs- und damit auch Lehrerbildungssystems die heutige Türkei im Übergang vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik erlebt hat, ist es zunächst notwendig, einen kurzen Blick auf das klassische Osmanische Bildungssystem zu werfen. Das staatliche (Aus-) Bildungssystem in der Blütezeit des Osmanischen Reiches, dem 16. Jahrhundert, konzentrierte sich auf die Ausbildung zweier gesellschaftlicher Klassen: der Klasse der Militärs und der Klasse

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der Gelehrten (ulema). Dagegen waren Handwerker und Händler in Gilden und Zünften organisiert, die ihre eigenen Ausbildungsstätten unterhielten. In Militärschulen wurden Soldaten theoretisch sowie praktisch im Kriegshandwerk unterwiesen. Besonders begabte Schüler wurden weitergeleitet an die Palastschule (enderun), in der die späteren Inhaber höchster Regierungsämter in islamischer Religion und Ethik, in Reiten und Bogenschießen, sowie in den „Schönen Künsten“ ausgebildet wurden. Daneben gab es Soldatenquartiere, die gleichzeitig Bezirksverwaltungszentralen waren und an denen die Soldaten der niederen Ränge ausgebildet wurden, die zumeist bereits aus einer Soldatenfamilie stammten.2 Zukünftige Gelehrte wurden in den von frommen Stiftungen unterhaltenen Bildungseinrichtungen (medrese) unterrichtet. Dort erhielten die späteren islamischen Rechtsgelehrten, Theologen und medrese-Lehrer ihre Ausbildung. Das medrese-System war ein Stufensystem, bei dem der erfolgreiche Abschluß der Vorstufe die Voraussetzung für den Besuch der nächsten Stufe bildete. Die Ausbildung als Richter, Imam oder medreseLehrer erfolgte nahezu lebenslang in einem steten Wechsel von Theorie und Praxis. Das heißt, nach jeder erreichten Stufe wurde eine Funktion in der Praxis übernommen, die dieser Stufe entsprach und nach weiterer Ausbildung konnte eine höherwertige Position in der beruflichen Rangfolge wahrgenommen werden. In den medrese wurde auf Arabisch gelehrt. Hier wurde der Educand, der sich bis dahin auch tiefergehende Kenntnisse der arabischen Hochsprache angeeignet hatte, in verschiedenen Fächern, wie etwa der Logik, unter Anleitung eines persönlichen Mentors mit Methoden wie Diskussion und Argumentation vertraut gemacht, die es ihm ermöglichten, selbständig mit den Quellen des Islam und ihrer Anwendung auf Alltagssituationen umzugehen.3 Für jede Ausbildungsstufe gab es feststehende Werke, deren Inhalt gelehrt werden mußten. Die Mentoren waren daran gebunden und hatten bezüglich der Inhalte keinen Gestaltungsspielraum. Für die Landbevölkerung (reaya) existierten keine staatlichen Bildungseinrichtungen. Es gab aber den genannten Bildungseinrichtungen vorgelagerte, von der ländlichen Gemeinde selbst organisierte Kinderschulen (sÕbyan mektepleri) bzw. Nachbarschaftsschulen (mahalle mektepleri), an denen vier-bis sechsjährige Mädchen und Jungen im Koranlesen, den religiösen Grundpraktiken unterrichtet und mit ersten Schreibübungen der –––––––––––––––– 2

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TEKELø, ølhan: OsmalÕ ømparatorlu÷u’ndan Günümüze E÷itim KurumlarÕnÕn Geliúimi [Die Entwicklung der Bildungssinstitutionen vom Osmanischen Reich bis in die heutige Zeit], in: Cumhuriyet Dönemi Türkiye Ansiklopedisi. østanbul 1984, S. 650f. HøLLENBRAND, R.: Madrasa, in: Encyclopedia of Islam, Band V, Leiden 1986, S. 1123.

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persisch-arabischen Buchstaben vertraut gemacht wurden. Sie dienten in erster Linie der religiösen Sozialisation der Kinder, waren aber auch – jedoch nur bezogen auf die Jungen – Grundvoraussetzung für den Besuch alle weiteren Bildungseinrichtungen. Ein besonderer Akzent lag – da der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht alphabetisiert war – auf der mündlichen Tradition, so daß Auswendiglernen eine wichtige Fähigkeit zur Wissensweitergabe darstellte. Am Anfang der Wissensaneignung stand daher also das Auswendiglernen der Koransuren und des Katechismus durch die Nachahmung des Lehrers. Die inhaltliche Aneignung des Gelesenen erfolgte erst nach dem Erlernen des Lesens und Schreibens in den folgenden Bildungsstufen, die freilich die überwiegende Klientel der sÕbyan mektepleri nicht besuchte. Der Lehrer, häufig der örtliche Imam oder Gebetsrufer, der selbst nicht notwendigerweise eine Bildungsanstalt besucht haben mußte, wurde durch finanzielle Zuwendungen der Eltern bezahlt.4 Eine wichtige Rolle in der Volksausbildung spielten die autonom organisierten Sufi-Ordensgemeinschaften (zaviye, tekke, dergah). Hier wurde neben religiöser Unterweisung auch Unterricht in Körperertüchtigung und Musik erteilt. Diese Bildungsstätten waren gleichzeitig Gästehäuser und boten soziale Dienste an. Sie standen nicht selten in Opposition zur Zentralregierung.5 Auch hier bestimmte ein individuelles Verhältnis zwischen Educanden und Mentor das Lehren und Lernen. Parallel zu diesen auf die muslimische Bevölkerung beschränkten Bildungseinrichtungen unterhielten die anerkannten religiösen Minderheiten (millet) der Griechen, Armenier und Juden im Rahmen ihres Rechts auf religiöse Selbstverwaltung eigene Schulen und Hochschulen. Erste Reformen dieses traditionellen Bildungssystems, das nur bezogen auf die höhere Bildung unter staatlicher Kontrolle stand, fanden im 18. Jahrhundert statt. Die damals begonnenen Veränderungen im Bildungssystem betrafen zunächst Ausbildungsstätten für Ingenieure, die dazu beitragen sollten, die schwindende osmanische Militärmacht mit neuen Technologien wiederherzustellen. Forciert wurden die Bildungsreformen dann im 19. Jahrhundert. In der Tanzimatphase (1838–1876), in der das Osmanische Reich versuchte, durch eine Orientierung an westlichen Bildungsinstitutionen den technologischen Anschluß an Europa zu finden, standen die Reformbestrebungen vorrangig im Dienste einer Ideologie, die den militärischen Machtverfall aufhalten sollte. Allerdings wuchs die Erkenntnis, daß nicht nur technische Ausbildungsstätten für einen Anschluß an die Entwicklung im Westen notwendig waren, sondern eine grundsätzliche Um–––––––––––––––– 4 5

SAKAOöLU, Necdet: OsmanlÕ`dan Günümüze E÷itim Tarihi. østanbul 2003, S. 12. TEKELø, ølhan: 1984, S. 651.

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orientierung des gesamten Bildungssystems. So wurden nicht mehr ausschließlich nur religiöse Bildungsanstalten für Muslime (analog dazu jene für nichtmuslimische Osmanen) sondern allgemeine osmanische Bildungsanstalten eingerichtet, die jeder Osmane, gleich welcher Religion, besuchen durfte. Daneben gründeten im 19. Jahrhundert westliche Staaten wie Frankreich, Italien, Rußland, Amerika, England und Deutschland ihre eigenen privaten Sekundarschulen und Universitäten im Osmanischen Reich. Diese in vielen Fällen als Missionsschulen gegründeten Schulen und kulturellen Zentren wurden mit dem Ziel etabliert, eine den jeweiligen kolonialen Machtinteressen verbundene Elite heranzubilden. 1828 ordnete Sultan Mahmut II. erstmals eine allgemeine (vierjährige) Grundschulpflicht für die Bevölkerung an. Dies jedoch ohne nachhaltigen Erfolg, da diese Anordnung weder von einer Bereitstellung entsprechender Ressourcen (Lehrkräfte, Gebäude, Lehrmaterial) noch von staatlichen Regulierungsmaßnahmen begleitet wurde. In den folgenden Jahren setze sich die Erkenntnis durch, daß neben religiösem Wissen auch weltliches Wissen vermittelt werden sollte. 1847 wurde die erste zivile Mittelschule (rüútiye) nach westlichem Muster eingerichtet. Dies brachte die Notwendigkeit mit sich, Ausbildungsstätten für Lehrer und Lehrerinnen einzurichten, die fähig sein würden, den entsprechenden Unterricht zu erteilen. Es wurden daher erste Lehrerausbildungsanstalten eingerichtet, die die Lehrkräfte mit neuen Erziehungsmethoden (usul al-cadid) für das moderne osmanische Bildungssystem ausbilden sollten.6 Die ersten nicht an einem religiösen Bildungssystem orientierten Pädagogen wurden hier ausgebildet. Beginnend mit der ersten Lehrerausbildungsstätte (dar ül-muallimin) im Jahr 1848, wurden schrittweise Ausbildungsstätten für Lehrer und Lehrerinnen auf Mittelschul- und später Grundschulebene (1862 zunächst für Männer, 1870 auch für Frauen an den Mädchenschulen) eingerichtet.7 Noch heute wird der 16. März als der Tag gefeiert, an dem 1848 die erste konsequent westlich ausgerichtete Lehrerbildungsanstalt gegründet wurde. 1870 schließlich wurde die erste Universität nach westlichem Muster in Istanbul gegründet (dar-ülfunun-u Osmani). Während in der Tanzimatzeit die Einrichtung der neuen Schulen weitgehend auf die Regierungszentrale Istanbul beschränkt blieb, kam es in der Folge zu einer stärkeren Ausbreitung des neuen weltlichen Stufenschulsystems im Reich. Erst in der Ära der konstitutionellen Monarchie unter den Jungtürken wurde das Grundschulwesen 1913 verstaatlicht –––––––––––––––– 6

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ÖZTÜRK, Cemil: Cumhuriyet Döneminde Ö÷retmen Yetiútirme [Lehrerausbildung in der Republikszeit], in: GÖK, Fatma (Hg.): 75 YÕlda E÷itim. østanbul 1999, S. 283. OKÇABOL, RÕfat: Ö÷retmen Yetiútirme Sistemimiz [Unser Lehrerausbildungssystem]. Ankara 2005, S. 37.

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und dem Nationalen Bildungsministerium unterstellt. Im Jahr 1914/15 wurde schließlich die erste Ausbildungseinrichtung für Vorschullehrerinnen eingerichtet. All diese Einrichtungen bildeten das – noch sehr dünne – Fundament für die Ausbildung der Lehrer in den ersten Jahren der türkischen Republik.

Lehrer in der türkischen Republik Die junge Republik stand im Jahr ihrer Gründung 1923 vor der Situation, daß von 10,6 Millionen Bürgern lediglich 9% lesen und schreiben konnten. 1935 lebte 80% der Bevölkerung auf dem Land, jedoch gab es in 35.000 der insgesamt 40.000 Dörfer keine Schule.8 Wenn vom Lehrer in der modernen Türkei die Rede ist, orientiert sich dessen Bild am Ideal des Gründers der westlich orientierten Türkischen Republik, Mustafa Kemal, genannt Atatürk (Vater der Türken), der sich als „Lehrer der Nation“ verstand. Seit 1981 wird der 24. November zur Ehrung des Lehrerberufes an allen Schulen mit offiziellen Feierlichkeiten als der Tag gefeiert, an dem sich Atatürk derart titulierte. Die Lehrer bekommen an diesem „Tag des Lehrers“ häufig von ihren Schülern und Schulklassen kleine Geschenke und Blumen überreicht und es werden Gedichte ihnen zu Ehren vorgetragen. Daneben begeht die Türkei seit 1966, jeweils am 5. Oktober, auch den Weltlehrertag. Das obligate Atatürk-Bild an vielen Schulwänden zeigt Mustafa Kemal Atatürk, wie er mit einem Zeigestock auf eine Schiefertafel deutet, auf der Buchstaben des neuen lateinischen Alphabets geschrieben stehen; jenes Alphabetes, das von ihm 1928 mit der Schriftreform eingeführt wurde. Es gibt zahlreiche Gedichte, die die heroische Leistung der Lehrer in den Pionierzeiten der Republik preisen, die die Rolle des Lehrers als Erzieher der Nation betonen und das enge emotionale Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern thematisieren. Nach Kemal Atatürk lag die Zukunft der Nation in den Händen zweier Heere, „dem Heer der Soldaten“ und „dem Heer des Wissens“. Letztere sollten die Lehrer und Lehrerinnen sein. Nach dem gewonnenen Befreiungskrieg gegen die alliierten Besatzer war es nun, so Atatürk, an der Zeit, das „Heer des Wissens“ auszusenden, um die Nation anschlußfähig an die moderne Welt zu machen. Damit kam den Lehrern und Lehrerinnen, die zu „Soldaten des Wissens“ wurden, in den Augen Atatürks eine Schlüsselrolle bei dem Aufbau der Türkischen Republik zu. Ihre Leitwerte sollten Republikanismus, Nationalismus, Laizismus und Revolutionismus sein, jene Grundwerte also, die heute nicht nur in der –––––––––––––––– 8

ÖZTÜRK, Cemil: 1999, S. 288.

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Verfassung stehen, sondern auch im Nationalen Bildungsgrundgesetz festgeschrieben sind.9 Diese Schlüsselrolle der Lehrer und Lehrerinnen beim Aufbau der modernen Türkei ist zum Topos des türkischen Verständnisses von der Rolle des Lehrers in der Gesellschaft geworden. Wie aktuell dieses heroische Bild des Lehrers als Motor gesellschaftlicher Entwicklung auch heute noch ist, zeigt folgender Ausschnitt aus einem aktuellen Lehrbuch zur Lehrerbildung für Erstsemester: Der Stellenwert des türkischen Lehrers erfuhr zu Zeiten Atatürks seine größte Aufwertung. Ein Grund für diese Aufwertung war der Dienst, den Tausende von Lehrern als Heroen der kemalistischen Philosophie und Reformen geleistet haben. Die Rolle des Lehrers ist aufzuteilen in seine Rolle in der Schule und seine Rolle in der umgebenden Gesellschaft. Der Lehrer hat in der Schule die Aufgabe des Wissensvermittlers, Disziplinators, Anführers, der Eltern, des Richters und des Ratgebers. Zu seinen Rollen in der umgebenden Gesellschaft hingegen gehört es, zur Entwicklung des Umfeldes beizutragen, die Ethik der Mittelschicht zu verteidigen, neue Ideen zu verbreiten, mit seiner kultivierten, feinsinnigen und vornehmen Persönlichkeit ein Vorbild zu sein, idealistisch zu handeln.10

Eine wichtige Rolle als Impulsgeber für Bildungsreformen bei der Entwicklung des modernen türkischen Bildungssystems und dem damit verbundenen System der Lehrerausbildung spielten der deutsche Reformpädagoge Georg Michael KERSCHENSTEINER und der amerikanische Pädagoge John DEWEY. Letzterer kam 1924 für sechs Wochen auf Einladung des türkischen Bildungsministeriums in die Türkei und untersuchte den Status quo des türkischen Bildungssystems.11 Als führender Erziehungsphilosoph mit profunden Kenntnissen anderer orientalischer Bildungssysteme (zuvor hatte er Japan und China bereist und dort Empfehlungen zur Modernisierung des Bildungssystems ausgesprochen) galt er den türkischen Reformern als geeigneter Ratgeber für die Modernisierung des eigenen Bildungssystems. In seinem Bericht über die Türkei stellte er fest, daß zentrale Verantwortlichkeiten für das Bildungssystem nötig seien, um ein einheitliches System zu entwickeln, jedoch keine Uniformität und kein Staatsdirigismus in der Bildung herrschen dürfe.12 Seine Empfehlung war eine Ausrichtung der Grundschulbildung auf die Wissensvermittlung über die konkrete Lebenswelt der Schüler, auf dessen Fähigkeit, mit der direkten Umwelt zu interagieren sowie auf die Stärkung der Persönlichkeitsbil–––––––––––––––– 9 ÖZTÜRK, Cemil: 1999, S. 285. 10 GÜRSEL, Musa & HESAPÇIOöLU, Muhsin: Ö÷retmenlik Mesle÷ine Giriú [Einführung in den Lehrerberuf]. Ankara 2005, S. 70, übersetzt von Y.K. 11 WILSON, Lucy L.W.: Education in the Republic of Turkey, in: School and Society, in: Educational Review, Vol. XXVIII, November 17 (1928) Nr 725, S. 602. 12 WOLF-GOZO, Ernest: John Dewey in Turkey: An Educational Mission, in: Journal of American Studies on Turkey, 3 (1996), S. 15–42.

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dung. Die Empfehlungen wirkten nicht nur stimulierend auf die Grundschulbildung sondern regten bei den türkischen Bildungspolitikern die Idee für eine spezielle Ausbildung für Lehrer und Lehrerinnen an, die in den Dörfern eingesetzt werden sollten.

Exkurs: Dorfinstitute Die Empfehlung wurde in der Institution der „Dorfinstitute“ aufgegriffen. Während in den Jahren 1936 bis 1940 Soldaten zu zukünftigen Dorfinstitutsleitern geschult wurden, erfolgte erst im Jahre 1940 die offizielle Gründung der Dorfinstitute. Dorfinstitute waren koedukativ geführte Bildungseinrichtungen, an denen zukünftige Dorfschullehrer, die aus dem Milieu selbst stammten, mit direktem Bezug zu landwirtschaftlich notwendigem und nützlichem Wissen mit dem Ziel ausgebildet wurden, als Träger der kemalistischen Modernisierungsidee auf dem Land als Multiplikatoren tätig zu werden. Zu diesem Zweck wurden intellektuell besonders begabte Bauernkinder im Alter von 11 bis 18 Jahren aufgenommen, die bereits in einem drei- bis fünfjährigen Dorfschulbesuch die grundlegenden Kulturtechniken erlernt hatten. Der Unterricht umfaßte in einer engen Verzahnung von Theorie und Praxis landwirtschaftliche, handwerkliche und volkskundliche (Volksmusik, Dichtkunst etc.) Fächer sowie die Vermittlung von Grundkenntnissen im Gesundheitsbereich.13 Ziel war, Grundlagen zur selbständigen Lebensgestaltung im ländlichen Bereich zu vermitteln. Wichtig war, „daß die Lehrinhalte und -pläne auf die Interessen und die Vorstellungswelt der dörflichen Jugend Bezug nahmen. Deshalb sollten die Themen des Unterrichts immer im Zusammenhang mit ihrem Gebrauchswert vermittelt werden.“14 Die Lehrer waren genauso wie ihre Schüler aktiv in landwirtschaftliche bzw. handwerkliche Produktionsprozesse eingebunden. Die Lehrpläne wurden bis 1943 gemeinsam und gemäß den Bedingungen der jeweiligen Region erstellt. Mit diesem Konzept stellen die Dorfinstitute einen eigenständigen türkischen Beitrag zur Entwicklung der Reformpädagogik dar. Für das Bild des türkischen Lehrers waren die aus den Dorfinstituten hervorgegangenen Lehrer und Lehrerinnen von großer Prägekraft. Das Leitbild jener Lehrer beinhaltete ein hohes Verantwortungsgefühl, Empathie –––––––––––––––– 13 SCHULTE, Rainer: Dorfinstitute – der Weg der türkischen Landbevölkerung in eine demokratischere Zukunft?, in: DATTA, Asit & LANG-HOJTASIK, Gregor (Hg.): Bildung zur Eigenständigkeit. Vergessene reformpädagogische Ansätze aus vier Kontinenten. Frankfurt a.M. 2002, S. 236. 14 Ebd.: S. 237f.

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mit der Dorfbevölkerung, Wissen um seine und die Rechte der Dorfbewohner und die Vermittlung dieses Wissens an sie, das Bekenntnis zum Respekt und zur Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und eine Hingabe zu seiner Arbeit.15 Tatsächlich ging von den Leitern der Dorfinstitute eine große Ausstrahlungskraft für die Entwicklung einer ländlich verankerten, nationalen Bildungselite aus. Viele Absolventen der Dorfinstitute sind später als Lehrer, Dichter und Denker der Türkei bekannt geworden. Im Zuge des Übergangs der Türkei vom Einparteien- zum Mehrparteiensystem und dem zeitgleich einsetzenden Kalten Krieg kam es ab 1946 – mit der Begründung, dort würden subversive kommunistische Ideologien verbreitet – zur Schließung der Dorfinstitute, die im Jahr 1954 endgültig gesetzlich festgeschrieben wurde. Religiös-konservative politische Kreise sprachen sich gegen die dort praktizierte Koedukation als „unmoralisch“ aus. Auch bei der Landbevölkerung hatten die Institute selbst keinen starken Rückhalt, wurden sie doch häufig als vom Staat aufoktroyierte Einrichtungen gesehen, denen aufgrund der an modernen Methoden orientierten Lehrformen und -inhalte eher mißtrauisch als offen begegnet wurde. Auch wenn das Ende der Dorfinstitute mit einem politischen Unbehagen an diesem eigenständigen türkischen Beitrag zur zeitgenössischen Pädagogik verbunden war, so wird bis heute der 17. April als Jahrestag der Gründung des ersten Dorfinstituts der Türkei im Jahr 1940 offiziell gefeiert und kaum eine aktuelle Publikation zum Thema Lehrerausbildung in der Türkei kommt aus, ohne eine Referenz und Respektbezeugung gegenüber den Leistungen der Dorfinstitute bei der Ausbildung einer kemalistisch orientierten intellektuellen Elite.

Lehreraus- und Fortbildung Tatsächlich gehörte die Lehrerausbildung zu den wichtigsten Instrumenten der Modernisierung der Türkei und ihr wurde daher insbesondere in den Anfangsjahren der Republik ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt.16 Die ersten Jahre standen unter dem Focus, in kürzester Zeit so viele Lehrer wie möglich auszubilden, um das ehrgeizige Ziel, die Bildung des gesamten Volkes nach westlichem Vorbild, zu erreichen. In der Realität war dies schon allein quantitativ aufgrund der fehlenden Lehrer kaum möglich. So standen im Jahr 1926 ca. 300 ausgebildete Lehrer einem Bedarf des Natio–––––––––––––––– 15 ILGAZ, Deniz: Köy Enstitüleri, in: GÖK, Fatma (Hg.): 1999, S. 311. 16 KARAKAùOöLU, Yasemin: Turkey, in: HÖRNER, Wolfgang & DÖBERT, Hans & KOPP, Botho VON & MITTER, Wolfgang: The Education Systems of Europe. Dortrecht/NL 2007, S. 783ff.

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nalen Erziehungsprogramms von 3.000 Lehrern gegenüber. Aufgrund des seitdem bis heute anhaltenden, notorischen Lehrermangels wurden immer wieder Sonderprogramme zur Ernennung von Lehrern und zur Beschleunigung der Lehrerausbildung durchgeführt. Vielfach fand und findet der direkte Einsatz von Hochschulabsolventen aller Fakultäten als Klassenlehrer ohne pädagogische Zusatzausbildung statt. Diese Form der „Schmalspurausbildung“ hat sich negativ auf das ursprünglich positive Image des Lehrerberufs in der Türkei ausgewirkt. Auf das in den 1980er und 1990er Jahren eher negative Image des Lehrerberufes, das zum allgemeinen Lehrermangel mit beiträgt, wirkte sich auch die bis vor kurzem noch sehr niedrige Bezahlung sowie die Erstanstellung zumeist in ländlichen Regionen und in politisch unsicheren Gebieten (Südosten) aus. Tatsächlich hat bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine große Diskrepanz zwischen dem nationalen Stellenwert, der dem Pädagogen in staatlichem Dienst beigemessen wurde und seiner finanziellen Situation bestanden, was das Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit zwischenzeitlich deutlich beschädigt hat. Eine gängige Formulierung im Volksmund heißt dann auch: „Wenn Du sonst nichts werden kannst, dann werde eben Lehrer“. Das türkische Bildungssystem ist durch einen strengen Zentralismus geprägt. Die zentralen Einrichtungen zur Steuerung und Verwaltung des Bildungswesens sind das Bildungsministerium (Milli E÷itim BakanlÕ÷Õ, MEB) und der Rat für Hochschulbildung (Yüksek Ö÷retim Kurulu, YÖK). Als oppositionelle Kraft stehen diesen staatlichen Instanzen die türkischen Lehrergewerkschaften gegenüber, die selbst eine wechselvolle Geschichte erlebt haben. Nach jedem der bislang drei Militärputsche in der Republikgeschichte wurden sie von staatlicher Seite verboten, konnten sich aber zumeist unter neuem Namen wieder konstituieren (z.B. E÷itim-Sen, E÷itim-Bir, Türk E÷itim-Sen). Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Nationalen Bildung 1973 ist vorgesehen, daß Lehrer aller Schulstufen eine Hochschulausbildung durchlaufen müssen. Die Lehrerausbildung erfolgt nach Abschluß der Sekundarschulausbildung an der Universität. Bis zum Jahr 1990 reichte ein zweijähriges Studium für die Ausbildung zum Grundschullehrer aus. Seitdem ist ein vierjähriges Studium für alle Lehramtsanwärter vorgeschrieben. Absolventen des Lehramtsstudiums (incl. Praxisphase) werden anschließend für ein Jahr als Hilfslehrer auf einer freien Stelle eingesetzt. Um eine frühzeitige Qualifikation von Lehramtsstudierenden zu erreichen, wurden seit 1989 „Anatolische Lehrer-Lyzeen“ eingerichtet, an denen ein Teil des Unterrichts in einer europäischen Fremdsprache erfolgt. Die vierjährige Sekundarschulausbildung beinhaltet im Vergleich zu den allgemeinen Lyzeen intensiveren Fremdsprachenunterricht sowie Pflicht- und Wahlkurse zu lehramtsrelevanten pädagogischen Inhalten. Absolventen dieser Berufs-

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gymnasien erhalten bevorzugt Zugang zum Lehramtsstudium an Universitäten und haben das Recht auf ein staatliches Stipendium für diesen Studiengang. Durch diese, dem Studium vorgelagerte spezifische Ausrichtung von zukünftigen Studierenden eines Lehramtsstudiums wurde erreicht, daß heute Lehramtsstudierende zu 84% Anadolu-Lyzeums-Absolventen sind, die das Lehramtsstudium auch tatsächlich angewählt hatten. In der jüngeren Vergangenheit waren Lehramtsstudierende zu über 60% Personen, deren Notendurchschnitt in der Studienzugangsprüfung (ÖSS) für die von ihnen angewählten anderen Fächer nicht gereicht hatte. Mit ihrer niedrigen Punktzahl stand ihnen lediglich ein Lehramtsstudienplatz zur Verfügung.17 Dem Studium folgt eine bis zu zehn Monate dauernde praktische Phase unter Aufsicht eines erfahrenen Lehrers, der die Kandidaten nach Ablauf der Praxisphase gemeinsam mit der Schulleitung beurteilt. Erfolgreiche Kandidaten werden danach seitens des MEB zu Lehrer bestellt und nach einem zentral festgelegten Provinzschlüssel vor Ort eingesetzt. In jüngster Zeit hat das Ministerium seine Bestrebungen intensiviert, Lehrerfortbildungen zu zeitgemäßen Lehr- und Lernmethoden und zum Umgang mit Computern etc. durchzuführen.

Neustrukturierung und Aufwertung des Lehrerberufs Motor für die gegenwärtige Entwicklung im Bildungsbereich ist die angestrebte EU-Integration der Türkei. Wieder wird der Lehrerausbildung eine herausgehobene Rolle bei der Erreichung dieses hochgesteckten nationalen Ziels erteilt. In diesem Zusammenhang ist mit dem Gesetz von 1997 eine einschneidende Neuordnung der Lehrerausbildung durch YÖK in Kraft getreten. Hintergrund ist die Anhebung der Schulpflicht auf acht Jahre und die Einführung einer achtjährigen Primarschulbildung. Diese erfolgt in einer Einheitsschule, auf die ein vierjähriges Lyzeum (früher drei Jahre) aufbaut. Damit einher ging ein verstärkter Bedarf an Fach- und Klassenlehrern, der allein 1998 kurzfristig durch die Einstellung von 26.000 zusätzlichen und 930 sogenannten „Vertretungslehrern“ (Lehrer, die sich bereits im Ruhestand befanden) behoben werden sollte.18 Zu den aktuellen Problemen der Lehrerbildung der Türkei gehört die Herausforderung, die Zahl der Lehrer und Lehrerinnen für die stetig nach–––––––––––––––– 17 ÖZYAR, AydÕn: Ö÷retmen Yetiútirme ve østihdamÕ, in: EöøTøM-SEN (Hg.): Ö÷retmen Yetiútirme ve østihdami Sempozyumu. Ankara Eylül 2003, S. 40. 18 TERTEMøZ, Neúe IúÕk: Sekiz YÕllÕk Zorunlu ølkö÷retim: Hedefler ve Uygulamalar [Acht Jahre Pflichtschulzeit: Ziele und Umsetzung], in: GÖK, Fatma (Hg.) 1999: S. 174f.

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wachsende junge Bevölkerung zu erhöhen und gleichzeitig die Qualität der Lehrerausbildung zu steigern.19 Während jährlich ca. 5.000 Lehrer in den Ruhestand gehen, treten lediglich ca. 3.000 Absolventen in den Schuldienst ein.20 Ähnlich wie in der bundesdeutschen Diskussion um das TheoriePraxis-Verhältnis in der Lehrerbildung gibt es auch in der Türkei von Seiten der Erziehungswissenschaftler zunehmend kritische Stimmen gegenüber einer Vernachlässigung des Theoriewissens zugunsten von Praxisphasen in der Neuausrichtung der Lehrerbildung.21 Als neue Maßnahmen zur Qualitätssicherung und -steigerung der Lehrerausbildung und des Unterrichts wurden seit 2000 seitens des MEB umfangreiche Evaluationsprozesse initiiert. Durch den verstärkten Einsatz von Schulinspektoren als erziehungswissenschaftliche Experten für die Praxis soll dies gewährleistet werden. Unterstützt werden diese Maßnahmen durch ein neues Besoldungssystem für Lehrer, in dem auf der Basis von PerformanzEvaluationen Einkommen entsprechend der Leistung gesteigert wird. Lehrer sind nun nachdrücklich aufgefordert, statt weit verbreiteter passiver Lehr- und Lernformen (Frontalunterricht, Abfrage auswendig gelernten Wissens) nun aktivierende Lehr- und Lernmethoden nach neuesten lehrund lerntheoretischen Erkenntnissen anzuwenden. Wiederholt und nachdrücklich wird von führenden Erziehungswissenschaftlern der Türkei kritisiert, daß das Ansehen des Lehrerberufes insbesondere darunter leide, daß aus Gründen des Lehrermangels Personen anderer Berufsgruppen, teilweise ohne jegliche pädagogische Zusatzausbildung bzw. lediglich mit einigen Wochen pädagogischer Lehrgänge, zu Lehrern ernannt würden.22 In der Folge fand eine Formulierung aus dem Volksmund Verbreitung, die die Entwertung des Professionsbezugs in der Rekrutierung von Lehrern und Lehrerinnen drastisch verdeutlicht: „Ein Kürbis reift nicht in einem Monat heran, ein Lehrer schon“. Ebenso kritisieren Erziehungswissenschaftler, daß das Curriculum zur Lehrerausbildung nach den letzten Reformen und Umstellungen wichtige Qualifikationen nicht mehr berücksichtige (wie z.B. Kenntnisse der Lernpsychologie) und damit der Anspruch auf eine gleichwertige Gewichtung von pädagogi–––––––––––––––– 19 DOöAN, Ismail: Toplum ve E÷itim. SorunlarÕ üzerine Felsefi ve sosyolojik tahliller [Philosophische und soziologische Analysen zu Problemen von Gesellschaft und Bildung]. Ankara 2004, S. 280. 20 Ebd.: S. 272. 21 Ebd.: S. 272. 22 GÜRSEL, Musa & HESAPÇIOöLU, Muhsin: 2005, S. 57, vgl. auch die Teilnehmer des Symposiums der türkischen Lehrergewerkschaft EöITIM-SEN von 2003.

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scher Professionalisierung neben den beiden Bereichen „Fachkenntnisse“ und „Allgemeinbildung“ nicht mehr gewährleistet werde.23 Es bleiben in den Großstädten an staatlichen Schulen problematische Rahmenbedingungen für das Lehren und Lernen: zu große Klassen (50 und mehr Schüler und Schülerinnen), wenig und nicht aktuelles Lehrmaterial, veraltete technologische Ausstattung. Lehrer müssen an vielen Großstadtschulen in zwei Schichten arbeiten, da den Schülermengen keine entsprechenden Unterrichtsraumkapazitäten gegenüber stehen. Auch das System der nach wie vor praktizierten Zwangsversetzung in sozial und politisch vernachlässigte Regionen (insbesondere den überwiegend von Kurden bewohnten Südosten der Türkei) gehört mit zu den problematischen Randbedingungen des Lehrerberufes in der Türkei.24 Als weitere problematische Faktoren neben der Unfreiwilligkeit des Einsatzes in der Region wirken sich die häufig schlechte materielle Ausstattung der Schulen sowie die fehlende Ausbildung für den Umgang mit den spezifischen sprachlichen Voraussetzungen der Schüler, für die Türkisch nicht die Familiensprache ist, aus.

Ausblick Der starke Lehrermangel in spezifischen Fächergruppen, insbesondere für die Fächer Englisch, Türkisch, Mathematik, Literatur, Rechnungswesen, Informatik, aber auch für die Sonderpädagogik, sowie die damit verbundene Aussicht auf eine sichere Anstellung nach erfolgreichem Abschluß des Studiums haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu geführt, daß das Prestige des Berufes bei Studienanfängern wieder gewonnen hat. Durch die starke Nachfrage nach Studienplätzen, die es möglich macht, die Besten des Jahrganges für die Ausbildung auszuwählen, ist auch die Qualifikation der Studierenden inzwischen gestiegen. Das heißt, inzwischen wählen zunehmend mehr Studienanfänger mit einer hohen Punktezahl beim Studieneingangstest das Lehramt.25 Im Jahr 2001 entschieden sich immerhin –––––––––––––––– 23 YILDIRIM, øbrahim: Ça÷das E÷itim Sisteminde E÷itim UzmanlÕklarÕ Ö÷retmenin Yetiútirilmesi, Statüsü ve SorunlarÕ [Die Ausbildung von Lehrern als Bildungsund Erziehungsexperten im zeitgenössischen Bildungssystem. Ihr Status, ihre Probleme], in: EöøTøM-SEN (Hg.): 2003, S. 59. 24 So der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, Alaadin DøNÇER, bei einem Symposium über die aktuelle Situation von Lehrern in der Türkei im Jahr 2003, zitiert nach: DøNÇER, Alaadin: AçÕlÕú KonuúmasÕ, in: EöøTøM-SEN (Hg.): 2003, S. 6–8, unter: www.e÷itimsen.org.tr. (Zugriff am 10.04.2008). 25 ùøMùEK, Hüseyin: Ortaö÷retim Alan Ö÷retmenli÷i Tezsiz Yüksek Lisans ProgramÕna Devam Eden Ö÷rencilerin Ö÷retmenlik Mesle÷ine Yönelik Tutumlari [Ein-

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48% aller Studienanfänger für ein Lehramtsstudium. Es scheint also, als würden die vielfältigen Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung der Lehramtsausbildung in der Türkei langsam zu fruchten beginnen und damit der Lehrberuf auch gesellschaftlich wieder zu der Anerkennung kommt, die ihm der Republikgründer so explizit zugedacht hatte.

Literatur DINÇER, Alaadin: AçÕlÕú KonuúmasÕ, in: EöITIM-SEN (Hg.): Ö÷retmen Yetiútirme ve østihdami Sempozyumu [Eröffnungsrede, in: Symposium zur Lehrerbildung und beschäftigung]. Ankara Eylül 2003, S. 6–8, unter: www.e÷itimsen.org.tr. DOöAN, Ismail: Toplum ve E÷itim. SorunlarÕ üzerine Felsefi ve sosyolojik tahliller [Philosophische und soziologische Analysen zu Problemen von Gesellschaft und Bildung]. Ankara 2004. GÖK, Fatma: 75 YÕlda ønsan Yetiútirme E÷itim ve Devlet [75 Jahre Menschenerziehung, Bildung und Staat], in: 75 YÕlda E÷itim [75 Jahre Bildung]. østanbul 1999, S. 1–8. GÖK, Fatma & OKÇABOL, RÕfat: Ö÷retmen Profili Araútirma Raporu [Forschungsbericht zum Lehrerprofil], in: 75 YÕlda E÷itim. østanbul 1999, S. 359– 373. GÖK, Fatma: Hizmet Öncesi ve Hizmet øçi Ö÷retmen Yetiútirme [Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung], in: EöITIM-SEN (Hg.): Ankara Eylül 2003, S. 9–22. GÜRSEL, Musa & HESAPÇIOöLU, Muhsin: Ö÷retmenlik Mesle÷ine Giriú [Einführung in den Lehrerberuf]. Ankara 2005. HILLENBRAND, R.: Madrasa, in: Encyclopedia of Islam, Band V, Leiden 1986, S.1123– 1154. ILGAZ, Deniz: Köy Enstitüleri, in: GÖK, Fatma (Hg.): 1999, S. 311–358. KARAKAùOöLU, Yasemin: Turkey, in: HÖRNER, Wolfgang & DÖBERT, Hans & VON KOPP, Botho & MITTER, Wolfgang: The Education Systems of Europe. Dortrecht/NL 2007, S. 783–807. DIES.: Was wurde aus den „Soldaten des Wissens“? Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei im Wechselspiel von Staatsideologie und Wirklichkeit, in: RICKEN, Norbert (Hg.): Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialien – Perspektiven. Wiesbaden 2007, S. 397–411. OKÇABOL, RÕfat: Ö÷retmen Yetiútirme Sistemimiz [Unser Lehrerausbildungssystem]. Ankara 2005.

–––––––––––––––– stellungen zum Lehrerberuf bei postgraduierten Studierenden des Branchenlehramts für den Sekundarbereich I]. Harran Üniversitesi, Fen Edebiyat Fakültesi, unter: www.efdergi.yyu.edu.tr/makaleler/cilt_II/huseyin_simsek.doc. (Zugriff am 10.04.2008) E÷itim Bilimleri Bölümü 2003.

Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei

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Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen II: Jakutisches im Tumunchanskischen (nach S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“) Michael Knüppel (Göttingen) I. Mit dem vorliegenden Beitrag, in dem das jakutische Lehngut im Tumunchanskischen – einer Varietät des Lamunchinischen (dies wiederum ein „Dialekt“ des Lamutischen) – nach dem tungusischen Wörterbuch des russ. Tungusologen und Ethnologen Sergej Michajloviþ Širokogorov (1887– 1939)1 zusammengestellt ist, knüpft der Vf. an den Aufsatz gleichen Haupttitels, in dem die jakutischen Elemente im Ost-Ewenki behandelt wurden,2 an. Wie in vielen anderen tungusischen Sprachen und Dialekten, findet sich auch im Tumunchanskischen eine beachtliche Anzahl jakut. Entlehnungen. Für die Kenntnis dieses Lehnguts ist das „Tungus Dictionary“ Širokogorovs3 in zugleich mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: 1) Š. gibt umfangreiches Material – vor allem aus zu seiner Zeit anderweitig nicht oder kaum berücksichtigten Dialekten (wie im vorliegenden Fall des Tumunchanskischen [dies i. d. Regel ebenso wenig getrennt vom Lamutischen betrachtet, wie das Lamunchinische i. a.]), –––––––––––––––– 1

2

3

Zu ŠIROKOGOROV vgl. MÜHLMANN, Wilhelm: Nachruf auf S. M. Širokogorov (nebst brieflichen Erinnerungen), in: Archiv für Anthropologie, N. F. Bd. XXVI (1–2). 1940, S. 55–64; DOERFER, Gerhard: Etymologisch-Ethnologisches Wörterbuch tungusischer Dialekte (vornehmlich der Mandschurei). Unter Mitwirkung von Michael KNÜPPEL. Hildesheim, Zürich, New York 2004, S. 5–6. KNÜPPEL, Michael: Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen I: Jakutisches im Ost-Ewenki (nach S. M. ŠIROKOGOROVs „Tungus Dictionary“), in: Turks and Non-Turks. Studies on the history of linguistic and cultural contacts. Festschrift Stanisáaw Stachowski. Kraków 2005a (STC 10), S. 191–202. ŠIROKOGOROV, Sergej Michajloviþ: A Tungus Dictionary: Tungus-Russian and Russian Tungus. Photogravured from the manuscripts. Ed. Shinobu Iwamura. Tokyo 1944 (in der Folge kurz „TD“).

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Michael Knüppel

2) sind im TD – wie in anderen Publikationen Š.s – zahlreiche Begriffe der religiösen Sphäre (incl. Sprachtabus u. Materialien, die aus religiösen Gesängen gewonnen wurden4) enthalten, die in den sowjet. Wörterbüchern zumeist fehlen5 (was sich aus dem Wirken des staatlich verordneten Atheismus erklärt), 3) führt Š. unter den Verweisen, die sich häufig in den jeweiligen Einträgen finden, öfter auch jak. Formen auf. Diese werden häufig nur zum Vergleich herangezogen, gelegentlich jedoch auch als Etyma der behandelten tung. Formen angeführt. Das tumunchanskische Material wurde von Š. im TD mit der Abkürzung „T.“ gekennzeichnet.6 Durch die Edition des TD im Rahmen des „Etymologisch-Ethnologischen Wörterbuchs tungusischer Dialekte (vornehmlich der Mandschurei)“ durch G. Doerfer,7 an dem auch der Vf. mitwirken durfte, ist nun auch eine weitergehende Auswertung des TD ermöglicht worden. Diese wiederum bildet eine Voraussetzung für die Erfassung des jak. und anderen Lehnguts in dem im TD aufgeführten Material. Im vorliegenden Beitrag nun ist – aufgrund des Umstandes, daß der Registerband zum EEW noch nicht vorliegt – zunächst dieses Lehngut (incl. nicht-jak., aber jak. vermittelter Entlehnungen) im Tumunchanskischen zusammengestellt. Ein Auszug des jak. Lehnguts im (bei Š. – abgesehen vom Tumunchanskischen – nicht weiter nach Mundarten differenzierten) Lamunchinischen wird an anderer Stelle folgen.

–––––––––––––––– 4

5 6

7

Vgl. hierzu KNÜPPEL, Michael: Noch einmal zu den Orts- und Dialektangaben in S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“, in: CAJ 48 (2). Wiesbaden 2004, S. 226– 233. DOERFER, Gerhard: 2004, Nr. 635; hierzu schon MENGES, Karl Heinrich: Zum sibirischen Šamanismus, in: CAJ 25 (1981), S. 260–309. Zu Š.s „Definition“ des Tumunchanskischen cf. Doerfer (1999), 110: „In RTT [dies = russisch-tung. Teil des TD] Tm., in Shirokogoroff 1929 [dies = Širokogorov (1930)] Tum. Definiert als "the dialect of the group above mentioned included in the Tumunxanskij rod; see Lam.". Also = die Tumunchanskische Mundart des Lamunchinischen. Parallelquellen: Cincius/ Rišes 1952, Novikova 1960. Position s. o. [d. i. 65/ 130]“. Zu den übrigen im vorliegenden Beitrag erscheinenden Abkürzungen Š.s siehe unten. In der Folge kurz EEW.

Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen

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II. 1. 2. 3. 4.

5.

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

aȖabit (TD, Sp. 4/ EEW, Nr. 160): „[T.] pop, pravosl. svjašþenniki (Jak. aȖabït)“ – „Pope, orthodoxer Priester“. Cincius (1975–77), 11: aȖavut (ew.) – „Priester“, aȖabït (lam.) „id.“, < jak. aȖabït. ahtax (TD, Sp. 5/ EEW, Nr. 182): „[T.] koldun“ – „Zauberer (jak. aptax)“. Dies bei Cincius (1975–77), Cincius/ Rišes (1952) u. Sotavalta/ Halén (1978) nicht erfaßt, < jak. aptƗx. ayi toyǀn (TD, Sp. 6/ EEW, Nr. 257): „[T.]“. Wohl = Sotavalta/ Halén (1978), 70: aiî „Himmel“ + toyon „Herr“ (Cincius [1975–77], 191) < Jak. aáaþik (TD, Sp. 8/ EEW, Nr. 325): „[T.] obuv´ legkaja iz rovdugi, lČtnjaja“ – „leichter Sommerschuh aus sämisch gegerbtem Fell“. Cincius (1975–77), 16: olot (ew., sol.) (recte K.) (lam., neg., oroþ., ul., orok.). Vgl. speziell lam. olƗþik. Tg. *olƗþï < oder > jak. olǀþþu. Vgl. auch oloþi. Wahrscheinlich ist aáaþik auch olaþik zu lesen (vgl. TD, Sp. 201/ EEW, Nr. 8568). aáiha (TD, Sp. 10/ EEW, Nr. 399): „[T.] okun´ (Jak. Pek. alïsar)“ – „Barsch [Pekarskij: Perca fluviatilis]“. Cincius (1975–77): –, < Jak. Vgl. dazu KaáuĪyĔski (1961), 130, z. B. kalm. alþar. Hier liegt Altbur. *aliþan vor. Das -r ist wohl ausgefallen in Angleichung an die zahlreichen tg. Wörter auf -sa (Benzing [1956], 69 f.). araƾas (TD, Sp. 17/ EEW, Nr. 742): „[T.] ambar, labaz (Jak. araƾas Pek.)“ – „Speicher“. Cincius (1975–77), 49: (lam.), (sarkyryv.) < jak. araƾas < bur. mo. arangȖa. ari (TD, Sp. 18/ EEW, Nr. 778): „[N. S.] (oil) ~ ariƾ (T.), (S.) maslo rastit.“ – „Öl“. Cincius (1975–77), 50: arƯ (ew., neg.) < jak. arï. arin´ki (TD, Sp. 18/ EEW, Nr. 791): „[T. L.] zlye duxi, abasi (Jak., cf. araƾk´i)“ – „böse Geister“. Vgl. TD, Sp. 18/ EEW, Nr. 766. baþþ´i (TD, Sp. 24/ EEW, Nr. 1038): „[T.] nagrudnik, perednik (Jak. Pek. bƗþþï)“ – „Brusttuch“. Cincius (1975–77): –, jak. bƗþþï. baha (TD, Sp. 24/ EEW, Nr. 1065): „[T.] ljaguška“, cf. bajalaki (1049), Jak. Pek. baȖa. Cincius (1975–77), 61: baȖa (lam.) < jak. baȖa. baígal (TD, Sp. 25/ EEW, Nr. 1074): „[T.] more (Jak. Pek. bayaȖal, baiȖal, baixal)“ – „Meer“. Cincius (1975–77), 66: baiga „Meer, Woge“ (ew.). Auch Cincius/ Rišes (1952), 276: baigal (westlam.). bat (TD, Sp. 28/ EEW, Nr. 1219): „[T.] lodka "dČtka" jak. po olen.; "vČtka"“ – „Boot "Bienenkorb", ein Bootstyp“. Cincius (1975–77): – ,. Kit. russkij“ – „Russe, russisch“. Vgl. Chelimskij (1985), 211 (Sprachtrakt bzw. Wanderwort finn. rǀtsa > Sam. > Tg. Dem kam aber eine Volksetymologie entgegen, cf. Hauer (1952–55), 751: „Die Mandschu nannten die plündernden Räuberhorden der russischen Konquistadoren Chabarow und Stepanow `Oger'“. Ebenso Zacharov (1875), 858: loþa (Chinesisch < skr. raks a) „ơtim imenem man´þžury nazyvali russkix pri pervyx snošenijax s nimi na AmurČ v XVII. stol“. Cincius (1975–77), 513: alle Dialekte außer Jü. Ĕúþ´i (TD, Sp. 190/ EEW, Nr. 8103): „[T.] Cf. luþa (russkij)“ – „russisch“; vgl. hier Nr. 53. m´akug (TD, Sp. 162/ EEW, Nr. 6925): „[T.] šalit´“ – „Unfung treiben“. Cincius (1975–77), 565: mêkuk- lam. < jak. mök-. mamuk (TD, Sp. 163/ EEW, Nr. 6953): „[T., L.] mamuk, olenij arkan tolstoj“ – „ein dickes Rentier-Lasso“. Cincius (1975–77), 520: mƗvut (ew. [auch mamit], lam., arm., neg., oroþ., ul., orok., nan. [mƗtu u. ä.] stehen abseits). Vgl. jak. Pekarskij (1952–55), 1513: mƗmïk. meni (TD, Sp. 165/ EEW, Nr. 7038): „[T.] mozg golovnoj“ – „Hirn“. Cincius/ Rišes (1952), 274: mëni (westlam.) < jak. Pek. 1543–4 mäyi, dolgan. Stachowski (1993), 178: män´Ư.

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moxotoí (TD, Sp. 168/ EEW, Nr. 7149): „[T.] burunduk (jak.! Pek. moxotoi)“ – „Erdeichhörnchen, Entamias sibiricus“. Cincius (1975– 77), 544: mokotoi lam. < Jak. < ? mont´akli (TD, Sp. 170/ EEW, Nr. 7257): „[T.] osen´ (Jak.! inaþa?) mont´ahái eáann´i T. avgust (4yj lČtn. m.)“ – „Herbst“. Cincius (1975–77), 548 (sub mnj „Wasser“) lam. möntëlsë usw., selkup-lam. möntëhlë < ? muxá (TD, Sp. 172/ EEW, Nr. 7332): „[T.] doxa“ – „Pelz“. Cincius (1975–77), 551–2: mukƗ „Pelzkleidung, weiblich“ (so ew. – lam. auch männlich); auch jak.; Beschreibung vgl. in Doerfer/ Hesche/ Scheinhardt (1980), 1152. muƾxa (TD, Sp. 174/ EEW, Nr. 7407): „[T.] nevod; jak.! Pek. muƾxa“ – „Schleppnetz“. Cincius (1975–77), 557: muƾka (ew., lam.) < jak. nëhu (TD, Sp. 181/ EEW, Nr. 7698): „[T.] vozži (jak.! Pek. ibid.)“ – „Zügel“. Cincius (1975–77), 641–2 subn Ĕǀ- (vgl. 7695) ew. Ĕou, lam. Ĕóu. Ĕer´i (TD, Sp. 182/ EEW, Nr. 7729): „[T.] spina“. Vgl. Ĕir´i TD, Sp. 182/ EEW, Nr. 7927; vgl. hier Nr. 65. Ĕimkahit (TD, Sp. 185/ EEW, Nr. 7881): „[T.] skazo_nik (cf. Ĕimkan)“ – „Märchenerzähler“. Zu Ĕimkan (TD, Sp. 185/ EEW, Nr. 7882) und nimȖa (TD, Sp. 185/ EEW, Nr. 7877). Das Suffix -hit ist jak. Ĕir´i (TD, Sp. 186/ EEW, Nr. 7927): „[T.] spina, Ĕer´i (T.); mo. R. nĤrnj/ nĤru, niruȖan [recte niruȖun] spina, xrebet“ – „Wirbelsäule“. niru (G.) Cincius (1975–77), 639–640: ĔirƯ „Wirbelsäule, Rückgrat“ nirƯ, ĔirƯ (ew., sol., lam., arm., neg., oroþ., ud., ul., orok., nan., kili). Tg. *Ĕïrï+. Vgl. mo. niriȖun < oder > Tg. Doerfer (1985), Nr. 387. Vgl. jak. KaáuĪyĔski (1982), 266: nƯrä. nuƾau (tulji) (TD, Sp. 192/ EEW, Nr. 8170): „[T.] ruž´e (zarjažat´)“ – „das Gewehr (laden)“. RT 76 a (ruž´e) nuƾa (T.) < Jak., RT 27 a (zarjažat´) nuƾaú tul. Das erste Wort = Akkusativ von nuƾa (TD, Sp. 192/ EEW, Nr. 8167) + tul-, cf. Cincius (1975–77), 212: tulë-. ogus (TD, Sp. 197/ EEW, Nr. 8355): „[N. S.] (an ox) byk; ogus (T.), (S.), oȖus jak. Pek., oȖus (T.)“ – „Ochse“ < jak. oȖus. oȖus (TD, Sp. 197/ EEW, Nr. 8373): „[T.] Cf. ogus (N. S.)“; TD, Sp. 197/ EEW, Nr. 8355; vgl. hier Nr. 67. ohox (TD, Sp. 197/ EEW, Nr. 8388): „[T.] kamelek; jak. Ol.“ – „kleiner Kamin“. Cincius (1975–77), 29: ohok (ew., lam., neg.) < jak. osox, ohox. omún (TD, Sp. 205/ EEW, Nr. 8705): „[X. N.] guby, homun (A.) [TD, Sp. 111/ EEW, Nr. 4776], himin (T.), (L.) [gemeint ist wohl

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hơmơn (TD, Sp. 110/ EEW, Nr. 4725)], hämun (U. C.) [TD, Sp. 108/ EEW, Nr. 4663], hömun (N. S.) [TD, Sp. 111/ EEW, Nr. 4802], hömun, ömun (T.), hömu (Or.), pomu (G.), (S.); ma. femen“ – „Lippen“. Cincius (1975–77), 365: hëmun alle Dialekte. Tg. *pämön. Vgl. Jak. KaáuĪyĔski (1982), 267: sämïn „Oberlippe des Rentiers“ (?). orbat (TD, Sp. 211/ EEW, Nr. 8869): „[T.] ryba oxota [sic] (Ribes (Pribes ?)“ – „Fisch Jagd [irrig]“. Vgl. vielmehr Doerfer/ Hesche/ Scheinhardt (1980), 864: ǀrbat „schwarze Johannisbeere“ = Cincius (1975–77), 23: ǀrbƗt lam. Tg. *(h)ǀrbƗ+kta. Vgl. Jak. KaáuĪyĔski (1982), 268: uorbat. ԁrԁ (TD, Sp. 210/ EEW, Nr. 8935): „[B. K. X., T.] mČsto dlja sidČnija (span´ja [?], mČsto žitel´stvo, mČsto zanimannoe sidjašþim; ma. oron mČsto dlja sidČnija, slČd ot ruki; mo. R. or(u)/ oron mČsto, strana; jak. Pek. orun mČsto, oron krovat´ (inogda oron); oron (T.) mČsto dlja sidČnija“ – „Ort, Ort zum Sitzen (Schlafen?), zum Wohnen, von Siedlern eingenommen“. Cincius (1975–77), 19: onno (ew., sol., lam., oroþ., ud., ul., orok., nan., kili, ma.). Vgl. Doerfer (1985), Nr. 399, Rozycki (1994), 169 f. < Mo. < Tü. oder teilweise < Jak. oron (TD, Sp. 211/ EEW, Nr. 8962): „[M., T.] Cf. ԁrԁ mČsto dlja sidČnija (T.); jak. al. haran, krovat´ M.“ – „Ort zum Sitzen“. Vgl. hier Nr. 72. osok (TD, Sp. 212/ EEW, Nr. 9015): „[N. S.] (a stove) peþ´; ohok (T.)“ – „Ofen“. Cincius (1975–77), 29: ohok (ew., lam., neg.). Alles < jak. osok < tü. hǀþaq. öijö (TD, Sp. 214/ EEW, Nr. 9129): „[T.] ponimat´ (jak.! Pek. öid ö)“ – „verstehen“. < Jak. ötöji (TD, Sp. 216/ EEW, Nr. 9188): „[T.] uzda olen´ja“ – „Rentierzügel“. Zu 294 utnj „Riemen“ (ew., lam.) < jak. ötü? oder zu utumuk „Nacken“ (ew., lam., orok., z. B. lam. ötöm- „dem Rentier in den Hals stechen“ [mit dem Messer]). saga (TD, Sp. 219/ EEW, Nr. 9329): „[N. S.] (a collar), saga (T. S.) vorotnik“ – „Kragen“. Cincius (1975–77), 52: saȖa (ew., neg.) < jak. saȖa (tü. yaqa). sayanga (TD, Sp. 220/ EEW, Nr. 9350): „[N. S.] (to doubt) somnČvat´sja, sarango (T.), (S.)“ – „zweifeln“. Cincius (1975–77), 64: sƗrƗ (ew.) < Jak. < Mo. (saȖara- „verzögern“). sơƾax (TD, Sp. 226/ EEW, Nr. 9591): „[T.] poloz (narty); jak. Pek. sïƾax“ – aber eher dolgan., vgl. Stachowski (1993), 119 ? – „Schlittenkufe“. sơrga (TD, Sp. 226/ EEW, Nr. 9601): „[T.] narta; jak. Pek. sïarȖa; cf. sani: bur. B. s´ergan; t´erga (U. C.) sani; bur. C. s´arga; bur.

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Podg. šarga (obšþ.)“ – „Schlitten“. Cincius (1975–1977), 387–8: þơrga (ew., sol., lam., ma.), teils < Mo., teils < Jak. (Ma. < Nordtg.). siel (TD, Sp. 227/ EEW, Nr. 9637): „[T.] griva; jak. Pek. siäl“ – „Mähne“. Cincius (1975–77), 70: sƝl (ew., lam.) < Jak. Dagegen oroþ. snjli, ul. suni, orok. suli, nan. soglƯ, kili soli eher aus *soglï. s´ir´i (TD, Sp. 232/ EEW, Nr. 9823): „[T.] vojna; jak. särƯ Pek., cf. þirik“. sobó (TD, Sp. 233/ EEW, Nr. 9853): „[T.] karas´; jak.! Pek. sobo karas´, cf. sovo (A.)“ – „Karausche“. Cincius (1975–77), 103: sovo (ew., lam.). Nach Cincius (1975–77) und Romanova (1975), 198 Jak. > Tg. Aber im Tü. nicht etymologisiert; daher und aus geographischen Gründen eher Tg. > Jak.? Cf. hier Nr. 86. soȜka (TD, Sp. 235/ EEW, Nr. 9963): „[T.] šelk (jak. Pek. solko Rus.!)“ – „Seide“. Cincius (1975–77), 107: solko (ew., lam., arm., orok.) < Jak. bzw. Russ. Vgl. RT 98 a. sordoƾ (TD, Sp. 235/ EEW, Nr. 9968): „[T., A.] šþuka; jak. Pek. sordoƾ“ – „Hecht“. Cincius (1975–77), 113: sordoƾ (ew., sol., lam.); vgl. jak. sordoƾ, bur. (Bargu) sordon. sovó (TD, Sp. 236/ EEW, Nr. 9981): „[A.] sobó (T.) karas´; jak. Pek. sobo, karas´“ – „Karausche“. Cincius (1975–77), 103: sovo (ew., lam.). Unklar ob < Jak. (sobo) oder Tg. > Jak. Cf. hier Nr. 84. tabuskan (TD, Sp. 241/ EEW, Nr. 10183): „[T.] zajac; jak. Pek. tabïsxan zajac bČljak“ – „Hase“ < Jak. taƾara (TD, Sp. 245/ EEW, Nr. 10354): „[T., L.] bog; jak. Pek. taƾara bog“ = taƾȖara- „Gott“. Cincius (1975–77), 162: taƾarƗ (ew., lam.) < jak. ~ tëƾër sol. < mo. tenggeri. Daneben, kaum dazu ähnliche Formen im Neg. u. Nan. togoso (TD, Sp. 257/ EEW, Nr. 10823): „[T.] kol (jak.! Olen.)“ – „Pfahl“. Cincius (1975–77), 191: toȖoho (ew., lam.) < jak. toȖoso. Vgl. Romanova (1975), 202: toxogo. tuhohmik (TD, Sp. 264/ EEW, Nr. 11079): „[T.] = tustax (Jak. Obl.) 11292 (Cincius [1975–77], 222: tnjs)“. tunnuk (TD, Sp. 267/ EEW, Nr. 11205): „[N. S.] (a window) okno; tunuk (T.), (S.), Jak. Pek. tünnük“ – „Fenster“, < Jak. tuökün (TD, Sp. 267/ EEW, Nr. 11210): „[T.] obmanšþik; jak. Pek. tüökäida ibid.“ – „Betrüger“. Cincius (1975–77): –. Vgl. jak. Pek. tüökäidä- „betrügen“; hier besser: tüökün „lukavyj“ etc. turuka (TD, Sp. 268/ EEW, Nr. 11270): „[A.] sol´“ – „Salz“; cf. Jak. Pek. tus; tus (T.)? Cincius (1975–77), 221: turukë (ew.) < *törökä hat nichts mit tü. tnjz zu tun [jak. recte tnjs].

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94.

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tus (TD, Sp. 269/ EEW, Nr. 11280): „[T., N. S.] (salt) sol´; jak. Pek. tus [recte tnjs], tus (T.), (S.)“ – „Salz“. Cincius (1975–77), 222: tnjs (ew., lam., neg.) < tü. tnjz. tusta (TD, Sp. 269/ EEW, Nr. 11291): „[T.] solit´, cf. tus; Jak.!“ Vgl. hier Nr. 93. ujurgaí (TD, Sp. 271/ EEW, Nr. 11369): „[T.] berezovaja šþëtka, t. e. kornevoe utolšþenie jak. Pek. ujurȖai“ – „Birkenmaser (knorriger Auswuchs), d. h. Wurzelverdickung“. Cincius (1975–77): –, < Jak. uáus (TD, Sp. 282/ EEW, Nr. 11809): „[T.] ulus“; Rus. < Turk. „Ulus, Nomadenlager“, < Jak.

95. 96. 97.

Abkürzungen S. M. Širokogorovs:8 A. B. B. K. G. K. L. M. N. N. S. Or. S. T. U. C. X. X. N.

= = = = = = = = = = = = = = =

Reindeer Tungus living in the Eastern part of the Amur Government Birare Birare + Kumare Goldi(sch) Kumare (Manegiren) Lamuten (Lamunchinen) Mankova-Ewenken Nerþinsk-Ewenken Negidal nach Schmidt (Šmits) Oroþisch Schmidt (Šmits) (z. B. Or. S. = Oroþisch nach Schmidt [Šmits]) Lamuten, Mundart (Tumunchanskisch) Urulga nach Castrén Xingan (Chingan-)Tungusen Xingan + Nerþinsk

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–––––––––––––––– 8

Nach DOERFER, Gerhard: 1999, S. 107–116, vornehml. S. 109–111 (vgl. ferner die Karte in Š. [1930] u. die Auflösungen einiger der Abkürzungen bei Š. [1931]); DERS.: 2004; sowie KNÜPPEL, Michael: 2004 u. 2005b.

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Michael Knüppel

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Jakutische Elemente in tungusischen Sprachen

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Baku, die Stadt der toten Dichter. Ein Beitrag zur sowjetischen und postsowjetischen Denkmalpolitik in Aserbaidschan (mit 5 Abb.)* Klaus Kreiser (Bamberg) Marx unterm Halbmond. Das erste sowjetische Denkmal in Baku Reisende, die Baku bald nach der Wiedererrichtung der bolschewistischen Herrschaft im Jahr 1920 aufsuchten, konnten ein Denkmal für Karl Marx am zentralen Parapet-Platz, der amtlich wohl schon Skver im. K. Marksa hieß, schwer übersehen.1 Der deutsche Besucher Colin ROSS hatte es 1922 noch beschrieben, kurz danach wurde die Büste aus Eisenbeton (železobeton) abgenommen:2 Mitten auf dem Parapet, dem Hauptplatz von Baku, thront auf einem Sockel aus Latten und Gips eine mächtige Büste von Karl Marx. Marx ist überall zu Hause, in der ganzen Sowjetföderation; kein bolschewistisches Arbeitszimmer, in dem nicht sein Bild hinge. Aber an diesem Marxdenkmal gehen verschleierte Mohammedanerinnen vorüber; in seinem Schatten spielen braune Tatarenjungen in bunten Kitteln. Über ihn wölbt sich eine Triumphpforte, die ein riesiger Halbmond ziert. Karl Marx unter dem Halbmond ist sicher ein eigenartiger Anblick; er selbst hätte sich zu seinen Lebzeiten das kaum träumen lassen. Aber so fastnachtsmäßig das Ganze auch aussieht, es versinnbildlicht doch ein Problem von weltpolitischer Bedeutung: die Verbindung von Islam und Bolschewismus.

–––––––––––––––– * 1

2

Mein Aufenthalt in Baku im Dezember 1994 wurde durch die Begleitung von Herrn Volker Adam (jetzt Halle) erleichtert und bereichert. ROOS, Colin: Der Weg nach Osten. Reise durch Rußland, Ukraine, Transkaukasien, Persien, Buchara und Turkestan. Leipzig 1923, S. 73–74, 80–82 und BABEROWSKI, Jörg: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus. München 2003, S. 314. Das Werk von BABEROWSKI ist grundlegend für die hier behandelte Epoche. NOVRUZOVA, Džamilja: Monumental’naja skul’ptura Sovetskogo Azerbajdžana. Baku 1960, S. 87. Eine Fotografie der Büste gelangte ins Archiv der CGRUOP der Aserbaidschanischen SSR, wurde aber in keiner der mir bekannten Monographien zur Kunst Aserbaidschans, insbesondere zur Monumentalskulptur der Republik, wiedergegeben.

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Mit der von einem der Gründerväter der aserbaidschanischen Bildhauerschule, Yakob Israileviþ Keiliches (1872–1950) geschaffenen Marx-Büste begann die Dekorierung der Neustadt von Baku mit Denkmälern. Ihre Vorgänger aus der Zarenzeit waren vermutlich schon 1918 beseitigt worden.3 Die ummauerte orientalische Altstadt (krepost’) blieb weiterhin denkmalsfrei. Obwohl die Marx-Büste mit ihrem improvisierten Sockel aus billigem Material an die nach der Oktoberrevolution in Moskau und Petrograd hastig errichteten Standbilder erinnert, kam es außerhalb der beiden russischen Metropolen offensichtlich nur zu einer zaghaften Umsetzung der Leninschen Monumentalpropaganda.4 Lenin hatte 1918 die „umgehende“ Errichtung von 50 Denkmälern herausragender Politiker, Wissenschaftler und Künstler gefordert und ihre Realisierung mit größtem Nachdruck betrieben. Auch nach seinem Tod und den Exzessen des Lenin- und Stalin-Kults geriet dieses Programm nicht in Vergessenheit. Als die Akademie der Künste der SSR im Mai 1952 in einer „Wissenschaftlichen Konferenz“ eine Bilanz der sowjetischen Bildhauerkunst zog, erklärte NIKOLAJ VASILIEVIý TOMSKIJ (1900– 1984) in seinem Beitrag über „Probleme der sowjetischen Monumentalskulptur“ die fortbestehende Gültigkeit des Leninschen Aufgabenkatalogs.5 –––––––––––––––– 3

4

5

FATULLAEV, Š[amil]. S.: Gradostoitel’stvo Baku XIX-naþala XX vekov. Leningrad 1978, S. 157f.: Plan des ýiþianov-Platzes; DERS.: Gradostoitel’stvo architektura Azerbajdžana XIX-naþala XX veka. Leningrad 1986, S. 78: Erwähnung eines Denkmals für den Fürsten ýiþianov, der 1803 an der Spitze russischer Truppen in Baku einmarschiert war. Der nach ihm benannten Platz wurde 1846 „mit einem Denkmalobelisken“ (memorial’nym obeliskom) abgeschlossen. Das ýiþianovDenkmal wurde in sowjetischer Zeit entfernt (GOGITIDZE, Mamuka: Gruzinskij Generalitet . Biografiþeskij Spravoþnik. Kiew 2001, S. 149–150). Äußerst detaillierte und kritische Behandlung durch DRENGENBERG, Hans-Jürgen: Die sowjetische Politik und das Gebiet der bildenden Kunst von 1917 bis 1934. Wiesbaden 1972. Ein anderer Spezialist der sowjetischen Kunstpolitik irrt, wenn er ohne Kenntnis von DRENGENBERGs Monographie schreibt: „Die Liste derer, die beabsichtigten das gemeine sowjetische Volk geistig zu stärken, ist wegen ihrer katholischen, paneuropäischen Perspektive interessant.“ Tatsächlich beschränkte sich die Vertretung von denkmalswürdigen Nicht-Russen auf eine Hand voll Namen wie Garibaldi, Heinrich Heine oder Fréderic Chopin (BOWN, Matthew Cullerne: Kunst unter Stalin, 1924–1956. München 1991, S. 28, Orig. Art under Stalin. Oxford 1991). TOMSKIJ, N[ikolaJ] V[asilieviþ]: Problemy Sovetskoj Monumentalnoj Skul’ptury, in: Voprosy razvitija sovetskoj skulptury. Nauþnaja konferencija 28–30 Maja 1952. Moskva 1953, S. 11–40, S. 12: „Schon der Leninsche Plan einer Monumentalpropaganda formuliert klar die Aufgaben der sowjetischen Monumentalskulptur, er legt sich fest auf die wichtigsten Plätze, auf denen von nun an die Monumentalskulptur bei der Aufklärung der Massen und im Geist der Hingabe an die Ideen des Sozialismus und des Sowjetpatriotismus stattfindet.“ TOMSKIJ erinnert mit einer

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Im folgenden Beitrag soll die Rolle der öffentlichen Standbilder in Nord-Aserbaidschan zwischen 1920 und 1991 skizzenhaft dargestellt werden. An das Material wird vor allem die Frage gerichtet, welche Möglichkeiten der Repräsentation durch Skulpturen für die muslimisch-türkische Titularnation und ihr kulturelles Erbe gegeben waren und welche Folgen die Trennung von Moskau durch die Unabhängigkeitserklärung vom 5. Oktober 1991 für dieses Genre hatte. Bei aller Kürze erlaubt mein Überblick, die wichtigsten Beispiele zu berühren. Er gründet auf der sowjetischen Standardliteratur, die – bei aller Linientreue vor und nach dem Tod Stalins (1953) – eine Fülle von Archivstücken und Zeitschriftenbeiträgen sorgfältig, wenn auch selektiv, verwertet.6 Ich gehe zunächst von den Denkmalstürzen des Umbruchjahrs 1991 aus, um auf den folgenden Seiten dazustellen, warum eine Gruppe von Statuen verschont wurde. In der Folge befasse ich mich mit der staatlichen Denkmalspolitik in der Ära des Parteisekretärs Bagirov (1933–1953), in der die wichtigen Nizâmî-Denkmäler von Kirovabad (Gäncä) und Baku sowie das Literaturmuseum entstanden. Die Ausbildung einheimischer junger Leute zu Malern und Bildhauern ist ein interessanter Aspekt von „Einwurzelung“ (korenizacija), worunter man eine sowjetische Variante von „affirmative action“ verstehen wollte.7 Jüngere Entwicklungen werden im Zusammenhang mit Aufträgen für aserbaidschanische Bildhauer in anderen Sowjetrepubliken und im Ausland gesehen. Im gesamten Zeitraum soll auch das Augenmerk auf die innersowjetische „Bruderschaft der Nationen“ und den grenzüberschreitenden „Internationalismus“ gerichtet werden. ––––––––––––––––

6

7

Auswahl von Namen an das Leninsche Programm: „Marks, Engels, Stepan Razin, Ryleev, Gerzen, ýerniševskij, Radišþev, Robespierre, Puškin, Lermontov, Gogol, Nekrasov, …und viel weitere.“ Als vorbildlich nennt er für Werke des sozialistischen Realismus der Jahre 1935–1940 neben Arbeiten von M. G. Manizer (1891– 1966) und S. D. Merkurov (1881–1951) unter eigenen Werken auch einen Rust’veli (S. 13). Die früheste mir zugängliche Veröffentlichung mit einem Werkverzeichnis der Bildhauer ist TARLANOV, M[ämmädaga] Ä[libaba] und EFENDIEV, R[asim] S. (Hg.): Izobrazitel’noe Iskusstvo Azerbajdžanskoj SSR. Moskva 1957. Es folgen v.a. die zwei in größerem zeitlichem Abstand erschienenen Bücher von Džamilja NOVRUZOVA (vgl. Anm. 2) und Skul’ptura Sovetskogo Azerbajdžana. Baku 1979. Alle drei Werke wurden nach Stalins Tod (1953) gedruckt und enthalten keinerlei Hinweise auf den Diktator, für den von 1938 bis 1941 allein 2647 Statuen bzw. 4096 Büsten gezählt wurden (ZOLOTONOSOV, Michail: Glyptokratos, Issledovanie nemogo diskursa. Anntirovannyj katalog sadovo-parkovoij skul’ptury stalinskogo vremeni. Sankt-Peterburg 1999). MARTIN, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca 2001.

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Denkmalsturz in Baku Ab Ende August 1991 wurden in Baku mehrere Denkmäler sowjetischer Machthaber von ihren Sockeln geholt. Diese Ereignisse gingen der Unabhängigkeitserklärung der Zweiten Aserbaidschanischen Republik vom 18. Oktober und dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom 7. Dezember 1991 voraus. Die Aufständischen hatten am 26. August 1991 beschlossen, die Statuen von Lenin, Sergey M. Kirov (1886–1934), des TschekaGründers Felix Dzeržinski (1877–1926) und des Kommissars Ivan Fioletov (1884–1918) zu stürzen, wenige Tage nachdem in Moskau Dzeržinski (21./22. August) eher behutsam vom Sockel geholt wurde. Völlig zerstört wurden auch die Figuren des Denkmals für die 11. Armee, die 1920 an der Befreiung Bakus von den Gegnern der Bolschewisten beteiligt war.8 Das erste Opfer des Denkmalsturzes war der als Volkstribun dargestellte Lenin vor dem Regierungspalast (eine Arbeit von Džalal Magerram Ogly Karjagdy von 1954). In den ersten Tagen des Jahres 1992 folgte die Bronzestatue von Sergey Kirov, das Hauptwerk von Petr (Pinchos) Sabsay (1883–1980). Kirov war Politbüromitglied und Chef der Leningrader Parteiorganisation. Er wurde angeblich – die Diskussion hält aber an9 – am 1.12. 1934 auf Weisung Stalins umgebracht. Die Statue in Baku war eines von insgesamt 859 Kirov-Standbildern (zu denen noch 80 Büsten gezählt werden müssen), die zwischen 1938 und 1941 in der gesamten Sowjetunion für Kirov errichtet wurden.10 Das überdimensionale Format in Baku erklärt sich aus der Tatsache, daß Kirov die Hauptrolle bei dem Einmarsch der Roten Armee im Jahr 1920 spielte und 1921 von Lenin zum Sekretär der Kommunistischen Partei Aserbaidschans ernannt wurde. Die einst von den meisten Punkten der Stadt aus sichtbare, 26 m hohe Monumentalskulptur11 wurde kurz nach dem Attentat 1935 in Angriff genommen und 1939 fertig gestellt. Sie trug dem Bildhauer Sabsay, einem Russen mit ukrainisch-weißrussischem Hintergrund, 1942 den Stalin-Preis ein.12 Das Denkmal zeigte als Ausdruck von Kirovs Verbindung mit dem einheimischen Proletariat auf dem Sockel Reliefs mit der Darstellung von Erdölarbeitern –––––––––––––––– 8

Abb. bei EFENDøZADE, Rena M: Architektura Sovetskogo Azerbajdžana. Moskva 1986, S. 162 (Zeremoniell mit Schüler- oder Pioniergruppen), S. 312. 9 LENOE, Matt: Did Stalin Kill Kirov and Does it matter, in: Journal of Modern History 74 (2002), S. 352–380. 10 ZOLOTONOSOV (wie Anm. 6). 11 Die Statue hatte 9 m, der Sockel mehr als 16 m Höhe. 12 Bildhauer waren unter den Inhabern des Stalinpreises überproportional vertreten (BAUDIN, Antoine: Le réalisme socialiste soviétique de la période jdanovienne . Les arts plastiques et leurs institutions. Vol. 1, Bern 1997).

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und Bauern bei der Weinlese. Es befand sich im gleichnamigen Park oberhalb der Stadt unweit der um 1994 errichteten neoosmanischen Moschee, einer Stiftung der Republik Türkei. Eine Moschee ersetzte somit ein bolschewikisches Denkmal, so wie in der Sowjetunion Parteibauten über Kirchen entstanden waren. Die Kirov-Statue ihrerseits bedeckte einen Friedhof mit Opfern der Bolschewiken von 1918. Diese symbolische Trennung von der sowjetischen Vergangenheit hatte etwas Typisches und damit Voraussagbares. Der Ablauf entsprach in vielen Elementen anderen nichtrussischen Schauplätzen der von M. S. Gorbaþëv ausgelösten Umbruchzeit. Das ist ebenso wenig verwunderlich wie die Schonung zahlreicher Standbilder, die in sowjetischer Zeit für fortschrittliche Repräsentanten der Titularnationen errichtet wurden. Michail YAMBOLSKI versuchte in einem 1995 entstandenen Artikel zu zeigen, daß sich die großen Denkmäler der sowjetischen Periode auf Grund ihres kolossalen Charakters und einer Art mystischen, sie umgebenden Schutzzone von solchen im Rest der Welt unterscheiden. Ich möchte nicht so weit gehen, aber durchaus betonen, daß in der Sowjetunion den öffentlichen Standbildern eine viel größere „didaktische“ Wirkung beigemessen wurde als im Westen, wo man das „Ende des Denkmals“ Anfang des 20. Jahrhunderts weithin verkündete. Am 1. Mai 1920 hielt Lenin eine Rede bei der Einweihung zu einem Karl-Marx-Denkmal in Moskau, in der er seine Überzeugung äußerte, „daß das Denkmal, das wir unserem großen Lehrer errichten werden, stets daran gemahnen wird, daß es beharrlicher Arbeit bedarf, um die Gesellschaft zu errichten, in der es keine Ausbeutung mehr gibt.“13 Man erhoffte sich, daß solche Denkmäler zu Wallfahrtsstätten neuer Art für Exkursionsteilnehmer und Schüler würden.14Meine Frage an das aserbaidschanische Material ist – bei aller Anerkennung der überstarken Vorbildhaftigkeit des sowjetischen Modells – nach den Besonderheiten der „Statuomanie“15 an den islamischen Rändern der Sowjetmacht. Die Machthaber in Moskau und Baku befanden sich dabei stets in einem Spannungsfeld zwischen den Konzepten einer gesamtsowjetischen Leitkul–––––––––––––––– 13 Über die angestrebte „Lehrhaftigkeit“ von Skulpturen in Kulturparks KUCHER, Katharina: Der Moskauer Kultur- und Erholungspark. Formen von Öffentlichkeit im Stalinismus der dreißiger Jahre, in: RITTERSPORN, Gábor T. & ROLF, Malte & BEHRENS, Jan C. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen parteistaatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Frankfurt a. M. 2002, S. 97–129. 14 Anatolij LUNARýARSKIJ (1875–1933), Volkskommissar für Bildung, nach DRENGENBERG (wie Anm. 4), S. 202. 15 AGULHON,Maurice: La statuomanie et l’Histoire, in: Ethnologie Française (1978), S. 145–172.

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tur und der lokaler Nationalkultur.16 Das sowjetische Programm bestand nicht allein aus der Formel Marx+Lenin+Puškin, sondern schloß auch Größen der nicht-russischen Sowjetvölker ein. Dabei war es nicht immer leicht, eine aserbaidschanische Nationalkultur von einem iranisch-türkisch geprägten islamischen Erbe abzugrenzen. Aserbaidschan spielte bekanntlich bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums eine beachtliche Sonderrolle als „Schule für den Orient“17 im Rahmen der bildenden Künste, auf die am Ende dieses Artikels kurz einzugehen sein wird. Es muß aber auch festgehalten werden, daß der Blick über den Eisernen Vorhang, der das sowjetische Aserbaidschan von Iran und der Türkei trennte, im Falle der Denkmalspolitik nicht allzu erkenntnisfördernd ist. Zu unterschiedlich sind die Entstehungsbedingungen hüben und drüben, um mehr als oberflächliche Vergleiche zu erlauben.18 Bei einem Stadtgang in Baku19 zeigt sich, daß nicht wenige der erhaltenen Denkmäler aus sowjetischer Zeit Persönlichkeiten, die bereits vor der Oktoberrevolution „blühten“, gewidmet sind. So gut wie alle durch ein Denkmal Geehrten waren Künstler und Intellektuelle – Dichter, Publizisten, Komponisten.20 Wir haben es zu einem Teil mit den dschadidistischen Reformern zu tun, die als Vertreter der sogenannten aserbaidschanischen „Frühaufklärung“ gelten und beim Fehlen eines muslimischen Proletariats nolens volens zu Hauptfiguren des aserbaidschanischen Pantheons wurden. Man wird sich aber hüten, jede Äußerung der parteiamtlichen Denkmalspolitik als Ausfluß der schon zitierten „Einwurzelung“ zu sehen. Das Ziel der korenizacija, die zwischen 1923 und 1930 als Doktrin galt, war es, die Beteiligung der nichtrussischen Völker am Aufbau des Sozialismus zu –––––––––––––––– 16 ADAMS, Laura Lee: Celebrating Independence: Art, Institutions, and Identity in Uzbekistan. Diss. Univ. of California, Berkeley 1999. 17 BABEROWSKI (wie Anm. 1), S. 314 nach einem Brief Närimanovs vom Februar 1925. 18 Selbstverständlich gibt es auch Gemeinsamkeiten. So gingen auch in der osmanischen Türkei und in Ägypten einheimische Bildhauer bei Ausländern in die Lehre. 19 Stadtplan mit Eintragung einiger Monumente als Beilage zu GELLERT, Johannes F.: Baku – historisch-geographische Entwicklung und Struktur, in: Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht“ Potsdam. Wissenschaftliche Zeitschrift 20 (1976), S. 347–361. 20 Die Pantheonisierung der Helden wurde in sowjetischen Städten ergänzt durch Straßen und Plätze bzw. kulturelle Einrichtungen, die die Namen der Führer und Dichter fortgesetzt ins Gedächtnis riefen. Wenn die aserbaidschanische Metropole heute auf den Besucher den Eindruck einer besonders denkmalreichen Stadt macht, liegt das aber weniger an der Zahl der Denkmäler als an ihrer Konzentration am Rande der Altstadt des 19. Jahrhunderts. Die denkmalgeschützte mittelalterliche Innenstadt hat meines Wissens bis heute keine öffentlichen Skulpturen.

