Wo ist der Vater?: Reflexionen zu Hiob 9783495999875, 9783495999882

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Wo ist der Vater?: Reflexionen zu Hiob
 9783495999875, 9783495999882

Table of contents :
Cover
Hiob – ein sprechender Name
Der Plot
Hiob – poetischer Schrei nach Gott
«Denn Allwalts Pfeile stecken in mir»
Hiob als Privatmann
Recht auf Klage
Hiobs Klage gegen seine Freunde
Wie lesen?
Hiob als Typus des Schwergeprüften
«Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr»
«Der Frevler Jubel ist kurz»
Der neue Hiob, die neue Einsamkeit
Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst?
Fabeln ohne Tiere
Das Herz, eine Mördergrube
Das Problem der direkten Rede Gottes
Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan
Gottes leise Stimme
Bibliographie

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Jean-Claude Wolf

Wo ist der Vater? Reflexionen zu Hiob

https://doi.org/10.5771/9783495999875 .

https://doi.org/10.5771/9783495999875 .

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Jean-Claude Wolf

Wo ist der Vater? Reflexionen zu Hiob

https://doi.org/10.5771/9783495999875 .

Onlineversion Nomos eLibrary

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99988-2 (Print) ISBN 978-3-495-99987-5 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999875 .

Vorbemerkung

Die Essays zu Hiob sind aus Leidenschaft für die Lektüre biblischer Texte in deutschen Übersetzungen entstanden, Erträge eines Liebha­ bers, der keine historische oder philologische Schwerstarbeit geleis­ tet hat. Bereits geleistete Forschung wurde dankbar berücksichtigt. Wenn die Essays dazu dienen, zur eigenen vertieften Lektüre anzu­ regen, haben sie ihren Zweck erfüllt. Die Arbeit des Lesens und einer «Relecture» in verschiedenen Lebensphasen kann niemandem abgenommen werden. Mit siebzig Jahren liest sich ein Text anders als mit siebzehn. Im Unterschied zu akademischen Qualifikations­ arbeiten verzichtet dieses Buch auf das Korsett der für Lehre und Forschung gebräuchlichen Standards: Darstellung des Standes der Forschung oder Wahrung der Einheit einer Disziplin und Versuch, alles bisher Gesagte zu überbieten. Die einzelnen Kapitel reflektieren, experimentieren, erzählen über alle Disziplinen und Disziplin hinaus und kehren jeweils zur Gestalt Hiobs im Text zurück, die durch kei­ nen Kommentar und keine Fachliteratur endgültig und erschöpfend dargestellt werden kann. Sie sind nicht linear fortschreitend, sondern kreisend. Für Aussagen über Gott, seine «leise Stimme», sein «Han­ deln», seine «Abwesenheit» und seine Offenbarung usw. wird kein Anspruch auf Erkenntnis erhoben. Der Hintergrund eines philosophi­ schen Zugangs ist ein gemässigter Fideismus, der in der Bibel das Anstössige und Absurde nicht unterschlägt, sondern Erläuterungen des Glaubens an den ewigen Vater bzw. die ewige Mutter sucht. Dieser Glaube ist mit spezifischen konfessionellen Praktiken vereinbar, setzt sie aber nicht voraus. Gottes Stimme für den Einzelnen stellt vor das Extrem einer Gottesbeziehung, die weiterhin aufrechterhalten wird, auch wenn niemand sonst «mitmacht». Konstanten in Hiobs Lebenslauf sind das (kultische) Opfer und das Gebet, die nur zeitwei­ lig von schrecklichen Umständen unterbrochen werden. Hiob ist das erzählende und dialogische Werk der Krise und Wiederherstellung der Beziehung eines Gerechten zu Gott, das seine Wirkung auch auf jene ausüben kann, die diesen Glauben noch nicht oder nicht mehr haben. Das Korsett menschlicher Begriffe und Anschauungen wird auf

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Vorbemerkung

eine harte Probe gestellt, wenn es darum geht, die Zeichen und Spuren des Heiligen im Text zu lesen. Kommentare zu den Voraussetzungen und Bedingungen des Lesens literarischer Werke verdanken sich vielfachen Anregungen (vgl. Bibliographie) und Erfahrungen mit Prozessen des eigenen literarischen Schreibens. Für Hinweise und Kritik danke ich Jan Holzheu, Hans Peter Lichtenberger, Alois Müller, Arnd Kerkhecker, Peter Rusterholz, Tom Schindler, Vera Schindler-Wunderlich und Beatrice Wyss. Ohne die regelmässigen Gespräche mit Jan Holzheu wäre auch dieses Buch nicht möglich gewesen. Für verbleibende Fehler und Irrtümer sind die Genannten nicht verantwortlich.