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stimulieren.21 Natürlich sahen die Propagandisten nicht voraus, daß aus Titularnationen eines Tages autonome Mitglieder der Völkergemeinschaft werden konnten und sich die Ergebnisse der Einwurzelung in einer ironischen Dialektik gegen die Kolonialisten wenden würden.22

Wer blieb auf dem Sockel? Der Bakuer Denkmalsturz von 1991 war selektiv. Unangetastet blieben die Denkmäler von drei wichtigen Politikern bzw. Militärs der sowjetischen Periode und die Architektur der Gedenkstätte für die 26 Kommissare.23 Das einleuchtendste Beispiel für eine Verschonung ist das Standbild von Näriman Närimanov (1871–1925), der noch 1920 den „Gleichklang von Islam und Kommunismus“ auf dem II. Parteitag der Aserbaidschanischen KP verkündet hatte: „In Baku präsentierte sich Närimanov der Öffentlichkeit als paternalistischer Diktator und Schutzpatron der muslimischen Bauern.“24 Aber schon 1922 wurde er als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Aserbaidschanischen SSR abgesetzt und in ein formal höheres Amt nach Tiflis „befördert“, das ohne größeren Einfluß auf die Dinge in seiner Heimat war. Sein plötzlicher Tod in Moskau bewahrte ihn vor den Konsequenzen seiner revisionistischen, nicht klar für die Diktatur des Proletariats eintretenden Haltung. Unter dem paranoiden Parteichef Džafar Bagirov wurde der frühere „Lenin des Ostens“ noch postum in den 1930er Jahren „in den Kreis der Volksfeinde aufgenommen“.25 Die Formel Narimanovšþina für seine Art von Sonderweg in den frühen 1920er Jahre hatte ausgedient.26 Da offizielle Denkmalprojekte, mithin Auftragskunst, untrügliche Zeichen für die Rehabilitierung eines Verfemten sind, kann man das Jahr 1959, in dem der Entwurf (proekt) für ein NärimanovStandbild entstand, als Zeitpunkt für seine Eingliederung in das sowjet-

–––––––––––––––– 21 BABEROWSKI (wie Anm. 1), S. 314. 22 REINHARD, Wolfgang: Geschichte der europäischen Expansion. Stuttgart 1983– 1990, Bd. 4, S. 204–205. 23 Etwas mißverständlich ist deshalb der Satz: “The monument that was raised over their grave at the time was destroyed following the 1991 declaration of independence.” in: SWIETOCHOWSKI, Tadeusz & COLLINS, Brian C.: Historical Dictionary of Azerbaijan. Lanham 1999, S. 33. 24 BABEROWSKI (wie Anm. 1), S. 273. 25 BABEROWSKI (wie Anm. 1), S. 814: „Denkmäler und Tafeln, die an sie erinnerten, wurden entfernt, ihre Schriften aus den Bibliotheken entfernt.“ 26 BABEROWSKI (wie Anm. 1), S. 312–313.

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aserbaidschanische Pantheon ansehen.27 In Baku erzählte man sich, daß für Närimanovs Denkmal eine größere Höhe als für Kirov vorgesehen war, was aber die Moskauer Machthaber zu verhindern gewußt hätten.28 Die Integration des islamisch geprägten „Nationalkommunisten“ Närimanov in die Zweite Republik wurde auch dadurch erleichtert, daß er als Dramatiker und Romancier unbestritten in den Kreis der einheimischen Geistesgrößen gehört. Schon 1971 erschienen seine Werke in einer Ausgabe der Staatsdruckerei in arabischer Schrift.29 Nicht allzu überraschend ist auch die Verschonung des Monuments für den Generalmajor der Panzertruppe Häzi (Azi) Aslanov (1910–1945), der im Jahre 1948 unweit des ehemaligen Kirov-Denkmals ein Ehrengrab erhielt. Ein turmartiges Bauwerk wird von dem fünfstrahligen Stern, den die Helden der Sowjetunion trugen, gekrönt. Die Büste des Generals befindet sich unter einer orientalisierenden Spitzbogennische.30 Das Architekturdetail Spitzbogen wurde wie andere „nationale“ Akzessorien im sowjetischen Orient (Stalaktitfriese, ornamentale Gitter/úäbäkä und Mosaikpaneele, Ehrenteppiche, orientalisierende kyrillische Schrift) bevorzugt, aber nicht ausschließlich31 bei einheimischen Heroen des Geistes oder des Schwerts eingesetzt.32

–––––––––––––––– 27 NOVRUZOVA (wie Anm. 2), ungez. Taf. mit Gipsentwurf von M. Mirkasimov; DIES.: Ibragim Zejnalov. Skulptura. Baku 1981, S. 12 zu einer Büste (1970) und einem Standbild (1971). 28 Interview des Verfassers 18. 12. 1994. – SWIETOCHOWSKI, Tadeusz hat ähnliche Auskünfte erhalten, wenn er (ohne Quellenangabe) schreibt: „A giant statue of him would be erected on the hill overlooking Baku, his outstretched hand pointing north, and his quotation invoking friendship with Russia was carved in stone.“ (Russia and Azerbaijan: A Borderland in Transition. New York 1995, S. 175). 29 NÄRIMANOV, Närimän: Äsärlär. Ed. Hämid MÄMMÄDZADÄ, Baku 1971. Der fünfspaltige Artikel der Azärbajdžan Sovet Ensiklopedijasy Bd. 7 (Baku 1983), S. 226– 228 ist unergiebig. Für seine Rehabilitation im Jahr der Unabhängigkeit vgl. ÄHMÄDOV, Timur: Närimän Närimanov jaradygylyg jolu. Baku 1991. 30 Azärbaydžan Sovet Ensiklopedijasy Bd. 1 (Baku 1976), S. 437 [a]. – Ein undatiertes proekt verzichtete hingegen auf alle orientalischen Zitate (Abb. 54 bei Useynov wie Anm. 51). Falls es für Baku bestimmt war, würde es einen klaren Beleg für die Bevorzugung „nationaler Stilformen“ bilden. 31 Lenins Rednertribüne vor dem Regierungspalast in Baku. 32 Das ließe sich auch in anderen orientalischen Republiken zeigen. Die „dekorativangewandte Kunst“ bildete in diesen Räumen das eigentliche Einfallstor für Zitate aus dem orientalischen Formenschatz. Vgl. dazu mit Abbildungen TARLANOV, MÄMÄDÄGA Älibaba Oglu: Dekorativno-prikladnoe Iskusstvo Sovetskogo Azerbajdžana. Baku 1968.

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Abb. 1: Grabdenkmal von General Häzi Aslanov (Baku 1948), Foto: E.Gurbanova

Die zentrale Gedenkstätte Bakus war bis 1991 den sogenannten 26 Kommissaren gewidmet. Diese „transkaukasischen Revolutionäre“ wurden am 20. September 1918 nach dem Zusammenbruch der Sowjetmacht in Baku (in Stalins Worten) von dem englischen Hauptmann Tighe-Jones und „seinen sozialrevolutionär-menschewistischen Kumpanen“ auf dem Weg von

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Krasnovodsk (Turkmenistan) nach Ašchabad bestialisch ermordet.33 Ihr Gemeinschaftsgrab wurde 1991 nicht in ihrer architektonischen Substanz beschädigt. Beseitigt wurden jedoch die großen Reliefplatten mit den Köpfen von vier Kommissaren. In der sowjetischen Periode wurden die 26 Kommissare von allen offiziellen Besuchern mit Kranzniederlegungen geehrt. Heute drückt sich die Vernachlässigung der großen Anlage nicht zuletzt durch das Erlöschen eines „ewigen Lichts“ aus.34 Der erste, schlicht ausgeführte Gedenkbau war schon 1923 entstanden. In seinem Mittelpunkt stand die Plastik eines Arbeiters, ein Werk der Bildhauerin Elizaveta Rodnonova Tripol’skya (1881–1956).35 Die Stellvertreterschaft der Figur mit nacktem Oberkörper, eine geballte Faust reckend, für alle zu Tode gekommenen Genossen wurde durch eine große 26 deutlich gemacht. Weitere Veränderungen erfolgten 1958 und 1968. Die Große Sowjetenzyklopädie nennt die letzte Ausbaustufe Pantheon.36 Die 26 Kommissare blieben keine lokalen Märtyrer. Die Inszenierung ihres Kults in Literatur, Kinematographie und Kunst wurde zum gesamtsowjetischen Programm, das auch auf den internationalen Kommunismus ausstrahlte.37 Als wichtigster Repräsentant der Gruppe wurde der Armenier Stefan Šaumanian herausgestellt. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß höchstens drei Muslime in der Gruppe waren: Mir Hasan Vezirov, ein linkssozialer Revolutionär und damaliger Kommissar für Landwirtschaft, ein Mir BasÕn und Aziz Azizbekov.38 Der Kommissar Azizbekov (1876– 1918) erhielt 1977 in der Stadt noch eine größere Statue, die das Jahr 1991 unbeschädigt überstand. Es läßt sich also klar sagen, daß die Denkmalstürzer nicht eine vollständige Entsorgung der sowjetischen Vergangenheit –––––––––––––––– 33 Nach Isvestija Nr. 85 (23. April 1919), in STALINs Werken Bd. 4; BakÕ KommissarlarÕ, in: Azärbaydžan Sovet Ensiklopedijasy Bd. 1 (Baku 1976), S. 561[c]–562 [a]. 34 Heute ist die ùahidlär XiabanÕ, ein Friedhof für die Märtyrer der Massaker vom 20. Januar 1990, offizielle Gedenkstätte. Daneben besteht der Ehrenfriedhof mit zahlreichen, oft qualitätsvollen Grabmonumenten, aus sowjetischer Zeit weiter. 35 Die Künstlerin hatte im vorrevolutionären Petersburg und in Paris u.a. bei dem lettisch-russischen Schüler und Mitarbeiter Rodins Naoum Aronson (1872–1943) studiert. 36 NOVRUZOVA (vgl. Anm. 2), hier wird die Neuanlage memorial genannt. 37 BOWN, (vgl. Anm. 4), Abb. 25; Isaak Israeleviþ Brodskiys (1884–1939) Gemälde im Lenin-Museum von Baku. Der Maler war einer der Mitbegründer des Leninkults. 38 Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija, Moskva³ 1970, Bd. 2, S. 1602; Azärbajdžan Sovet Ensiklopedijasy, Baku 1976, Bd. 1, S. 561; SUNY, Ronald Grigor: The Baku Commune, 1917–1918. Class and Nationality in the Russian Revolution. Princeton 1972; DERS.: Baku Commissars, in: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History. O. Ort. Bd. 3 (1977), S. 17–19.

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zum Ziel hatten, sondern allein die selektive Beseitigung aller nichtaserbaidschanischen Repräsentanten derselben. Das unterscheidet Aserbaidschan von der fast vollständigen „Abwicklung“ der sowjetischen Denkmallandschaft in osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Polen.

Nie eingeweiht, nie gestürzt: Räsulzadä Die jüngere Entwicklung zeigt aber, daß das gegenwärtige postkommunistische Regime Haydar Alievs und seines Sohns und Nachfolgers ølham (seit 2003) zwar die Rechtsnachfolge der ersten unabhängigen Republik mit Hymne, Flagge und Wappen beansprucht, aber mit der wichtigsten Figur des ersten aserbaidschanischen Staates, Mämmäd Ämin Räsulzadä (1884–1955), einen mehr als distanzierten Umgang pflegt. In Baku muß man zwangsläufig fragen, welcher Gedächtnisort für die gegenwärtige Zweite Aserbaidschanische Republik besonders wichtig sein könnte. In die engere Wahl käme ein Denkmal für diesen Gründervater des ersten unabhängigen Aserbaidschan. Der im türkischen Exil verstorbene Räsulzadä sollte schon mit einer 1995 vollendeten Monumentalstatue des Altmeisters Omar Eldarov geehrt werden. Sie wurde bis Ende 2005 in Baku nicht aufgestellt. Hingegen soll in Räsulzadäs Geburtsort Novchani ein kleines Denkmal existieren. In den letzten Jahren wird er, so berichtet man, immer stärker aus der sichtbaren Präsenz verdrängt. Die 1000-Manat-Banknoten mit seinem Bild sind nicht mehr im Umlauf. Die Gesamtausgabe von Räsulzadäs Werken, die der Staatsverlag 1991 mit einer sehr hohen Auflage in Angriff nahm, ist nicht weitergeführt worden. Der zweite Band wurde von einem Privatverlag in bescheidenster Stückzahl herausgegeben.39 Das gegenwärtige postkommunistische Regime billigte den Sturz der KirovStatue. Es überantwortete einerseits die Gedenkstätte der 26 Kommissare keiner vollständigen Einebnung, andererseits versucht es, Räsulzadä sanft aus dem öffentlichen Gedächtnis zu verdrängen. Womit die Frage nach einem repräsentativen staatlichen Gedenkort offen gehalten wird. Siegesdenkmäler kommen für Aserbaidschan, das sich bis heute der armenischen Besetzung von Karabagh nicht erwehren kann, nicht in Frage. Auch eine Art Verfassungssäule bietet sich angesichts des autoritär-patriarchischen Führungsstils der Alievs nicht an. –––––––––––––––– 39 RÄSULZADÄ, MÄMMÄD ÄMIN: Äsärlär, Cild 1: 1903–1909. Baki: Azärbaycan Dövlät Näúriyyati: 1992, –469 S.: Ill. Der zweite Band hat eine geringe Auflage von 500 Exemplaren und erschien nicht mehr im staatlichen Verlag: (Cild 2: 1909– 1914. Baki: ùirvannäúr, 2001, –526 S.: Ill). Freundliche Mitteilungen von Dr. Volker Adam (Halle).

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Die Herkunft und Ausbildung der Skulpteure Vor einer Behandlung der „Denkmäler für Heroen des Geistes“ als der wichtigsten Gruppe von Statuen im öffentlichen Raum von Baku soll festgehalten werden, daß nahezu alle in Frage kommenden aserbaidschanischen Bildhauer der Epoche ihr Studien in Leningrad40, Moskau oder Tiflis abgeschlossen hatten. Der prominente Ibragim Zeynalov ist ausnahmsweise Absolvent der Kunstschule von Charkow (1962). In Baku selbst waren auch nach Keiliches eine Anzahl russischer Künstler als Lehrer tätig. NOVRUZOVA hebt ihre Beiträge zur Förderung der aserbaidschanischen Kunst stets pflichtschuldig hervor.41 Bekanntere Künstler aus Moskau oder Leningrad waren unter den entsandten Kräften selten. Der prominenteste Bildhauer, der vorübergehend in Baku wirkte, war wohl Sergej D. Merkurov (1881–1952). Er stammte aus dem Kaukasus, hatte in München studiert und konnte eine erste große 1911 entstandene Statue für Dostojewski nach der Oktoberrevolution in Petrograd aufstellen. Seine Stalin-Figuren in Moskau und Erivan wurden 1939 und 1951 mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet.42. An der 1920 in Baku gegründeten Kunstakademie43 bestand im Jahr 1926 bereits eine (allerdings statistisch verdächtige) Mehrheit von 51% einheimischen Studenten. Es dauerte aber noch lange, bis diese nationalen Kader Aufträge für öffentliche Denkmäler erhielten. Selbst wenn dieser Prozentsatz zutreffen sollte, war der Anteil von Türken noch um einiges niedriger als im Durchschnitt aller Universitätsfächer.44 Die erste Absolventin im Fach Bildhauerei war eine 1929 in Baku geborene Minaver Medžid Kyzy Rzajeva. Auch sie erwarb ihr Diplom in Moskau (1956).45 Aufträge für Denkmäler hat sie offensichtlich nicht erhalten. –––––––––––––––– 40 Die Kurzbiographien bei NOVRUZOVA enthalten genaue Angaben über Studienzeit und Studienabschluß an den Hochschulen in Moskau und Leningrad. Die meisten Aserbaidschaner studierten nach 1944, als die Akademie in Leningrad den Namenszusatz Repin führte: Institut živopisi, skulptury i architektury im. E. Repina. 41 Wie Anm. 2, S. 46. 42 Später war Merkurov Direktor des Puškin-Museums. 43 Die Aserbaidschanische Staatliche Kunstschule (AGXY) wechselte mehrfach den Namen. Seit 1943 führte sie den Zusatz Azim Azimzadä (1880–1943) nach dem sehr bekannten Maler sozialkritischer Sujets. Wegen seines Engagements gegen alles „Rückschrittliche“ wird Azimzadä gerne mit dem Dichter Sâbir verglichen. 44 SWIETOCHOWSKI (wie Anm. 28), S. 112 nennt „by 1930“ einen Prozentsatz von 70% an der Universität eingeschriebenen Azeris. 45 GABIBOV, N. & GADŽIEV, P. & MIKLAŠEVSKAJA, N. & NOVRUZOVA, D.: Oþerki Izobrazitel’nogo Iskusstva Sovetskogo Azerbajdžana. Živopis’, skulptura, grafika. Baku 1960, S. 47.

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Die Werkchroniken enthalten vor allem für die Zeit bis zum Ende des Krieges mehrere Jahre (1921, 1923–1927, 1929–1933, 1934–1937, 1942, 1945), in denen in Aserbaidschan weder Denkmalsprojekte noch Ausführungen registriert wurden. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß diese Übersichten gründlich „entstalinisiert“ wurden. NOVRUZOVA stellte in ihrem 1979 veröffentlichten Verzeichnis insgesamt 52 aserbaidschanische Bildhauer zusammen. Eine weitere Zusammenstellung von sämtlichen hauptamtlich tätigen bildenden Künstlern aus dem Jahre 1978 zeigt, daß bis ans Ende der Ära Breschnew der Anteil der Personen, die keinen muslimischen Namen führten, auf bedeutungslose ein oder zwei Prozent gefallen war.46 Damit war schon mehr als ein Jahrzehnt vor dem Zerfall der Sowjetunion eine vollständige Beherrschung des Kunstbetriebs durch Aserbaidschaner erreicht.

Mobilisierung der nationalen Kultur Bei einer zeitlichen Ordnung des Materials wird sichtbar, daß mit den Arbeiten für die beiden Nizâmî-Statuen in Kirovabad und Baku und dem Literaturmuseum in der Hauptstadt nach dem oben geschilderten zaghaften Anfang mit Marx ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Fast ausschließlich waren es seit den späten 1930er Jahren aserbaidschanische Künstler, die mit Aufträgen für Skulpturen bedacht werden. Unter ihren Werken befanden sich allerdings nur wenige Denkmäler. Eine zweite Phase begünstigte nach dem Ausbruch des Krieges einheimische Themen gegenüber gesamtsowjetischen Inhalten. In der historischen Literatur spricht man übereinstimmend von „kulturellen Konzessionen“, die Moskau nach 1941 zu machen gezwungen war. Man habe sich an die Rekonstruktion einer „heroischen Nationalliteratur“ gemacht, die nach dem Kriege (wenn man ALTSTADT folgt) unter Bagirov wieder in ihr Gegenteil umgeschlagen sei. Die Feinchronologie der Bakuer Denkmäler führt zu einem leicht abweichenden Bild. Die repräsentativen Dichterdenkmäler wurden schon vor 1941 in Angriff genommen, gleichzeitig war aber mit der Herausstellung lokaler Größen kein Abrücken von der Multiethnizität der Räterepublik verbunden. Die zu Aserbaidschanern ernannten „Tataren“ des Kaukasus konnten sich nur sehr allmählich an das moderne Konzept „Nation“ (millet) gewöhnen. Für die nur wenig ins 19. Jahrhundert hinabreichende Suche nach einer aserbaidschanischen Identität sind deshalb die Dichter, ihre Sprache und ihre Werke von herausragender Bedeutung. –––––––––––––––– 46 Izobrazitel'noe Iskusstvo Azerbajdžanskoj SSR. Moskva 1978, ungez. S.

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Der erste Autor, dem in Baku ein Denkmal gesetzt wurde, war der in sowjetischer Diktion als „Poet und Demokrat“ bezeichnete Satiriker Mirza Äläkbar Tahirzade Sâbir (1862–1911). Am 28. April 1922 wurde seine lebensgroße, stehende Figur, anläßlich der Begehung des 2. Jahrestags der Sowjetmacht in Aserbaidschan aufgestellt. Es war nach Marx das zweite Denkmal in Baku. Sâbirs Skulptur ist ein Werk des schon erwähnten Bildhauers J. I. Keiliches. Abb. 2: Yakob Israileviþ Keiliches (1872–1950), Sâbir-Denkmal, Eisenbeton und Zement (Baku 1922)

Der Künstler war jüdischer „Nationalität“, hatte u.a. in Florenz studiert und war erst seit 1908 in Baku ansässig. Er bildete einen Teil der einheimischen Skulpteure aus, die nach Studienaufenthalten in Leningrad und Moskau ihre Aufträge im Stalinismus und im Poststalinismus erhielten. Sâbir hatte sich weit über die Grenzen des russischen Kaukasus durch seine gesellschafts- und religionskritischen Beiträge für die in Tiflis herausgegebene Satirezeitschrift Molla Nasräddin einen Namen gemacht. Seine satirischen Verse aus den Jahren 1903–1911 erschienen 1912 postum u.d.T. Hophopname und wurden 1914 und 1922 (im Jahr der Denkmaleinweihung) erneut gedruckt. Das Ansehen Sâbirs und seiner Schüler blieb über die Umbrüche des 20. Jahrhunderts intakt. Gleicherweise geschätzt blieb er als „geistiger Aufklärer der großen Volksmassen“ innerhalb der Sowjetunion, in Iran, der Türkei und inzwischen auch im europäischen

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Exil.47 Mit einem bemerkenswerten Gedicht unter dem Titel „Zwischen den Volksgruppen“ (Beynelmilel) rief er Armenier und Türken nach Ausbruch der blutiger Auseinandersetzungen im Jahr 1905 zum Frieden auf. Allein dadurch qualifizierte er sich als Repräsentant eines multiethnischen Sowjet-Aserbaidschan. Keiliches schuf vermutlich das erste figurative Denkmal für eine nicht fürstliche Persönlichkeit im islamischen Orient. Ungeachtet dessen wurde 1958 sein Werk mitsamt dem Sockel durch einen sitzenden Sâbir des einheimischen Bildhauers Džalal Karjagdy ersetzt. Auf die Gründe dieses Austausches geht die Kunsthistorikerin NOVRUZOVA in einem Buchbeitrag von 1960 recht ausführlich ein.48 Sie kritisiert, die Statue wirke trocken in den Formen, die Proportionen von Figur (1,7 m) und Sockel (3,6 m) seien mißglückt. Der Kern der Kritik befaßt sich mit dem orientalisierenden Unterbau, den der Architekt Ja. Syryšþev entworfen hatte: „Die Sockellösung widerspiegelt eine bestimmte Periode in der Entwicklung der aserbaidschanisch-sowjetischen Architektur, als die Architektur vorzugsweise versuchte, Formen der nationalen Baukunst anzuwenden, und mechanische Übertragung von ihr in ihre eigenen Werke vornahm und das sogar unter jüngsten und vollkommen neuen Bedingungen...“ Damit spricht sie das Dilemma an, realistisch aufgefaßte Figuren mit orientalisierenden, stets als „national“ angesprochenen, Beiwerk zu versehen. Auch wenn der Sâbir von 1922 ausgetauscht werden mußte, ein Anfang war gemacht. Baku und andere Städte und einige Dörfer durften sich auf Denkmäler einheimischer Größen freuen, zu denen voraussagbar neben Marx, Lenin, Stalin und Kirov zahlreiche Erdölarbeiter und Kolchosbauern stießen. Für den bevorstehenden 800. Geburtstag des zum aserbaidschanischen Klassiker erklärten Nizâmî (1141–1204) wurde kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine monumentale, 6,5 m hohe Statue in Auftrag gegeben, die erst 1949 enthüllt werden konnte. Ihr Schöpfer war Fuad Abdurahmanov Gasan Ogly (1915–1971), der zwischen 1936 und 1940 in Leningrad ausgebildet worden war. An der Verzögerung der Aufstellung mag der Krieg die Hauptschuld getragen haben. Zuvor (1947–1948) war auch schon im Zentrum von Gäncä (damals Kirovabad), der Heimat des großen Mannes, ebenfalls ein Denkmal enthüllt worden. Es war – wie eine sowjetische Enzyklopädie schreibt – dem „aserbaidschanischen Dichter und Humanisten“ und seinem „Kampf gegen religiösen und feudalen Despotismus“ gewidmet.49 –––––––––––––––– 47 CAFEROöLU, Ahmet: Die aserbaidschanische Literatur, in Philologiae Turcicae Fundamenta. Bd. 2, Wiesbaden 1965, S. 680. 48 Gabibov (wie Anm. 47). 49 Wie Anm. 46.

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Es bleibt zu prüfen, ab wann Nizâmî vom „Dichter des Orients“ zum Klassiker einer Titularnation mutierte. Dabei ist es nicht ohne Delikatesse, daß er in den mehrsprachigen Zusammenfassungen eines russischen Werks über Baku als „great poet of the East“ bzw. „grand poète de l’Orient“ vorgestellt wird, während der aserbaidschanische Text nicht so weit greifend vom „genialen Dichter Aserbaidschans“ (AzerbaijanÕn dahi ºairi) spricht. Für den Leser in allen vier Sprachen bleibt hier offen, ob Nizâmî der ganzen Menschheit gehört, dem Orient oder eben nur den Aserbaidschanern. Daß Nizâmî „die mit Abstand großartigste Erscheinung unter den persischen Epikern [ist], die romantische Stoffe gestaltet haben“50, bleibt ganz unabhängig von den sowjetischen Bewertungen festzuhalten. An der Vorbereitung des Nizâmî-Jubiläums im Jahr 1941 nahmen angeblich alle Nationen der Sowjetunion teil. Am nichtöffentlichen Wettbewerb (v zakrytom konkurse) für ein Porträt des Dichters beteiligten sich russische, aserbaidschanische, armenische, georgische und turkmenische Künstler. In „völliger Harmonie“ verzichtete die Jury auf die Vergabe des ersten Preises, der zweite Preis ging an die Leningrader Künstler M. K. Anikušin und V. Petrov, der dritte an den Armenier Koþarjan (Ervand Koþar, 1899–1979). Den Preis für das Denkmal in Kirovabad erhielt der 25jährige Fuad Abdurahmanov. In der Begründung heißt es: „Zur Entwicklung der nationalen Kunst Aserbaidschans haben die Partei und die So-wjetregierung wie die schöpferische Leistung der russisch-sowjetisch-en Kunst beigetragen, national in der Form, sozialistisch im Inhalt“ (nacional’nogo po for-me, socialistiþeskogo po soderžanju).51 Abdurah-manov durfte, wie erwähnt, in der Folge noch das große Dichter-denkmal in Baku gestal-ten. Neben der süßlich nazarenischen Auffas-sung fällt auf, daß beide Nizâmîs ohne Turban dargestellt sind, was ihre Christusähnlichkeit in bemerkenswerter Art und Weise verstärkt.52

–––––––––––––––– 50 BÜRGEL, Johannes Christoph: Ni਌ƗmƯ, in: HEINRICHS, Wolfhard (Hg.): Orientalisches Mittelalter. Wiesbaden 1990, S. 306 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 5). 51 NOVRUZOVA (vgl. Anm. 2), S. 40. – Der über Jahrzehnte das Bauwesen Aserbaidschans prägende Mikail Useynov (geb. 1905), der auch die Sockel zahlreicher Statuen gestaltete, postulierte sinngemäß: „Mä’marlygda milli forma Azärbajdžan mä’marlygnyn sosialst mäzmunun ayrylmaz“ (MAMMÄD-ZADE, Kamil M Narodn’yi Architektor SSSR, Mikael’ Useynov. Baku 1989, S. 321 in der aserbaidschanischen Zusammenfassung der russischen Monographie). 52 Man vgl. die zahlreichen Christusdarstellungen in der russischen Kunst des 19. Jahrhunderts.

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Abb. 3: Fuad Abdurahmanov Gasan Ogly (1915–1971), Nizâmî-Denkmal (Baku 1939/1949).

Zu den Nizâmî-Statuen in Kirovabad und Baku kommt noch die Restaurierung der überhohen Türbe an Nizâmîs Geburtsort, die an die iranische Übung erinnert, großen Männern ein nichtfiguratives Denkmal (wie für Avicenna in Hamadan) zu setzen. In unserem Zusammenhang ist es von Interesse, daß sich schon zu Beginn des 19. Jahrhundert eine Gruppe von Förderern für die Restaurierung des Mausoleums zusammenfand.53 Somit –––––––––––––––– 53 AUCH, Eva-Maria: Muslim – Untertan – Bürger: Identitätswandel in gesellschaftlichen Transformationsprozessen der muslimischen Ostprovinzen Südkaukasiens

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überspannt der Nizâmî-Kult ein ganzes Jahrhundert vom der späten Zarenperiode bis zum Postkommunismus. Der „Große Vaterländische Krieg“ hatte an der Peripherie geringere, aber doch noch spürbare künstlerische Auswirkungen. Während in Rußland historische Gegenstände wie die Befreiung vom „Tatarenjoch“ illustriert wurden, hat man in Aserbaidschan oghusische Heroen und andere türkischer Ahnen, wenn auch nicht als Standbilder, so doch in Form von Flachreliefs und Ölgemälden ins Programm genommen.54 „Runde“ Dichtergeburtstage wurden allerdings auch in nachstalinistischer Zeit in den Dienst einer kleinen auswärtigen Kulturpolitik Aserbaidschans gestellt. Zum 600jährigen Geburtsjahr des heterodoxen Dichters Nesîmî (1373– 1417/8) im Jahr 1973 reiste eine Delegation türkischer Schriftsteller nach Baku und berichtete nach ihrer Rückkehr in der für die 1970er Jahr kennzeichnenden Sowjetgläubigkeit vieler linker Intellektueller von dem Aufenthalt.55 Die ausländischen Delegationen besuchten den Geburtsort Šamah, an dem eine Statue des Dichters errichtet werden sollte. Ein weiterer Fall, bei der ein Geburtsjubiläum für den Bau des Denkmals eines Nationalheroen gewählt wurde, war der des persischen Dichters Rudâkî (858?–941) in Stalinabad (heute wieder Dušanbe) im Jahr 1941.56 Den Nizâmî- und Rudâkî-Jubiläen war 1937 die Feier zur Begehung des hundertsten Todestages von Puškin vorausgegangen. Die Puškin-Feier hat ganz offensichtlich auf die nicht-russischen Republiken modellhaft eingewirkt. In der Literatur bin ich allerdings nur auf eine 1937 in Aserbaidschan entstandene Büste des Dichters gestoßen.57 Im Puškin-Jahr 1937 wurde zufällig in Tiflis auch der georgische Nationaldichter Šota Rust’veli anläßlich seines 750. Geburtstag mit einem Denkmal gefeiert.58 ––––––––––––––––

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(Ende 18. – Anfang 20. Jh.); ein Beitrag zur vergleichenden Nationalismusforschung. Wiesbaden 2004 , S. 657 (Tabelle zum Mäzenatentum). In Elizavetpol (Gäncä, dem sowjetischen Kirovabad) übernahm Ch. Refibekov die Leitung einer Gesellschaft zur Wiederherstellung des Nizâmî-Mausoleums. Spenden gingen u.a. von dem Millionär und Wohltäter Z. A. Tagiev (1823–1924) ein. GABIBOV, N. E. A.: (wie Anm. 47): Tafel 24: Ein Triptychon des Malers T. Tagiev, „Keroglu“ (Köro÷lu) von 1943; Taf. 26: Šarifzade „Babek“ (Ölbild des Sozialrevolutionär avant la lettre von 1944); Taf. 29: F. Abdurahmanov, “Dževanišir“ (Basrelief in Gips 1943); ders. „Keroglu“ (Basrelief). ORAL, Zeynep: Nesimi’nin 600. do÷um yÕldönümü Azerbaycan’da törenlerle kutlandÕ, in: Sanat Dergisi 48 (1973), S. 4–6. In sowjetischer Zeit wurde Rudâkî zum Begründer der tadschikischen und persischen Literatur und Vorkämpfer demokratischer Ideen erklärt. Ein Werk der in Tiflis geborenen Bildhauerin Elena Petronova Orbeliani (1900–?), (NOVRUZOVA 1979, wie Anm. 6, S. 158). MARTIN (wie Anm. 7), S. 444. – In Tatarstan stellte man eine Verbindung des Volksdichters Gabdulla Tuqaj mit Aleksandr Puškin her (FRIEDERICH, Michael:

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Neben freistehenden Denkmälern kannte die sowjetische Peripherie auch Statuen, die auf Gebäude verteilt waren oder zu anderweitigen Gruppen zusammengefaßt wurden. Wie häufig in Europa wurden Bibliotheken, Universitäten und Theater mit Statuen, Medaillons oder auch nur Namenskartuschen nationaler und gleichzeitig der ganzen Menschheit gehörender Größen geschmückt. Das auffälligste Beispiel in unserer Welt ist das Literaturmuseum von Baku. Es wurde 1940/41 durch die Umwandlung des alten Hotels „Metropol“ rechtzeitig zum Nizâmî-Jahr fertig gestellt. Im ersten Geschoß der Fassade, die sich auf den Nizâmî-Platz öffnet, stehen die Statuen von sechs Vertretern der aserbaidschanischen Literatur zwischen dem 16. und frühen 20. Jahrhundert. Damit ist der engste Kanon der Nationalliteratur repräsentiert.

Abb. 4: Literaturmuseum Baku (Umbau 1940/1941)

Fuzûlî (1480/90– 1556)

Pänah Vâgif (1717– 1797)

Mirza Fath Ali Achundzade /Achundov (1812–1878)

Huršid Banu Nâtevân (1832–1897)

Džälil Mämmäd Guluzadä (1866– 1931)

Cäfär Džabbarly (1899– 1934)

–––––––––––––––– Ghabdulla Tuqaj . Ein hochgelobter Poet im Dienst von tatarischer Nation und sowjetischem Sozialismus. Wiesbaden 1998, S. 79).

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Im Gegensatz zu Nizâmî, der seine Epen in persischer Sprache verfaßte, haben Fuzûlî, Vâgif, Achundov, Nâtevân, Mämmäd Guluzadä und Džabbarly alle in Turkî geschrieben. Sie verteilen sich über mehrere Jahrhunderte und alle Regionen des modernen Aserbaidschan. Molla Pänâh Vâgif kann als Begründer der aserbaidschanischen Literatur im engeren Sinn gelten. Neben seinen diesbezüglichen Verdiensten lobte man, daß er „Anhänger (storonnik) eines Bündnisses mit Rußland war“.59 Mämmäd Guluzadä schuf die beliebte und wirkungsstarke Satirezeitschrift Molla Nasräddin (1906), von dessen Mitarbeitern Sâbir und Azimzadä schon die Rede war. Er gehörte mit Achundov, einem Mann, der sich auf vielen literarischen Feldern betätigte und dem Dramatiker Džabbarly zu den auch in sowjetischer Zeit hoch anerkannten „progressiven“ Autoren, die ihre westliche Prägung durch die russische Intelligenzija vermittelt bekamen und dann „die fortschrittliche russische Kultur unter den Aserbaidschanern propagierten“. Die meisten der an der Fassade des Literaturmuseums vertretenen Autoren haben noch auf das engere Stadtgebiet verteilte Denkmäler. Nâtevân HanÕm, die Tochter des letzten Chans von Karabagh, nimmt als Frau eine Sonderstellung ein. Mit der Aufstellung dieser Statuen waren ein kanonisches Einfrieren ihres Werkes und ein Offenhalten ihrer nicht unproblematischen Positionen in kulturpolitischen Fragen verbunden. So konnten sie auch für das geistige Fundament der Zweiten Republik beste Dienste leisten.

–––––––––––––––– 59 Enciklopediþeskij Slovar’ Bd. 1 (Moskva 1963), S. 161 [c].

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Abb. 5: Nationalbibliothek „Achundov“ Baku 1959

Die zehn Jahre später vollendete Nationalbibliothek ist in noch großzügigerer Weise mit Statuen geschmückt. Die inzwischen auf 15 Figuren angewachsene Gruppe stellt folgende Personen dar: Statuenprogramm der Nationalbibliothek von Baku Name Nizâmî Šot´a Rust´veli Puškin

Lebenszeit 1141–1209 Um 1200 1799–1837

Mahsati Gandžavi Dmitri Mendeleev Hasan Bey Melik-Zâdä Zerdabi Maxim Gor’kij Uzeyir Hajibeyov Samad Vurghun

12. Jh. 1834–1907 1842–1907 1868–1936 1855–1948 1906–1956

Bedeutung Persischer Klassiker Georgischer Nationaldichter Russischer und sowjetischer Nationaldichter Dichterin Naturwissenschaftler Gründer der Zeitung Äkinci (ab 1876) Russischer Schriftsteller Komponist Dichter

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1897–1961 1912–1984 1910–1981 1862–1911 12. Jh. 16.Jh.

Sänger Dirigent Poet Poet Architekt aus Nachitschewan Hofmaler in Tabris

Keine der im Literaturmuseum vertretenen Personen erscheint in der Nationalbibliothek zum zweiten Mal. Auffallend ist das Vorkommen von zwei Künstlern, die wohl erst nach ihrem Tod in den 1980er Jahren einen Platz in der Loggia erhielten. Die Reihe wird von den unbestritten klassischen Dichtern Aserbaidschans, Rußlands und Georgiens60 angeführt. Daß Puškin als gesamtsowjetischer Klassiker galt und somit primus inter pares war, daran soll noch einmal erinnert werden. Ein weiterer Vertreter Rußlands ist Mendeleev, der auch das gesamte Feld der Naturwissenschaften abdecken muß. Diese beiden Größen waren schon Bestandteil der Leninschen Listen. Alle übrigen Namen stehen für Literatur, Publizistik, Musik und Baukunst Aserbaidschans. Die Präsenz des Tabriser Hofmalers Sultan Muhammad (16. Jh.) ist im Statuenprogramm Nord-Aserbaidschans eine überraschende Neuigkeit. In der Sowjetunion finden sich weitere Beispiele dieses seriellen Figurenschmucks, so auch am Haus der Schriftsteller von Stalinabad/Dušanbe (Dom pisatel’)61. Mit Gor’kij ist in Dušanbe nur eine Figur aus dem Programm der Nationalbibliothek Baku vertreten. Diese minimale Schnittmenge zwischen zwei kulturell verwandten Unionsrepubliken ist erstaunlich. Alle übrigen Figuren repräsentieren die iranische bzw. tadschikische Literatur. Mirzâ Tursunzâda, Abulqâsim Lâhuti, Abdurrahmân Jâmi, Abuali Ibn Sinâ (Avicenna), Abu Abdullah Rudâkî, Abulqâsim Firdavsi, Hâfiz Širâzi, Sadriddin Ajni.62 Weitere Beispiele für seriellen Figurenschmuck bilden die FirdausiBibliothek ebenfalls in Dušanbe und das Sammeldenkmal kirgisischer –––––––––––––––– 60 Die Öffnung zu den kaukasischen Nachbarrepubliken bleibt bis in die 1960er Jahre bestehen, entweder durch Darstellungen wie in diesem Fall oder durch Beteiligung an Wettbewerben und Berücksichtigung bei Aufträgen. Mit Georgien sind die Beziehungen, auch im kulturellen Bereich, korrekt. 61 Dr. Lutz Rzehak (Berlin) hat mir mehrere Photographien zur Verfügung gestellt. Ich wiederhole hier meinen großen Dank. 62 Zwei Namen waren auf den Lichtbildern nicht lesbar. Nachfragen in Dušanbe blieben ohne Ergebnis.

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Zelebritäten in Biškek.63 Der Rudâkî von Stalinabad wurde von dem mehrfach genannten Aserbaidschaner Abdurahmanov (unter Mithilfe von Michail Gerasimov, dem bekannten Wiederhersteller von Gesichtszügen auf Grundlage von Schädelformen) geschaffen. Diese Figurengruppen stellen eine späte Fokussierung des Leninschen Denkmalprogramms dar, indem sie die für eine ganze Innenstadt ausreichende Anzahl von Statuen großer Männer und einiger Frauen anordnen. Wesentliche zeremonielle und didaktische Funktionen des klassischen Einzeldenkmals gehen dabei allerdings verloren. Die individuelle Leistung einer Person wird in eine kollektive Manifestation integriert. Freilich haben auch die Hauptvertreter der älteren und jüngeren tadschikischen Dichter in Dušanbe – ganz wie in Baku – Einzeldenkmäler erhalten. Die Statue von Ainî beherrscht dabei einen ganzen verkehrsfreien Platz mit Wasserbassin und Springbrunnen.64 Aserbaidschanische Künstler halfen bei der Schaffung von Denkmälern auch in anderen Nachbarrepubliken wie Usbekistan aus. Selbst in der Mongolei gibt es eine Statue aus der Werkstatt des vielbeschäftigten Abdurahmanov. Sein Suche Bator (Sukhbaatar), „der glühende Revolutionär, Kampfgenosse Lenins und treuer Freund der Sowjetunion“65 beherrscht seit 1954 das Zentrum von Ulan Bator.

Nationalismus? Internationalismus? Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb Puškin der wichtigste Botschafter der russischen Kultur. Baku erhielt vor wenigen Jahren ein neues, von der staatlichen Ölgesellschaft Likoil gesponsertes Puškin-Denkmal. 1999 schenkte „die Moskauer Bevölkerung“ dem „belarussischen Volk“ ein Puškin-Denkmal zum 200. Geburtstag des Dichters.66 Ähnliche Veranstaltungen gab es an mehreren Stellen der größeren Slavia – bis nach Montenegro. Die jüngere Entwicklung zeigt, daß das Regime in Baku zwar die Rechtsnachfolge der ersten unabhängigen Republik beansprucht, aber mit der wichtigsten Figur des ersten aserbaidschanischen Staates, Mämmäd Ämin Räsulzadä, einen mehr als distanzierten Umgang pflegt. Die erste Generation aserbaidschanischer Bildhauer wurde in Moskau und Leningrad –––––––––––––––– 63 Mein Dank geht an Herrn Arndt Bornemann (Dakka), der das Monument für mich photographierte. 64 SVETLOV, IGOR.: O sovetskoj skulpture 1960–1980. Oþerki. Moskva 1984, S. 150. 65 So formuliert SCHIRENDYB, B[azaryn]: Die Mongolische Volksrepublik. Von der Feudalordnung in den Sozialismus. Berlin 1971. 66 Belarus-News, Nr.7, Herbst 1999, S. 20.

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ausgebildet bzw. fortgebildet. In Baku wirkten nach 1920 zunächst Künstler nicht-türkischer Nationalitäten als Lehrer. Sie erhielten auch Aufträge für die ersten öffentlichen Standbilder (Marx, Sâbir, Kirov, Proletarier und andere mehr). Die aserbaidschanische Kultur verfügte anders als auf dem Gebiet von Sprache und Musik über keinerlei Vorbilder in der gegenständlichen Skulptur. Lenin hatte zwar betont, „daß jede nationale Kultur wertvolle Traditionen enthalte, die es weiterzuentwickeln gelte“; er riet allerdings, in Zusammenhang mit der nationalen Kultur besonders hellhörig zu sein für nationalistische Erscheinungen jeder Art und solchen einen konsequenten Internationalismus entgegenzuhalten.67 Die weithin bekannte und schon zitierte Stalinsche Maxime vom 18. Mai 1925 in seiner Rede über die politischen Aufgaben der Universität für die Werktätigen des Ostens „National in der Form und sozialistisch im Inhalt“ war schwer im Bereich der öffentlichen Standbilder einzulösen, wenn man nicht teppichartige Friese unter einer Leninstatue von Aschchabad hängte oder eine Spitzbogennische über einen Helden der Sowjetunion wölbte. In den zwei Jahrzehnten unter Bagirov verzichtete man sicherheitshalber bis auf den unvermeidlichen Klassiker Nizâmî auf Darstellungen der Reformisten und von anderen einheimischen Geistesgrößen. Der „Humanist“ Nizâmî trug schon schwer an seiner Aufgabe als Repräsentant der Titularnation. Sein aserbaidschanischer Nationalcharakter ist nicht in dem Maße vermittelbar wie ein Šot´a Rust’veli in Tiflis oder der muskulöse David von Sassun, der Siegfried des armenischen Volks- und Nationalepos in Erevan. Für Stalin waren, ganz abgesehen von den alle Teilnationen überragenden Russen klar, daß sich Georgier und Armenier auf einer „höheren Stufe nationaler Gestaltung befänden als Tschetschenen und Kabardiner“. Den Kirgisen räumte der Diktator – aus welchen Gründen auch immer – einen „mittleren Platz“ auf seiner Stufenleiter ein. Man darf annehmen, daß Stalin wie Puškin in seinem berühmten Gedicht (nach Horaz) Exegii monumentum („Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes...“) eher die Stimme dieses Dichters bei Tungusen, Finnen und Kalmücken hörbar machen wollte, als umgekehrt Nizâmîs Liebesromane unter dem russischen Industrieproletariat.68 –––––––––––––––– 67 GALIN, S. A.: Istoriþeskij opyt kul’turnogo stroitel’stav v pervye gody Sovetskoj vlasti . Moskva 1990, S. 14 (nach I. BALDAUF, Ingeborg: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Rußland- und Sowjettürken (1850– 1937): Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen. Budapest 1993. S. 637). 68 Die dritte Strophe in der Übersetzung von Rolf-Dietrich KEIL: Mein Ruf dringt bis ans End’ der russischen Gefilde Und hallt von jedem Stamm, der sie bewohnt, zurück: Mich nennt der Slawe stolz und auch der heute noch

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Beim Wettbewerb um das Nizâmî-Porträt wurde darauf geachtet, keine Nationalität zu bevorzugen. Hier läßt sich zeigen, daß die oft wiederholte Behauptung, Moskau habe den Vertretern der nichtrussischen Republiken erst nach dem Ausbruch des „Großen Vaterländischen Kriegs“ mehr Spielraum in kulturellen und kultischen Bereichen eingeräumt, zu modifizieren ist, freilich nur in dem Sinn, daß die künstlerisch-symbolische Ausgestaltung von regionalen Repräsentanten als Gemeinschaftswerk sämtlicher sowjetischen Nationen begriffen wurde. Lenin hatte seinerseits früh geahnt, daß sein Denkmalprogramm gescheitert war.69 In postsowjetischer Zeit sind Denkmäler jedoch Symptome der politischen und kulturellen Prozesse geblieben. Während die ersten Denkmäler für Persönlichkeiten des internationalen Klassenkampfs (Marx, Kirov), bolschewikische Märtyrer (26 Kommissare) und Vertreter der aserbaidschanischen „Aufklärung“ (Sâbir) in der Mehrzahl von russischen Bildhauern geschaffen wurden, schoben sich ab den 1940er Jahren einheimische, aber in Leningrad und Moskau diplomierte Künstler in den Vordergrund. Ihre Aufträge betrafen Sowjethelden und nationale Klassiker (Nizâmî). Nach Stalins Tod konnten sich Aserbaidschaner mit aserbaidschanischen Themen entfalten, womit die „Indigenisierung“ in der bildenden Kunst schon in den 1970er Jahren einen sichtbaren Abschluß erreicht hat.

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–––––––––––––––– Wilde Tunguse, Finne und Kalmück. 69 Bei DRENGENBERG (wie Anm.4), S. 294: „iz monumental’noj propagandy niþego ne vyšlo“ („nichts hat geklappt“).

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BALDAUF, Ingeborg: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Rußlandund Sowjettürken (1850–1937): Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen. Budapest 1993. BAUDIN, Antoine: Le réalisme socialiste soviétique de la période jdanovienne . Les arts plastiques et leurs institutions. Vol. 1, Bern 1997. Bol’šaja Sovetskaja Enciklopedija, Moskva³ 1970. BOWN, Matthew Cullerne: Kunst unter Stalin, 1924–1956. München 1991 (Orig.: Art under Stalin. Oxford 1991). BÜRGEL, Johannes Christoph: Ni਌ƗmƯ, in: HEINRICHS, Wolfhard (Hg.): Orientalisches Mittelalter. Wiesbaden 1990, S. 306 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 5). CAFEROöLU, Ahmet: Die aserbaidschanische Literatur, in Philologiae Turcicae Fundamenta. Bd. 2, Wiesbaden 1965. DRENGENBERG, Hans-Jürgen: Die sowjetische Politik und das Gebiet der bildenden Kunst von 1917 bis 1934. Wiesbaden 1972. EFENDøZADE, Rena M: Architektura Sovetkogo Azerbajdžana. Moskva 1986. Enciklopediþeskij Slovar’. Bd. 1, Moskva 1963. FATULLAEV, Š[amil]. S.: Gradostoitel’stvo Baku XIX-naþala XX vekov. Leningrad 1978. DERS.: Gradostoitel’stvo architektura Azerbajdžana XIX-naþala XX veka. Leningrad 1986. FRIEDERICH, Michael: Ghabdulla Tuqaj . Ein hochgelobter Poet im Dienst von tatarischer Nation und sowjetischem Sozialismus. Wiesbaden 1998. GABIBOV, N. & GADŽIEV, P. & MIKLAŠEVSKAJA, N. & NOVRUZOVA, D.: Oþerki Izobrazitel’nogo Iskusstva Sovetskogo Azerbajdžana. Živopis’, skulptura, grafika. Baku 1960. GALIN, S. A.: Istoriþeskij opyt kul’turnogo stroitel’stav v pervye gody Sovetskoj vlasti . Moskva 1990. GELLERT, Johannes F.: Baku – historisch-geographische Entwicklung und Struktur, in: Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht“ Potsdam. Wissenschaftliche Zeitschrift 20 (1976), S. 347–361. GOGITIDZE, Mamuka: Gruzinskij Generalitet . Biografiþeskij Spravoþnik. Kiew 2001. Izobrazitel'noe Iskusstvo Azerbajdžanskoj SSR. Moskva 1978. KUCHER, Katharina: Der Moskauer Kultur- und Erholungspark. Formen von Öffentlichkeit im Stalinismus der dreißiger Jahre, in: RITTERSPORN, Gábor T. & ROLF, Malte & BEHRENS, Jan C. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen parteistaatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten. Frankfurt a. M. 2002, S. 97–129. LENOE, Matt: Did Stalin Kill Kirov and Does it matter, in: Journal of Modern History 74 (2002), S. 352–380.

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CARL BROCKELMANN und die türkische Sprachreform Jens Peter Laut (Göttingen) Im Jahr 1994, während der dritten Deutschen Turkologen-Konferenz in Leipzig,1 hatte ich des öfteren Gelegenheit, mich mit Petra KAPPERT zu unterhalten, nicht zuletzt beim Frühstück, da wir zufällig im selben Hotel untergebracht waren. Wir stellten bald fest, daß eines unserer gemeinsamen Interessen die türkische Sprachreform war, dieser „katastrophale Erfolg“, wie es G. LEWIS so hintersinnig ausgedrückt hat2. Wir haben seinerzeit auch über meine geplante Chronologie der Sprachreform gesprochen3 und unseren Gedankenaustausch bei einigen meiner Hamburg-Besuche fortsetzen können. Alle diese Erinnerungen haben mich bewogen, für Petra hanÕm etwas aus dem Gebiet der türkischen dil inkÕlâbÕ vorzulegen. Die Freude darüber, daß ich einen bisher so gut wie unbekannten Text von Carl BROCKELMANN zur Sprachreform bieten kann, wird jedoch durch den Anlaß dieses Buches, den allzu frühen Tod unserer Freundin und Kollegin, auf das schmerzlichste getrübt. In seinem Nachruf auf Carl BROCKELMANN (1868–1956)4 betont Bertold SPULER die eminente Rolle des großen Orientalisten nicht nur für die Arabistik und Semitistik, sondern auch für die Turkologie: „Was er [auf dem Gebiet der Turkologie] geschaffen hat, würde allein genügen, ein Forscherleben auszufüllen, und sichert ihm einen Platz erster Ordnung auch im Rahmen dieser Wissenschaft“.5 In der Tat ist das turkologische Werk BROCKELMANNs aus der Geschichte unserer Disziplin nicht wegzu–––––––––––––––– 1

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DEMIR, Nurettin & TAUBE, Erika (Hg.): Turkologie heute – Tradition und Perspektive. Materialien der dritten Deutschen Turkologen-Konferenz Leipzig, 4.–7. Oktober 1994. Wiesbaden 1998. (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, 48.) LEWIS, Geoffrey: The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success. Oxford 1999. LAUT, Jens Peter: Chronologie wichtiger Ereignisse im Verlauf der türkischen Sprachreform. Von den Anfängen bis 1983, in: Materalia Turcica 24 (2003), S. 69–102. In: Der Islam 33 (1958), S. 157–160. Op.cit.: S. 159. Vgl. hierzu u.a. auch die Nachrufe von K. CZEGLÉDY (in: AOH 7 [1957], S. 105–108) und von Johann FÜCK (in: ZDMG 108 [1958], S. 1–13).

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denken und hat in weiten Teilen – ich denke hier insbesondere an die philologischen Studien – bis heute seine wissenschaftliche Relevanz behalten.6 Es ist hier nicht der Ort, näher auf Leben und Werk BROCKELMANNs einzugehen7: Betont sei jedoch sein Interesse auch für das vorislamische Uigurisch8 sowie für sehr spezielle philologische Fragen der Turcia9, die im heutigen „nutzenorientierten“ universitären Betrieb sicherlich auf wenig Gegenliebe stoßen würden. Interessant in unserem Zusammenhang ist die Einschätzung des Islamwissenschaftlers und Semitisten BROCKELMANN zur historischen Bedeutung türkischer Völker. Was die Rolle der Türken in der islamischen Geschichte betrifft, äußert sich BROCKELMANN eher negativ, und es sei hier nur ein Zitat aus seiner berühmten Geschichte der islamischen Völker und Staaten (1939) herausgegriffen: Hatten die Türken schon in Jahrhunderte währender Mißwirtschaft die einst so blühende Kultur Erans [sic] und Mesopotamiens aufs schwerste geschädigt, so war es dem ihnen stammverwandten Volk der Tataren oder Mongolen zu Beginn des 13. Jahrhunderts vorbehalten, ihr Zerstörungswerk zu vollenden. Mit Recht bezeichnet der arabische Historiker Ibn al-Athir in seiner Chronik aus dem Jahre 617/122010 in beweglicher [sic] Klage ihren Einbruch als das größte Unglück, das über die ihm bekannte Menschheit gekommen sei.11

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Zum Werk BROCKELMANNs s. SPIES, Otto: Verzeichnis der Schriften von Carl Brockelmann. Leipzig 1938; FÜCK, Johann: Carl Brockelmann als Orientalist, in: Wissenschaftliche Zeitschrift/Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 7 (1957/58) 4 (Juli 1958), S. 857–875; BÄR, Erika: Bibliographie zur deutschsprachigen Islamwissenschaft und Semitistik vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute. Band 2, Wiesbaden 1991, S. 128–142. – Auch von türkischer Seite wird der wichtige Beitrag BROCKELMANNs zur Turkologie sehr wohl wahrgenommen, vgl. EREN, Hasan: Türklük Bilimi Sözlü÷ü. 1. YabancÕ Türkologlar. Ankara 1998, S. 121–123. 7 Vgl. hierzu die Nachrufe in Anm. 4 und 5 und die Literatur in Anm. 6. Zu BROCKELMANNS Engagement gegen den Nazi-Terror an den Universitäten vgl. ELLINGER, Ekkehard: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933– 1945. Edingen-Neckarhausen 2006, S. 41–46. 8 Vgl. seine Rezension von: Annemarie VON GABAIN: Alttürkische Grammatik... Leipzig 1941, in: ZDMG 96 (1942), S. 353–364. Hierzu bemerkt die spätere Hamburger Turkologie-Professorin in der 3. Auflage ihres Werkes (Wiesbaden 1974, S. 391): „ ... C. BROCKELMANN in seiner sehr fördernden Besprechung zur 1. Auflage dieser Grammatik ...“. 9 So z.B.: Naturlaute im Mitteltürkischen, in: Ungarische Jahrbücher 8 (1928), S. 257–265. 10 Anm. JPL: Vgl. KNLL 8, S. 265. 11 BROCKELMANN, Carl: Geschichte der islamischen Völker und Staaten. München/Berlin 1939 [19432], S. 219.

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Mit diesem Urteil stand BROCKELMANN seinerzeit in der Islamwissenschaft nicht allein, aber er gehörte zu den eher gemäßigten Stimmen, wie ein Vergleich mit einer von vielen ähnlichen Äußerungen des ebenfalls sehr bedeutenden Orientalisten Theodor NÖLDEKE (1836–1930) aus dem Jahr 1925 zeigt: Ich erlaube mir hier zu bemerken, daß ich das Eindringen von Türken in die gebildete islamische Welt seit dem Untergang des iranischen Samanidenreiches überhaupt für ein weltgeschichtliches Unheil erster Güte halte. Türken und noch mehr Mongolen haben keinerlei Kultur geschaffen, aber uralte wie jüngere Kultur zerstört.12

Seine negative Bewertung der weltgeschichtlichen Rolle der Türken hinderte BROCKELMANN jedoch nicht, die türkische Moderne durchaus positiv zu sehen. Nicht ganz unwichtig dürften hier nationalistische Momente wie die „Waffenbrüderschaft“ von Deutschen und Türken im Ersten Weltkrieg gewesen sein, und hinzu kam auch eine grundsätzliche Sympathie für die kemalistisch-nationale Bewegung in der Türkei. So kommentiert er die Rückeroberung Izmirs, des alten Smyrna, durch die kemalistischen Truppen im Jahr 1922 wie folgt: Nur aus Anatolien mit seiner geschlossenen türkischen Bevölkerung ... konnte die Rettung kommen. Gegen die Griechen, die sich in Smyrna unerhörte Greueltaten hatten zuschulden kommen lassen, erhoben sich türkische Freischaren...13

–––––––––––––––– 12 In: Der Islam 14 (l925), S. 158, Anm. 1. – Beispiele einer solchen „Imagologie“ ließen sich beliebig fortsetzen; vgl. etwa die Äußerung von Hans Heinrich SCHAEDER: „Geistig unbelastet, dafür kriegerisch begabt, von Führern geleitet, die sich auf Disziplin und den Aufbau eines auf das Heer gegründeten ... Gemeinwesens verstanden und nur nicht imstande waren, ihren Willen und ihr Können auf Söhne und Enkel zu vererben – so traten die Türken in ihre Geschichte auf dem Boden des Islam ein. ... Den Beruf, Schützer des Islam zu sein, nahmen sie mit Eifer auf, die Einfachheit seiner Kampfforderung und seiner Verheißung entsprach ihrer Art. Aber im geistigen Leben ist der Übergang von der Primitivität zur Überreife und Dekadenz leichter als der zur echten Reife. Es ist den Türken nicht gut bekommen, daß in bezug auf höhere geistige Ansprüche ein so altes und resigniertes Volk, wie die Perser es waren, ihr bewundertes und mit Eifer nachgeahmtes Vorbild wurde. ... Kulturell hat die osmanische Periode nichts geschaffen, was als Ausdruck eigentlich türkischen Wesens hätte gelten und dem türkischen Volk inneren Halt über den Niedergang der osmanischen Macht hinaus hätte leihen können.“ (SCHAEDER, H. H.: Die Kultur des Vorderen Orients. 2. erweiterte Aufl. Frankfurt a.M. 1973, S. 79–80). Vgl. auch LAUT, Jens Peter: Imagologie auf Türkeitürkisch, in: KLUMPP, G. & KNÜPPEL, Michael (Hg.): Die ural-altaischen Völker. Identität im Wandel zwischen Tradition und Moderne. Wiesbaden 2003, S. 61–72. 13 BROCKELMANN Carl: Geschichte der islamischen Völker und Staaten. München/Berlin 1939, S. 394.

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Leider ist mir nichts über direkte Kontakte von BROCKELMANN zur seinerzeitigen kemalistischen Elite bekannt, doch wissen wir aus seinen von R. SELLHEIM herausgegebenen tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, daß er zu Ostern des Jahres 1929 von Breslau nach Istanbul gereist ist: Es war nach dem schweren Winter 1928/29 ... in Schlesien ... So war es auch in Konstantinopel noch viel kälter als sonst und die Arbeit in den ungeheizten Bibliotheken nicht immer angenehm. ... Mein Hörer Schükri ... besorgte mir eine Wohnung bei einer ehemaligen armenischen Tänzerin, bei der ich gut aufgehoben war.14

Vielleicht bekam er in der Zeit dieses Aufenthaltes Kontakt zu Sadri MAKbey: Wenn ja, dürfte dies die spätest denkbare Möglichkeit sein, denn bereits ein Jahr danach, 1930, erschien dessen Buch Türk Dili için „Um der türkischen Sprache willen“,15 in dem sich ein Vorwort von Carl BROCKELMANN findet, das Gegenstand meines Artikels ist. Sadri MAKSUDø (1879–1957), ursprünglich Sadreddin MAKSUDOF, der sich im Jahr 1934 den Nachnamen ARSAL16 zulegte, war ein gebürtiger Kazan-Tatare, der in seinem äußerst bewegten Leben auch eine bedeutende Rolle, u.a. als Politiker, Jurist, Historiker und Sprachwissenschaftler, in der jungen Türkischen Republik spielen sollte. An dieser Stelle kann leider SUDø

–––––––––––––––– 14 Autobiographische Aufzeichnungen und Erinnerungen von Carl Brockelmann. Als Manuskript herausgegeben von R[udolf] SELLHEIM, in: Oriens 27–28 (1981), S. 1– 65, hier S. 55. 15 Der genaue Titel lautet: Türk dili için. Türk dilindeki sözleri toplama, dizme, Türk dilini ayÕrtlama, türkçe köklerden bilgi sözleri yaratma iúi üzerinde düúünceler. [Auf dem Buchdeckel: Geçmiúteki, bugünkü ve gelecekteki yazÕ dilimiz üzerinde düúünceler] [„Um der türkischen Sprache willen. Gedanken zur Aufgabe des Sammelns und des Ordnens der Wörter in der türkischen Sprache, zur Reinigung der türkischen Sprache und zur Schaffung einer wissenschaftlichen Terminologie aus türkischen Wurzeln“ (Auf dem Buchdeckel: „Gedanken über unsere Schriftsprache in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“)]. østanbul 1930. (Türk OcaklarÕ ilim ve sanat heyeti neúriyatÕ. Millî seri, 1.) Auf dem Buchdeckel ist der letzte Satz der berühmten Vorrede Atatürks zu finden (vgl. Anm. 19), und auf dem Titelblatt ist ein ebenfalls berühmtes Zitat aus der Kül Tegin- bzw. Bilgä KaganInschrift abgedruckt: „Öze Türk tengrisi Türk Õduk yeri subÕ ança temiú: Türk budun yok bolmazun, teyin, budun bolçun ...“. Zur Neulesung und Übersetzung dieser Passagen (KT, Ostseite, Z. 10–11 bzw. BK, Ostseite, Z. 9–10) vgl. TEKIN, Talât: Orhon YazÕtlarÕ. Ankara 1988, S. 10–11 bzw. S. 38–41. ARSALs seinerzeitige Lesung kann wie folgt interpretiert werden: „Oben der Gott der Türken sowie [unten] der heilige Boden und die heiligen Gewässer der Türken sprachen so: ‚Das Volk der Türken soll nicht zugrundegehen, es soll als Volk bestehen bleiben ...’“. 16 Dieser in den gängigen Wörterbüchern nicht belegte Neologismus bedeutet als Männername „ArÕ gibi temiz, çalÕúkan“, „kumral“ (Türk Dil Kurumu-InternetLexikon Kiúi AdlarÕ Sözlü÷ü, Zugriff am 28.10.2005).

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nicht näher auf diese hochinteressante Persönlichkeit eingegangen werden:17 Wichtig in unserem Zusammenhang ist sein eben erwähntes Werk Türk Dili için, das als ein durchaus nationalistischer, gleichwohl intellektuell sehr anspruchsvoller Beitrag zur türkischen Sprachreform anzusehen ist. Dieses Buch hat jedoch nie die Resonanz erzielt, die es verdient hätte18, und ich möchte dies, neben der erwähnten Intellektualität des Werkes, auch darauf zurückführen, daß Mustafa KEMAL höchstpersönlich eine bis heute immer wieder zitierte Vorrede zu dem Buch verfaßt hat, die ARSALs Werk einfach überschattete: Die Bande zwischen dem Nationalgefühl und der Sprache sind sehr stark. Der Hauptfaktor bei der Entwicklung des Nationalgefühls ist eine nationale und reiche Sprache. Die türkische Sprache ist eine der reichsten Sprachen (der Welt), vorausgesetzt, daß diese Sprache (auch) mit Verstand benutzt wird. Die türkische Nation, die ihr Land und ihre hehre Freiheit zu schützen weiß, muß auch ihre Sprache vom Joch fremder Sprachen befreien.19

–––––––––––––––– 17 Vgl. seine Biobibliographie, die seine Tochter verfaßte: AYDA, Adile: Sadri Maksudi Arsal. Ankara 1991. (Kültür BakanlÕ÷Õ YayÕnlarÕ. 1282. Türk Büyükleri Dizisi. 138). Kurz nach ARSALs Tod am 20.2.1957 hat Adile AYDA einen längeren Nachruf mit dem Titel Babam Sadri Maksudi unter der Rubrik Kaybetti÷imiz KÕymetler in der Zeitung Cumhuriyet (1.3.1957) publiziert. Vgl. auch die zusammengestellten Lexikoneinträge zu ARSAL bei SAUER, Jutta (Hg.): Türkisches biographisches Archiv. München 2002. Für seine „rußlandmuslimische Zeit“ siehe ADAM, Volker: Rußlandmuslime in Istanbul am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die Berichterstattung osmanischer Periodika über Rußland und Zentralasien. Frankfurt a.M. u.a. 2002. 18 In allen grundlegenden Werken zur Sprachreform, seien es türkische oder nichttürkische, finden sich lediglich kurze Hinweise auf das Werk, zumeist verbunden mit der Zitation der Vorrede von Mustafa KEMAL (s. Anm. 19). – Die Wichtigkeit von Sadri MAKSUDø hat aber unlängst erst wieder Klaus RÖHRBORN betont: „Die arabischen und persischen Wörter des Türkischen sollten [in den 30er Jahren] vor allem durch archaische und dialektale türkische Wörter ersetzt werden. Dabei ging es meist um ‚Lehnschöpfung’ mit archaischem oder dialektalem Sprachmaterial. ... Diese Idee [soll] auf Sadri Maksudi zurückgehen. Sadri Maksudi war sicher nicht der erste, der solche Vorschläge gemacht hat, aber er konnte offenbar Atatürk für diese Idee begeistern. In seinem Buch ‚Türk dili için’ ... schlägt Maksudi vor, das Sprachmaterial der alten türkischen Sprachdenkmäler in derselben Weise für die zu schaffende neue türkische Sprache zu verwenden, wie man in den europäischen Sprachen das Latein verwendet.“ (RÖHRBORN, Klaus: Interlinguale Angleichung der Lexik. Aspekte der Europäisierung des türkeitürkischen Wortschatzes. Göttingen 2003, S. 21–22). 19 Millî his ile dil arasÕndaki ba÷ çok kuvvetlidir. Dilin millî ve zengin olmasÕ millî hissin inkiúafÕnda baúlÕca müessirdir. Türk dili, dillerin en zenginlerindendir; yeter ki bu dil, úuurla iúlensin. Ülkesini, yüksek istiklâlini korumasÕnÕ bilen Türk milleti, dilini de yabancÕ diller boyunduru÷undan kurtarmalÕdÕr. Vgl. hierzu auch LAUT,

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Wie erwähnt, wissen wir nicht, wann und wie das aus dem Deutschen ins Türkische übersetzte Vorwort von Carl BROCKELMANN zu Türk dili için zustande gekommen ist: Dieses Vorwort ist m.W. auch das einzig bekannte Zeugnis einer näheren Beschäftigung des Universalorientalisten BROCKELMANN mit der türkischen Sprachreform. Was den Grad der Unbekanntheit angeht, teilt das Vorwort in gewisser Weise das Schicksal von Sadri MAKSUDøs Buch, denn es ist in keiner der Bibliographien des Werkes von BROCKELMANN (s. Anm. 6) verzeichnet. Auch von türkischer Seite scheint es, bis auf zwei mir bekannte Ausnahmen20, nicht weiter zur Kenntnis genommen worden zu sein. Es bleibt leider unbekannt, ob der deutsche Originaltext des Vorworts noch erhalten ist: Jedenfalls ist er unter den von der DDR übriggelassenen Resten des BROCKELMANN-Nachlasses in Halle nicht aufzufinden.21 Ich kann im folgenden also nur eine Rückübersetzung des türkischen Textes bieten.22 Wir wissen nicht, wer BROCKELMANNs Vorwort ins Türkische übersetzt hat: Jedenfalls wirkt der türkische Text noch sehr „osmanisch“, weist aber auch einige europäische Entlehnungen (z.B. orijinallÕk) und türkische Neologismen (z.B. ülke, uygun) auf (vgl. den Originaltext im Anhang).23 Wir dürfen aber nicht vergessen, daß der Text mehrere Jahre

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J.P.: Das Türkische als Ursprache? Sprachwissenschaftliche Theorien in der Zeit des erwachenden türkischen Nationalismus. Wiesbaden 2000, S. 27; DERS.: Europäismen ade? Zur aktuellen ‚Türkisierung’ westlicher Lehnwörter im Türkeitürkischen, in: Materialia Turcica 23 (2002), S. 93–109, hier S. 93. Der bedeutende türkische Sprachwissenschaftler Ahmet Cevat EMRE weist in seinen Memoiren (øki neslin tarihi [„Geschichte zweier Generationen“], østanbul 1960) lobend auf BROCKELMANNs Vorwort hin, das – wie EMRE meint, im Gegensatz zu ARSALs „rassisch motivierten“ (Õrk meselesi) linguistischen Thesen – „wirklich wissenschaftliche Ansichten“ (hakikî ilmî görüú) vertrete (zitiert nach KORKMAZ, Zeynep [ed.]: Atatürk ve Türk dili. Belgeler. Ankara 1992, S. 316). Kurz erwähnt wird das Vorwort in: A. BATTAL-TAYMAS: Iki Maksudîler. østanbul 1959, S. 52–53. Freundliche Mitteilung von Frau Laila GUHLMANN, Universitätsbibliothek Halle (e-mail vom 9.11.2005). Eine erste Rohübersetzung des Vorworts hat mir im September 2002 Frau Katrin ZICKENDRAHT (damals Greifswald) vorgelegt, die seinerzeit vorhatte, über Sadri MAKSUDø zu promovieren. Meine Wiedergabe des Textes berücksichtigt sowohl dessen orthographische Unregelmäßigkeiten als auch die eigenen Korrekturen von ARSAL (vgl. Türk Dili için, S. 507); in [ ] stehen die Seitenzahlen des Originals.

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vor der radikalen Türkisierung des Wortschatzes (Stichwort: Tarama Dergisi) entstanden ist.24 Ich habe lange überlegt, ob ich meine deutsche Übersetzung des Textes kommentieren sollte: Bereits der erste Satz („Sprache spiegelt den Volksgeist wider“) böte ja Anlaß zu längeren Ausführungen, und interessant sind auch BROCKELMANNs Äußerungen gegen den französischen Einfluß auf das Deutsche und das Türkische. Zu vermuten ist auch, daß BROCKELMANN in Kenntnis der Vorrede von Mustafa KEMAL war, wie seine Verwendung des Wortes „Joch“ (boyunduruk, Original, S. 7) nahelegt. Schon Platzgründe verbieten aber eine Analyse des Textes, der zudem für sich selbst sprechen kann, hoffentlich in einer deutschen Sprachgestalt, die Carl BROCKELMANN noch halbwegs als die seine empfinden würde... 25

Vorwort (Ön Söz)26 [S. 3] Die Sprache ist das getreue Abbild der Charakteristika eines Volkes (millet). Solange sich ein Volk seiner nationalen Identität und seiner nationalen Würde nicht bewußt ist, ist es nicht in der Lage, die Notwendigkeit einzusehen, den kulturellen Einfluß fremder Völker, die in politischer oder geistiger Hinsicht überlegen sind und das Eindringen fremder Wörter – als Übermittler dieser Kulturen – in die eigene Nationalsprache verhindern zu müssen. Das deutsche Volk war zweimal in der Geschichte gezwungen, sich der Überlegenheit der französischen Kultur zu unterwerfen. Zum ersten Mal im Mittelalter, als in Frankreich die Klasse der Ritter (úövaliye) mit –––––––––––––––– 24 Vgl. LAUT, Jens Peter: Die Uigurismen im Tarama Dergisi (1934), in: LAUT, Jens Peter & ÖLMEZ, M. (Hg.): BahúÕ Ögdisi. Festschrift für Klaus Röhrborn... Freiburg/Istanbul 1998, S. 163–230. 25 In [ ] stehen die Seitenzahlen des Originals sowie Zusätze zum besseren Verständnis des Textes, in ( ) werden einige türkische Termini gegeben. Die Kursivierungen im Text folgen dem Original. 26 Anmerkung des Übersetzers: „Dieses Vorwort (mukaddeme) wurde von Herrn (herr) C. Brockelmann, Professor an der Universität Breslau, verfaßt. Professor C. Brockelmann gehört in Europa zu den bekannten Philologen und Orientalisten, und seine Autorität ist anerkannt. Außer seinen wertvollen Studien und Werken zur arabischen Literatur veröffentlichte Professor C. Brockelmann in den letzten Jahren bedeutende Aufsätze und Abhandlungen zu den alttürkischen Dialekten. Daß alle Werke von Professor Brockelmann das Ergebnis großer wissenschaftlicher Kompetenz, profunden Wissens und grundlegender Untersuchungen darstellen, bestätigt heutzutage jedermann. Das letzte Werk von Professor Brockelmann zur türkischen Sprache ist ‚Mitteltürkischer Wortschatz nach Mahmnjd al-KƗšgharƯs DƯvƗn luƥƗt at-Turk’ [Leipzig/Budapest 1928]“.

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Säbelrasseln das gesellschaftliche Leben und die Formen der Zivilisation bestimmte. In dieser Epoche [S. 4] manifestierte sich der französische Einfluß in Höflichkeitsformen gegenüber den Frauen und in Liebesgedichten. Damals drangen in die gesellschaftliche Umgangssprache der Feudalgesellschaft (feodal camiasi) Deutschlands übermäßig viele französische Wörter ein. Zum zweiten Mal nach dem Dreißigjährigen Krieg [1618–48]: Infolge der politischen Überlegenheit der Franzosen über die Deutschen drangen zu jener Zeit von Frankreich her Wellen der Sprachverfremdung (lisanÕ ecnebileútirici) nach Deutschland. In der ersten Epoche zeigte der Einfluß der aus Frankreich fließenden kulturellen Strömung nur in den Oberschichten des deutschen Volkes Wirkung. In der zweiten Epoche hingegen erstreckte sich der kulturelle Einfluß der Franzosen auf alle Klassen und alle Kreise, denn zu dieser Zeit verbreitete sich die Kultur und Zivilisation, die früher lediglich in den Palästen der Prinzen und in den Städten der Ritter vorherrschte, über die Städte nach ganz Deutschland. Der Einfluß der ersten Strömung versiegte mit dem Untergang der Ritterkultur, doch das Ergebnis und die Auswirkungen der zweiten Bewegung konnten nur durch langwierige Bemühungen und einen bewußten Kampf beseitigt werden. An dem Tag, an dem man sich bewußt wurde, daß die Tatsache, dem Einfluß einer fremden Kultur ausgesetzt zu sein, ein heruntergekommener Zustand ist, der der nationalen Würde und Ehre zuwiderläuft, entstand im deutschen Volk der Wunsch und die Neigung, die Reinheit der Sprache, das unverfälschte Deutsch – das Erbe der großen alten Vorfahren – von neuem zu erreichen. Sowohl die Sprachvereinigungen des 17. Jahrhunderts als auch die heutige deutsche Sprachgesellschaft sind im Verlauf ihrer als heiliges Ziel betrachteten Arbeit zur Reinheit und Unverfälschtheit der deutschen Sprache vielleicht weiter als nötig gegangen. Trotzdem [S. 5] kann aber niemand bestreiten, daß [S. 4] diese Gesellschaften dem deutschen Volk [S. 5] überaus große Dienste geleistet haben und zu erwiesenen Ergebnissen gelangt sind. Kein Kenner der Materie (vakÕf bir adam) kann behaupten, daß anstelle von Kulturbegriffen, die in uralten Zeiten in die Volkssprache eingegangen sind und deren fremder Ursprung vollkommen in Vergessenheit geraten ist, nun unbedingt neugeschaffene Wörter gesetzt werden müßten. Aber eines ist gewiß: Obwohl es mit Leichtigkeit möglich ist, in der Volkssprache Äquivalente zu finden oder zu schaffen, sind die bedeutendsten Ursachen, die dazu führen, fremde Wörter zu verwenden, die Trägheit (tenbellik), Wörter zu suchen und Ausdrücke zu bilden, sowie die Gleichgültigkeit gegenüber der Reinheit der Sprache.

Bei den Türken spielte sich die Geschichte der Sprachentwicklung in einer ähnlichen Form ab wie die Geschichte der Sprachentwicklung des Deut-

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schen. Zur Zeit, als die Türken in Zentralasien lebten, befanden sie sich im Osten unter dem Einfluß der chinesischen und im Westen unter dem Einfluß der iranischen Zivilisation. Durch jede dieser beiden Zivilisationen wurde die politische Sprache der Türken beeinflußt. Einerseits führte die Neigung der Khane zu Hochmut und Ruhmsucht, andererseits die notwendige Übernahme (taklit) der Verwaltungsmethoden der benachbarten Fremdvölker die Türken dazu, chinesische und persische Titel zu tragen und im Zusammenhang mit der Staatsverwaltung und den damit verbundenen Ämtern von den fremden Sprachen übernommene Bezeichnungen und Termini zu verwenden. Aber die Sprachen der türkischen Stämme, die über ein nationales Bewußtsein verfügten, ließen sich – von einem kleinen Teil abgesehen – von diesen Titeln und administrativen Begriffen nicht beeindrucken und machten sie sich nicht zu eigen; in den Sprachen solcher Stämme blieben die ausländischen Wörter als fremdes Element zurück. Sie zerstörten das gesunde Herz, den Formenreichtum und die Harmonie der türkischen Sprache nicht. Als Ergebnis der Auswanderungen der Türken nach Westen wurden sie in Gebieten ansässig, die seit altersher zivilisiert waren und traten in eine alte Zivilisation ein. Da nahm die Sache andere Formen an: [S. 6] Auf den Geist der an das einfache Nomadenleben gewöhnten Türken übte diese Zivilisation einen magischen (büyülü) Einfluß aus. Dem Reiz der arabischen Geistes- und Naturwissenschaften, dem Zauber der sprachlichen Reinheits- und Schönheitsregeln Irans und seiner Literatur konnten sie nicht widerstehen. Zur Zeit der seldschukischen, timuridischen und osmanischen Dynastien begannen in den Gesellschaftskreisen bei Hof alsbald türkische Gelehrte, türkische Literaten und Dichter sich mit den arabischen und persischen Wissenschaftlern und Gelehrten, die ihre Vorbilder (üstat) waren, auf erfolgreiche Art zu messen. Auf diesen Erfolg dürfen die Türken zu Recht stolz sein. Aber gleichwohl muß man eingestehen, daß diese zivilisatorischen Erfolge, diese Öffnung der Blume der Kultur (harsî çiçek), zum Schaden der Entfaltung der kostbaren Zivilisations-Veranlagung (medenî istidat), die der eigenen Seele (ruh) des türkischen Volkes innewohnt, und zum Preis des Versiegens der nationalen Kultur- und Zivilisationsquellen erworben worden war. Auch wenn sich die ältesten Historiker und Dichter der osmanischen Zeit bemühten, die überkommene Reinheit der Sprache ihrer Vorfahren bis zu einem gewissen Grad zu bewahren, sahen es die späteren osmanischen Intellektuellen als Kennzeichen der Eleganz und als Merkmal der Überlegenheit an, in türkischen Texten und sogar in der Alltagssprache Fachausdrücke aus der arabischen Wissenschaftssprache sowie imitierte, schillernde Wörter, künstliche Kompositionen und nachgeahmte Benennungen aus der persischen Literatur zu verwenden. Sie fanden es einfacher, anstel-

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le von türkischen Wörtern diese zu gebrauchen. Infolgedessen war zwei Jahrhunderte später die Sprache von AúÕk Paúa27 und von AúÕk Paúa Zade28 für die gebildeten Türken eine Fremdsprache geworden: Sie betrachteten diese Sprache ähnlich wie die heutigen Deutschen diejenige der alten Goten. [S. 7] Die in den Dörfern bewahrte alte, kraftvolle und lebendige türkische Nationalsprache (millî dil) wurde von den Städtern geringgeschätzt und als vulgär (kaba) angesehen. Daß die Sprachentwicklung bei den Türken diese Richtung nahm, war zweifellos ein bis zu einem gewissen Grade unvermeidlicher Umstand: Denn dies ist die Auswirkung der tradierten Einheit von Glauben (iman) und Religion (din), die die gesamte islamische Welt und sämtliche islamischen Nationen trotz Okkupation und Einfluß ausländischer Völker (ecnebî kavimler) verbindet. Im neunzehnten Jahrhundert begann sich im Orient der Einfluß der westlichen Zivilisation zu zeigen. Besonders bei den Türken zeigte sich eine klare Tendenz, die französische Kultur und das Schönheitsverständnis (nefaset telâkkileri) der Franzosen zu übernehmen. Das führte nun dazu, daß die Wellen der französischen Kultur begannen, in die türkische Sprache einzufließen, in eine Sprache, die sich ohnehin seit jeher unter dem Joch (boyunduruk) arabischer und persischer Wörter befand. Dadurch war die Einzigartigkeit (orijinallÕk), Identität (benlik), Unabhängigkeit (istiklâl) und Eigenständigkeit (öz beylik) der türkischen Sprache einer vollkommen neuen Gefahr ausgesetzt. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts war der Einfluß fremder Sprachen auf das Osmanische und die Überflutung der türkischen Sprache mit Fremdwörtern viel größer und viel tiefgehender, als der Einfluß fremder Sprachen auf das Deutsche und dessen Überfremdung (yabancÕlaúma) je gewesen war. Deshalb waren die Bemühungen der vaterlandsliebenden (milletperver) Türken, die das Ziel verfolgten, ihre Sprache zu reinigen (ayÕrtlamak) und zu türkisieren (türkçeleútirmek), grundlegender, brachten schneller Ertrag und zeitigten unerwartete Erfolge. Es war nun auch notwendig, für die vom Einfluß fremder Sprachen und von diesen entlehnten, falschen Schönheitsvorstellungen befreite neue türkische Sprache eine angemessene neue Literatur zu schaffen. –––––––––––––––– 27 Anm. JPL: Zu AúÕk Paúa (1272–1332/33) vgl. KNLL 1, S. 791–792 (mit weiterführender Literatur); darüber hinaus s. BOMBACI, Alessio: Histoire de la littérature turque. Traduite par I. MELIKOFF. Paris 1968, S. 246–247; RUBEN, Gerhard (Hg.): Walter RUBEN: KÕrúehir. Eine altertümliche Kleinstadt Inneranatoliens. Würzburg 2003, S. 62–63. 28 Anm. JPL: Zu AúÕk Paúa Zade (1400–ca. 1484) vgl. PhTF II, S. 438–439; KREUTEL, Richard F. (Hg.): Vom Hirtenzelt zur Hohen Pforte. Graz/Wien/Köln 1959.

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Kein Volk, das außerordentliche, sämtliche Bereiche durchdringende Ereignisse [S. 8] durchgemacht hatte, hätte sich mit einem Mal von einem Jahrhunderte lang währenden kulturellen Einfluß und gesellschaftlichen Verbindungen lösen können: Eine solch plötzliche Trennung zu wollen wäre nicht ungefährlich gewesen. Die Pflicht des türkischen Volkes, das sich aus seiner eigenen Kraft und Fähigkeit und dank zielbewußter Führer aus einer nicht länger zu ertragenden historischen und politischen Lage retten konnte, ist es, eine der eigenen Identität (benlik) entsprechende Kultur zu schaffen: Das ist die Folge der politischen Befreiung und eine weitere Manifestation (tecelli) der Unabhängigkeit. Personen wie Mehmet Emin Bey29 und Ziya gök Alp [sic] Bey30 arbeiteten mit größtem Einsatz erfolgreich für dieses Ziel und bereiteten den Boden für weiterführende Bemühungen in dieser Sache. Jetzt muß die Arbeit, die sie aufgenommen haben, unter Berücksichtigung der heutigen Bedürfnisse des Volkes, mit Sorgfalt weitergeführt und vorangetrieben werden. In einem demokratischen Staat wie der Türkei hat eine hochgebildete, aber kleine Gruppe nicht das Recht, ihre Sprache, ihre Art, Ideen auszudrücken, dem ganzen Volk aufzuzwingen. So wie Luther, als er das Alte und das Neue Testament ins Deutsche übersetzte, die Wörter der lebendigen Sprache des Volks entnahm und wie er die Schriftsprache aus der Volkssprache schuf, muß man bei der Erschaffung einer neuen Schriftsprache in der neuen Türkei dem Problem der Erforschung und Festlegung (tespit) der Wort- und Ausdrucksformen, die in der Volkssprache Anatoliens und in den Dialekten gebraucht werden, große Wichtigkeit beimessen. Man darf sich aber nicht nur damit begnügen, den vorhandenen Wortschatz der anatolischen Dialekte zu sammeln. Es müssen auch die anatolischen Volksgedichte, die verschiedenen Überlieferungen, [S. 9] kurz gesagt, sämtliche kulturellen Erzeugnisse des Volkes aufgenommen und schriftlich festgelegt werden. Und es muß der Weg dazu bereitet werden, daß jedes Individuum der Nation daraus Nutzen ziehen kann. Wenn der gesamte [Wort]schatz gesammelt und veröffentlicht worden ist, werden ästhetisch versierte Schriftsteller, die den Wert der reintürkischen Sprache (öztürk dili) in diesem Fundus kennen, sehr schöne Wörter und Ausdrücke sowie sehr kraftvolle, innovative (bidaî) Ausdrucksformen finden. Mit Hilfe der Literatur vermischen sich diese Wörter –––––––––––––––– 29 Anm. JPL: Zu Mehmed Emin [Yurdakul] (1869–1944) vgl. KNLL 17, S. 964–965; PhTF II, S. 548–551, 621–622; A. BOMBACI, Alessio: 1968, S. 377–378. 30 Anm. JPL: Zu Ziya Gökalp (1876–1924) vgl. KNLL 17, S. 1046–1049; BOMBACI, Alessio: 1968, S. 378–381.

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und Ausdrucksformen dann mit der Umgangssprache und werden auch von der Schriftsprache akzeptiert. Aber auch damit darf man sich nicht zufrieden geben. Dadurch, daß in der Schriftsprache Wörter aus den alttürkischen Dialekten anstelle von in den anatolischen Dialekten in Vergessenheit geratenen Wörtern verwendet werden, sollten sie wieder zum Leben erweckt werden. Dies ist – vom Standpunkt der Bereicherung und Unabhängigkeit der Schriftsprache aus betrachtet – sehr nützlich und wichtig. Der Gazi31 hielt es für unvermeidlich, die lateinischen Buchstaben einzuführen, um den Zugang der [türkischen] Nation zu den zivilisierten europäischen Nationen zu erleichtern und zu garantieren. Diesbezüglich faßte er einen sehr wichtigen, vernünftigen und treffenden Entschluß, den er aufgrund seiner gewohnten festen Entschlossenheit und Energie noch zu seinen Lebzeiten erfolgreich realisieren konnte. Jetzt muß der Entwicklung der türkischen Sprache in einer den neuen Buchstaben angepaßten Form der Weg bereitet werden. Wie in der islamischen Welt Wörter und Ausdrucksweisen vorhanden sind, die in die Sprachen sämtlicher islamischer Völker eingegangen sind und von jedem Muslim verstanden werden, gibt es auch in den Sprachen der europäischen Nationen allgemein gebräuchliche Fachausdrücke. Sie sind es, die garantieren, daß den romanischen, germanischen und slawischen Völkern, deren Sprachstrukturen vollkommen unterschiedlich sind, etliche Anschauungen und Meinungen gemeinsam sind. [S. 10] Wie alle Sprachen der islamischen Nationen ist auch die türkische Sprache seit langem dem Einfluß international gemeinsamer Wörter ausgesetzt. In Zukunft werden diejenigen, die mit der Sprachthematik vertraut sind, nichts mehr dagegen einzuwenden haben, daß diese Wörter, die der Annäherung der Völker dienen, eine solche Rolle spielen. In die Wissenschaftssprache sind viele internationale Wörter eingegangen. Es wird nicht möglich sein, diese auszumerzen. Ebenso wie hinsichtlich des notwendigen Gebrauchs von Fremdwörtern und ausländischen Termini in der Wissenschaftssprache ein Gleichgewicht hergestellt werden muß, müssen die innere Struktur und die Ausdrucksformen der Sprache unbedingt in einer der Volkssprache nachempfundenen und für das Volk verständlichen Form sein. Sadri Maksudi Beys Buch, das auf grundlegenden und tiefschürfenden wissenschaftlichen Forschungen und Studien beruht, analysiert und untersucht auf breiter Basis die Entwicklung der türkischen Sprache und deren heutigen Zustand. Das Werk legt Gedanken dar, die hinsichtlich der Reform der türkischen Sprache und der Wege zur Schaffung einer künftigen –––––––––––––––– 31 D.h. der spätere Mustafa Kemal ATATÜRK.

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türkischen Literatursprache Aufmerksamkeit verdienen, und ebenso schlägt es erwägenswerte Maßnahmen vor. Wir konnten in den obigen Zeilen nur die wichtigsten dieser Gedanken erwähnen. Wir hoffen, daß die Ansichten und Wünsche des Verfassers in der neuen Türkei auf fruchtbaren Boden fallen werden. C. Brockelmann

Anhang Ön Söz [S. 3] Dil bir milletin hususiyetlerinin sadÕk aynasÕdÕr. Millî benli÷ini, millî haysiyetini úuur ve idrak edebilecek seviyeye eriúmedikçe, hiç bir millet, siyasî yahut manevî cihetten kendisinden üstün olan yabancÕ milletlerin harsî tesirine, ve bu harsin nakili olan yabancÕ sözlerin millet diline girmesine manî olmak gerekli÷ini kavrayamaz. Alman milleti tarihte iki defa fransÕz harsinin üstünlü÷i önünde baú e÷me÷e mecbur oldu. Birinci defa orta asÕrlarda, Fransada içtimaî hayat ve medeniyetin úekillerini úövaliye sÕnÕfÕ tayin etti÷i ça÷larda; bu devirde [S. 4] Fransiz tesirî kadÕnlara karúÕ nezaket usullerinde, aúk úiirlerinde tecelli ediyordu. Bu devirde AlmanyanÕn feodal camiasinin içtimaî hayat lisanÕna gayet bol FransÕz kelimeleri girdi. økinci defa otuz yÕl muharebelerinden sonra. Bu devirde FransÕzlarÕn Almanlara siyasî üstünlü÷i neticesinde Fransadan Almanya üzerine, lisanÕ ecnebileútirici dalgalar aktÕ. Birinci devirde Fransadan akan harsî cereyanÕn tesiri Alman milletinin ancak yüksek tabakalarÕnda görülmüútü. Halbuki, ikinci devirde FransÕzlarÕn harsî tesiri bütün tabaka, bütün dairelere úamil idi, çünkü bu devirde, eski de ancak prenslerin saraylarÕnda, úövaliye úehirlerinde hâkim olan bu hars ve medeniyet ikinci devirde úehirler vasÕtasÕ ile bütün Almanya ülkesine yayÕlmÕútÕ. Birinci akÕmÕn tesiri úöva1iye medeniyetinin zevalile zail olmuútu, halbuki ikinci cereyanÕn netice ve ––––––––––––––––

Bu mukaddeme Breslau Darülfünunu profesörü herr C. Brockelmann tarafÕndan yazÕlmÕútÕr. Profesör C. Brockelmann bugün Avrupada otoritesi tanÕnmÕú maruf filolog ve müsteúriklerdendir. Arap edebiyatÕ tarihine ait kiymetli tetebbü ve eserlerinden baúka, profesör C. Brockelmann son yÕllar zarfÕnda eski Türk 1ehçe1erine dair de÷erli makale ve eserler neúretti. Profesör BrockelmannÕn bütün eserlerinin büyük bir ilmî sa1âhiyet, denrin vukuf, esaslÕ tetebbü mahsulu oldu÷unu bu gün her kes tasdik etmiútir. Profesör BrockelmannÕn Türk diline dair yazmÕú oldu÷u eserlerden en sonuncusu “Mitteltürkischer Wortschatz nach Mahmûd al-Kaúgaris Divan lugat at-turk“ dir.

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tesirleri ancak uzun süren mesai ve úuurlu mücadele sayesinde izale edilebildi. YabancÕ bir harsÕn tesirine maruz olmanÕn millî úeref ve haysiyete mugayir bir hal, bir düúkünlük oldu÷u his edildi÷i gün, Alman milleti içinde, uzak büyük dedelerin, atalarÕn mirasÕ olan dilin pakli÷ini, safvetini, halis Almanca olmasÕnÕ yeniden temin etmek dilek ve temayüli do÷du. Gerek on yedinci asrÕn dil cemiyetleri, gerekse bu günkü Almanyadaki lisan cemiyeti, mukaddes bir gaye saydÕklarÕ Alman dilinin safveti, temizli÷i için çalÕúma yolunda belki gere÷inden artÕk ileri gitmiúlerdir. Bununla beraber, bu cemiyetlerin Alman halkÕna yap-[S. 5]-dÕklarÕ gayet büyük hizmetleri ve erdikleri müsbet neticeleri hiç kimse inkâr edemez. Pek eski devirlerde halk diline girmiú, yabancÕ oldu÷u büsbütün unutulmuú olan medeni kelimeler yerine, mutlaka yeni yapÕlmÕú kelimeler koy-mak fikrini meseleye vakÕf bir adam ileri süremez. Fakat bir úey muhakkaktÕr. Millet lisanÕnda kolaylÕkla muadillerini bulmak yahut yaratmak mümkün oldu÷u halde, ecnebi kelimeleri kullanma÷a sevk eden en büyük amil, kelime aramak, tabir yaratmak hususundaki tenbellik ve dilin safveti meselesine karúÕ lakayitlik olmuútur. Türklerde de dil inkiúafÕ tarihi Alman dili inkiúafÕ tarihine benzer bir úekilde cereyan etti. Türkler orta Asyada yaúadÕklarÕ zaman úarktaki Çin, garptaki øran medeniyetlerinin tesirine maruz bulunuyorlardÕ. Bu iki milletten her ikisinin türklerin siyaset lisanÕna tesiri görülmüútür. Bir taraftan HanlarÕn kibir ve ö÷ünme temayüli, di÷er taraftan, komúu ecnebi milletlerin idare usullerini taklit zarureti Türkleri Çince, Acemce unvanlar taúÕma÷a, yabancÕ dillerden alÕnmÕú devlet idaresine ve memuriyetlere dair tabir ve ÕstÕlahlar kullanma÷a sevketmiútir. Fakat bu unvan ve idarî tabirleri (küçük bir kÕsmÕ istisna edilirse) milli úuur sahibi türk kabilelerinin lisanlarÕ hazmetmedi, benimsemedi; bu gibi kabilelerin dillerinde ecnebi kelimeler yabancÕ unsur olarak kaldÕlar; Türk dilinin sa÷lam kalbÕnÕ, úekillerinin zenginli÷ini, ahengini bozmadÕlar. Vaktaki Türkler garbe do÷ru muhaceretleri neticesinde eskiden medeni olan sahalarda yerleútiler, eski bir medeniyet içine girdiler, o zaman iú baúka úekil aldÕ: göçebe ve [S. 6] basit hayata alÕúmÕú türklerin ruhu üzerine, bu medeniyet büyülü bir tesir icra etti. ArabÕn ilim ve fenlerinin cazibesine, øranin fesahat ve belâ÷at usullerinin, edibiyatÕnÕn bagÕsÕna karúÕ Türkler dayanamadÕlar. Selçuk, Timur ve OsmanlÕ hanedanÕ devirlerinde saray mahafilinde pek çabuk, Türk alimleri, Türk edip ve úairleri üstatlarÕ olan arap ve Acem alim ve müelliflerile muvaffakÕyetli bir surette rekabet etme÷e baúladÕlar. Bu muvaffakiyetten dolayÕ Türkler gurur ve iftihar duyma÷a haklÕ olabilirler. Fakat bununla beraber bu medeni muvaffakÕyetlerin, bu harúî çiçek

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açmanÕn, Türk halkÕnÕn kendi ruhunda mevcut olan kÕymetli medenî istidatlarÕn inkiúafÕ zararÕna, millî hars ve medeniyet kaynaklarÕnÕn kurumasÕ bahasÕna kazanÕlmÕú oldu÷unu da itiraf etmek lâzÕmdÕr. OsmanlÕ devrinin en eski tarihci ve úairleri büyük babalarÕndan kalma dilin temizli÷ini, arÕlÕ÷ÕnÕ saklama÷a bir dereceye kadar çalÕútÕlar isede, sonralarÕ OsmanlÕ münevverleri ArabÕn ilim dilinde müstamel ÕstÕlahlarÕ, Acemin edebiyatÕndaki sahte yaldÕzlÕ, parlak kelimeler, i÷reti terkipler ve düzme tabirleri türkçe yazÕlarda ve hatta gündelik hayat lisanÕnda dahi kullanmayÕ zarafet alâmeti temeyyüz emaresi telâkki ettiler. Türkçe sözler yerine bunlarÕ kullanmayÕ daha kolay buldular. Bunun neticesinde iki asÕr sonra AúÕk Paúa ve AúÕk Paúa zade lisanÕ münevver Türkler için bir yabancÕ lisan olmuútu. Münevver Türkler bu lisana, bugünkü AlmanlarÕn kadim GotlarÕn lisanÕna bakmalarÕna benzer bir nazarla bakÕyorlardÕ. Köylerde [S. 7] saklanmakta olan Türkün eski, kuvvetli ve canlÕ millî dili úehirliler tarafÕndan istihfaf edilir, kaba dil gibi telâkki olunurdu. Türklerde lisan inkiúafÕnÕn bu Õstikameti almasÕ bir dereceye kadar kaçÕnmasÕ kabil olmÕyan bir hal oldu÷u úüphesizdir? Çünkü bu, bütün, islâm âlemini, islâm milletlerini birbirine ba÷layan ecnebî kavimlerin istilâ ve tesirine ra÷men bakÕ kalan iman ve din birli÷i neticesidir. On dokuzuncu asirda úarkta garp medeniyetinin tesiri görülme÷e baúladÕ. BÕlhassa Türklerde FransÕz harsÕnÕ, FransÕzlarÕn nefaset telâkkilerini kabule bariz bir temayül görüldü. Bunun neticesinde zaten ötedenberi Arap ve Acem kelimelerinin boyunduru÷u altÕnda bulunan Türk dili üzerine FransÕz harsÕ dalgalarÕ akma÷a baúladÕ. Bu suretle Türk dilinin orijinallÕ÷Õ, benli÷i, istiklâli, öz beyli÷i büsbütün yeni bir tehlikeye maruz kaldÕ. On dokuzuncu asrÕn nihayetlerine do÷ru, OsmanlÕ lisanÕna ecnebi lisanlarÕn tesiri, Türk dilini yabancÕ kelimelerin istilâsÕ, eskide ecnebi lisanlarÕn Alman diline icra ettikleri tesirden, Alman lisanÕnÕn yabancÕlaúmasÕndan daha ziyade, daha derindi. Onun için milletperver Türklerin dillerini ayÕrtlama ve türkçeleútirme gayesini güden mesaisi, daha esaslÕ oldu, daha çabuk yemiúler verdi, ve beklenilmeyen muvaffakiyetlerle neticelendi. Ecnebi dillerin tesirinden ve bu dillerden istiare olunmuú düzme nefaset telâkkilerinden kurtulmuú yeni Türk diline uygun yeni edibiyat yaratmak lâzÕmdÕ. Hiç bir millet, her úeyi sarsan fevkalade vak’alar ge-[S. 8]-çirmiú olsa dahi, asÕrlarca devam etmiú olan harsî tesir ve medenî vahdet rabÕtalarÕndan kendisini bin hamlede kurtaramazdÕ; böyle birden bire ayrÕlmayÕ istemek tehlikesiz de olmazdÕ. Kendinde mündemic kuvvet ve kabiliyet, gayelerini müdrîk úuurlu reislerin rehbenli÷i sayesinde, tahammül edilmez bir úekil almÕú olan tarihi ve siyasi vaziyetten kendisini kurtarabilmiú olan Türk milletinin vazifesi,

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kendi benli÷ine uygun bir hars yaratmakdÕr; bu, siyasi kurtuluúun neticesi, ve istiklâlÕn di÷er bir tecellisidir. Mehmet Emin Bey, Ziya gök Alp Bey gibiler bu gaye için azami surette ve muvaffakiyetle çalÕúmÕúlardÕ. Bu sahadaki yapÕlacak iúler için, zemin hazÕrlamÕúlardÕ. ùimdi onlarÕn baúlamÕú olduklarÕ bu iúi bugün halkÕn ihtiyaçlarÕnÕ nazar itibara alarak itina ile devam ettirmelidir, ilerletilmelidir. Türkiye gibi demokratik bin devlette, gayet münevver, fakat küçük bir zümrenin kendi lisanÕnÕ, fikir ifadesi úekillerini, bütün halka kabul ettirmek iddiasÕnda bulunma÷a hakkÕ yoktur. Luther ahdi atiki ve ahdi cedidi Almancaya tercüme etti÷i zaman kelimeleri halkÕn yaúayan lisanÕndan alma÷a, halkÕn lisanÕndan, yazÕ dili yaratma÷a nasÕl çalÕúdise, yeni Türkiye de yeni bir yazÕ dili yaratmak için, Anadolu da halk dilinde, halk lehcelerinde kullanÕlan söz ve ifade usullerini tetkik, ve tespit meselesine büyük bir ehemmiyet atfetmelidir. Anadolu lehçelerinde mevcut olan söz hazinesini toplamakla da iktifa olunmamalÕdÕr. Anadolu halkÕnÕn úiirlerini, türlü an’anelerini, hülasa, halkÕn [S. 9] bütün harsî mahsullarÕnÕ da toplamak ve yazÕda tespit etmek lâzÕmdÕr. Bunlardan umum millet efradÕnÕn istifade edebilmesine yol açmak gerektir. Bütün hazineler toplanÕp neúir olundu÷u zaman bu hazinede öztürk dilinin de÷erini bilen zevk sahibi yazÕcÕlar, pek çok güzel kelimeler, tabirler, pek çok kuvvetli, bidaî ifade usulleri bulurlar; edebiyat vasÕtasÕ ile bu kelimeler, bu ifade tarzlarÕ, umumun diline karÕúÕr, yazÕ lisanÕnda da makbul olur. Bununla de iktifa etmemelidir. Anadolu lehçelerinde unutulmÕú kelimeler yerine eski türk lehcelerinden alÕnmÕú sözleri yazÕ dilinde kullanmak suretile, bu sözleri yeniden yaúatmak lâzÕmdÕr. Bu yazÕ dilinin zengin-leúmesi ve istiklâli noktai nazarÕndan çok faidelÕ ve mühimdir. Gazi milletinin AvrupanÕn medeni milletleri arasÕna girmesini kolaylaútÕrmak ve temin etmek için, Lâtin harflerini kabul etmeyi zaruri buldu, ve bu hususta gayet mühim, makul ve isabetli bin karar ittihaz etti. Bu kararÕnÕ mutadÕ oldu÷u üzere, kendisine mahsus azm kudreti, enerji sayesinde hayat ta tahakkuk ettirme÷e de muvaffak oldu. ùimdi Türk dilinin yeni harflere uygun bir surette inkiúafÕna yol açmak gerektir. øslâm dunyasÕnda bütün islâm milletlerinin lisanÕna girmiú, her müslümanÕn anladÕ÷Õ kelimeler, ifade tarzlarÕ mevcut oldu÷u gibi, Avrupa milletlerinin lisanlarÕnda dahi bütün medeni lisanlanda müsta’mel müúterek, umumî ÕstÕlahlar vardÕr. Bunlar sayesinde, bünyeleri itibarile lisanlarÕ bir birinden büsbütün ayrÕ olan, Lâtin, Jermen ve Slav milletlerinin bin çok telâkki ve nazarlarÕnÕn müúterek olmasÕ temin edilmektedir. [S. 10] Bütün islâm milletlerinin lisani gibi Türk dilide çoktanberi beynelmilel müúterek kelimelerin tesirine maruzdur. øleride de lisan meselelerine vukufÕ olanlar, milletleri yaklaúdÕrma÷a hizmet eden bu

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kelimelerin bu rollerini oynamakta devam etmelerine itiraz ve mümanaat etmeyecektir. ølim lisanÕna bir çok beynelmilel kelimeler girmiútin. BunlarÕ çÕkarmak mümkün olmayacaktÕr; ilim lisanÕnda istimali zaruri olan yabancÕ kelime ve ÕstÕlahlara karúÕ bir denk teúkil etmek üzere, dilin dahili bünyesi, ifade usulleri mutlaka, halk dilindeki úekillere uygun ve halkÕn anlamasÕnÕ temin edebilecek bir úekilde olmalÕdÕr. Sadri Maksudi Beyin esasli ve derin tetebbü ve tedkiklere istinat eden bu kitabÕ Türk dilinin inkiúafi tarihini ve bu günki halÕnÕ geniú bir görüú noktasÕndan bakarak tahlil ve tetkik ediyor, Türk dilinin ÕslahÕ ve gelecekte türkçe edebî dil yaratma yollarÕ hakkÕnda dikkate úayan fikirler ileri süriyor, nazarÕ itibara alma÷a lâyÕk tedbirler teklif ediyor. Biz yukarÕdakÕ satÕrlarda bu fikirlerden ancak en mühim olanlarÕnÕ zikir edebildik. Yeni Türkiyede müellifin fikir ve dilekleri müsait bir zemin bularak müsmir olaca÷ÕnÕ ümit ediyoruz. C. Brockelmann

Abkürzungen AOH KNLL PhTF II ZDMG

Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae Kindlers Neues Literatur Lexikon Philologiae Turcicae Fundamenta. Band 2. Wiesbaden 1964 Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft

Bibliographie: ADAM, Volker: Rußlandmuslime in Istanbul am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die Berichterstattung osmanischer Periodika über Rußland und Zentralasien. Frankfurt a.M. u.a. 2002. [ARSAL], Sadri MAKSUDø: Türk Dili için. østanbul 1930. AYDA, Adile: Sadri Maksudi Arsal. Ankara 1991. (Kültür BakanlÕ÷Õ YayÕnlarÕ, 1282. Türk Büyükleri Dizisi, 138). BÄR, Erika: Bibliographie zur deutschsprachigen Islamwissenschaft und Semitistik vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute. Band 2, Wiesbaden 1991. [S. 128–142: C. Brockelmann]. BOMBACI, Alessio: Histoire de la littérature turque. Traduite par I. MELIKOFF. Paris 1968. BROCKELMANN, Carl: Naturlaute im Mitteltürkischen, in: Ungarische Jahrbücher 8 (1928), S. 257–265.

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Jens Peter Laut

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Der Eid bei den Osmanen Maurus Reinkowski (Freiburg) 1. Einführung Der Eid ist von großer Bedeutung für den Bestand und den Zusammenhalt von Sozialgefügen, so sehr vielleicht, daß er auf den ersten Blick als eine Selbstverständlichkeit erscheinen könnte. Von besonderer Bedeutung scheinen dabei alle Arten von Treueverpflichtungen zu sein, mit der soziale Gruppen ihren Zusammenhalt begründen oder bekräftigen.1 Zuerst ist daher der Stellenwert des Eides an sich und im islamischen Rechtsverständnis zu erklären, bevor das eigentliche Thema dieses Beitrags, der Eid bei den Osmanen, zur Sprache kommen wird. Beginnen wir mit zwei unterschiedlichen Beobachtungen zum Stellenwert des Eides in der islamischen Welt: Auf der einen Seite schildern zwei europäische Beobachter des Osmanischen Reiches im 18. Jahrhundert, James PORTER und Mouradgea D’OHSSON, übereinstimmend, von wie geringem Wert der Eid in osmanischen Gerichtsverfahren war – ja daß er sogar schlichtweg käuflich gewesen sei.2 Nach PORTER hatten manche Personen aus dem Zeugnisablegen vor Gericht eine Profession gemacht und waren bereit, gegen eine entsprechende Zahlung für jedermann in dessen Interesse auszusagen und diese Aussage auch zu beschwören.3 Auf –––––––––––––––– 1

2

3

SCHREY, Heinz-Horst: s.v. „Eid“ VI: Ethisch, Theologische Realenzyklopädie. Berlin 1982, vol. 9, S. 392: „Der Eid ist somit das verbale Ritual, durch das sich eine fusionierende Gruppe ihr eigenes Ziel setzt, Permanenz garantiert und recht eigentlich zur Institution wird.“ D’OHSSON, Mouradgea I.: Tableau général de l’empire Ottoman. Publiée par M.C. D’OHSSON, fils de l’auteur. østanbul 2001 (Erstauflage: Paris 1824), vol. 6: Code Civil, Codes Judiciaire et Penal; Teil: Code Judiciaire, Kap. VIII: De témoignages judiciaires, S. 97: „On trouve dans chaque ville des hommes qui n’ont d’autre profession que celle de déposer en justice pour un salaire.“; siehe auch Code Pénal, Livre Premier: Des Peines Afflictives; chap. VIII: De faux témoignage, S. 131. PORTER, Sir James: Observations on Religion, Law, Government and Manners of the Turks, 2nd edition. London 1771, S. 135–139. – Die Stellenfunde bei D’OHSSON und PORTER zum Eidmißbrauch im osmanischen Rechtssystem verdanken sich ERGENE, Bo÷aç A.: Local Court, Provincial Society and Justice in the Ottoman

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der anderen Seite zeigen uns osmanische Gerichtsdokumente, wie sehr der Meineid als Bedrohung für das eigene seelische Heil erlebt wurde. Aus diesen Gerichtsakten wissen wir, daß sehr viele Angeklagte bereit waren, unmittelbar bei Eröffnung der Gerichtsverhandlung ihre Schuld zuzugeben. Neben der Furcht vor der Autorität des Kadis wird wohl auch die Abneigung, womöglich einen Meineid schwören zu müssen, von Bedeutung gewesen sein.4 Ähnliches hat der Rechtsanthropologe Lawrence ROSEN für das Marokko des 20. Jahrhunderts beobachtet. Er hat über Jahrzehnte hinweg die Rechtspraxis von Kadis in Sefrou, einer an den Nordhängen des Mittleren Atlas gelegenen Stadt, verfolgt. ROSEN hebt die zentrale Rolle der mündlichen Zeugenaussage im islamischen Rechtssystem hervor und weist auf die Möglichkeit hin, daß der Richter bei einer unklaren Sachlage (also gewissermaßen bei einer Pattsituation hinsichtlich der materiellen Hinweise oder auch der Zeugenaussagen) den Prozeß durch Eidzuschiebung entweder an die Klägerseite oder die Seite des Angeklagten zu einer Entscheidung und damit zu einem Abschluß bringen kann. Der offensichtlichen Möglichkeit, durch einen Meineid einen Prozeß leichthin gewinnen zu können, steht jedoch die Besorgnis des potentiell Meineidigen entgegen, durch eine allzu offensichtliche und dreiste Lüge sein Ansehen in seiner sozialen Umgebung oder der Geschäftswelt zu beschädigen. Noch weitaus existentieller kann aber die Furcht vor den göttlichen Straffolgen eines Meineides sein. So geschehe es immer wieder, berichtet ROSEN, daß derjenige, der seinen Eid am Freitag in der Mosche leisten soll, im letzten Augenblick von seinem Vorhaben zurücktrete.5 Diese gegensätzlichen Beobachtungen zeigen uns, was im Rahmen der islamischen Geschichte und Doktrin möglich ist an Dreistigkeit und zu–––––––––––––––– 4

5

Empire. Legal Practice and Dispute Resolution in ÇankÕrÕ and Kastamonu (1652– 1744). Leiden, Boston 2003, S. 65f. HEYD, Uriel: Studies in Old Ottoman Criminal Law, hg. von MÉNAGE, V.L.: Oxford 1973, S. 244, 251f; siehe auch die Argumentation von GERBER, Haim: State, Society and Law in Islam. Ottoman Law in Comparative Perspective. Albany 1994, S. 48f, nach der die überraschend hohe Anzahl von Personen, die sich weigerten einen Eid zu leisten, nur durch die ausgeprägte Religiosität und Furcht vor den göttlichen Straffolgen eines Meineids erklärt werden kann. – Nach ERGENE, Bo÷aç A.: 2003, S. 64f, war in Kastamonu für die Beklagten, nach der Zeugenaussage mit ca. 37%, der Eid das zweithäufigste Mittel (31%) ihrer Verteidigung. In nur jeweils 5 Fällen (also in 10 von insgesamt 244 ausgewerteten Fällen) verloren Beklagter und Kläger den Prozeß, weil sie sich weigerten, einen Eid auf die von ihnen vorher gemachten Behauptungen zu leisten. ROSEN, Lawrence: The Anthropology of Justice. Law as Culture in Islamic Society. Cambridge u.a. 1989, S. 34f. – Siehe im selben Sinne auch GRÄF, Erwin: Das Rechtswesen der heutigen Beduinen. Walldorf 1952, S. 66ff.

Der Eid bei den Osmanen

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gleich Respekt gegenüber dem Eid. Ein solches Nebeneinander von Vorbehalt und Hochachtung gegenüber dem Eid ist nicht ungewöhnlich und nicht allein in einer bestimmten religiös-kulturellen Tradition, in diesem Fall wäre es der Islam, angelegt. Der Eid läßt sich nämlich mit gewissen Aspekten der menschlichen Selbstsicht nicht in Übereinklang bringen. So wurde unter anderem gegen den Eid der Einwand vorgebracht, daß einem ehr- und glaubwürdigen Menschen eine Eidesleistung nicht aufgezwungen werden solle.6 Moralische, philosophische und theologische Bedenken haben jedoch die Menschen kaum oder nur für eine begrenzte Zeit von Eiden abhalten können; zu sehr kommt der Eid menschlichen Grundbedürfnissen entgegen – nämlich der Herstellung von Vertrauensverhältnissen: Seit Alters her und überall [ist] der ‚Eid‘ als geeignetes Mittel zur Beseitigung oder zumindest Beschwichtigung des Mißtrauens der Gruppe in die Glaubwürdigkeit oder Treue einer Person angesehen worden.7

2. Die Eigenschaften des Eides Der Eid ist eine Art „ethnologisches Urphänomen“.8 Wie also ließe er sich möglichst umfassend und zugleich einprägend definieren? In der sehr kurzen Definition im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte wird der Eid als eine „Wahrheitsversicherung unter Anrufung der Gottheit als Rächerin der Unwahrheit“ beschrieben. Umfassender, indem er das Angerufene nicht allein auf eine Gottheit beschränkt und alle Zeitebenen mit einschließt, definiert Jakob GRIMM den Eid: Eid ist die feierliche betheuerung der wahrheit einer vergangenen, der echtheit einer gegenwärtigen, der sicherheit einer künftigen handlung. Das feierliche beruht aber wesentlich darin, das ein dem schwörenden heiliger gegenstand angerufen und zum zeugen [der wahrheit und rächer der unwahrheit] genommen wird.9

–––––––––––––––– 6 7

8

9

HIRZEL, Rudolf: Der Eid: Ein Beitrag zu seiner Geschichte. Leipzig 1902 (Nachdruck New York 1979), S. 112. HIRSCH, Ernst E.: Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides, in: LÜTTGER, Hans (Hg.): Festschrift für Ernst Heinitz zum siebzigsten Geburtstag. Berlin 1972, S. 139–158, hier S. 144. „Er [der Eid] findet sich bei den meisten Naturvölkern, ferner in China, im alten Orient wie im indogermanischen Kulturbereich; im alten Israel, bei Griechen, Römern, Kelten und Germanen.“, ERLER, A.: s.v. „Eid“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, vol. 1, Berlin 1971, S. 861–870, hier S. 861. GRIMM, Jacob: Deutsche Rechtsaltertümer. Darmstadt 1983 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 18894), vol. 2, S. 541.

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Für den Eid scheinen die folgenden Eigenschaften elementar zu sein:10 (a) Der Eid wird mündlich geleistet und ist an streng vorgegebene Formeln gebunden. (b) Teilnehmer an einem Eid ist nicht nur die schwörende Person bzw. Gruppe; als zweite beteiligte Partei ist die angerufene Instanz zu nennen; als dritte Partei tritt die Gemeinschaft auf, die den Ritus und Wortlaut des Eides setzt und die Öffentlichkeit herstellt, in der der Eid geleistet wird. (c) „Der Eid ist immer rituell gebunden; Wort und Form treten zusammen. Die Form besteht bald im Erheben der Hand oder einzelner Finger, im Berühren von Körperteilen (Haar, Bart, Brust) oder von anderen Gegenständen ([...] Heiligen Schriften, Steinen, Reliquien [...]).“ 11 (d) Seine Wirksamkeit entfaltet der Eid durch seine nahe Verwandtschaft zum Fluch, er kann sogar gesehen werden als eine Art bedingte und potentielle Selbstverfluchung.12 In den Eid ist also die Vorstellung eingewoben, daß bei einem Meineid oder Eidbruch den Eidleistenden eine göttliche Strafe ereilen wird.13 Die Verfluchung und göttliche Strafe ist der Sanktionsmechanismus des Eides. Typische, zu erwartende göttliche Strafen für einen Meineid waren Blindheit, Wahnsinn, Schlangen- oder Skorpionbiß und Ertrinken in einer Flut.14 Als ein Beispiel für den deutlichen Verflu–––––––––––––––– 10 Zusammenstellung nach LEVY-BRUHL, Henri: Reflexions sur le Serment, in: Études d’histoire privé, offertes à Pierre Petot. Paris 1959, S. 385–396; sowie PRODI, Paolo: Das Sakrament der Herrschaft: Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents. Berlin 1997, S. 21. 11 ERLER, A.: Eid 1971, S. 861. 12 WELLHAUSEN, Julius: s.v. „VI: Arabisch-israelitisch“, in: MOMMSEN, Theodor (ed.): Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker. Fragen zur Rechtsvergleichung. Gestellt von Th. Mommsen. Beantwortet von H. Brunner, B. Freudenthal u.a. Mit einem Vorwort von Karl BINDING. Leipzig 1905, S. 97; siehe auch PEDERSEN, Johannes: Der Eid bei den Semiten in seinem Verhältnis zu verwandten Erscheinungen sowie die Stellung des Eides im Islam. Straßburg 1914, S. 108: „Um die hypothetische Verfluchung zum Eid werden zu lassen, genügt es, daß der Redende sie gegen sich selbst anwendet.“ – Zu Eiden mit eingebundener Selbstverfluchung im Jemen des 20. Jahrhunderts siehe DRESCH, Paul: Tribes, Government, and History in Yemen. Oxford 1989, S. 404, u.a. mit diesem Beispiel (Umschrift nach DRESCH): “B-illƗh al-‫ޏ‬a਌Ưm qƗ৬i‫ ޏ‬al-sƯb wa-l-nasƯb wa-l-dhurriyyah, anƗ akhruj min তawl allƗh ilƗ তawl al-shay৬Ɨn... w-allƗh ‫ޏ‬alƗ mƗ aqnjl shahƯd (By God almighty who can put off benefits, descendants and offspring, I leave the power of God for the power of the devil [if I lie...], and God is the witness to what I say).” 13 HART, David: Tribe and Society in Rural Morocco. London, Portland, OR 2000, S. 66: “(...) for the oath was not only a legal trial but a religious one as well, given the fact that oath was a purgatory trial and given the threat of divine punishment for perjury.” 14 HART, David: 2000, S. 78; siehe auch HIRZEL, Rudolf: 1902, S. 8, zum Eid als potentielle Selbstverfluchung bei den Griechen.

Der Eid bei den Osmanen

301

chungscharakter des Eides kann man den Gegenfluch im islamischen Recht (lÕࡐ Ɨn) erwähnen, der „bei Ehebruchsverdächtigung der schwangeren Frau durch ihren Gatten als Beweis- oder Zurückweisungsmittel“ galt.15 (e) Der Eid ist eine Art Gottesgericht, bei dem der Schuldspruch über den Schwörenden dem Urteil Gottes überlassen wird. In der Tat ist der Eid wohl auch ein Abkömmling des Gottesurteils. Im Gottesurteil, dem ordal oder judicium Dei ist Gott der Hüter des Rechts: „er duldet es nicht, daß im irdischen Rechtsstreit der Schuldige freigesprochen wird oder der Unschuldige unterliegt“.16 Erst später trennen sich Gottesurteil und Eid. Beim Gottesurteil greift die Gottheit augenblicklich ein, beim Meineid dagegen können die Folgen auf sich warten lassen.17

3. Die Terminologie des Eides im Islam Der Islam kennt eine Vielzahl von Eidesleistungen und Eidesformeln, von denen die Mehrzahl bereits in der vorislamischen arabischen Stammeswelt entwickelt wurde.18 Die im Arabischen üblichen Begriffe für den „Eid“ (die dann auch in das Osmanisch-Türkische und das Persische einwanderten) sind ‫ۊ‬alf, qasam und yamƯn. Diese drei Begriffe weisen in Bedeutung und Wertigkeit erst einmal keine deutlichen Unterschiede auf.19 Eine Sonderform des Eides ist der kollektive Reinigungseid oder Bekräftigungseid, qasƗma.20 Es handelt sich hier um einen Schwur, der von bis zu 50 Eides–––––––––––––––– 15 GOLDZIHER, Ignaz: s.v. „VI: Islam“, in: MOMMSEN, Theodor (ed.): 1905, S. 97. 16 ERLER, A.: s.v. „Gottesurteil“, Handwörterbuch 1971, S. 1769–1773, hier S. 1769. 17 HIRZEL, Rudolf: 1902, S. 211. – Plausibel ist die Aussage von GRÄF, Erwin: 1952, S. 72, daß Ordal und Eid sich gegenseitig ausschließen, aber auch eine komplementäre Aufteilung möglich sei: Bei Unzuchtsvermutung leiste der Mann einen Eid, die Frau müsse sich dem weitaus unangenehmeren Ordal unterwerfen. 18 KENNETT, Austin: Bedouin Justice. Law and Customs among the Egyptian Bedouin. Cambridge 1925, S. 40. AUSTIN sieht das beduinische Recht noch im Ägypten des 19. und 20. Jahrhunderts im besonderen darauf angelegt, die Wahrheit auch in den Fällen zu erkunden, in denen keinerlei Beweismaterial, Zeugen oder sonstige Anhaltspunkte vorliegen. Das entscheidende Instrument hierfür sei eben der Eid, der in seiner Anlage und seinem Wesen bis in die frühesten Gesellschaften zurückreiche und dem im Buch Exodus XII, 9–10, beschriebenen Eid entspreche. 19 Der Schwur wurde oft auf einen Schwurgegenstand geleistet. Der auf den Koran geleistete Schwur (ҵalƗ l-ma‫ۊ܈‬af) oder zum Beispiel auf den ЁƗmiҵ von al-BuপƗrƯ hat sich natürlich erst in den späteren islamischen Jahrhunderten durchgesetzt; siehe auch GOLDZIHER, Ignaz: Muhammedanische Studien. Halle 1890 (Nachdruck: Hildesheim 1961), vol. 2, S. 255, insbes. Fußnote 2. 20 Aber auch das unter den tribal geprägten Bevölkerungsgruppen bis in die Gegenwart gepflegte Gewohnheitsrecht bevorzugte Beweise und Zeugenaussagen. Zu

302

Maurus Reinkowski

helfern geleistet werden mußte, in der Regel von den Angehörigen eines Täters,21 oder zum Beispiel auch von den Einwohnern eines Dorfes, in dem ein Mord geschah. Neben diesen direkten Eidbegriffen (in der folgenden Tabelle mit den Buchstaben ‚a‘ bis ‚d‘ bezeichnet) gibt es zahlreiche Handlungen, die entweder eng mit dem Eid verbunden sind oder aber selbst den Charakter eines Eides annehmen können. Mit manchen dieser eidnahen Begriffe (Buchstaben ‚e‘ bis ‚n‘) werden wir uns in der Folge vermehrt beschäftigen, manche seien hier nur der Anschaulichkeit halber erwähnt – eben um einen Eindruck von der Bandbreite eidnaher Handlungen zu bekommen (die Liste erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit): Arabisch22 Osmanisch 23 Deutsche Übersetzung24 (a)

‫ۊ‬alf

‫ۊ‬alf

„Schwören, Schwur“

(b)

qasam

ۘasem

„Schwur, Eid“

(c)

qasƗma

ۘasƗme

Reinigungseid

(d)

yamƯn

yemƯn

„Eid, Schwur“

(e)

ҵahd

ҵahit

„(..) Verpflichtung; Verantwortung; Gelübde; Versprechen; Schwur; Vertrag, Kontrakt, Bund, Pakt, Vereinbarung (..)“; also unverbrüchliche Vereinbarung von zwei Parteien mit gegenseitigen Rechten und Pflichten

–––––––––––––––– 21

22 23 24

Eiden, die von Individuen oder Kollektiven geleistet werden mußten, wurde nur gegriffen, wenn solche direkten Hinweise fehlten. Auch die Institution der Eideshelfer, die sowohl dem Angeklagten in einem kollektiven Reinigungseid als auch dem Ankläger in einem Bekräftigungseid zur Seite treten können, ist weitverbreitet. So heißen die Eideshelfer im berberischen Gewohnheitsrecht Marokkos imgellen und porotë bzw. poronike im albanischen Gewohnheitsrecht. Einträge gemäß der standardisierten Umschrift für das Hocharabische. Alle Einträge für das Osmanische nach New Redhouse Turkish-English Dictionary. østanbul 1968. Alle in Anführungszeichen enthaltenen Übersetzungen sind entnommen aus WEHR, Hans: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch-Deutsch. Wiesbaden 19855.

Der Eid bei den Osmanen

303

(f)

bayҵa

beyҵa, bƯҵat

„(..) Verkauf; Kauf; Huldigung, Treuebekenntnis, Treueid (für einen Herrscher oder ein Staatsoberhaupt)“

(g)

bišҵa25 balҵa26



Ordal27 (a: durch das Lecken eines glühenden Eisens; oder seltener b: durch das Hinabwürgen schwer zu verschluckender Sachen)

(h)

‫ۊ‬ilf

‫ۊ‬ilf

„Pakt, Bündnisvertrag, beschworener Bund, Bündnis; Bundesgenosse“

(i)

‫ۊ‬in‫ܔ‬

‫ۊ‬ins

„Meineid, Sünde“, eigentlich Eidbruch nach einer unbesonnenen Äußerung (laƥw)

(j)

ƯlƗҴ

iҴlƗ

„Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft durch den Eid des Mannes, mindestens 4 Monate den ehelichen Verkehr unterlassen zu haben (i.R.)“

(k)

ƯlƗf



Vereinbarung über freies Geleit durch fremde Gebiete

(l)

liҵƗn

liҵƗn

„Verfluchungsschwur; eidliche Behauptung der Unzucht eines Ehegatten“

(m)

na‫ڴ‬r

nezir

„Gelübde, Gelöbnis; Weihgabe, Weihgeschenk“

(n)

šahƗda

úehƗdet

„(...) Glaubensbekenntnis (der Muslime) (…)“

Dem Eid nahestehend ist die Institution der baҵya, ein Akt der Anerkennung der Autorität eines Höherstehenden. Grundsätzlich zeigt die bayҵa einen Vertragscharakter, der auch daraus ersichtlich wird, daß der Begriff –––––––––––––––– 25 Zur vermutlichen Etymologie von bišaҵ siehe ALAFENISH, Salim: Der Stellenwert der Feuerprobe im Gewohnheitsrecht der Beduinen der Negev, in: SCHOLZ, Fred & JANZEN, Jörg (Hsg): Nomadismus – ein Entwicklungsproblem? Berlin 1982, S. 143–158, hier S. 152. 26 GRÄF, Erwin: 1952, S. 59, zum Gottesurteil durch Verschlucken (balҵa) entweder eines trockenen Brotes oder einer unbekömmlichen Flüssigkeit, auch Medizin. Bei Würgen oder Erbrechen galt die Schuld als erwiesen. 27 Zu (allerdings vagen) Angaben zur Verbreitung des Ordal in der arabischen Welt siehe STEWART, F.H.: s.v. „‫ޏ‬urf: Arab customary law“, Encyclopaedia of Islam, 2nd edition. Leiden 1998, vol. 10, S. 888–892, hier S. 891.

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dem Wortfeld für „geben und empfangen“, „kaufen und verkaufen“ entstammt.28 HAMMER-PURGSTALL findet eine sehr anschauliche Definition für diesen Transaktionscharakter der bayҵa, wenn er sagt: In dem arabischen Worte, welches insgemein als Huldigung übersetzt wird, liegt der Begriff des Gehorsamsverkaufs, und Regierungskaufes, dessen Symbol das gewöhnliche des Kaufvertrags [ist], nämlich der Handschlag.29

Verbunden mit diesem huldigungsähnlichen Akt ist das Versprechen des Gehorsams. Es war üblich, die bayҵa durch Beauftragte in den Provinzen einzufordern und durch die dortigen Beamten ableisten zu lassen (bekannt als bayҵat al-am‫܈‬Ɨr wa-l-ƗfƗq). Die bayҵa konnte auch während der Regierungszeit mehrmals eingefordert werden (taЂdƯd al-bayҵa), zum Beispiel nach einem Krieg oder einer Strafexpedition.30 Dem Begriff des ‫ۊ‬ilf liegt die Vorstellung eines Bündnisses, einer Einigung zugrunde. Der bereits in der vorislamischen arabischen Stammesgesellschaft institutionalisierte ‫ۊ‬ilf wurde in der Regel durch einen Eid bekräftigt.31 Ganz eindeutig lehnt aber der Islam die Institution des ‫ۊ‬ilf ab und sagt: lƗ ‫ۊ‬ilfa fƯ l-islƗm („Es gibt keine Eidgenossenschaft im Islam“). Der Grund für die nachdrückliche Ablehnung des ‫ۊ‬ilf muß gewesen sein, daß der jungen muslimischen Gemeinde die im Rahmen des tribalen Gewohnheitsrechts durch ‫ۊ‬ilf bzw. ta‫ۊ‬Ɨluf entstandenen Bindungen als Ausdruck tribalen Partikularismus besonders anstößig erschienen.32 Auch die šahƗda, die die Konversion bezeugende Bekenntnisformel, ist kein eigentlicher Eid. Sie muß nur in der Gegenwart von muslimischen Zeugen ausgesprochen werden, um Gültigkeit zu erlangen. Grundsätzlich aber ist diese Bekenntnisformel – insbesondere für die Menschen der vormodernen Zeit – mit einem dem Eid vergleichbaren Bindungscharakter versehen (gewesen). Wir wissen zudem aus historischen Berichten, daß die –––––––––––––––– 28 PEDERSEN, J.: 1914, S. 57: „BƗjaҵa bedeutet somit: in ein Verhältnis zu einem anderen eintreten, in welchem Verhältnis der eine der höher Stehende, der andere der Niedrigere ist, oder anders ausgedrückt: in welchem gegeben und empfangen wird. Für die Araber ist dieser Bund von derselben Art wie der Kaufbund, deshalb verwenden sie denselben Wortstamm für beides.“ 29 HAMMER-PURGSTALL, Joseph von: Ueber die rechtmässige Thronfolge nach den Begriffen des moslimischen Staatsrechtes, besonders in Bezug auf das osmanische Reich. Vorgetragen in der öffentlichen Sitzung der Akademie den 25. August 1841, in: Abhandlungen der I. Classe der Akademie der Wissenschaften., Bd. III, Abth. III. Wien 1841, S. 585–611, hier S. 591. 30 TYAN, Emile: Institutions du droit public musulman. Paris 1954, vol. 1, S. 317– 351. 31 TYAN, Emile: 1954, S. 25, sieht einen ‫ۊ‬ilf immer durch einen gegenseitigen Eid bekräftigt. 32 GOLDZIHER, Ignaz: 1890, vol. 2, S. 69.

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Konversion zum Islam oft von Schwurgesten, etwa dem Heben des rechten Zeigefingers, begleitet wurde,33 und damit deutlich den Charakter einer Eidesleistung trug.34 Ohnehin muß man sich vor Augen halten, daß jede Äußerung, die die Phrase „bei Gott“ (bi-llƗhi) oder einen vergleichbaren Ausruf enthielt, als Eid aufgefaßt wurde.35

4. Der Eid im Koran Auffallend ist bei den über den Eid arbeitenden Autoren – welchen Beobachtungszeitraum sie auch immer wählen –, daß sie wiederholt Klagen über den Niedergang des Eides anstimmen. Rudolf HIRZEL beispielsweise merkt in seiner Geschichte des Eides bei den antiken Griechen an, daß den immer mehr verfeinerten Theorien zum Wesen und zur Institution des Eides eine „immer ärmer werdende Praxis zur Seite ging, ärmer an Glauben und ärmer an Ernst“.36 Paolo PRODI beklagt in seinen Arbeiten über den Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte den Niedergang des Eides in der unmittelbaren Gegenwart. PRODI sagt: Wir sind heute die ersten Generationen, die trotz der Beibehaltung einiger Formen und Liturgien der Vergangenheit (...) ihr Kollektivleben ohne den Eid als das feierliche und totale, im Heiligen verankerte, zu einem politischen Körper gehörige Band leben.37

–––––––––––––––– 33 Siehe hierzu BENNASSAR, Bartolomé: Conversion ou reniement? Modalités d’une adhésion ambiguë des chrétiens à l’islam (XVIe–XVIIe siècles), in: Annales: Economies, Sociétés, Civilisations 6 (Paris 1988), S. 1349–1366, hier S. 1351 und passim. 34 Übrigens scheint auch die ‫܈‬adaqa (die Almosenspende) ursprünglich ein Eid gewesen zu sein, mit dem ein Individuum sich zu einer Tat verpflichtete, etwa eine gewisse Anzahl von Sklaven freizulassen; siehe hierzu DABASHI, Hamid: Authority in Islam. From the Rise of Muhammad to the Establishment of the Umayyads. New Brunswick, London 1989, S. 22. 35 SCHACHT, Joseph: An Introduction to Islamic Law. Oxford 1964, S. 159. Die klassische arabische Schwurformel war nach PANAITE, Viorel: Ottoman Law of War and Peace. The Ottoman Empire and Tribute Payers. Boulder 2000, S. 269: wallƗhi wa-bi-llƗhi wa-ta-llƗhi. 36 HIRZEL, Rudolf: 1902, S. 82. 37 PRODI, Paolo: Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte, in: DERS. (ed.): Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1993, S. VII–XXIX, hier S. VII; FRIESENHAN, Ernst: Zur Problematik des politischen Eides, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1.1. (Zürich 1980), S. 1–29, hier S. 2, formuliert die grundsätzliche Problematik, wenn der moderne Staat mit einem Eid auf das Gewissen eines Eid-

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Ähnliche Klagen stimmt auch Johannes PEDERSEN in seinem 1914 erschienenen Werk Der Eid bei den Semiten an. Im Gegensatz zur äußerst reichen Eidkultur der vorislamischen semitischen Welt habe der Islam „den Eid völlig untergraben“.38 Die Frage, ob der frühe Islam den Eid weitgehend abgeschafft sehen wollte, läßt sich aus den im Koran gemachten Äußerungen nicht eindeutig beantworten. Der Koran mahnt durchaus, geleistete Eide zu halten. In diesem Sinne äußert sich etwa Sure 16, Vers 91:39 Und erfüllt die Verpflichtung gegen Gott, wenn ihr eine (solche einmal) eingegangen habt, und brecht nicht die Eide, nachdem ihr sie (in aller Form) bekräftigt habt! Ihr habt ja Gott zum Garanten gegen euch gemacht.40

Grundsätzlich wird aber die Bindekraft des Eides im Koran nicht mehr als absolut anerkannt, da man Gott durch einen Eid keinerlei Art von Zwang auferlegen kann. An mehreren Stellen gestattet daher der Koran den Bruch von Eiden (gegen die Auferlegung von Sühneleistungen wohlgemerkt).41 Der Vers 89 aus Sure 5, der spätesten Sure des Koran, ist ein Beispiel für diese Einstellung: Gott belangt euch (beim Gericht?) nicht wegen des (leeren) Geredes in euren Eiden. Er belangt euch vielmehr, wenn ihr eine (regelrechte) eidliche Bindung eingeht (und diese dann nicht haltet). Die Sühne dafür besteht darin, daß man zehn Arme beköstigt, so wie ihr gewöhnlich (w. im Durchschnitt) eure (eigenen) Angehörigen beköstigt, oder sie kleidet oder einen Sklaven in Freiheit setzt. Und wenn einer keine Möglichkeit (zu derartigen Sühneleistungen) findet, hat er (dafür) drei

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leistenden einwirken will: „Der Staat stellt damit nämlich ganz persönliche Überzeugungen, über die er nicht Herr ist, in seinen Dienst. Ob der moderne Staat das nach seinen Grundprinzipien darf, und ob dieses Mittel tauglich ist, existentielles Mißtrauen zu beseitigen, werden wir uns noch fragen müssen.“ PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 194, siehe auch S. 217–220. Alle Zitate aus dem Koran nach PARET, Rudi: Der Koran. Stuttgart 20018. Und weiter: „94: Und intrigiert nicht mit euren Eiden untereinander (?), damit ihr nicht nachträglich einen Fehltritt tut (w. damit nicht ein Fuß ausgleitet, nachdem er festgestanden hat). [..]. 95: Und verschachert nicht die Verpflichtung (die ihr) gegen Gott (eingegangen habt)!“ WELLHAUSEN, Julius: Reste arabischen Heidentums. Gesammelt und erläutert. Berlin 19613, S. 193, beschreibt den geringeren Wert des Gelübdes in den Augen Muhammads mit den folgenden Worten: „Er [Muhammad] wollte aus dem Wortlaut des Gelübdes keinen Strick für den Gelobenden gedreht wissen, sondern gestattete Rücksichten zu nehmen; wenn man es nicht erfüllen konnte, so bestimmte er eine Buse oder Sühne, die Kaffâra oder das Takfîr, um die schädlichen Folgen abzuwenden.“

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Tage zu fasten. Das ist die Sühne für eure Eide, wenn ihr schwört (und hierauf eidbrüchig werdet). Gebt acht auf eure Eide!42

An einer Stelle heißt es im Koran sogar ganz ausdrücklich (24:53): „Sag: Schwöret nicht“ (qul lƗ tuqsimnj). Wir sehen uns hier an das Eidverbot im Matthäusevangelium 5, 33–37 erinnert und seiner Forderung: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.“ Die Wirksamkeit des Eides als Anrufung, als Bekräftigung einer Aussage hat aber im Koran selbst unter dem koranischen Eidmeidungsgebot (von einem Eidverbot kann man kaum sprechen) nur wenig gelitten. Wir wissen nämlich, daß an 46 Stellen im Koran einzelne Eide oder Eidkomplexe zu finden sind.43 Es handelt sich hier aber nicht um Ausführungen über den Eid, sondern um umgangssprachliche, den Eid zur Bekräftigung einsetzende Wendungen. Insgesamt läßt sich also doch sagen: Der Eid erfährt eine Entkräftung im Koran. Auch in der sich in den ersten islamischen Jahrhunderten entwickelnden Theologie und Rechtslehre besitzt der Eid einen deutlich herabgestuften Stellenwert. Manche islamische Gelehrte haben aus der Entkräftung des Eides sogar die Konsequenz gezogen, daß das Schwören am besten ganz zu unterlassen sei.44

5. Die Eidtraditionen der Osmanen Ein Sprung direkt vom Stellenwert des Eides in der frühislamischen Zeit hin zu den Osmanen ist damit zu rechtfertigen, daß die Osmanen von den grundsätzlichen Rechtsauffassungen, wie sie die islamische Gemeinde nach dem Tod Muhammads auf der Grundlage vorislamischer Rechtspraktiken und der Gebote des Koran entwickelt hatte, nicht abwichen: Die Vorbehalte gegenüber dem Eid, wie wir sie im Koran finden, wurden nämlich schon sehr früh den praktischen Erfordernissen des Sozial- und Rechtslebens weitgehend geopfert. Ähnlich zu der Entwicklung im Christentum, das den Eid aus religiös-moralischen Gründen ablehnte, dann aber mit dem –––––––––––––––– 42 An einer anderen Stelle, in Sure 66, Vers 1–2, wird Muhammad von einem ihm persönlich geleisteten Schwur zur Enthaltsamkeit von Gott entbunden. In Sure 2, Vers 224–226, werden die Muslime aufgefordert, nicht zu voreilig mit Schwüren zur Enthaltsamkeit zur Hand zu sein, die sie dann doch nicht halten könnten. 43 SMITH, G.R.: Oaths in the Qur'Ɨn, in: Semitics 1. (Pretoria 1970), S. 126–156, hier S. 127. 44 Dies wird von al-ƤazƗlƯ empfohlen, wenn er al-ŠƗfi‫ޏ‬Ư wegen folgenden Ausspruches rühmt: „Ich schwöre nie bei Allah, weder wahr noch unwahr.“; Angabe nach PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 217.

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Aufstieg zu einer staatlichen geförderten Religion im 4. Jahrhundert den Eid „als notwendig für das Fortbestehen des öffentlichen Lebens“ anerkannte,45 war auch in der islamischen Rechtssprechung und Herrschaftspraxis der Eid unverzichtbar geworden. Darüber hinaus wurden aber auch vor- oder außerislamische Praktiken, die anfangs ausdrücklich abgelehnt worden waren, in die islamische Rechtssprechung integriert. So sah man sich dazu gezwungen, den in der Rechtspraxis häufig verwendeten Reinigungseid qasƗma – ein solcher kollektiver Bekräftigungs- bzw. Reinigungseid ist übrigens in unterschiedlichsten Gewohnheitsrechten zu beobachten46 – in die islamische Rechtsdoktrin zu integrieren.47 Der Reinigungseid wurde in der islamischen Rechtsdoktrin aber insoweit ‚gezähmt‘, als man ihn – vor allem im hanafitischen Recht – auf einen nur durch ein Individuum zu leistenden Reinigungseid beschränkte und damit seines Wesens der Kollektivität beraubte.48 Auch im Geltungsbereich des Osmanischen Reiches wurde der Reinigungseid (qasƗma) in dieser Weise weitergeführt,49 allerdings wohl hauptsächlich in Fällen der fälschlichen Anschuldigung von Ehebruch (ۘa‫ڴ‬f).50 Die Eidpraxis der Osmanen scheint sich also ohne größere Ausnahmen in die gesamtislamische Tradition einzufügen. Bei dem jetzigen Stand der Kenntnisse ist es dennoch schwer zu beurteilen, ob man die osmanische Gesellschaft als ‚eidreich‘ oder ‚eidarm‘ zu bezeichnen hätte. –––––––––––––––– 45 PRODI, Paolo: 1993, S. XI. 46 Nach HART, David: 2000, S. 48, läßt sich der kollektive Reinigungseid in unterschiedlichsten Regionen finden, in Marokko, unter den Beduinen in Israel und Jordanien, unter den Hochlandjemeniten, in Somalien, unter den Kurden, unter den Paschtunen in Afghanistan und Pakistan. – Siehe auch zum Vergleich SHACK, William A.: Collective Oath. Compurgation in Anglo-Saxon England and African States, in: Archives européennes de sociologie 20. (Cambridge 1979), S. 1–18. 47 GOLDZIHER, Ignaz: Muhammedanisches Recht in Theorie und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 8. (Stuttgart 1888–1889), S. 406– 423, hier S. 413, nennt hier insbesondere MƗlik b. Anas. 48 PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 184; PEDERSEN, J.: (Y. Linant de Bellefonds): s.v. „লasam“, Encylcopaedia of Islam, 2nd edition, Leiden: Brill 1990, vol. 4, S. 687– 690: Die malikitische Rechtsschule lehnte sich an die in vorislamischer Zeit übliche Praxis an, daß der kollektive Schwur vornehmlich vom Stamm des Opfers genutzt wurde, und beließ das Recht auf einen Eid im wesentlichen beim Ankläger. – Ähnliches läßt sich für Marokko beobachten: Nach der Unabhängigkeit Marokkos wurde der unter den Berberstämmen übliche kollektive Reinigungseid durch den Eid des Individuums (Angeklagter oder Zeuge) auf den Koran ersetzt. Die Stammesangehörigen hielten jedoch diese Zeugenaussagen für nahezu wertlos (kif walu, i.e. „nichts“); GELLNER, Ernest: Saints of the Atlas. London 1969, S. 125. 49 HEYD, Uriel: 1973, S. 250f. 50 GERBER, Haim: 1994, S. 47.

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Zu einer solchen innerislamischen Kontinuität gehört auch, daß die Begriffe ‫ۊ‬alf, ۘasam und yamƯn weiterhin als austauschbar betrachtet werden, wie etwa aus dem osmanisch-osmanischen Wörterbuch von ùemseddƯn SƗmƯ FrƗúerƯ um 1900 deutlich zu ersehen ist.51 Neu hinzugekommen sind als zusätzliche Begriffe das persische sevgend und das vermutlich türkische and. Grundsätzlich können wir also eine erstaunliche Konstanz der Eidterminologie von der vorislamischen Gesellschaft der arabischen Halbinsel hinein in die späteren Kulturen der islamischen Welt beobachten. Zentralasiatische Formen des Eides, wie etwa der bei Mongolen und Türken übliche Bruderschaftseid (and), bei dem sich die Beteiligten lebenslange Freundschaft schworen und ihren Eid durch den Trunk aus einem Gefäß bekräftigten, in dem ihr Blut gemischt worden war,52 lassen sich für die Herrschaftselite der Osmanen nicht mehr feststellen. Ebenfalls nicht bekannt für die osmanische Zeit ist die Form des Hundeeides,53 bei dem man das Blut eines Hundes trank und selbstverfluchend dazu sprach: „Und so gewis ich dieses blut trinke, rede ich wahrheit; lüge ich, so will ich umkommen, verbrennen, verdorren wie dieser hund!“54 Außer der auch im heutigen Türkischen noch gebräuchlichen Wendung ant içmek,55 was wörtlich „den Eid trinken“ bedeutet, scheinen diese Eidformen keine materielle Fortsetzung in der osmanischen Kultur gefunden zu haben. Bevor wir uns Beispielen zuwenden, die zeigen, in welcher Weise der Eid bei den Osmanen zum Einsatz kam, sollte die folgende Unterscheidung eingeführt werden: Seit dem 13. Jahrhundert kennen wir in der europäischen Rechtsgeschichte die Unterscheidung zwischen assertorischen und promissorischen Eiden – eine Unterscheidung, die auch für den islamischen Bereich hilfreich ist. Die Wortfelder um ‫ۊ‬alafa und ҵahada stünden dann für promissorische Eide, das Wortfeld um qasama für assertorische Eide.56 –––––––––––––––– 51 Als Beleg der Gleichwertigkeit von ‫ۊ‬alf, qasam und yemƯn auch in der osmanischen Terminologie siehe die tautologischen Eiddefinitionen in dem Wörterbuch von FRƖùERƮ, ùemseddƯn SƗmƯ: ۗƗmnjs-Õ Türk. østanbul 1899/1900: ‫ۊ‬alf = and, yemƯn, ۘasem // ۘasem = yemƯn, and, sevgend, ‫ۊ‬alf // yemƯn = and, ۘasem, sevgend. 52 GÖCKENJAN, Hansgerd: Eid und Vertrag bei den altaischen Völkern, in: UralAltaische Jahrbücher. Internationale Zeitschrift für uralische und altaische Forschung N.F. 16. (Wiesbaden 1999/2000), S. 11–31, hier S. 25–29. 53 Zum ‚Hundeeid’ bei den Mongolen, Türken, Osseten und Burjäten siehe GÖCKENJAN, Hansgerd: 1999/2000, S. 19–23. 54 GRIMM, Jacob: 1983, vol. 2, S. 557, hier zu der Praxis bei den Tungusen. 55 Bereits bekannt aus dem Codex Comanicus im 13. Jahrhundert. 56 PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 11.

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Die assertorischen Eide sind auf die Vergangenheit bezogen und sagen etwas über die Richtigkeit von behaupteten oder bereits eingetretenen Tatsachen aus. Ihr ureigenstes Gebiet ist die Ergründung von Sachverhalten in Gerichtsprozessen. Die promissorischen Eide dagegen sind in die Zukunft gerichtet.57 Der Herrscher oder der Staat versuchen, durch den auf die Zukunft gerichteten Eid Verpflichtungen und Bindungen herzustellen. In diese Gruppe fallen also Herrschereide, Gefolgschaftseide, Lehnseide, Fahneneide, Bürgereide, Amtseide usw.58 Der Charakter des promissorischen Eides, der kein sofortiges Eingreifen des angerufenen Gottes fordert, „sondern dasselbe hinausschiebt in eine beliebig weiter auszudehnende Ferne“ macht die Bindung leichter als an den assertorischen Eid.59 Andererseits ist der promissorische Eid umfangreicher: „Gott ist hier zweifach einbezogen. Einmal wird er wieder zum Zeugen beim Schwur, zum anderen aber zum Bürgen für dessen Erfüllung.“60 Diese in der europäischen Rechtslehre herausgebildete Unterscheidung von assertorischen vs. promissorischen Eiden kennt offensichtlich kein terminologisches Gegenüber in der islamischen Rechtsvorstellung. Es mag grundsätzlich als problematisch erscheinen, für die europäische politische Geschichte entwickelte Terminologien auf andere Kontexte zu übertragen. Jedoch lassen sich in der Tat unterschiedlichste Typen von Eiden im islamischen Kontext recht gut einem dieser beiden Idealtypen zuordnen. In einer Situation zudem, in der wir Tausende von Arbeiten zum Eid in der europäischen Geschichte haben, man aber dennoch Klagen hört, es gäbe „über den politischen Eid [in Europa] keinen einzigen modernen Versuch einer Synthese“61, erscheint uns das Wissen über den Eid in islamischen Gesellschaften wie zum Beispiel dem Osmanischen Reich als äußerst kärglich. Bei diesem Stand kann daher die naheliegende Frage noch nicht beantwortet werden, welche gegenüber dem christlichen Europa abweichenden Eigenschaften der Eid in der politischen Theorie und Praxis der islamischen Welt hatte.

–––––––––––––––– 57 HIRZEL, Rudolf: 1902, S. 3. 58 Und somit ein „Mittel, wodurch Treu und Glauben im menschlichen Verkehr befestigt wird“, in: ERLER, A.: Eid 1971, S. 862. 59 HIRZEL, Rudolf: 1902, S. 177. 60 KOLLMER, Lothar: Promissorische Eide im Mittelalter. Kallmünz, Oberpfalz 1989, S. 53. 61 PRODI, Paolo: 1997, S. 13.

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6. Eide mit politischer Valenz Eidformen und -verfahren können Ausdruck von Macht im allgemeinsten Sinne sein, in der Weise zum Beispiel, daß sie als Mittel zur Ausbalancierung der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen dienen. Über den Eid läßt sich also in einer recht anschaulichen Weise sprechen: Nämlich, in welcher Weise der Herrscher oder der Staat Machtansprüche durch diesen sichert bzw. durchsetzt. Insbesondere promissorische Eide besitzen eine politische Valenz; sie sind politische Eide. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß der Bereich des Gerichtsprozesses frei von Machtfragen wäre. Der assertorische Eid klärt nicht nur Sachverhalte. Er kann zum Beispiel auch dazu dienen, auf nichtkriegerische Weise den Zusammenhalt einer gegnerischen Gruppe auf die Probe zu stellen. Dies geschieht in herausragender Weise durch den Einsatz von Kollektiveiden in einem gewohnheitsrechtlichen Kontext. Beim Verfahren des kollektiven Reinigungseides wäre es naheliegend, daß die beschuldigte Seite sich immer mit Hilfe der Eideshelfer von der Anklage befreien kann. Die beklagte Seite kann sich, indem sie gewissermaßen zugleich das Geschworenengericht ist, einfach ‚freischwören‘ (auf der individuellen Ebenen haben wir dies bereits bei der Frage der Eidesleistungen im islamischen Rechtssystem Marokkos gesehen). Ein Gegengewicht zu dieser scheinbaren Bevorzugung der eidesleistenden Seite entsteht aber dadurch, daß eine Gruppe, die zu viele ‚erfolgreiche‘ Eide aufweist, von anderen Gruppen als Bedrohung empfunden werden könnte, sich also zunehmend isoliert. Die wachsende Gegnerschaft kann daher zu internen Konflikten innerhalb der schwörenden Partei führen. Zudem besteht die Gefahr, daß bei einer Schuld, die offensichtlich ist, aber von den Schwörenden geleugnet wird, die anklagende Partei zu anderen Mitteln greifen wird, z.B. die Eröffnung der Blutrache unter einem Vorwand.62 Kommen wir zurück zum promissorischen Eid mit politischer Valenz. Es folgen mehrere Beispiele, zu welch unterschiedlichen Zwecken in osmanischer Zeit der Eid eingesetzt werden konnte: Erstens zur Absicherung zwischenstaatlicher Verträge; zweitens zur Bindung und Absicherung von innerstaatlichen Beziehungen, wobei diese Bindungswirkung in beide Richtungen wirken konnte; drittens als Umlenkung eigentlich innerstaatlicher Eide auf andere Gruppen; viertens als Einbindung von ‚fremden‘ Eiden: (a) In den Friedensverträgen, die die Osmanen mit anderen Staaten abschlossen, sind häufig eidliche Zusicherungen enthalten. Schon im osmani–––––––––––––––– 62 GELLNER, Ernest: 1969, S. 116–123.

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schen Begriff für Friedensverträge, ‫ޏ‬ahdnƗme oder seinem Synonym sevgendnƗme, ist die Konnotation des Eides vorhanden. In deutschen Übersetzungen ist deswegen oft von einer „Eidesurkunde“ die Rede.63 Der vom osmanischen Herrscher ausgesprochene Eid band ihn allerdings allein an Gott. Formal gesehen sah sich der osmanische Sultan nur aus dieser gegenüber Gott eingegangenen Bindung heraus verpflichtet, das den NichtMuslimen gemachte Versprechen zu halten.64 Während die Friedensverträge bis ins 15. Jahrhundert als ein einseitiger Akt von Seiten des osmanischen Sultans betrachtet und von der christlichen Gegenseite gar kein bestätigendes Dokument erwartet wurde, entwickelte sich unter dem Einfluß von zeitgenössischen byzantinisch-venezianischen Verträgen das ‫ޏ‬ahdnƗme des 15. Jahrhunderts in ein instrumentum reciprocum, bei dem beide Parteien den Text des Vertrages austauschten und einen Eid darauf leisteten.65 Diese Verträge wurden entweder in getrennten Zeremonien an den jeweiligen Höfen der beiden Herrscher beeidet, oder in einer gemeinsamen Zeremonie, zu der dann Bevollmächtigte der beiden Herrscher erschienen. Für das 15. und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts wissen wir sogar von Fällen, in denen der Sultan persönlich in Anwesenheit eines christlichen Gesandten schwor.66 (b1) Für das 19. Jahrhundert läßt sich eine zunehmende Einbindung des Herrschers in eidlich begründete Verpflichtungen festhalten. In dem berühmten Reformedikt von 1839, dem ‫ې‬a‫ܒܒ‬-Õ úerƯf von Gülhane, bekräftigt der Sultan seine Reformabsichten durch die Erklärung, er werde einen Eid leisten (ۘasem bi-llƗh) und seine Staatsbeamten und Ulema ebenfalls schwören lassen (ta‫ۊ‬lƯf), also zu einem Eid verpflichten.67 1908 wird der osmanische Sultan ‫ޏ‬AbdülতamƯd II. vom Komitee für Einheit und Fortschritt aufgefordert, einen Verfassungseid vor dem Scheichülislam abzule–––––––––––––––– 63 In dem ҵahdnƗme existierte ein Formularteil namens sanctio, der den herrscherlichen Eid enthielt. 64 Eine typische Formulierungsstruktur in der sanctio lautete: yemin ederim ki ... cenab-i celalet-ma‫ގ‬abÕm canibinden dahi ‫ޏ‬ahda muhalif nesne sadÕr olmaya úöyle bileler. 65 KOLODZIEJCZYK, Dariusz: Ottoman-Polish Diplomatic Relations (15th–18th Century): An Annotated Edition of 'Ahdnames and Other Documents. Leiden u.a.: 2000, S. 3–5, 25. 66 PANAITE, Viorel: 2000, S. 268. 67 Nach der osmanischen Verfassung vom 23. Dezember 1876 werden in Art. 46 (deutsche Übersetzung zu finden in: KRAELITZ-GREIFENHORST, Friedrich von: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Wien 19192, S. 38) auch die Mitglieder des Parlaments auf einen Eid verpflichtet; der türkische Terminus lautet hier ebenfalls ta‫ۊ‬lƯf.

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gen. Der Sultan kam der Verpflichtung am 28. Juli 1908 nach, nachdem der Scheichülislam selbst drei Tage zuvor geschworen hatte, daß er die Vorschriften des Scheriatsrechts ohne Ansehen der Person anwenden werde. 1909 beschlossen die Jungtürken, nachdem sie eine Konterrevolution zugunsten ‫ޏ‬AbdülতamƯds hatten vereiteln können, die Vereidigung des Sultans gesetzlich zu verankern. ‫ޏ‬AbdülতamƯds Nachfolger, Meতmed V. ReúƗd und Meতmed VI. VaতƯdeddƯn, leisteten denn auch 1909 beziehungsweise 1918 einen Eid auf die osmanische Verfassung. Eine Säkularisierung des Eides setzte erst in der Türkischen Republik ein.68 (b2) Bei der Eidesleistung wurde schon immer – zum Beispiel bei Schwüren vor dem osmanischen Kadi – jeweils die konfessionelle Zugehörigkeit der Person berücksichtigt. Muslime schworen auf den Koran, Juden auf die Thora, Christen auf das Neue Testament.69 Diese Tradition, den Religionsangehörigen jeweils auf seine eigene heilige Schrift den Eid leisten zu lassen, wurde bei der Vereidigung von nun auch nicht-muslimischen Rekruten für das osmanische Heer im 19. Jahrhundert fortgeführt.70 Man kann aber hier eigentlich nicht von unterschiedlichen Eidesleistungen sprechen – die Verpflichtungserklärung war ja dieselbe. Die Eide unterschieden sich nur in der sehr kurzen Berufung auf die jeweilige Heilige Schrift. Im ‫ې‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn von 1856, dem zweiten wichtigen Dekret der osmanischen Reformpolitik im 19. Jahrhundert, wird bestimmt, daß Prozesse zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, oder Prozesse zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen vor ‚gemischten Gerichtshöfen‘ abgehalten werden müssen:

–––––––––––––––– 68 1928 wird das religiöse vallahi durch die Wendung namusum üzerine söz veririm ersetzt; zur Problematik insgesamt siehe JÄSCHKE, Gotthard: Der Eid in der türkischen Verfassung, in: Die Welt des Islams 8. (Leiden 1962–1963), S. 16–24. 69 D’OHSSON, Mouradgea: 2001 (1824), vol. VI, Teil: Code Judiciaire, Kap. 12: Du Serment, Cassém, Yemin: „Le serment judiciaire ne doit porter que sur le nom de Dieu. [...] La formule du serment des non mahométans, sera conforme à leur croyance. Le juif dira: Je jure par ce Dieu qui envoya du ciel la Bible à Moïse; le chrétien: Je jure par ce Dieu qui envoya du ciel l’Évangile à Jésus-Christ; le pyrolâtre: Je jure par ce Dieu qui créa le feu. Le païen ne doit prononcer que le nom de Dieu, à qui seul se rapporte le culte de tout créature quelconque.“ 70 Siehe hierzu GÜLSOY, Ufuk: OsmanlÕ Gayrimmüslimlerinin Askerlik Serüveni. østanbul 2000, S. 157, Fußnote 5: Muslime schwören „঱ur‫ގ‬Ɨn-Õ ‫ޏ‬a਌ƯmüúúƗn içün“, Christen „øncil-i úerƯf তaললÕ içün“ und Juden „TevrƗt-Õ úerƯf তaললÕ içün“; siehe auch S. 185–188 zur lateinschriftlichen Wiedergabe eines Statuts zur Eidzeremonie in der Armee (OsmanlÕ Askerlerinin Yemin Töreni).

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Die Zeugen, welche diese [Kläger und Angeklagter] vorführen, werden ihre Aussagen mit einem Eide bekräftigen, der immer gemäß der Religion und dem Kultus des Betreffenden geleistet wird.71

Daß unter den Osmanen Angehörige verschiedener Konfessionen ihre jeweils eigenen, religiös begründeten Eide leisteten, ist nicht ungewöhnlich. Die mamelukischen Sultane in Ägypten waren noch einen Schritt weitergegangen: Sie verpflichteten die Beamten aller Konfessionszugehörigkeiten Eidesformeln nachzusprechen, in denen sie die bestimmenden Eigenschaften ihrer jeweiligen Religion benannten und bei einem falschen Schwur die Loslösung von ihr auf sich herabriefen.72 Neu war aber der Grundsatz in der osmanischen Reformgesetzgebung, daß nicht mehr zwischen dem Eid von Muslimen und Nicht-Muslimen unterschieden werden durfte, der Eid von Nicht-Muslimen also als gleichwertig anzuerkennen war.73 (c) Die bayҵa, die Huldigung gegenüber einem militärischen Anführer oder Herrscher, wurde bereits erwähnt. Obwohl also streng genommen die bayҵa kein Eid ist, ist sie doch in ihrer Wirkung und in ihrem Stellenwert oft der politische Eid schlechthin gewesen.74 Der die bayҵa begründende Eid wurde in gewissen Perioden der islamischen Geschichte so weit aufgewertet, daß er zum Sinnbild des feierlichen Eides überhaupt wurde. Wollte man sagen, daß jemand einen Eid geschworen hatte, dessen Formel keinerlei Möglichkeiten für Ausflüchte ließ, so sagte man, er habe „geschworen wie bei den Eiden der bayҵa“ (‫ۊ‬alafa aymƗn al-bayҵa). Auch bei den Osmanen wurde die Praxis der bayҵa (osmanisch beyҵa oder biҵat) bei der Thronbesteigung fortgeführt, allerdings scheint das Element des Eides eine geringere Bedeutung als in früheren Phasen der islamischen Geschichte gehabt zu haben. Ein Beispiel aus dem Herrschaftsgebiet der Osmanen auf der arabischen Halbinsel um 1810 zeigt, wie diese Institution der innerstaatlichen Huldigung umgedeutet und umgelenkt werden konnte. Der neue entstandene saudische Staat, der auf der ideologischen Grundlage des puristischen –––––––––––––––– 71 Zitiert nach KRAELITZ-GREIFENHORST, Friedrich von: 1919, S. 24. 72 PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 140. 73 DAVISON, Roderic: Reform in the Ottoman Empire 1856–1876. Princeton 1963, S. 52. 74 Zu einer außerislamischen Tradition, den neuen Herrscher zu bestätigen, siehe die Akklamation des neuen Khan durch den kurultayi der Mongolen; FLETCHER, Joseph: Turco-Mongolian Monarchic Tradition in the Ottoman Empire, in: ŠEVýENKO, Ihor & SYSYN, Frank E. (Hg.): Eucharisterion. Essays presented to Omeljan Pritsak on his Sixtieth Birthday by his Colleagues and Students. Cambridge, Mass.: Ukrainian Research Institute, Harvard University, 1980, S. 236–251, hier S. 239.

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Wahhabismus ruhte (er sollte allerdings noch einmal zerschlagen werden, bevor er sich im 20. Jahrhundert endgültig etablieren konnte), zwang Nomadenstämmen die bayҵa auf. In der saudischen Variante der bayҵa ging die Huldigung mit Tributzahlungen der Stämme einher; zugleich wurde – in saudischen Augen – die Aufnahme in den Islam und die Errettung aus dem Zustand der Unwissenheit und Barbarei (ÊƗhilƯya) gewährt. Das für die bayҵa eigentlich typische Geben und Nehmen ist zwar hier formal noch durch die Aufnahme in die Gemeinschaft der Muslime gegeben, fällt in Wirklichkeit aber allzu deutlich zugunsten des Herrschers aus.75 (d) Sehr oft hat sich in der islamischen Geschichte ein Nebeneinander von Rechtssystemen entwickelt, das dann auch institutionalisiert wurde. So verfügten die Osmanen nicht nur über ein duales Rechtssystem in Gestalt des religiösen Rechts, der Scharia, und des vom Staat gesetzten, weltlichen Rechts. Sie trafen auch bei ihren Eroberungen auf unterschiedliche Gewohnheitsrechte, die sie entweder beließen oder teilweise in ihre eigenen Rechtsordnungen eingliederten. Ab den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts änderte der osmanische Staat seine Politik und versuchte nun, in allen Provinzen des Reiches eine Reform- und Zentralisierungspolitik durchzusetzen. Dementsprechend nahm das Mißtrauen des Staates gegenüber den lokalen Gewohnheitsrechten zu. Ein grundsätzliches Problem osmanischer Zentralisierungspolitik im 19. Jahrhundert war allerdings, daß die lokalen Institutionen, man könnte sie auch die ‚gewohnheitsrechtlichen‘ Institutionen nennen, die Recht sprechen und durchsetzen konnten, immer mehr ausfielen – ein Machtvakuum entstand. Martin van BRUINESSEN hat die zweideutigen Resultate einer radikalen osmanischen bzw. türkischen Entmachtungspolitik in den kurdisch besiedelten Gebieten Ostanatoliens in den 1920er und 1930er Jahren beschrieben: Türkische Beamte konnten zwar die Befriedung eines Streites auferlegen, aber sie konnten diese nicht – zu Bedingungen, die von der dortigen Gesellschaft annehmbar waren – aushandeln.76 Eide sind, wie wir bereits gesehen haben, ein hervorragendes Mittel, Verpflichtungen zu erzeugen. Deswegen muß jeder Staat daran interessiert sein, dieses Mittel für sich einzusetzen und zu bewahren. Menschen, wenn sie einen wirklich bindenden Eid leisten wollten, vermieden oft die Eid–––––––––––––––– 75 Förmlich wurde die bay‫ޏ‬a auf Gott und seinen Propheten geleistet (wa-bƗya‫ޏ‬ahum ‫ޏ‬alƗ dƯn AllƗh wa-rasnjlihi wa al-sim‫ޏ‬a wa al-৬Ɨ‫ޏ‬a); FATTAH, Hala: The Politics of Regional Trade in Iraq, Arabia and the Gulf 1745–1900. Albany, NY 1997, S. 58. 76 BRUINESSEN, Martin v.: Agha, Shaikh and State: On the Social and Political Organization of Kurdistan. Utrecht 1978, S. 64f.: “Turkish officials were and are distrusted: sometimes they can impose a peaceful solution to a tribal dispute, hardly ever can they negotiate one.”