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Inhaltsverzeichnis

Hiob – ein sprechender Name . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hiob – poetischer Schrei nach Gott . . . . . . . . . . . .

19

«Denn Allwalts Pfeile stecken in mir» . . . . . . . . . .

23

Hiob als Privatmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Recht auf Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Hiobs Klage gegen seine Freunde . . . . . . . . . . . . .

50

Wie lesen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hiob als Typus des Schwergeprüften . . . . . . . . . . .

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«Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr» . . . .

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«Der Frevler Jubel ist kurz» . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der neue Hiob, die neue Einsamkeit . . . . . . . . . . .

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Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst? . . . . .

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Fabeln ohne Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

Das Herz, eine Mördergrube . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Problem der direkten Rede Gottes . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

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Gottes leise Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hiob – ein sprechender Name

Hiob – möglicherweise eine fiktive Figur – trägt keinen Subjekt­ namen, sondern einen Prädikatsnamen, oder besser noch: einen Ruf-Namen, und zwar im doppelten Sinne: Er wird von anderen Hiob gerufen, und der Name bringt seinen Ruf: »Wo ist der Vater? » zum Ausdruck. Hiob ist singulär in der Erzählung und allgemein im Namen. Der Name steht für den Ruf nach Gott, über den sich die Spötter erheben: «Wo hat er sich versteckt? Ging er verloren? Hat er sich verirrt? Oder ist er tot? Wo ist sein Leichnam? Wo ist sein Grab?» Es ist die Form der Frage, über die atheistische Astronauten höhnen, wenn sie Gott im Weltall nicht antreffen. Und es ist die Art von Frage, über die ältere Geschwister spotten, wenn jüngere Geschwister nach dem Christkind oder dem Osterhasen fragen und wissen wollen, wo sie sich aufhalten, wenn sie nicht da sind. Hiobs Ruf dagegen ist Ausdruck des Schocks über Fehlen oder Verschwinden (französisch: «Disparition») von Erscheinung und Stimme einer Bezugsperson, eine Beziehungskrise, die zweideutiger ist als der Tod. Es ist die rhetorische Frage nach einem Ort oder Un-Ort, wie jenen imaginären Orten der Toten oder dem Himmel als Sitz des Heiligen. Von den Toten weiss man und versichert sich dessen durch Magie, kollektive Zeremonien und Gedenkfeiern, dass sie nicht wiederkehren. Hiobs Tragik entsteht aus diesem Vermissen und dem Festhalten an der Person, im «gefolterten Vertrauen auf Gott». Gott könnte in extremis als «grausamer» Gott erfahrbar werden, aber nicht als nicht-existent. Er mag fern sein, doch er muss wiederkehren, um seine Versprechen einzuhalten, seinen Bund, die Verbundenheit des Schöpfers mit seinen Geschöpfen zu bewahren. Es schwingt in der Frage eine Glaubenskrise mit, aber nicht der verhärtete Unglaube, der besagt, dass es Gott zu keiner Zeit an keinem Ort gibt. Es gibt in Hiobs Not keine Auflösung von der geistmetaphysischen Art, die beschwichtigt, aber nicht tröstet, mit dem Dualismus von Geist und Körper, der Gott einem körperlosen, rein geistigen «Raum» zuweist. Dieser rein geistige Gott wird sich am Ende als Gespenst herausstel­