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formeln des Staates oder der religiösen Orthodoxie und griffen auf Instrumente ihrer jeweiligen Volkskultur zurück.77 Es leuchtet ein, daß der solchermaßen umgangene Staat sich wiederum den Bindungscharakter dieser gewissermaßen ‚fremden‘ Eide zunutze machen wollte.78 Dieser Sachverhalt kann anhand der Institution der besa verdeutlicht werden. Die besa ist eine im albanischen Gewohnheitsrecht verankerte eidliche Zusicherung, die oft auch in kollektiver Weise geleistet wurde. Sie ist damit eine Art Gottesfrieden, der für bestimmte Zeiträume eine Befriedung herstellt und gewaltsame Auseinandersetzungen verbietet.79 Für unsere Belange ist nun von Bedeutung, daß die Osmanen einerseits das Gewohnheitsrecht in seiner Gänze zurückdrängen, andererseits aber auf die besa nicht verzichten wollten.80 Die Bedeutung dieses Schlichtungs- und Befriedungsmittels auf eidlicher Grundlage wurde übrigens auch von den Nachfolgern der Osmanen in den albanischen Gebieten erkannt. Die österreichisch-ungarischen und deutschen Besatzungsbehörden während des Ersten beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs, aber auch die kommunistischen Partisanen bedienten sich des Mittels der besa.81 Zugespitzt ließe sich sagen: Der Eid schien den osmanischen Staatsorganen, die sich nun auch in den Peripherien endgültig festsetzen wollten, als das ideale Mittel, um genau jenes Recht, aus dem der gewohnheitsrechtliche Eid hervorging und aus dem er sich begründete, zu beseitigen. –––––––––––––––– 77 Siehe z.B. PEDERSEN, Johannes: 1914, S. 220, zum Rückgriff auf den Eid der vorislamischen Volkskultur. 78 Man vergleiche auch den kollektiven Eid (tagellit), ein zentrales und vielleicht das auffälligste Element des berberischen Gewohnheitsrechts, der zwischen 1933 (dem Ende der tribalen Unabhängigkeit) und 1955 (dem Ende der französischen Kolonialherrschaft) von den französischen Kolonialbehörden nicht nur anerkannt, sondern geradezu gefördert wurde; siehe hierzu HART, David: 2000, S. 70. 79 In mancherlei Hinsicht ist die besa der Institution des ƯlƗf in der arabischvorislamischen Stammesgesellschaft ähnlich; siehe auch ACHTER, V.: s.v. „Gottesfrieden“, Handwörterbuch 1971, S. 1762–1765, hier S. 1764. 80 Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Reise einer gemischt osmanischeuropäischen Kommission in das nordalbanische Gebiet der Stammeskonföderation der Mirdita, in der der Gesamtheit der Bevölkerung die besa auferlegt wurde; siehe BaúbakanlÕk Arúivi (østanbul), ørade Hariciye 5862, Leff 10: Sonderkommissar Meতmed TevfƯল am 29. R 1271 = 19.1.1855: „beynlerinde cƗrƯ olan bese daতÕ icrƗ etdirilmiú ise de buralar তalলÕnÕñ cümlesi beyni লalÕn ademler oldu÷u vechile“ („wenn auch der unter ihnen übliche Eid auf unsere Aufforderung hin geleistet worden ist, so sind doch die hiesigen Leute in ihrer Gesamtheit Dickschädel“). 81 KRASNIûI, Mark: O ‘besi’. Prilog prouþavanju obiþajnog prava kod Šiptara [Über die Besa. Ein Beitrag zur Erforschung des Gewohnheitsrechts bei den Albanern], in: Zbornik za narodni život i obiþaje Južnih Slavena 40 (Zagreb 1962), S. 271–80.

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Auf den ersten Blick scheint dieses Vorgehen einer altgeübten Praxis nahezustehen – nämlich dem Verfahren, daß man sich bei unterschiedlichen Rechtskulturen der Eidformen der jeweils anderen Partei bediente, um die Eidesleistung zu bekräftigen und um gegenseitige Mißverständnisse über die durch den Eid begründeten Verpflichtungen auszuschließen.82 Viel wahrscheinlicher aber ist es, daß der Staat alle Arten von Eiden, auch diejenigen, die nicht in seinen Rechtsbereich fielen, für sich als ‚Treueid‘ zu vereinnahmen suchte. Dafür spricht auch, daß die Osmanen keineswegs im Gegenzuge ihre ‚eigenen‘ Eide leisteten.

7. Zusammenfassung Dem osmanischen Staat standen verschiedene Formen und Ebenen des Eides zur Verfügung. Religiös gebundener Eid, staatlich vorgeschriebener Eid, gewohnheitsrechtlicher Eid. Wegen ihres Bindungs- und Verpflichtungscharakters wurden – so läßt sich als Ergebnis festhalten – diese Eidinstrumente nicht als sich gegenseitig ausschließend verstanden, sondern, so weit dies möglich war, einander verstärkend eingesetzt. Auch der sich als ‚modern‘ verstehende Staat der Osmanen im 19. Jahrhundert, der die Gewohnheitsrechte als Grundpfeiler einer nun störenden und als gefährlich wahrgenommenen Autonomie zu beseitigen versuchte, wollte nicht auf den gewohnheitsrechtlichen Eid verzichten. Es ist deutlich geworden, daß dieser Beitrag vorerst nur auf eine Fragestellung hinweisen wollte, der bis heute nicht recht nachgegangen worden ist. Die eigentliche Arbeit liegt noch in der Zukunft. Welche Wege müßten also gegangen werden? Man könnte der Institution des Eides in einem normativen Sinne nachgehen, also bei verschiedensten Rechtstheoretikern, Theologen, Verfassern politischer Traktate usw. nachlesen, was ihrer Auffassung nach der Eid bedeuten soll und was er leisten soll. Vielversprechender erscheint es aber, nach der Praxis des Eides zu fragen, d.h. bei der Lektüre von unterschiedlichsten Textsorten – Reiseberichten, Chroniken, ethnologischen Darstellungen, Archivmaterial – für die verschiedenen Formen des Eides ein wachsames Auge zu haben. So ließe sich einiges Material zur Anwendung des Eides in der Rechtssprechung zusammentragen. Für das Verständnis der politischen Geschichte und von Herrschaftsbeziehungen ist jedoch der promissorische Eid weitaus bedeutender. Man sollte dabei insbesondere jener Gruppe von Eiden nachspüren, die einen –––––––––––––––– 82 So übernahm z.B. der byzantinische Kaiser Leon V. (813–820) in seinem Vertrag mit dem Bulgarenkhan Omurtag dessen Eidformeln; siehe GÖCKENJAN, Hansgerd: 1999/2000, S. 16.

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Zwitterstatus zeigen, indem sie sowohl staatlicher als auch nichtstaatlicher Natur sind. Ein Beispiel in diesem Sinne war der im vorangehenden Kapitel geschilderte Versuch der osmanischen Behörden, gewohnheitsrechtlich gesicherte und anerkannte Eid- und Verpflichtungsformen für ihre Zwecke zu einzusetzen. Man muß sich also auf die Suche nach Anhaltspunkten dafür machen, wie in der langen Dauer der islamischen Geschichte und der Vielfalt der islamischen Länder (in diesem Falle wäre dies das osmanische Areal) Staaten durch den Gebrauch von verschiedensten Formen von Eidesleistungen – auch durch die Einbindung von ‚fremden‘ Eiden – die Loyalität ihrer Verbündeten und Untertanen sich sichern und Machtansprüche begründen, durchsetzen oder verstärken wollten.

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ùahmeran’Õn BacaklarÕ: Murathan MUNGANs Neuerzählung eines alten Mythos1 Börte Sagaster (Nicosia) Bilder von ùahmeran, einer anthropomorphen Figur mit menschlichem Kopf und Rumpf auf einem Schlangenkörper, waren im Osten Anatoliens bis in die jüngste Zeit ein fester Bestandteil der Volkskunst. Hinter Glas gemalt, ist in kräftigen Farben ein zweiköpfiges Wesen zu sehen, aus dessen schuppigem Leib sechs dünne Beinchen ragen, die sich bei näherem Hinsehen als Schlangenköpfe entpuppen. Die beiden oberen Häupter des Wesens – ein Menschenkopf an der Vorderseite, ein Schlangenkopf an der hinteren Seite – sind gekrönt, der menschliche Kopf geht in einen Halsansatz über, der mit einem prächtigen Halsband verziert ist. Rosen schmücken oft die Seiten des Bildes, Symbole für den Propheten Muhammad. Das Bild illustriert eine alte anatolische Volkserzählung, in die die Einflüsse vieler zu verschiedenen Zeiten auf anatolischem Boden heimisch gewesener Kulturen mit eingeflossen sind.2 Es ist dies die Geschichte von der Begegnung des Menschen Camsap mit ùahmeran, der Schlangenkönigin (bzw. – seltener – des Schlangenkönigs), und dem Verrat Camsaps an ùahmeran. Von der Erzählung existieren verschiedene mündlich tradierte Varianten, während die schriftlichen Fassungen der Geschichte auf einem in Teilen auch aruz-Dichtung enthaltenden Mesnevî-Werk des Dichters Abdî Musa aus dem 15. Jahrhundert basieren.3 Kurz zusammengefaßt, lautet die Geschichte wie folgt: Der junge Camsap (Camasb), Sohn des Arztes und Propheten Danyal, wird von neidischen Freunden in einen Brunnen gestoßen und kommt von dort aus zu der geheimen unterirdischen Welt von ùahmeran, der Königin der Schlangen. Nach längerem Aufenthalt in ihrem Reich, während dem ihm ùahmeran in mehreren

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Dieser Aufsatz basiert ursprünglich auf einem auf dem Deutschen Orientalistentag am 23.09.2004 gehaltenen Vortrag. Siehe hierzu den Aufsatz von YILDIRAN, Neúe: Shahmeran, In: Encyclopedia Mythica Online. www.pantheon.org/articles/s/shahmeran.html (Zugang am 27. April 2007). Türk Dili ve EdebiyatÕ Ansiklopedisi (TDEA), Bd. 8, Stw. ùahmaran, S. 93–94; TDEA Bd. 2, Stw. Câmasbnâme, S. 9.

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Episoden die warnende Geschichte von Belkiya dem Königssohn erzählt, der sie einst an die Menschen verriet, entlässt ùahmeran Camsap unter dem Versprechen, niemandem etwas von ihrem Aufenthaltsort zu erzählen. Zurück auf der Erde, verrät jedoch trotz seines Versprechens auch er ihr Geheimnis, da er von Leuten des Schahs, der krank ist und nach einem Heilmittel sucht, unter Druck gesetzt wird. ùahmeran, der heilende Kräfte zugesprochen werden, wird gefangen. Besonders in ihrem Schluß unterscheiden sich nun mündliche und schriftliche Versionen der Geschichte: Während in der schriftlichen Version ùahmeran dem Schah mit ihren Medikamenten zur Genesung verhilft und Camsap mit dem von ùahmeran erworbenen Wissen ein berühmter Arzt wird, muß ùahmeran einer anderen Variante zufolge sterben, damit der Schah durch das Essen ihres Fleisches gesundet. Camsap wird zur Belohnung zum Wesir erhoben. Wieder einer anderen Version nach verrät Camsap das Geheimnis ùahmerans sieben Jahre nach seiner Rückkehr in die Menschenwelt unter Folter, die vom Wesir des Schahs angeordnet wurde. Als ùahmeran gebracht wird, gibt sie erst Camsap die Schuld an ihrer Gefangenschaft, bemerkt dann jedoch, daß der Wesir der eigentliche Verursacher ihrer Lage ist. Sie weist daraufhin Camsap an, ihr Fleisch nach ihrer Tötung zu kochen, den ersten Aufguß dem Wesir zu geben, den zweiten selbst zu trinken und den dritten dem Schah zu geben. So geschieht es. Der Wesir fällt nach dem Trinken des Suds tot um, Camsap wird durch das Getränk an seiner Stelle Wesir, und der Schah gesundet von seinem Leiden.4

Ein Zeugnis davon, daß die Faszination, die der ùahmeran-Mythos seit Tausenden von Jahren auf die Menschen Anatoliens und des Nahen Ostens ausübt, noch immer fortlebt, ist eine Erzählung des türkischen Autors Murathan MUNGAN.5 MUNGAN, geboren 1955, wuchs als Kind einer Familie mit arabisch-kurdischen Wurzeln in der Stadt Mardin im Südosten der Türkei auf. Er veröffentlichte seit den achtziger Jahren über vierzig Bände mit Gedichten, Erzählungen, Theaterstücken und Romanen und gehört heute zu den bekanntesten Autoren türkischer Gegenwartsliteratur. Die Themen, die MUNGAN in seiner Literatur aufgreift, speisen sich vor allem aus drei großen Bereichen, die in seinen Texten oft auch miteinander verknüpft werden: erstens die moderne Großstadtwelt und ihre sozialen Problematiken wie Vereinsamung, Individualisierung, Marginalisierung und die Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft, zweitens die osmanische Vergangenheit der Türkei mit ihrer – durch den republikanischen Nationa–––––––––––––––– 4 5

TDEA, Bd. 8, S. 94. MUNGAN, Murathan: ùahmeran’Õn BacaklarÕ, in: DERS.: Cenk Hikâyeleri. østanbul 2004, 9. basÕm, (1986), S. 13–97. Eine weitere Neuerzählung des ùahmeranMythos ist die 1973 erschienene Geschichte „ùahmeran Hikâyesi“ von Tomris UYAR. UYAR hat die von Abdi Musa im 15. Jahrhundert verschriftlichte Version der Geschichte in eine moderne Sprache gebracht: UYAR, Tomris: ùahmeran Hikâyesi, in: DIES.: Ödeúmeler ve ùahmeran Hikâyesi. østanbul 2003 (Erstauflage bei Sinan YayÕnlarÕ, 1973), S. 105–148. Eine neue Version des Mythos für das Theater schließlich schrieb BENER, Erhan: ùahmeran. østanbul 1985.

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lismus unterdrückten – multireligiösen, multiethnischen und multikulturellen Vielfalt, und drittens (auch dies wieder im Zusammenhang mit Multikulturalität) die anatolische – und in einem weiter gespannten Bogen die gesamte nahöstliche – Welt mit ihren strengen Riten und der sozialen Unterdrückung von Mann und Frau. Letztere greift er oftmals auf, indem er Volkserzählungen und Mythen neu erzählt. Die Erzählung „ùahmeran’Õn BacaklarÕ” (Die Beine des ùahmeran) ist Teil einer solchen Textsammlung: dem 1986 erschienenen Buch Cenk Hikâyeleri (Kampfgeschichten), einer Sammlung von sechs Erzählungen, die ihren Stoff aus der Volksliteratur Anatoliens mit ihren Heldengeschichten, Märchen und Sagen beziehen (weitere: KÕrk Oda 1987, Lal Masallar 1989, Kaf Da÷ÕnÕn Önü 1994, Üç AynalÕ KÕrk Oda 1999).6 Verbunden sind alle diese Texte durch ein gemeinsames Oberthema, auf welches der Titel „Kampfgeschichten“ Bezug nimmt: Gewalt, Männlichkeit und männliche Sexualität, traditionelle Riten, Liebe, Macht und Tod spielen eine zentrale Rolle.7 MUNGANs Erzählung beginnt in der Gegenwart: Rahmenerzählung ist die Geschichte des Ich-Erzählers ølyas, eines Jungen, der auf der Schwelle zum Erwachsenenwerden steht. Er wird in einer ostanatolischen Kleinstadt von seinem Vater in die Lehre zu einem ùahmeran-Maler gegeben. Meister Mahir, ein alter Mann, bringt dem Jungen während dessen Lehrzeit die traditionelle Kunst der ùahmeran-Malerei bei, indem er ihm in täglicher Fortsetzung die Geschichte des Schlangenkönigs ùahmeran erzählt, ein Wesen, halb Schlange, halb Mensch, das die Welt der Schlangen, Drachen und Dämonen beherrscht. Während der Meister erzählt, übt der Junge sich in der bildlichen Darstellung ùahmerans. Als der Meister nach vielen Tagen seinem Lehrling die Geschichte zu Ende erzählt hat, ist dieser selbst zu einem Meister der ùahmeran-Darstellung geworden. Doch der Junge, beseelt von dem Wunsch, aus dem Schatten des Meisters herauszutreten, hat längst geplant, seinen Meister zu verlassen: Er hat in einer größeren Stadt ein Stipendium bekommen und verabschiedet sich von seinem enttäuschten Meister und von dem Beruf eines ùahmeran-Malers, um weiter zur Schule zu gehen. Als er – viele Jahre später – als junger Schriftsteller zurückkehrt, um dem Meister sein erstes Buch zu schenken, ist dieser längst gestorben. Der junge Mann ist plötzlich überwältigt von der Erkenntnis, daß das von –––––––––––––––– 6

7

Einige dieser Geschichten aus den Bänden Lal Masallar und Cenk Hikayeleri – allerdings nicht die hier behandelte – erschienen 2006 in deutscher Übersetzung, siehe MUNGAN, Murathan: Palast des Ostens. Zürich 2006. Vergleiche meinen Artikel zu den „Cenk Hikâyeleri“ in Kindlers Literaturlexikon, 3. Auflage, erscheint 2009, sowie die Ausführungen zu dem Buch in DÜNDAR, Leyla Burcu: Murathan Mungan’Õn Ça÷daú MasallarÕnda Cinsiyetçi Gelene÷in Eleútirisi. Magisterarbeit, Bilkent Üniversitesi, Türk EdebiyatÕ Bölümü, 2001 (im Internet veröffentlicht unter http://www.thesis.bilkent.edu.tr/0001678.pdf).

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ihm gelebte Leben in Wahrheit nur eine moderne Variante des vor langer Zeit von seinem Meister erzählten Mythos ist: Auch er hat, wie die menschlichen Protagonisten der ùahmeran-Geschichte, die den Schlangenkönig ùahmeran zweimal an die Menschen verrieten, unwiderrufbar Verrat geübt an dem Wesen, das ihm seine ganze Liebe und sein Vertrauen geschenkt hat und das er, wie er erst jetzt bemerkt, liebte. In diese realistische Rahmenerzählung eingepaßt ist nach dem Muster von 1001 Nacht die zweite Ebene der Geschichte, das Märchen, welches der Meister seinem Lehrling erzählt. Es ist dies die Geschichte des jungen Camsap, der durch den Verrat seiner Freunde in einer Grube festsitzt. Auf der Suche nach einem Ausweg findet er ein Loch in der Grubenwand, durch das er in das Märchenland des ùahmeran kommt. Dieser empfängt den Jungen freundlich und läßt sich seine Geschichte erzählen. Doch auf die Bitte des Camsap, ihn wieder in die Menschenwelt zurückzuschicken, reagiert ùahmeran ablehnend: Des Menschen Charakter sei der Verrat, und er als Herrscher eines geheimen Königreiches könne nicht riskieren, daß dies von Menschen entdeckt werde. Camsap müsse daher bei ihm bleiben. Zur Erklärung seines Handelns erzählt ùahmeran dem Camsap die Geschichte seiner ersten Begegnung mit einem Menschen, Belkiya: Auch dieser war zufällig in sein Reich gekommen, hatte sich mit ùahmeran angefreundet und ihn trotzdem später an einen anderen Menschen verraten. Nachdem Camsap die Geschichte Belkiyas gehört hat, fleht er ùahmeran an, ihn trotzdem gehen zu lassen, denn nicht jede Geschichte verlaufe doch gleich. Er verläßt ùahmeran, kehrt zu den Menschen zurück, und lebt viele Jahre zurückgezogen unter ihnen, ohne sein Geheimnis zu verraten. Doch als der Herrscher seines Landes krank wird und nur das Fleisch des ùahmeran ihn retten kann, wiederholt sich Belkiyas Geschichte an Camsap. Nachdem man entdeckt hat, daß seine Beine infolge der Begegnung mit ùahmeran ganz mit Schuppen bedeckt sind, wird er so lange gefoltert, bis er die Höhle ùahmerans verrät. ùahmeran wird gefangen und getötet. Zwar wird der Herrscher von seinem Fleisch wieder gesund, doch herrscht von diesem Zeitpunkt an Feindschaft zwischen den Schlangen und den Menschen. Camsap wird in MUNGANs Geschichte nicht Wesir, sondern verläßt den Herrscher und „ward nie mehr gesehen“ (S. 94). MUNGAN verbindet in der Erzählung auf geschickte Weise Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Mythos: Die Ebene der Realität ist in der Geschichte verkörpert durch die Leben des jungen ølyas und seines Meisters, die ein zeitlich begrenztes Leben führen, das mit dem Tod endet. Auf der anderen Seite steht der überzeitliche ùahmeran-Mythos: Grenze und Entgrenzung, Realität und Fiktion greifen ineinander, indem die „realen“ Figuren des Schülers und des Meisters selbst zu Verkörperungen dieses Mythos werden: Der Meister, der einmal zu seinem Schüler sagt, das

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Wichtigste für einen ùahmeran-Meister sei zu lernen, keinen Verrat zu begehen (ùahmeran’Õn BacaklarÕ, S. 21), wird selbst von seinem Lehrling „verraten“, der sich von der ùahmeran-Kunst abwendet und den Meister verläßt. Thematisiert werden hier mit Hilfe der ùahmeran-Erzählung existentielle Fragen des Daseins: Das mythische Oberthema der ùahmeranGeschichte, das die Anfänge der Feindschaft zwischen Menschen und Schlangen erzählt, ist auf einer ideellen Ebene die Auseinandersetzung mit den Grenzen der menschlichen Existenz, mit der Bedeutung von Zeit und Raum und der Endlichkeit des Daseins. Die Frage „Grenze“, die der Mythos aufwirft, erhält in MUNGANs Reinterpretation allerdings ein ganz spezifisches, durch eigene Erfahrungen des Autors gestaltetes, Gesicht: In seiner Interpretation des Mythos stehen Fragen im Vordergrund, die sich auf die Problematik von Marginalität, Andersartigkeit und sozialer Ausgrenzung beziehen – Themen, welche MUNGAN als einen Autor, der sich sowohl aufgrund seiner ethnischen und geographischen Herkunft als auch was seine homosexuelle Orientierung betrifft, in der türkischen „Mehrheitsgesellschaft“ als einen Außenseiter betrachtet, besonders interessieren: In MUNGANs Wiedergabe des Märchens ist ùahmeran anders als üblicherweise dargestellt nicht weiblich, sondern ein Wesen unbestimmten Geschlechts mit dem „Selbst eines Mannes und dem Gesicht einer Frau“ („ùahmeran’Õn BacaklarÕ“, S. 16). Das Doppelwesen des ùahmeran hat ihn nach eigenen Aussagen schon als Kind besonders fasziniert. Wie er in seinen autobiographischen Erinnerungen schreibt, kam er erstmals als Grundschulkind mit dem Mythos in Berührung, als er eine Abbildung ùahmerans in seiner Heimatstadt Mardin im Südosten der Türkei im Hause eines Schulfreundes sah, und war tief beeindruckt: Das ùahmeran-Motiv und seine traurige Geschichte, diese durch den Menschenkopf und den Schlangenkörper verzweifachte Persönlichkeit, dieser Körper, der mit grellroten Schuppen überzogen ist, hat mich visuell und sensuell beeindruckt, ja verzaubert. Darüber hinaus schien es mir zu einfach, die Figur als religiösen Aberglauben abzutun. Ich sah zwischen ihr und mir aus mir selbst unerfindlichen Gründen eine geheime Verbindung, war ihrem Zauber verfallen, doch trotzdem versuchte ich, sie und ihren Einfluß von mir fern zu halten. Doch wie konnte ich mich von diesem Märchen, dessen Luft ich atmete, dessen Geographie und Klima ich teilte, fern halten…8

In MUNGANs Interpretation der ùahmeran-Figur ist diese ein Symbol für das „Andere“, das verfolgt, ausgegrenzt und „verraten“ wird: ùahmeran, durch die Verfolgung durch den Menschen gezwungen, ständig den Auf–––––––––––––––– 8

MUNGAN, Murathan: ParanÕn Cinleri. østanbul 1997, S. 20.

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enthaltsort zu wechseln, ist ein Entwurzelter, der aufgrund seiner außerordentlichen Gestalt zum Leben an der Grenze verdammt ist: Er war nun einmal in der außergewöhnlichen Gestalt seines Seins gefangen. Dieses prächtige, dieses heilige, dieses schöne Wesen hatte weder in der Welt der Menschen noch in der der Schlangen einen richtigen Ort gefunden, stand am Limbus, wartete still und allein in seiner ganz persönlichen Hölle…“ („ùahmeran’Õn BacaklarÕ“, S. 39)

ùahmeran ist ein Außenseiter, in mehrfacher Hinsicht ein „Zwischenwesen“: In seiner sexuellen Identität ein Zwischenwesen zwischen Mann und Frau,9 in seiner „ethnischen“ Identität ein Zwischenwesen zwischen Mensch und Tier, und schließlich auch in seiner „geographischen“ Identität, denn er ist ohne festen Ort. Er gehört nirgendwo hin, selbst „das Erwachen seiner Untertanen war an seinen eigenen Tod geknüpft“, heißt es in der Geschichte (S. 39). Camsap und Belkiya stehen dagegen für die menschliche „Mehrheitsgesellschaft“, die den „Anderen“ trotz dessen Liebe zu ihr verraten. Daß auch sie den „Anderen“ lieben, erkennen sie zu spät: Der Verrat, den sie begangen haben, ist nicht wieder gut zu machen. Wer ist ùahmeran, wer der verräterische Mensch im Meister-SchülerGleichnis dieser Erzählung? Zahlreiche Episoden der Geschichte handeln von der Widersprüchlichkeit des Seins: „Schwäche ist Stärke“, (so ùahmeran über das Verhältnis der Schlangen zu den Menschen: „Bis zum Tag unseres Erwachens werden wir uns verstecken“, S. 53), falsch ist auch richtig (ølyas über seine Versuche, den ùahmeran zu malen: „In jedem falschen Bild ist etwas Richtiges verborgen“, S. 39), Liebe ist Verrat (Gleichnis des Verrats des Menschen an ùahmeran), Liebe ist Zerstörung (Wunsch des Schülers/Sohnes, seinen Meister/Vater zu töten, S. 54), Leben ist Tod (Camsaps Vater: „Ein ganzes Leben vergeht auf der Suche nach der Unsterblichkeit“). ølyas, der sich während seiner Lehrzeit als ùahmeranMaler so stark mit der ùahmeran-Geschichte beschäftigt, daß er in ihr zu leben beginnt, empfindet die Geschichte während dieser Zeit gleichzeitig als von seinem eigenen Leben weit entfernt (S. 39): Mein ganzes Leben bestand nun aus der ùahmeran-Geschichte. Tagsüber war ich im Laden (mit dem Gefühl von Wirklichkeit, das die kunterbunten Schnüre, Spulen und Tafeln schmückten, vermittelten), nachts zu Hause (während ich mich in der düsteren Leere, die die Dunkelheit schuf, zum Schlafen vorbereitete) mit der ùahmeran-Geschichte innig verbunden. Ich konnte aus dieser Geschichte nichts herauslesen, was mein eigenes Leben betraf. Das alles war so weit weg von mir. Oder sah aus, als sei es weit weg. Daß mein ganzes Leben in Wahrheit eine

–––––––––––––––– 9

HakkÕ Keskin GøDERER interpretiert die Figur daher als ein Symbol für Transsexualität. Siehe GøDERER, HakkÕ Keskin: Murathan Mungan’Õn SanatÕ, in: Sombahar 28 (Mart/Nisan 1995), S. 8–20.

ùahmeran’Õn BacaklarÕ

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ùahmeran-Geschichte ist, sollte ich erst in späteren Jahren, um den Preis eines größeren Leides, verstehen…“ („Sahmeran’Õn BacaklarÕ“, S. 39)

Erst in der Rückschau, nach seinem „Verrat“ am Meister, bei der Rückkehr als Schriftsteller in seinen Heimatort, erkennt ølyas die Konsequenzen seines Handelns: Die „Beine des ùahmeran“ – MUNGANs Titel bezieht sich auf die Geschichte Camsaps, dessen Beine nach der Begegnung mit ùahmeran schuppig werden – sind, wie der Meister ihm bei seinem Abschied gesagt hat, „überall“. Der ùahmeran – Sinnbild für das „Andere“, Ausgegrenzte – ist in jedem von uns, jeder, der einen Verrat begeht, wird dadurch auch zu einem ùahmeran. Als ùahmeran getötet werden soll, weist er Camsap an, einen Becher mit dem Sud seines Fleisches zu trinken:(S. 93) Trink nicht den ersten Sud, den soll der Wesir trinken – trink du den zweiten. In den ersten Sud gebe ich mein Gift, in den zweiten mein Selbst…“

Ein kurzes, aber sehr persönliches Resümee: Bei der Lektüre von Murathan MUNGANs Erzählung erging es mir ähnlich wie seinem Helden ølyas: Die Geschichte ùahmerans hat mich fasziniert, doch eine Verbindung zu meinem eigenen Leben konnte ich nicht ziehen. Erst vor einigen Tagen, beim wiederholten Lesen der Geschichte, fiel es mir auf. Ich teile mit ølyas das Gefühl, einen Menschen verloren zu haben, der mir viel gegeben und mich geprägt hat. Bevor sie starb, habe ich Petra KAPPERT einige Jahre nicht gesehen. Nach meiner Zeit in Hamburg hat das Leben mich an viele verschiedene Orte geführt – die Gelegenheit, einen Besuch in Hamburg zu machen, hat sich dabei selten ergeben, oder vielleicht habe ich mir die Zeit dazu in dem Bewußtsein, dies ja später immer noch machen zu können, auch einfach nicht genommen. Nun gibt es für diesen Besuch kein „später“ mehr. Ich gäbe jetzt viel für ein Gespräch mit ihr. Ich weiß nicht, ob ihr die Geschichte von „ùahmerans Beinen“ gefallen hätte, ob sie in Murathan MUNGANs Anatolien-Prosa auch das Besondere gesehen hätte, das ich darin fand – das würde ich sie in unserem Gespräch gerne fragen. De÷il kendisi, dükkânÕ bile yerinde de÷ildi; çoktan yÕkÕlmÕs, yerine baúka bir yapÕ kondurulmuútu. Neden, ne zaman dönersek dönelim, terk etti÷imiz úeyleri yerli yerinde bulaca÷ÕmÕzÕ sanÕrÕz? Neden? (S. 97) Weder er selbst noch sein Geschäft, das schon lange abgerissen und durch ein anderes Gebäude ersetzt worden war, waren noch da. Warum sind wir bloß so überzeugt, daß wir, wann auch immer wir zurückkehren mögen, die Dinge, die wir zurückgelassen haben, am selben Platz vorfinden werden? Warum?

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Börte Sagaster

Bibliographie BENER, Erhan: ùahmeran. østanbul: Kaynak, 1985.DÜNDAR, Leyla Burcu: Murathan Mungan’Õn Ça÷daú MasallarÕnda Cinsiyetçi Gelene÷in Eleútirisi. Magisterarbeit, Bilkent Üniversitesi, Türk EdebiyatÕ Bölümü, 2001 (http://www.thesis.bilkent.edu.tr/0001678.pdf). GIDERER, HakkÕ Keskin: Murathan Mungan’Õn SanatÕ, in: Sombahar 28 (Mart/Nisan 1995), S. 8–20. MUNGAN, Murathan: Palast des Ostens. Zürich: Unionsverlag, 2006. DERS.: ùahmeran’Õn BacaklarÕ, in: MUNGAN, Murathan: Cenk Hikâyeleri. østanbul: Metis, 2004, 9. basÕm (1986), S. 13–97. DERS.: ParanÕn Cinleri. østanbul: Can YayÕnlarÕ, 1997. TDEA, Bd. 8, Stw. ùahmaran, S. 93–94. TDEA, Bd. 2, Stw. Câmasbnâme, S. 9. UYAR, Tomris: ùahmeran Hikâyesi, in: DIES.: Ödeúmeler ve ùahmeran Hikâyesi. østanbul: YapÕ Kredi YayÕnlarÕ, 2003 (Erstauflage bei Sinan YayÕnlarÕ, 1973). YILDIRAN, Neúe: Shahmeran, in: Encyclopedia Mythica Online, www.pantheon.org/articles/s/shahmeran.html (Zugang 27. April 2007).

unter:

Orthographische Nachahmungen beim Schriftwechsel in der Türkei 1928 Wolfgang-E. Scharlipp (Kopenhagen)

Ekser arabiyy ü nâdir elfâz Bilcümle gÕlâz u gÕlz u aglâz1 Zuviel Arabisch und ausgefallene Worte sind allesamt grob, unanständig und zotig.

Die Kritik der Präsenz arabischen Lehngutes im Türkischen ist wesentlich älter, als das Aufkeimen des Gedankens einer Sprachreform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Das obige Zitat von ùeyh Galib aus Hüsn-ü ‫ޏ‬Aúk (1757–1799) ist zwar keine fundamentale Kritik des Arabischen im Türkischen, kritisiert aber dessen übertriebenen Gebrauch (wie es vor ihm auch schon andere Autoren taten) und weist damit bereits auf die später einsetzende Entwicklung hin, die zu der wohlbekannten türkischen Sprachreform führte. Diese Reform zog das Interesse der Wissenschaft von Beginn an auf sich und führte zu einer erstaunlichen Anzahl von Veröffentlichungen, bis hin zu sehr rezenten Arbeiten. Das Ausmaß der Veränderungen, das diese Reform für die türkische (Sprach-) Kultur mit sich brachte, ist nicht zu unterschätzen und für den Laien kaum verständlich. Wenn wissenschaftliche Arbeiten über dieses Thema über Jahrzehnte erschienen und es noch tun, liegt das nicht nur an der enormen Veränderung, die die türkische Sprache durchmachte, sondern auch daran, daß die Reform ein Jahrzehnte währender Prozeß war und immer noch relevant ist. Sprache verändert sich, ob mit oder ohne Reform. Ein wesentlich tieferer Einschnitt in die türkische Schriftkultur der Türkei hat dagegen der Schriftwechsel von der arabischen zur lateinischen Schrift 1928 gebracht. Andere Türksprachen haben – teilweise wesentlich – mehr Wechsel erlebt. Es ist deshalb erstaunlich, wie wenig Beachtung der Schriftwechsel im Vergleich zur Sprachreform gefunden hat. Wenige Menschen sind sich bewußt, wie sehr das Schriftsystem, in dem ihre Sprache geschrieben wird, Teil ihrer Identität ist. Ein Westeuropäer soll sich nur einmal vorstellen, –––––––––––––––– 1

Nach GÖLPøNARLI, 1968, Vers 816.

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daß er sich innerhalb weniger Wochen daran gewöhnen muß, seine „Le Monde“, „Guardian“, „Frankfurter Allgemeine“ usw., in arabischer Schrift zu lesen. Dieses mangelnde Interesse der Wissenschaft am Schriftwechsel hat wenigstens zwei Erklärungen: (1) Er wurde schnell durchgezogen und abgeschlossen und innerhalb von Monaten zu einem historischen Faktum. (2) Selbst unter Fachgelehrten stirbt das Gerücht nicht aus, daß die arabische Schrift zur Wiedergabe des Türkischen nicht geeignet sei, und so scheint wohl auch kein Bedarf nach einer tiefer gehenden Diskussion gegeben zu sein. Obwohl die Schreib –und Leseforschung inzwischen zu anderen Ergebnissen gekommen ist, finden sich immer noch Philologen und Sprachwissenschaftler, denen der elementare Unterschied zwischen Alphabet und dessen Anwendung, nämlich Orthographie und Graphotaktik, alles andere als klar ist. Das ist noch bei so rezenten Veröffentlichungen der Fall wie bei Z. KORKMAZ 1999, oder G.L. LEWIS, die ganze Artikel bzw. Kapitel auf dieser mangelnden Information aufbauen. Es sei nur in aller Kürze daran erinnert, daß die Schriftgeschichte der Welt voll ist mit Schriftzeichen, die durch ihre Modifizierung phonetischen Qualitäten angepaßt werden sollten, oder mit Pleneschreibung von Vokalen, wie im frühen Griechischen bis hin zu den modernen Türksprachen Ostturkestans. Diese sog. linguistische Begründung ist in der Fachliteratur unzählige Male wiederholt worden. Weniger häufig, doch ausführlich war der technisch-historische Ablauf des Alphabetaustausches Gegenstand der Darstellung. So verweisen wir hier nur auf die Darstellungen in LEWIS und ùøMùøR. Besonders die Literaturliste des letzteren ist heranzuziehen. Wegen ihrer Ausführlichkeit zeugt sie auch von der Resonanz der Vorgänge im Ausland, da ebenfalls Zeitungsberichte ausländischer Zeitungen aufgenommen wurden. DUDAs wichtiger Beitrag findet leider im keinem der beiden Bücher Berücksichtigung. Bevor wir auf die graphischen Probleme eingehen, die die ersten Veröffentlichungen in lateinischer Schrift aufweisen, ist hier ein kurzer historischer Abriß angebracht.

Orthographische Nachahmungen

Abb. 1: Latin Harf-lérini, 1928

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Wolfgang-E. Scharlipp

Historisch könnte man sehr viel weiter zurückgehen als 1928. Beispiele wie der Codex Comanicus vom Anfang des 14. Jahrhunderts und die zahlreichen Grammatiken und Wörterbücher, in denen Türkisch in Lateinschrift geschrieben ist, sollen uns hier aber nicht interessieren. Wichtig für uns ist, daß die Bewohner des multiethnischen Osmanischen Reichs immer mit anderen Schriftarten als der arabischen in der einen oder anderen Weise vertraut waren, und sei es nur vom Sehen her.

Abb. 2: Lesehilfe in französischer Orthographie

Auch die Tatsache, daß außerhalb der Türkei schon seit 1926, nach offiziellem Beschluß auf der Turkologie-Konferenz in Baku, in mehreren Türkrepubliken der damaligen Sowjetunion die Lateinschrift verwendet wurde, war sicherlich Anstoß für die schnelle Durchführung. Aber auch im Osmanischen Reich und der frühen Republik wurde in manchen Fällen das lateinische Alphabet zum Schreiben der türkischen Sprache verwendet, meist in französischer Orthographie. Dies mag damit zusammenhängen, daß Französisch die populärste Fremdsprache im zu Ende gehenden Osmanischen Reich war. Als „Einführung“ in das Französische wurden aber auch Falttafeln und Bändchen gedruckt, die zum Lernen als Lesehilfe türkische Wörter in französischer Orthographie enthielten. Die gründliche Basis für eine schnelle Durchführung der Umstellung was also gelegt.

Orthographische Nachahmungen

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Infolgedessen ging der offizielle Schriftwechsel in fast atemberaubendem Tempo vor sich: Der erste Schritt war die Annahme der in der Lateinschrift gebräuchlichen Zahlen durch die Große Nationalversammlung am 20. Mai 1928. Am 24. Mai 1928, also nur einige Tage später, wurde vom Ministerrat das Sprachkomitee (Dil Encümeni) eingesetzt, und mit der Aufgabe betraut, ein auf den Lateinbuchstaben basierendes Alphabet für die türkische Sprache zu entwickeln. Obwohl viele Einzelheiten zu diskutieren waren, und Atatürk bisweilen persönlich in Zwischenergebnisse eingriff, wurden bereits im Oktober 1928 Prüfungen für Beamte abgehalten, die ihre Kenntnis der Lateinschrift unter Beweis stellen mußten, noch bevor am 1.11.1928 von der Großen Nationalversammlung das „Gesetz zur Einführung und Anwendung der Neuen Türkischen Buchstaben“ verabschiedet wurde. Obwohl, wie oben erwähnt, schon vor der offiziellen Planung das Türkische von Zeit zu Zeit privat in der Lateinschrift und französischer Orthographie geschrieben wurde, findet sich diese in der offiziellen Orthographie nicht wieder. Vielmehr hatte man das phonologische Prinzip vorgezogen, dessen Ideal die Eins-zu-eins-Entsprechung von Graphem und Phonem ist, jedenfalls im Rahmen des Möglichen. Längere Diskussionen hatte es hinsichtlich der Wiedergabe der arabischen Zeichen für velares bzw. palatales K gegeben. Zur Widergabe des letzteren wurde das Digraph [kh] eingeführt, was später wieder abgeschafft wurde. Wenn sich in einigen der vielen 1928 erschienenen Büchlein zur Erlernung der Lateinschrift dennoch die französische Orthographie findet, handelt es sich um Veröffentlichungen, die sicher vor der gesetzlichen Einführung erschienen, aber zu einem Zeitpunkt, als bereits die Überzeugung bestand, daß die Einführung bevorstünde, da am Alphabetswechsel kein Zweifel mehr bestand. So findet sich der Text „Ichim var. Bachim agriyor...“ nicht in einem Büchlein zur Erlernung des Französischen, sondern in einer Einführung in das lateinische Alphabet für das Türkische. Dessen Titel lautete – in arabischer und lateinischer Schrift – „Latin harfleri“, der Untertitel „Latin harflerini bir haftada ö÷reten elifba“. Das grundlegende Problem, das eine Zeit lang für ein uneinheitliches Schriftbild sorgen sollte, zeigt sich bereits in den Veröffentlichungen, die die französische Orthographie anwenden: die Behandlung der Suffixe. Zunächst fällt auf, daß in manchen Publikationen bestimmte Suffixe vom Stamm separat geschrieben werden. Dies ist der Fall in der Trennung des Pluralsuffixes wie im hier abgebildeten Falle harf – lerini, in Latin Harfleri die Trennung der Fragepartikel mi durch einen Bindestrich, sowie die Getrenntschreibung des Personalsuffixes davon. Im selben Buch werden noch folgende Suffixe von den vorhergehenden zusammengeschriebenen Morphemen getrennt geschrieben: der Lokativ, der Ablativ, inkonsequent

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Wolfgang-E. Scharlipp

die Personalsuffixe der 2. Person, -lI, die suffizierte Form von ile, die Kopula -DIr, das Konditionalsuffix usw.

Abb. 3: Ichim var. Bachim agriyor

Orthographische Nachahmungen

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Ins Auge fallend ist der nicht assimilierende dentale Anlaut der Kopula, die immer –dir geschrieben wird, und der ebenfalls nicht assimilierte Dental der Kasussuffixe –DEn: yachamak-dan (S. 27), memleket-de (S. 23) usw. Die osmanische Orthographie war in der Schreibung von türkischen Wörtern stark vom morphologischen Prinzip dominiert. Anlautende Suffixdentale werden graphisch nicht vom vorangehenden Laut assimiliert, im Pluralsuffix der Vokal nicht geschrieben, so daß auf Velarität bzw. Palatalität des Stammes nicht geschlossen werden kann. Eine weitere Methode der morphologischen Orthographie im Türkischen ist die Separatschreibung von bestimmten Suffixen, die aber in den meiAbb. 4: Türkce Alfabe, 1928 sten Texten im 16. Jahrhundert aufgegeben wird, im Gegensatz zum Tschagataischen. Nichtsdesto-weniger finden sich zahlreiche Beispiele morphologischer Schreibung in den ersten türkischen Texten in Lateinschrift, sowohl in den Einführungen in das neue „türkische Alphabet“, als auch den ersten literarischen Veröffentlichungen aus dem Jahre 1928. Mustafa DUMAN hat in der Zeitschrift Müteferrika in vier Folgen mit dem Titel „Aus der Geschichte des türkischen Schriftwechsels: Die ersten Bücher zur Unterrichtung der neuen Schrift“ (Türk YazÕ Devrimi Tarihinden: Yeni yazÕyÕ ö÷reten ilk kitaplar, Bände 2, 16, 18, 19), ca. zwei Dutzend von 1928 erschienenen Bänden vorgestellt. Dabei beschränkt er sich allerdings auf kurze äußerliche Beschreibungen und Angaben zu Verfasser, Herausgeber und Druckerei, ohne auf das in den Bändern vorgestellte neue Schriftsystem einzugehen. Erstaunlich ist die hohe Anzahl der Einführungen in die neue Schrift. Private Druckereien hatten sich anscheinend ein finanziell lohnendes Geschäft versprochen. Manche Bücher scheinen fast identisch in verschiedenen Verlagen erschienen zu sein. So ist der erste in DUMANs Artikelserie abgebildete Band in der Staatsdruckerei (Devlet MatbaasÕ) gedruckt. Das gleiche Buch ist mit fast identischem Einband beim Kanâat Kütübhanesi erschienen. Der einzi-

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Wolfgang-E. Scharlipp

ge Unterschied ist, daß sich hier über der lateinisch geschriebenen Zeile „Halk dershânelerine mahsus“ der Satz „Türk dili encümeninin karar ve tensibi ile tertîb edilmiúdir“ in arabischer Schrift befindet. Eben dieser Satz steht noch einmal in lateinischer Schrift unter dem arabisch geschriebenen „Türk elifbasÕ“. Sowohl in dem in arabischer Schrift, wie in dem in lateinischer Schrift geschriebenen Satz weist das Wort edilmiútir Züge morphologischer Orthographie auf. In arabischer Schrift wird der Vokal von -miú nicht geschrieben, so daß das Suffix nur am Konsonanten erkennbar ist. -DIr ist wie üblich nur durch dal und ra wiedergegeben. Im selben Wort in lateinischer Schrift ist die Kopula vom -miú getrennt geschrieben, zwar mit einem Bindestrich verbunden, doch damit ist die Morphemfuge deutlich gekennzeichnet. Vor allem diese zweite Methode morphologischer Markierung ist in den Veröffentlichungen dieses Jahres die Regel, wie die Abbildung „Muhtelif úekiller –yle...“ beispielhaft zeigt. Die Konsonantenharmonie ist dagegen weitgehend eingehalten, wie die Beispiele „kuú-tur“ und „acÕ-dÕr“ zeigen. Abweichungen hiervon sind zwar zu finden, ihre geringe Anzahl weist allerdings eher auf eine Unsicherheit des Verfassers hin, als auf systematisches Vorgehen. Daß man sich durchaus systematischer Unterschiede in Sprachsystem bewußt war, belegen die Schreibungen wie (komúusu) varmÕú, aber (karar) vermiú, wobei es sich ja im ersten Falle um eine Suffizierung des ursprünglichen freien Morphems imiú handelt, während im zweiten Fall das ursprüngliche Suffix vorliegt (S. 19). Prinzipiell wurden Kopula, -ki und alle Personalsuffixe nach Partizipialformen separat geschrieben. Vollständige Konsequenz hat es dabei aber nur in Texten gegeben, die sich ausdrücklich diesem Thema widmeten. In der Zeitung Hayat wurde in der Nummer 90 das Alphabet vorgestellt und die Lateinschrift mit einem Gedicht veranschaulicht, in der die Separatschreibung des Perfektsuffix –DI auf dreierlei Weise geschieht. In der Nummer 91 wurden Regeln für die Schreibung einiger Suffixe gegeben. So wurden unter der Überschrift: „Beispiele der Schreibung mit Bindestrich bei zusammengesetzten Verben“ die Formen yazmÕú-tÕm, yazmÕú-tÕn, yazmÕú-tÕ aufgeführt. Darin fanden sich Beispiele für die Schreibung von Stamm mit dem Suffix: sevdim, sevdin usw. Ebenso konsequent ist die Suffigierung ursprünglich freier Morpheme: Ahmet ile, aber Ahmet-le; Bu iú ise, aber Bu iú-se, Senin için, aber senin-çin. Die Einführung von Texten in lateinischer Schrift erfolgte in Hayat, wie auch in anderen Zeitungen sehr vorsichtig, wenn auch insgesamt sehr schnell. Zunächst erscheinen in einigen Nummern Gedichte, deren Titel in Lateinschrift, der Text je-doch in arabischer Schrift geschrieben wurde. Die erste Nummer mit dem ganzen Titelblatt in Lateinschrift war die Nr.

Orthographische Nachahmungen

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98 am 11. Teúrin-i evvel. Auch die ersten Prosatexte im Jahre 1928 wiesen teilweise noch morphologische Schreibungen auf. So erscheint in einem KÖROöLU-Band der Name in zwei Wörtern geschrieben, gemäß der arabischen Schreibweise, wo das Alif ja den vokalischen Anlaut von „o÷lu“ bezeichnete. Eine weitere osmanische Eigenschaft, Namen in einem Text zu schreiben, ist deren Einklammerung, was in diesen frühen Bänden in Lateinschrift ebenfalls fast durchgehend der Fall war. Zwar ist keine der bisher erwähnten Veröffentlichungen, abgesehen von Hayat, genauer datiert als mit der Jahreszahl, aber es liegt Abb. 5: Köroglu, 1928 nahe, daß sie aus den letzten Wochen, höchstens zwei, drei Monaten vor Ende September erschienen, da die Umstellung innerhalb von wenigen Wochen geschah. Diese Reste morphologischer Schreibung verdeutlichen, wie stark ein orthographisches System im Bewußtsein eines Schreibers und Lesers verankert war. Das Argument, daß von einigen Turkologen vertreten wird, daß viele Wörter in Lateinschrift zu lang wären, da mit ihr mehr Schriftzeichen gebraucht werden als bei der osmanischen Orthographie, ist angesichts anderer Sprachen, wie Ungarisch, Finnisch usw. nicht stichhaltig. Auch hier hatte Atatürk wieder das entscheidende Wort. Kurze Zeit, nachdem er in einem Brief an das Büro des Premierministers die Aufhebung dieser orthographischen Eigentümlichkeiten gefordert hatte, begannen Veröffentlichungen in der Orthographie zu erscheinen, wie wir sie heute kennen – mit geringen Veränderungen.2

–––––––––––––––– 2

Vgl. z.B. LEWIS, Geoffrey: The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success. Oxford 1999, S. 35.

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Literatur DUDA, H. W.: Die neue Lateinschrift in der Türkei, in: Orientalistische Literaturzeitung 6 (1929), S. 441–454. DUMAN, Mustafa: Türk YazÕ Devrimi Tarihinden: Yeni YazÕyÕ Ö÷reten ølk Kitaplar, in: Müteferrika 2. Bahar 1994, S. 187–192. DERS.: Türk YazÕ Devrimi Tarihinden: Yeni YazÕyÕ Ö÷reten ølk Kitaplar(II), in: Müteferrika 16. Güz 1999, S. 129–134. DERS.: Türk YazÕ Devrimi Tarihinden: Yeni YazÕyÕ Ö÷reten ølk Kitaplar(III), in: Müteferrika 18. KÕú 2000, S.193–202. DERS.: Türk YazÕ Devrimi Tarihinden: Yeni YazÕyÕ Ö÷reten ølk Kitaplar(IV), in: Müteferrika 19. Yaz 2001, S. 207–12. GÖLPøNARLI, Abdülbâki (Hrg): ùeyh Galib: Hüsn ü 'Aúk. Önsöz, metin, bugünkü dile çevrisi, lûgatler; açÕklama, Galib'in el yazÕsÕ ile Hüsn ü Aúk'Õn tÕpkÕ basÕmÕ. østanbul 1968. Harf Devrimi ҵnin 50. YÕlÕ Sempozyumu. Türk Tarih Kurumu YayÕnlarÕ, XVI. Dizi – Sa. 41, Ankara 1981. KORKMAZ, Zeynep: Das arabische Alphabet und die türkische Sprache, in: JANHUNEN, J. & RYBATZKI, V. (Hg.): Writing in the Altaic World. Studia Orientalia 87, Helsinki 1999. LEWIS, Geoffrey: The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success. Oxford 1999. SCHARLIPP, Wolfgang: Türkische Sprache – arabische Schrift. Ein Beispiel schrifthistorischer Akkulturation. Bibliotheca Orientalis Hungarica XLIV, Budapest 1995. ùøMùøR, Bilâl N.: Türk YazÕ Devrimi. Ankara: Türk Tarih Kurumu YayÕnlarÕ XVI. Dizi – Sa. 60, 1992.

Veränderungen der religiösen Praxis und Einstellungen türkischstämmiger Muslime in Deutschland1 Faruk ùen & Martina Sauer (Essen) 1. Einführung Geht es um die Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, so fällt dem Thema Islam in der Debatte in den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Bedeutung in Politik, Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft zu. Insgesamt leben 3,5 Mio. Muslime in Deutschland, von denen 2,7 Mio. türkischstämmig sind. Dadurch ist der Islam in Deutschland türkisch geprägt. Das Heranwachsen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration und damit verbunden die langfristige Ausrichtung des Lebens auf die neue Heimat Deutschland stellen ganz neue Herausforderungen an die Institutionalisierung des Islam in der Diaspora. Mit der Anerkenntnis des endgültigen Verbleibs steigt das religiöse Engagement in Deutschland wie auch der Bedarf nach adäquater Repräsentation des eigenen Glaubens. Dazu zählen der Aufbau einer eigenen religiösen und institutionellen Infrastruktur, zunehmende Vernetzung sowie rechtliche Bemühungen zur Erlangung eines etablierten Status als anerkannte Religionsgemeinschaft. Schon vor diesem Hintergrund wird der Islam stärker wahrgenommen und zum Gegenstand und Akteur der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Nicht selten wird er auch zum Objekt von Ablehnung und Mißtrauen, ebenso wie zum Adressaten von Dialogangeboten. Denn auch auf politischer Ebene setzt das Nachdenken darüber ein, wie die Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in einer nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaft gestärkt oder geschaffen werden können. Doch kennt der Islam anders als die christlichen Kirchen keine hierarchische Organisationsstruktur. Es existieren kein Klerus, keine Bischöfe, kein religiöser Führer oder oberstes Gremium und keine zentrale –––––––––––––––– 1

Erweiterte Fassung des Beitrags: Religiöse Praxis und organisatorische Vertretung türkischstämmiger Muslime in Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1/2006, S. 14–22.

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Faruk ùen & Martina Sauer

Lehrautorität, deren Verlautbarungen für die Gläubigen verbindlich sind. Es existieren keine formale Mitgliedschaft und keine formalen Aufnahmeriten, man gehört dem Islam aufgrund des persönlichen Bekenntnisses an. Dies stellt die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung vor die Schwierigkeit, Ansprechpartner zu finden. Einerseits ist zu konstatieren, daß das Interesse am Islam und die Anerkenntnis der Notwendigkeit eines differenzierten Zugangs zu dieser Weltreligion, wenn auch unter dem Vorzeichen eines zu bewältigenden „Problems“, in den letzten Jahren in der deutschen Gesellschaft gewachsen ist. Den Muslimen stellen sich somit auch Chancen für die Verbesserung ihrer Partizipation. Andererseits hat die Diskussion über ihre Religion die Muslime in den letzten Jahren veranlaßt, ihre religiöse Identität selbst zu prüfen und zu hinterfragen – mehrheitlich mit dem Ergebnis, sich deutlicher zu dieser Identität zu bekennen als zuvor. Dennoch differenziert sich auch der gelebte Islam in Deutschland mehr und mehr aus und ist mit unterschiedlichen Lebensentwürfen verbunden. Einige Konflikte müssen die Migranten innerhalb der eigenen Community und mit sich selbst austragen. Im Ergebnis sind sie auf der Suche nach einer islamischen Lebensweise, die sie nicht in einen Konflikt mit der westlich orientierten Aufnahmegesellschaft zwingt, sondern selbstverständlicher Bestandteil einer pluralistischen Gesellschaft werden läßt. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien (ZfT) führte im Sommer 2005 eine bundesweite, repräsentative telefonische Befragung von 1.000 erwachsenen türkischstämmigen Muslimen durch. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden im Folgenden präsentiert. Mit der Untersuchung sollen die verschiedenen Facetten des religiösen Alltagslebens der türkischen Migranten, der Grad der Religiosität, die Bedeutung der Einhaltung muslimischer Vorschriften und die Organisationsstrukturen untersucht werden. Dabei stehen mögliche Differenzen der unterschiedlichen Generationen im Vordergrund der Analyse. Durch den Vergleich mit einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 2000 können Entwicklungen aufgezeigt werden.

2. Die Ergebnisse 2.1. Religion und religiöse Praxis Die Mehrheit von 55% der türkischstämmigen Muslime definiert sich als eher religiös, ein Viertel sieht sich als sehr religiös. Eher nicht religiös definieren sich 11% und gar nicht religiös 6%. Im Vergleich zu den Befragungsergebnissen aus dem Jahr 2000 ist der Grad der subjektiven Religiosität deutlich gestiegen. Damals sahen sich

343

Veränderungen der religiösen Praxis

8% als sehr religiös, zwei Drittel gaben an eher religiös zu sein, 11% eher nicht und 3% gar nicht. Festzustellen ist somit eine stärkere Polarisierung zwischen den sehr und den gar nicht Religiösen. Darüber, ob dies eine Folge des 11. September und der Kriege in Afghanistan oder Irak und einer mehr oder weniger „erzwungenen” stärkeren Auseinandersetzung mit der Religion und der Positionierung zum Islam ist, kann nur spekuliert werden. Doch ergeben sich aus einer ZfT-Befragung in NRW aus dem Jahre 20022 Hinweise darauf, daß der 11. September das Zusammenleben von Muslimen und Deutschen dauerhaft verändert und sich das Verhältnis verschlechtert hat. Ein Viertel der türkischstämmigen Migranten gab an, sich durch die Diskussion in der Folge des 11. September stärker mit dem Islam auseinander gesetzt zu haben und sich stärker als Muslime zu identifizieren als vorher. Allerdings erlebten auch fast die Hälfte positive und konstruktive Diskussionen mit deutschen Bekannten, Nachbarn, Kollegen und Freunden. Abb. 1: Subjektiver Grad der Religiosität im Vergleich 2005 und 2000 (Prozentwerte)

28,1

2005

2000

7,6

0%

55,2

11

64,6 20%

Sehr religiös

40% Eher religiös

5,8

24,5 60% Eher nicht religiös

80%

3,3 100%

Gar nicht religiös

Untersucht man den Grad der Religiosität nach den soziodemographischen Merkmalen, ergeben sich einige Zusammenhänge, die zum Teil auch für die Religiosität bei Christen in Deutschland zu beobachten sind: Frauen definieren sich häufiger sehr oder eher religiös als Männer. Mit zunehmendem Alter steigt die religiöse Bindung, die jüngeren Befragten sind weniger religiös. Hier überdecken sich vermutlich genereller Wertewandel bei der jüngeren Generation und lebenszyklische Einstellungen. Im Vergleich zur Befragung des Jahres 2000 ist auch unter den jüngeren Muslimen die Religiosität gestiegen. Die Aufenthaltsdauer zeigt, daß sowohl erst kürzlich nach Deutschland eingewanderte Muslime – überwiegend Heiratsmigranten – als auch sehr –––––––––––––––– 2

GOLDBERG, Andreas & SAUER, Martina: Perspektiven der Integration der türkischstämmigen Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der vierten Mehrthemenbefragung 2002. Münster 2003.

344

Faruk ùen & Martina Sauer

lange hier Lebende überdurchschnittlich häufig religiös sind. Ein langer Aufenthalt in einer nichtmuslimischen Umgebung führt folglich nicht automatisch zu einer Lösung von der Religion. Allerdings zeigt die Differenzierung der jüngsten Gruppe nach Aufenthaltsdauer und dem Grad der Religiosität, daß mit steigendem Aufenthalt in Deutschland die Religiosität leicht abnimmt. Junge Migranten, die in Deutschland geboren wurden oder hier aufwuchsen, sind seltener eher und sehr religiös als junge Migranten, die erst im Erwachsenenalter nach Deutschland kamen. Abb. 2: Religiosität nach Aufenthaltsdauer der 18– bis 30–Jährigen (Zeilenprozent)

18 bis 30-Jährige Religiosität Sehr und eher religiös

Eher und gar nicht religiös

bis 5 Jahre

88,9

11,1

6 bis 10 Jahre

81,3

18,8

11 bis 20 Jahre

79,7

20,3

21 bis 30 Jahre

79,2

20,8

Aufenthaltsdauer

Die Schulbildung steht in einem linearen Zusammenhang mit der Religiosität: Je höher das formale Bildungsniveau ist, desto geringer wird der Anteil der sich religiös Definierenden. Dieser Unterschied schlägt sich jedoch nicht bei der beruflichen Stellung nieder, hier zeigen sich praktisch keine Unterschiede zwischen Arbeitern, Facharbeitern und Angestellten. Lediglich die Selbständigen weichen mit einer geringen Religiosität ab. Rentner hingegen zeichnen sich entsprechend dem Alterszusammenhang durch einen hohen Anteil sehr und eher Religiöser aus. Doch wie äußert sich die Religiosität im Alltag? Welche Bedeutung haben religiöse Handlungen und Gebote für die befragten Muslime? Sowohl das Fasten als auch das Gebot, einen bestimmten Teil des Vermögens abzugeben (Zekât), werden von einer Mehrheit (74% bzw. 77%) und damit von wesentlich mehr Muslimen regelmäßig praktiziert als die Gebete. Nur 12% der befragten Muslime fasten nie, 15% geben keine Armensteuer ab. Zwischen 37% und 43% dagegen beten so gut wie nie, nur 33% bis 51% kommen dieser Pflicht immer nach, wobei das Beten an den Feiertagen

345

Veränderungen der religiösen Praxis

noch am häufigsten (51%) regelmäßig und das Freitagsgebet am seltensten (33%) regelmäßig ausgeübt wird. Letzteres ist nur Pflicht für Männer, das tägliche Gebet, das auch zu Hause ausgeübt wird, auch für Frauen. Somit stellen sich Fasten und Zekât als die zentralen religiösen Handlungen der muslimischen Migranten in Deutschland dar. Der Grad der Religiosität wirkt sich erwartungsgemäß stark auf die Häufigkeit der Praktizierung der religiösen Handlungen aus. Doch werden das Fasten von einem Drittel und Zekât von mehr als der Hälfte der sich eher nicht oder gar nicht religiös Definierenden regelmäßig ausgeübt. Abb. 3: Häufigkeit religiöser Praktiken (Zeilenprozent)

74,3

Fasten 34,9

Tägliches Gebet

8,2

33,3

Freitagsgebet

12,5

13,5

7,4

10%

20% Immer

30%

40%

Meistens

11,9

43,4 4,8

36,9

77,4

Zekat (Armensteuer)

9,4

43,4

10,8

50,9

Feiertagsgebet

0%

4,4

3,7 4,3 50% Gelegentlich

60%

70%

80%

14,5 90%

100%

Nie

Auch die Speisevorschriften werden von mindestens zwei Dritteln eingehalten, am häufigsten das Schweinefleischverbot, an das sich 91% halten, am seltensten das Alkoholverbot (70%). Das Schweinefleischgebot wird unabhängig von der subjektiven Religiosität beachtet, die Einhaltung des Alkoholverbots und des Schächtgebots sind jedoch Zeichen einer ausgeprägten Religiosität. Im Jahr 2000 stellten Fasten und Zekât ebenfalls die am häufigsten praktizierten muslimischen Gebote dar. Doch hat sich, wie bei der Religiosität, der Anteil derjenigen, der die Gebote einhält, deutlich erhöht. 2000 fasteten 62% immer, 59% leisten Armensteuer, die täglichen Gebete wurden von 24%, das Freitagsgebet von 21% und das Feiertagsgebet von 31% immer beachtet. Somit zeigt sich, daß sich die gestiegene Religiosität auch in religiöser Praxis niederschlägt. Die Einhaltung der Speisevorschriften hat sich indessen nur wenig verändert.

346

Faruk ùen & Martina Sauer Abb. 4: Häufigkeit der Ausübung religiöser Praktiken 2005 und 2000 (in Prozent)

Immer 2005

2000

Fasten

74,3

62,2

Tägliches Gebet

34,9

23,5

Freitagsgebet

33,3

21,0

Feiertagsgebet

50,9

31,0

Zekât

77,4

59,3

Der Grad der Religiosität wirkt sich erwartungsgemäß stark auf die Häufigkeit der Praktizierung aller abgefragten religiösen Handlungen aus, insbesondere das Fasten und das Feiertagsgebet scheinen stärker als Zekât vom Grad der Religiosität abzuhängen. Nichtreligiöse Befragte üben diese zu sehr viel geringeren Anteilen aus als Befragte, die sich als religiös definieren. Dennoch werden auch das Fasten von einem Drittel und Zekât von mehr als der Hälfte der sich eher nicht oder gar nicht religiös Definierenden regelmäßig ausgeübt. Tendenziell steigt mit dem Alter der Anteil derer, die die religiösen Gebote regelmäßig ausüben. Beim Fasten, bezüglich des Zekât und beim Feiertagsgebet sind die Altersdifferenzen relativ gering, beim täglichen Gebet und beim Freitagsgebet deutlicher. Auch weitere religiöse Gebote werden von der Mehrheit der muslimischen Befragten eingehalten: Gut die Hälfte der türkischstämmigen Muslime hat die Wallfahrt nach Mekka (Hac), eine der fünf zentralen Pflichten von Muslimen, unternommen oder plant dies. Drei Viertel beteiligen sich regelmäßig mit einer eigenen Schlachtung und dem Verteilen des Fleisches an Bedürftige am Opferfest. Auch die Speisevorschriften werden von mindestens zwei Dritteln eingehalten, am häufigsten das Schweinefleischverbot, an das sich 91% halten, am seltensten das Alkoholverbot (70%).

347

Veränderungen der religiösen Praxis Abb. 5: Einhaltung der Speisevorschriften (Prozentwerte)

90,7

Schweinefleischverbot

75,8

Schächtgebot

24,2

69,6

Alkoholverbot 0%

9,3

20%

40%

Ja

30,4 60%

80%

100%

Nein

Im Vergleich zu den Ergebnissen der Befragung 2000 hat sich die Einhaltung dieser Gebote nur wenig verändert. Dabei planen heute weniger Muslime die Wallfahrt als noch im Jahre 2000, damals gaben 61% an sie zu planen oder bereits unternommen zu haben. Die Beteiligung am Opferfest lag mit 79% in etwa auf dem Level von heute. Die Einhaltung der Speisevorschriften wurde im Jahr 2000 nur pauschal erhoben, 89% sagten damals, sie würden die Speisevorschriften einhalten. Selbstverständlich steht die subjektive Religiosität mit der Ausübung und Einhaltung der religiösen Gebote in Zusammenhang. Dabei scheint vor allem die Durchführung der Wallfahrt das deutlichste Anzeichen für eine ausgeprägte Religiosität zu sein, aber auch das Schächtgebot und das Alkoholverbot differieren stark nach Religiosität. Dagegen ist die Einhaltung des Schweinefleischverbots weniger abhängig vom Grad der subjektiven Religiosität. Ein Fünftel der Befragten besucht nie oder so gut wie nie eine Moschee, 7% nur zu den Feiertagen und 12% mehrmals im Jahr. Die Mehrheit besucht jedoch regelmäßig mindestens einmal im Monat eine Moschee, und 42% mindestens einmal in der Woche. Fünfmal am Tag sind es jedoch nur 2%. Der Moscheebesuch differiert erwartungsgemäß nach dem Grad der Religiosität und in Abhängigkeit davon vom Alter. Im Vergleich zu den Ergebnissen des Jahres 2000 hat sich die Häufigkeit des Moscheebesuchs leicht erhöht. Insbesondere die Teilnahme am Freitagsgebet hat zugenommen.

348

Faruk ùen & Martina Sauer Abb. 6: Häufigkeit* des Moscheebesuchs im Vergleich 2005 und 2000 (Spaltenprozent)

2005

2001

Ein-/mehrmals am Tag

9,4

7,0

Ein-/mehrmals in der Woche

32,2

23,7

Mehrmals im Jahr

30,1

37,5

Fast nie (nur zu den Feiertagen)/nie

28,3

30,9

Häufigkeit des Moscheebesuchs

* Zusammengefaßte Variable

Moscheen sind jedoch nicht nur Orte des Gebetes, sondern bieten auch zahlreiche kulturelle, gesellschaftliche oder soziale Aktivitäten an. Neben Korankursen und Religionsunterricht bieten sie geistliche Betreuung, sie begleiten und organisieren Beisetzungen, Hochzeiten, Beschneidungen und Pilgerfahrten, sie bieten Fortbildungskurse, Freizeit- und Sportangebote, soziale Beratung und kulturelle Angebote sowie Informationsveranstaltungen zu unterschiedlichen Themen an. Diese Angebote stehen allen offen, eine formale Mitgliedschaft ist nicht notwendig, wenn man die Angebote der Moscheevereine nutzen möchte. 40% der Muslime nutzen solche Angebote. Dabei sind religiöse Muslime unter den Nutzern erwartungsgemäß überrepräsentiert, aber auch ein Viertel der nichtreligiösen Muslime nutzt die Angebote der Moscheen. Vor allem Angehörige der mittleren Altersgruppen zwischen 30 und 50 Jahren zählen zu den häufigen Nutzern. Somit stellen die Moscheevereine einen zentralen gesellschaftlichen und nicht nur religiösen Raum für die Muslime in Deutschland dar. Am häufigsten werden religiöse Beratung und Korankurse in Anspruch genommen, fast zwei Drittel derjenigen, die die Angebote in Anspruch nehmen, nutzen diese ureigenste Aufgabe der Moscheevereine. Mit großem Abstand mit Anteilen zwischen 26% und 21% folgen Freizeitangebote und die Nutzung von Räumen für Hochzeiten oder Beschneidungs-feiern sowie kulturelle Veranstaltungen. Auch die Bildungsangebote der Moscheen werden von knapp einem Fünftel genutzt. Die Befunde zeigen, daß die Bedeutung der religiösen Riten und Gebräuche auch eine kulturell-gesellschaftliche und nicht nur eine religiöse Ebene berührt. Auch die junge Generation wird, obwohl sie sich weniger religiös definiert, an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen Identität festhalten. Insbesondere Zekât und die Einhaltung des Schweinefleischverbots werden relativ unabhängig von der Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös praktiziert. Fasten, regelmäßiges Beten und

Veränderungen der religiösen Praxis

349

häufiger Moscheebesuch sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägte Religiosität. 2.2. Anbindung an und Einstellung zu religiösen Organisationen Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben keinen offiziellen Rechtsstatus als Religionsgemeinschaft inne, der sie berechtigt, Schulen zu eröffnen und zum Beispiel karitative und soziale Aktivitäten mit finanzieller Unterstützung des Staates anzubieten. Eine Ausnahme bildet die Föderation der Aleviten (AABF), die in fünf Bundesländern Religionsunterricht an Grundschulen erteilen dürfen und in Nordrhein-Westfalen als Religionsgemeinschaft anerkannt wurden. Allerdings definiert sich der Verband als eigenständige Religionsgemeinschaft, die nicht zum Islam zuzurechnen ist. Einige weitere muslimische Dachverbände bemühen sich derzeit, diesen Status zu erhalten. Um aber in Deutschland ihre Interessen im demokratischen System vertreten zu können, haben sich die Muslime auf verschiedenen Ebenen organisiert. Neben bundes- oder auch europaweit aktiven Dachorganisationen, deren Zentralen sich in den meisten Fällen in Deutschland befinden, gibt es regionale und auch lokale Zusammenschlüsse muslimischer Selbstorganisationen. Im April 2007 haben mehrere Dachverbände (Zentralrat der Muslime, Islamrat, DøTøB und VIKZ) einen Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland ins Leben gerufen. Dieser Rat ist kein organisatorischer Zusammenschluß, sondern ein Gremium, in dem gemeinsame Positionen zu bestimmten Themen (Ausbildung der Imame, Religionsunterricht, u.ä.) ausgelotet werden, um sie gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gemeinsam zu vertreten. Die überwiegende Mehrheit der rund 2.600 Moscheevereine in Deutschland sind an türkisch-muslimische Dachorganisationen aufgrund infrastruktureller Vorteile (Bereitstellung eines ausgebildeten Imams, Bereitstellung von schriftlichem Material, Hilfe bei bürokratischen Schwierigkeiten) angeschlossen. Die Dachverbände nehmen jeder für sich in Anspruch, die Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten, führen aber zugleich teilweise harte Kontroversen untereinander. Da berücksichtigt werden muß, daß das Selbstverständnis dieser Organisationen nicht demjenigen klassischer Vereine in Deutschland entspricht, bei denen sich Tätigkeit und Verantwortung auf die eindeutig definierte Zahl von Mitgliedern beschränken, sondern sie eher in der Tradition der islamischen Stiftungen stehen, deren Angebote für alle offen sind, ist die Inanspruchnahme der Interes-

350

Faruk ùen & Martina Sauer

senvertretung für alle Muslime durch die Dachverbände doch problematisch. Mehr als die Hälfte der türkischstämmigen Muslime in Deutschland (55%) ist weder selbst noch über einen Familienangehörigen Mitglied in einem Moscheeverein, obwohl mehr als zwei Drittel (72%) Moscheen zumindest hin und wieder besuchen und 40% die kulturellen, sozialen oder Bildungsangebote der Moscheen nutzen. Knapp ein Viertel aller Muslime (23%) ist selbst Mitglied – dies entspricht 30% aller regelmäßigen Moscheebesucher – weitere 22% sind über einen Familienangehörigen an einen Verband gebunden. Abb. 7: Mitgliedschaft in einem Moscheeverein (Prozentwerte)

Selbst 23,3% Keine Mitgliedschaft 55,3%

-Familien angehöriger 21,5%

In der Befragung des Jahres 2000 wurde nicht zwischen eigener Mitgliedschaft oder der eines Familienmitglieds unterschieden. Damals gaben 36% an, Mitglied in einem Moscheeverein zu sein. Dieser unerwartet hohe Anteil wurde damit erklärt, daß nicht nur die formal eingetragenen und beitragszahlenden Muslime sich als Mitglieder deklarierten, sondern auch Befragte, die zwar selbst direkt keine formalen Mitglieder sind, aus deren Familien jedoch jemand als Mitglied eingetragen ist oder die sich unabhängig von einer formalen Mitgliedschaft einem Moscheeverein verbunden fühlen. Daher wurde für die Befragung 2005 ein anderes Frageformat gewählt. Dadurch sind die Zahlen jedoch nicht mehr direkt vergleichbar.

351

Veränderungen der religiösen Praxis

Abb. 8: Dachverbandszugehörigkeit der Moscheevereinsmitglieder 2005 und 2000 (Prozentwerte)

Mitgliedschaft in Moscheevereinen bzw. Dachverbänden 2005

2001

DøTøB

76,8

72,1

IGMG

7,0

8,3

VIKZ

4,2

4,5

Anderer

2,0

3,3

ATøB*

1,3

2,5

ADÜTDF**

0,7

0,7

Keinem Dachverband

0,9

1,9

* „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“ (ATIB), – türkisch-nationalistisch ** „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF)“, – politisch, nationalistisch

Von denjenigen, die selbst Mitglied sind, gaben 77% an, DøTøB (TürkischIslamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DøTøB)“ anzugehören. Dieser Verband hat enge Verbindungen zum Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei. DøTøB vertritt die offizielle laizistische Haltung der Türkei3. 8% gaben an, Mitglied der IGMG (Islamische Gemeinschaft „Milli Görüú“ – Nationale Sicht) zu sein. Milli Görüú verbindet die Religion mit einer – inzwischen strikt gewaltfreien – politischen Lehre und setzt sich für Anerkennung der Muslime als religiöse Minderheit in Deutschland ein. 6% nannten als Moscheeverein, dem sie angehören, den konservativorthodoxen VIKZ (Verband der türkischen Kulturzentren e.V.) Der VIKZ versteht sich als unpolitisch und orientiert sich an einem eigenen, traditionell-mystischen Islam. Bezogen auf alle befragten türkischstämmigen Muslime, ergeben sich 17%, die selbst Mitglied bei DøTøB sind, 2%, die selbst Mitglied bei IGMG sind und 1%, die Mitglied im VIKZ sind. –––––––––––––––– 3

Vgl. zu den Dachverbänden auch: ZENTRUM FÜR TÜRKEISTUDIEN/MINISTERIUM FÜR ARBEIT, GESUNDHEIT UND SOZIALES DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997; TRAUTNER, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen als soziale Träger des transstaatlichen Raums Deutschland-Türkei, in: FEIST, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000.

352

Faruk ùen & Martina Sauer

Obwohl die Daten des Jahres 2000 aufgrund eines unterschiedlichen Frageformats zur Mitgliedschaft in einem Moscheeverein nicht direkt vergleichbar sind, läßt sich doch erkennen, daß die Bedeutung der Organisationen relativ gleich geblieben ist. DøTøB dominiert die muslimische Vereinslandschaft eindeutig, an zweiter Stelle folgt heute wie vor fünf Jahren mit deutlichem Abstand IGMG und an dritter Stelle steht VIKZ. Vereinsmitglieder definieren sich selbst generell religiöser als Muslime, die keinem Verein angeschlossen sind. Dabei sind „nur“ 95% der DøTøB-Mitglieder sehr oder eher religiös, jedoch alle Mitglieder der IGMG, des VIKZ und der anderen Verbände. Auch der Moscheebesuch ist bei Vereinsmitgliedern entsprechend häufiger. Mit Blick auf die Gefahr des Fundamentalismus insbesondere in der Nachfolgegeneration zeigen die Ergebnisse ein zwiespältiges Bild: Einerseits organisieren sich jüngere Muslime etwas seltener als ältere, doch wenn sie sich organisieren, dann in eher doktrinären Organisationen: Von allen türkischstämmigen Muslime zwischen 18 und 29 Jahren sind 18% in einem Moscheeverein organisiert – insgesamt liegt die Organisationsquote bei 23%. Von allen Muslimen diese Altersgruppe sind 9% bei DøTøB (alle Muslime: 17%), jeweils 2% bei IGMG und beim VIKZ (alle Muslime 2% bzw.1%) und 4% bei anderen Organisationen (alle Muslime 2%). Bezogen auf die Organisierten in dieser Altersgruppe gehören 52% DøTøB (alle Organisierte 77%) an, 14% sind Mitglied bei IGMG (alle Organisierte 8%) und ebenso viele beim VIKZ (alle Organisierte 6%). Im Vergleich zum Jahr 2000 ist die Organisationsquote der jüngsten Altersgruppe von 21% auf 18% gefallen, heute organisieren sich somit weniger junge Muslime als noch vor fünf Jahren. Damals waren 11% aller Organisierten und 3% der Muslime dieser Altersgruppe bei IGMG. Somit ist, betrachtet für die gesamte Altersgruppe, der Anteil der bei IGMG Organisierten gefallen, zugleich ist jedoch ihr Anteil unter allen Organisierten dieser Altersgruppe gestiegen. Die Dachverbände bieten nicht nur über ihre Moscheevereine Gottesdienste, religiöse Beratung sowie Freizeit- und Bildungsangebote an, sondern gehen zunehmend dazu über, auch auf politischer Ebene die Interessen der Muslime zu vertreten. Die Dachverbände streiten sich jedoch um den Anspruch, die Muslime in Deutschland zu vertreten. Der im Frühjahr 2007 gebildete Koordinierungsrat soll gemeinsame Positionen in bestimmten Themenbereichen erarbeiten und im politischen Prozeß vertreten. Da eine formale Mitgliedschaft nicht der islamischen Tradition entspricht, wurden alle Muslime unabhängig vom Grad ihrer subjektiven Religiosität und einer formalen Vereins-Mitgliedschaft danach gefragt, welcher Dachverband am ehesten die eigenen Einstellungen repräsentiert.