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Hiob – ein sprechender Name

len, nicht Hiobs Gott, der in der Geschichte handelt oder – scheinbar lange Zeit – nicht eingreift. Die in Hiobs Name eingeschriebene Frage ist näher bei der Kin­ derfrage als bei der Erwachsenenfrage, die sich mit Erwachsenenant­ worten abfindet. So gibt es etwa die Antwort: «Gott ist überall.» Man könnte das die «pantheistische» Antwort nennen, wenn es möglich wäre, sich auf eine Definition von ›Pantheismus‹ zu einigen. Doch wie reagiert ein Kind von vier oder fünf Jahren (um eine beliebige Altersgrenze anzugeben) auf diese Antwort? Eine typische Art des Fragens und Weiterfragens könnte lauten: «Wo ist überall?» Und eine Erwachsenenantwort lautet: «Die Frage ist unstatthaft. So fragt nur, wer die Semantik des Wortes ›überall‹ nicht versteht. ›Überall‹ klingt zwar räumlich und will sagen: Es gibt keinen Ort, an dem Gott nicht anzutreffen wäre, von dem Gott ausgeschlossen wäre. Doch es ist nicht ein Begriff für eine Lokalisierung Gottes und antwortet in gewisser Weise nicht auf die Kinderfrage «Wo ist Gott» und die Frage Hiobs «Wie nahe, wie fern ist mir Gott?» Es ist die Frage nach einem Gott, der nicht nur Gott seines Volkes oder Stammesgott wäre, son­ dern Gott eines jeden Einzelnen, «mein Gott». Oder konkreter: «Mein Vater.» «Wo ist Gott?» ist nicht eine Frage vergangener Epochen, son­ dern sie ertönt in zahlreichen Stimmen unserer Zeit. Sie hat die Konnotationen eines Notrufs oder einer Provokation, eines Spottrufs oder purer Verzweiflung. Doch die Frage wird weiterhin gestellt, weniger von Philosoph*Innen, als vielmehr in der Literatur.1 Häufiger sind die Erweiterungen der Frage, etwa: «Wo ist Gott im Leid?», oder: «Wo war Gott in Auschwitz?» Die Frage nach dem Vater wird auch Psycholog*innen anspre­ chen, die darauf achten, ob in einer Autobiographie ein Elternteil nicht erwähnt wird, warum der lebende oder tote Vater im Memorandum fehlt. Die Nicht-Erwähnung ist verräterisch. Im Dad-Dropping liegt die negative Aufmerksamkeit des aktiven Verschweigens, eine grol­ lende oder beschämte Beharrlichkeit, z.B. nach dem Motto «Von dem Mistkerl spreche ich nie wieder», ein Prozess des Verdrängens einer Quelle enttäuschter Erwartungen. Im biblischen Buch Hiob geht es nicht um eine solche NichtErwähnung, wie sie manchmal in Familien von verbrecherischen 1 Vgl. Horst Nitschke (Hrsg.): Wo ist Gott? Stimmen unserer Zeit, Gütersloh: Güters­ loher Verlagshaus Gerd Mohn 1969.

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Hiob – ein sprechender Name

Vätern vorliegt, wo das Verdikt gilt, dass der Vater «ein NaziSchwein» war, oder Frau und Kinder hocken liess, oder Kontaktverbot hat. Im Buch Hiob geht es vielmehr um Streit mithilfe und gegen Gott. Gott gerät in die Doppelrolle des Angeklagten und des Verteidigers. Es wird indirekt eine Spannung oder gar Inkohärenz im Begriff Gottes aufgebaut, die eine Spannung in Hiob spiegelt. Gott tritt ihm als Anwalt (Retter) und als Ankläger (Feind) entgegen, er ist ihm ein grausamer, unbegreiflicher und erbarmender Vater, ein sich verber­ gender und sich offenbarender Gott – Gegensätze und Kontraste in menschlichen Begriffen, die unzulänglich oder zu eng sein mögen. Es gäbe hier, wenn man philosophische Arbeit leistete, Unsagbares, wahren oder falschen Aussagen Unzugängliches. Es gäbe Unschärfen in den Begriffen und Lücken und Fehler in den Argumenten. Dieser lebendige Gott Abrahams und Hiobs ist Torheit für das begriffliche Denken und Ärgernis für das Wunschdenken, das sich sein Bild eines gerechten oder sanften Gottes zurechtlegt und urteilt: Das Theodizeeproblem enthält das durchschlagende Argument gegen die epistemische Plausibilität des Theismus.2 Es ist nach dem Stand der von Norbert Hoerster (selektiv) skizzierten philosophisch-theo­ logischen Debatte unwahrscheinlicher, dass Gott existiert, als dass er nicht existiert. Die «Beweislast» liegt beim Glauben, nicht beim Unglauben. Vermutlich ist eine solche Darstellung des sog. Theodi­ zee-Problems nur möglich 1. vor dem lebensgeschichtlichen (biogra­ phischen) Hintergrund eines verlorenen, nicht mehr praktizierten Glaubens und 2. der Angleichung des Glaubens an Gott an eine wissenschaftstheoretische Frage, wie es sich in der neuzeitlichen Rede von der «Hypothese Gottes» abzeichnet. Für Hiob trifft beides nicht zu: Er spricht über Gott, zu Gott und mit Gott (er glaubt und prakti­ ziert), und er streitet nicht im Wettstreit mit der Plausibilität eines modernen Naturalismus, sondern im Konflikt mit seiner eigenen Tradition und der verbreiteten Auffassung, dass Gott (sichtbar in der Welt) die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Er kämpft mit der Anomalie des leidenden Gerechten in Gottes Schöpfung. Er hadert 2 Vgl. Norbert Hoerster: Der gütige Gott und das Übel. Ein philosophisches Problem, München: C.H. Beck 2017. Der Philosoph Hoerster, ob man mit ihm übereinstimmt oder nicht, steht für wortkarge Klarheit, die ihn von wortreichen Verfechtern einer konstruktiven Theodizee unterscheidet. Wie bereits Immanuel Kant meint, steht Hiobs Wahrhaftigkeit und Lauterkeit fest. Vgl. Kant, Immanuel (1791): Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Band VIII Abhandlungen nach 1781, Berlin: de Gruyter 1968, 253–272.