353

Veränderungen der religiösen Praxis

Der Verband mit den mit Abstand am meisten Nennungen ist – wie bei der Mitgliedschaft – DøTøB. Die Hälfte aller Muslime sieht DøTøB am ehesten als den Verband an, der ihre Ansichten widerspiegelt. Ein Viertel sieht sich durch keinen Verband repräsentiert. Alle anderen Verbände vertreten lediglich 3% oder weniger aller türkischstämmigen Muslime in Deutschland. Nach DøTøB folgt, wie bei der Mitgliedschaft, mit großem Abstand IGMG mit 3%. An dritter Stelle der genannten Verbände liegt die Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland e.V. (AABF). Der Verband selbst sieht das Alevitentum als eigenständige Glaubensgemeinschaft, die nicht unter den Islam subsummiert werden kann. Der Alevitenverband wird von 2% als Repräsentant gesehen, ebenso wie Jama ‫ޏ‬at unNur, (Gemeinschaft des Lichts), eine eher intellektuell ausgerichtete, aber traditionelle orientierte Reformbewegung. Ihnen folgt die ebenfalls alevitische CEM-Stiftung mit 1%. Der VIKZ, der der drittstärkste Verband unter den Mitgliedern ist, liegt mit 1% der Nennungen an sechster Stelle. Die stark nationalistischen und politischen Verbände ADÜTDF und ATIB finden weniger als 1% Anhänger. Abb. 9: Vertretung der Einstellung durch Dachverbände im Vergleich 2005 und 2000 (Prozent)

Verband

Vertretung der Einstellungen 2005

2001

Differenz

DøTøB

51,5

57,9

–6,4

IGMG

3,0

6,0

–3,0

AABF

2,3

2,7

–0,4

Jama ‫ޏ‬at un-Nur

1,5



+1,5

CEM-Stiftung

1,3

2,4

–1,1

VIKZ

1,0

2,1

–1,1

ATIB

0,8

1,2

–0,4

ADÜTDF

0,7

1,1

–0,4

Anderer

1,4

1,9

–0,5

Keiner

24,2

16,6

+7,6

Im Vergleich zum Jahr 2000 haben sich die Größendimensionen nicht grundsätzlich verändert, aber sowohl DøTøB als auch IGMG haben Anhänger verloren. Zugenommen hat der Anteil derjenigen, die sich durch keinen

354

Faruk ùen & Martina Sauer

Verband repräsentiert fühlen. Im Jahr 2000 waren dies 17%, 2005 gaben 24% an, sich durch keinen Verband repräsentiert zu sehen. Diejenigen, die nicht selbst organisiert sind, finden ihre Einstellungen mit Abstand am häufigsten zu 46% von DøTøB widergespiegelt, 30% werden jedoch von keinem Verband vertreten. Alle anderen Verbände erreichen weniger als 3% Anhänger unter den Nichtorganisierten. Somit spiegelt die Mitgliedschaft der Muslime nach Dachverbänden nach den Größendimensionen auch die Einstellung der Nichtmitglieder wieder – mit dem Unterschied, daß sich von den Nichtorganisierten immerhin fast ein Drittel nicht repräsentiert sieht und auch knapp ein Fünftel der Mitglieder. Abb. 10: Vertretung der eigenen Einstellung durch Dachorganisationen der Nichtorganisierten (Spalten-%)*

Kein Mitglied

Gesamt

DøTøB

46,1

51,8

Keiner

29,8

24,2

IGMG

1,8

2,9

AABF

2,9

2,3

Jama ‫ޏ‬at un-Nur

1,1

1,5

Anderer

1,0

1,4

CEM-Stiftung

1,6

1,3

VIKZ

0,4

1,0

ATIB

0,3

0,8



0,7

Keine Angabe

15,0

12,2

Gesamt

100,0

100,0

Vertretungsverband

ADÜTDF

2.3. Islamischer Religionsunterricht an Schulen in Deutschland Eine zentrale Forderung der muslimischen Organisationen ist die Einführung islamischen Religionsunterrichts für muslimische Schüler an deutschen Schulen als Äquivalent zum katholischen und evangelischen Religi-

Veränderungen der religiösen Praxis

355

onsunterricht. Neben der in Art. vier garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit legt das Grundgesetz die Erteilung des Religionsunterrichtes als ordentliches Unterrichtsfach fest, das der schul- und unterrichtstechnischen Verantwortung des Staates untersteht. Dieser Unterricht hat inhaltlich sowohl den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag als auch dem inhaltlichen Gestaltungsrecht der jeweiligen Religionsgemeinschaft Rechnung zu tragen. Die Grundsätze der Religionsgemeinschaften müssen im Religionsunterricht berücksichtigt werden. Die Funktion der Religionsgemeinschaften nehmen hierbei die christlichen Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ein. Das Grundgesetz wendet sich an dieser Stelle zwar nicht an eine bestimmte religiöse Gruppierung, geht aber von der christlichen Tradition der in Kirchen organisierten Religionsgemeinschaften aus. Insofern wird deutlich, daß die derzeitige Anwendung die Besonderheiten der Nicht-Christen nicht berücksichtigt. Bisher ist islamischer Religionsunterricht an deutschen Schulen nicht als Regelfach eingeführt. Es gibt je nach Bundesland ganz unterschiedliche Modellversuche, doch haben sich die Kultusminister der Länder noch nicht auf eine einheitliche Regelung einigen können.4 Politik und Verwaltung stehen der Forderung nach der Einführung islamischen Religionsunterrichts zwiespältig gegenüber: Einerseits möchte man die religiöse Erziehung der muslimischen Kinder nicht den Koranschulen der Moscheen oder anderen privaten Einrichtungen allein überlassen, da kaum zu kontrollieren ist, was dort vermittelt und gelehrt wird, andererseits steht man vor dem ungeklärten Problem, wer die Lehrpläne entwickeln und die Lehrer ausbilden soll und wie dies organisiert werden soll. Anders als bei den christlichen Kirchen fehlt den Muslimen in Deutschland noch eine zentrale und verbindliche Instanz, die solche Entscheidungen übernehmen könnte und damit ein zentraler Ansprechpartner für die Administration. Die weit überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Muslime von 87% spricht sich für islamischen Religionsunterricht aus. Im Jahre 2000 waren dies mit 89% nahezu ebenso viele. Erwartungsgemäß befürworten sehr und eher Religiöse die Einführung des Religionsunterrichts überdurchschnittlich häufig, doch sind auch knapp drei Viertel der eher nicht und nicht Religiösen für die Einführung. Ein Grund für die starke Befürwortung könnte darin liegen, daß der Religionsunterricht auch als Sprachunterricht und als „Kultur“-unterricht verstanden wird. Darüber hinaus können durch einen kontrollierten Unterricht an den Schulen fundamentalistische Einflüsse zurückgedrängt werden, was eben–––––––––––––––– 4

STIFTUNG ZENTRUM FÜR TÜRKEISTUDIEN: Die Situation des islamischen Religionsunterrichts und die Frage der islamischen Ansprechpartner in den Bundesländern, in: ZfT-aktuell 107, Essen 2005.

356

Faruk ùen & Martina Sauer

falls ein Motiv der nichtreligiösen Muslime für die Unterstützung des islamischen Religionsunterrichts sein kann. Für dieses Argument spricht auch, daß 86% derjenigen, die keinem Moscheeverein angehören sowie 77% derjenigen, die sich durch keinen Dachverband in ihren Einstellungen repräsentiert fühlen, Religionsunterricht befürworten. Abb. 11: Befürwortung der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen nach verschiedenen Merkmalen (Prozentwerte)

Einführung islamischer Religionsunterricht Ja Religiosität Sehr und eher religiös

90,2

Eher nicht und gar nicht religiös

73,7

Mitgliedschaft DøTøB

91,9

IGMG

100,0

VIKZ

100,0

Andere

100,0

Kein Mitglied

85,6

DøTøB

94,3

IGMG

93,5

AABF

39,1

Anderer

83,6

Keiner

76,5

Vertretung durch

Gesamt

87,4

Die Anhänger des AABF lehnen den Islamunterricht hingegen mehrheitlich ab. Hintergrund dieser Ablehnung ist, daß der AABF das Alevitentum als eigenständige Religionsgemeinschaft, die nicht unter den Islam zu subsumieren ist, begreift und erfolgreich danach strebt, eigenen aleviti-

357

Veränderungen der religiösen Praxis

schen Religionsunterricht an deutschen Schulen zu etablieren. Bereits in fünf Bundesländern hat der AABF die Genehmigung der Kultusministerien zur Erteilung alevitischen Religionsunterrichts an Grundschulen erhalten. Die Muslime, die für die Einführung des muslimischen Religionsunterrichts sind, plädieren zur Hälfte für die Einsetzung einer Kommission aus Vertretern der deutschen Schulbehörden, islamischer Organisationen und des türkischen Staates, auch wenn ein solches Modell realistisch nicht eingesetzt werden kann. Offensichtlich glaubt man durch diese DreierKommission am ehesten den wahren Islam, der aber zugleich frei von fundamentalistischen Strömungen ist, zu garantieren. Die Alleinverantwortung eines einzelnen Dachverbandes wünscht sich nur ein Fünftel, eine ZweierKommission ohne Vertreter des türkischen Staates sogar nur 12%. Aber auch den deutschen Schulbehörden alleine trauen nur wenige (7%) die angemessene Gestaltung des Islamunterrichts zu. Abb. 12: Verantwortung für den Inhalt des Islamunterrichts (Prozentwerte*)

Eine Kommission aus Vertretern der deutschen Schulbehörden, islamischer Organisationen und der

50,5

Eine der Islamischen Gemeinden oder Dachverbände in Deutschland

21,7 12,3

Eine Kommission aus Vertretern der deutschen Schulbehörden und islamischen Organisationen 7,2

W eiß nicht

6,5

Nur die deutschen Schulbehörden 1,8

Keine Angabe 0

10

20

30

40

50

60

* Nur Muslime, die die Einführung des islamischen Religionsunterrichts befürworten (N = 891)

2.4. Zusammenschluß zu einem Gesamtverband Die Vielzahl der Dachverbände, die Existenz zweier konkurrierender Zusammenschlüsse – dem „Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland“, der durch Milli Görüú dominiert wird, und dem „Zentralrat der Muslime in Deutschland“, der sich bemüht, ein breites Spektrum zu repräsentieren und sich pluralistisch-demokratisch gibt – sowie die Dominanz von DøTøB, die sich keinem der beiden Dachverbände angeschlossen hat, erschwert es der

358

Faruk ùen & Martina Sauer

Mehrheitsgesellschaft, Ansprechpartner für den Dialog zu finden. Sehr deutlich wird dies bei der Diskussion um den Islamunterricht an den deutschen Schulen. Aber auch aus der Perspektive der Muslime behindert die Heterogenität der Organisationslandschaft die Durchsetzungskraft und Partizipation im politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik. Von daher diskutieren auch die Muslime und ihre organisatorischen Vertretungen die Möglichkeiten der Bildung eines Gesamtverbandes der Muslime. Als erster Schritt in diese Richtung kann die Gründung des Koordinierungsrates verstanden werden, der seit April 2007 von vier Verbänden (Zentralrat, Islamrat, DøTøB und VIKZ) gebildet wird. Der Koordinierungsrat soll gerade zu den Themen, die im politischen Prozeß relevant sind, gemeinsame Positionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft vertreten. Eine deutliche Mehrheit von 62% der türkischstämmigen Muslime in Deutschland unterstützt die Idee eines Gesamtverbandes. Ein Fünftel findet dies zwiespältig, doch nur 8% lehnen dies explizit ab. Abb. 13: Einstellung zum Zusammenschluß der muslimischen Organisationen zu einem Gesamtverband (Prozentwerte)

Finde ich nicht gut 8%

Finde ich zwiespältig 19%

Keine Angabe 4% W eiß nicht 7%

Finde ich gut 62%

Religiöse Muslime unterstützen den Zusammenschluß häufiger als Nichtreligiöse. Ob die Muslime organisiert sind oder nicht, macht hierbei keinen Unterschied, wobei VIKZ-Mitglieder den Zusammenschluß häufiger zwiespältig sehen, Mitglieder der anderen kleinen Verbände ihm überproportional häufig zustimmen. Die Skepsis der VIKZ-Mitglieder verwundert, da der VIKZ als einziger der kleinen Verbände dem Koordinierungsrat beigetreten ist. Möglicherweise befürchten die VIKZ-Mitglieder aufgrund des eigenwilligeren, mystisch-traditionellen Islamverständnisses, bei einem Zusammenschluß diese Eigenständigkeit zu verlieren.

Veränderungen der religiösen Praxis

359

2.5. Persönliche Einstellungen Der Grad der Religiosität sagt nicht unbedingt etwas über die religiösen Einstellungen und insbesondere über fundamentalistische Haltungen aus, auch die Anbindung an religiöse Organisationen muß nicht unbedingt die persönliche Einstellung der Muslime widerspiegeln. In der Forschung ist umstritten, inwieweit in der Migrantencommunity in Deutschland fundamentalistische Einstellungen anzutreffen sind. So geht HEITMEYER von einem Anteil zwischen 30% bis 50% Jugendlicher aus, der islamistischfundamentalistischen Orientierungsmustern zuneigt.5 ÖZTOPRAK hingegen stellte fest, daß sich deutsche und türkische Jugendliche in ihren Werthierarchien nur wenig unterscheiden und ein ausgeprägter Wertekonservatismus, der religiöse Orientierungen einschließt, lediglich unter türkischen Jugendlichen in der extrem verdichteten Community in Berlin existiert.6 Der Verfassungsschutzbericht 2004 geht von fünf islamistischen türkischen Organisationen aus, denen sich weniger als 1% der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Muslime angeschlossen haben und deren Zahl in den letzten Jahren gleichbleibend ist.7 Ein wesentliches Kennzeichen fundamentalistisch-islamistischer Bestrebungen ist die Übertragung religiöser Gebote in das Rechts- und das öffentliche System eines Landes und die Einheitlichkeit weltlicher und religiöser Macht. In der Türkei ist der Laizismus, also die Trennung von Religion und Staat, seit 1923 ein zentraler Pfeiler des politischen Systems. Das islamische Recht wurde durch ein ziviles Gesetzbuch ersetzt, weltliche und religiöse Macht getrennt und Religion zur privaten Angelegenheit erklärt. Das staatliche „Amt für religiöse Angelegenheiten“ (DøYANET) organisiert jedoch das religiöse Leben und stellt die religiöse Infrastruktur bereit. Die Imame sind Angestellte dieser staatlichen Behörde und daher der staatlichen Ordnung der Türkei verpflichtet. DøYANET ist für die Ausbildung der Imame verantwortlich. Das DøYANET betreibt die Moscheen und Koranschulen. Zwar existieren in der Türkei auch eigenständige Organisationen, doch genießt das DøYANET ein hohes Vertrauen bei den Muslimen, ebenso wie DøTøB in Deutschland, die auf Initiative der DøYANET gegründet wurde und die offizielle Haltung der Türkei vertritt. Insofern verwaltet der türkische Staat das religiöse Leben in der Türkei. –––––––––––––––– 5 6

7

Vgl. HEITMEYER, W. et al.: Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt 1997. Vgl. ÖZTOPRAK, Ümit: Wertorientierungen türkischer Jugendlicher im Generationen- und Kulturvergleich, in: REULECKE, Jürgen (Hg.): Spagat mit Kopftuch. Berlin 1997, S. 418–454. BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 190.

360

Faruk ùen & Martina Sauer

Die türkischstämmigen Muslime in Deutschland unterstützen zu gut drei Vierteln die Trennung von Staat und Religion, 63% stimmen der Aussage, Staat und Religion sollten getrennt sein, voll und ganz zu, 8% stimmen dieser Aussage eher zu. Allerdings halten 18% diese Trennung für nicht richtig, 4% halten sie für eher nicht gut. Abb. 14: Einstellung zur Trennung von Religion und Staat (Prozentwerte)

62,9

0% Stimme voll zu

20%

8,2 3,6

40%

Stimme eher zu

60%

Stimme eher nicht zu

18,2

80% Stimme gar nicht zu

7,1

100% Keine Angabe

Hintergrund dieser skeptischen Haltung gegenüber der strikten Trennung von Religion und Staat ist vermutlich das hohe Vertrauen, das das „türkische Modell“ mit der staatlichen Verwaltung der religiösen Infrastruktur unter der Bevölkerung genießt. Möglicherweise befürchten die türkischstämmigen Muslime stärkere Einflüsse fundamentalistischer Organisationen, wenn man die religiöse Infrastruktur völlig vom Staat loslöst. Daß das türkische Modell der staatlichen Organisation der religiösen Infrastruktur hohes Vertrauen genießt, belegen auch die Ergebnisse zur Ausbildung der Imame – mehrheitlich in der Türkei – und zur Verantwortlichkeit des islamischen Religionsunterrichts – in die man den türkischen Staat eingebunden wissen möchte. Unterstützt wird diese Vermutung dadurch, daß auch nichtreligiöse Muslime zu fast einem Fünftel der strikten Trennung von Staat und Religion ablehnend gegenüber stehen. Dieser Anteil ist zwar unter sehr und eher religiösen Muslimen noch höher, doch läßt die Ablehnung der Nichtreligiösen vermuten, daß das Motiv für die Ablehnung eher in der Sorge um eine völlig unkontrollierte Entwicklung als in der Hoffnung auf die Einführung der Scharia als gesetzliche Grundlage zu suchen ist. Der Alterszusammenhang zeigt, daß jüngere Muslime eine durchschnittliche Einstellung zeigen, Muslime ab 60 Jahre am häufigsten die Trennung von Staat und Religion befürworten, was sich auch bei der Aufenthaltsdauer niederschlägt. Je höher die schulische Bildung ist, desto eher stimmen die Muslime der Trennung zu. Die soziale Stellung der Muslime wirkt sich teilweise auf diese Einstellung aus: Rentner und Selbständige

361

Veränderungen der religiösen Praxis

stimmen der Trennung häufiger zu als Facharbeiter und Hausfrauen. Sowohl Bildung als auch soziale Stellung wirken sich jedoch bei jüngeren Muslimen weniger stark aus als bei älteren. Die Einstellungen der türkischstämmigen Muslime zu kontroversen Themen der Religionsausübung in Deutschland zeigt keine einhellige Meinung und spiegelt somit die Heterogenität der Muslime wider. Sie pendeln zwischen liberal und konservativ, die persönlichen Haltungen decken ein breites Spektrum ab. Sie tendiert jedoch im Vergleich zum Jahr 2000 stärker in konservative Richtung. So befürworten 47% der Muslime das Tagen eines Kopftuches für muslimische Frauen in der Öffentlichkeit, zugleich lehnen 43% den Kopftuchzwang ab. Im Jahre 2000 unterstützten nur 27% das Kopftuchtragen. Gemeinsamer Sportunterricht von Mädchen und Jungen oder Klassenfahrten von Jungen und Mädchen lehnen die türkischstämmigen Muslime zwar mehrheitlich ab, doch stimmen auch 30% für eine Trennung beim Sport oder bei Klassenfahrten, im Jahr 2000 waren dies nur 19%. Die Akzeptanz nichtmuslimischer Schwiegertöchter und – söhne ist im Vergleich zum Jahr 2000 hingegen unverändert. Nach wie vor stellt die Heirat der eigenen Kinder mit Nichtmuslimen nur für gut ein Drittel kein Problem dar, wobei es nur wenig Unterschied macht, ob es sich um Schwiegertöchter oder -söhne handelt. Abb. 15: Zustimmung (voll und eher) zu kontroversen religiösen Themen (Prozentwerte*, Mehrfachnennungen)

Stimme voll und eher zu 2005

2001

Muslimische Frauen sollten in der Öffentlichkeit generell ein Kopftuch tragen

46,6

27,2

Es würde mir keine Probleme bereiten, wenn mein Sohn eine Nichtmuslima heiraten würde

38,8

37,0

Es würde mir keine Probleme bereiten, wenn meine Tochter einen Nichtmuslimen heiraten würde

34,4

34,1

Ich finde, am Sportunterricht oder an Klassenfahrten sollten Mädchen und Jungen nicht gemeinsam teilnehmen

30,0

18,7

Summativer Index**

2,56

2,15

* Zusammengefaßte Variable, ** Mittelwert auf der Skala von 1 = sehr liberal bis 4 = sehr konservativ

362

Faruk ùen & Martina Sauer

Nicht überraschend ist, daß religiöse Muslime insgesamt eine deutlich konservativere Haltung aufweisen als nicht Religiöse. Besonders stark sind die Differenzen bei den nichtmuslimischen Schwiegerkindern, weniger deutlich unterscheiden sich religiöse und nicht religiöse Muslime in der Frage des gemeinsamen Sportunterrichts. Die Mitglieder von Moscheevereinen sind erwartungsgemäß konservativer als Nichtmitglieder. Doch erweisen sich die VIKZ-Mitglieder am konservativsten, gefolgt von IGMG-Mitgliedern. Beide Gruppen befürworten alle das Kopftuchtragen und lehnen den gemeinsamen Sportunterricht überdurchschnittlich häufig ab. Mit Abstand folgen Mitglieder von DøTøB. Bei den Anhängern der verschiedenen Verbände zeigen sich die IGMGAnhänger mit deutlichem Abstand am konservativsten, gefolgt von denjenigen, die sich durch keinen Verband repräsentiert fühlen. Am liberalsten sind die Anhänger des AABF. Frauen zeigen erstaunlicherweise eine konservativere Haltung als Männer, auch bezogen auf das Kopftuch. Sie haben häufiger Probleme mit der Vorstellung nichtmuslimischer Schwiegerkinder, und plädieren häufiger für getrennten Sportunterricht. Die Altersgruppen zeigen nur wenig Unterschiede und keine einheitliche Tendenz. Am aufgeklärtesten ist die Einstellung der mittleren Altersgruppe zwischen 41 und 50 Jahre, gefolgt von der ältesten Gruppe ab 60 Jahre. Die jüngste Gruppe entspricht dem Index nach dem gesamten Mittelwert. Sie zeigt bezüglich des Kopftuchs die konservativste Haltung, hat aber geringere Probleme mit nichtmuslimischen Schwiegerkindern. Tendenziell wirkt sich das formale Bildungsniveau auf die Einstellungen aus. Bei höherer Schulbildung ist das Religionsverständnis liberaler als bei niedriger Schulbildung. Insbesondere die Haltung zu Kopftuch und Sportunterricht wird durch die Bildung beeinflußt. Auch die soziale Stellung macht sich bemerkbar: Arbeitslose Migranten sind überdurchschnittlich konservativ, ebenso wie Hausfrauen. Angestellte und Selbständig sind deutlich liberaler, Arbeiter jedoch liberaler als Facharbeiter, die deutlich konservativer sind. Die Einstellungen zu kontroversen religiösen Themen belegen die breite Spanne persönlicher Haltungen, die in der türkischen Community in Deutschland anzutreffen ist. Auch wenn eine Tendenz zu konservativeren Einstellungen festzustellen ist, kann für die Mehrheit der türkischstämmigen Muslime jedoch keine orthodoxe Haltung belegt werden.

363

Veränderungen der religiösen Praxis

2.6. Erfahrungen mit Deutschen Doch trotz der Tendenz zu einem stärkeren Grad der Religiosität und konservativeren Einstellungen scheint das Verhältnis zwischen den türkischstämmigen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft nicht grundsätzlich gestört zu sein – im Gegenteil. Knapp zwei Drittel möchten definitiv nicht mehr in die Türkei zurückkehren und hat damit Deutschland faktisch als neue Heimat akzeptiert, nur gut ein Viertel hat die Absicht, zurückzukehren. Nur noch knapp die Hälfte sieht die Türkei als einzige Heimat an, mehr als die Hälfte sieht auch auf emotionaler Ebene Deutschland mindestens auch als Heimat an. Die Verwurzelung in Deutschland ist unter den jungen Migranten deutlich höher als unter den Älteren. Drei Viertel der türkischstämmigen Muslime fällt es nicht oder eher nicht schwer, als Moslem in einem christlich geprägten Land zu leben, 56% haben gar keine und 18% wenige Probleme damit. 9% gaben jedoch große Schwierigkeiten an und 17% halten das Leben in Deutschland für eher schwierig. Abb. 16: Beurteilung des Lebens als Moslem in einem christlichen Land (Prozentwerte)

8,9

0% Sehr schwierig

17,2

20%

18,2

40%

Eher schwierig

55,7

60%

80%

Eher nicht schwierig

100% Gar nicht schwierig

Erstaunlicherweise kommen sehr und eher religiöse Muslime mit dem Leben in Deutschland etwas besser zurecht als eher und gar nicht Religiöse. Bei der Aufschlüsselung der Religiosität in vier Kategorien kann man erkennen, daß sehr religiöse Muslime hierbei häufiger Probleme haben als eher Religiöse, aber auch eher nicht Religiöse finden es überdurchschnittlich häufig schwierig – eine Linearität zur Religiosität läßt sich jedoch nicht feststellen. Frauen gaben hier etwas seltener Schwierigkeiten an als Männer. Differenziert nach Alter, haben die mittleren Gruppen die häufigsten Schwierigkeiten, sowohl die Gruppe zwischen 31 und 40 Jahre als auch diejenigen zwischen 41 und 50 Jahre. Diejenigen, die über 50 Jahre sind, kommen mit

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dem Leben in einem christlichen Land am besten zurecht, noch besser als die bis 30-Jährigen. Die Aufenthaltsdauer läßt jedoch keine Linearität erkennen, allerdings fällt es erwartungsgemäß den am längsten hier Lebenden am leichtesten und den relativ neu Zugewanderten am schwersten, in einem christlichen Land zurecht zukommen. Erstaunlicherweise nehmen mit höherer Bildung die Schwierigkeiten zu; höher Gebildete geben häufiger Probleme an als weniger Gebildete. Dies gilt in besonderem Maß für ältere Muslime, aber auch in der jüngeren Gruppe haben Muslime mit hohem Schulabschluß häufiger Probleme als mit niedrigem Abschluß, am geringsten sind dort die Probleme bei denjenigen mit mittlerer Schulbildung. Möglicherweise liegt dies an unterschiedlichen Erwartungen, die bei höher Gebildeten anspruchsvoller sind als bei weniger Gebildeten. Darüber hinaus bescheinigen die türkischstämmigen Muslime der deutschen Gesellschaft einen hohen Grad an Verständnis für die muslimischen Lebensweisen und Praktiken. Je nach Lebensbereich stoßen zwischen 80% und 90% der Muslime auf Verständnis bei den Deutschen. Die wahrgenommene Toleranz ist bei Ämtern und Behörden mit 90% am ausgeprägtesten, gefolgt von öffentlichen Einrichtungen (89%), am geringsten mit 80% ist sie am Arbeitsplatz, an dem 15% eher auf Unverständnis stoßen. Auch in der Schule – bezüglich der Kinder – stoßen relativ viele Muslime (12%) auf Unverständnis; Konflikte in der Schule beziehen sich erfahrungsgemäß häufig auf die Teilnahme von Mädchen am Sport- und Schwimmunterricht und auf Klassenfahrten. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Befragung des Jahres 2000 ergeben sich drei Veränderungen: Die wahrgenommene Toleranz hat sich in der Schule um vier Prozentpunkte erhöht, die unter Bekannten jedoch um sieben Prozentpunkte und in der Nachbarschaft um fünf Prozentpunkte verringert. Bezüglich des Arbeitsplatzes, öffentlicher Einrichtungen und Behörden entspricht die Einschätzung heute weitgehend der von vor fünf Jahren.

365

Veränderungen der religiösen Praxis Abb. 17: Wahrgenommenes Verständnis von Deutschen für religiöse Praktiken oder Lebensweisen im Vergleich 2005 und 2000 (Prozentwerte)

Eher Verständnis

Differenz

2005

2001

Arbeitsplatz

79,7

78,3

+1,4

Schule/Kindergarten (bezüglich der Kinder)

85,5

81,7

+3,8

Bekannte

86,7

93,7

–7,0

Nachbarschaft

88,6

93,3

–4,7

Öffentliche Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser)

89,2

91,8

–2,6

Ämter/Behörden

89,5

90,4

–0,9

Religiöse Muslime haben durchgängig noch häufiger als Nichtreligiöse den Eindruck, auf Verständnis bei Deutschen zu stoßen. Auch Frauen haben häufiger den Eindruck von Verständnis als Männer, insbesondere bei Bekannten, in der Schule und am Arbeitsplatz. Mit zunehmendem Alter steigt der positive Eindruck, korrespondierend zu den abnehmenden Problemen als Moslem in einem christlichen Land. Bedenklich ist, daß immerhin 29% der jüngsten Gruppe am Arbeitsplatz auf Unverständnis stößt. Bei der Wahrnehmung von Toleranz mögen auch unterschiedliche Ansprüche eine Rolle spielen, doch strukturiert diese subjektive Wahrnehmung das Denken und das Verhalten. Auch für die Schulbildung zeigen sich bezüglich der wahrgenommenen Toleranz der Deutschen ähnliche Ergebnisse wie bei den Problemen, als Moslem in einem christlichen Land zu leben: Hochgebildete empfinden diese als niedriger als gering Gebildete, am stärksten empfinden Muslime mit mittlerer Schulbildung das Verständnis von Deutschen. Somit scheint sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Muslimen aus der Perspektive der Muslime nach dem 11. September und der seither anhaltenden Diskussion um das Wesen des Islam nicht dramatisch verschlechtert zu haben, wenngleich Freunde und Nachbarn heute etwas weniger Toleranz aufbringen.

366

Faruk ùen & Martina Sauer

3. Fazit Trotz der im Vergleich zum Jahr 2000 gestiegenen Religiosität und der Neigung zu konservativeren Einstellungen besteht unter den türkischstämmigen Migranten keine zunehmende Gefahr der Fundamentalisierung oder einer steigenden Unterstützung doktrinärer Organisationen. Doch haben Religion und religiöse Riten eine gleichbleibend hohe Bedeutung, die nicht nur eine religiöse, sondern auch eine kulturell-gesellschaftliche Ebene berührt. Auch die junge Generation und weniger religiöse Migranten halten an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen Identität fest. Insbesondere das Fasten, die Armutssteuer (Zekât), die Beteiligung am Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden – relativ unabhängig vom Grad der Religiosität – von einer deutlichen Mehrheit praktiziert. Regelmäßiges Beten, der häufige Moscheebesuch und die Wallfahrt sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere Religiosität, die bei höherem Alter und geringerer formaler Bildung stärker ausgebildet ist. Festzustellen ist eine zunehmende Polarisierung und Differenzierung innerhalb der muslimisch-türkischen Community, die sich in der Religiosität, aber auch bei den persönlichen Einstellungen zeigt. Dennoch weist die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Muslime eine moderate Einstellung auf, der Kopftuchzwang wird von der Hälfte und getrennter Sportunterricht von mehr als zwei Dritteln abgelehnt. Die Trennung von Staat und Religion wird in hohem Maß befürwortet, wobei das türkische Modell der staatlichen Organisation des religiösen Lebens große Unterstützung erfährt. Orthodoxe Organisationen haben kaum Zulauf, doch üben sie offenbar auf die junge Generation eine gewisse Anziehungskraft aus. Junge Muslime sind einerseits deutlich religiöser als vor fünf Jahren, organisieren sich jedoch andererseits seltener als damals. Doch wenn sie sich einem Verband anschließen, dann überproportional in doktrinären Gruppierungen. Dennoch kann man bei 2% IGMG-Mitgliedern und ebenso vielen VIKZ-Mitgliedern unter den jungen Migranten nicht von einer breiten Fundamentalisierung sprechen. Doch darf die Gruppe insbesondere der jungen Migranten, die sich zu doktrinären Organisationen hingezogen fühlen und eine sehr konservative Meinung aufweisen, nicht übersehen werden. Hier gilt es jedoch, sich konstruktiv auseinanderzusetzen und die Jugendlichen nicht durch Ausgrenzung und Druck verstärkt in eine freiwillige Segregation zu drängen. Die Landschaft religiöser Organisationen, in denen knapp ein Viertel der Migranten über eine Mitgliedschaft organisiert ist, wird heute wie vor fünf Jahren eindeutig durch DøTøB dominiert. Der religiöse Organisationsgrad und die Bedeutung der Organisationen bezüglich der Mitglieder sowie der Repräsentation der Einstellungen auch der Nichtorganisierten haben

Veränderungen der religiösen Praxis

367

sich kaum verändert. Zugenommen hat jedoch der Anteil derer, die sich durch keinen Verband in ihren Einstellungen repräsentiert fühlen und der heute bei 24% liegt. Dennoch wünschen sich fast zwei Drittel einen Zusammenschluß der verschiedenen Verbände zu einem Gesamtverband. Durch diesen könnten die Muslime im politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik besser und effektiver vertreten werden, da sich Politik und Verwaltung mit der nichthierarchischen Organisationsstruktur des Islam schwer tun. Obwohl das Zusammenleben der muslimischen Minderheit mit der christlichen Mehrheit aus der Perspektive der Muslime nur für wenige ein Problem darstellt und im Allgemeinen den Deutschen ein großes Maß an Verständnis bescheinigt wird, ist diese Wahrnehmung bei den jungen Muslimen nicht ganz so positiv ausgeprägt. Die deutsche Gesellschaft sollte weitere Anstrengungen unternehmen, um die kleine Gruppe der jungen Migranten, die insbesondere in Verbindung mit sozialer Desintegration Gefahr laufen könnte, in fundamentalistische oder radikale Gruppen abzurutschen, mit ihrem Glauben zu akzeptieren und zu integrieren, anstatt sie durch Ausgrenzung oder überzogenen Assimilierungsforderungen weiter in die Isolation zu drängen. Die muslimischen Organisationen sind aufgefordert, stärker zusammen zu arbeiten und am politisch-gesellschaftlichen Leben in Deutschland zu partizipieren. Zugleich sollten sie dafür eintreten, sich – unter Beibehaltung der religiösen und kulturellen Eigenständigkeit – als Teil der deutschen Gesellschaft zu begreifen.

Bibliographie BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005. GOLDBERG, Andreas & SAUER, Martina: Perspektiven der Integration der türkischstämmigen Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der vierten Mehrthemenbefragung 2002. Münster 2003. HEITMEYER, Wilhelm et al.: Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt 1997. ÖZTOPRAK, Ümit: Wertorientierungen türkischer Jugendlicher im Generationen- und Kulturvergleich, in: REULECKE, Jürgen (Hg.): Spagat mit Kopftuch. Berlin 1997, S. 418–454. SAUER, Martina & ùEN, Faruk: Religiöse Praxis und organisatorische Vertretung türkischstämmiger Muslime in Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1/2006, S. 14–22.

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Faruk ùen & Martina Sauer

STIFTUNG ZENTRUM FÜR TÜRKEISTUDIEN: Die Situation des islamischen Religionsunterrichts und die Frage der islamischen Ansprechpartner in den Bundesländern, in: ZfT-aktuell 107, Essen 2005. TRAUTNER, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen als soziale Träger des transstaatlichen Raums Deutschland-Türkei, in: FEIST, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000. Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997.

Akademische Freiheit und politische Eingriffe in türkische Universitäten während der Herrschaft der Demokratischen Partei (1950–1960) Martin Strohmeier (Nicosia) Akademische Freiheit: Begriff und Geschichte Garantie und Verteidigung, Gefährdung und Aufhebung akademischer Freiheit1 durch religiöse oder weltliche Mächte ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte von Universitäten seit dem ausgehenden Hochmittelalter. Während einerseits die Integration von Universitäten in staatlich kontrollierte Erziehungssysteme in der Neuzeit zu Einflußnahmen des Staates führte, begünstigte andererseits Demokratisierung von Staaten und Gesellschaften den Schutz akademischer Freiheit. Je nach Abhängig–––––––––––––––– 1

Unter dem Begriff „akademische Freiheit“ soll im folgenden die Freiheit von Forschung und Lehre verstanden werden. Der Begriff ist durch das „U.N. Committee on Economic, Social and Cultural Rights” folgendermaßen definiert worden: “Members of the academic community, individually or collectively, are free to pursue, develop and transmit knowledge and ideas, through research, teaching, study, discussion, documentation, production, creation or writing. Academic freedom includes the liberty of individuals to express freely opinions about the institution or system in which they work, to fulfill their functions without discrimination or fear of repression by the State or any other actor, to participate in professional or representative academic bodies, and to enjoy all the internationally recognized human rights applicable to other individuals in the same jurisdiction”, zitiert in: http://hrw.org/backgrounder/eca/turkey/2004/5.htm (Bericht von Human Rights Watch über “Academic Freedom in Higher Education” in der Türkei). Der Schwerpunkt dieser Definition scheint mir in erster Linie auf dem Verhältnis von Hochschullehrern zu staatlichen Autoritäten liegen. In Nordamerika ist der Begriff „akademische Freiheit“ in den letzten Jahren vielschichtiger geworden und schließt dort weitere Elemente ein wie z.B. „hate speech codes“. Davon vermittelt eine Vorstellung der Band von MENAND, Louis (ed.): The Future of Academic Freedom. Chicago and London 1996. Siehe bes. den Hinweis auf die z.T. widersprüchlichen Bedeutungen akademischer Freiheit in dem Beitrag von SCOTT, Joan W.: Academic Freedom as an Ethical Practice, in: MENAND, Louis: 1996, S. 163–180, bes. S. 164f.

370

Martin Strohmeier

keit von politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie ideologischen Vorgaben entwickelten sich Konflikte um akademische Freiheit, und zwar nicht nur in totalitären oder autokratischen Regimen, sondern auch in Demokratien. Akademische Freiheit war Streitobjekt, weil sie dazu benutzt werden konnte, staatliche und/oder religiöse Orthodoxie anzugreifen, und so tedenziell die herrschende Ordnung gefährden konnte. Daher bemühten sich Regierungen darum, Kontrolle über die Universitäten zu etablieren. Hauptsächliches Instrument dieser Kontrolle waren Gesetze, die häufig im Widerspruch zu hehren Zusicherungen akademischer Freiheit in Verfassungen standen. Zu den Maßnahmen, welche die akademische Freiheit einschränkten, gehörten in erster Linie Disziplinarverfahren gegen unbotmäßige Hochschullehrer, die bis hin zur Amtsenthebung reichten, ob nun mit oder ohne Mitwirkung von Universitätsgremien. Möglichkeiten der Universitäten, Widerstand gegen politisch motivierte Maßregelungen zu leisten, waren begrenzt, saß doch der Staat als Geld- und Gesetzgeber am längeren Hebel.2

Akademische Freiheit in der Türkei: Recht und Praxis Gesetzliche Regelungen handeln den Begriff akademische Freiheit nur knapp ab. Ihre erste Erwähnung findet sich in der Verfassung von 1961: „Mitglieder des Lehrkörpers der Universitäten und ihre Assistenten dürfen frei forschen und publizieren“.3 In der Verfassung von 1982 (Artikel 130, Absatz 4) ist dieser Satz fast gleichlautend übernommen worden, doch folgt ihm sogleich eine schwerwiegende Einschränkung: „Universitäten, Mitglieder des Lehrkörpers und ihre Assistenten dürfen alle möglichen Arten wissenschaftlicher Forschung treiben und diese publizieren. Dieses Recht schließt aber nicht die Freiheit ein, tätig zu werden gegen die Existenz und Unabhängigkeit des Staates sowie gegen die Integrität und Unteilbarkeit von Nation und Territorium“. In den Universitätsgesetzen ist von „wissenschaftlicher und administrativer Autonomie“ (Gesetz Nr. 4936 von 1946), „Autonomie“ (Gesetz Nr. 1750 aus dem Jahre 1973) und „wis–––––––––––––––– 2

3

GERBOD, Paul: Die Hochschulträger, in: RÜEGG, Walter (ed.): Geschichte der Universität in Europa. Band III: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800– 1945). München 2004, S. 83–96. In Artikel 120, Absatz 4, über Universitäten; die vorhergehenden Verfassungen des Osmanischen Reiches (1876, 1908) und der Türkei (1924) hatten keinen solchen Passus.

Akademische Freiheit

371

senschaftlicher Autonomie“ (Gesetz Nr. 2547 von 1981)4 in Bezug auf die Institution Universität, aber nicht die Hochschullehrer als Individuen die Rede.5 Die genannten Regelungen in der gegenwärtigen Verfassung (seit 1982) und im gültigen Hochschulgesetz (seit 1981), ideologische Vorgaben im Hochschulgesetz6 und ihre Umsetzung in die Praxis ergeben zusammen eine gravierende Einschränkung akademischer Freiheit.7 Man mag einwenden, daß in Ermangelung einer gesetzlichen Grundlage für akademische Freiheit bis 1961 diese auch nicht eingeschränkt werden konnte. Dieser Einwand greift aber zu kurz und zwar aus zwei Gründen: zum einen existierte ja das Rechtsprinzip der „wissenschaftlichen Autonomie“. Diejenigen, welche die akademische Freiheit für sich in Anspruch nahmen oder sich auf sie beriefen, taten dies offenbar, weil sie aus der wissenschaftlichen Autonomie für die Institution Universität akademische Freiheit für Hochschulangehörige als Individuen ableiteten. Zum anderen ließe sich ganz allgemein argumentieren, daß ihrem Wesen nach und aus ihren historischen Wurzeln heraus der Universität das Prinzip der akademischen Freiheit immanent ist, mit anderen Worten: Universität ohne akademische Freiheit undenkbar ist. –––––––––––––––– 4

5

6 7

Autonomie im administrativen Sinne besitzen nicht die Universitäten, sondern der mächtige Hochschulrat (Yüksek Ö÷retim Kurulu, YÖK), der das gesamte Hochschulwesen lenkt. Zum Vergleich einige einschlägige Bestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland: Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3 lautet: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“. Auch in den Hochschulgesetzen der Länder wird auf akademische Freiheit Bezug genommen, so z.B. im Bayerischen Hochschulgesetz, Artikel 3, Absatz 2: „Die Freiheit der Forschung...umfasst insbesondere die Fragestellung, die Grundsätze der Methodik sowie die Bewertung der Forschungsergebnisse und seine Verbreitung“. Z.B. in § 4, wo als Ziel der Hochschulausbildung u.a. gilt: „Studenten ... sollen im Sinne der Reformen, Prinzipien und des Nationalismus Atatürks erzogen werden“. HUMAN RIGHTS WATCH: „Academic Freedom in Higher Education”, s. Fußnote Nr. 1. Dennoch sollte über den von HUMAN RIGHTS WATCH dokumentierten „spektakulären” Fällen nicht außer acht gelassen werden, daß Einschränkungen akademischer Freiheit außerordentlich divergieren. Zum einen sind von ihnen in erster Linie Gesellschafts- und Rechtswissenschaftler betroffen, dagegen kaum Naturwissenschaftler und Mediziner. Zum anderen dürfte ein international angesehener Professor in Dauerstellung weniger von solchen Einschränkungen bedroht sein als ein junger Wissenschaftler mit Zeitvertrag. Zum dritten ist die Durchsetzung akademischer Freiheit von Universität zu Universität unterschiedlich, je nachdem ob es sich um eine Privatuniversität mit einer liberalen Führung am einen Ende der Skala oder eine „Provinzuniversität” mit einer autoritären Leitung am anderen Ende der Skala handelt. Sicher ist, daß unter diesen wenig einheitlichen Bedingungen Anpassungsdruck, vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur gedeihen.

372

Martin Strohmeier

Angesichts des Mangels an klaren gesetzlichen Regelungen bzw. starker Einschränkungen des Prinzips „akademische Freiheit“ nimmt es nicht Wunder, daß Eingriffe in die akademische Freiheit in der türkischen Universitätsgeschichte häufig stattgefunden haben. Am spektakulärsten gestalteten sich die Interventionen des Staates in die Universitäten als Institutionen bzw. in das tertiäre Bildungssystem als Ganzes in den Jahren 1933, 1960 und 1980.8 Sie wurden allesamt beschönigend mit dem Etikett „Universitätsreform“ versehen und hatten die Entlassung von teils über Hundert (1933, 1960), teils Hunderten (1980) von Hochschullehrern zur Folge. In den 40er Jahren wurde eine „Hexenjagd“ auf mehrere Hochschullehrer eröffnet, die wegen angeblicher kommunistischer Tendenzen von der Universität Ankara entfernt wurden.9 Beispiele für Angriffe auf die akademische Freiheit und Maßregelungen von Hochschullehrern in den letzten Jahren sind von HUMAN RIGHTS WATCH dokumentiert. Im Jahre 2005 mußte eine von der türkischen Historikerelite organisierte Konferenz zum Thema „Ottoman Armenians in the Period of the Empire’s Collapse“ aufgrund gerichtlicher Verbote und politischer Repressalien zunächst abgesagt werden; sie konnte erst im zweiten Anlauf im September 2005 stattfinden. In dieses Kontinuum von Eingriffen in die akademische Freiheit in der Türkei fügen sich die folgenden Geschehnisse ein, die in den 50er Jahren für Aufmerksamkeit sorgten.

Hochschulen und Mehrparteienherrschaft Die Parlamentswahlen im Mai 1950 waren die ersten Wahlen nach der Etablierung des Mehrparteiensystems in der zweiten Hälfte der 40er Jahre und endeten mit einem durchschlagenden Erfolg der Demokratischen Par–––––––––––––––– 8

9

Dabei darf nicht übersehen werden, daß diese Eingriffe unter sehr verschiedenen äußeren Bedingungen stattgefunden haben. 1933, als die dƗrülfünnjn, wie der noch aus osmanischer Zeit stammende Name für Universität lautete, geschlossen und die østanbul Üniversitesi eröffnet wurde, war kein Putschjahr; die Türkei befand sich auf dem Höhepunkt einer politisch autoritären Periode. Im Staatsstreich von 1960 stürzte eine Gruppe Offiziere die Regierung der Demokratischen Partei (Demokrat Parti, DP), der schwerwiegende Verletzungen der Verfassung und der Versuch der Ausschaltung der Opposition vorgeworfen wurden. Der Putsch der Militärspitze im Jahre 1980 wandte sich im wesentlichen gegen die wachsende Ohnmacht staatlicher Organe, der blutigen Unruhen und Terroranschläge, die gerade an den Hochschulen zahlreiche Opfer forderten, Herr zu werden. Behice Boran, (1908–1987), Pertev Naili Boratav, (1907–1998) und Niyazi Berkes, (1908–1988), siehe ÇETIK, Mete (ed.): Üniversitede CadÕ KazanÕ. 1948 Tasfiyesi ve Pertev Naili Boratav’Õn MüdafaasÕ. østanbul 1998.

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tei (Demokrat Parti, abgekürzt: DP),10 für die sich mehr als die Hälfte der Wähler entschieden hatte. Durch das Mehrheitswahlrecht begünstigt, errang sie mehr als 4/5 der Parlamentssitze.11 Bereits einen Tag nach dem Wahlsieg der „Demokraten“ kam es zwischen Mitgliedern des linken „Vereins der Hochschuljugend“ (Yüksek Tahsil Gençli÷i Derne÷i) und rechten Studenten, die dem „Nationalen Türkischen Studentenbund“ (Milli Türk Talebe Birli÷i, MTTB) angehörten, zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, die durch eine Kampagne für eine Amnestie des im Gefängnis einsitzenden sozialistischen Dichters NazÕm Hikmet (1902–1963) hervorgerufen worden war. In seinem Regierungsprogramm, das Ministerpräsident Menderes am 29.5.1950 vorstellte, wandte er sich gegen zerstörerische linke Kräfte, was vom MTTB begeistert aufgenommen wurde. Studentische Kundgebungen zum Gedenken an im Korea-Krieg gefallene türkische Soldaten nahmen einen antikommunistischen Charakter an. Die Atmosphäre des Kalten Kriegs bemächtigte sich so auch der türkischen Universitäten.12 Unterdessen suchten beide Parteien, die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) und DP, Intellektuelle und Akademiker auf ihre Seite zu ziehen. øsmet ønönü, der zweite Staatspräsident der Türkei, Vorsitzende der Volkspartei und nunmehr Oppositionsführer, stattete den Universitäten Besuche ab, bei denen er begeistert empfangen wurde. Zu einer Studentengruppe sagte er: „Ihr seid die Wächter der Revolution (sc. Atatürks)“.13 Seit ihrer Gründung und in den ersten Jahren, in denen sie die Regierung stellte, genossen die „Demokraten“ durchaus die Unterstützung von Akademikern. Die Demokratische Partei hatte einen wesentlichen Anteil an der Verleihung der Autonomie an die Universitäten und am Zustandekommen des Universitätengesetzes.14 In ihrem Programm hatte sie Hochschulmitglieder von dem Verbot politischer Aktivität und Mitgliedschaft in politischen Parteien, dem sonst Beamte unterlagen, ausgenommen.15 Diese Unterstützung verringerte sich jedoch in dem Maße, in dem die Regierung von Ministerpräsident Adnan Menderes die nachfol–––––––––––––––– 10 Für Mitglieder und Anhänger der Demokrat Parti hat sich die Bezeichnung „Demokraten“ eingebürgert. Sie wird hier übernommen. 11 KARPAT, Kemal: Turkey’s Politics. The Transition to a Multi-Party System. Princeton 1959, S. 241. 12 TAYLAK, Muammer: Saltanat, II. Meúrutiyet ve I. Cumhuriyet’te Ögrenci Hareketleri. Ankara 1969, S. 224ff. 13 JÄSCHKE, Gotthard: Die Türkei in den Jahren 1952–1961. Wiesbaden 1965, S. 10. 14 WEIKER, Walter: The Turkish Revolution 1960–1961. Aspects of Military Politics. Washington, D.C, 3. Aufl. 1967 [zuerst 1963], S. 50. 15 DEMOKRAT PARTI. Tüzük ve Program. Ankara 1949, S. 59f; Türkiye Büyük Millet Meclisi (fortan TBMM) Tutanak Dergisi Dönem IX, øçtima 3, 24/2.1953, S. 938.

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gend geschilderten Eingriffe in die Universitäten vornahm und den Säkularisierungsschub der Atatürk- und ønönü-Jahre drosselte bzw. sogar eine Politik betrieb, die als Abkehr von den kemalistischen Reformen und Begünstigung religiös-konservativer Kräfte interpretiert wurde.16 Gleichzeitig machte sich an den Universitäten ein Gefühl der Frustration besonders unter jüngeren Wissenschaftlern breit. Professoren konnten bis zum Alter von maximal 70 Jahren auf ihren Stellen verbleiben, wodurch die beruflichen Perspektiven des Nachwuchses entsprechend dürftig waren. Die Schaffung neuer Professuren und Lehrstühle konnte kaum Abhilfe schaffen. Erfolgversprechender als das Warten auf neue Stellen und die Pensionierung der Amtsinhaber schien es, sich bestimmten Fraktionen oder Cliquen anzuschließen oder solche zu bilden, um im geeigneten Moment über genügend Anhänger und Förderer zu verfügen. Solche Verhältnisse untergruben zum einen die „Universitätsdisziplin- und moral“ und begünstigten zum anderen die Politisierung des Lehrkörpers, dessen Mitglieder sich auch durch Verbindung mit einer der Parteien eine Verbesserung ihrer Aufstiegschancen erhofften.17

–––––––––––––––– 16 Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die „Demokraten“ nur mit großem Nachdruck fortsetzten, was bereits Ende der vierziger Jahre noch von der CHP initiiert worden war, nämlich die Wiedereinführung des Religionsunterrichts an Schulen und die Errichtung einer Theologischen Fakultät (ølahiyat Fakültesi) in Ankara. Eines der ersten Gesetze der DP-Regierung bestand in der Aufhebung des Verbots des Gebetsrufes in arabischer Sprache. Freilich war dieses nie lückenlos befolgt worden, so daß diese Maßnahme lediglich der Praxis folgte. Auch die CHPOpposition votierte für die Aufhebung. AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: Türkiye’de Çok Partili PolitikanÕn AçÕklamalÕ Kronolojisi 1945–1971. Ankara 1976, S. 71: 16.6.1950. 17 Walter WEIKER (1967, S. 50) schreibt, daß es kein vorgeschriebenes Pensionierungsalter gegeben habe. Bereits 1949 war aber in einer Änderung von Artikel 66 des Üniversiteler Kanunu die Altersgrenze auf 65 Jahre festgesetzt worden; allerdings konnten auf Beschluß des Universitätssenats Professoren fünf weitere Jahre auf ihrer Stelle bleiben. Möglicherweise war diese Regelung nicht oder nur mangelhaft in die Praxis umgesetzt worden. Der Aufsatz von Walter WEIKER: Academic freedom and problems of higher education in Turkey, in: Middle East Journal 16 (Summer 1962) 3, S. 279–294, ist wortgleich mit dem entsprechenden Kapitel in der soeben genannten Monographie. Siehe auch SHAW, Stanford J. & SHAW, Ezel Kural: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol. II: Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808–1975. Cambridge 1977, S. 410.

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Disziplinierung von Hochschullehrern und politischpublizistisches Engagement Obwohl die DP über eine komfortable Parlamentsmehrheit verfügte, zeigte sie sich gegen Kritik in der Presse und von den Universitäten allergisch und ging daran, deren Einfluß zu beschneiden. Ein Dorn im Auge waren der DP insbesondere einige Akademiker, die sich publizistisch als Kritiker der Regierung hervorgetan hatten. Ihre Aktivitäten wollte man mit einem Gesetz unterbinden, das einen Tag vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause (Juli 1953) handstreichartig dem Gesetzgeber vorgelegt und gegen den Widerstand der Opposition verabschiedet wurde.18 Gegenstand des Gesetzes war eine Änderung des Artikels 46 des Universitätengesetzes von 1946. Darin waren unter der Rubrik „Disziplinarangelegenheiten“ Verstöße von Universitätsangehörigen gegen Standesehre und -würde mit einer Reihe von Strafen belegt, die von einer Verwarnung bis hin zur Entlassung aus dem Hochschullehreramt reichten.19 Bisher hatte Abschnitt d) gelautet: Entlassung aus dem Hochschullehrerberuf – wer Verstöße gegen die Standesehre und -würde begeht, die ein Verbleiben im Lehramt nicht mehr zulassen, wird aus dem Lehramt entlassen.

Jetzt aber wurde die Bestimmung ausgedehnt auch auf die, „... welche in politischen Vereinigungen eine aktive Funktion übernehmen oder politische Veröffentlichungen oder Erklärungen verbreiten, die gemäß Artikel 3, Abschnitt e) (sc. des Universitätengesetzes) nicht erlaubt sind“.20 Hierin war zum Ausdruck gebracht, daß die Aufgabe der Universitäten darin bestehe, „... Ergebnisse der Wissenschaft in mündlicher und schriftlicher Form zu verbreiten, die geeignet sind, das allgemeine Niveau der türkischen Gesellschaft zu heben“.21 Obwohl die Entscheidung über eine Entlassung in die Hände des Universitätssenats gelegt war, wurde das Gesetz Nr. 6185 vom 28.7.1953 von Universitätsangehörigen als eine Verletzung der Universitätsautonomie gewertet.22 –––––––––––––––– 18 Plenumsberatungen in TBMM Tutanak Dergisi Dönem IX, øçtima 3, 24/2.1953, S. 935ff. 19 HIRSCH, Ernst (ed.): Dünya Üniversiteleri ve Türkiye’de Üniversitelerin Geliúmesi. Bd. 2. Ankara 1950 (Ankara Üniversitesi YayÕnlarÕ 23), S. 1069. 20 TBMM Tutanak Dergisi, Dönem IX, øçtima 3, 24/2.1953, S. 941. 21 HIRSCH, Ernst (ed.): 1950, S. 1059. 22 „Üniversiteler Kanununun 46 ncÕ maddesinin (d) fÕkrasÕnÕn de÷iútirilmesi hakkÕnda Kanun”, in: Sicilli Kavanin 34.1953, S. 597f.; TBMM Tutanak Dergisi Dönem IX, øçtima 3, 24/2.1953, S. 962–966. Zugleich bedeutete diese Bestimmung eine Abkehr vom Parteiprogramm von 1949, in dem Hochschullehrer vom Verbot politi-

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Außenminister Fuad Köprülü, der sein Amt als Hochschullehrer längst aufgegeben hatte, verteidigte die Gesetzesänderung folgendermaßen: … Wer sich mit Politik beschäftigt, der hat keine Zeit, ja keine Möglichkeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Wer indessen sein Leben der Wissenschaft widmet, der braucht äußerste Ruhe. Der Wissenschaftler ist bei seiner Arbeit gezwungen, außer seinem Forschungsgegenstand alles zu vergessen, was um ihn herum vor sich geht. Wenn ihm das nicht gelingt, kann er keine Bücher schreiben oder doch nur wenig publizieren. Wenn Wissenschaftler begannen, sich mit Politik zu befassen, konnten sie ihre wissenschaftliche Arbeit nicht fortsetzen.23

Daß Wissenschaft und politisches Engagement sich vom Zeitaufwand her schlecht vereinbaren ließen, mag Köprülüs eigener Erfahrung in seiner Doppelfunktion als einer der prominentesten Gelehrten der Republik und Politiker zuzuschreiben sein. Gleichwohl offenbart sich hier das Bestreben einer strikten Trennung von Wissenschaft und politischem oder, weiter gefaßt, öffentlichem Tun, welche die Wissenschaft in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm sperrt. Noch deutlicher wird dieses Credo in den Ausführungen des Staatsministers Celal YardÕmcÕ, daß junge Staatsbürger nicht von politisch engagierten Hochschullehrern an den Universitäten mit den Ideologien der Parteien „infiziert“ werden dürften.24 Nicht nur die damalige CHP-Opposition, sondern auch spätere Chronisten haben das Gesetz in Verbindung gebracht mit einer Maßregelung von Professor Nihat Erim. Erim war Abgeordneter der CHP 1943–1950 und bekleidete zwischen 1948 und 1950 mehrere Ministerposten. Darüber hinaus gab er die Parteizeitung Ulus heraus. Nach den Wahlen von 1950 kehrte er an die Juristische Fakultät zurück, setzte aber seine Tätigkeit als Publizist mit kritischen Artikeln gegen die Regierung fort. Am 19. Juli – inzwischen befand sich das obengenannte Gesetz bereits im parlamentarischen Verfahren – gab er den Rücktritt von seinem Lehramt bekannt, wahrscheinlich, um einer Entlassung nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes zuvorzukommen.25 Es ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, daß einige Professoren Lehramt und publizistische Aktivitäten nicht genügend auseinanderhielten. SHAW und WEIKER legen nahe – ohne Belege anzuführen – daß Professoren Politik in den Hörsaal getragen und ihre Ansichten den Studenten auf–––––––––––––––– scher Aktivität ausgenommen waren, dem sonst Beamte unterlagen, siehe S. 7 und Anmerkung S. 15. 23 TBMM Tutanak Dergisi, Dönem IX, øçtima 24/2.1953, S. 951. 24 TBMM Tutanak Dergisi, Dönem IX, øçtima 24/2.1953, S. 961. 25 TOKER, Metin: Demokrasimizin øsmet Paúa’lÕ yÕllarÕ 1944–1973. DP’nin AltÕn YÕllarÕ 1950–1954. Ankara 1990, S. 257.

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gezwungen hätten.26 Auf jeden Fall hat das Gesetz eher kritische Stimmen provoziert als sie zum Schweigen gebracht.27 Um die Frontstellung zwischen DP und Universitäten bzw. staatlichen Institutionen überhaupt (Beamte, Militärs) zu verstehen, muß man sich folgendes vor Augen halten: Die militärische und zivile Bürokratie war die wichtigste Stütze der vorausgegangenen CHP-Regierungen gewesen und wurde von der DP per se der Opposition zugerechnet. Obwohl sich die DP rühmte, das Licht der Demokratie in die Türkei gebracht zu haben, war für sie Demokratie weniger ein hehres Ziel als ein Mittel, um die eigene Macht unumschränkt auszubauen.28 Die DP konnte ihre Herkunft und ihren Aufstieg – ihre Gründer waren führende CHP-Politiker gewesen – aus dem Milieu der Einparteienherrschaft nicht verleugnen. Ein Vierteljahrhundert Autokratie konnte nicht über Nacht abgeschüttelt, eine demokratischpolitische Kultur nicht von heute auf morgen aufgebaut werden. Abweichende Meinungen, Widerspruch und Kritik zu akzeptieren, fiel der DP, insbesondere Menderes persönlich, schwer, zumal die überlegenen Wahlsiege (1950, 1954), seine starke Popularität und sein Machtstreben ihn glauben machten, „... durch demokratische Wahlen in Besitz einer fast unbeschränkten Vollmacht über die Dauer einer Legislaturperiode gelangt zu sein“.29 Die Gängelung der Universitäten und der Presse sowie das Mißtrauen gegenüber der Bürokratie auf der einen und die ökonomische Marginalisierung von Beamten und Militärs30 auf der anderen Seite veranlaßten in der Folgezeit Akademiker, sich immer mehr von der DP zu distanzieren. Im Wahlkampf 1954 spielte dieses Thema eine gewisse Rolle, obwohl Oppositionsführer ønönü eher bemüht war, die Konsequenzen des Gesetzes herunterzuspielen. In der Tat hatten inzwischen viele Hochschullehrer sich öffentlich zu politischen Themen geäußert, ohne Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt gewesen zu sein. Das Gesetz, meinte ønönü, sei überflüssig, eine wirkliche Gefahr für die Meinungsfreiheit von Wissenschaftlern bestehe nicht. Hochschullehrer, die ihre Zeit auf Wahlkämpfe, Parteiveran–––––––––––––––– 26 SHAW, Stanford J. & SHAW, Ezel Kural: 1977, S. 410; WEIKER, Walter: 1967, S. 50. 27 AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 112: 21.7.1953: „Die Änderung dieses Gesetzes war der Grund dafür, daß die Universitäten sich in die Politik stürzten“. 28 KARPAT, Kemal: Domestic Politics, in: GROTHUSEN, Klaus-Detlev (ed.): Türkei. Südosteuropa-Handbuch, Bd. IV. Göttingen 1985, S. 57–88, hier: S. 66. 29 KREISER, Klaus & NEUMANN, Christoph K.: Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 426. 30 Sie gehörten zu den Verlierern der – jedenfalls in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre – prosperierenden türkischen Wirtschaft: ZÜRCHER, Erik J.: Turkey. A Modern History. London/New York, Repr. 1998, S. 241.

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staltungen und polemische Artikel vergeudeten, ließen sich nicht durch ein Gesetz überwachen. Das sei nur möglich, so ønönü, durch eine „geistige Kontrolle“, welche die Leser ihrer Schriften, ihre Kollegen und Studenten ausübten.31 In einem Rechenschaftsbericht, der vor den Wahlen im Mai 1954 veröffentlicht wurde, beharrte die Regierung auf ihrer Sicht der Dinge: Die Autonomie der Wissenschaftsinstitutionen, welche die Meinungsfreiheit repräsentieren, ist vollkommen respektiert worden. Allerdings haben einige Personen, die keine Gelegenheit ausgelassen haben, die positiven Maßnahmen der Regierung vor der Öffentlichkeit schlecht zu machen, sich nicht gescheut, zu behaupten, daß durch ein 1953 erlassenes Gesetz die Universitätsautonomie mit Füßen getreten worden sei. Der Zweck der Universitätsautonomie besteht darin, daß Professoren und Dozenten Meinungsfreiheit besitzen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten durchführen können, ohne irgendwelchen administrativen und politischen Interventionen ausgesetzt zu sein. Fortschritt und Kreativität in der Wissenschaft sind an geistige und administrative Sicherheit und Unabhängigkeit gebunden. Das Ziel der Autonomie ist, Lehre und Forschung unter optimalen Bedingungen zu garantieren. Einige Personen freilich verstehen unter Autonomie der Hochschulen eine Art politische Immunität. Sie haben sich in die Tagespolitik eingemischt und begonnen, für eine politische Partei und gegen eine andere publizistisch Stellung zu beziehen. Obwohl sie verpflichtet sind, ihre ganzen Bemühungen und ihre Zeit Gegenständen zu widmen, die für die Wissenschaft und die Jugend nützlich sind, vernachlässigen sie ihre gesetzlichen und geistigen Pflichten und verfolgen politische Interessen. Dieses Verhalten hat an der Universität Unruhe hervorgerufen, die Forschung beeinträchtigt und dazu geführt, daß diese Professoren unvorbereitet in ihre Lehrveranstaltungen kommen. Außerdem sind dadurch Steuergelder, die vom Bürger aufgebracht werden, für gesetzeswidrige Zwecke ausgegeben worden. Daraufhin ist es als notwendig erachtet worden, zu verhindern, daß mit Wissenschaft politischer Handel getrieben wird. Zu diesem Zweck wurde ein Gesetz verabschiedet, das Professoren untersagt, in politischen Parteien eine aktive Funktion zu übernehmen.32

Stärkung des Einflusses der Regierung an den Universitäten Gestützt auf die absolute Mehrheit im Parlament nach dem triumphalen Wahlsieg im Mai 1954 konnte die DP die Zügel straffer anziehen.33 In einem weiteren Gesetz (Nr. 6422 vom 25.6.1954) wurde die Pensionierungsgrenze für Richter und Professoren auf 25 (bisher 30) im öffentlichen Dienst verbrachte Jahre festgelegt und das Pensionierungsalter von 65 auf –––––––––––––––– 31 Forum 1/3, 27.4.1954, S. 3. 32 KalkÕnan Türkiye. Ankara 1954, S. 180f. 33 503 Sitze entfielen auf die DP, 31 auf die CHP: ZÜRCHER, Erik J.: 1998, S. 234.

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60 Jahre herabgesetzt. Auch in diesem Fall wurde die Entscheidungsbefugnis dem Senat überlassen, so daß die Regierung den nicht sehr zahlreichen Kritikern, die von einer Bedrohung der Unabhängigkeit der Universitäten sprachen, die universitätsinterne Kontrolle entgegenhalten konnte. In Hochschulkreisen zog man die Aufrichtigkeit der Regierung nicht von vornherein in Zweifel, obwohl bezeichnenderweise kurze Zeit nach Erlaß des Gesetzes mehr als ein Dutzend Professoren pensioniert wurden, die im Ruf standen, Sympathisanten der CHP zu sein.34 Erst durch Gesetz Nr. 6435 vom 5.7.1954, das sich generell auf Beamte bezog, wurde die Position der Universitäten entscheidend geschwächt. Nunmehr hatte der Erziehungsminister die Möglichkeit, Ernennungen oder Entlassungen selbst auszusprechen. Der Senat mußte zwar angehört werden, aber ihm war kein Mitspracherecht eingeräumt. Außerdem bestand keine Möglichkeit, Rechtsmittel gegen eine solche Entlassung einzulegen.35 Ministerpräsident Menderes meinte, das Gesetz ziele auf einige Beamte, „die in Trägheit erstarrt und auf Abwege geraten“ seien. Ein Abgeordneter, der den Entwurf mitverfaßt hatte, brachte zum Ausdruck, daß das Gesetz einem bestimmten Ziel diene, nämlich den zuständigen Instanzen die Befugnis zu verleihen, diejenigen zu entlassen, welche „den öffentlichen Dienst lähmen“. Außerdem gelte es, so eine andere Stimme aus der Beratung, einen „Bürokratismus“ (sc. im öffentlichen Dienst) zu beseitigen. Das Gesetzesvorhaben wurde begründet mit der Notwendigkeit, innerhalb der Beamtenschaft eine größere Mobilität zu schaffen und Verkrustungen in der Bürokratie aufzubrechen bzw. zu verhindern. Trotz dieser Beteuerungen hat es den Anschein, daß sich die DP-Regierung mithilfe des

–––––––––––––––– 34 Türkiye Cumhuriyeti Emekli SandÕ÷Õ Kanununun bazÕ maddelerinin de÷iútirilmesine dair Kanun, in: Sicilli Kavanin 35 (1954), S. 813f.; DODD, Clement H.: Academic freedom and university autonomy in Turkey, in: Science and Freedom. A Bulletin of the Committee on Science and Freedom 12 (October 1958), S. 22–32, hier: 23f.; AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 125: 21.6.1954; S. 127: 1.9.1954; Forum 1/9 (1.8.1954), S. 11; Forum 1/11 (1.9.1954), S. 8–10; Forum 5/52 (15.5.1956), 1f. Die Bandangaben von Forum sind nicht konsistent, während die Nummernfolge durchgezählt wurde. 35 Ba÷lÕ bulunduklarÕ teúkilat emrine alÕnmak suretiyle vazifeden uzaklaútÕrÕlacaklar hakkÕnda Kanun, in: handelte Sicilli Kavanin 35 (1954), S. 843f. Bei den hier geschilderten Amtsenthebungen es sich um zeitweilige Suspendierungen, denn alle entlassenen Professoren wurden nach gewisser Zeit wiedereingestellt. Unklar ist, ob die Entlassungen von vornherein befristet waren oder von der Regierung zurückgenommen wurden. Je nach Dauer der beruflichen Tätigkeit betrug die Pension bei ausgeschiedenen Beamten ein Viertel bis zur Hälfte des zuletzt bezogenen Gehaltes. AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 126: 5.7.1954.

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Gesetzes die noch weitgehend mit Anhängern der CHP durchsetzte Beamtenschaft gefügig machen wollte.36

Ein „Forum“ für die Verteidigung akademischer Freiheit Auch wenn die erwähnten Gesetze Autonomie und akademische Freiheit aushöhlten und den Druck der Regierung auf die Universitäten erhöhten, löste das von seinen Gegnern als „Säuberungsgesetz“ (tasfiye kanunu) bezeichnete Gesetz keineswegs einen Proteststurm aus. Angeprangert indes wurde die Kombination der „Gummiparagraphen“37 im Gesetz 6185 mit der direkten Interventionsmöglichkeit in Personalentscheidungen, wie das Gesetz Nr. 6435 es vorsah, von einigen Wissenschaftlern, die eben im gewachsenen Einfluß der politischen Instanzen eine Gefahr für die Universitätsautonomie sahen. Diese Hochschullehrer waren überwiegend Juristen, die sich um die vierzehntäglich erscheinende Zeitung Forum gruppierten. Forum konnte dem liberalen Flügel im politischen Spektrum der Türkei zugeordnet werden. Die Autoren von Forum warfen Dekanen und Rektoren vor, während der Vorbereitung des Gesetzes Nr. 6435 geschwiegen und nichts unternommen zu haben, um von den Universitäten Schaden abzuwenden, der aufgrund des Gesetzes drohe.38 Offensichtlich gab es an den Universitäten unterschiedliche Ansichten über das Ausmaß dieser Bedrohung, und Kräfte, welche die von der Regierung unterstellte und mißbilligte „Beschäftigung mit Politik“ auch ohne gesetzliche Grundlage verboten.39 Den Autoren in Forum war bewußt, daß sie und ihre Kollegen, d.h. insbesondere Juristen, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, aufgrund –––––––––––––––– 36 Auszüge aus der Rede, in der Ministerpräsident Menderes das Gesetz erläuterte, finden sich in AyÕn Tarihi 248 (1954), 34–43, bes. S. 36; S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti. Derleyen: T.G. (vermutlich Initialen von Turan Güneú): o.O. o.J. [1957], S. 51f. 37 Forum 4/38 (15.10.1955), S. 10f. 38 Forum 2/24 (15.3.1955), S. 9f. Die Zeitschrift war 1954 von dem Ökonomen AydÕn YalçÕn und seiner Frau Nilüfer sowie Bahri SavcÕ, einem Verfassungsjuristen, gegründet worden und erschien bis 1969, wobei in den letzten Jahren die Herausgeberschaft und Tendenz einigen Wechseln unterlag: Türk Dili ve EdebiyatÕ Ansiklopedisi 3, S. 245. 39 Als die Medizinische Fakultät der Universität Istanbul beabsichtigte, ihren Studenten „Beschäftigung mit Politik“ zu untersagen, mußten Verfassungsrechtler die Verantwortlichen darauf hinweisen, daß wie alle Staatsbürger ab dem 22. Lebensjahr auch Studenten die staatsbürgerlichen Rechte besäßen, also z.B. in politische Parteien eintreten könnten: Forum 2/13 (1.10.1954), S. 3f.

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ihrer fachlichen Ausrichtung zur besonderen ‚Zielgruppe‘ der Regierung Menderes gehörten. Denn für Juristen und Politologen ist Politik ja nicht nur Frage eines staatsbürgerlichen Engagements, sondern auch Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit. So war die Sorge nicht unbegründet, daß Hochschullehrer in Ausübung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unter der Anschuldigung, sie beschäftigten sich mit Politik, nach einem weit auslegbaren Gesetz unmittelbar von einer politischen Instanz entlassen werden könnten. Als denkbare Anlässe für eine solche Entlassung wurden genannt: Ein Jurist, wenn er beispielsweise ein Gesetz für unvereinbar mit der Verfassung halte; ein Ökonom, wenn er behaupte, bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierung heizten die Inflation an. Fazit: Einen Wissenschaftler daran zu hindern, sich über politische Fragen zu äußern, bedeutet, seiner beruflichen Tätigkeit ein Ende zu setzen. Daher wäre es logischer, gleich alle sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in der Türkei aufzulösen.40

Das „Duell zwischen den Universitäten und der Regierung“ Vor diesem Hintergrund kam es im Laufe der nächsten Jahre zu einem „Duell zwischen den Universitäten und der Regierung“, wie TUNAYA zugespitzt formuliert hat.41 Sein erstes Opfer wurde der Verfassungsrechtler an der Universität Ankara, Bülent Nuri Esen, der sich gleich mehrfach exponiert hatte. Zum einen hatte er Klage gegen die Einführung des obligatorischen Religionsunterrichts erhoben, die Entsendung von Soldaten nach Korea ohne Parlamentsbeschluß verfassungswidrig genannt und das Gesetz über die Rückgabe von Eigentum der CHP an den Staat als „Konfiskation“ bezeichnet. Unter Hinweis auf dieses und andere Gesetze charakterisierte er die Türkei nicht als eine „Demokratie“, sondern eine „Kakokratie“. Im September 1954 wurde gegen Esen das Gesetz Nr. 6435 zum ersten Mal angewandt, obwohl der Universitätssenat dies abgelehnt hatte. Allerdings wurde die Suspendierung ein halbes Jahr später rückgängig gemacht.42 Im Sommer 1955 wurden einige Forum-Autoren von Erziehungsminister Celal YardÕmcÕ vorgeladen. Er warnte sie davor, ihre Kritik an der Regierung fortzusetzen. Doch waren die Gemaßregelten nicht bereit, sich –––––––––––––––– 40 Forum 1/8 (15.7.1954), S. 1f. 41 Die verschiedenen Konflikte zwischen Regierung und Universitätsmitgliedern sind beschrieben bei TUNAYA, TarÕk Zafer: Siyasi müessesseler ve anayasa hukuku. 2. Aufl. østanbul 1969, S. 165ff. 42 AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 127: 1.9.1954; WEIKER, Walter: 1967, S. 51.

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dieser Drohung zu beugen. Vielmehr erschien als Antwort in Forum ein Artikel unter der Überschrift: „Die Stellung der Wissenschaftler in einer demokratischen Staatsordnung“, in dem zum Schluß die Sokrates-Worte zitiert werden: Athener! Wenn ihr mich unter der Bedingung freilaßt, daß ich meinen Unterricht mit den Jugend einstelle, dann werde ich trotz aller Drohungen und Gefahren für mich weiterhin unterrichten.43

Die Suspendierung des Istanbuler Ökonomen Osman Okyar, einem Autor von Forum, im September 1955 machte klar, daß dies keine leere Drohung gewesen war. In mehreren Zeitungsartikeln hatte er der Regierung Menderes eine inflationistische Wirtschaftspolitik vorgehalten. Seine Schelte wurde als „Tagespolitik“ eingestuft, und der Senat der Universität Istanbul gemäß Gesetz um eine Stellungnahme gebeten. Diese konnte der Regierung kaum gefallen, markierte sie doch geradezu die Gegenposition. Im Senatsvotum wurde zwar konzediert, daß Okyars Artikel „tagespolitischer“ Natur seien. Doch sei es die Aufgabe der Wissenschaft, Analysen aktueller Ereignisse zu erstellen und zu publizieren. Der wichtigste Grund für die Universitätsreform von 1933 habe ja gerade darin gelegen, daß die dƗrülfünnjn – wie die Universität Istanbul bis 1933 hieß – sich nicht mit den aktuellen Problemen des Landes beschäftigt hatte.44 Das Universitätengesetz (Artikel 3, Absatz b) fordere Wissenschaftler aber ausdrücklich dazu auf, sich zu Problemen des Landes zu äußern.45 Wie auch im Fall Esen kam es nach kurzer Entlassung zu einer Wiedereinsetzung. Offenbar war der Regierung nicht daran gelegen, aus der Auseinandersetzung, die sich aus der Anwendung des Gesetzes 6435 ergab, eine Staatsaktion zu machen.46 –––––––––––––––– 43 Forum 3/35 (1.9.1955), S. 1f; S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 60. 44 Diese Kritik war von verschiedenen Seiten, u.a. von der Regierung, erhoben worden. Sie findet sich z.B. in der Rede von Erziehungsminister Reúit Galip zur Einweihung der reformierten Istanbuler Universität am 1.8.1933: HIRSCH, Ernst: 1950, Bd. 1, S. 310–315. 45 “... sie [die Universitäten, MS] sollen Untersuchungen und Forschungen durchführen, die das Wissen zur Lösung aller wissenschaftlichen und technischen Probleme erweitern und vertiefen, wobei in erster Linie Probleme in Frage kommen, die für das Land von Interesse sind ...“ 46 Stein des Anstoßes war Okyars Kommentar in Cumhuriyet vom 26.5.1955: „øktisadi YardÕmÕnÕn Muvafakiyat ùartlarÕ“; Forum 3/35 (1.9.1955), S. 3f; AKSOY, Muammer: „Fikir, ølim ve Ö÷retim Hürriyeti-Üniversite Muhtariyeti“; Forum 4/37 (1.10.1955), S. 7ff; ERDEMøR, Sabahat (ed.): Muhalefet’de øsmet ønönü. Band 1. østanbul 1956–1959, S. 367; vgl. auch DODD, CLEMENT H.: 1958, S. 24; WEIKER, Ernst: 1967, S. 51; TUNAYA, TarÕk Zafer: 1969, S. 165ff.

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Im selben Jahr noch wurde die parteiinterne Kritik an Menderes’ autoritärem Kurs und der weiteren Einschränkung der Pressefreiheit so stark, daß 30 DP-Abgeordnete der Partei den Rücken kehrten und die Freiheitspartei (Hürriyet Partisi) gründeten. Zu dieser stieß 1956 AydÕn YalçÕn, während Turhan Feyzio÷lu,47 Rechtsprofessor und Forum-Autor, und Muammer Aksoy48 in die CHP eintraten.49 Anfang 1956 wurden die Beziehungen der Regierung zu Akademikerkreisen frostiger. Auf einer vom „Ideen-Klub“ (Fikir Kulübü, studentische Debattierklubs, die der Regierung als Verbündete von Forum galten) veranstalteten Konferenz zum Thema „In der Demokratie ist das Parlament nicht der absolute Souverän“ äußerten sich mehrere Kontributoren von Forum, u.a. Feyzio÷lu, YalçÕn und Aksoy kritisch zur wirtschaftlichen und politischen Lage im Land. Am nächsten Tag warf Menderes ihnen vor, gemeinsame Sache mit Presse und Opposition zu machen, und drohte: „Wenn wir wollen, können wir ihnen das Maul stopfen“. Der Rektor der Universität Istanbul verwahrte sich gegen solche Angriffe: Unter unseren Professoren gibt es keinen einzigen, der sich mit Tagespolitik befaßt. Es ist aber ihre Pflicht, Wissenschaft im Volk zu verbreiten. Darum halten wir es für selbstverständlich, daß aktuelle Probleme im Lichte der Wissenschaft analysiert werden.50

Die Causa Feyzio÷lu Die aufsehenerregendste Auseinandersetzung zwischen Regierung und Universitäten fand in den Jahren 1956/57 statt. Paradoxerweise entwickelte sie sich aus dem Versuch, Gesetz Nr. 6435 zu ändern. Dazu war es gekommen, weil die DP aufgrund innerparteilicher Opposition zu Konzessionen gezwungen war. Im Januar 1956 fand eine Anhörung im zuständi–––––––––––––––– 47 Als Absolvent der traditionsreichen Eliteschule Galatasaray Lisesi hatte Feyzio÷lu in Paris und Oxford studiert und war nach einer Assistentenzeit an der Fakultät für Politische Wissenschaften (Siyasal Bilgiler Fakültesi) der Universität Ankara 1955 zum Professor ernannt worden. Im Mai 1956 wurde er jüngster Dekan in der Türkei. Zur weiteren Karriere Feyzio÷lus s. den Nachruf in Atatürk AraútÕrma Merkezi Dergisi IV (1988), S. 511–514. 48 Aksoy war später Vorsitzender des „Türkischen Juristenvereins“. Er wurde im Januar 1990 ermordet. Für die Tat übernahm eine klandestine Gruppe namens „Islamische Bewegung“ die Verantwortung. 49 DODD, Clement H.: 1958, S. 25; GøRøTLø, øsmet: Fifty Years of Turkish Political Development. østanbul 1969, S. 86; KARPAT, Kemal: 1959, S. 435ff. 50 AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 176f.: 23.–25.1.1956; TAYLAK, Muammer: 1969, S. 238ff.

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gen Parlamentsausschuß statt. Als Berichterstatter fungierte u.a. Turan Feyzio÷lu. Er beklagte, daß durch das Gesetz das Autonomieprinzip aufgeweicht worden sei. Der Vorschlag, dem sich die gesamte juristische Elite anschloß, das Gesetz in Bausch und Bogen zu streichen, stieß aber auf Ablehnung. Die DP-Mehrheit im Ausschuß war nur bereit, das Gesetz insoweit zu modifizieren, daß nunmehr eine Entlassung auf dem Rechtsweg hätte angefochten werden können. Als Argument für die Beibehaltung des Gesetzes in der alten Form wurde die allgegenwärtige Bedrohung der Türkei und insbesondere ihrer Universitäten durch den Kommunismus angeführt. Die Bereitschaft der Regierung, zurückzustecken, hatte also ihre Grenzen. Während Universitätsleitungen ganz überwiegend geschwiegen hatten, als Gesetz Nr. 6435 aus der Taufe gehoben wurde, setzten sie sich jetzt für seine Streichung ein, wurden dafür aber sogleich von der regierungsnahen Zeitung Zafer („ausgesprochen tagespolitische Stellungnahme“) unter Beschuß genommen.51 In seiner Eigenschaft als Dekan der Fakultät für Politische Wissenschaften der Universität Ankara hielt Feyzio÷lu zu Beginn des Studienjahres 1956/57 die traditionelle Eröffnungsansprache. Er erinnerte daran, daß Fortschritt in der Wissenschaft an die freie Meinungsäußerung gebunden sei. An die Studenten wandte er sich mit den Worten: Die türkische Nation braucht keine Leute, die dem Namen nach Intellektuelle sind, sondern die als Intellektuelle sich äußern … Werdet keine Pseudointellektuellen, die liebedienern und das Schlechte und Schädliche durch ihre Meinung legalisieren.

Ferner bemängelte er, daß die beantragte Ernennung des Dozenten AydÕn YalçÕn zum Professor wegen seiner Regierungsschelte in Forum seit eineinhalb Jahren vom Erziehungsministerium verschleppt worden sei, und suggerierte einen Zusammenhang mit der Universitätsautonomie.52 Einige Tage später erschien ein Artikel aus der Feder des Geschichtsdozenten an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie (Dil ve TarihCo÷rafya Fakültesi) der Universität Ankara, Mehmet Altay Köymen, in Zafer. Die Worte Feyzio÷lus benutzte er als Aufhänger für einen Rundumschlag gegen die Universitätsautonomie, die Fakultät für Politische –––––––––––––––– 51 Muhtariyetlerini Savunan Üniversitelerimiz, in: Forum 4/45 (1.2.1956), S. 3; AKSOY, Muammer: 6435 SayÕlÕ Kanun KarúÕsÕnda Üniversite Muhtariyeti, in: Forum 4/46 (15.2.1956), S. 14ff; S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 59–61. 52 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 10, S. 13–15. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte einer der aus der DP ausgetretenen und nun für die neue Hürriyet Partisi im Parlament sitzenden Abgeordneten, Turan Güneú, ebenfalls die Auffassung vertreten, daß YalçÕn aus politischen Gründen nicht befördert worden sei, AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 151: 19.6.1956.

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Wissenschaften und das publizistische Engagement einiger ihrer Mitglieder in Forum. Forum-Autoren wurden beschuldigt, sie seien Werkzeuge der Opposition, betrieben Parteipropaganda von den Kathedern herab, vergifteten die Hirne der Studenten und stachelten sie zum Aufstand auf.53 Feyzio÷lu ließ die Attacke Köymens nicht unbeantwortet: Wenn unsere Universität in einen solchen Zustand geraten sollte, daß die in meiner Eröffnungsansprache geäußerten Ansichten nicht zur Sprache gebracht werden dürfen, dann ist dort vielleicht Platz für den der Autonomie feindlich gesinnten Dozenten, aber gewiß nicht für mich.54

Drei Wochen später wurde Feyzio÷lu ohne Angabe von Gründen durch den Erziehungsminister seines Amtes enthoben. Weil aber Erziehungsminister Özel Feyzio÷lu stets geschätzt und dies auch öffentlich kundgetan hatte, handelte es sich bei der Entlassung allem Anschein nach um eine direkte Intervention des Ministerpräsidenten.55 In einer Parlamentsdebatte zum Fall Feyzio÷lu kritisierte Menderes, daß einige Universitätsmitglieder nach Belieben mit den Begriffen Freiheit, Demokratie und Autonomie umgingen und diese in ihrem Sinne anwenden wollten. Die Entlassung Feyzio÷lus begründete er folgendermaßen: Nach unserer Überzeugung hat sich dieser Professor auf das Feld der aktiven Politik begeben ... Ein Professor darf seine Stellung an der Universität nicht dazu benutzen, unsere Kinder zu beeinflussen und Druck auf sie auszuüben. In der Universität ist kein Platz für Politik ... Deshalb haben wir ihn seines Amtes enthoben.56

Darauf reagierte Feyzio÷lu mit einer Presseerklärung: Was denn der Ministerpräsident unter Parteipolitik verstehe, wo doch der Erziehungsminister, als er noch an der Universität lehrte, der DP angehört habe, einige Universitätsangehörige Mitglieder und Delegierte der DP gewesen seien und auf DP-Listen bei Lokalwahlen kandidiert hätten? Menderes behaupte, er wisse gar nicht, was an den Universitäten gelehrt werde. Woher er dann wisse, daß im Unterricht Parteipropaganda getrieben werde? Allein dieser –––––––––––––––– 53 AKSOY, Muammer: Vekalet Emrine almanÕn hakiki sebebi, in: S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 127ff. 54 Bir doçente cevap, in: S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 21f. 55 AKSOY, Muammer: Üniversite Hadisesi ve Baúbakan, in: S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 132; TBMM Tutanak Dergisi Dönem X, øçtima 3/14–15 (1956), S. 185. 56 Menderes’ Einlassung provozierte einen Abgeordneten der Opposition zu dem bissigen Zwischenruf: „Wenn es nach Ihnen ginge, würden Sie die Universitäten am liebsten gleich schließen“: TBMM Tutanak Dergisi Dönem X, øçtima 3/14–15 (1956), S. 192, 206, 213.

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Widerspruch, so Feyzio÷lu, zeige, daß die unterstellten Aktivitäten erfunden seien.57 Während sich die Universität von Feyzio÷lus Erklärung hinsichtlich der verzögerten Beförderung YalçÕns distanzierte, hielt sie die Suspendierung nicht für angemessen. Damit war genau der Fall eingetreten, den die Gegner des Gesetzes, allen voran Feyzio÷lu, prophezeit hatten.58 Feyzio÷lu betonte: Wenn der akademischen Freiheit und Sicherheit, sei es von Universitätsorganen, sei es von politischen Instanzen, nicht in jeder Hinsicht und auf gewissenhafte Art und Weise Achtung entgegengebracht wird, so glaube ich, daß die Wissenschaft, insbesondere aber die mit der Staatsverwaltung befaßten Wissenschaften sich nicht in erforderlichem Maße werden entwickeln können.

Er versicherte, daß er parteipolitisch nicht gebunden sei und sowohl als Hochschullehrer wie auch als Publizist für Forum versucht habe, für Demokratie zu werben und vor totalitären Ideologien zu warnen.59 Aus Protest gegen das Vorgehen des Ministeriums, daß „... in einem demokratischen und freien Land (es) nicht mit den Freiheiten und akademischen Garantien vereinbar ist, die Hochschullehrer besitzen müssen ...“, traten mehrere Mitglieder der Fakultät für Politische Wissenschaften zurück: AydÕn YalçÕn, Muammer Aksoy, Münci Kapani, ùerif Mardin und Coúkun KÕrca.60 Aksoy erneuerte seine schon mehrfach in Forum geäußerte Kritik an Gesetz Nr. 6435. Es stelle ein großes Hindernis für die weitere Entwicklung der Wissenschaft in der Türkei dar, ja sogar für „unsere Zugehörigkeit zum Westen“. Wenn die Türkei, so Aksoy, die westliche Zivilisation übernehme, sei es nicht damit getan, den Fes ab- und den Hut aufzusetzen. Vielmehr gehe es darum, die Mentalität zu ändern. Er verglich die Meinungsfreiheit der Wissenschaftler im Westen mit derjenigen in der –––––––––––––––– 57 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 113–116. 58 Schreiben des Erziehungsministers Ahmet Özel an das Rektorat der Universität Ankara, Antwort des Senats und Entlassungsschreiben finden sich in S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 24–26. Der Begriff „vekaletin emrine almak“ bedeutet, daß Beamte ihrer Funktionen entbunden werden können, ohne endgültig aus dem Amt auszuscheiden, also eine zeitweilige Amtsenthebung. 59 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 60. 60 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 59–67. Feyzio÷lu wurde Abgeordneter der CHP, verließ aber 1967 die Partei und gründete die Republikanische Vertrauenspartei (Cumhuriyetçi Güven Partisi). Mardin ging in die USA und kehrte erst nach dem Fall der Regierung Menderes zurück, WEIKER: Ernst: 1967, S. 51. YalçÕn wurde nach der Militärintervention von 1960 Mitglied und Abgeordneter der Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi), die weitgehend eine Fortsetzung der nunmehr verbotenen DP war.

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Türkei und forderte zu ihrer Erkämpfung bzw. Verteidigung auf: „Freiheiten bekommt man nicht umsonst“.61 Ein anderer Kommentator, der Rechtsprofessor RagÕp SarÕca, stellte dem Verhalten der Regierung im Fall Feyzio÷lu die Gelassenheit der französischen und britischen Regierungen gegenüber, die keinen einzigen Professor entlassen hätten, der an der Intervention beider Staaten in der Suez-Krise (Oktober 1956) Kritik geübt hatte. In europäischen Staaten gebe es eben einen Konsens, der Kritik an der Regierung und (Hervorhebung MS) Loyalität zum Staat ermögliche.62 Am Tag nach seiner Entlassung sollte Feyzio÷lu aus Anlaß der 97. Wiederkehr der Gründung der Fakultät für Politische Wissenschaften (Siyasal Bilgiler Fakültesi, bis 1935 Mülkiye) die Festansprache halten. Sie wurde verboten, weil Studenten Anstalten machten, die Feier in eine Protestveranstaltung gegen die Suspendierung Feyzio÷lus umzufunktionieren. Der von Studenten erwogene Unterrichtsboykott wurde vom neuen Dekan, der an die Stelle Feyzio÷lus getreten war, verhindert; anstehende Prüfungen wurden auf einen unbestimmten Termin verschoben. Ein Studentensprecher stellte fest, daß es im Grunde gar nicht um die Fakultät oder die Universität ginge, vielmehr seien die Vorgänge ein „landesweites Problem“.63 Allerdings sollte es noch mehr als drei Jahre dauern, bis sich die Kontroversen um die Grenzen akademischer Freiheit zu einer Konfrontation zwischen Universitäten und Regierung auswuchsen und in Verbindung mit anderen innenpolitischen Konfliktfeldern in der Tat eine nationale Dimension annahmen. Die Solidaritätsbezeugungen von einigen Kollegen und Studenten sowie Zustimmung aus Teilen der Presse konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Unterstützung der Universitäten für Feyzio÷lu begrenzt war.64 Etliche Universitätsmitglieder äußerten Unverständnis über die Ausführungen Feyzio÷lus, die zu seiner Entlassung führten. Für Naturwissenschaftler und Mediziner bestand in der Tat weniger Gefahr, mit Gesetz Nr. 6435 in Konflikt zu kommen als für Sozialwissenschaftler und Juristen, deren Fächer für ‚politische Stellungnahmen‘ anfälliger waren. Die Unterstützungsversuche der Oppositionsparteien CHP und

–––––––––––––––– 61 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 28f. 62 In der Zeitung Dünya vom 5.12.1956, abgedruckt in S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 39. 63 S.B.F. Hadisesi ve ølim Hürriyeti, S. 29ff. AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 157: 1.12.1956. 64 Ein Aufruf in Forum an Professoren, ihre Ämter niederzulegen, wurde nur von einigen wenigen Forum-Kontributoren befolgt, WEIKER, WALTER: 1967, S. 51.

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Hürriyet Partisi für Feyzio÷lu blieben wirkungslos, weil die DP im Parlament eine überwältigende Mehrheit besaß.65

Der Fall KubalÕ Ende 1957 wurde ein weiteres Universitätsmitglied, der Jurist Hüseyin Nail KubalÕ, ein Opfer des Gesetzes. Er hatte eine Änderung der parlamentarischen Geschäftsordnung beanstandet, die auf eine Behinderung von Opposition und Presse hinauslief und die Exekutive auf Kosten der Opposition stärken würde.66 Nachdem Erziehungsminister Tevfik øleri KubalÕ wegen seiner Äußerung öffentlich gerügt hatte, setzte er sich über das Votum des Universitätssenats hinweg, der eine Pflichtverletzung nicht erkennen konnte, und enthob im Februar 1958 den Professor seines Amtes. Im April stellte die Opposition eine parlamentarische Anfrage an die Regierung. Minister YardÕmcÕ – øleri war inzwischen aus dem Amt ausgeschieden – rechfertigte die Entlassung mit dem Hinweis auf allgemeine Erwägungen zur Verpflichtung von Professoren, Wissenschaft nicht mit Politik zu verquicken. Er erklärte, daß der Minister bei seiner Entscheidung nicht an das Votum des Senats gebunden sei. Als ‚nachgeschobenes Argument‘ versuchte er, KubalÕs wissenschaftliche Produktivität in Zweifel zu ziehen.67 Am 9.4.1958 konnte KubalÕ seine Tätigkeit wieder aufnehmen. In einem Interview betonte er, daß er sich auch künftig zu Wort melden werde, ohne Angst vor erneuter Einschüchterung zu haben. Dies verband er mit der Prognose, daß die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Türkei weiter zunehmen würden. Daraufhin sprach die Universität ein vierwöchiges Vorlesungsverbot für KubalÕ aus mit der Begründung, daß seine Erklärung nicht mit der Würde eines Hochschullehrers vereinbar sei (Universitätengesetz Artikel 46 i.V. mit Gesetz Nr. 6185).68 Der Beschluß der Universität kam der Regierung wie gerufen, konnte sie ihn doch als Beweis für die Richtigkeit ihrer früheren Entlassung KubalÕs anführen.69 –––––––––––––––– 65 øNÖNÜ, øsmet: Üniversite muhtariyeti, in: Ulus 3.12.1956, abgedruckt in: ERDEMøR, Sabahat: 1959, Bd. 2, S. 19f.; sowie seine Rede vor einem lokalen Parteikongreß in Ankara am 18.12.1956 in: ERDEMøR, Sabahat: 1959, Bd. 2, bes. S. 23f. 66 AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 174: 27.12.1957, 1.1.1958; TUNAYA, TarÕk Zafer: 1969, S. 172–174; DODD, Clement H.: 1958, S. 29. 67 TBMM Tutanak Dergisi Devre IX, øçtima 1, 3 (1958), S. 169ff, bes. S. 183. ønönü nahm KubalÕ in Schutz: ERDEMøR, Sabahat: 1959, Band 2, S. 189f. 68 AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 177: 9.–12.4.1958; TUNAYA, TarÕk Zafer: 1969, S. 179. 69 DODD, Clement H.: 1958, S. 30.

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Politisches Engagement und akademische Freiheit Was hatte es mit dem Vorwurf der „Tages- und Parteipolitik“ auf sich? Wie konnte sie von einer Beschäftigung mit Politik im allgemeineren Sinne abgegrenzt werden? In der DP setzten sich die Kräfte durch, die jegliche Beschäftigung von Wissenschaftlern mit Politik für unerwünscht hielten. Dabei nahm die Regierung in Kauf – wenn es nicht gar ihr Kalkül war – daß es eine Grauzone gab zwischen Stellungnahmen von Wissenschaftlern, die sich aufgrund ihrer Sachkompetenz herausgefordert fühlten, beispielsweise Gesetzesvorhaben oder wirtschaftspolitische Maßnahmen zu kommentieren, und Propaganda im Dienste einer Partei. Aus einer Durchsicht von Forum geht hervor, daß die Artikel von Feyzio÷lu und anderen sich zwar mit aktuellen politischen Problemen befaßten, aber keine Identifikation mit einer Partei in sich bargen. Die Beiträge lassen sich am ehesten mit ‚liberal‘ und ‚antikommunistisch‘ charakterisieren. Eine solche Perspektive war aber auch Teilen der Opposition (wobei alle im Parlament vertretenen Parteien Gegner des Kommunismus waren), insbesondere der Freiheitspartei, zu eigen. Daher war es in der Tat nicht immer einfach, eine wissenschaftliche Stellungnahme von einer politischen Meinungsäußerung deutlich zu trennen.70 In jedem Fall war das Ziel all dieser Interventionen klar: Kritische Wissenschaftler, die sich in Gegensatz zu Regierungspositionen begeben hatten, sollten verunsichert, wenn nicht mundtot gemacht werden. Sie, von denen immer wieder ein Interesse an den Problemen des Landes gefordert worden war, sollten einer Objektivität huldigen, die von der Regierung definiert wurde. Der ehemalige CHP-Erziehungsminister Hasan-Âli Yücel sah noch während der DP-Herrschaft das Verhältnis von Politik und Wissenschaft unter ganz anderen Vorzeichen: In modernen Gesellschaften gibt es kein Individuum und keine Institution, die keine politische Identität hätten ... Wissenschaftler und ihre Institutionen machen Politik, ohne Politik zu machen. Dieser Satz ist kein Paradoxon, sondern eine Realität. Die Objektivität der Wissenschaft und die Neutralität der Wissenschaftler garantieren, daß diese Realität sichtbar ist.71

–––––––––––––––– 70 Ebd.: 1958, S. 30f. 71 YÜCEL, Hasan-Âli: Hürriyet gene Hürriyet. Band 2. Ankara 1966, S. 118. Zu Person und Wirken Yücels s. ÇIKAR, Mustafa: Hasan-Âli Yücel und die türkische Kulturreform. Bonn 1994.

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Menderes und die Professoren Die Versuche, mißliebige Wissenschaftler zu maßregeln und aus ihren Ämtern zu entfernen, und die Angriffe auf die akademische Freiheit, waren fehlgeschlagen.72 Wie viele ihrer Kollegen sich einschüchtern ließen oder Selbstzensur übten, ist nicht bekannt. Die Tatsache, daß in den letzten beiden Jahren der DP-Herrschaft weitere spektakuläre Konflikte zwischen Universitäten und Regierung ausblieben, ließe sich etwas spekulativ auf den Erfolg der Einschüchterungsstrategie zurückführen. Erst als im April 1960 im Parlament ein nur mit DP-Abgeordneten besetzter Ausschuß zur Untersuchung der Oppositionsaktivitäten73 eingerichtet wurde, für drei Monate alle politische Betätigung außerhalb des Parlaments verboten und Presseberichterstattung von Parlamentsdebatten untersagt wurden, meldeten sich die Universitäten erneut zu Wort. Rechtsprofessoren, die den Ausschuß als verfassungswidrig brandmarkten, wurden wiederum wegen Einmischung in politische Angelegenheiten gemäß der umstrittenen Gesetze belangt.74 Studentenproteste folgten, die Universitäten in Istanbul und Ankara wurden geschlossen. Menderes bezeichnete die Professoren gern als kara cüppeliler, „die im schwarzen Talar“. Das war eine Anspielung auf das charakteristische Kleidungsstück der muslimischen Geistlichen, der ‘ulemƗ’. Wollte er eine Affinität der Hochschullehrerschaft zu der konservativen Kaste der ҵilmiye suggerieren, die – so die Meinung vieler – jahrhundertelang jeden Fortschritt blockiert hatte, zumal um ihre eigene Machtstellung zu bewahren? Und waren nicht in den Augen der DP viele Beamte, Wissenschaftler und Militärs – also jene Gruppen, die am wenigsten von den wirtschaftlichen Erfolgen der Regierung Menderes profitierten – gegen die Modernisierung des Landes eingestellt? In einer Rede am 18.5.1960 anläßlich der Einweihung eines Kraftwerks – damals Symbol des Fortschritts – warf Menderes den Professoren vor, zu den Zuständen der Einparteienherrschaft, als es an den Universitäten noch keine Autonomie gab, geschwiegen zu haben. Heute aber gerieten sie beim Ruf „Freiheit, Freiheit“ wie Derwische in Verzückung und würfen der Regierung mit „pseudowissenschaftlichem Fanatismus“ Verfassungsbruch vor. Er fuhr fort: Ja, Universitätsautonomie, Autonomie der Wissenschaft, Freiheit der Wissenschaft. Gut und schön, aber ist die wahre, unverfälschte Wissenschaft hinter eine Art Chinesische Mauer verbannt? Und ist sie das Monopol und Privileg der Uni-

–––––––––––––––– 72 Siehe Anmerkung 35. 73 Dem Ausschuß wurden sogar Gerichtsbefugnisse zuerkannt. 74 JÄSCHKE, Gotthard: 1965, S. 104; AHMAD, Feroz & TURGAY, Bedia: 1976, S. 208f.: 18.– 30.4.1960; ZÜRCHER, Erik J.: 1998, S. 251.

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versität? Verstehen nur die Universitäten etwas von der Verfassung und den Gesetzen? Laßt uns den Universitäten zur Kenntnis bringen: Das sind triviale Dinge. Sie sind Allgemeingut geworden. Die Tausende von Leuten, die den Staat regieren, sind alles Universitätsabsolventen. Sie haben einiges gelernt, was den Professoren versagt blieb, und haben die Nöte des Landes kennengelernt.75

Universitäten waren für Menderes aus Steuermitteln finanzierte Freiräume für die Ambitionen von Professoren, die zudem Oppositionspolitik betrieben. Wenn das Volk nicht unter großen Opfern für die Befreiung der Türkei gekämpft hätte, „verharrten diese Herren [die Professoren, MS] heute noch gegenüber der absolutistischen Herrschaft in tiefer Verbeugung“. Professoren hätten die Freiheit an den Universitäten für sich reserviert und führten sich dort als Tyrannen auf.76 Diese Angriffe von Menderes auf die Professoren sorgten für Empörung und lösten studentische Demonstrationen aus, was zu einer weiteren Zuspitzung der innenpolitischen Lage führte.

Die Rolle der Hochschulen in der Militärintervention von 1960 Die Intervention der Streitkräfte am 27.5.1960 verlief unblutig. Ein „Komitee der nationalen Einheit“ (Milli Birlik Komitesi, MBK) unter Führung General Gürsels übernahm die Macht. Eine Kommission von sieben Professoren (ausschließlich Juristen) der Universität Istanbul unter dem Vorsitz von Rektor SÕddÕk Sami Onar wurde mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt.77 Die Universitäten und ihre Mitglieder, die in den vergangenen Jahren marginalisiert worden waren, rückten so fast über Nacht in den Mittelpunkt des Geschehens, wurden zu gefragten Experten im Hinblick auf den Entwurf einer neuen Verfassung, der –––––––––––––––– 75 ERDEMøR, Sabahat (ed.): Milli Birli÷e Do÷ru. Band 1 (alles Erschienene). Ankara 1961, S. 133–137. 76 Ebd. 77 Gürsel begrüßte die Kommission bei ihrer ersten Beratung mit den Worten: „Wir vertrauen der Universität. Wir vertrauen ihr nicht nur, wir glauben an sie. Der Grund dafür, daß wir Sie gerufen haben, ist folgender: Sie müssen uns sofort eine neue Verfassung schreiben“, øPEKÇø, Abdi & COùAR, Ömer Sami: øhtilalin içyüzü. Band 1 (alles Erschienene?). østanbul 1955, S. 255. Die Bedeutung, die der Hinzuziehung der Wissenschaftler beigemessen wurde, erhellt aus einem damals populären Scherz. Danach müßten die ersten Artikel der neuen Verfassung lauten: „Der türkische Staat ist eine Republik. Staatssprache ist Türkisch. Hauptstadt ist die Universität Istanbul“, LEWIS, Geoffrey: Modern Turkey. 4. Aufl. London 1974, S. 157.

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Legitimierung sowohl der Militärintervention als auch eines neuen politischen Systems.78 Gerade jene Professoren, die sich für die akademische Freiheit und für die von der DP-Regierung disziplinarisch verfolgten Kollegen eingesetzt hatten, wurden zu den Vätern der neuen Verfassung.79 Das Vertrauen, das die Militärs in die Professoren setzten, sollte aber schon bald nicht mehr gelten. Im Oktober 1960 wurden 147 Hochschullehrer ohne Angaben von Gründen kraft eines Gesetzes entlassen.80 So begann die neue Ära der versprochenen Demokratisierung und Unabhängigkeit für die Universitäten mit einer Säuberungsaktion, welche die Interventionen in die Hochschulen während der Herrschaft der DP weit in den Schatten stellte.

Schluß Hier endet unser Gang durch ein Jahrzehnt der Angriffe auf die akademische Freiheit, politisch motivierter Interventionen in die Universitäten und der Auseinandersetzungen zwischen einer eher kleinen Gruppe von Professoren, die sich um die Zeitschrift Forum gruppierten, und der Regierung. Es waren weniger die Universitäten generell, die im Konflikt standen mit der Regierung, sondern einzelne Hochschullehrer, insbesondere Juristen und Ökonomen, die durch ihr wissenschaftliches und publizistisches Engagement Anstoß in Regierungskreisen erregten. Erst gegen Ende der DP-Herrschaft erfaßte der Konflikt weite Teile der Universitäten. Versuche der Regierung, diese Professoren aus ihren Ämtern zu entfernen, waren nicht von langer Dauer, wurden sie doch über kurz oder lang wieder eingestellt. Dies zeigt, daß das Menderes-Regime mit seinen Einschüchterungsversuchen an die Grenzen politischer Repressionsmöglich–––––––––––––––– 78 In dem Schauprozeß in YassÕada wurden Menderes und andere hauptsächlich wegen Verfassungsbruch zum Tode verurteilt, doch bildeten auch die „ungerechtfertigten“ Entlassungen von Esen, Feyzio÷lu und KubalÕ sowie Menderes’ Drohung, den Universitäten „Fesseln“ anzulegen, Bestandteile der Verurteilung. 79 Sogar einer der Professoren, die von der Regierung zeitweilig suspendiert worden waren, nämlich KubalÕ, war Mitglied der Kommission. 80 Gesetz Nr. 114 vom 27.10.1960: „Betreffend die Entlassung bzw. Versetzung von Universitätsmitgliedern an andere Fakultäten und Hochschulen“, in: Sicilli Kavanin 41 (1960), S. 415–419. Zugleich mit diesem Gesetz wurden neue Bestimmungen erlassen, die das Universitätengesetz von 1946 in wesentlichen Punkten revidierten und auf eine größere Autonomie hinausliefen (Gesetz Nr. 115), in: Sicilli Kavanin 41 (1960), S. 419–434.

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keiten gestoßen war. Ein Sieg für die akademische Freiheit war dies aber nicht.

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Die Provinz hat keine Namen* Tevfik Turan (Hamburg)

Fragen Sie nicht nach uns – wir können nicht mehr in diesem Städtchen sein. Mein Fahrrad und ich haben tagelang nachgedacht und entschieden, daß wir uns nicht an so einem Ort bei lebendigem Leibe wollen begraben lassen. (Cemil KAVUKÇU, „Dönüú“)

Als die Türkische Bibliothek1 Ende 2003 beschloß, zwei Anthologien mit Kurzgeschichten in ihr Programm aufzunehmen, stellte sich die Überlegung, daß diese zwei Bände sich von den bisher erschienenen Sammlungen in einem wesentlichen Punkt unterscheiden sollten: Während die bisherigen Herausgeber bemüht waren, einen repräsentativen Querschnitt von den Anfängen der modernen türkischen Erzählliteratur nach den europäischen Vorbildern bis in die Gegenwart zu liefern, wollten nun die Herausgeber und der Verlag einen Perspektivwechsel versuchen und setzten jeweils einen thematischen Schwerpunkt.2 Der erste Band sollte den Leser auf einer „literarischen Rundreise durch die Türkei“ begleiten und ihm die geographische und ethnische Vielfalt des Landes literarisch erlebbar machen.3 Dieser Band sollte nicht nur taúra, das geographische Außen der –––––––––––––––– *

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Überarbeitete Fassung eines Textes, der ursprünglich als Nachwort für den vom Autor herausgegebenen Erzählband Von Edirne nach Hakkâri (s. Anm. 3) gedacht war. Die Türkische Bibliothek ist eine Initiative des Unionsverlags, Zürich, und der Robert-Bosch-Stiftung, Stuttgart. Die auf 20 Bände konzipierte Reihe wird von Erika GLASSEN und Jens-Peter LAUT, beide Freiburg im Breisgau, herausgegeben. Eine Ausnahme dieses zeitlichen Ordnungsprinzips bildet der thematisch der Frau gewidmete Band (s.u.). Folgende Sammlungen türkischer Kurzgeschichten sind bisher in deutscher Sprache herausgegeben worden: OERLEY, W. A. & BRANDS, Horst Wilfried: Die Pforte des Glücks. Stuttgart 1969; SALZNER, Hans?: Sechs Nachtwächter auf einem Karussell. Berlin, Weimar 1969; FÜRUZAN: Erkundungen. Berlin 1982; EGGHARDT, Hanne & GÜNEY, Ümit: Frauen in der Türkei. München 1988; WÖRLE, Andrea: Türkische Erzählungen. München 1989; FREUND, Jutta: Die Türkei erzählt. Frankfurt/Main 1990; KAPPERT, Petra & TURAN, Tevfik: Türkische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1992. TURAN, Tevfik (Hg.): Von Istanbul nach Hakkâri. Eine Lesereise in Geschichten. Zürich 2005.

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türkischen Literatur thematisieren, sondern dem Leser auch ein Gefühl von der ethnischen Vielfalt des Landes vermitteln, ohne sich auf einen bestimmten Zeitabschnitt festzulegen. Ein weiterer Erzählband hatte sich auf die letzten Jahrzehnte zu konzentrieren und vor allem die neuen Tendenzen aufzuzeigen.4 „Eine Lesereise“ hört sich leichter an, als sie ist. Der wirklich Reisende könnte die Türkei am Flughafen von Antalya oder Dalaman, als Automobilist in KapÕkule oder Cilvegözü oder mit dem Boot kommend in Trabzon oder Bodrum betreten und nach Lust und Laune kreuz und quer durch ihre sieben geographischen Regionen bzw. hundert Verwaltungsbezirke fahren. Eine literarische Rundreise hingegen beginnt immer in Istanbul, vor allem ist es mit dem Vehikel Kurzgeschichte so, und kommt kaum vom Fleck. Das ist nicht verwunderlich, bildet doch diese Stadt die kulturelle Hauptstadt eines stark zentralistisch ausgerichteten Landes. Sie wurde dazu gleich nach der Eroberung durch die Türken, und sie blieb es auch nach der Verlegung der administrativen Hauptstadt nach Ankara. Mehr noch: In Istanbul leben inzwischen fast 18 % der Gesamtbevölkerung der Türkei,5 und wenn man den Kulturmarkt betrachtet, tendiert dieser Anteil sogar gegen die absolute Dominanz: die Mehrheit der Leser und Autoren, Verlage und Buchhandlungen, Zeitschriften und Zeitungen, Radio- und Fernsehanstalten, Schulen aller Art und Forschungsinstitute sind in Istanbul.6 Wenn hauptsächlich dort geschrieben, gedruckt und gelesen wird, werden die meisten Geschichten wohl von den Menschen dieser Stadt handeln. Damit ist nicht gemeint, daß das große kulturelle Übergewicht dieser Metropole die Peripherie nicht zu Wort kommen ließe, und daß wir keine Kurzgeschichten über die weitläufige ländliche Türkei zu lesen bekämen. Es gibt schon eine Fülle von Geschichten, die Orte in der Provinz zum Schauplatz haben. Das Problem ist ein anderes. Wenn wir eine Geschichte aus Istanbul lesen, wissen wir meistens, wo sie sich abspielt: Sait FAøK nennt nicht nur seine Insel beim Namen, sondern auch den Teegarten am Taksim-Platz, in dem sein Erzähler gerade sitzt und vom Genuß eines Glas –––––––––––––––– 4 5

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SAGASTER, Börte (Hg.): Liebe, Lügen und Gespenster. Erzählungen. Zürich 2006. Die Bevölkerungszahl der Metropolregion (Büyükúehir Belediyesi) beträgt 12.573.836. (Quelle: TÜRKøYE øSTATøSTøK KURUMU, Adrese DayalÕ Genel Nüfus KayÕt Sistemi, 31.12.2007). In keiner dieser genannten Sparten ist Istanbul unterrepräsentiert im Vergleich zu den anderen Provinzen. In einigen ist es hingegen deutlich überrepräsentiert: 56% der Opern- und Ballettbesucher, 42% der Kinobesucher, 35% der Theaterbesucher, 21% der Museumsbesucher, 29% der Druckereien, 18% der Theater, 15% der Schulen (Quelle: TÜRKøYE øSTATøSTøK KURUMU, unter: www.tuik.gov.tr/, Stand Juni 2006).

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Tees nebst einem Sesamkringel schwärmt.7 Es gibt viele, viele Geschichten von dieser Stadt, in denen sie nicht nur als Bühne vorkommt, sondern mit ihren Menschen und Sitten, mit einer ihr eigenen Problematik als Bestandteil der Erzählung gleichsam auftritt, so daß wir jedes Mal sagen können: „Ja! Diese Geschichte kann sich so nur in Istanbul abgespielt haben – nicht in irgendeiner Großstadt.“ Verlassen wir aber Istanbul, landen wir im Niemandsland. Selten werden hier Städte, Dörfer, Flüsse … beim Namen genannt, die Beschreibung der Orte ist selten individuell, und wir können oft nur mit Glück über die Biographie des Autors schließen, um welche es sich bei der erzählten Gegend handeln könnte. Während die Anonymität der Großstadt die Autoren dazu einzuladen scheint, Namen zu nennen, will die Heimat paradoxerweise anonym bleiben. Beim Roman mögen sie sich anders verhalten – bei der Kurzgeschichte zeigen türkische Autoren eine deutliche Scheu vor der Wiedererkennbarkeit des Stücks Provinz, über das sie schreiben. Diese Zurückhaltung gegenüber der lokalen Spezifik ist bei so vielen Autoren die gemeinsame Tendenz, daß man deren Gründen nachgehen muß. Also lauten die Fragen: Was leistet die Lokalität in der Literatur, insbesondere in der Kurzgeschichte? Und: Wie kommt es in der türkischen Kurzgeschichte zu dem eingangs erwähnten Ungleichgewicht bei der Behandlung der Orte? Der folgende Text beabsichtigt, einige erste Überlegungen zu diesen Fragen zu liefern, Einsichten, die als Herausgeber bei der Suche nach den Geschichten und ihrer Auswahl gewonnen wurden. Die Frage nach der Lokalität darf nicht als eine Suche nach einer „Heimatkunst“ innerhalb der türkischen Literatur, schon gar nicht als eine Forderung danach, mißverstanden werden. Bekanntlich entstand diese Bewegung um 1900 als Reaktion auf die seit dem Beginn der Moderne empfundenen „Gefahr einer Vergroßstädterung, Internationalisierung, Intellektualisierung und Verkünstelung der Dichtung in der Dekadenz“8 und führte eine Betonung des Bodenständigen, der Provinz, des Bäuerlichen herbei, um sich dann nahtlos an die „Blut- und Bodenliteratur“ des Dritten Reiches anzuschließen. Obwohl die auch um die Jahrhundertwende einsetzende Millî Edebiyat ähnliche Züge hat (einschließlich des nationalchauvinistischen Engagements), ist der Unterschied so deutlich, daß man kaum von einer parallelen Entwicklung sprechen kann: Während die Heimatdichtung eine Strömung ist, die an allen aktuellen Stilrichtungen der Zeit vorbei ihr konservatives Publikum mit Lesestoff versorgt, erhebt die Nationale Dichtung gerade den Anspruch, die Avantgarde in der türkischen Kulturszene darzustellen. Sie –––––––––––––––– 7 8

FAøK, Sait: Simitle Çay, in: Havuz BaúÕ/Son Kuúlar. Ankara 1970, S. 121–122. WILPERT, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1964, S. 262.

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will damit nicht nur den erst ein halbes Jahrhundert alten Bruch mit der Divan EdebiyatÕ im Zeichen der europäisch orientierten Modernisierung fortsetzen, sondern formuliert auch ein neues Ideal, will sich in den Dienst des neu beginnenden türkischen nation building stellen. Der Anspruch auf das genuin Türkische über die Reichsgrenzen hinaus bis nach Ergenekon konnte freilich keine Aufwertung des Lokalen mit sich bringen. Es gibt aber noch einen, in diesem Zusammenhang wichtigen Unterschied zwischen der Heimatkunst und Millî Edebiyat, der überhaupt erhellend für die Provinzscheue in der türkischen Literatur ist: Während die erstere Schriftsteller hat, die aus der Provinz kommend in der Provinz und für die Provinz schreiben, fehlt der letzteren die Herkunft vom und das Interesse am Ländlichen. Von gelegentlichen Abstechern in die Provinz abgesehen, ist und bleibt ihr Milieu Istanbul – bis zum Boom einer Provinzliteratur, die durch die vieldiskutierten Aufzeichnungen des Dorfschullehrers Mahmut Makal unter dem Titel Bizim Köy eingeleitet wird. Bei unserer Suche nach einzelnen Orten in der Literatur, die wiedererkennbar und beim Namen genannt sind, stoßen wir auf einen zweiten Begriff, das Lokalkolorit. Es mutet an, als sei es die heute einzig noch brauchbare Quintessenz der Heimatdichtung und wird mit entsprechender Vorsicht verwendet. Man sagt, vor allem in der Literaturkritik, ein Werk habe „viel“, „echtes“, „massives“, oder auch „oberflächliches“ Lokalkolorit, wobei sich die Grenzen der gemeinten Lokalität einmal auf ein einzelnes Dorf und einmal ein ganzes Land beziehen können. Dies ist ein Begriff, der meist nur beiläufig erwähnt wird als eine von mehreren Qualitäten eines insgesamt für gut befundenen Werkes. Lokalkolorit wird definiert als „künstlerische Darstellung von Natur, Wesensart, Sozialgefüge, Sitten, Trachten, Kulturstand und Dialekt verschiedener Völker, Landschaften und Zeitepochen” mit dem Ziel, „einem Werk durch die Schilderung des natürlichen und gesellschaftlichen Umfelds größere Lebensnähe zu verleihen.“9 Es ist auch dann im Spiel, wenn die Sekundärliteratur so etwas wie die atmosphärische Wahrnehmung eines Ortes in einem Werk erwähnt, oder davon spricht, ein Werk lasse einen Ort vor unserem geistigen Auge erstehen. Daß das Lokalkolorit an sich kein Wertmaßstab darstellen kann, geht schon aus obiger Definition hervor: es bezieht sich auf das Was und nicht Wie der Darstellung, während die künstlerische Qualität gerade die Umformung der Materie betrifft. Es ist auch nicht möglich, pauschal zu bestimmen, ob der Ortsbezug ein oberflächliches, beliebiges oder gar überflüssig angesehenes Element ist, oder ob er zur Tiefenstruktur eines Textes –––––––––––––––– 9

DERS.: 1964, S.654.

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gehört. Vielmehr muß für jeden Text individuell erkundet werden, was die Behandlung eines Ortes künstlerisch leistet. Generell kann dennoch behauptet werden: Darin, daß eine Geschichte konkrete Orte nennt und beschreibt, drückt sich vor allem ein Bekenntnis des Autors zum Ort aus. Er nimmt dieses beim Namen genannte Stück Realität in den Fokus, und dies kommt in jedem Fall, gleichgültig, wie günstig seine Auseinandersetzung für den Ort ausfällt, einer Aufwertung gleich – sogar auch dann, wenn die zeitgenössischen Bewohner sich als angegriffen, ihr Nest als beschmutzt empfinden. Mehr noch: es ist kaum vorstellbar, einen Ort unbenannt zu lassen und dennoch empathisch oder gar liebevoll von ihm und seinen Menschen zu erzählen. Nicht nur Nähe baut ein Autor auf, der einen realen Schauplatz für seine Geschichte nimmt, sondern er stellt sich auch einem doppelten Anspruch: seine Fiktion um diesen Ort wird nicht nur auf eine interne Stimmigkeit hin geprüft werden, sondern auch als literarische Umformung des Realen. Doch, wer viel Realität in seine Literatur einbezieht, macht sich zusätzlich auf einer außerliterarischen Ebene angreifbar, weil es immer reichlich Leser gibt, die die Fiktionalitätskonvention der Literatur nicht teilen. Könnte es deshalb sein, daß die namentlich genannten Schauplätze der im ganzen anonymen Großstadt für den Autor unverfänglicher sind als das ausgewiesene Provinznestchen, aus dem er womöglich noch stammt? Wohl kaum, denn dieselbe Zurückhaltung müßte dann auch für die Romanproduktion gelten, doch wir haben dort eher starke regionale Bezüge durch die Nennung von Ortsnamen, Einbeziehung der spezifischen Bräuche wie der sozialen Problematik und Verwendung regionaler Sprachelemente. Plausibler wäre es, den Hauptgrund in der Beschaffenheit der Kurzgeschichte, vor allem, an der der Rezeption zugekehrten Seite dieser Gattung zu suchen. Die wortreich arbeitende Gattung Roman kann die Atmosphäre seiner Schauplätze allmählich, von Kapitel zu Kapitel selbst schaffen und dem Leser so auch die entfernteste Ecke eines bisher unbekannten Landstrichs erlebbar machen. Doch bietet der Text einer Kurzgeschichte viel weniger Raum, die Atmosphäre einer fremden Umgebung fühlbar werden zu lassen, zumal er auf einen single impact bedacht ist und nicht in Beschreibungen von Land- und Ortschaften, von Sitten und Zeremonien abschweifen, nicht auf die ortsbezogene Problematik und dessen Hintergründe ausführlich eingehen kann. Der Standortvorteil Istanbuls als Geschichtenschauplatz hingegen liegt auf der Hand: seine Bezirke, Plätze und Straßennamen sind gut bekannt, die literarische Tradition, aber auch die populäre Kultur und der Film stellen für vielerlei Zwecke ein fertiges Ambiente zur Verfügung, dessen sich der Autor bedienen kann. Schon die Erwähnung eines Straßennamens er-

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weckt in den Köpfen der türkischen Leserschaft eine Atmosphäre zum Leben, mobilisiert Vorwissen und ruft in den meisten Fällen persönliche Erinnerungen wach. Hinzu kommt noch, daß Istanbul eine nicht zu überbietende Vielfalt an menschlichen Gestalten bietet, die sich mit verschiedensten ethnischen und sozialen Hintergründen, Lebensläufen, Tätigkeiten, Vorlieben und Verwicklungen in einem städtisch-liberalen Umfeld bewegen, und damit ganz andere Möglichkeiten zum Fabulieren schaffen. Wenn Necati TOSUNER in seiner Kurzgeschichte „Mary“ zwei alleinstehende Menschen im Rentenalter sich in einem nachmittäglichen Teegarten begegnen und so den Beginn oder das Ende einer Liebesgeschichte anklingen läßt, ist es vor allem der städtisch-liberale Hintergrund, der diese Handlung möglich macht.10 Die Provinz dagegen ist mit ihrer immer dünner werdenden Besiedelung, ihrer Geschlechtertrennung und ihren clandestinen Bräuchen viel weniger fruchtbar für menschliche Begegnungen. Während die Provinz für das Festgefahrene, Althergebrachte, Enge steht, ist Istanbul der Inbegriff des Unerwarteten, Neuen, der weiten Welt. Dieser Vorteil der Großstadt, ungeahnte Konstellationen unter Menschen zuzulassen, gilt zwar auch für den Roman, doch er wirkt sich – ebenfalls aus Gründen der Konzentration – ganz besonders für die Kurzgeschichte günstig aus: in der Großstadt ist jede Begegnung jederzeit möglich, und nichts muß eigens vorbereitet, begründet oder erklärt werden. Diese Affinität der Kurzgeschichte zum modernen Leben mit seiner Mobilität wird vom Literaturwissenschaftler Semih GÜMÜù bezeichnenderweise als Affinität zu kent aufgefaßt, worunter er eher die Großstadt als die Stadt allgemein zu verstehen scheint: auch die Kurzgeschichten über die Provinz würden mit den Augen des Großstädters geschrieben, denn die bäuerliche bzw. kleinstädtische Sicht erblicke im Menschen nur den Träger eines ihm von außen herangetragenen Sinnes, während die Kurzgeschichte erst die in ihm versteckten Details herausarbeite.11 Die Provinz, in der Menschen zu Schemen verkommen, wird in der Kurzgeschichte selbst auf eine schemenhafte taúra reduziert, während die Großstadt, in der die Figuren ihre Individualität entfalten können, eine viel differenziertere Behandlung genießt. Wenn die Modernität und das „Istanbulertum“ ineinsfallen, wird die Provinz zum Außen der Gattung Kurzgeschichte: Die vielen taúraGeschichten mit ihren namenlosen Dörfern und Städtchen handeln alle von einem einzigen großen Thema, der Distanz. Die ablehnende Haltung der taúra gegenüber ist ein Zug, den Autoren aus Istanbul und aus der Provinz –––––––––––––––– 10 TOSUNER, Necati: Mary, in: Adam Öykü (1999) 22, S. 39–43. 11 GÜMÜù, Semih: Öykünün Bahçesi. østanbul 1999, S. 9–10.

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zum einen, gute wie schlechte Geschichten zum anderen teilen. Während die einzelnen Texte sich mit der provinziellen Welt auseinandersetzen, entsteht gerade durch das Verschweigen der Ortsnamen eine Distanz, die um so umfassender und grundsätzlicher wirkt, je mehr Autoren sich an diesem Boykott beteiligen. Sollte das Zukurzkommen der Provinz nicht ein Ende gefunden haben durch die Aufwertung des Bäuerlichen in der jungen Republik und insbesondere durch deren Bildungsoffensive mit den Institutionen wie köy enstitüleri und halkevleri? Doch wir können hier kaum von einem Neubeginn sprechen: Die Dorfliteraten der jungen Republik waren nicht die Entdecker der Provinz, sondern sie setzen eher eine Tradition fort, die fast so alt ist wie die europäisch geprägte türkische Literatur, und ihr Augenmerk unter anderem auch auf die Rückständigkeit und die soziale Ungerechtigkeit im verarmten Reich der Osmanen richtet. Hier geht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Verwandlung des staatlichen Bodenbesitzes in Privatbesitz vor, und es entsteht eine neue ländliche Elite, die zu immer mehr Land, Geld und politischen Einfluß strebt. Schon 1890, mit der Erscheinung der Erzählung „Kara Bibik“ von NazÕm NABøZADE12 findet nicht nur die Provinz, sondern auch die Figur des gierigen, hinterhältig bis grausamen Großgrundbesitzers Eingang in die noch junge türkische Erzählliteratur. Die Verhältnisse um den Landbesitz werden seitdem – und verstärkt nach 1950 – in so vielen beeindruckenden Variationen behandelt, daß die Provinz für den städtischen Leser nunmehr vor allem zum Austragungsort des Konflikts zwischen einem oft zu einem Prototyp stilisierten a÷a und seinen praktisch rechtlosen Bauern reduziert wird. So läuft jede Geschichte vom Lande Gefahr, in diesen engen Bahnen der „Dorfliteratur“ wahrgenommen zu werden, wenn sie sich nicht dezidiert zur Metropole bekennt. Oder: Will sie schon vom Lande erzählen, so versucht sie wenigstens sich der Enge des Dörflichen durch einen allgemeinen Diskurs über die Provinz zu entziehen. Diese Überlegungen darüber, warum uns die türkischen Kurzgeschichten keine konkreten Orte nennen, lassen sich durch die Behandlung des Faktors Ort in der Literaturkritik bestätigen. Hier scheinen sich die Produktion und die Kritik in ihrer jeweiligen Haltung zum Ort gegenseitig widerzuspiegeln. Erstens hält die Kritik es kaum einer besonderen Beachtung wert, in welchem Raum eine Handlung sich abspielt. Zweitens, soweit sie darauf eingeht, führt sie einen zwiespältigen Diskurs über die Orte in den Kurzgeschichten: Auf der einen Seite nimmt sie genau wahr, wenn sich die Geschichten in Istanbul abspielen und honoriert das atmosphärisch Gelungene. Auf der anderen Seite werden die ländlichen Schauplätze entweder –––––––––––––––– 12 NABøZADE, NazÕm: Karabibik. østanbul 2003.

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gar nicht thematisiert, oder es wird ihnen die Identität abgenommen, indem vage z.B. von köy hikâyesi oder taúra hikâyesi gesprochen wird. Der spezifische Ort zählt wenig und wird in der Kritik etwa unter einer ganzen Region, etwa Güneydo÷u Anadolu subsumiert. Oft raten versierte Kritiker angehenden Schriftstellern, sich im Streben nach dem allgemein Menschlichen vom Besonderen der Lokalität loszulösen. Am Beispiel von Nahit ERUZ sehen wir, wie solche Ratschläge wirken: Während uns seine ersten zwei Kurzgeschichtenbände zu namentlich genannten Orten führen, sind die Namen im nächsten Band gleichsam ausradiert.13 Kaum zu behaupten, daß ERUZ’ Geschichten dadurch neuen Wert gewonnen haben, den sie vorher nicht hatten. Im Gegenteil ist eher ein Verlust der Intimität zu verspüren, weil der Erzähler nicht mehr ein erlebender ist, der wahrscheinlich als alter ego des Beamten ERUZ von Ort zu Ort reist und staunt, sondern einer, der über die Provinz im Allgemeinen Bescheid weiß. Doch Bescheidwissen verträgt sich nicht gut mit dem Geschichtenerzählen, und die Kurzgeschichtenautoren brauchen dieses Mittel zur Untermauerung ihrer Position längst nicht mehr. Autoren wie Memduh ùevket ESENDAL, Sait FAIK, Aziz NESIN, Tomris UYAR ... haben eine derart starke eigene Tradition geschaffen, daß diese Gattung im Lesepublikum nicht mehr als bloße Übung zum Roman angesehen wird. Dieser Wille zur Eigenständigkeit der Kurzgeschichte äußert sich auch darin, daß sich der Neologismus „öykü“ für „hikâye“ inzwischen zumindest im literarisch interessierten Publikum durchgesetzt zu haben scheint, und zwar speziell für „kÕsa hikâye“. Wesentlich beteiligt an dieser Entwicklung ist die Existenz von Zeitschriften, die sich gezielt der Kurzgeschichte widmen. Beginnend mit Seçilmiú Hikâyeler Dergisi (1947–57) hat es in der Türkei immer ein Forum für Autoren und Leser der Kurzgeschichte gegeben, in dem Übersetztes und Original, Produktion und Sekundärliteratur zusammentrafen. Auch nach dem durch eine Verlagskrise bedingten Ende der erfolgreichen Zeitschrift Adam Öykü (1995–2005) gibt es zahlreiche Neuanfänge auf dem konventionellen wie virtuellen Markt: Hece, Aylak, ømge, Eúik Cini, Üçüncü Öyküler, Öyküce Dergi und Notos Öykü, um hier nur einige zu nennen. Es wird spannend sein, in diesem regen Umfeld der Kurzgeschichte zu beobachten, ob und in welcher Weise die Provinz wieder zu ihren Namen kommen wird.

–––––––––––––––– 13 Der 1936 geborene Nahit ERUZ veröffentlichte vier Erzählbände: ÇuvalÕn YanÕndaki Adam (1969), Yumma (1971), Gül HÕrsÕzÕ (1973) und ønsanca (1978).

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Regionale Reformen im Osmanischen Reich als persönliches Anliegen: Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki, als Beobachter und Akteur am Vorabend der Tanzimat Michael Ursinus (Heidelberg) Der Titel dieses Beitrages enthält eine doppelte Reminiszenz an meine Doktorarbeit von 1980, der die Auszeichnung zufällt, die erste Dissertation gewesen zu sein, die Petra Kappert als „Doktormutter“ betreut hat.1 Während meine verehrte Lehrerin zu jener Zeit u.a. über die Ära des Reformsultans Selim III. forschte, richtete sich mein eigenes wissenschaftliches Interesse, von Petra Kappert nachhaltig gefördert und bestärkt, schon bald auf die nachfolgende Periode Mahmuds II., als die Hohe Pforte zwar bereits eine zunehmend zentralistische Politik mit der Absicht verfolgte, die Provinzen stärker an die Reichszentrale anzubinden, reichsweite Reformen auf Provinzebene aber bestenfalls ansatzweise (und dies vielfach auch nur unter Konzentration aller Mittel auf Kosten der Lokalinstanzen) durchzusetzen vermochte: Eine Periode also, wo Regionalgewalten und Provinzregierungen in ihrer Not mitunter selbst zur Optimierung bestehender Verhältnisse und Verfahrensweisen griffen, woraus sich regionale bzw. lokale Reforminitiativen entwickeln konnten, die von der Zentralregierung günstigstenfalls mitgetragen oder gar aufgegriffen wurden, nicht aber ursprünglich in Istanbul konzipiert worden waren. Gerade für die Zeit zwischen 1826 (Vernichtung der Janitscharen und Aufbau einer modernen Armee und Flotte) und 1839 (Verkündung des Hatt-i ùerif von Gülhane: Beginn der Tanzimat im Sinne eines Maßnahmenpakets mit Anspruch auf reichsweite Implementierung) erschien (und erscheint) es mir daher sinnvoll und notwendig, auch nach dem Vorhandensein etwaiger dezentraler Reformanstöße zu fragen. –––––––––––––––– 1

URSINUS, Michael: Regionale Reformen im Osmanischen Reich am Vorabend der Tanzimat. Reformen der rumelischen Provinzialgouverneure im Gerichtssprengel von Manastir (Bitola) zur Zeit der Herrschaft Sultan Mahmuds II. (1808–1839). Berlin 1982.

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Michael Ursinus

Bisher noch wenig systematisch untersucht ist in diesem Zusammenhang die Rolle europäischer Konsuln in der osmanischen Provinz – trotz des bekannten Drängens der Mächte wie etwa Großbritanniens nach Reform im Osmanischen Reich speziell (mindestens vorgegebenermaßen) zur Besserung der Lage der christlichen Untertanen des Sultans. Dieser Aspekt mußte in meiner Dissertation ausgeklammert bleiben, da die Einrichtung europäischer Konsulate im Untersuchungsgebiet erst in die Zeit nach Ende der Herrschaft Mahmuds II. fiel (als vermutlich erste konsularische Vertretung europäischer Mächte in Bitola wurde dort 1851 das britische Konsulat eröffnet).2 Auch wenn D.C.M. PLATT in seiner Studie über die britischen Konsuln seit 1825 zu dem Schluß kommt, kollektiv betrachtet erschienen sie als „lonely, fragmented, distant and unable to communicate among themselves“3 (was sie mindestens auf den ersten Blick als politische Akteure auf lokaler bzw. regionaler Ebene wenig aussichtsreich erscheinen lassen), so wissen wir doch von Fällen, wo sich einzelne europäische Konsuln, besonders solche mit überdurchschnittlich langer Verweildauer im Gastland, selbst über die lokale Ebene hinaus als einflußreich erwiesen haben – bis hin zu direkter Einflußnahme auf politische Entscheidungen der zuständigen osmanischen Stellen. Auch unter den weniger profilierten europäischen Konsuln gab es manche, die es im Laufe der Zeit vermochten, ein gewichtiges Wort „mitzureden“, wenn nicht gar in den Rang von local power brokers aufzusteigen. Dies hatte natürlich einerseits mit dem durch die Kapitulationen und nachfolgende Verträge garantierten rechtlichen Sonderstatus der europäischen konsularischen Vertretungen im Osmanischen Reich zu tun,4 zum anderen mit der Tatsache, daß die osmanischen Stellen in der Provinz hinter den europäischen Konsuln nicht nur die jeweiligen Mächte wußten, sondern auch deren jeweiliges diplomatisches Netzwerk mit dem in nächster Nähe zur Hohen Pforte (und dies nicht nur im räumlichen Sinne) amtierenden Botschafter an der Spitze. Aus Sicht einer osmanischen Provinzialregierung war es daher ein Gebot politischer Klugheit, mit den europäischen Konsuln vor Ort wenn nicht ins Einvernehmen, so doch mindestens bei wichtigen Anlässen ins Gespräch zu kommen (wobei noch die Möglichkeit bestand, sie gegeneinander auszuspielen) – sie zu ignorieren konnte man sich in aller Regel nicht leisten: Denn war es nicht bereits vorgekommen, daß ein konsularischer Bericht an den zuständigen Botschafter mit kritischen Bemerkungen über den örtli–––––––––––––––– 2 3 4

Ursinus, Michael: 1982, S. 107. PLATT, D.C.M.: The Cinderella Service: British Consuls since 1825. Edinburgh 1971, S. 1. Darunter aus dem 19. Jahrhundert der Friedensvertrag mit dem Osmanischen Reich von 1809, das britisch-osmanische Freihandelsabkommen von 1830 und die Trade Convention von 1838.

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chen Gouverneur zu entsprechenden Eingaben bei der Hohen Pforte und daraufhin zu ernsten Konsequenzen oder gar zu dessen Absetzung geführt hatte? Aus der Perspektive einer osmanischen Provinzverwaltung lag ein bedachter Umgang mit den örtlichen Repräsentanten der europäischen Mächte auch deshalb nahe, weil man sich als Vertreter der osmanischen Zentralregierung vor Ort seinerseits verschiedenen local élites gegenübersah, deren partikulare Interessen es durchaus geboten erscheinen lassen konnten, sich mit den (oder einzelnen) europäischen Konsuln gegen den Provinzgouverneur und seinen Stab zu verbünden, und sei dies nur vorübergehend. Mit Blick auf die eigene Handlungsfähigkeit und Durchsetzungskraft nach innen war es aus Sicht einer osmanischen Provinzialoder Distriktsregierung vielfach von entscheidender Bedeutung, eine derartige Koalition von lokalen Interessen und ausländischem Einfluß nach Kräften zu vermeiden. Gerade an einem solchen Punkt aber, z.B. mittels einer Verständigung mit den local élites gegen den Gouverneur, konnte ein ehrgeiziger europäischer Konsul wiederum ansetzen, wenn er politischen Druck auf höherer Ebene auszuüben beabsichtigte. Komplizierter, aber auch aussichtsreicher für politische Einflußnahme, lagen die Dinge dort, wo Vertreter mehrerer Kompetenzebenen der osmanischen Territorialverwaltung ebenso wie christliche und jüdische Amtsträger als potentielle Koalitionspartner in Frage kamen. Dies traf insbesondere für die großen Handelsmetropolen wie Aleppo, Izmir und Saloniki zu,5 die nicht gleichzeitig das Zentrum einer Großprovinz (eyalet) unter einem vali oder müúir bildeten, sondern lediglich das Zentrum eines Distrikts (sancak), denn hier konnte der potentielle Antagonismus zwischen einem vielfach dem lokalen Milieu entstammenden und am Ort amtierenden Distriktgouverneur oder kaymakam und dem fernab in der Provinzhauptstadt residierenden Provinzgouverneur oder vali ebenso für Zwecke politischer Einflußnahme genutzt werden wie latente Spannungen zwischen den örtlichen Religionsgruppen bzw. deren Vertretern. Auch dürften sich die Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie innerstädtische soziale Gegensätze hier in der Regel erfolgreicher haben instrumentalisieren lassen als anderswo, wiesen doch die großen Handelsmetropolen besonders starke ökonomische, soziale und konfessionelle Unterschiede nach innen und gegenüber ihrem Umland auf. Allerdings wird es für den Außenstehenden ohne hinreichende Kenntnis der örtlichen Verhältnisse schwer oder gar unmöglich gewesen sein, gezielte Einflußnahme zu üben. Um der Aufgabe des ‚pulling of the strings‘ gewachsen zu sein, bedurfte es eines scharfen –––––––––––––––– 5

Über die osmanische Handelsmetropole Saloniki im Reformzeitalter und -kontext vgl. ausführlich ANASTASSIADOU, Meropi: Salonique, 1830–1912: Une ville ottomane à l’âge des réformes. Leiden 1997.

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Beobachters und Menschenkenners mit der Fähigkeit, schnell zu lernen. Zunächst dürfte es für einen neu ernannten Konsul um die Frage gegangen sein, Freund von Feind zu scheiden. Genauer: Es galt festzustellen, wer einem bei der Durchführung der eigenen Dienstgeschäfte und der Erfüllung der daraus resultierenden Aufgaben nützlich bzw. hinderlich sein könnte. Dementsprechend mußten geeignete Allianzen vorbereitet werden. Um diese wiederum erfolgreich aufbauen zu können, war es erforderlich, die örtliche balance of power (die jedoch immer auch im Wechselverhältnis zu Einflüssen von außen stand) als eines von Interessen und Machtstreben geleiteten Mikrokosmos (zu dem selbstverständlich auch, soweit vorhanden, die europäischen Konsuln zählten) möglichst genau zu verstehen. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt war, ließ sich entscheiden, von welcher Seite für welcherlei Vorhaben die größte Unterstützung im Sinne eines Zweckbündnisses zu erwarten war, das als solches natürlich nicht unbedingt über die Erreichung des Zieles hinaus Bestand haben mußte. Zunächst aber mußte der Fremde, wollte er erfolgreich agieren, auf zuverlässige Informationen über Land und Leute zurückgreifen können. Lassen Sie mich hierzu einen langjährigen Kenner der Verhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zitieren: Strangers of any appearance of respectability when travelling in the interior of the Ottoman Empire are generally, in consequence of their travelling with ferman or buyruldu either quartered upon the Christian Bishops, or at the houses of the çorbacï or rich Christian reayas. If at the house of the latter, his host in all probability a member of the community, will he give the requisite information and compromise himself? If he remains a day or two with the Bishop all the information he will obtain will most certainly mislead him. A passage through Turkey or a year or two in the country will not afford the necessary opportunities for obtaining the requisite information.6

Zu den europäischen Konsuln mit besonderer Auffassungsgabe und Landeskenntnis gehört zweifellos Charles Blunt, His Majesty’s Consul in Saloniki zwischen 1835 und 1856,7 dessen dortigem Wirken Bülent ÖZDEMøR –––––––––––––––– 6

7

Charles Blunt, zitiert nach ÖZDEMøR, Bülent: Being a Part of The Cinderella Service: Consul Charles Blunt at Salonica in the 1840s, in: IMBER, Colin & KIYOTAKI, Keiko & MURPHEY, Rhoads (eds.): Frontiers of Ottoman Studies: State, Province, and the West. Volume II, London 2005, S. 241–52; hier: 244. Die biographischen Informationen über Charles Blunt müssen immer noch als unzureichend gelten (ÖZDEMøR, Bülent: 2005: S. 243). Bis heute fehlt eine umfassendere Studie zu Leben und Laufbahn Blunts. Die Papiere seines Sohnes Sir John Elijah Blunt (st. 1916), geboren 1832 als Sohn des Konsuls Charles Blunt und seiner Ehefrau Caroline Vitalis, konnten auf Veranlassung von Professor John Haldon für die Universität Birmingham, England (Special Collections Department) erworben werden.

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jüngst eine Untersuchung gewidmet hat, ohne indes der Frage nach der „politischen“ Rolle Blunts im Einzelnen nachzugehen.8 Auch der vorliegende Beitrag kann diese Aufgabe nicht im Detail leisten. Dafür ist das verfügbare Material zu umfangreich und der hier zur Verfügung stehende Raum zu beschränkt. Dennoch soll im Folgenden ungeachtet der Notwendigkeit einer umfassenderen Darstellung zu späterer Gelegenheit oder von anderer Hand der Versuch unternommen werden, anhand ausgewählter Passagen9 aus den Aufzeichnungen Blunts aufzuzeigen, wie der neu ernannte britische Konsul bereits innerhalb der ersten fünf Jahre seiner Amtstätigkeit in Saloniki, also zwischen 1835 und 1839, zum Kenner der Verhältnisse und zum bedeutenden Faktor im Kräftespiel zwischen dem Gouverneur der Provinz mit Sitz in Yanya (Ioannina), der Distriktsverwaltung unter dem Stellvertretenden Gouverneur (kaymakam) mit Sitz in Saloniki (von Blunt häufig kurz als „the Pacha“ bezeichnet), dem örtlichen Kadi („the Mollah“), dem griechisch-orthodoxen Bischof sowie verschiedenen local élites10 (darunter besonders prominent „the Beys“) zu avancieren verstand. Auch wenn dies strenggenommen zunächst nur für die epistemologische Ebene der Narrative Blunts selbst gilt, so zeichnen sich hierin doch die Umrisse einer rasanten Transformation des britischen Konsul vom bloßen Rivalen seiner konsularischen Kollegen in der drittgrößten osmanischen Hafenstadt zum aktive player nicht nur im Maßstab von Stadt und Region Saloniki, sondern zunehmend auch im Maßstab der Großprovinz von Yanya ab, in deren Verlauf sich Charles Blunt geradezu als (wenn auch inoffizieller) kaymakam des als energisch und reformistisch

–––––––––––––––– 8

ÖZDEMøR, Bülent: Ottoman Reforms and Social Life, Reflections from Salonica 1830–1850. østanbul 2003. 9 Als Grundlage für die Textauswahl bot sich hierbei die von Hristo ANDONOVPOLJANSKI besorgte Edition der Berichte Blunts an seine Vorgesetzten in Konstantinopel und London an, deren erster Band die Zeit bis 1839 beleuchtet: ANDONOVPOLJANSKI, Hristo (ed.): Britanski dokumenti za istorijata na makedonskiot narod. Tom I (1797–1839)/British Documents on the History of the Macedonian People. Volume I (1797–1839). Skopje 1968 (im Folgenden abgekürzt Documents). Die Seitenangabe soll dem leichteren Auffinden der zitierten Textpassage dienen; sie gibt keinen Hinweis auf den Gesamtumfang des Einzelberichts (dessen Numerierung durch den Herausgeber hier beibehalten wird). Typographische und andere offensichtliche Versehen des Herausgebers sind in den hier wiedergegebenen Textpassagen stillschweigend verbessert worden. 10 Erscheinungsformen und Rollen verschiedener lokaler Eliten im Osmanischen Reich werden untersucht in ANASTASOPOULOS; Antonis (ed.): Provincial Elites in the Ottoman Empire (= Halcyon Days in Crete V. A Symposium Held in Rethymno 10–12 January 2003). Rethymno 2005.

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geltenden Provinzgouverneurs Mustafa Nuri Pascha (1798–1879)11 profilieren konnte, der 1837 zum Gouverneur der Großprovinz von Yanya mit den sancaks Trikkala und Selanik ernannt worden war.12 Das Ernennungsschreiben des Duke of Wellington an Charles Blunt vom 2. Februar 1835 führt die Amtspflichten des neuen Konsuls Seiner Britischen Majestät in Saloniki im Einzelnen auf, weshalb es hier im Wortlaut zitiert werden soll (Nr. 65)13: Sir, With reference to Viscount Palmerston’s Dispatch No 1 of the 17th of November last, acquainting you that The King had been graciously pleased appoint you to be H. M’s Consul at Salonica, I herewith transmit to you printed Copies of the Capitulations with the Ottoman Porte and of the Treaty of Peace of January 1809, which secure great and important Privileges to British Subjects in the Ottoman Dominions. It will be your duty to do all in your power to prevent those privileges from being impaired or infringed. The late Levant Company under their Charter and By Laws, of which latter an Extract is annexed, confided extensive Powers of Jurisdiction to their Consuls, and the 4th Section of the Act of the 6th of His late Majesty cap. 33a copy of which is herewith enclosed gives the like powers to the Consuls of His Majesty residing in the Levant. Your permission had been forwarded to H. M’s Consul Gen[era]l at Constantinople with Instructions to Him to obtain the usual Exequatur or Firman of the Porte, to enable you to execute the Duties confided to you. The King’s Commission and the Ottoman Exequatur will give you the necessary controul over British subjects (including in this denomination natives of the Ionian Islands) residing within the limits of your Consulate; who are bound by virtue of said Commission, to acknowledge and obey you in all cases as His Majesty’s Consul. You will keep H. M’s Ambassador and H. M’s Consul Gen[era]l at Constantinople fully informed of all matters of interest which may take place within your Consulate, and you will attend to the Instruction which you may receive from either of them. Your Consular District will extend from the Frontiers of Greece to the Bay of Lagos exclusively, comprehending the Turkish Islands on the Coast. [signed: Wellington]

–––––––––––––––– 11 Zu Mustafa Nuri Pascha vgl. HERZOG, Christoph: Osmanische Herrschaft und Modernisierung im Irak. Die Provinz Bagdad, 1817–1917. Heidelberg 2004, S. 93–6 (unveröffentl. Habilitationsschrift). 12 Zur territorialen Gliederung des Osmanischen Reiches auf dem Balkan und den Organen der osmanischen Territorialverwaltung bis 1878 vgl. KORNRUMPF, HansJürgen: Die Territorialverwaltung im östlichen Teil der europäischen Türkei vom Erlass der Vilayetsordnung (1864) bis zum Berliner Kongress (1878) nach amtlichen osmanischen Veröffentlichungen. Freiburg 1976. 13 PRO – FO 78/265. Turkey. Salonica 1835 (Documents, S. 242).

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Am 5. Juni 1835 war Blunt nach einigen Unterbrechungen wegen Versorgungsschwierigkeiten per Schiff in Saloniki angelangt, um die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Francis Charnaud zu übernehmen. Dabei hatte er mit seinem späteren „Verbündeten“ Mustafa Nuri Pascha, damals noch im Amt eines Gouverneurs von Adrianopel, auf zwar lediglich indirekte, aber durchaus als unliebsame empfundene Weise erste Bekanntschaft gemacht. Am 12. Juni 1835 schreibt er an Lord Ponsonby, Botschafter Seiner Majestät in Konstantinopel (Nr. 66, Enclosure)14: My Lord, I have the honour to inform your Lordship of my arrival here on the 5th Inst and having received from Mr J. Charnaud the Archives of the Consulate I have commenced my Official duties. I am sorry to acquaint your Excellency that I was detained at Enos for ten days, for want of bread for the crew of the Vessel I had engaged to bring me here, there was no flower (sic) to be had owing, My Lord, I regret to say, to the speculations of Mustafa Pasha, who has bought up all the wheat, which he now supplies to the Villages and Towns near Adrianople at very high prices. I have not yet had time, My Lord, to go minutely into the Trade of this place, however I find that it is greatly on the increase as regards imports from England four years back, what goods of British Manufactures, and produce were sold here were supplied from Syria, Constantinople and Smyrna, now there are yearly from five to six Vessels arrive direct from England (and some of them with entire Cargoes) with manufactures, Iron and Colonials, these goods the Jews send into the Interior for that place itself requires but a small portion of the Imports. I am happy to acquaint your Lordship that the most perfect tranquillity reigns here and that the Town, and dependencies of this Consulate are free from Plague. I have the honour to be, etc. etc. Char[le]s Blunt

In diesem ersten Bericht Blunts aus Saloniki an seinen Vorgesetzten wird bereits das amtliche Hauptinteresse eines britischen Konsuls in der Levante deutlich:15 Die Entwicklung des britischen Handelsaufkommens am Ort und in der Region. Bald sollte auch das Handelsvolumen anderer europäischer Staaten zu Vergleichszwecken notiert werden, ebenso wie das Einund Auslaufen von Handelsschiffen der verschiedenen Nationen, die Getreideexporte von Saloniki, die Preise der wichtigsten Agrarprodukte, aber auch allgemeine Beobachtungen zur Problematik der Einhaltung der Handelsabkommen zwischen Großbritannien und dem Osmanischen Reich, zur –––––––––––––––– 14 PRO – FO 78/253. Turkey. Ponsonby; FO 195/100. Turkey. Salonica 1835 (Documents, S. 243). 15 Zum Begriff der Levante sei verwiesen auf SCHMITT, Oliver Jens: Levantiner. Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im Osmanischen Reich im „langen“ 19. Jahrhundert. München 2005.

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politischen und militärischen Situation im Hinterland von Saloniki, zu aktuellen Truppenbewegungen, zu Bedrohungen durch Krankheiten und Seuchen (speziell die Pestepidemie von 1835–7)16 – um nur einige der Gesichtspunkte zu nennen, zu denen regelmäßige Informationen erbeten wurden. Umfassende Statistiken und Erhebungen zur Untermauerung der Ausführungen finden sich nicht selten den Berichten beigegeben, darunter ungewöhnlich detaillierte und in ihrer Tiefenschärfe beeindruckende Beschreibungen des örtlichen Steuerwesens mit Übersichten in Tabellenform zur Höhe der Steuerlast über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, das Wirken Blunts auf ganzer Breite und in allen Einzelheiten aufzuzeigen; vielmehr soll seine Rolle als active player im oben genannten Sinne herausgestellt werden. Um der Dynamik des zu beobachtenden Prozesses gerecht zu werden, erscheint es sinnvoll, seine diesbezügliche „Karriere“ bis 1839 in vier Phasen zusammenzufassen, gegen deren Ende ein (vorübergehender) Höhepunkt der politischen Einflußnahme Blunts auf die osmanischen Stellen festzustellen sein wird. PHASE I: Blunt beschuldigt Ibrahim Pascha, Chef der osmanischen Verwaltung in Saloniki, die zur Eindämmung der in der Nähe aufgetretenen Pest notwendigen und vom Stadtpräfekten (ùehir kethüdasÕ) angeordneten Quarantänemaßnahmen zu unterlaufen. Gegenüber Ibrahim Pascha versichert sich Blunt des Rückhalts der örtlichen muslimischen Notabelnschaft sowie der nichtmuslimischen Religionsgruppen. So schreibt der britische Konsul am 2. Mai 1836 an Lord Ponsonby in Konstantinopel (Nr. 74)17: When accounts reached this [place] last summer, that the plague had broken out at Cavalla, efforts were made by the Consuls to endeavour to induce the Pacha to establish Quarantine, A Kind of Quarantine was established, for all vessels with foul Bills were obliged to anchor at some distance from the Town, and perform Quarantine, according to the decision of the Superintendent [úehir kethüdasÕ]; the apathy, however, of the Pacha, and other intrigues, soon destroyed all our efforts. I beg to assure your Lordship that the situation of Salonica offers local advantages for the establishment of Quarantine which few ports in Turkey can boast of, I have also the satisfaction of being able to state, that from the various interviews I have had with the influential Beys, and other Turks here, that I have invariably found them all much in favour of the Quarantine, and perfectly alive to its advantages, the same feeling is expressed by the Jew[ish] and Christian communities, and I by

–––––––––––––––– 16 Vgl. hierzu die „klassische“ Darstellung von PANZAC, Daniel: La peste dans l’Empire Ottoman, 1700–1850. Leuven 1985; sowie die speziell auf die Verhältnisse in Saloniki eingehende unveröffentlichte Magisterarbeit von KURZ, Marlene: Die Einführung von Quarantänemaßnahmen im Osmanischen Reich unter besonderer Berücksichtigung von Saloniki. Heidelberg 1997. 17 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 249).

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no means advance too much in stating to Your Lordship that could a Firman be obtained, for the Establishment of Quarantine and the building of a Lazarette, that it would be received here by all classes with joy. I have invariably found Ibrahim Pacha, opposed to the application for a Firman, he giving me his reasons viz. that it would be a power into the hands of the Pacha’s for oppressing the people, but I have reason to think that his objection to a Firman arises from the fear of being ordered to build a Lazarette.

Ähnlich am 14. März 1837 (Nr. 78)18: I regret having to acquaint your Lordship that the Plague has again appeared in this Town, which I attribute to the obstinacy of the Pacha, who will not accede to the desires of the whole population for the establishment of Quarantine. It is true that a Quarantine Nazier has been appointed, but the measures adopted are, if I may use the term, ridiculous, for when a case of Plague occurs among the Christians, which is very rarely, they are obliged to leave the Town and perform Quarantine, but the Jews amongst whom there is the most plague, are allowed to remain in the town, and compromise the rest of the population. In my dispatch no 4 of 2 May 1836 I had the honour to communicate to Your Excellency the sentiments of the Beys of Salonica regarding the adoption of sanitary measures. They are all now so disgusted with the stupidness of Ibrahim Pacha that they have left the Town.

Und, erneut, am 14. Juni desselben Jahres (Nr. 80)19: It is to be regretted that the Pacha of Salonica could not, or would not, act with sufficient energy to overcome the prejudices of but a very small portion of the Turkish population, and thereby prevent that increase of Plague, which has for the moment ruined the commerce; the Custom-House might be closed, for receipts do not cover the daily expenses; the Bazars are for the most part closed, and the Town is deserted; the Jews who form two thirds of the population (about 30.000) have for the most part left the Town, the Pacha himself has also retired and lives under a Tent a short distance from the Castle.

Schließlich noch einmal am 27. Juni 1837 (Nr. 81)20: (…) owing to the want of energy on the part of Ibrahim Pacha, the plague had greatly increased, and the Commerce [been] perfectly paralyzed. (…) the reports of the plague, greatly exaggerated however (for it has only on one occasion reached fifty in one day) have alarmed everyone, and for the last two months, no sales have been made, all which I attribute, My Lord, to a want of energy on the part of Ibrahim Pacha.

Wann immer in seinen Berichten der Zeit zwischen Sommer 1835 und Sommer 1837 von Ibrahim Pascha und den erforderlichen Schutzmaßnahmen gegenüber „the plague“ die Rede ist, spricht Blunt mit kaum zu überbietender Schärfe von “obstinacy of the Pacha” oder von dessen “lack of –––––––––––––––– 18 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 254). 19 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 255, 257). 20 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 257).

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energy”. Selbst dessen Glaubwürdigkeit zieht er schließlich in Zweifel (Nr. 81, 27. Juni 1837, Fortsetzung)21: The Conversation I had with the Pacha which I reported to Your Lordship in Dispatch No. 5 of the present year I am now inclined to think was not sincere on his part, for I am given to understand that there was no opposition from, or occasion for, alarm of the Ulemas, There is hardly a Turkish inhabitant who is not desirous of Quarantine. Is it not then to be regretted, My Lord, that the lives and property of thousands should be injured and endangered, by the bigotry of one individual, whose only recommendation, is that of being sufficiently rich to pay for the situation he holds.

Doch die Allianz Blunts mit der örtlichen Notabelnschaft gegen den obersten Vertreter der osmanischen Territorialverwaltung in Saloniki sollte den 20. Juli des Jahres 1837 nicht überdauern. Meldereiter aus Konstantinopel hatten nämlich die Kunde von der Ernennung Mustafa Nuri Paschas, des ehemaligen Gouverneurs von Edirne, zum neuen Gouverneur der Provinz von Trikkala unter Einschluß von Saloniki überbracht (Nr. 83). Mustafa Nuri (1798–1879) war als Waisenknabe in den Palast Mahmuds II. gekommen, wo er als Zögling der Palastschule 1823 zum Geheimschreiber (sÕrr katibi) avancierte. Auf Betreiben seines Hauptrivalen Husrev Pascha22 1832 aus dem Palastdienst und der Reichshauptstadt verdrängt, amtierte er als mütesellim im sancak von TÕrhala, bevor er nach Edirne entsandt wurde. Trotz seines zwischenzeitlich schlechten Rufes, den er wohl in erster Linie seinem Schwiegersohn Mehmed Pascha (gest. 1870/1) zu verdanken hatte, sollte Mustafa Nuri Pascha in seiner Eigenschaft als Provinzgouverneur mit Sitz in Yanya später mehrfach ausdrücklich als ehrlicher Wali und energischer Reformer gerühmt werden.23 Als solchen lobt ihn auch Charles Blunt und nimmt sofort Partei für den neuen „starken Mann“, während er sich hinfort nur noch abfällig über seine alten Verbündeten, die örtlichen beЂs, äußert. Wie nachhaltig die neue Allianz eine Abkehr vom bisherigen Zweckbündnis bedeutet, ergibt sich aus Blunts Berichten des nächsten Zeitabschnitts: PHASE II: Charles Blunt prangert die muslimische Notabelnschaft Salonikis wegen ihrer ausbeuterischen Praxis gegenüber der ländlichen Bevölkerung an. Hierbei glaubt er auf den Rückhalt durch den energischen Mustafa Nuri Pascha rechnen zu können. Die Ablehnung der unrechtmäßigen –––––––––––––––– 21 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 258). 22 Zum mehrfachen osmanischen Großwesir Husrev Pascha siehe den gleichnamigen Eintrag von Halil øNALCIK in øslam Ansiklopedisi, Bd. 5, S. 606–9 (zusammenfassend unter „Khosrew Pasha“ in EI2, Bd. 5, S. 35f). 23 HERZOG, Christoph: 2004: S. 96.

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Ausbeutung der reaya durch die grundbesitzende Klasse der örtlichen beЂs bildet in dieser Phase den Kern der neuen Interessensgemeinschaft zwischen dem britischen Konsul und dem Chef der osmanischen Provinzialregierung. Bereits im Bericht an Lord Ponsonby vom 20. Juli 1837 (Nr. 83) wird die neue Haltung Blunts deutlich: Zum ersten Mal ist hier nun die Rede von „these abuses of the Beys“, von „these disastrous irregularities“ oder „the intrigues of the Beys“. Allerdings will Blunt die ausbeuterische Praxis der beЂs schon mehrfach (wenn auch erfolglos) bei Ibrahim Pascha zur Sprache gebracht haben – seinem einstigen Hauptwidersacher in der Quarantäne-Frage. Als Nachklang der Konstellation in Phase I ist Blunts Einschätzung zu werten, Ibrahim Pascha sei „latterly been upon a very bad footing with the Beys“ 24: The appointment of Mustapha Nourie Pacha has caused, I am happy in being able to announce to Your Excellency, universal satisfaction, not only here, but as far as I am informed, throughout Thessaly and Macedonia, and there exists a general, and I trust, well founded, hope that under his able Governance there will be a speedy and general amelioration. I have found that all the well disposed and right thinking Turks entertain great expectations from the nomination of Mustapha Nourie Pacha, and foresee it would appear that it will lead to the abolition of the arbitrary Powers of the Beys, who now, to satisfy their unbounded expenses, do very great injury to the Country. Formerly (and I might say up to the present moment) any Pacha of Salonica who possessed sufficient nerve to remonstrate with the Beys, did not long remain in power; for being united, the Beys by their joint means were enabled to offer such Bribes to some of the parties in Power at the Sublime Porte as insured the speedy expulsion of their obnoxious Pacha (…). These Beys My Lord, are for the most part extensive land Proprietors, and they cultivate the greater part of these lands by Angaria or Impressments of the labourers of the Minor Farmers, who are thereby severely injured and in some instances ruined; these labourers, if paid at all, receive wages barely adequate to one half of what they would have received from the minor Farmers; the produce of the lands go in part payment of debts incurred in the support of their immense expenses, and in thus paying their debts it is well known that they force their Grain upon their Creditors, at a rate above the Market price, and when these Beys are called upon by the Pacha for their portion of grain, necessary to complete the quantity required by the Porte, they excuse themselves by reporting to the Pacha, the names of the Creditors, to whom they have given the Grain, When these unfortunate Creditors are obliged to deliver over this grain to the Stirayea [iútira emini] or Grain receipt at the Firman Price, by which the poor Rajyah Creditors, are subject to a very considerable loss, having been forced in the first instance, to receive the Grain at an exorbitant rate, and in the second, called upon to deliver over the same Grain to the Stirar [iútira], at the Firman Price, which is in general 35 and 40 per Cent below the market rate. I feel that I have but imperfectly detailed these abuses of the Beys, but Your Lordship

–––––––––––––––– 24 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 260).

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will immediately embrace the subject, and see the full extent of the evil; Ibrahim Pacha is well aware of these disastrous irregularities, and I have often treated upon the subject with him, but either from fear, or not being able to counterpoise the intrigues of the Beys or, what is more probable, that his own real irregularities might be reported, has never attempted, as far as I can learn, any reform of such abuses, he has latterly been upon a very bad footing with the Beys, and it appears to be the same kind of Consolation for the loss of his Pachalik, that his successor, Mustapha Nourie Pacha is not a person, either to be bribed or trifled with, by the Beys, a feeling I should say, rather emanating from a desire of revenge, than the good of the Country.

Weniger als einen Monat zuvor, am 27. Juni 1837 (Nr. 81), war Blunt noch entgegen der Warnung Ibrahim Paschas zu der Einschätzung gelangt, es existiere “no opposition from, or occasion for alarm, of the Ulemas”.25 Doch am 10. September desselben Jahres (Nr. 85)26 sieht er die Dinge in einem neuen Licht: According to the instructions given by Mustapha Pacha, Izzet [Mehmed] Pacha [Stellvertreter (kaymakam) Nuri Paschas in Saloniki] has been very active endeavouring to establish Quarantine, and to prevent the public sale of infected goods, but the Mollah desirous of receiving as early as possible his fees (10 per Cent upon the Value) has opposed the proposition of Izzet Pacha, which is to submit all the goods of infected houses to fumigation. The Mollah to gain his point told the Pacha that if he persisted, he should protest against him and deliver him the Keys of the Mékime and start for Constantinople.

Vielleicht hatte Ibrahim Pascha die Gefahr einer Allianz zwischen Vertretern der ulema und den örtlichen beЂs doch zu Recht heraufbeschworen? In einem Bericht Blunts an das britische Außenministerium in London vom 30. September 1837 (Nr. 86)27 führt dieser aus, wie er zugegen war, als entdeckt wurde, wie die örtlichen Grundbesitzer den Gerichtsschreiber zur Ausstellung eines geschönten Zertifikates anstiften wollten: (…) a Firman was published which gives considerable advantages to the Agriculturists, in as much as, the Export of Grain is free, after the Stirar [iútira] or Grain Department has received the Quantity required by the Porte. The Pacha during his stay here, gave much of his attention to the Grain department, and ordered measures to be adopted, which will be beneficial to the Agriculturalists. The Pacha caused a list to be made of all Corn and Grain lands, and fixed a per Centage to be given by each Cultivator, to make up the Quantity required by the Porte, the which will be, for Wheat, 2/4 Killo of Salonica (1 1/7 Quarter) per Chiff [çift] or Plough. This plan will render the weight of the delivery to the Stirar, less onerous to the Minor Farmers. Formerly the Beys found means of evading the delivery of their portion of the Grain, to the Stirar, and even endeavoured to frustrate the good in-

–––––––––––––––– 25 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 258). 26 PRO – FO 78/306 (Documents, S. 262). 27 PRO – FO 78/314 (Documents, S. 263).

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tentions of the Pacha by ordering the writer of the Mollah to make the Ilam (or Certificate) differ from the note sent by the Pacha, of the land’s; but I was with the Mollah when the discovery was made, and reported it to the Pacha (…). Mustapha Pacha will, it is to be hoped My Lord, adopt measures to check the arbitrary powers of the Beys, who, to satisfy their heavy expenses; do much injury to the Country.

Im obigen Zitat findet sich bereits ein deutlicher Hinweis auf die zunehmend aktive Rolle Blunts (“I was with the Mollah when the discovery was made, and reported it to the Pacha”), wie sie für die nächsten zwei Phasen kennzeichnend werden sollte: PHASE III: Im Rahmen der Interessensgemeinschaft mit dem Gouverneur Nuri Pascha erscheint Blunt zunehmend als aktiver Partner. Die gemeinsamen Anstrengungen richten sich (weiterhin) auf Quarantänemaßnahmen, vor allem aber auf die Verbesserung der Lage der örtlichen Bevölkerung, speziell der Klasse der reaya. So schreibt Blunt am 30. Januar 1838 an Lord Ponsonby nach Konstantinopel (Nr. 88)28: I regret to acquaint Your Lordship that I have discovered some flagrant abuses here, emanating from persons in the employ of Izzet [Mehmed] Pacha, My continual indisposition has prevented my seeing Izzet Pacha on the subject, When I do, I shall hope to convince him, if not, I shall immediately write to Joannina; but I do not think that Izzet Pacha will push me to such extremities, for he well knows, that a statement of facts from me to Mustapha Pacha is sufficient to displace anyone in the Pacha’s employ, Izzet Pacha is a good humane man, and wishes to do good, but he is unfortunately much influenced, by some of his people, who have nothing at heart but their own interests.

Und am 6. Juli 1838 berichtet Blunt nach Konstantinopel (Nr. 92)29: (…). I had the honour to report Your Excellency in my dispatch No. 11, June 1, that I had induced the Kaimakan [kaymakam] to establish Quarantine, and that the Greek Consul warmly opposed himself to such measures, but I was more hurt than surprised to find after having written that dispatch, that the Russian Consul who at first agreed with me upon the subject, should have changed, and coincided with the Greek Consul; finding that these intrigues had some weight with the Kaimakan, notwithstanding the remonstrances of the Beys and influential Turks, I went to the Kaimakan and told him that he should not allow himself to be led into the error of risking the lives and property of the population of 60.000 souls; to satisfy the party spirit and intrigues of the Consuls; and that if he did not conform himself to the regulations, first sanctioned by him, I should immediately report his conduct to Mustapha Pacha, I am happy to say that the warmth with which I took up the matter, induced the Kaimakan to do his duty and pay no further attention to the intrigues of the Russian and Greek Consuls.

–––––––––––––––– 28 POF – FO 195/100 (Documents, S. 265). 29 POF – FO 195/100 (Documents, S. 271).

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PHASE IV: Diese baut auf der vorangegangenen unmittelbar auf. Kennzeichnend für Blunts Aktivismus in Phase IV. sind Vorgehensweisen, die man als investigative reporting und wiederholte reformist interference, nicht zuletzt durch Einflußnahme auf Personalentscheidungen bei Ämterbesetzungen, zusammenfassen könnte. Verschiedentlich ist nun mit Blick auf seine eigenen und die Anstrengungen des Gouverneurs explizit von „Reform“ die Rede (im Zitat durch Fettdruck kenntlich gemacht). In argumentativer Hinsicht steht im Zentrum seines Engagements die von der Obrigkeit, ihren Grundherren und außerordentlichen Steuern bedrückte abgabepflichtige Klasse der reaya. Als Beispiel sei hier ein Bericht Blunts an Lord Ponsonby in Konstantinopel wiedergegeben, datiert vom 31 August 1838 (Nr. 94)30: My Lord, In my dispatch no. 16 of 1st November 1837, I had the Honour to report to your Excellency, that I had found on my arrival at Vodena, the Rayjahs, with reason, much discontented with their Aiyan, and that I had reported the case to the Pacha at Joannina; who took such immediate steps, as he considered necessary for the amelioration of the state of the Rayjahs of that Town, I also subsequently acquainted Your Excellency, that Mustapha Pacha had appointed one of his own people to that aiyanlick. This person I am acquainted with, and prior to his going to Vodena I had frequent interviews with him, and made him, as I hoped, convinced of the necessity of protecting, and not oppressing, the Rayjahs, I also gave him the names of some individuals in the Politea [town council] who, though Christian Rayjahs, were, as is but too often the case, abettors of the abuses of the former Aiyan; these he had the good sense to discharge, all for a time went well, and the Rayjahs were contented, but unfortunately My Lord the change for the better, did not last long; the new Aiyan has commenced aggravating the Rayjahs, and sent some of them here to be put in Irons; immediately that I was informed of this I sent him a letter by Express, stating, how much I was hurt to find that he had forgotten the good advice I gave him, and that his proceedings were directly at variance with the wishes of His Pacha; to which letter he replied, that he felt sensible of my attention, and hoped I should consider him justified in what he had done for the parties in prison were Revolutionists, for whose good conduct the Greek Bishop would not be answerable! This My Lord I know to be false! – the affair has been represented to the Pacha at Joannina, who sent for the Aiyan, but I trust that my representations will have some weight with the Vizier.

Und er fährt fort: I am happy to be able to report to Your Excellency that Mustapha has paid attention to my reports regarding the irregularities of the Intizap and Damgagi Agassi’s of Salonica as he has displaced them both, and appointed a person of whom I have some knowledge, to fill both situations; who, I have every reason to hope, will be correct in his conduct.

–––––––––––––––– 30 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 273).

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Und weiter im selben Schreiben31: It having been represented to me My Lord, that the inhabitants of Madem, a few hours distant from Salonica, had great cause for complaint against their Aiyan, I took up the case, and made my enquiries, and finding that the reports were by no means exaggerated, I addressed a letter to Izzet Pacha on the subject, and induced him to send one of his people to make enquiries; I am in some hopes that a new Aiyan will be appointed, for I have taken the precaution of sending a copy of my letter to Izzet Pacha, to the Vizier at Joannina [Mustafa Nuri Pascha].

Nicht zum ersten Mal sollte Mustafa Nuri Pascha hier ein Amt mit jemandem besetzen, den Blunt persönlich kannte und schätzte. Am 6. Juli 1838 (Nr. 92) hatte Charles Blunt bereits nach Konstantinopel gemeldet, daß ein gewisser Keut Oglu Hajji Mehemmed Aga zum Repräsentanten (kethüda) Mustafa Nuri Paschas in Istanbul ernannt worden sei, und zwar nicht ohne wärmste Empfehlungen seinerseits.32 Wie sich herausstellt, war Mehemmed Aۜa Blunt seit seiner Zeit in Edirne wohlbekannt. Auch hierin zeigt sich, daß der britische Konsul – auf Kosten kaymakam Izzet Paschas – geradezu in die Rolle der eigentlichen Vertrauensperson Nuri Paschas in Saloniki hineinzuwachsen beginnt, und dies in immer stärkerer Abgrenzung gegenüber Izzet, dem Intrigen gegenüber seinem Dienstherrn vorgeworfen werden. Am 23. November 1838 (Nr. 95)33 schreibt Charles Blunt nach Konstantinopel: (…) I take the liberty of calling Your Lordship’s attention to an article which appeared in the Smyrna paper “L’Echo de l’Orient”, some short time since, of which the enclosed is a copy. This article My Lord was written (…) at the request, I am given to understand of Izet Mehemet Pacha, the Kaimakan who is intriguing at Constantinople to get appointed Pacha of Salonica independent of Mustapha – this intrigue, My Lord, is worked by the relations of the wife of Izet Pacha who are people in power about the court; Izet Pacha has My Lord for some time past acted in such a way as to make it appear absolutely necessary, that the Pachalick of Salonica should be independent of that of Joannina, but to my certain knowledge, My Lord, Mustapha Pacha has several times written to reproach his Kaimakan, for not being more active, and for constantly troubling him with trifling matters which it was his duty to settle instantur; but Izet Pacha has not paid any attention to Mustapha Pacha’s instructions, and many trifling affairs which might be terminated immediate have been suffered to remain unsettled for six and seven months! This Kaimakan, My Lord, has all the Salonica Bey’s on his side, for they will support any one, rather than Mustapha should return here, fearing that he will treat them as he did Negib Bey at Larissa [d.h. ihn aus dem Amt zu entfernen], the Mollah of Salonica has also been bought over by Izet Pacha in case of an Ilam being necessary. Should Izet Pacha succeed, My Lord, it will be a very serious injury to Salo-

–––––––––––––––– 31 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 274). 32 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 271). 33 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 276f).

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nica, and we shall witness nothing but oppression and abuses. I have in a former dispatch mentioned to Your Lordship the irregularities of the Intizap Agassi, who Mustapha displaced: this man I have ascertained, My Lord, was a mere creature of Izet Pacha, who was the chief gainer in all his nefarious acts. The wise and able policy of Mustapha has, My Lord, where he has established reform, entirely changed the state of the Rayahs, who now appear contend and happy. In conclusion, My Lord, I take the liberty of stating a circumstance to Your Excellency which fears with it sufficient evidence, for the fears I entertain in the event of Izet Pacha’s being appointed independent of Mustapha Pacha – some time since a Hatti Sherifee was received here from Constantinople, specifically for the protection of the Agricultural class of Rayahs, and to put a stop to the Oppressions of the Beys; This Hatti Sherifee which ought to have been read publicly, was read to the Beys only at a private meeting! Shortly after, a case of great cruelty and oppression occurred at the Farm of one of the Beys, and as these poor rayahs applied to me to speak on their behalf to Izet Pacha, I directed them to draw up a Petition, which I presented, requesting the Pacha, Izet, to give his attention to, and to grant the Petitioners the benefit of the Hatti Sherifee, the Kaimakan replied “this case does not come under the Hatti Sherifee”. Now this was false, My Lord, for the case of the Petitioners was that the Bey wanted them to remain on his Farm by force, and because they refused he had seized their cattle and effects which the Hatti Sherifee particularly ordains that the Beys shall not do. Finding I could do nothing with Izet Pacha, I called upon the Bey, and induced him to liberate the cattle and Effects. Mustapha Pacha, My Lord, is aware of the Intrigues of his Kaimakan and is somewhat fearful that his enemies at Constantinople may be induced to support them, particularly as Izet Pacha is a protégé of the old Serriaskier [serasker Husrev Pasha, 1756–1855], who, it is well known, is the greatest enemy Mustapha Pacha has about the Court.

Nachdem Izzet Pascha im Verlauf des Winters 1838/9 schließlich durch Ariffu Beۜ als des neuen kaymakam Mustafa Nuri Paschas ersetzt worden war, verfügte der Gouverneur in Ioannina nun erneut über einen tatkräftigen Stellvertreter (in Serres, nicht in Saloniki!), für den Blunt gegenüber Lord Ponsonby in Konstantinopel folgende lobenden Worte findet (Nr. 98, 21. März 1839)34: I am in hopes My Lord, that the Town of Serres, will have every reason to be contented with the new Kaimakan Ariffu Bey; I have been for some years personally acquainted with him, and have hitherto known him to be firm and just in all his dealings. I consider the first act of Ariffu Bey, by order of Mustapha Pacha, a judicious proceeding which was, My Lord, discharging all the old employées of the Konack, most of these Clerks and writers were in the pay of the Beys, hence there was little chance of justice for the Rajyahs.

Erneut wendet sich Charles Blunt der Problematik von Ausbeutung, Unterdrückung und Unrecht gegenüber den reaya zu, nun jedoch verstärkt mit –––––––––––––––– 34 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 287f).

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Blick auf die negative Rolle des griechisch-orthodoxen Klerus (Nr. 98, 21. März 1839)35: My Lord, I have had the Honour to receive Your Lordship’s letter of the 27th Ulto., expressing Your Excellencies approval of my humble efforts here, in search of reform, and desiring me to acquaint Mustapha Pacha, of the satisfaction your Lordship enjoys to find that he perseveres in his wise and just System, I have written to the Vizier, and can assure Your Lordship, that he will fully appreciate the value of your Opinions of his Conduct (…). Since I last had the Honour to address Your Lordship I have been to Serres, a day’s journey from Salonica, where I learned many particulars regarding this Mustapha Bey (…). This Mustapha Bey and his relations have held the Aiyanlick of Menelick for the last 30 Years, and of late years the chief assistant in all his iniquity is a certain Costantine Carrithi, a Greek Rayjah Primate of Menelick. This My Lord is one of the numerous proofs we have in Turkey, that the Rayjahs suffer more from the iniquitous instigations of the Rayjahs themselves, than from the Turks, and you will invariably find My Lord that where there exists a Cruel Brutal and Rapacious Governor, that he is aided and abetted in all he does by some of the Tchorbagis [çorbacï] or Rayjah Chiefs (or as they are termed by some writers upon Turkey Elders), and I will also add, My Lord, that the Greek Bishops are by no means less active in such iniquitous proceedings when they have a chance of sharing the plunder; (…). Passing through the villages, My Lord, on my way to Serres I heard numerous complaints against the Arch Bishop of Serres, who has lately made the first visit to all the villages within the District of his Diocese. Villages which have hitherto, on such occasions, given the Bishop p. 500 or 5 [Pounds], have been forced to pay him p. 200 or 20 [Pounds]! Being fully convinced, My Lord, of the truth of what I had heard, I immediately after my arrival at Serres, called upon the new Kaimakan of Mustapha Pacha, Ariffu Bey, to acquaint him of the proceedings of the Greek Arch Bishop, and found, My Lord, that Ariffu Bey had already taken steps to prevent the repetition of such Abuses; (…) I do not suppose he [der Erzbischof] will be allowed to remain; indeed, were he immediately deprived of the Diocese and turned out of the Church [Unterstreichung im Original], it would be no act of injustice owing to his disgraceful immorality.36

Man kann vermuten, daß der Empfänger des Berichts angesichts der von Blunt favorisierten Sanktion als Antwort auf die nach dessen Worten „schädliche Immoralität“ des Erzbischofs von Serres überrascht gewesen ist. Jedenfalls sah er sich erkennbar genötigt, den Passus „turned out of the Church“, den der Konsul mit erkennbarer Vehemenz formuliert hatte (gleichbedeutend mit Exkommunikation, also jener Strafe, die die Oberen der orthodoxen Kirche selbst für schwere Vergehen zu verhängen pfleg–––––––––––––––– 35 Vgl. STATHI, Pinelopi: Provincial Bishops of the Orthodox Church as Members of the Ottoman Elite (Eighteenth-Nineteenth Centuries), in: ANASTASOPOULOS, Antonis (ed.): 2005, S. 77–83. 36 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 283, 287).

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ten), zu unterstreichen. Vielleicht hat sich dem Empfänger in London angesichts der Bedenkenlosigkeit, mit der sich Charles Blunt als Konsul Seiner Britischen Majestät in Saloniki hier aus dem ortsüblichen Sanktionskatalog bediente, gar die bange Frage aufgedrängt: „Is this evidence of Blunt’s turning native?“ Daß Blunt auch weiterhin in engstem Kontakt zum Provinzgouverneur Mustafa Nuri Pascha stand, geht aus seinem Bericht an Viscount Ponsonby vom 7. Juni 1839 (Nr. 99)37 hervor. Anläßlich des Besuchs des müúir Nuri Pascha in der Hafenstadt am 31. Mai bittet Blunt um eine Audienz: (…) I called upon him the following day, but could not then enter into any details, for according to the usages of the Country, the first three days after arrival are sacrificed for receiving visits, without treating of affairs, the Vizier however took the opportunity of thanking me for my constant advices, but as he was obliged to give his immediate attention to the Troops, which would occupy him ten days, he deferred to a more favourable moment, the subject of abuses in the Local Gov[ernmen]t when he would go into the subject with me.

Blunts anhaltende Wertschätzung Nuri Paschas läßt sich aus nachfolgender Passage ablesen (Nr. 100, 4. Juli 1839)38: (…) Mustapha Pacha has but few friends at the Capital, still he might be of much valuable assistance here; his intelligence has been proved by the very able manner in which he has terminated the affairs of Albania – his putting down the Capitani or Klefti – his care of the Rayjahs – his opposition to the Arbitrary conduct of the Beys, and many other acts for the benefit of the Country – and the advice he could offer regarding the internal state of the country, would be supported by experience, and actual observation.

Konkrete Maßnahmen Mustafa Nuris werden in folgendem Auszug beschrieben (Nr. 101, 15. Juli 1839).39 Dabei ist bemerkenswert, daß die hier bereits für das Jahr 1838 erwähnte Einrichtung eines sandÕk emini anstelle der bisherigen lokalen Abgabenverwaltung ab Januar 1840 als Teil der Tanzimat-Bestimmungen für die Provinzen allgemein angeordnet werden sollte40: The Pacha; My Lord, put things in order at Serres, where he found there was much injustice in the distribution of the Kharatch [haraç], he obliged the Kharatch [hier: haraçcÕ] to return all moneys received for Children under 12 Years of Age – he put a stop to the interference of the Beys in the affairs of the Local Government – the Greek Politea having been considerably plundered by the Former Aiyan, he examined the accounts and obliged the Aiyan to refund the Politea p. 150.000 or 1500

–––––––––––––––– 37 38 39 40

PRO – FO 195/100 (Documents, S. 288). PRO – FO 195/100 (Documents, S. 290). PRO – FO 195/100 (Documents, S. 291). KORNRUMPF, Hans-Jürgen: 1976: S. 42, 62, 67, 131.

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[Pounds] – he established a Sendukaimeni [sandÕk emini] upon the same footing as that of Larissa mentioned to Your Lordship in My disp[atc]h No. 16 of 31st Aug[us]t 1838.

Selbst Beispiele von Aufwendungen zur Verbesserung der Infrastruktur aus Mustafa Nuri Paschas eigenen Mitteln fehlen nicht (Nr. 102, 2. August 1839)41: Within a short distance from Salonica, My Lord, is a small brook called Gallicoe, the which in winter becomes a tremendous and dangerous torrent, and numbers of persons are yearly lost in endeavouring to pass, the yearly loss of Cattle is also considerable. Mustafa Pacha, ordered a bridge to be built at his own expense, it was commenced, [but] a heavy rain on the Mountains, caused a torrent which carried every thing away with it; the Pacha then ordered that it should be built of Stone, the good which this Bridge will be to the Town of Salonica, is immense.”

Erst im Dezember 1839, nachdem das Hatt-i ùerif von Gülhane verkündet und anstelle von Izzet nun der angeblich fähige Hasib zum neuen Pascha von Saloniki42 ernannt worden war, äußert sich Blunt erstmals vorsichtiger über Mustafa Nuri Pascha (Nr. 109, 18. Dezember 1839)43: I regret much, My Lord, that it has never been in my power to report so favourably of Mustapha Nourie Pacha, as I am now enabled to do of Hassib Pacha, the former however intended doing much of what the latter has done, but was fearful of taking matters up with too firm a hand, having no friends at Constantinople amongst those about the late [Mahmud II.] or new Sultan [Abdülmecid], but Hassib Pacha appears to fear no one, he cuts at all the abuses root and branch, and if he continues his present system, he will gain for himself, the just reputation of having done more good to his Country, than any Pacha that ever yet held a Pachalick.

Seine Sympathien gegenüber Hasib Pascha sowie die in ihn gesetzten Hoffnungen für die Zukunft hatte Blunt schon im November seinem scheidenden Vorgesetzten in Konstantinopel gegenüber in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Daß in nachfolgenden Schreiben vom Gerücht einer bevorstehenden Absetzung Mustafa Nuri Paschas die Rede ist, mag erklären, weshalb Blunt es offensichtlich nicht länger für opportun hielt, allein (oder auch nur vornehmlich) auf Nuri Pascha als „Allianzpartner“ zu setzen (Nr. 108, Enclosure, datiert vom 20. November 1839): –––––––––––––––– 41 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 292). 42 Nach Mehmet Zeki PAKALIN: Maliye TeúkilâtÕ Tarihi (1442–1930). O.O. o.J. Ankara 1977, Bd. III, S. 117–36, wurde der in Istanbul geborene Sohn des Mehmed Emin Efendi und (insgesamt) fünfmalige Evkaf NazÕrÕ Hasib Pascha im Receb des Jahres 1839 auf Betreiben von Husrev Pascha aus der Hauptstadt entfernt und zum Selanik valisi ernannt (Ahmed Lutfi, Tarih-i Lutfi VI, 72 spricht hier korrekter von Selanik mutasarrifi); PAKALIN, Mehmet Zeki: op. cit., S. 119. Hasib starb am 23. Zilhicce 1288. 43 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 302).

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My Lord, Since I last had the Honour to address Your Lordship on the 7th Inst., I have had more than one interview with the new Pacha of Salonica, and can but confess, that I found him well disposed towards the Rayjahs, and willing to enter with me upon the subject of abuses in the Local Gov[ernmen]t. I must also acquaint Your Excellency that he has given frequent proofs that he is not interested, for in all cases when aiyans and other Functionaries have been appointed by him, he has invariably refused the usual fees, or in other words, he has in no case sold, as is usual, such situations. When with the Pacha the other evening, the New Mollah of Vodena was presented, the advice he gave this functionary was very good, and after reminding him of his duties he finished by telling him it is as well that you should know, that any injustice to “the poor, I never will forgive”. The same evening I entered upon the subject of the Oppressions of the Beys, he heard me very patiently and said “I shall learn all in time, and I am aware that I have much to do here for certain persons take more upon themselves, than they ought to do”. I told him that he might depend upon my reports being correct, for I had witnessed what I reported to him during a period of nearly five years, and that it was by Your Excellency’s express desire, that I gave such information, and I took upon myself further to say, that Your Excellency had assured me before leaving Constantinople, that I should find the new Pacha willing to enter upon such Matters, and a man who would exert himself for the good of his Country. He replied “I know that the English pay more attention to the real prosperity of Turkey than any other nation, and I trust that Your Ambassador will not be disappointed, regarding his opinions of me, and I shall be obliged by your always speaking to me without reserve, upon such matters. I feel that it would be agreeable to Your Excellency to enter into these details, but I feel it equally my duty to acquaint you, that some of the acts of the new Pacha are at variance with his professions, and he appears to be entirely guided by a Certain Akmet Bey, – one of his acts are, Orders have been read in the churches, that if any Rayjahs should allow the Pacha to pass his shop without rising to salute him, that the said Rayjah will be punished with the bastinadoe! Such an order was never issued even in the time of the janissaries. The Pacha has also fixed the prices of some articles of general consumption, at rates which will cause a loss of [fehlende Zahlenangabe] p. Cent, to the sellers! I have My Lord received late advices from Joannina and am happy to say that perfect tranquillity reigns in that part of the Country, I am also informed from the same place, that it had been reported in Lower Albania that Mustapha Nourie Pacha was to be disgraced, and that the Albanians have declared that they would not receive any other Pacha, if such did take place. Copies of the late Hatti Sheriffee have been received here, by the last Steamer but the Local Authorities have not yet received it Officially! This Hatti Sheriffee has given universal satisfaction, and both Turks and Rayjahs say that they hope that those Powers, who have induced the Sultan to publish it, will also exert themselves to see that it is put in force. I have the Honour to be, etc. etc. Cha[rle]s Blunt44

–––––––––––––––– 44 PRO – FO 78/368. Turkey. Salonica 1839 (Documents, S. 300f).

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Bis zum 18. Dezember 1839 waren jedoch auch die letzten Zweifel an Hasib Paschas Eignung zum neuen „Verbündeten“ Blunts ausgeräumt (Nr.109). Damit ist, gegen Ende des Jahres 1839, der Übergang von Phase IV. zu einem neuen Abschnitt im Wirken des britischen Konsuls in Saloniki abgeschlossen45: My Lord, It will afford your Lordship some satisfaction to learn that I am enabled to continue to report favourably of Hassib Pacha, the new Governor of Salonica. On the night of the 5th Inst. Salonica was visited by one of the most dreadful Gales of wind from the E.S.E. During its continuance, a fire broke out in the upper part of the Town, Hassib Pacha was immediately on the spot, and by his activity succeeded in checking the further progress of the flames, and we are certainly indebted to him for salvation of the rest of the Town. One of the Pacha’s people during the fire struck a Jew for not being alert in bringing water; this man was punished on the spot, and deprived of his employ. It would appear My Lord that Hassib Pacha has sent people into the interior within his jurisdiction to give the Rayjahs courage and to induce them to send in petitions, for the numbers which are presented daily is beyond conception. During the Ramazan the Pacha was out daily incognito, by which means he arrived at many facts, one day he was dressed as a common farmer, and went and seated himself outside the walls of the Town, where all the farmers collect before returning to their homes; he entered into conversation with some of these people concerning the Beys and encouraged them to petition, as he was going to do for which purpose, he said he had come to Salonica; a day or two after the Biram [bayram] 500 of these poor fellows came in from the Banks of the Varda [river Vardar] to apply for redress. I have not heard what was the exact nature of their complaints, neither have I learned if thus have redress [sic]. (…). I am happy to report also to Your Lordship that Hassib Pacha has since the Biram laid aside much of all that tedious etiquette and difficulty of approach, which is the bane of every good in this Country, (…). It would appear, My Lord, that the Beys will soon be taught how to behave themselves, and will no longer be permitted to arrogate to themselves powers which appertain to the Local Authorities only. Hassib Pacha has obliged the Beys to give in an exact account of all their Grain, which they were holding back to keep up prices. Akmet Bey whom I have had the honour already to mention to Your Lordship, is no longer in favour with the Pacha, and all those individuals who were given appointments by the Pacha, at the recommendation of the Bey, have been disgraced (…).

–––––––––––––––– 45 PRO – FO 195/100 (Documents, S. 301f).

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Schlußbetrachtung Charles Blunt, britischer Konsul in Saloniki seit 1835, changiert innerhalb von knapp fünf Jahren (entsprechend unseren Phasen I–IV) vom neu ernannten konsularischen greenhorn zum einflußreichen active player auf politischer Bühne, unterstützt durch die Ernennung Mustafa Nuri Paschas zum Gouverneur von Yanya (Ioannina) im Sommer des Jahrs 1837. Seine Agenda: Einflußnahme auf die örtlichen Gewalten nicht nur allgemein im Sinne des Drängens der britischen Regierung auf Reform im Osmanischen Reich speziell zur Besserung der Lage der christlichen Untertanen, sondern auch konkret durch Unterstützung der reformistischen Politik des Provinzgouverneurs vornehmlich durch die Instrumente des investigative reporting sowie (direkter oder indirekter) reformist interference. Obgleich nur im Falle seiner investigativen Berichterstattung unmittelbar nachzuweisen, sieht er sich offensichtlich doch in beiden Vorgehensweisen durch den britischen Botschafter in Konstantinopel gedeckt. Sein Engagement zur Förderung und Umsetzung der reformistischen Politik Mustafa Nuri Paschas erreicht einen vorläufigen Höhepunkt in Phase IV, während derer Blunt die Rolle des eigentlichen Vertrauensmannes des osmanischen Gouverneurs anstelle von dessen offiziellem kaymakam in Saloniki einnimmt. Hier handelt der Konsul Seiner Britischen Majestät über weite Strecken als (selbsternannter) unofficial agent des Gouverneurs Seiner Großherrlichen Majestät Sultan Mahmuds II. Wenn man als indirect rule bezeichnet, wo sich die Kolonialmacht einheimischer Kräfte bedient, um ihre Politik durchzusetzen, könnte man hier geradezu von einer Form von inversed indirect rule sprechen: Osmanische Amtsträger bedienen sich des Repräsentanten Großbritanniens in Saloniki zur Förderung und Umsetzung ihrer reformistischen Politik – oder aber sie lassen sich durch diesen hierzu instrumentalisieren. Letzteres würde man als eine der typischen Erscheinungsformen von Großbritanniens informal empire deuten können.46 In diesem Prozeß zeigt Blunt Anpassungsfähigkeit bis hin zu Erscheinungsformen von politischer Akkulturation. Als der Erzbischof von Serres überhöhter Geldforderungen seitens der Gläubigen überführt wird, stellt Blunt dies als schweres Vergehen gegen den christlichen Moralkodex dar (was durchaus der Sicht der Kirchengemeinde entsprochen haben dürfte) und sieht in der Exkommunikation des Bischofs eine legitime Strafe. Nicht nur legt Blunt hier also den Maßstab des örtlichen Moralkodex an, sondern er bedient sich außerdem hinsichtlich des Strafmaßes der örtlichen Gepflo–––––––––––––––– 46 Zu Begriff und Konzept von „unofficial empire“ bzw. „informal empire“ vgl. JAMES, Lawrence: The Rise and Fall of the British Empire. London 21995, S. 169– 83.

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genheiten und plädiert für die höchstmögliche Strafe, die ein örtliches Klerikalgremium verhängen kann: den Kirchenausschluß. Recht zu verstehen ist ein solcher Rigorismus erst vor dem Hintergrund der oftmals kompromißlos umgesetzten Politik zur Eingrenzung oder gar Abschaffung von als „parasitär“ empfundenen Gewalten auf lokaler und regionaler Ebene, worauf die osmanische Reformpolitik in der Zeit Mahmuds II. mit Nachdruck abzielte (die Politik Istanbuls, aber ebenso die mancher Provinzregierungen gegenüber den Ayanen legt hiervon beredtes Zeugnis ab). Auch hierin, bei dem Versuch nämlich, die Ausbeutung der steuerpflichtigen reaya durch intermediäre Gewalten einzuschränken, fanden die reformistischen Bestrebungen auf osmanischer Seite Unterstützung seitens Großbritanniens. Die Vehemenz Blunts angesichts dessen, was dieser als „disgraceful immorality“ des Erzbischofs apostrophiert, richtet sich an dieser Stelle gegen den von osmanischer wie britischer Seite gleichermaßen als „parasitär“ eingestuften höheren griechisch-orthodoxen Klerus mit seinen Fiskalprivilegien.

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„Die undankbaren Enkelinnen“ – Kritische Diskurse über Kemalismus, Identität und Geschlecht in der Türkei1 Heidi Wedel (Bonn) Als eine der ersten Modernisierungsideologien spielte der Kemalismus nicht nur in der Türkei eine wichtige Funktion, sondern hatte auch eine internationale Vorreiterrolle. Das kemalistische Reformprojekt fand Erwähnung und Anerkennung nicht nur bei den Modernisierungstheoretikern der 50er und 60er Jahre, sondern hatte z.T. auch Vorbildcharakter für später unabhängig gewordene Länder der „Dritten Welt“. Typisch für neu entstehende Nationalstaaten sollte der Kemalismus nach dem endgültigen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches über eine neue kollektive Identität ideologisch helfen, auf dem verbliebenen Staatsgebiet einen unabhängigen, modernen und säkularen Nationalstaat aufzubauen. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hielt Modernisierung und „Zivilisierung“ über Verwestlichung für Garanten der Unabhängigkeit. Dies führte zu der Betonung der kemalistischen Prinzipien „Reformismus“ im Sinne von kontinuierlichem strukturellem Wandel und „Laizismus“ als Hauptfaktor der Modernisierung.2 Kemalisten gingen außerdem davon aus, daß die militärische Verteidigung der Unabhängigkeit und Integrität der Republik gegen alle Kräfte, die eine Teilung des Staatsgebietes anstreben könnten, ideologisch durch das Konzept eines nationalen Einheitsstaats unterstützt werden müsse, innerhalb dessen keine unterschiedlichen Interessen und Identitäten toleriert wurden. Diese Vorstellung prägte die kemalistischen Prinzipien des „Nationalismus“, nach dem keine –––––––––––––––– 1

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Auch wenn meine Professorin Petra Kappert meine Magisterarbeit 1988, die eine Kritik des kemalistischen Laizismuskonzeptes beinhaltete, inhaltlich provozierend fand, hat sie doch diese Arbeit und ihre Veröffentlichung unterstützt. Nicht zuletzt für ihre wissenschaftliche Toleranz, die leider in der Akademia nicht selbstverständlich ist, und ihre anhaltende Unterstützung gilt ihr mein tiefer Dank und Respekt. WEDEL, Heidi: Der türkische Weg zwischen Laizismus und Islam – Zur Entwicklung des Laizismusverständnisses in der Türkischen Republik. Opladen 1991, Studien und Arbeiten des Zentrums für Türkeistudien, Bd. 6, S. 26–31.

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nicht-muslimischen Minderheiten anerkannt wurden, und des „Populismus“, nach dem in den ersten Jahrzehnten der Republik die Existenz von ökonomischen Klassen mit unterschiedlichen Interessen negiert und die Gründung von Gewerkschaften und linken Parteien verboten wurde. Als Grundsatz der „Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk“ („devletin ülkesi ve milletiyle bölünmez bütünlü÷ü“) genießt dieses Nationalismuskonzept bis heute höchsten verfassungsrechtlichen Schutz. Die führende Rolle des Staates – insbesondere der zivilen und militärischen Bürokratie – bei der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Reform wird im Prinzip des „Etatismus“ betont. Der Gedanke, daß die Inspirationsquelle der Reformen das Volk ist, daß dieses aber mangels Bewußtsein von einer Elite angeleitet werden müsse, durchzieht die Reden Atatürks.3 So wird in der Literatur der von den Kemalisten eingeleitete Wandel auch als „Revolution von oben“ bezeichnet.4 Aus heutiger Sicht ist ein zentrales Manko des Kemalismus (wie auch anderer Modernisierungsideologien), daß eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft im Modernisierungsprozeß der Reform und Stabilität untergeordnet und hintenangestellt wurde und zur Umsetzung und Durchsetzung der Reformen auch repressive Maßnahmen ergriffen wurden.5 Auch nach dem Übergang zum Mehrparteienregime 1946 wurden immer wieder militärische Interventionen und Repressionen mit dem Schutz der kemalistischen Reformen gerechtfertigt. Ob das umfassende Reformprojekt mit der Einführung der Republik als Staatsform und der Säkularisierung des Rechts- und Erziehungswesens ohne staatlichen Druck hätte durchgesetzt werden können, steht hier nicht zur Debatte und würde sowieso in den Bereich der Spekulation fallen. Frauenemanzipation war innerhalb dieses kemalistischen Reformprojekts der Nationsbildung, Säkularisierung und Verwestlichung ein zentrales Element. Die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau im Rahmen des neuen Zivilgesetzes nach Schweizer Vorbild, die allgemeine Schulpflicht und die frühe Einführung des Frauenwahlrechts sollten starke Symbole für die kemalistischen Prinzipien und gegen die frühere Theokratie sein, das Streben nach nationaler Einheit und kultureller Autonomie zum Ausdruck bringen und den Bruch mit der Vergangenheit deut–––––––––––––––– 3 4 5

WEDEL, Heidi: 1991, S. 31f. TRIMBERG, Ellen Kay: Revolution from above – Military Bureaucrats and Development in Japan, Turkey, Egypt and Peru. New Brunswick/New Jersey 1978. Atatürk legitimierte in seinen Reden auch das Vergießen von Blut für die Revolution. WEDEL, HEIDI: 1991, S. 33. Das sechste Prinzip, der Republikanismus, meinte also zunächst die neue Staatsform und zumindest für die Frühphase der Republik nicht Demokratisierung.

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lich machen.6 Diese Instrumentalisierung der Frauenfrage bei gleichzeitiger Einschränkung von autonomer Frauenbewegung begannen türkische Feministinnen in den frühen 1980er Jahren zu kritisieren, was im folgenden Kapitel ausgeführt wird. Kurz danach entstanden weitere Identitätsbewegungen, die entgegen dem kemalistischen Verständnis einer homogenen Nation die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitäten innerhalb der Republik und den Schutz damit verbundener kultureller, sozialer und politischer Rechte einklagten. Auch innerhalb dieser Bewegungen waren es vor allem die Frauen, die eine Revision kemalistischer Vorstellungen forderten und selbst vorantrieben. Diese Diskurse, die exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der symbolischen Bedeutung der Frauenfrage sowohl für Modernisierungs- als auch für Identitätspolitiken stehen, sollen hier nachgezeichnet und in ihren gesellschaftlichen Kontext gestellt werden.

Feministische Kritik an der „Frauenbefreiung durch den Staat“ Die Gleichstellung der Frauen gilt weithin als einer der Hauptverdienste des kemalistischen Reformprojekts. Kemalistinnen der ersten Generation wie TAùKIRAN und AFETøNAN betonten die Notwendigkeit der kemalistischen Reformen für die Entwicklung einer demokratischen bürgerlichen Gesellschaft. Für sie war der Status der Frauen ein Maßstab für die Wertschätzung der Menschenwürde und die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine Voraussetzung für die Einheit der Nation.7 Teile der in den 1980er Jahren entstandenen türkischen Frauenbewegung kommentierten die kemalistischen Modernisierungsmaßnahmen und die „Frauenbefreiung durch den Staat“ dagegen sehr kritisch, weil sie nicht weit genug gegangen sei, den privaten Bereich ausgespart habe und eine unabhängige Frauenbewegung behindert habe. Die neuen Feministinnen stellten z.B. heraus, daß die staatlich kontrollierte Frauenbefreiung die Frauen in der Türkei zum Symbol und Objekt der Modernisierung gemacht und ihnen lange die Möglichkeit genommen

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ÇAöATAY, Nilüfer & NUHOöLU-SOYSAL, Yasemin: Frauenbewegungen im nationalen Einigungsprozeß – Die Türkei und andere Länder im Nahen Osten im Vergleich, in: NEUSEL, Ayla et al. (Hg.): Aufstand im Haus der Frauen – Frauenforschung aus der Türkei. Berlin 1991, S. 203; KANDIYOTI, Deniz: End of Empire – Islam, Nationalism and Women in Turkey, in: DIES. (Hg.): Women, Islam and the State. Hampshire/London 1991, S. 43. TAùKIRAN, Tezer: Women in Turkey. østanbul 1976, S. 9, 11.

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habe, in einer unabhängigen Frauenbewegung als Subjekt zu handeln.8 Hier sei nur ein Beispiel angeführt: Bei der im internationalen Vergleich frühen Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen argumentierten führende Politiker mit nationalem Engagement oder mit nationalen Mythen: einerseits mit dem Einsatz von Frauen im Unabhängigkeitskrieg, andererseits mit der politischen Rolle von Frauen bei den Alttürken vor der Islamisierung.9 ùirin TEKELø streicht dagegen die symbolische Funktion heraus: Über das Frauenwahlrecht habe Atatürk seine Partei von den faschistischen Parteien in Deutschland und Italien abgrenzen und die Türkei als demokratischen oder sich demokratisierenden Staat darstellen wollen.10 Diese „paternalistische Großzügigkeit“ (KANDIYOTI) wurde jedoch 1935 zum Anlaß genommen, die einzige noch bestehende Frauenorganisation, die Türkische Frauenvereinigung, mit der Begründung aufzulösen, das Ziel der Gleichberechtigung sei erreicht.11 Nach KANDIYOTI ist diese staatliche Kontrolle über den gleichzeitig staatlich geförderten „Feminismus“ im Zusammenhang mit der damaligen „korporatistischen Populismuspraxis“ zu sehen, nach der die kemalistische Einheitspartei als Vertreterin der gesamten Nation galt und Klassenwidersprüche negiert wurden, was typisch für gerade unabhängig gewordene Staaten war.12 Über nationale Erziehung und gezielte kulturelle Maßnahmen wurde im Einparteienregime eine neue kemalistische Frauenelite geschaffen. Frauen der oberen Mittelschicht und der Oberschicht erhielten Zugang zu höherer Bildung und öffentlichen Positionen (z.B. als Abgeordnete, Wissenschaftlerinnen oder Freiberuflerinnen) und sollten sich an europäisch ausgerichteten Veranstaltungen wie etwa Bällen beteiligen. Die Beteiligung am öffentlichen Leben mußte aber mit einem weiterhin geschlechtshierarchischen Familienleben, die Berufstätigkeit mit der Mutterrolle har–––––––––––––––– 8

Vgl. ÇAöATAY, Nilüfer & NUHOöLU-SOYSAL, Yasemin: 1991, S. 203f. und KANS. 139, die den Begriff von Frauen als „symbolischem Pfand“ prägte. 9 AFETøNAN, Afet: Atatürk ve Türk KadÕn HaklarÕnÕn KazanÕlmasÕ. Ankara 1983 (1962), S. 184, 186. 10 TEKELø, ùirin: Frauen in der türkischen Politik, in: ABADAN-UNAT, Nermin (Hg.): Die Frau in der türkischen Gesellschaft. Frankfurt 1985, S. 265f. 11 Interessanterweise erfolgte die Auflösung zehn Tage nachdem die Türkische Frauenvereinigung in Istanbul den Kongreß der Internationalen Frauenföderation ausgerichtet hatte, bei dem auch pazifistische Forderungen gestellt worden waren. KANDøYOTø, Deniz: 1991, S. 41f. Nach TEKELø, ùirin: Frauen und Politik in der Türkei, in: BERLINER INSTITUT FÜR VERGLEICHENDE SOZIALFORSCHUNG (Hg.): Jahrbuch für vergleichende Sozialforschung 1987–1988. Berlin 1990, S. 80, wurde die Türkische Frauenvereinigung aufgelöst, weil sie sich der Kontrolle der Partei entziehen wollte. 12 KANDøYOTø, Deniz: 1991, S. 42. DIYOTI, Deniz: 1989,

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monisieren. Machtbeziehungen und Rollenverteilungen innerhalb der Familie wurden nicht thematisiert, Frauen wurden zur Erzieherin der Nation stilisiert. So betonte Atatürk immer wieder, daß die wichtigste Aufgabe der Frau die Mutterschaft sei. Europäische Bildung solle es den Frauen ermöglichen, ihre Kinder zu modernen, „zivilisierten“ Menschen zu erziehen.13 Nach KÜPER-BAùGÖL schuf der Kemalismus das Frauenbild der „entsexualisierten Mitstreiterin“, die als national-aufgeklärte Türkin moralisch integer blieb. Diese „kognitive Verschleierung“ sollte die Entschleierung durch die Kemalisten erst ermöglichen.14 Der modernisierende Staat gab so den Rahmen vor, in dem Frauenemanzipation ablaufen sollte. Zwar hatte die neue Frauenbewegung – mit den Worten der Soziologin Nükhet SøRMAN – „von ihren kemalistischen Müttern (…) eine Tradition der Teilnahme am Leben außerhalb des Heimes einschließlich der politischen Arena geerbt“ sowie von der Linken eine Tradition des politischen Aktivismus übernommen. Diese beiden säkularen Bewegungen ähnelten sich aber darin, daß sie die Machtverhältnisse im privaten Bereich vernachlässigten. Dagegen war es das explizite Anliegen der neuen Frauenbewegung, das Politische des Privaten herauszustellen.15 Dies war nicht nur eine Erweiterung des Politikbegriffs, sondern auch eine Kritik am Kemalismus, der politisches und soziales Engagement von Frauen nur so lange förderte, wie die herrschenden Beziehungen zwischen den Geschlechtern nicht in Frage gestellt wurden. Die neue türkische Frauenbewegung wählte bewußt eine lockere, hierarchiefreie Organisationsform und erreichte die Hochphase ihrer Mobilisierung in den späten 80er Jahren. Danach kam es zu einer Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Frauenbewegung. Es wurden Frauenforschungsstellen an führenden Universitäten, aber auch kommunale und autonome Frauenhäuser gegründet. Frauenanliegen fanden Eingang in die Parteien und Gewerkschaften. Jedoch bestand die feministische Bewegung in den frühen 1990er Jahren vor allem aus personell begrenzten Institutio–––––––––––––––– 13 Z.B. in seiner Rede an das Volk, Izmir 31.1.1923; siehe: Atatürk’ün Söylev ve Demeçleri. Bd. 2, østanbul 1952, S. 85. Insofern ist die kemalistische Frauenemanzipation durch den Staat durchaus vergleichbar mit der von HANSEN beschriebenen kontrollierten Emanzipation durch den Hindu-Nationalismus, der sich auf die Strategien Betonung der Dominanz der Mutterrolle im nationalen Diskurs und institutionelles Patriarchat stützt. HANSEN, Thomas B.: Controlled Emancipation – Women and Hindu Nationalism, in: WILSON, Fiona & FREDERIKSEN, Bodil Folke (ed.): Ethnicity, Gender and the Subversion of Nationalism. London 1995, S. 87, 90. 14 KÜPER-BAùGÖL, Sabine: Frauen in der Türkei zwischen Feminismus und Reislamisierung. Münster/Hamburg 1993, S. 145. 15 SøRMAN, Nükhet: Feminismus in der Türkei – Ein Neubeginn?, in: Zeitschrift für Türkeistudien 1 (1990), S. 71ff.

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nen und Organisationen, die z.T. sehr professionell arbeiteten und von hoch qualifizierten Frauen aus der Ober- und Mittelschicht getragen wurden. Die geringe Verbindung zwischen diesen Feministinnen und den Frauen an der Basis gehörte zu den Hauptgründen für das Abklingen der Frauenbewegung. So konnte auch sie – mit der Ausnahme einiger sozialpolitischer Frauenprojekte – nicht die soziale Kluft überwinden, die die kemalistische Frauenbefreiung hinterlassen hatte. Denn die staatlich geförderte kemalistische Frauenbefreiung hatte zwar einem privilegierten Teil der Frauen neue Aktions- und Freiräume eröffnet. Sie war aber nicht von einem umfassenden Kampf zur Beseitigung der sozioökonomischen Ungleichheiten begleitet. Die große Mehrheit der aus ländlichen und städtischen Unterschichten stammenden Frauen wurde von den Reformen kaum erreicht, entweder weil der Staat keinen Zugang zur Peripherie hatte oder weil die Umsetzung der Reformen von männlichen Verwandten blockiert wurde. Auf diese Weise verstärkte sich die soziokulturelle Dichotomie unter den Frauen innerhalb der Republik. Die internen Widersprüche des Modernisierungsprozesses bildeten eine der wichtigsten Ursachen für das Erstarken der islamistischen Bewegung seit den 80er Jahren und die für westliche Beobachter erstaunliche Beteiligung von Frauen an dieser Bewegung.

Frauen in der islamistischen Bewegung16 Der kemalistische Laizismus bedeutete eine Reduzierung der Religion zu einer Privatangelegenheit, die stufenweise Abschaffung jeglichen Religionsunterrichts im Einparteienregime, die Kontrolle des Staates über die Religion und Eingriffe in das private religiöse Leben. Dies wird von der sich dagegen widersetzenden islamistischen Bewegung als Einschränkung der Glaubensfreiheit bezeichnet und bildete eine ihrer Legitimations- und Mobilisierungsgrundlagen. Nach verschiedenen Reislamisierungsschüben, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, stellten die Kommunalwahlen vom 27.3.1994 einen Wendepunkt dar. Denn damals wurde die Refah-Partei (RP) mit 19,09% der Stimmen die drittstärkste Partei landesweit, überschritt damit als erste islamistische Partei seit dem Wahlerfolg der Milli Selamet Partisi –––––––––––––––– 16 Die folgenden Ausführungen sind eine zusammenfassende Aktualisierung von WEDEL, Heidi: Politisch inszenierte Privatheit gegen „Staatsfeminismus“ – Frauen in islamistischen Bewegungen der Republik Türkei, in: KERCHNER, Brigitte & WILDE, Gabriele (Hg.): Staat und Privatheit – Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis. Opladen1997.

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(MSP) 1973 wieder deutlich sichtbar die 10%-Marke und konnte in 28 von 76 Provinzhauptstädten, darunter auch in den Metropolen Istanbul und Ankara, die Kommunalregierung stellen. Bei den nationalen Wahlen 1995 wurde die RP mit 21,32% stärkste Partei. Seit den Wahlen von 2002 stellt die islamisch-konservative AKP mit 34,2% der Stimmen und einer absoluten Mehrheit im Parlament die Regierung.17 Die RP konnte sich als „noch nicht ausprobierte“ Alternative zu einem korrupten Parteienklüngel darstellen, dem es nicht gelungen war, drängende Probleme wie die Verarmung und den bewaffneten Konflikt um die Kurdenfrage zu lösen. Dies machte sie für einen Teil des früher sozialdemokratischen oder kurdischen18 Wählerpotentials attraktiv. Die RP wurde nicht nur als „islamische Partei“ gewählt, sondern auch als Partei, die sich in ihrer Propaganda besonders volksnah gab und am systematischsten und erfolgreichsten an der Basis organisiert war.

Islamismus als Antwort auf den Ausschluß von den Vorteilen der kemalistischen Modernisierung Daß viele sunnitische Frauen gerade aus den ärmeren Schichten 1994 und 1995 die RP gewählt haben, liegt z.T. daran, daß sie die kemalistische Modernisierung durch den Staat entweder direkt negativ erlebt hatten oder zumindest nicht selbst von ihren Vorteilen profitieren konnten, weil ihnen der Zugang zu öffentlichen Bereichen wie Bildung, kulturellen Einrichtungen, Erwerbstätigkeit, Politik etc. verschlossen blieb.19 Dies gilt einerseits –––––––––––––––– 17 Bei den Wahlen 2007 baute sie ihren Stimmanteil auf 46,6 % aus. Die AKP wurde 2001 von einem Teil der ehemaligen Angehörigen der 1998 verbotenen RP bzw. ihrer 2001 verbotenen Nachfolgerin Fazilet Partisi (FP) gegründet. Ein anderer Teil der Abgeordneten bildete damals die Saadet Partisi (SP). 18 Die RP hatte im Vergleich zu kemalistischen Parteien weniger Probleme damit, die Existenz der Kurden und ihrer Sprache anzuerkennen, und machte auch auf Kurdisch Wahlpropaganda. So erhielt die RP bei der Parlamentswahl 1995 in vielen von Kurden bewohnten Provinzen überragende Ergebnisse: Bingöl 51,63%, ElazÕ÷ 41,91%, Malatya 37,19%, Kahramanmaraú 36,80%, AdÕyaman 32,74%, Erzincan 32,37%, A÷rÕ 30,60%. 19 SAKTANBER, Ayúe: Becoming the “Other” as a Muslim in Turkey – Turkish Women vs. Islamist Women, in: New Perspectives on Turkey, Nr. 11 (Herbst 1994), S. 104f., warnt, daß die Erklärung muslimischer Identität in Abgrenzung zur Moderne die Gefahr berge, Frauen zu „Objekten der Geschichte“ zu machen. Ich argumentiere dagegen ähnlich wie GÖLE und øLYASOöLU, daß die Auseinandersetzung mit der Modernisierung zentral ist, wenn Frauen als eine mögliche Strategie der subjektiven und objektiven Verbesserung ihrer Situation eine islamistische Partei unterstützen.

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für Frauen auf dem Lande, aber auch für jene, die in die Großstädte migriert waren und nun in sogenannten Gecekondu-Vierteln leben.20 Da Frauenraum über soziale Nähe und materielle Wohnbedingungen, die den Zugang von „Fremden“ reduzieren, konstituiert wird und diese Bedingungen in der Stadt weniger gegeben sind, ist in der Stadt der räumliche und soziale Radius der Frauen gegenüber dem Dorf eingeschränkt. Die Frauen, die im Dorf meist einen entscheidenden (wenn auch unbezahlten) Beitrag zur Versorgung der Familie geleistet haben, werden in der Stadt auf die Hausfrauenrolle reduziert, was allerdings zunächst als sozialer Aufstieg erlebt wird. Wegen ihres niedrigen formalen Bildungsgrades finden sie meist in der Stadt keine Arbeit oder nur schlecht bezahlte, wenig abgesicherte Arbeitsplätze. Außerdem sind oft die männlichen Verwandten dagegen, daß die Frauen außer Haus arbeiten und dabei mit fremden Männern in Kontakt kommen.21 Die monetaristische außenwirtschaftsorientierte Umstellung der türkischen Wirtschaftspolitik führte zu gesunkenen Reallöhnen bei gleichzeitig steigenden Konsumansprüchen, wodurch Frauen stärker zum Unterhalt der Familie beitragen mußten. Insbesondere verheiratete Frauen mit geringer formaler Qualifikation sahen sich gezwungen, Heimarbeit zu übernehmen oder bei reicheren Frauen als Haushalts-hilfe zu arbeiten. Die so erfahrene relative Deprivation, die noch durch den ausgeprägten westlichen Einfluß über das Fernsehen verstärkt wird, kann Frauen dazu bringen, eine islamistische Ideologie zu übernehmen, die ihre reale Situation nicht als Mangel, sondern als erstrebenswert und gut darstellt. Die Refah-Partei ging in doppelter Hinsicht auf die Situation von Frauen ein, die von den Errungenschaften der Moderne ausgeschlossen blieben. Sie bot einerseits eine ideologische Erklärung für die erfahrenen Spannungen an. Der „westlichen“ Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Aufhebung der räumlichen Geschlechtertrennung wurde eine „islamische“ Komplementarität entgegengesetzt, nach der die Geschlechter unterschiedliche Aufgaben in getrennten Räumen wahrnehmen. Dabei ist der Mann für die materielle Versorgung der Familie zuständig, die Frau dagegen für die Erziehung der Kinder. Daß viele Unterschichtsmänner aufgrund der ökonomischen Entwicklung diese Aufgabe nicht mehr erfüllen können, erklärte die RP mit dem westlich orientierten System der Zinswirtschaft und –––––––––––––––– 20 Gecekondu’s sind Spontansiedlungen von StadtmigrantInnen, denen zunächst jegliche physische und soziale Infrastruktur sowie aufgrund des halblegalen Status' die Wohnsicherheit fehlt. Dieses Unterkapitel beruht überwiegend auf den Ergebnissen meiner Feldforschung in einem solchen Viertel im Rahmen meiner Doktorarbeit: WEDEL, Heidi: Lokale Politik und Geschlechterrollen – Stadtmigrantinnen in türkischen Metropolen. Hamburg 1999, Schriften des DOI. 21 WEDEL, Heidi: 1999, S. 65–72.

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Ausbeutung sowie mit der Korruption der zuvor regierenden Parteien. Dies solle durch ein islamisches „Gerechtes System“ ersetzt werden.22 Im Unterschied zu anderen Parteien versuchte die RP, auch vor der Übernahme von Kommunalverwaltungen mit guter Organisation und finanzieller Ausstattung einzelne Mängel des Sozialsystems auszugleichen und vor allem den Wählerinnen zu zeigen, daß sie mit ihren konkreten Nöten ernst genommen würden. Die RP-Frauenkommissionen führten z.B. eine Sozialerhebung durch, nach deren Ergebnissen sie Lebensmittel an Bedürftige verteilten. Daneben versprachen sie einen Ort für den Verkauf der Handarbeiten von Frauen, „produktivitätssteigernde“ Kurse für Frauen (die sich aber in der Praxis als Handarbeitskurse herausstellten) und die Vermittlung von Heimarbeit zu besseren Konditionen. Die Erwerbstätigkeit von Frauen wurde jedoch nur gefördert, solange sie auf den privaten Raum beschränkt blieb.23 Da es in vielen Gecekondu-Vierteln keinen öffentlichen Versammlungsraum für Frauen gibt und die sozialen Beziehungen der Frauen deshalb auf einen engen Kreis von Verwandten und Bekannten eingeschränkt sind, können regelmäßige religiöse Treffen von sunnitischen Frauen eine Erweiterung ihrer Kontakte darstellen, gegen die ihre Männer aufgrund des religiösen Charakters nichts einzuwenden haben dürften. Diese Zusammenkünfte werden von den Frauen auch genutzt, um über kommunale, familiäre und Frauenprobleme zu sprechen. Manchmal werden dabei auch Kandidatinnen oder frauenspezifische Forderungen für die Wahlen diskutiert. Dies wurde von der RP aufgegriffen und gezielt für das Anwerben von Mitgliedern und Wählerinnen eingesetzt. Während die RP vor den Wahlen gezielt Hausbesuche von Frauen bei Frauen organisierte, wollte sie nach den Wahlen Vertreterinnen für die einzelnen Ebenen vom Bezirk bis zur Straße wählen lassen. Schon ein halbes Jahr nach den Kommunalwahlen zeigte sich jedoch, daß die Vertreterinnen nicht gewählt, sondern von der Kommunalregierung ernannt wurden. Außerdem dienten sie eher der Kontrolle der BewohnerInnen als der Vermittlung ihrer Forderungen an die Kommunalregierung.24 Die Reislamisierung hatte insofern einen politisierenden Effekt auf Frauen, als sie ihnen Selbstvertrauen vermittelte und ihre Erfahrungen, Aktivitätsfelder und Kontakte erweiterte. Sie bedeutete für viele sunniti–––––––––––––––– 22 Eigene Interviews mit VertreterInnen der RP. Vgl. zur islamischen Komplementarität auch KÜPER-BAùGÖL, Sabine 1993, S. 240ff. und zum „Gerechten System“ ÇAKøR, Ruúen: Ne ùeriat ne Demokrasi – Refah Partisini Anlamak. østanbul 1994, S. 133ff. 23 WEDEL, Heidi: 1999, S. 243–245. 24 Eigene Interviews, siehe WEDEL, Heidi: 1999, S. 250.

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sche Migrantinnen keine Einschränkung von räumlicher Mobilität, Kleiderordnung oder Geschlechtersegregation, der sie nicht auch vorher unterlegen hätten, sondern eher eine ideologische Aufwertung ihrer realen Situation. Denn ein wichtiges Argument für die Unterstützung der RP war für die Migrantinnen, daß ihre traditionelle Lebensweise und Kleidung von der kemalistischen Elite als Ausdruck von Rückständigkeit gering geschätzt wurde. Das dadurch erzeugte niedrige Selbstwertgefühl der Frauen bildete einen weiteren Faktor, der sie davon abhielt, Kontakt zu modernen Institutionen aufzunehmen.25 Anhängerinnen der RP betonten als wichtigsten Vorteil der neuen RP-Bezirksregierung, daß sie nun nicht mehr wegen ihrer Kopftücher diskriminiert würden und daß der neue Bürgermeister ihnen mit großem Respekt begegne. So gewannen sie an Selbstvertrauen und hatten erleichterten Zugang zu Institutionen, die ihnen zuvor verschlossen schienen. Die europäisch orientierte Lebensweise – für KemalistInnen der Inbegriff von Fortschritt und Moderne, aber für ärmere Frauen kaum erreichbar – wird von IslamistInnen oft als degenerierte und kommerzialisierte Erscheinung einer oberflächlichen Verwestlichung abgetan. Angesichts der kulturellen Dichotomie, die auch zwischen der Frauenbewegung und den Unterschichtsfrauen besteht, beruhte der Erfolg der Islamistinnen nicht zuletzt darin, daß weder die kemalistische noch die feministische Frauenbewegung in nennenswertem Maße auf die tatsächlichen Probleme dieser Frauen eingegangen waren.

Islamismus als „nichtwestliche Moderne“ Islamistische Bewegungen werden jedoch nicht nur von Unterschichtsfrauen, die von den Vorteilen der Modernisierung ausgeschlossen waren, unterstützt. Unter den Aktivistinnen findet man oft junge, gebildete Frauen der Mittelschicht, die sich für ein anderes, nicht westliches Verständnis von Moderne engagieren. Sie streben die Teilnahme an modernen Institutionen des öffentlichen Bereiches (wie Universitäten, Erwerbstätigkeit im öffentlichen Dienst, Parlament) bei Akzeptanz ihrer eigenen Identität, die v.a. durch islamische Bedeckung symbolisiert wird, an. Bekannt wurden sie als „Kopftuchstudentinnen“, die sich 1987 gegen das Verbot, an den Universitäten Kopftücher zu tragen, und damit gegen ein autoritäres Element der kemalistischen Modernisierung und die damit –––––––––––––––– 25 Bei meiner Untersuchung wurde mir immer wieder von Gecekondu-Frauen berichtet, daß man sie wegen ihrer Kleidung nicht in staatliche Einrichtungen hineingelassen oder nicht zu den zuständigen Beamten vorgelassen habe.

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verbundene Kodierung von Öffentlichkeit und Privatheit auflehnten.26 Es ist davon auszugehen, daß sich viele dieser Studentinnen erst durch den Ausschluß von Prüfungen politisch radikalisierten. Ihre Proteste bewirkten einen Mobilisierungsschub für islamistische Organisationen, die das Regime als islamfeindlich, undemokratisch und repressiv darstellten. Auch für eine kleine Gruppe säkularer Intellektueller und liberaler Demokraten war dies der Anlaß für eine Diskussion über Laizismus und Demokratie27 und eine Kritik an staatlichen Eingriffen ins Privatleben. So wurde der Körper der Frau zum Zentrum einer allgemeinen politischen Diskussion gemacht.28 Zur Erklärung des Phänomens „Kopftuchstudentinnen“ wird auch darauf verwiesen, daß manche Bildungsaufsteigerinnen einen moralischen Konflikt zwischen der konservativen Lebensweise ihrer Herkunftsfamilie und der fortschrittsorientierten Ideologie an Universitäten erleben. Dieser Konflikt könne durch eine islamistische Ideologie, die Bildungsaufstieg bei Beibehaltung der eigenen Kultur verspricht, entschärft werden.29 Weil dies –––––––––––––––– 26 Die 1985 ausgelöste Debatte kristallisierte sich um ein türban genanntes Kopftuch, das plötzlich vermehrt von Studentinnen in den Metropolen getragen wurde. Kemalistische Professorinnen sahen darin ein Propagandamittel der „islamischen Reaktion“. Als das Kopftuch Anfang 1987 vom militärisch dominierten Hochschulrat YÖK verboten wurde, kam es zu Massenprotesten wie Demonstrationen, Sitz- und Hungerstreiks und Telegrammaktionen von Kopftuch tragenden Studentinnen, die das Recht forderten, sich ihrem Glauben entsprechend zu kleiden und Zugang zur universitären Ausbildung zu haben. Ab 1997 wurde das Verbot besonders strikt durchgesetzt. Man sagt, daß Ministerpräsident Erdo÷an wegen des Kopftuchverbots seine Töchter in den USA studieren lasse. 27 Z.B. ùirin TEKELø, Gencay SAYLAN, Autoren der Zeitschrift Birikim und Intellektuelle, die als „Anhänger einer 2. Republik“ bezeichnet wurden. Vgl. KÜPERBAùGÖL, Sabine: 1993, S. 236–239. Zu menschenrechtlichen Bedenken siehe HUMAN RIGHTS WATCH 2004. 28 Ähnliche Einschätzung bei GÖLE, Nilüfer: Modern Mahrem – Medeniyet ve Örtünme. østanbul 1991, S. 79. Die Warnung von KADIOöLU, Ayúe: Women's Subordination in Turkey – Is Islam Really the Villain?, in: The Middle East Journal, Bd. 48 (Herbst 1994), S. 645f., daß der Diskurs über Frauenbekleidung die Herausbildung einer feministischen Bewegung behindere, weil die Frauenanliegen von allgemeinen politischen Debatten (Kemalismus vs. Islamismus) absorbiert würden und die Kontrolle über die Sexualität der Frauen verstärkt werde, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch zeigen die Entwicklungen nach dem Wahlsieg der RP bei den Kommunalwahlen im März 1994, daß gerade diese Gefahr einen Mobilisierungsschub auch bei den säkular orientierten Frauen bewirkte. 29 ACAR, Feride: Was die islamistische Bewegung für Frauen so anziehend macht – Eine Untersuchung über Frauenzeitschriften und eine Gruppe von Studentinnen, in: NEUSEL, Ayla et al. (Hg.): 1991, S. 89 sowie KREILE, Renate: Islamische Fundamentalistinnen – Macht durch Unterwerfung?, in: beiträge zur feministischen

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jedoch oft gegen den Widerstand der Familien erfolgt,30 führen die „Kopftuchstudentinnen“ eine Auseinandersetzung, die mit einem doppelten Ausschlußrisiko verbunden ist. Die meisten dieser Studentinnen können nicht wie die kemalistische Elite in den Genuß einer prestigevollen beruflichen Position kommen, u.a. weil ihnen aufgrund des Kopftuchverbots Berufe wie Anwältin, Ärztin oder Lehrerin nicht zugänglich sind.31 So gewann eine islamistische Ideologie, die zwar Bildung von Frauen befürwortete, jedoch den Verzicht auf Berufstätigkeit idealisierte, an Attraktivität. Islamistische Frauen betonen immer wieder, daß sie nach dem Islam keinerlei materielle Verantwortung für die Familie tragen und nicht zu arbeiten bräuchten. Wenn die Frau Geld verdiene, könne sie dies voll für ihren eigenen Konsum verwenden.32 Gleichzeitig entstand mit dem Anwachsen der islamistischen Bewegung ein neuer, islamistischer Wirtschaftssektor, in dem islamisch bedeckte Frauen arbeiten können.33 Die weibliche islamistische Gegenelite vertrat Vorstellungen, die sich durchaus von denen islamistischer Männer unterschieden. Auch ihre Anhängerinnen in Gecekondu-Vierteln äußerten in Gesprächen ohne Männer den Wunsch nach Berufstätigkeit, Einschränkung der Mutterrolle und akti––––––––––––––––

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theorie und praxis, Bd. 15, Heft 32, Fundamentalismen – Patriarchale Mogelpackungen (1992), S. 23; DIES.: Unterwerfung oder verschleierte Rebellion? Frauen in islamistischen Bewegungen, in: Frauensolidarität, Nr. 50 (1994), S. 9, betont, daß der Rollenkonflikt nicht gelöst, sondern nur vorübergehend stillgelegt wird, weil das Spannungsverhältnis zwischen „individueller Entscheidung und Autonomie einerseits und sozialer Kontrolle und Repression durch die soziale Gemeinschaft andererseits“ nur durch Akzeptanz und Solidarität und nicht durch Anpassung überwunden werden kann. øLYASOöLU, Aynur: Örtülü Kimlik – øslamcÕ KadÕn Kimli÷inin Oluúum Ö÷eleri. østanbul 1994, S. 102f. Die rechtliche Grundlage ist unscharf. Bekleidungsvorschriften wurden von einzelnen Berufsverbänden sowie den Behörden, denen die Bildungseinrichtungen unterstehen, erlassen. Nach PÜMER: The History of Muslim Struggle for Human Rights. østanbul o.J. [1995], wurde das Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst erstmalig 1978 verboten. ACAR, Feride: 1991, S. 90; SAKTANBER, Ayúe: 1994; Pazartesi Nr. 6 (Sept. 95): S. 4, sowie eigenes Interview mit der RP-Frauenkommission von Beykoz. Die RP-Frauenkommission in Ankara versuchte z.B., den Frauen, die wegen ihrer islamischen Bedeckung nicht im öffentlichen Sektor arbeiten durften, über Predigerinnenseminare bei der Arbeitsaufnahme in ihnen nahe stehenden privaten Unternehmen zu helfen. Bei diesen Seminaren wurden Politik, Wirtschaft, Außenpolitik und Umweltfragen unterrichtet. Indem sie das Sprechen vor den anderen Teilnehmerinnen übten, sollten die Frauen außerdem Zivilcourage lernen. Nokta 15.–21.10.1995: S. 23.

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ver politischer Partizipation auf allen Ebenen.34 Sie entwickelten für sich ein neues Bild der muslimischen Frau, das sie bewußt von der von Männern gemachten Tradition abgrenzten, und sprachen von ihren Rechten im Islam, die sich auch und gerade auf den privaten Bereich beziehen.35

Frauenpolitik der Refah-Partei und die Frauenbewegung Dieses positive Ergebnis relativiert sich jedoch, wenn die Politik der islamistischen Parteien analysiert und der Faktor der politischen Macht einbezogen wird. Trotz des großen Beitrags von Frauen zum Wahlerfolg besetzte die RP nach den Kommunalwahlen 1994 keine einzige leitende Funktion mit einer Frau. Die Propagandaarbeit der Frauen wurde als Teil ihrer religiösen Pflichten interpretiert und so ihr Beitrag zum politischen Erfolg verschleiert und ihnen das Recht auf Teilhabe an der politischen Macht abgesprochen. Bei den Parlamentswahlen 1995 war unter den 550 RPKandidaten keine einzige Frau, obwohl sich Frauen beworben hatten. Gerechtfertigt wurde die Ausgrenzung damit, daß im türkischen Parlament das Tragen von Kopftüchern verboten sei. Tatsächlich löste nach den Wahlen 1999 das Kopftuchtragen einer islamistischen Abgeordneten im Parlament einen Sturm der Entrüstung aus; die Abgeordnete durfte den Parlamentseid nicht ablegen und konnte so ihre Funktion nicht wahrnehmen. So wirkten kemalistische und islamistische Ausschlußmechanismen gemeinsam gegen die aktive Partizipation von Frauen mit abweichender Identität. Der Wahlsieg der RP verstärkte die Ängste säkularer Frauen vor dem Islamismus so sehr, daß sie sich mit diesem Phänomen stärker auseinanderzusetzen begannen. Kemalistische Frauen versuchten verstärkt, über Bildungs- und Kulturarbeit die unterdrückten Frauen der Unterschicht auf ihre gesetzlichen Rechte aufmerksam zu machen. Feministinnen entwickelten Verteidigungsstrategien und setzen sich mit dem Frauenbild in islamistischen Zeitschriften auseinander. Die führende feministische Frauenzeitschrift Pazartesi veröffentlichte eine Reportage mit einer islamistischen –––––––––––––––– 34 Interview mit der RP-Frauenkommission in Beykoz und mit RP-Anhängerinnen im Untersuchungsgebiet. 35 Oft wird z.B. herausgestellt, daß Frauen nach dem Islam ein Recht auf sexuelle Befriedigung haben und ihre Kinder nicht selbst zu stillen brauchen. Wenn sie die Hausarbeit nicht machen wollten, müsse der Ehemann eine Haushaltshilfe einstellen, wenn er das bezahlen kann. Sibel ERASLAN, die sich selbst als „gläubige Feministin“ bezeichnet, geht so weit zu sagen, ein Mann dürfe eben nicht heiraten, wenn er keine Haushaltshilfe bezahlen könne. Pazartesi, Nr. 6 (9/95): S. 4f. Diese elitäre Äußerung steht im Widerspruch zu ihrer Kritik, daß die RP allmählich zu einer bürgerlichen Partei werde.

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Feministin. Betont wurde zwar, daß die Islamistinnen ähnlich wie die Kemalistinnen die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit nicht infragestellen, was das Haupthindernis für sie sei, sich konsequent mit dem Sexismus zu beschäftigen.36 Es wurden jedoch durchaus auch gemeinsame Themen und Anliegen deutlich – von der Ausgrenzung von Frauen aus der formalen Politik bis zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Familie. Die Forderung der Feministinnen nach Selbstbestimmung der Identität ist geeignet, die vordringlichen Anliegen der feministischen und der islamistischen Bewegung zu verknüpfen. Diese Haltung fand eine eindrucksvolle Ausformulierung in der Grundsatzerklärung der Istanbuler Frauenplattform vom 22.6.1994: Wir befürworten eine Gesellschaft, in der Menschen mit ihren unterschiedlichen Identitäten zusammenleben können, in der die Individuen je nach ihren Vorstellungen existieren und diese umsetzen können, ohne daß in ihr Recht, sich frei auszudrücken, eingegriffen wird. Wir lehnen es ab, daß den Menschen eine bestimmte politische, sexuelle, kulturelle, religiöse oder ethnische Identität auferlegt wird. ... Die bisherige Umsetzung des Laizismus durch die zentrale Autorität stellt keinen echten Laizismus dar, genauso wenig, wie Laizismus nur durch die Bestimmungen in der Verfassung garantiert werden kann. Eine Garantie des Laizismus ist nur möglich, wenn ein Pluralismus verwirklicht wird, der sicherstellt, daß unterschiedliche Glaubensrichtungen und Identitäten nebeneinander existieren können.

Dieses Flugblatt wurde verboten. Es stellte einen fundamentalen Bruch mit kemalistischen Vorstellungen dar. Diese pluralistische Alternative wäre geeignet, der Polarisierung zwischen AnhängerInnen des Laizismus und von islamistischen Bewegungen ebenso entgegenzuwirken wie dem islamistischen Argument, der Säkularismus sei undemokratisch und repressiv. Sie bietet außerdem einen wichtigen Ansatz zur Beschäftigung mit dem zweiten wichtigen Identitätskonflikt in der Türkei, der kurdischen Frage.

Kritik am türkischen Nationalismus und Identitätspolitiken kurdischer Frauen Mit ihrer eigenen Identität an Gesellschaft und Politik partizipieren zu wollen ist in den 1990er Jahren verstärkt auch von KurdInnen als Anspruch artikuliert worden. Der kemalistische Nationalismus hatte dagegen im Zuge der Nationsbildung alle Bürger der Republik unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit als „Türken“ definiert, Minderheitenrechte nur den nicht-muslimischen Minderheiten zuerkannt und über Jahrzehnte hin–––––––––––––––– 36 Pazartesi Nr. 6 (9/95), S. 3.

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weg die Existenz anderer ethnischer Gruppen negiert. In diesem Zusammenhang wurde die Existenz der kurdischen Sprache geleugnet, ihre Benutzung in öffentlichen Zusammenhängen strafrechtlich verfolgt37 sowie über türkische Erziehung eine Assimilierungspolitik eingeleitet. Kurdische Frauen waren dem Assimilationsdruck weniger ausgesetzt als ihre Männer, die spätestens beim Militärdienst die Staatssprache Türkisch lernten. Außerdem ermöglichen in peripheren Gebieten Familien den Jungen eher einen Schulbesuch als den Mädchen, so daß viele kurdische Dorffrauen kaum eine Möglichkeit hatten, Türkisch zu lernen.38 Dies verstärkte und verstetigte ihren Ausschluß aus dem öffentlichen Leben: beim Zugang zu Erwerbstätigkeit, öffentlichen Einrichtungen, aber auch bei der Informationsaufnahme über politische Entwicklungen und der Teilnahme an politischen Diskussionen. Diese Frauen blieben im ökonomischen, administrativen und politischen Bereich von ihren Männern abhängig und wurden noch stärker auf den privaten Bereich und die damit verbundenen traditionellen Frauenrollen im Bereich der sozialen Reproduktion festgelegt. Die Situation dieser kurdischen Frauen wird angesichts des kemalistischen Modernisierungsverständnisses und des dadurch vermittelten Frauenideals in der Türkei mit extremer Rückständigkeit assoziiert, was Geringschätzung ihrer Person impliziert. Zahlreiche Türkinnen hatten nach MÖNCH-BUCAK aufgrund der kemalistischen Reformen das Gefühl, „als Sendboten einer höheren Kultur im Osten des Landes im Sinne Atatürks wirken zu müssen“ und beteiligten sich als Lehrerinnen und Erzieherinnen aktiv an der Assimilationspolitik.39 Sowohl die türkische als auch die kurdische Seite versuchten, die Rolle von Frauen als „Kulturträgerinnen“ bei –––––––––––––––– 37 Zu rechtlichen Details und neueren Entwicklungen siehe WEDEL, Heidi & DøNÇ, RÕza: Rechtsreform im Rahmen der türkischen EU-Beitrittsbemühungen und die Kurdenfrage, in: NAVEND – ZENTRUM FÜR KURDISCHE STUDIEN E.V. (Hg.): Kurden heute: Hintergründe – Aspekte – Entwicklungen. Bonn 2003. 38 Noch 1990 lag die Analphabetenquote in kurdischen Provinzen wie A÷rÕ, Bitlis, DiyarbakÕr, Hakkari, Mardin, Siirt und Van bei Männern bei 25–29%, bei Frauen dagegen zwischen 56 von 70%, in ùÕrnak sogar bei 42% der Männer und 79% der Frauen. Im Landesdurchschnitt betrug sie nur 11% der Männer und 28% der Frauen. Berechnet nach DEVLET øSTATøSTøK ENSTøTÜSÜ (DøE) 1993: S. 88. 39 MÖNCH-BUCAK, Yayla: Geschlechtsspezifische Auswirkungen der türkischen Kolonialpolitik, in: KURDISTAN-AG ASTA-FU BERLIN/KURDOLOGIE-AG DER UNI HAMBURG (Hg.): Kurdologie – Studien zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Politik Kurdistans und der Kurdinnen und Kurden. Berlin 1994, S. 119–135. Sie zeigt außerdem an Romanen aus der frühen Republikzeit, wie die ethnische Hierarchie mit Geschlechterhierarchie parallel gesetzt wurde: In der Liebe einer kurdischen Rebellin zu einem türkischen Offizier steht das Männlich-Sieghafte symbolisch für die Republik Türkei, das Weiblich-Aufgebende für die kurdische Identität.

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der ideologischen Reproduktion von Kollektivität für ihre nationalistischen Bewegungen zu nutzen: In der Ära der Einparteien-Herrschaft begann der türkische Nationalismus, insbesondere in den ethnisch gemischten alewitischen Gebieten, türkisierte Kurdinnen als Katalysator der Assimilation zu nutzen. Seit 1995 gibt es verstärkte Bildungsangebote für kurdische Frauen in staatlich geförderten Multi-Purpose-Zentren (ÇATOM) in der GAPRegion40, bei denen sich Feministinnen fragen, ob sie nicht v.a. der Assimilation dienen, nämlich dazu, „eine Muttersprache in Vergessenheit zu bringen, indem die Sprache der Mütter verändert wird“.41 Andererseits wurden die Frauen von der kurdischen Bewegung zu Trägerinnen der kurdischen Identität stilisiert, weil sie weniger assimiliert seien. Diese symbolische Rolle ging einher mit einer Kritik und Sanktionierung von Frauen, die durch ihre (moderne) Kleidung und (türkische) Sprache „ihre eigene Identität verleugnen“ und „sich von sich selbst entfremden“,42 und barg die Gefahr, daß der Grund für die geringere Assimilation der Frauen, nämlich ihre Ausgrenzung aus der Öffentlichkeit, festgeschrieben wurde. Auch die im islamischen Raum tradierte Vorstellung, daß die Ehre der Männer von der Kontrolle über die Sexualität der Frauen abhängt, wurde nicht nur im privaten Bereich, sondern auch im bewaffneten Konflikt gegen kurdische Frauen eingesetzt: Einerseits verbreitete der türkische Staat die Propaganda, daß die Frauen in der bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans PKK keine Jungfrauen seien, um sie symbolisch zu entehren und als Gruppe herabzustufen. Andererseits legte die PKK Wert auf die Jungfräulichkeit der Kämpferinnen, praktizierte in den 90er Jahren eine recht strikte Geschlechtertrennung und verbat unter schweren Strafen sexuelle Beziehungen. So herrschte auch hier das Bild von der „entsexuali-

–––––––––––––––– 40 GAP (Güneydo÷u Anadolu Projesi – Südost-Anatolien-Projekt) steht für ein großes regionales Staudamm- und Entwicklungsprojekt. Die GAP-Region umfaßt heute neun, überwiegend kurdische Provinzen zwischen Euphrat und Tigris, die durch das Projekt große soziale Umwälzungen erleben. 41 Ayúe DÜZKAN vs. Ayúe Gül KARAYAZGAN in Pazartesi, Nr. 37 (April 1998): S. 2– 5 und Nr. 38 (Mai 1998): S. 8–10. Zur Diskussion in kurdischen feministischen Zeitschriften siehe AÇIK, Necla: Ulusal Mücadele, KadÕn Mitosu ve KadÕnlarÕn Harekete Geçirilmesi – Türkiye’deki Ça÷daú Kürt KadÕn Dergilerinin Bir Analizi, in: BORA, Aksu & GÜNAL, Asena (Hg.): 90’larda Türkiye’de Feminizm. østanbul 2002, S. 294f. 42 AÇIK, Necla: 2002, S. 289f. mit Zitaten aus der kurdischen Frauenzeitung Yaúamda Özgür KadÕn 1998, vgl. YALÇIN-HECKMANN, Lale: Kurdische Frauen und ethnische Identität, in: INITIATIVE FÜR MENSCHENRECHTE IN KURDISTAN (Hg.): Menschenrechte in Kurdistan – Dokumentation zur internationalen Konferenz Menschenrechte in Kurdistan 14.–16. April 1989. Bremen 1989, S. 120–124.

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sierten Mitstreiterin“.43 Durch sexuelle Mißhandlung und Vergewaltigung von kurdischen Aktivistinnen, weiblichen Angehörigen und Dorfbewohnerinnen durch türkische Sicherheitskräfte wurde wie auch in anderen bewaffneten Konflikten nicht nur die physische und psychische Integrität der betroffenen Frauen angegriffen, sondern auch darauf abgezielt, sie als „entehrte“ Frauen aus ihrer Gemeinschaft auszugrenzen, oft mit den tödlichen Folgen eines „Ehrenmordes“. So potenzierte die Gewalt gegen Frauen durch nicht-staatliche Täter die Gewalt durch staatliche Täter. Die Scham der vergewaltigten Kurdinnen, ihr Schuldgefühl und die Angst vor sozialer Isolation verstärkten die psychologischen Folgen und behinderten eine Dokumentation dieser schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung. Dieses Tabu wurde vor allem durch die Gründung eines Rechtshilfeprojektes gebrochen, das seit 1997 in Haft vergewaltigten und sexuell mißbrauchten Frauen hilft, Gerechtigkeit einzuklagen und gerichtlich gegen die Straflosigkeit der Täter zu vorzugehen.44

Zivilgesellschaftliche Kritik an Nationalismus und Militarismus FREDERIKSEN verdeutlicht am Beispiel Kenia, daß ethnische Ungleichheiten mit sozialer Basis die Unterordnung der Frauen in der unterdrückten Gruppe verstärken, sie aber in der bevorzugten Gruppe verringern können. Durch diese Unterschiede werde eine Politisierung der Frauen als Gruppe erschwert.45 Im Fall der Türkei führten die ethnisch-sozialen Ungleichheiten dazu, daß die verschiedenen Ebenen der Unterdrückung, mit denen Frauen konfrontiert waren, von Frauen in den verschiedenen sozialen Bewegungen unterschiedlich gewichtet wurden. Eine Zusammenarbeit zwischen der – überwiegend türkischen – feministischen Bewegung und Frauen in der kurdischen Bewegung wurde jedoch dadurch möglich, daß Teile –––––––––––––––– 43 WEDEL, Heidi: Frauenbewegung und Nationalbewegung – Ein Widerspruch? Gefahren und Chancen am Beispiel der Türkei und Kurdistans, in: SAVELSBERG, Eva et al. (Hg.): Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen Frau. 2000, S. 117f. 44 WEDEL, Heidi: Strategische Allianzen gegen sexuelle Gewalt – Die Zusammenarbeit internationaler und nationaler Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, in: WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, Nr. 36 (2002), S. 112f. Mit einem noch größeren Tabu sind die schon 1997 von ÇÜRÜKKAYA behaupteten Vergewaltigungen von Frauen durch PKK-Führer belegt: ÇÜRÜKKAYA, Selim: PKK – Die Diktatur des Abdullah Öcalan. Frankfurt 1997, S. 171f. 45 FREDERIKSEN, Bodil Folke: Gender, Ethnicity and Popular Culture in Kenya, in: WILSON, Fiona & FREDERIKSEN, Bodil Folke (ed.): Ethnicity, Gender and the Subversion of Nationalism. London 1995, S. 58.

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der feministischen Bewegung sich sehr kritisch mit dem türkischen Nationalismus auseinandersetzten und daß kurdische Frauen eigene Organisationen und Organe aufbauten. Diese Entwicklung und die jeweiligen Positionen sollen hier kurz umrissen werden. In der Türkei begann die Frauenbewegung in den frühen 1980er Jahren, sich mit Gewalt gegen Frauen in der „privaten“ Sphäre zu beschäftigen und erfolgreich zu diesem Thema zu mobilisieren. Die Menschenrechtsbewegung, die wenige Jahre später entstand, konzentrierte sich dagegen auf die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den Staat (und Übergriffe bewaffneter Oppositionsgruppen). Obwohl innerhalb der Menschenrechtsbewegung Frauen von Beginn an zahlenmäßig sehr stark vertreten waren, spielten Menschenrechtsverletzungen an Frauen in den ersten zehn Jahren nur eine marginale Rolle für die erste und bis heute größte Menschenrechtsorganisation in der Türkei, den Menschenrechtsverein (øHD).46 Die Methoden der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen waren weitestgehend geschlechtsneutral und damit geschlechtsblind. Trotz gewisser personeller Überschneidungen gab es wenig Zusammenarbeit zwischen der Frauen- und der Menschenrechtsbewegung. Die beiden Bewegungen warfen sich gegenseitig vor, nur gegen private Gewalt bzw. nur gegen staatliche Gewalt zu arbeiten. Der bewaffnete Konflikt zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK erschwerten eine Zusammenarbeit zusätzlich, weil er die Gesellschaft polarisierte. Außerdem mußten Frauenrechtlerinnen Repressionen von beiden Konfliktparteien befürchten. Die massiven Menschenrechtsverletzungen an KurdInnen bis hin zu extralegalen Hinrichtungen am hellichten Tage ließen vermutlich Teile der türkischen Frauenbewegung davor zurückschrecken, sich öffentlich gegen staatliche Gewalt zu äußern und damit selbst zur Zielscheibe von staatlicher Repression zu werden. Und als schließlich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre feministische kurdische Frauenorganisationen entstanden, –––––––––––––––– 46 1995 waren nach Angaben der stellvertretenden øHD Vorsitzenden Eren Keskin ungefähr die Hälfte aller øHD Mitglieder Frauen, während unter den aktiven Mitgliedern und in den Vorständen Frauen überwogen. 2004 berichtete die heutige stellvertretende Vorsitzende, Reyhan YalçÕnda÷, daß 38% der 16.000 øHDMitglieder Frauen seien (ai-Journal 6/2004: 14). Der hohe Anteil von Frauen erklärt sich einerseits damit, daß im allgemeinen in der Türkei der Anteil von Frauen in den Berufen, die in der Menschenrechtsbewegung stark vertreten sind (vor allem AnwältInnen, zu einem geringeren Anteil auch ÄrztInnen) höher ist als in Westeuropa. Zum anderen besteht die zweite wichtige Gruppe unter den Mitgliedern aus Angehörigen von politisch Verfolgten. Da in den 1970er Jahren überwiegend Männer in der radikalen politischen Opposition aktiv waren und anschließend politisch verfolgt wurden, waren es vor allem ihre Frauen und Mütter, die sich vor den Gefängnistoren zusammenschlossen und später zusammen mit Intellektuellen, AnwältInnen und ÄrztInnen 1986 den Menschenrechtsverein gründeten.

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sahen sich die kurdischen Frauenrechtlerinnen schweren Vorwürfen seitens kurdischer Männer ausgesetzt, weil sie es wagten, sich während des bewaffneten Konfliktes, d.h. in einer Situation äußerster Bedrohung „von außen“, mit der Gewalt innerhalb der „eigenen“ Gruppe auseinanderzusetzen und diese gar öffentlich zu machen.47 Sexuelle Folter als Schnittpunkt von politisch-staatlicher und geschlechtsspezifisch-sexueller Gewalt führte zu Beginn des Jahres 1993 erstmalig die Anliegen von türkischen und kurdischen Frauen zusammen. Am Anfang standen gemeinsame Diskussionen sowie eine Kampagne gegen Vergewaltigungen in der Ehe und im Krieg, die überwiegend die Massenvergewaltigungen in Bosnien thematisierte – ein Thema, für das die türkische Öffentlichkeit sehr empfänglich war. Aber auch der bewaffnete Konflikt im eigenen Land und die Vergewaltigungen kurdischer Frauen wurden in diesem Kontext angesprochen. Wie sehr die türkische Staatssicherheit eine öffentliche Diskussion über dieses Thema behinderte, zeigte sich z.B. an dem Verbot eines Flugblattes der Istanbuler Frauenplattform zum Weltfriedenstag 1994, in dem die Vergewaltigungen im Krieg wieder aufgegriffen, aber auch die Beteiligung von Frauen an der Reproduktion des Krieges, die Verarmung durch Ressourcentransfer in die Waffenproduktion, Heldenideologien zur Legitimierung von Kriegen und das Sterben „für das Vaterland“ kritisiert wurden. Nur der letzte Satz „Wir wollen auch in der Türkei Frieden“ signalisierte, daß damit auch der türkisch-kurdische Kontext gemeint war. Im August 1993 wurde die erste kurdische Frauenorganisation (Ulusal Demokratik KadÕn Derne÷i) gegründet, die allerdings nach wenigen Monaten wieder verboten wurde. Sie bezeichnete sich als „nicht feministisch“, wollte aber gleichzeitig gegen die nationale, ökonomische und geschlechtsspezifische Unterdrückung der Kurdinnen kämpfen. Im Herbst 1993 begannen Gespräche zwischen türkischen und kurdischen Frauen über den eigenen Rassismus. Der internationale Rahmen und Schutz vor Repression, den die Jahreshauptversammlung der internationalen Bürgerrechtsorganisation Helsinki Citizens Assembly in Ankara im Dezember 1993 bot, wirkte wahrscheinlich förderlich für diesen Dialog. Die seit 1995 erscheinende feministische Zeitschrift Pazartesi machte an einprägsamen Beispielen die Verbindung zwischen Sexismus, Militarismus, Etatismus und Nationalismus deutlich. 1996 wurde die erste Frauenfriedensinitiative (BarÕú için KadÕn ønisyatifi) gebildet, ein heterogenes Spektrum von türkischen und kurdischen Frauen, die sich bewußt nicht formell und hierarchisch organisierten. Während der VN-Konferenz zum Wohnungs- und Siedlungswesen (Habitat II) in Istanbul im Sommer 1996 fanden verschiedene Treffen, –––––––––––––––– 47 Eigene Gespräche mit wichtigen kurdischen Frauenrechtlerinnen.

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auch mit ausländischen Organisationen, statt. Diese Initiative konnte jedoch nicht die angestrebte Kontinuität erreichen. 1996 meldeten sich dann erstmalig kurdische Feministinnen organisiert zu Wort; sie gründeten Zeitschriften (Roza und Jujîn), und Vereine (Kamer, 1997, erstes Frauenzentrum in Diyarbakir). 1997 bildete sich eine Fraueninitiative gegen Vergewaltigung im Krieg (Savaúta Tecavüze KarúÕ KadÕn Giriúimi). Überwiegend kurdische, aber auch türkische Frauenorganisationen beobachteten die Gerichtsprozesse gegen uniformierte Vergewaltiger, die auf Druck der sich entwickelnden Gegenöffentlichkeit eröffnet wurden. Gleichzeitig gründeten Rechtsanwältinnen und Menschenrechtlerinnen in Istanbul das schon erwähnte Rechtshilfeprojekt für in Haft sexuell mißbrauchte und vergewaltigte Frauen (GözaltÕnda cinsel taciz ve tecavüze karúÕ hukuki yardÕm projesi). In der Folge wurden auch in verschiedenen kurdischen Städten Frauenorganisationen gebildet, die sich mit verschiedenen Aspekten der Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen beschäftigen und konkrete Hilfsangebote, Kurse und Selbsthilfegruppen anbieten.

Modernisierung, Nationalismus, Identität und Geschlecht Über die kemalistischen Reformen hatten Frauen in der Türkei Zugang zu bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit erlangt, und Kemalisten gingen davon aus, daß über ihre Reformen die Gleichheit der Geschlechter erreicht worden sei. In den 1980er Jahren begannen jedoch Frauen in unterschiedlichen Zirkeln zu kritisieren, daß ihre Teilnahme an der Öffentlichkeit an bestimmte Frauenbilder gebunden war und daß die Ungleichheit der Geschlechter vor allem im privaten Bereich nicht überwunden sei. Sie begannen, sich gegen Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen auch im privaten Bereich zu wehren und einige Prinzipien des Kemalismus in Frage zu stellen. Außerdem begannen Frauen, die zuvor kaum in die Öffentlichkeit getreten waren, sich mit ihren eigenen, vom Kemalismus entweder als rückständig kritisierten oder als separatistisch negierten Identitäten als gläubige Musliminnen oder Kurdinnen sozial und politisch zu engagieren und die Anerkennung dieser Identitäten einzuklagen. Das kemalistische und andere Beispiele zeigen, daß die Frauen, die symbolisch in öffentliche Funktionen übernommen werden, entweder einer bestimmten ökonomischen Schicht (in der Türkei der städtischen, gebildeten Oberschicht), bestimmten Stämmen bzw. Familien wie z.B. in Palästina entstammen, oder mit bekannten männlichen Führungspersönlichkeiten verwandt sind wie z.B. in Südasien. Nationalistinnen erfüllen oft eine „zivilisatorische“ Funktion und tragen so zur Verstärkung von Klassen- oder

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Rasseunterschieden zwischen den Frauen bei.48 Durch die kulturelle Kluft entsprechen die oft von oben nach unten auferlegten Reformen nicht der Lebensrealität der Masse der Frauen, können sie entweder nicht erreichen oder werden von ihnen nicht akzeptiert. Auch die neue feministische Bewegung wird von einer Bildungselite dominiert. Die führenden Frauen in der islamistischen Bewegung gehören zwar auch zu einer Elite, aber über den islamischen Diskurs und soziales Engagement gelingt ihnen eher ein direkter Kontakt zur ärmeren Bevölkerung. Die in der kurdischen Bewegung engagierten jungen Frauen stammen dagegen meist selbst aus Dörfern oder den Gecekondu-Vierteln der MigrantInnen. Die kulturelle Nähe erleichtert es ihnen, politische und soziale Netzwerke auf der Basis gleichberechtigter Kooperation aufzubauen. In neu gegründeten Nationalstaaten, die davon ausgehen, daß für die Mobilisierung der Massen die Macht in der Einheitsbewegung zentralisiert werden muß, und die unterschiedliche Klassen und Volksgruppen ignorieren, werden bestehende Frauenorganisationen oft entweder verboten oder in die Struktur von Einparteienregimen inkorporiert. Die Existenz von unabhängigen Frauenorganisationen wird nicht toleriert. Die verbleibenden Organisationen werden zur Mobilisierung für „allgemeine“, nationale Ziele genutzt, so auch in den ersten Jahrzehnten der Republik Türkei.49 Nach einem erweiterten Demokratieverständnis wird dagegen heute die aktive Partizipation aller Mitglieder der Gesellschaft angestrebt, was auch die Artikulation spezifischer Interessen und Bedürfnisse sowie das Engagement für deren Umsetzung einschließt. Darunter fallen geschlechtsspezifische Bedürfnisse ebenso wie die Bedürfnisse sozioökonomischer, religiöser oder ethnischer Gruppen. Jedoch betonen auch religiöse und ethnische Identitätsbewegungen meist die „Einheit der eigenen Gruppe“ und leugnen die Existenz von Differenzen innerhalb dieser Gruppe. Nationalstaaten binden oft den Zutritt von Frauen in die von Männern dominierte Öffentlichkeit an bestimmte Frauenbilder, so daß nur jene Frauen, die diesem Bild entsprechen, in der Öffentlichkeit zugelassen werden. Durch die kurdische Bewegung und teilweise auch durch die islamistische Bewegung wurde das Bild der Frau als unterdrücktem Opfer durch das Bild der aktiven Kämpferin bzw. verschleierten Demonstrantin ersetzt, was langfristig die Rolle der Frau in der Gesellschaft stärken kann. Jedoch er–––––––––––––––– 48 KATZ, Sheila Hannah: Adam and Adama – 'Ird and Ard – En-gendering Political Conflict and Identity in Early Jewish and Palestinian Nationalisms, in: KANDIYOTI, Deniz (Hg.): 1996, S. 98. Zur Anwendung auf den türkisch-kurdischen Kontext siehe WEDEL, Heidi: 2000. 49 Vgl. ÇAöATAY, Nilüfer & NUHOöLU-SOYSAL, Yasemin: 1991, S. 207, jedoch nicht für die Türkei.

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folgt auch hier – ähnlich wie bei den Kemalisten – eine Festlegung von Frauen auf bestimmte entsexualisierte Rollen. Identitätsbewegungen wehren sich vordringlich gegen die Diskriminierung einer bestimmten, meist ethnischen oder religiösen Identität und vernachlässigen dabei geschlechtsspezifische Auswirkungen. Ich habe dagegen versucht zu zeigen, daß die verschiedenen Formen von Diskriminierung und Gewalt in der Praxis eng miteinander verwoben werden, um ihre Wirkung zu verstärken.50 Wenn Identitätsbewegungen geschlechtsblind bleiben, machen sie sich angreifbar: Solange die Sexualität der Frauen als „Ehre“ der Männer definiert wird, kann sexuelle Gewalt als Waffe in Identitätskonflikten eingesetzt werden, um nicht nur die betroffene Frau, sondern auch ihre Gruppe zu erniedrigen. Aber auch in Friedenszeiten ist die Überwindung der geschlechtshierarchischen Strukturen in der Familie nötig, wenn die volle Partizipation von Frauen in Gesellschaft und Politik gewünscht ist. Werden die Machtstrukturen im „privaten“ Bereich ausgeblendet, behindern sie die Möglichkeiten von Frauen, sich im öffentlichen Bereich zu engagieren. Die hier vorgestellten sozialen Bewegungen wehren sich mit unterschiedlichen Prioritäten gegen die vom Kemalismus starr festgelegten Identitäten: die Feministinnen vor allem gegen die Ausblendung der sexuellen Selbstbestimmung und gegen Gewalt im privaten Bereich. Die Islamistinnen agieren gegen eine europäisch orientierte Laizismus-konzeption, die ihrer religiösen Praxis entgegensteht, sowie gegen eine hierarchische kulturelle Dichotomie, die mit ungleicher Verteilung von ökonomischer und politischer Macht einhergeht. Kurdinnen schließlich wehren sich gegen die Unterdrückung ihrer ethnischen Identität mittels physischer, ökonomischer und kultureller Gewalt. Dagegen wären „eine weniger scharf abgegrenzte ‚nationale Identität‘ und multiple Loyalitäten (…) notwendige Bedingungen für durchlässigere Grenzen zwischen nationalen Gruppen, Völkern und Staaten.“51 Gegen eine kulturell (islamistisch, türkisch, kurdisch) begründete Konstruktion von Geschlecht, die meist zur Kontrolle oder Eingrenzung von Frauen auf bestimmte Rollen benutzt wird, haben Frauen in der Türkei begonnen, ein eigenes Frauenbild setzen, das die multiplen Identitäten von Frauen zuläßt und ihre unterschiedliche sozioökonomische Situation berücksichtigt. Dies könnte ein Vorbild für eine Pluralisierung und Demokratisierung der Gesellschaft sein. –––––––––––––––– 50 WEDEL, Heidi: 2000, S. 111–116. 51 RUMPF, Mechthild: Staatsgewalt, Nationalismus und Krieg – Ihre Bedeutung für das Geschlechterverhältnis, in: KREISKY, Eva & SAUER, Birgit (Hg.): Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft – Eine Einführung. Frankfurt/New York 1995, S. 226.

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Feminismus

und

MÖNCH-BUCAK, Yayla: Geschlechtsspezifische Auswirkungen der türkischen Kolonialpolitik, in: KURDISTAN-AG ASTA-FU BERLIN/KURDOLOGIE-AG DER UNI HAMBURG (Hg.): Kurdologie – Studien zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Politik Kurdistans und der Kurdinnen und Kurden. Berlin 1994, S. 119–135. PÜMER: The History of Muslim Struggle for Human Rights. østanbul o.J. [1995]. RUMPF, Mechthild: Staatsgewalt, Nationalismus und Krieg – Ihre Bedeutung für das Geschlechterverhältnis, in: KREISKY, Eva & SAUER, Birgit (Hg.): Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft – Eine Einführung. Frankfurt/New York 1995, S. 223–254. SAKTANBER, Ayúe: Becoming the “Other” as a Muslim in Turkey – Turkish Women vs. Islamist Women, in: New Perspectives on Turkey, Nr. 11 (Herbst 1994), S. 99– 134. SøRMAN, Nükhet: Feminismus in der Türkei – Ein Neubeginn?, in: Zeitschrift für Türkeistudien 1 (1990), S. 47–76. TAùKIRAN, Tezer: Women in Turkey. østanbul 1976. TEKELø, ùirin: Frauen in der türkischen Politik, in: ABADAN-UNAT, Nermin (Hg.): Die Frau in der türkischen Gesellschaft. Frankfurt 1985, S. 259–282. DIES.: Frauen und Politik in der Türkei, in: BERLINER INSTITUT FÜR VERGLEICHENDE SOZIALFORSCHUNG (Hg.): Jahrbuch für vergleichende Sozialforschung 1987–1988. Berlin 1990, S. 71–87. TRIMBERG, Ellen Kay: Revolution from above – Military Bureaucrats and Development in Japan, Turkey, Egypt and Peru. New Brunswick/New Jersey 1978. WEDEL, Heidi: Der türkische Weg zwischen Laizismus und Islam – Zur Entwicklung des Laizismusverständnisses in der Türkischen Republik. Opladen 1991, Studien und Arbeiten des Zentrums für Türkeistudien, Bd. 6. DIES.: Politisch inszenierte Privatheit gegen „Staatsfeminismus“ – Frauen in islamistischen Bewegungen der Republik Türkei, in: KERCHNER, Brigitte & WILDE, Gabriele (Hg.): Staat und Privatheit – Aktuelle Studien zu einem schwierigen Verhältnis. Opladen 1997, S. 285–308.

Die undankbaren Enkelinnen

453

DIES.: Lokale Politik und Geschlechterrollen – Stadtmigrantinnen in türkischen Metropolen. Hamburg 1999, Schriften des Deutschen Orient-Instituts. DIES.: Frauenbewegung und Nationalbewegung – Ein Widerspruch? Gefahren und Chancen am Beispiel der Türkei und Kurdistans, in: SAVELSBERG, Eva et al. (Hg.): Kurdische Frauen und das Bild der kurdischen Frau. Münster 2000, S. 105–127. DIES.: Strategische Allianzen gegen sexuelle Gewalt – Die Zusammenarbeit internationaler und nationaler Menschenrechtsorganisationen in der Türkei, in: WeltTrends – Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, Nr. 36 (2002), S. 103–121. WEDEL, Heidi & DøNÇ, RÕza: Rechtsreform im Rahmen der türkischen EUBeitrittsbemühungen und die Kurdenfrage, in: NAVEND – ZENTRUM FÜR KURDISCHE STUDIEN E.V. (Hg.): Kurden heute: Hintergründe – Aspekte – Entwicklungen. Bonn 2003, S. 69–99. YALÇIN-HECKMANN, Lale: Kurdische Frauen und ethnische Identität, in: INITIATIVE FÜR MENSCHENRECHTE IN KURDISTAN (Hg.): Menschenrechte in Kurdistan – Dokumentation zur internationalen Konferenz Menschenrechte in Kurdistan 14.– 16. April 1989. Bremen 1989, S. 120–124.

Zu den Mitwirkenden dieses Bandes Sabine ADATEPE studierte Turkologie, Iranistik und Germanistik in Hamburg, wo sie, nach Arbeits- und Studienaufenthalt 1996–1999 in Istanbul, auch wieder lebt und u.a. als freie Übersetzerin und Publizistin tätig ist. Der Artikel „Das osmanische Muster“ basiert auf ihrer Magisterarbeit bei Prof. Dr. Petra Kappert 1995. Aktuelle Publikation: Sabahattin, Ali, in: Kritisches Lexikon für fremdsprachige Gegenwartsliteratur (KLfG), 73. Nlg., 6/2007, S. 1–13. Petra de BRUIJN, Dr. phil., studierte Turkologie an der Universität Leiden. Im Sommersemester 2005 vertrat sie den Lehrstuhl Turkologie an der Universität Bamberg. Zurzeit arbeitet sie als Universitätsdozentin in der Abteilung Turkologie der Universität Leiden. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit dem spätosmanischen Versdrama. Schwerpunkte ihrer Forschungsaktivitäten sind: Modernismus und Postmodernismus in der türkische Literatur des 20. Jahrhunderts und dem Verhältnis im Erzählen in gegenwärtigen türkischen Romanen und türkischen Filmen. Publikationen: The Two Worlds of Eúber. Western Orientated Verse Drama and Ottoman Turkish Poetry by ҵAbdülhakk Hamid (Tarhan). Leiden, Research School CNWS, 1997; Bihzad meets Bellini. Islamic Miniature Painting and Storytelling as Intertextual Devices in Orhan Pamuk’s My Name is Red, in: Persica 21, G.R. van den BERG and A.A. SEYEDGOHRAB eds., Leuven 2006–2007, pp. 9–32. Christiane CZYGAN, M.A., studierte Turkologie, Geschichte und Französische Literatur an der Universität Hamburg. Während ihres Studienjahres und kürzeren späteren Aufenthalten in Istanbul nahm sie Osmanischunterricht bei Orhan Saik Gökyay. In ihrer Magisterarbeit untersuchte sie mit Caylak aus dem Jahre 1876/77 eine der ersten Satirezeitschriften unter dem Aspekt des Istanbuler Alltagslebens. Ihr Dissertationsvorhaben behandelt die jungosmanische Zeitung Hurriyet. Neben internationalen Vorträgen gibt sie seit 2004 Einführungen zum wissenschaftlichen Arbeiten sowie osmanische Lektüreveranstaltungen an der Universität Hamburg. Publikationen u.a.: The Self-portrait of the Yeni Osmanlilar Cemiyeti in the Journal Hurriyet, in: UNBEHAUN, Horst (Hg.): The Middle Eastern Press as a Forum for Literature. Frankfurt/Main 2004; On the wrong way: Criticism on the Tanzimat economy in the Young Ottoman Journal Hürri-

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yet, in: PROCHÁZKA-EISL, Gisela & STROHMEIER, Martin (Hg.): The Economy as an Issue in the Middle Eastern Press. Münster u.a. 2008. Suraiya FAROQHI ist Professorin an der Bilgi Universität, Istanbul: bis zur Pensionierung 2007 war sie Professorin an der Ludwig Maximilians Universität München, Institut für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients sowie für Turkologie (Nahost-Institut). Studium an den Universitäten Hamburg, Istanbul und Indiana University/Bloomington. Berufliche Tätigkeit: 1971–87 an der Orta Do÷u Teknik Üniversitesi in Ankara, 1988–2007 LMU München. Gastprofessuren in St Louis, Istanbul, Ankara, Minneapolis und Hanover/New Hampshire. Autorin u. a. von: Towns and Townsmen of Ottoman Anatolia, Trade, Crafts and Food Production in an Urban Setting (Cambridge: CUP, 1984); Men of Modest Substance, House Owners and House Property in Seventeenth-Century Ankara and Kayseri (ebenda, 1987); Pilgrims and Sultans, The Haj under the Ottomans (London: I.B. Tauris, 1994); Kultur und Alltag im Osmanischen Reich (München: C. H.Beck, 1995); Approaching Ottoman History, an Introduction to the Sources (Cambridge: CUP, 1999); The Ottoman Empire and the World around it (London: I. B: Tauris, 2004); außerdem Verfasserin der Sektion ‚Crisis and Change 1590–1699‘ in der von Halil INALCIK und Donald QUATAERT herausgegebenen An Economic and Social History of the Ottoman Empire (S. 411–636). Herausgeberin von Bd. 3 der Cambridge History of Turkey, The Later Ottoman Empire. Mehrere Aufsatzbände, unter denen „Another Mirror for Princes. The public image of the Ottoman sultans and its reception” (Istanbul: Isis, geplant für November 2008) der neueste ist. Hendrik FENZ, PD Dr. phil. habil., studierte Turkologie, Ethnologie, Lateinamerikastudien in Berlin, Hamburg und Izmir. 2003 erfolgte die Promotion in Hamburg über Transformation und Nationalismus in Aserbaidschan (Karl-Heinz-Ditze Preis 2004), Im Jahr 2006 Habilitation über Militär, Sicherheit und Demokratie in der Türkei. Privatdozent am AsienAfrika-Institut der Universität Hamburg. Publikationen (Auswahl): Militär – Gesellschaft – Konflikt: Potential und Defizite der Türkei als friedensstabilisierender Regionalmacht. BadenBaden: Nomos (i.E.); Islamistic conspiracy in Germany? An account of the Kaplan State, in: CONRAD, Lawrence & JOKISCH, Benjamin & REBSTOCK, Ulrich (Hg.): Fremde, Feinde und Kurioses: Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Berlin: deGruyter 2009 (i.E.); Brücke oder Bollwerk. Die Rolle der Türkei im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), in: CLEMENS, Gabriele (Hg.): Die Türkei und Europa. Hamburg 2007, S. 259–274; Zwischen ethnischer

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und nationaler Identität: Minorité agissante im Kaukasus der Jahrhundertwende, in: FENZ, Hendrik (Hg.) & KAPPERT, Petra: Turkologie für das 21. Jahrhundert. Herausforderungen zwischen Tradition und Moderne. Tagungsband zur Turkologenkonferenz 1999. Wiesbaden 2006; The Limits of Democratization in Postauthoritarian States: The Case of Azerbaijan, in: OSCE-Yearbook 2004. Baden-Baden 2005. Detlev Finke, M.A., studierte Turkologie an der Universität Hamburg bei Prof. Dr. Flemming und Prof. Dr. Kappert, sowie Islamwissenschaft und Geschichte, über zweijähriger Aufenthalt in der Türkei, 1991 Abschluß Magister Artium, seitdem Lehrbeauftragter für Osmanisch und Alttürkisch an der Universität Hamburg, daneben Tätigkeit als Übersetzer. Publikationen: Bilge, Muammer: Der Sohn bleibt in Deutschland. Erzählungen, aus dem Türkischen von Detlev Finke, Duisburg 1989; Mazhar, Ahmed, in: Encylopaedia Aethiopica, ed. Siegbert UHLIG, Vol. 3, Wiesbaden 2007, S. 894–896; Towards a Classification of the Ottoman Fiscal Surveys (Tapu tahrir defterleri, Defatir-i hakaniye), 15th and 16th centuries, in: Essays on Ottoman Civilization. Proceedings of the XIIth Congress of the Comité International d’Études Pré-Ottomanes et Ottomanes, Praha 1996 (Archiv Orientální Supplementa VIII). Praha 1998, S. 129–136. Barbara FLEMMING, Prof. Dr. Dr. h.c., PhD UCLA, Habil. Univ. Hamburg, Dr. h.c. Univ. Hamburg. Von 1977 bis 1997 war sie Professorin für Turkologie an der Universität Leiden. In den Jahren 1961 bis 1964 wiss. Mitarbeiterin KOHD, von 1964 bis 1971 wiss. Assistentin. Zwischen 1971 und 1977 arbeitete sie als Privatdozentin und Wiss. Oberrätin am Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients der Universität Hamburg. Neuere Publikationen: FLEMMING, Barbara & SCHMIDT, Jan: The Diary of Karl Süssheim (1878–1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Stuttgart 2002; Teilhabe von Frauen an der älteren islamischen Mystik (9. bis 16. Jahrhundert), in: WZKM 93 (2003); Old Anatolian Turkish poetry in its relationship to the Persian tradition, in: JOHANSON, Lars & BULUT, Christiane (Hg.): Turkic-Iranian Contact Areas. Wiesbaden 2006; Festschrift: Jan SCHMIDT (Hg.): Barbara Flemming ArmaۜanÕ, Journal of Turkish Studies 26/1–2, Harvard University, 2002. Mediha GÖBENLI, Dr. phil. habil., geboren in Malatya, studierte an der Universität Göttingen Turkologie, Politikwissenschaften und Pädagogik. 1999 promovierte sie bei Prof. Dr. Kappert an der Universität Hamburg zum Thema Zeitgenössische türkische Frauenliteratur: Eine vergleichende Literaturanalyse ausgewählter Werke von Leylâ Erbil, Füruzan, PÕnar Kür und Aysel ÖzakÕn (Berlin: Klaus Schwarz, 2003). Seit März 2000 arbeitet

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sie an der Yeditepe Universität (Istanbul), wo sie komparatistisch über Migrantenliteratur, Exilliteratur, Frauenliteratur und sozial-realistische Literatur lehrt. 2005 erschien ihr Buch Direnmenin Esteti÷ine Güven: KarúÕlaútÕrmalÕ Edebiyat Ba÷lamÕnda Peter Weiss ve Vedat Türkali (østanbul: Donkiúot YayÕnlarÕ). 2006 erwarb sie ihre türkische Habilitation. Gerd GROPP, Dr. phil., arbeitete als Iranist und Altertumsforscher an der Uni Hamburg, Abteilung für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients. Publikationen: Durst nach Wein und Liebesschmerz, Verse auf persischen Trinkschalen, in: Jahrbuch des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, Bd. 17–19 (1998–2000), Hamburg 2002, S. 7–16, gemeinsam mit Abdollah GHOUCHANI; Zarathustra und die Mithras-Mysterien, in: Katalog der Sonderausstellung des Iran-Museum im Museum Rade. Reinbek b. Hamburg/Bremen 1993; Neupersische Handschriften und älteste in Norddeutschland entstandene Persienliteratur, in: WALRAVENS, H. (Hg.): Orientalia, Handschriften und Drucke aus Hamburger Besitz. Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek Hamburg. Osnabrück 1986, S. 46–52. Lars JOHANSON, Prof. Dr. phil. habil., ist als Sprachwissenschaftler und Turkologe an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz tätig. Zu seinen Publikationen zählen „Viewpoint operators in European languages“, „Menschenbilder in der Sprachwissenschaft“ und „Strukturelle Faktoren in türkischen Sprachkontakten“. Er gibt die Schriftenreihe „Turcologica“ und die Zeitschrift „Turkic Languages“ heraus. Yasemin KARAKAùOöLU, Prof. Dr. phil., studierte Turkologie, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft in Hamburg (1991), Dr. phil. im Fach Erziehungswissenschaft, Universität Duisburg/Essen (1999). Von 1991 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Abteilung für soziokulturelle Fragen am Zentrum für Türkeistudien in Essen, seit Oktober 2004 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte sind interkulturelle Pädagogik, die Bildungs- und Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die Bedeutung des Islam in pädagogischen Bezügen, das Bildungssystem Türkei. U.a. Vorstandsmitglied des Bundesjugendkuratoriums, Kuratoriumsmitglied der Freudenberg-Stiftung, Beiratsmitglied im Bremer Rat für Integration, Beiratsmitglied im Integrationsbeirat NRW und Mitglied des Rates für Migration e.V., Gründungsmitglied der Muslimischen Akademie in Deutschland. Ausgewählte Publikationen: Türkische Arbeitswanderer in West-, Mittel- und Nordeuropa seit der Mitte der 1950er Jahre, in: BADE, Klaus J. (Hg.) et. al.: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis

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zur Gegenwart. München 2007, S. 1054–1061; Was wurde aus den ‚Soldaten des Wissens‘? Lehrerbild und Lehrerbildung in der Türkei im Wechselspiel von Staatsideologie und Wirklichkeit, in: RICKEN, Norbert (Hg.): Über die Verachtung der Pädagogik. Analysen – Materialien – Perspektiven. Wiesbaden 2007, S. 397–410; BOOS-NÜNNING, U. & KARAKAùOöLU, Yasemin: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Münster, 2. Auflage 2006; KARAKAùOöLU-AYDIN, Yasemin: Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen in Deutschland. Frankfurt am Main 2000; DIES.: Fünf Stimmen im lautlosen Haus. Geschichte, Zeit und Identität im türkischen Gegenwartsroman am Beispiel von Sessiz Ev von Orhan Pamuk. Wiesbaden 1993. Michael KNÜPPEL, Dr. phil., Dr. rer. soc., studierte in Göttingen und Hamburg Turkologie und Zentralasienkunde sowie Politikwissenschaften und Ethnologie. Z. Zt. Tätigkeit im Rahmen der Katalogisierung der orientalischen Handschriften in Deutschland (KOHD). Arbeits- und Forschungsgebiete: Religionen der frühen Türken, Manichäologie, Tungusologie, Kulturgeschichte Nordasiens und Forschungsgeschichte der Turkologie und Altaistik. Mitherausgeber der „Sibirischen Studien“ und der „Göttinger Beiträge zur Asienkunde“; Mitverfasser des „Etymologisch-Ethnologischen Wörterbuchs tungusischer Dialekte (vornehmlich der Mandschurei)“ und Verfasser zahlreicher Beiträge zur Turkologie, Tungusologie, Paläoasiatik und Altaistik; gegenwärtig Aufbereitung des von K. H. Menges nachgelassenen „Etymologischen Wörterbuchs der türkischen und anderen orientalischen Elemente im Serbokroatischen“ für die Publikation. Klaus KREISER, Prof. Dr., arbeitet als Autor und Herausgeber (unter anderem der Türkischen Sektion der Neuauflage der Encyclopaedia of Islam) in Berlin. Bis 2004 hatte er den Lehrstuhl für Türkisch Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg inne. Neben seinen osmanistischen und turkologischen Forschungsinteressen beschäftigt er sich mit dem Thema „Denkmäler und Denkmalsturz“ in der islamischen Welt. Nach zahlreichen Aufsätzen zu diesem Thema bereitet er eine Monographie vor. Jens Peter LAUT, Prof. Dr. phil. habil., studierte Germanistik, Philosophie, Turkologie, Indologie und Religionswissenschaft an den Universitäten Göttingen, Marburg und Gießen. 1985 Promotion mit einem Thema zur älteren zentralasiatisch-türkischen Literatur (1986 Dissertationspreis der Univ. Gießen), 1993 Habilitation über die moderne türkische Sprachreform (2001 Woitschach-Forschungspreis). Seit den 80er Jahren Lehr- und Publi-

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kationstätigkeit im Fach Turkologie. Teilnahme an diversen Forschungsprojekten, u.a. zur alttürkischen und osmanischen Literatur. Zwischen 1996 und 2008 Professor für Islamwissenschaft/Turkologie an der Universität Freiburg i. Br., seitdem Professor an der Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind vor- und frühislamische türkische Sprach-, Kultur- und Religionsgeschichte, moderne türkische Sprach- und Kulturpolitik. Lehrtätigkeit vor allem in den Bereichen allgemeine türkische Literaturgeschichte, türkische Philologie und Linguistik. Seit 2003 mit Erika GLASSEN Herausgeber des Übersetzungsprojekts „Türkische Bibliothek“ (www.tuerkische-bibliothek.de). Publikationen (Auswahl): Der frühe türkische Buddhismus und seine literarischen Denkmäler. Wiesbaden 1986; Materialien zu Evliya Çelebi. Wiesbaden 1989; Das Türkische als Ursprache? Sprachwissenschaftliche Theorien in der Zeit des erwachenden türkischen Nationalismus. Wiesbaden 2000; Zur sexuellen Lexik des Türkeitürkischen, in: Studia Etymologica Cracoviensia 10 (2005), S. 69–122; Eine buddhistische Apokalypse. Die Höllenkapitel (20–25) und die Schlußkapitel (26–27) der Hami-Handschrift der alttürkischen Maitrisimit. Opladen 1998 (gemeinsam mit Geng SHIMIN und H.-J. KLIMKEIT); Bibliographie alttürkischer Studien. Wiesbaden 2000 (gemeinsam mit Volker ADAM und A. WEISS). Maurus REINKOWSKI, Prof. Dr. phil. habil., studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Arabistik in München, Istanbul und Wien. 1995 Promotion über die historiographischen Debatten zur frühen zionistischen Einwanderung nach Palästina. 2002 Habilitation an der Universität Bamberg zur osmanischen Reformpolitik im 19. Jahrhundert. Seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Islamwissenschaft und Geschichte der islamischen Völker an der Universität Freiburg. Rezente Publikationen: Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert. München 2005; Legitimizing the Order: The Ottoman Rhetoric of State Power. Leiden u.a. 2005 (gemeinsam herausgegeben mit Hakan KARATEKE); Rechtspluralismus in der islamischen Welt: Gewohnheitsrecht zwischen Staat und Gesellschaft. Berlin 2005 (herausgegeben mit Michael KEMPER). Börte SAGASTER, Prof. Dr. phil., studierte Turkologie, Islamwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Albert Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universität Hamburg. Seit Januar 2007 Assistant Professor für türkische Literatur an der University of Cyprus in Nicosia. Hauptinteressen- und Arbeitsgebiete: Moderne türkische Literatur von den Tanzimat bis in die Gegenwart (Themen u.a.: Selbst- und Fremdbilder in der türkischen

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Literatur, Autobiographien und Biographien, Literatur als Medium der Erinnerung). Martina SAUER, Dr. rer. pol., studierte Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an der Universität Mannheim, promovierte an der Universität Potsdam. Seit 1999 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und leitet dort seit dem Jahr 2000 die Abteilung für empirische Sozialforschung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die theoretische und empirische Migrationsforschung, junge Migranten und türkischstämmige Frauen. Zahlreiche Studien und Veröffentlichungen zur Lebenssituation türkischstämmiger Migrantinnen und Migranten. Publikationen: SAUER, Martina & HALM, Dirk: Integration vs. Segregation bei türkischen Migranten, in: ASSION, Hans-Jörg (Hg.): Mensch. Migration. Mental Health. Dokumentation der Fachtagung des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum. Heidelberg 2005, S. 67–82; HALM, Dirk & SAUER, Martina: Parallelgesellschaft und Integration; in: Politische Bildung 3 (2006), Wochenschau Verlag, Schwalbach, S. 46–65; SAUER, Martina & ùEN, Faruk: Junge Türken und Türkinnen in Deutschland – Re-Ethnisierung? in: KEIM, Wolfgang & GATZEMANN, Thomas & UHLIG, Christa (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik 2005 “Religion – kulturelle Identität – Bildung“. Berlin 2006, S. 117–133; HALM, Dirk & SAUER, Martina: Das Zusammenleben von Deutschen und Türken – Entwicklung einer Parallelgesellschaft? in: WSIMitteilungen, Monatszeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, 57 (2004), S. 547–554; HALM, Dirk & SAUER, Martina: Freiwilliges Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 24 (2004) 11/12, S. 416–424; HALM, Dirk & SAUER, Martina: Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung – Zur empirischen Bedeutung unterschiedlicher Konzepte des Zusammenlebens von Deutschen und Türken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1–2 (2006), S. 18–24; HALM, Dirk & SAUER, Martina & ùEN, Faruk: Integration junger türkeistämmiger Migranten in NRW, in: BRIESEN, Detlef & WEINHAUER, Klaus (Hg.): Jugend, Delinquenz und gesellschaftlicher Wandel. Bundesrepublik und USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Essen 2007, S. 95–117; ùEN, Faruk & SAUER, Martina: Religiöse Praxis und organisatorische Vertretung türkischstämmiger Muslime in Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 1 (2006), S. 14–22; Integrationsprobleme, Diskriminierung und soziale Benachteiligung junger türkisch-stämmiger Muslime, in: WENSIERSKI von, Hans-Jürgen & LÜBCKE, Claudia (Hg.) Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen/Farmington Hills 2007, S. 339–356.

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Wolfgang E. SCHARLIPP, Prof. Dr. phil. habil., studierte nach mehrjährigen Aufenthalten in Afghanistan, Pakistan, Indien sowie in verschiedenen arabischen Ländern und Nordamerika Turkologie, mit Tibetologie und Indologie in den Nebenfächern und Chinesisch und Mongolisch als klassische und moderne Sprachen. Promotion in Turkologie bei Petra Kappert in Hamburg 1983, Habilitation in Freiburg 1993. Assistenturen in Freiburg und Zürich, Assistent Professor for Turkish Studies an der University of Cyprus in Nikosia, ab 1997 Assossiate Professor an der Universität Kopenhagen. Die Publikationen beschäftigen sich vor allem mit der Kulturgeschichte türkischer Völker. Nebenbei Übersetzungen moderner türkischer Literatur ins Deutsche und Dänische. Faruk ùEN, Dr. rer. oec., ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und lebt seit 1971 in der Bundesrepublik. Er studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster und promovierte über die „Türkischen Arbeitnehmergesellschaften“. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Duisburg und Bonn. Zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Migrationsforschung und Türkeifragen. Von 1985 bis Ende 2008 leitet er das „Zentrum für Türkeistudien“. Seit Juni 1990 ist er Professor an der Universität Essen. Publikationen: ùEN, Faruk & HALM, Dirk: Ethnisch-religiöse Differenz, Integration und Desintegration. Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland, in: Bildung und Erziehung (2000) 4, S. 397–409; Der Islam – eine Religion in Deutschland etabliert sich: Erfordernisse für Schulunterricht und Hochschullehre, in: FAUTH, Dieter & BUBENHEIMER, Ulrich (Hg.): Hochschullehre und Religion – Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen, Würzburg 2001, S. 173–194; Der Islam in Deutschland – Herausforderung für die Integrationspolitik, in: MEIER-WALSER, Reinhard & GLASGOW, Rainer (Hg.): Die islamische Herausforderung – Illusionen und Realitäten. Berichte & Studien der Hanns-Seidel-Stiftung, Bd. 85, München 2002; ùEN, Faruk & AYDøN, Hayrettin (Hg.): Islam in Deutschland. München 2002; GOLDBERG, Andreas & HALM, Dirk & ùEN, Faruk (Hg.): Die Deutschen Türken. Münster 2004; ùEN, Faruk & HALM, Dirk: Der Islam in der Migration. Herausforderungen für die Integrationspolitik, in: ZEHETMAIR, Hans (Hg.): Der Islam – im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog. Opladen 2005; ùEN, Faruk & SAUER, Martina: Religiöse Praxis und organisatorische Vertretung türkischstämmiger Muslime in Deutschland, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR)1 (2006), S. 14–22; HALM, Dirk & SAUER, Martina & ùEN, Faruk: Integration junger türkeistämmiger Migranten in NRW, in: BRIESEN, Detlef & WEINHAUER, Klaus (Hg.): Jugend,

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Delinquenz und gesellschaftlicher Wandel. Bundesrepublik und USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Essen: Klartext 2007, S. 95–117. Ramin SHAGHAGHI, M.A., studierte Iranistik und Ethnologie an der Freien Universität Berlin. Er arbeitete drei Jahre innerhalb des Langzeit-Projektes zur Archivierung und Digitalisierung der Turfan-Manuskripte an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2003 ist er Lektor für Persische Sprache und Literatur am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg, Abteilung Geschichte und Kultur Vorderen Orients. Martin STROHMEIER, Prof. Dr., ist Professor für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der University of Cyprus in Nicosia/Republik Zypern. Hauptarbeitsgebiete sind die Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei, insbesondere Provinz-, Presse- und Bildungsgeschichte sowie Geschichte der Kurden im Vorderen Orient. Rezente Publikationen: Monumentalism versus Realism: Aspects of the First World War in Turkish Literature, in: FARSCHøD, Olaf & KROPP, Manfred & DÄHNE, Stephan (eds.): The First World War as Remembered in the Countries of the Eastern Mediterranean. Beirut 2006, 297–319 (Beiruter Texte und Studien, 99); Crucial Images in the Presentation of a Kurdish National Identity: Heroes and Patriots, Traitors and Foes. Leiden-Boston 2003 (Social, Economic and Political Studies of the Middle East and Asia, 86). Tevfik TURAN, M.A. ist seit 1981 Lektor für Türkisch am AAI der Universität Hamburg. Mitarbeit am Lehrgang „Dolmetschen und Übersetzen an Gerichten und Behörden“, Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung (Uni HH). Aktuelle Publikationen: Türkisch in Diskussionsgruppen, in: BOESCHOTEN, Hendrik & STEIN, Heidi: Einheit und Vielfalt in der türkischen Welt – Materialien der 5. Deutschen Turkologenkonferenz Universität Mainz, 4. –7. Oktober 2002. Wiesbaden 2007; Edebiyat Eleútirisi Olarak Dil Eleútirisi [Literaturkritik als Sprachkritik], in: MENZEL, Astrid & SCHRÖDER, Christoph: Dil TartÕúmalarÕ. østanbul 2006; Das heutige Türkisch zwischen Planung und Chaos, in: Materialia Turcica, Bd. 25, 2005, S. 329–336; Almanya’da Türkçe – økidillili÷e Do÷ru / Turkish in Germany – Towards Bilingualism. Türkisch als Fremd- / Zweitsprache in Europa, [Ein Symposium des türkischen Erziehungsministeriums, 24.–28. Dezember 2001, Ankara], unveröffentlichter Ergebnisband 276–280 (türkisch) und 208–212 (englisch); Sonsöz [Nachwort], in: Aforizmalar v. Georg Christoph Lichtenberg. Ankara 2000. Übersetzungen: Belletristik von

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Autorenverzeichnis

Patrick Süskind, Sten Nadolny, Peter Handke, Cees Noteboom, Franz Kafka; Lyrik von Ernst Jandl; Aphorismen von Georg F. Lichtenberg. Michael URSINUS, Prof. Dr., studierte in den Jahren 1973–80 Turkologie und Islamwissenschaft in Hamburg (mit Afrikanistik sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den Nebenfächern); Promotion 1981; Dissertation “Vom ayanlik zum sandik eminligi. Regionale Reformen der rumelischen Provinzialgouverneure im System der Erhebung und Verwaltung außerordentlicher Abgaben” erschienen als Regionale Reformen im Osmanischen am Vorabend der Tanzimat (Klaus Schwarz Verlag, 1982). 1981–84 Assistent am Nahost-Institut in München; 1984–89 University Lecturer am Centre for Byzantine and Modern Greek Studies, Birmingham University, England. 1989–92 Professor für Islamwissenschaft/Turkologie an der Universität Freiburg i. Br.; seit 1992 Ordinarius im Fach Islamwissenschaft/Osmanistik an der Universität Heidelberg, zudem seit 1989 Honorary Research Fellow am Centre for Byzantine, Ottoman and Modern Greek Studies, Birmingham. Publikationen: Quellen zur Geschichte des Osmanischen Reiches und ihre Interpretation. østanbul 1994; Grievance Administration (Sikayet) in an Ottoman Province. The Kaymakam of Rumelia’s ‘Record Book of Complaints’ of 1781–1783. Royal Asiatic Society Books: Ibrahim Pasha of Egypt Series, London and New York 2005. Heidi WEDEL, Dr., schloß ihr Turkologiestudium bei Prof. Kappert 1989 mit einer Magisterarbeit über die Kritik am kemalistischen Laizismusverständnis aus säkularer Sicht ab. 1989/90 folgte eine postgraduale Ausbildung am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, 1990/91 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Türkeistudien Bonn, 1991–1996 an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients an der FU Berlin, 1998 Promotion in Politikwissenschaft an der FU Berlin mit einer Dissertation über Geschlecht und lokale Politikpartizipation in Gecekonduvierteln, 1999–2002 Turkey Researcher im Internationalen Sekretariat von Amnesty Inter-national in London, seit 2002 Leiterin des Nahostreferats beim Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD. Publikationen: Lokale Politik und Geschlechterrollen – Stadtmigrantinnen in türkischen Metropolen. Hamburg (Schriften des Deutschen Orient-Instituts) 1999 (auf Türkisch 2001 bei Metis); Probleme der Zivilgesellschaft im Vorderen Orient. Opladen 1995 (Hg. mit Ferhad IBRAHIM (auf Türkisch 1997 bei øletiúim); Der türkische Weg zwischen Laizismus und Islam – Zur Entwicklung des Laizismusverständnisses in der Türkischen Republik. Studien und Arbeiten des Zentrums für Türkeistudien Bd. 6, Opladen 1991.

Verzeichnis der Abbildungen & Tabellen FENZ, Hendrik Abb. 1: Regimenter nach Region und armenischem Bevölkerungsanteil FINKE, Detlef Abb. 1: ৡirince, Foto: Giedke Abb. 2: Abschlußrechnung für das Finanzjahr 1179/1766 FLEMMING, Barbara Abb. 1: ÇÕrçÕp, Südostanatolien GROPP, Gerd & SHAGHAGHI, Ramin Abb. 1: Freundschafts- und Handelsvertrag mit Persien vom 16.4.1842 Abb. 2: Persische Fassung des Handelsvertrages Abb. 3: Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem Shah von Persien 23.7.1857 KREISER, Klaus Abb. 1: Grabdenkmal von General Häzi Aslanov (Baku 1948), Foto: E. Gurbanova Abb. 2: Yakob Israileviþ Keiliches (1872–1950), Sâbir-Denkmal, Eisenbeton und Zement (Baku 1922) Abb. 3: Fuad Abdurahmanov Gasan Ogly (1915–1971), Nizâmî-Denkmal (Baku 1939/1949). Abb. 4: Literaturmuseum Baku (Umbau 1940/1941) Abb. 5: Nationalbibliothek „Achundov“ Baku 1959 SCHARLIPP, Wolfgang Abb. 1: Latin Harf-lérini, 1928 Abb. 2: Lesehilfe in französischer Orthographie Abb. 3: Ichim var. Bachim agriyor Abb. 4: Türkce Alfabe, 1928 Abb. 5: Köroglu, 1928 ùEN, Faruk & SAUER, Martina Abb. 1: Subjektiver Grad der Religiosität im Vergleich 2005 und 2000 Abb. 2: Religiosität nach Aufenthaltsdauer der 18– bis 30–Jährigen Abb. 3: Häufigkeit religiöser Praktiken Abb. 4: Häufigkeit der Ausübung religiöser Praktiken 2005 und 2000 Abb. 5: Einhaltung der Speisevorschriften Abb. 6: Häufigkeit des Moscheebesuchs im Vergleich 2005 und 2000 Abb. 7: Mitgliedschaft in einem Moscheeverein Abb. 8: Dachverbandszugehörigkeit der Moscheevereinsmitglieder 2005 und 2000 Abb. 9: Vertretung der Einstellung durch Dachverbände im Vergleich 2005 und 2000

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 10: Vertretung der eigenen Einstellung durch Dachorganisationen der Nichtorganisierten Abb. 11: Befürwortung der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen nach verschiedenen Merkmalen Abb. 12: Verantwortung für den Inhalt des Islamunterrichts Abb. 13: Einstellung zum Zusammenschluß der muslimischen Organisationen zu einem Gesamtverband Abb. 14: Einstellung zur Trennung von Religion und Staat Abb. 15: Zustimmung (voll und eher) zu kontroversen religiösen Themen Abb. 16: Beurteilung des Lebens als Moslem in einem christlichen Land Abb. 17: Wahrgenommenes Verständnis von Deutschen für religiöse Praktiken oder Lebensweisen im Vergleich 2005 und 2000

Index A AABF 367, 371, 373, 375, 381 Abdî Musa 339 Abdürrahim efendi 17, 102–04, 106 Abdurrahmân Jâmi 285 Ablustain/Elbistan 156 Abu l-Vafa Tac al-‫ޏ‬Arifin 155 Abulqâsim Firdavsi 285 Abulqâsim Lâhuti 285 ‫ޏ‬Abdullah Cevdet 33 ‫ޏ‬AcemƯ OcaklarÕ 41 Ad De÷iútirme øhtisas Komisyonu 167 Adalet A÷ao÷lu VII, 17, 49f., 53, 55, 57, 66 Adana 171, 178f., 183 Adnan Menderes 23, 394 ADÜTDF 369, 371–73 Afghanistan 119, 323, 361, 486 ƖƥƗh Efendi 73 Ägypten 102, 266, 315, 329 ҵahada 325 ҵahd 35, 317 ҵahdnƗme 327 Ahmed Resmi 18, 99, 106 Ajami 284 Akçaúehir (Söke) 144 Äkinci (Zeitung) 284 Akkoyunlu 91, 156, 157 AKP 459 ƗkvƗm 39 ƗlƗy 115 Albaner 44 al-Cazira 154 Aleppo 151, 154f., 160f., 429 Alevilik 14, 19, 155f. Alevitentum 371, 375 Algerien 193 ‫ޏ‬ƖlƯ Paúa 72, 74–77, 79, 80, 83

‫ޏ‬ƖlƯ Su‫ޏ‬avƯ 73 Alkoholverbot 363-65 Alma-Ata 227, 230 Amasya 29, 161f., 174 Amsterdam 99, 138, 150 Anadolu-Lyzeum 241 Ankara 36, 48–50, 66, 69, 71, 74, 81f., 85–87, 91, 93, 97, 107f., 115, 131, 138, 144, 149f., 155–58, 161– 63, 168, 171–75, 230, 236f., 241f., 244f., 292, 294–96, 308–10, 356f., 392–98, 401–19, 425, 446, 451, 456, 465, 472, 476, 480, 488 Antalya 418 Arabic script 223f., 226, 229 Ariffu Be÷ 443 Armenier 44, 112, 119f., 123, 127, 234, 271, 276, 278, 287 Arslanbaba Deresi 153 aruz-Dichtung 339 Ašchabad 270 Aserbaidschanische SSR 261, 268 AúÕk Paúa 300, 306 AúÕk Paúa Zade 300 ‫ގ‬aúƯret 115 Astrachan 97 Atatürk 22, 31, 236, 295f., 303, 309, 351, 356, 394, 403, 414, 453f., 456f., 476 Atheismus 248 ATøB 369 Avicenna (Abuali Ibn Sinâ) 279, 285 AydÕn 138, 141f., 148, 241, 245, 400, 403, 405, 407 AyvalÕk 143, 150 Azeri 225, 226 Aziz Azizbekov 271 Aziz efendi 102 Aziz Nesin 30, 424

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B Baba ølyas 155 Baba'i-Aufstand 156 Bafa 140f., 142 Baghdad 216 Bagirov 263, 268, 275, 287 Bahrain 217 Baku VIII, 21, 261–90, 350, 490 Balkan 118, 432 Balkankriege 135 Bandar Abbas 217 Bandar Bushir 215 BarÕú için KadÕn ønisyatifi 473 Basra 216, 217 bayҵa 21, 317–19, 329f. Beglerbegi 157, 159, 163, 171 Bektaschi 166 Belgrader Frieden 93, 108 Berlin 29, 36f., 48, 99f., 102, 106, 121, 130f., 151, 157, 161, 166, 172f., 175, 285f., 290, 293f., 308, 311–14, 317, 321, 334–78, 387, 417, 425, 427, 451, 455f., 468, 476–89 Berliner Vertrag 114, 119 besa 331f. Beúma÷aralar Deresi 153 Beyazkule 169 beyne’l-mileliyynjn 44 beynelmilel 276 Birecik 158, 161 bišҵa 317 Biškek 285 Bitlis 34, 116, 154, 468 BÕyÕklÕ Mehmed Paúa 157f., 174 Blutrache 326 Bodrum 418 bölge valilikleri 171 Bologna 93 Bolschewisten 264 Bombay 216 Bosnien 180, 472 boyahane 164 Boz Ulus 157 Brasilien 193 Bratislava 101 Brecht 52

Index

Bremen 19, 191–94, 203–07, 212, 216, 219–21, 231, 469, 478, 482f. Brockelmann VIII, 21, 291–98, 303f., 308–10 Budapest 101, 162f., 173, 287f., 298, 356 Bülent Nuri Esen 401 Bulbul 284 Bulgaren 44 Bulgarien 135 Bundestag Frankfurt 194 Bushir 217

C Cäfär Džabbarly 281 ÇaldÕran 157, 159 ÇATOM 469 Celal YardÕmcÕ 396, 402 Celali-Aufstände 163 Cengiz HƗns 40 CeylanpÕnar 151, 153, 167f., 171 Chaghatay 223–25, 228 Charkow 273 Charles Blunt IX, 14, 23f., 127, 130, 427, 430–50 Chechov 63 Chermside 115, 117f., 131 China 226, 229, 238, 313 CHP 393f., 396f., 399f., 402f., 407– 410 Christen 120, 139–44, 146, 166, 328f., 361, 374 Chuvash 226 CibranlÕ 124 Cilvegözü 418 cinsiyyet 41 ÇÕrçÕp VII, 14, 18, 151–56, 164f., 168, 170–72, 489 Çirkince 133 cizye 69, 165 Codex Comanicus 324, 350 Colquhoun 19, 185–87, 193 Conservatoire des Métiers 103 Coúkun KÕrca 407

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Index

D Dalaman 418 Damad øbrahim Paúa 89 dar ül-muallimin 235 dƗrülfünnjn 392, 402 dar-ül-funun-u Osmani 236 Daschnaktsution 125f. David von Sassun 287 DDR 296 Dede GarkÕn 19, 151, 155f., 158–63, 165f., 172 derebeyler 133 Dersim 122 Descartes 43 destnjr-Õ millƯ 44 Deutsches Reich 191, 215 Deutschland IX, 13, 16, 22f., 26, 28, 31, 191, 215–20, 231, 235, 298, 359–63, 366–83, 386f., 391, 456, 481, 483, 485, 487 devúirme 41 Diaspora 359 Dil Encümeni 351 dil inkÕlâbÕ 291 DøTøB 367, 369–75, 377, 379, 381, 386 divan edebiyatÕ 420 DøYANET 378f. DiyarbakÕr (Diyarbekir, Diyarbekir, DiyƗrbekir) VII, 16f., 33–36, 48, 116, 151, 154,156f., 160–163, 166, 170–73, 468 Dmitri Mendeleev 284 Donau 93, 99 Dorfinstitute 238f., 245 Dorfmilizen 112, 129 Dostojewski 273 DP (Demokrat Parti) 23, 184, 392– 400, 403–15 Dreißigjähriger Krieg 298 Dürri Ahmed efendi 95f. Duke of Wellington 432 DulƥƗdÕr-Fürstentum 162 Dunaysir 154, 165, 170 Dušanbe 280, 285 Džalal Karjagdy 276 Džälil Mämmäd Guluzadä 281

E Ebu Sehil Nu‫ޏ‬man efendi 93 Ebubekir Ratib efendi 100 Ebnj‫ގ‬Ī-ĩiyƗ TevfƯল 71, 72, 73 Edessa 154 Edikt von ƤülপƗne (Ƥül‫ې‬Ɨne ‫ۏ‬a‫ܒܒ‬-Õ hümƗynjn) 68, 78f., 328f., 427, 446 Edirne 417, 436, 442 E÷itim-Bir 241 E÷itim-Sen 241, 243–46 Ehebruch 324 Ehre 299, 469, 475 Ehrenmord 470 Eid VIII, 14, 21, 311–36 Elizaveta Rodnonova Tripol’skya 271 Elmalu 161 Emin Pascha 123 enderun 233 endernjn-Õ hümƗynjn 40 England 73, 81, 97, 192f., 195, 221, 235, 323, 337, 431, 433, 488 enmnjzec-i millƯ 40 Ephesos 18, 133, 135–38, 145, 149f. Ergenekon 420 Erivan 273 Erster Weltkrieg 85, 135, 293 Erzurum 110, 115f., 118, 120, 124, 131, 157, 171, 196 Esendal 424 Eskiúehir 171 Etatismus 454, 472 Euphrat 99, 151, 159, 161, 175, 469 Europa 14, 16f., 30, 39, 86–90, 95, 99, 103, 105–07, 110, 125, 206, 235, 258, 280, 298, 326, 369, 390, 414, 481, 483, 488 Evliya Çelebi 86, 91, 92, 94, 99, 104, 106, 107, 143, 154, 157, 161, 163, 172, 484 eyalet (eyƗlet) 69, 163, 171f., 429 Ezine 139, 140

F Farroপ-঩Ɨn Amin al-Doule 195, 205 Fa৬ত-‫ޏ‬Ali-ŠƗh 195, 197 Felix Dzeržinski 264

470 Ferdinand I. 89, 91 Feyzio÷lu 403–10, 413f., Fikir Kulübü 403 Finnen 287 Firma Wönckhaus 217 Föderation der Aleviten (AABF) 367 Folter 340, 472 Forum 71, 81, 398–410, 413f., 425, 480 Frankfurter Allgemeine Zeitung 348 Frankreich 97f., 112, 193, 195, 205, 221, 235, 298 Frauenbewegung 455–58, 463, 466, 469, 471, 478 Frauenemanzipation 454, 457 Frauenhäuser 458 Frauenvereinigung 456 Frauenwahlrecht 456 Frieden von Karlowitz 88, 93 Friedensschluß von Amasya 162 Friedensvertrag von Lausanne 135 Fuad Abdurahmanov (Gasan Ogly) 277–79, 490 Fuad Köprülü 396 Fu‫ގ‬Ɨd Paúa 74 Fuzûlî 281f.

G Gäncä 263, 277, 279 GAP (Güneydo÷u Anadolu Projesi) 167, 171, 469 ƥarbÕñ kemƗlƗt-Õ mƗddiyesi 46 ƤazƗlƯ 43, 322 Gdansk 99 gecekondu 184, 460, 462, 465, 474 Gedenkstätte der 26 Kommissare 267 Genç Kalemler 33 Genç ҵOsmƗnlÕlar 42 General Gürsel 412 General Luigi Fernando Marsigli 93 Generalkonsul von Haase 215 Generalkonsul H.A.L Brandt 215 Generalkonsul von Fackh 215 Generalkonsul Kirsten 215 Genuesen 136, 143 Gleichstellung 454 Gottesurteil 315, 318, 334 Gözelem Tepe 153

Index

Great Game 119 Griechen 44f., 133f., 136, 143, 148, 212, 234, 294, 313, 315, 320 Griechenland 135f. Großbritanien 112 Große Nationalversammlung 351 Großer Vaterländischer Krieg 279 Guardian 348 Gümüúsuyu 169 Güner Sümer 49 Gür-pÕnar 153

H Habitat II 473 Habsburg 86, 92f. hac 364 Haci Timur Pascha 123 Hâfiz Širâzi 285 Haghios Theologos 136 hƗkimiyyet-i mantÕk 43 ‫ۊ‬alafa 325, 330 ‫ۊ‬alf 316f., 324 halkevleri 135, 423 Hamadan 279 Hamburg 11, 14, 19, 26–33, 68, 88, 99, 108, 130–33, 136, 150, 154, 174, 191–94, 197, 206, 212, 215– 221, 231, 291, 345, 417, 457, 460, 468, 477–89 Hamidiye VII, 14, 18, 109–32 HAPAG 217 Hasan Bey Melik-Zâdä Zerdabi 284 Hasan-Âli Yücel 410, 414 Hasib Pascha 446f. Hayat (Zeitung) 354, 355 Häzi (Azi) Aslanov 269 Heilige Schrift 329 Heimatkunst 419f. Helsinki Citizens Assembly 472 heyet-i nasƯha 122 heyet-i tedibiye 122 Hidayet Çavuú 91 ‫ۊ‬ilf 318f. Hilmi Ziya Ülken 34 ‫ۊ‬in‫ ܔ‬318 Hochlandjemeniten 323 Hohe Pforte 122, 427 Hophopname 276

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Index

Horaz 287 Hormek 124 Hormuz 217 Hürriyet Partisi 403, 405, 408 Hüseyin Nail KubalÕ 409 HüseyƯn VedƗd 37 HüseyƯnzƗde ‫ޏ‬AlƯ 34 Hüsn-ü ‫ޏ‬Aúk 347 Human Rights Watch 389, 391f., 415, 464, 477 Hunchak 125f. ণurrƯyet (Zeitung) 17, 71, 73–82 Huršid Banu Nâtevân 281 Husayn Chan ùamlu 158 Husrev Pascha 437, 446

I ibdƗҵ 45 Ibn al-Athir 292 Ibn Haldnjn 38 Ibragim Zeynalov 273 Ibrahim Pascha 118, 128, 434, 436f., 439 øbrƗhim ùinƗsƯ 70 øbrƗhƯm Temo 33 øbrahimiye 153, 156 ictihƗd-Õ mantÕkƯ 43 Idris Bidlisi 158, 159 IGMG 369–75, 381, 386 ƯlƗ 318 ƯlƗf 318, 331 ҵilm-i ictimƗҵ 37 ҵilmiye 411 iltizƗm 68 Institutionen-Transfer 128 Internationalismus 264, 286 Ioannina 14, 24, 431, 443, 449 irƗde 119 Irak 151, 160, 168, 170, 361, 432, 451 Iran 13, 19f. 95, 114, 116, 118, 151, 168, 191f., 196f., 212, 215–20, 266, 276, 482 ҵÕrk 38 irsaliye 163 irticƗ 45 irticƗҵiyynjn 45 øshƗk SüknjtƯ 33 Islamismus 460, 463f., 466

Islamrat 367, 376 Islamunterricht 375, 377 øsmail Kemalettin Demir 177 øsmet ønönü 393, 403, 414 Israel 313, 323 Istanbul (østanbul) VIII, 19, 21, 29, 31, 33–36, 41, 48–50, 55, 66–74, 81f., 85, 96f., 99f., 105–07, 109f., 116, 129–32, 138, 148–50, 153, 157, 159–62, 167, 170–74, 177– 179, 184, 186–91, 193–97, 216, 230, 233–36, 245f., 294–97, 308– 11, 317, 324, 329, 332, 334–36, 340, 344, 346, 356, 392, 401–04, 411–15, 418–27, 431, 442, 446, 451, 455–59, 461, 464f., 469, 473, 476–83, 485, 489f. Istiklâl Mahkemeleri 188 Italien 235, 456 øttihƗd ve TerakkƯ KulnjbÕ (‫ޏ‬OsmƗnlÕ øttihƗd ve TerakkƯ Cem‫ޏ‬iyeti, Komitee f. Einheit und Forschritt) 33f., 111,328 ittihƗd-Õ ҵanƗsÕr 47 Ivan Fioletov 264 Izmir (øzmir) VII, 18, 133–37, 142–44, 149f., 171, 429, 457, 480 Izzet Pascha 442f.

J Janitscharen 40f., 101, 158, 162, 427 Japan 238, 454, 478 Jordanien 323 Juden 45, 234, 328f. judicium Dei 315 Jugoslawien 135 Jujîn (Zeitung) 473 Jungosmanen 14, 34, 42, 44–6, 71–4, 80 Jungtürken 33, 236, 328 Jungtürkische Revolution 121

K ۘƗҴime 69 Kaiser Justinian 135 Kaletepesi 153

472 KalkÕnma ødaresi BaúkanlÕ÷Õ 168 Kalmücken 287 Kalter Krieg 96 Kamer 473 KapÕkule 418 Kapitulationen 98, 113, 428 Kara Amid 154 Kara Chan Ustaclu 157f. kara cüppeliler 411 Kara Mehmed Paúa 85, 91, 95 Karabagh 273, 282 Karaca Da÷ 153f., 157, 160–62 Karapapak 116 Karl Marx 261 Kaspisches Meer 217 Kaukasus 16, 261, 273, 275f., 288, 481 kaymakam 24, 171, 429, 431, 439f., 442f., 449 Kazakh 223, 225f., 229 Keiliches, Yakob Israileviþ 262, 273, 275f, 490 Kemal Tahir VIII, 15, 19, 177, 179, 186, 189 Kemalismus IX, 24, 453f., 457, 464, 473, 475 Kenan Evren 168, 171 Kenia 470 Keut Oglu Hajji Mehemmed Aga 442 Kiew 98, 262, 289 Kirghiz 226 Kirkuk 159 Kirovabad (Gäncä) 263 KÕzÕlbaú 156, 158–60, 166, 173 KÕzÕlbaú-Safawiya 156 KÕzÕlhisar (TorbalÕ) 144 KÕzÕltepe 154, 164, 167f., 170 Koþarjan 278 Koçhisar 154, 158–60, 163–66, 170 Koedukation 239 Konstantinopel 124, 127, 214, 216, 294, 431, 433, 435f., 440–43, 447, 449 Konsul Königswarter 215 Koordinierungsrat der Muslime 367 Kopftuch 378, 381f., 387, 463 Kopftuchstudentinnen 463f. Kör Hüseyin Pascha 123 Koran 35, 316, 320–23, 328, 336

Index

Korea 393, 402 korenizacija 264, 267 Kosaken-Armee 115 köy enstitüleri 423 köy hikâyesi 424 Krakau 99 Krasnovodsk 270 Kreta 145 Krim 102 Krimkrieg 112 Kurden 44, 110, 120f., 126, 160, 166, 172, 243, 323, 459, 467f., 477f., 487 KuúadasÕ 137, 143f., 148

L Laizismus 27, 31, 237, 378, 453, 459, 464, 467, 478, 489 Lamunchinisch 247–49 Lasen 44 Latin alphabet 226f. Le Monde 348 Lehrerbild VIII, 20, 231f., 245, 483 Lehrerbildung VIII, 20, 231f., 237, 242, 244f., 483 Leipzig 191, 261, 290–92, 298, 308– 310, 313f., 335, 337 Lenin 21, 226, 262, 264–66, 268, 271, 277, 286, 288 Lermontov 63, 263 liҵƗn 315, 318 Likoil 286 Lord Ponsonby 433, 435, 437, 440f., 443 Ludwig Karl Friedrich Detroit 113 Lübeck 19, 192–94, 207, 212, 219, 221

M M. K. Anikušin 278 M. S. Gorbaþëv 265 M. ĩiyƗ‫ ގ‬VII, 16, 33–46 mahalle mektepleri 234 Mahsati Gandžavi 284 Malatya 186, 459, 482 Mamluken 160

473

Index

Mämmäd Ämin Räsulzadä 272, 286 Mandschurei 247f., 258, 483 Manisa 142 Maraú 156, 162, 175 Mardin 41, 48, 129, 153, 157, 161, 164–68, 170, 172f., 340, 343, 407, 468 Marokko 312, 323 ma‫܈‬la‫ۊ‬at-gozƗr 197 Massenvergewaltigung 472 Massy 110, 123 Maxim Gor’kij 284 meddah 92 medrese 94, 140, 233 Mehmed Ali Pascha 113 Meতmed Bey 73 Mehmed MehdƯ 37 Mehmed NƗ'il 37 Mehmet Altay Köymen 405 Mehmet Emin Bey 302, 306 Mehmet Raúit Ö÷ütçü 177f. Mehrparteienregime 454 Meineid 312, 314f., 318 Memduh ùevket 424 Mendeleev 284 Menderes 23, 138, 146, 393, 397, 399, 400–03, 406f., 410–13 Menschenrechtsverein (øHD) 471 Menschenrechtsverletzung 470 Menteúe 138, 139, 141, 142 Meúkuk 163, 164, 165 Mexiko 193, 194, 219 Michail Gerasimov 285 Migrantinnen 359, 462, 485 Migration 128, 177, 232, 483, 485, 487 Mikhail Lermontov 61 millet 37, 41, 69, 187, 234, 275, 298, 304, 306f. milletiñ teceddüd-i medenƯsi 43 Milli Birlik Komitesi, MBK 412 millî edebiyat 420 Milli E÷itim BakanlÕ÷Õ 240 Milli Selamet Partisi (MSP) 459 Milli Türk Talebe Birli÷i, MTTB 393 Minaver Medžid Kyzy Rzajeva 274 Mir BasÕn 271 Mir Hasan Vezirov 271 Mîran 111, 118

MƯrƯkƗtibizƗde ùükrƯ Efendi 35 MirzƗ Abu al-ণasan-঩Ɨn 195 Mirza Äläk-bar Tahirzade Sâbir 275 MirzƗ ƖqƗ-঩Ɨn Nuri 196 MirzƗ EbrƗhim-঩Ɨn 195 Mirza Fath Ali Achundzade 281 MirzƗ öa‫ޏ‬far-঩Ɨn Mošir al-Doule 194f. MirzƗ Malkom-঩Ɨn 196 MirzƗ Moতammad-‫ޏ‬Ali-঩Ɨn 195 MirzƗ ReĪƗ MohandesbƗši 195 Mirzâ Tursunzâda 285 mission civilisatrice 113, 128 Mittlerer Atlas 312 MizƗn 41 Mo‫ޏ‬in al-To÷÷Ɨr 216 Molla Nasräddin 276, 282 Mongolei 286 Moscheevereine 366f., 370 Moskau 262–66, 268, 273f. 276, 286f. Mosul 121f., 151, 154, 159 Mouradjea d’Ohsson 100 Muammer Aksoy 403, 407 Mülkiyye BƗytar Mekteb-i ҵAlƯsi 33 München 131, 261f., 273, 288, 293– 295, 308, 320, 336, 390, 414, 417, 425f., 434, 451, 480, 483, 485, 487, 488 Münci Kapani 407 müúir 429, 445 Müteferrika 353, 356 muhacirlar 135 Muhammad 131, 156f., 320–22, 334, 339 Muhammad Khan Ustaclu 156f. Muপbir 70, 72, 73 mulâzim 116 Multi-Purpose-Zentren 469 Mustafa Pascha 118 Muৢ৬afƗ ReúƯd Paúa 70, 72

N Nachitschewan 284 na‫ڴ‬r 318 Nahit Eruz 424 nahiye 139f., 142, 144, 147, 164f. NallÕhan 49 NƗmÕল KemƗl 14, 17, 72f., 77–80

474 Napoleon 102, 195 Näriman Närimanov 268 Nasta‫ޏ‬liq-Šekaste 206 Nâtevân HanÕm 282 Nationalbibliothek 36, 283–85, 490 Nationalismus 30, 111, 129f., 237, 279, 286, 296, 309, 341, 391, 454, 457, 467–73, 476f., 480, 484 Nationalkommunisten 268 NazÕm Nabizade 423 Neo-Emiratisierung 111, 128 Nesîmî 280 Nestorianer 164, 165, 166 Neues Testament 302, 328 nevendƯúler 44 Nikolaj A. Baskakov 20, 227 Nil 99 Nisibi 154 Niyazi 37, 45, 48, 284, 392 Nizâmî 21, 263, 274, 277–83, 287, 490 Nomaden 117, 155, 164, 167 Nordafghanistan 168 Novchani 272 nüfus mübadelesi 135 Nu‫ޏ‬man efendi 94, 105f. NnjrƯ Bey 73 Nuri Pascha 432f., 437, 439, 442, 445–47

O Obermesopotamien 151, 155 Ogier Ghiselin de Busbecq 89 Oktoberrevolution 26, 262, 267, 273 Operation Iraqi Freedom 168 ordal 315 Orhan Kemal VIII, 15, 19, 177–86, 189f. Orhan Pamuk 17, 49, 232, 479, 483 Orientalismus 89 Osmanische Bildungssystem 233 ҵosmƗnlÕ ittihƗdÕ 43 ҵosmƗnlÕlÕk 39, 44 Österreich 94 Ost-Ewenki 247, 258 Otto von Bismarck 113 Özbeken 168 Özel 150, 405f.

Index

P Pänah Vâgif 281 Panayot 134, 137, 145, 148 Panislamismus 122 Pan-Union Congress of Turcology 227 Parapet-Platz 261 Paris 19, 31, 49, 71f., 85f., 95, 102– 108, 114, 118, 126, 130, 144, 149, 154, 175, 194, 197, 205f., 212, 271, 300, 308, 311, 314, 319f., 334, 336f., 403 Ulus (Zeitung) 396 Paúa DƗi’releri 40 Paschtunen 323 Pazartesi (Zeitung) 465f., 469, 472 Perser 159, 191, 293 Persien 14, 143, 160, 162, 166, 175, 192f., 195, 200, 203, 205f., 209, 212, 215–19, 261, 290, 490 Persienfeldzug 160f. Persischer Golf 216f. Peter der Große 97 Petrograd (St. Petersburg) 97f., 262, 273 PeymƗn (Zeitung) VII, 16f., 33–39, 42, 45–47 PÕnar 169, 482 PKK 129, 469, 470, 471, 476 Pressburg 101 Prinz Bayezid 162 Provinzliteratur 420 Puškin 21, 263, 266, 273, 280, 284, 286f.

Q qasƗm 316f., 323–25

R rakƯk 40 Ra's al Ayn 153 Räsul Reza 284 Räsulzadä 272, 290 reaya 141f., 144, 234, 437, 439f., 443, 450

Index

Refah-Partei (RP) 459, 460–66 Reislamisierung 31, 457, 462, 477 Religionsunterricht 29, 366f., 373– 375 Republikanismus 237, 454 ReúƗd Bey 73 Revolutionismus 237 Rhodos 101, 148 Rifkabylen 193 Rote Armee 265 Rousseau 35 Roza 473 Rudâkî 280, 285 rüútiye 235 Ruha 154, 159, 161 Rußland 96, 113–16, 119–23, 235, 261, 279, 282, 287f., 290, 295, 308

S Sâbir 273, 276, 282, 284, 286, 288, 490 Sabsay 264 Sadri Maksudi 21, 294f., 297, 303, 307, 308 Sadriddin Ajni 285 šahƗda 318, 319 ùahmeran VIII, 22, 339–46 úahsÕñ teceddüd-i felsefƯsi 43 Sait Faik 419, 424 ‫܇‬âkir Pascha 115, 122, 124 Säkularisierung 328, 454 Saloniki IX, 14, 23f., 34, 136, 427, 429, 431–36, 439, 442–46, 448f, 451 Samad Vurghun 284 Šamah 280 Samos 145 sanayi-i cedide 98 sancak 429, 437 Sancakbegs 164, 166 ùanlÕurfa 18, 151, 154, 167f, 170, 172, 174 úarkÕñ fuynjĪ-Õ maҵneviyyesi 46 Säuberungsgesetz 400 Savaúta Tecavüze KarúÕ KadÕn Giriúimi 473 Save 93 Schächtgebot 365

475 Schah øsmail 156–58 Schah Soltan Husayn 95 Schah Tahmasp 162 Scharia (ùer‫ޏ‬Ưa) 77, 330, 380 Scheich Ubeydullah 114 Scheichülislam 328 Schia 159 Schlacht von Párkány 92 Schwimmunterricht 384 Sefrou 312 ùehdi Osman 97, 98 Selanik 432, 446 Seldschukenstaat 156 Sergej D. Merkurov 273 Sergej Michajloviþ Širokogorov 247 Sergey Kirov 264 Serres 443–45, 450 sevgendnƗme 327 Sèvres 103 ùeyh Galib 347, 356 ùeyh øbrahim 156 Siam 193 Sibiu 94, 101 sÕbyan mektepleri 234 SÕddÕk Sami Onar 412 Silopi 168 Simon Bolivar 192 Sincar 158 SipkanlÕ 116 Sir A.H. Layard 120 ùirince VII, 15, 18, 133–37, 150 sÕrr katibi 436 Siverek 154, 160 Smyrna 148, 294, 433, 442 Sokrates 402 Somalien 323 Šota Rust’veli 280 Sowjetunion 30, 264f,, 269, 274, 276, 278, 285–87, 350 Spiki 116 Sportunterricht 380–82, 385 Sprachreform VIII, 21, 291, 295f, 309, 347, 484 Spree 99 St. Gotthard/Raab 92 Staatsbankrott 118 StadtmigrantInnen 460 Stalin 262, 264f., 273, 277, 287–89 Stalinabad 280, 285

476 Stefan Šaumanian 271 Stiftung Menteúeo÷lu ølyas Be÷ 141 Suche Bator 286 Südamerika 192 süvâri mektebi 116 Suez-Kanal 119 Sufi-Ordensgemeinschaft (zaviye, tekke, dergah) 234 Sultan ‫ޏ‬AbdülতamƯd II. 14, 328 Sultan Mahmud 144, 196 Sultan Mahmut II. 235, 427f., 436, 449–451 Sultan Meতmed V. ReúƗd 328 Sultan Meতmed VI. VaতƯdeddƯn 328 Sultan Mohammad 284f. Sultan Murad IV. 91, 167 Sultan Mustafa III. 99 Sultan Selim I. 100, 157, 160, 162 Sultan Selim III. 85, 100–02, 107, 427 Sultan Süleyman ঱ƗnnjnƯ 27, 160–62, 174, 175 Sunna 159 Synkretismus 156 Syrien 31, 153, 156, 169 Syryšþev 277

T Tabriz 159, 204, 215 taklƯd 45 Taksim-Platz 419 tamƗmiyyet-i mülkiyye 45 Tanzimat (tanܲƯmƗt) VII, IX, 14, 17, 23, 67–72, 74, 76f., 79–82, 88, 113f., 186, 190, 427, 445, 451, 480, 485, 488 tarih vesikalarÕ 85, 98, 108 Taschkenter Resolution 27 taúeronlaútÕrma 170 Task Force Iron Horse 168 taúra hikâyesi 424 TaৢvƯr-i EfkƗr (Zeitung) 70–73, 82f. Tataren 223, 225f., 275, 292 Teheran 214–17, 219 tehessüs-i vicdƗnƯ 43 Tektek Da÷ 154 Tell Afar 158 Tell Bism 164, 166, 170 Temeschwar 101

Index

terbiyye-yi ibtidƗ’iyye 43 terkƯb-i millƯ 42 TevfƯk SedƗd 37 Thora 328 Tiflis 125, 268, 273, 276, 280, 287 TøGEM 169–74 Tigris 99, 159, 162, 469 Timar 163–66 Timurid period 225 Tomris Uyar 340, 424 Trabzon 171, 418 Trikkala 432, 436 Tscherkessen 45 Türk E÷itim-Sen 241 Türk OcaƥÕ 34 Türk Yurdu Cem‫ޏ‬iyeti 34 Türkische Bibliothek 417, 484 Türkisierung 41, 113, 296f., 309 Türklük 33, 39, 48, 292, 309 Türkmenen (Turkmenen) 14, 155, 160, 164, 166, 225f. Tulpenzeit 105 Tumunchanskisch VIII, 20, 247f. Tungusen 257f., 287, 324 Turan (TurƗn) IX, 15, 23, 29, 34, 39– 42, 163, 175, 400, 404f., 417f., 425, 488 Turgud 139f. Turhan Feyzio÷lu 403 Turkestanian Turks 223 Turkish VII, 17, 49f., 53, 57–61, 65f., 74, 81, 127–30, 225f., 291, 309, 317, 331, 336, 356, 394, 403, 415f., 433, 436, 460, 477–81, 486, 488 Turkmenistan 270 Turkologie-Konferenz 350 TurmÕú Chan 158

U Ubeydullah 114f., 120, 131 üs-ü saltanat 124 Ulan Bator 286 ulema 88, 233, 411, 439 Ulucak 139f. Ulusal Demokratik KadÕn Derne÷i 472 Urfa 154, 161, 167, 170, 172, 174 USA 136, 407, 463, 486f.

477

Index

Usbekistan 286 usul al-cadid 235 Uyghur 224, 229 Uzbek 225, 226 Uzeyir Hajibeyov 284 Uzun Hasan 91

V V. Petrov 278 vahdet-i milliye 45 vali 171, 429 Valide-i Hazret-i Padiúah 142 Vambéry 125 Van 34, 116, 161, 468 Venezianer 136 Vergewaltigungen 470, 472 Versailles 95, 108 vesait-i leyyine ve mutedile 122 VIKZ 367, 369, 370–75, 377, 381, 386 vilƗyet 35, 69 Viranúehir 152, 154, 163f., 167f., 170, 172 vücnjd-Õ hƗricƯ 40 vücnjd-Õ zihnƯ 40

W Warschau 99 Wien 18, 86, 91, 93, 97, 99–102, 107f., 155, 173, 231, 300, 309, 319, 328, 335f., 485

Y Yakut 226 YalçÕn 400, 403, 405, 407, 469, 478 yamƯn 316f., 324 yeñi ҵOsmƗnlÕlar (CemҵƯyeti) 42, 71– 73, 81 yeñiçeri ocaƥÕ 40 Yevimlü 162 Yeziden 122, 124, 128 Yirmisekiz Mehmed efendi 89, 90, 91, 95, 103 Yüksek Ö÷retim Kurulu (YÖK) 241f., 391, 463 Yüksek Tahsil Gençli÷i Derne÷i 393

Z Zafer (Zeitung) 401–05, 409, 415 Zarenreich 97 zekât 362–64, 367, 385 Zeki Pascha 117f., 121, 125, 128 Zentralrat der Muslime 367, 376 Zilan 116 ĩiyƗ Bey 17, 72–75, 77, 80, 83 Ziya Gökalp 17, 33, 302, 306 Zweite Aserbaidschanische Republik 264 Zweiter Weltkrieg 217, 277, 332, 390, 414, 486f.