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Hiob – ein sprechender Name

damit, auf diese Weise von seinem Gott «geprüft» oder «vernachläs­ sigt» worden zu sein. Der Prädikatsname «Wo ist der Vater?» bezeichnet keine deskriptive Eigenschaft, sondern bringt den Gebetsruf, in dem Ver­ zweiflung über die Abwesenheit und Hoffnung auf eine Begegnung mitschwingen, zum Ausdruck. Der Ruf ist expressiv, bringt Gefühle, Erwartungen und deren Durchkreuzung zur Sprache. Religionsge­ schichtlich könnte er auf den Ruf nach den Vätern und Ahnen verweisen.3 Das «Wo» der Verstorbenen ist ebenso imaginär und unbegreiflich wie das «Wo Gottes». Es ist eine Sache der Mythen und Träume, eine (symbolische) Topographie für Gott und für die Toten zu entwerfen. Der Hiob-Name ist nicht «malend», sondern «singend», e-vokativ. Es könnte eine rhetorische Frage sein für die Klage: «Er ist nicht da, wo (wenn) man ihn braucht.» Das Gegenteil ist die Klage. «Er ist immer da, wenn man ihn nicht brauchen kann». Anstelle der Klage tritt Erleichterung darüber, dass ein unberechenbarer, jäh­ zorniger und gewalttätiger Vater oder «Big Brother» vorläufig und zeitweise ausser Reichweite wäre. So wünscht man sich einen «diskre­ ten Patriarchen», der nicht alles sieht und alles kontrolliert und die Privatsphäre respektiert. Der Schreck bezieht sich sowohl auf seine Abwesenheit, «wenn man ihn dringend nötig hätte», als auch auf die Eventualität, dass er auftaucht, «wenn man ihn nicht brauchen kann», lebendiger als ein Gerücht oder ein Gespenst. Mit den Stimmen seiner Gattin, der «Hiobin», die selbst keinen Namen hat, die sich von Gott und von ihm abwenden wird, und mit den wortreichen Reden seiner Freunde und Besucher ist Hiob nicht zufrieden. «Wo ist Gott?» ist Hiobs Name, und dieser ruft nach der Erfüllung, mehr als das Rauschen menschlicher und nicht-menschlicher Laute, nämlich Gottes Stimme zu hören. «His master’s voice.» Nach dieser Erfüllung wird Hiobs Leben von Gott wunder­ sam erneuert – Hiob ist kein vorzeitig Sterbender! Seine Leiden waren nicht Leiden der Agonie. Und der wahre Gott «beweist sich ihm» nicht argumentativ, sondern als jener an ihm Handelnde, der alles neu macht. Hiobs Schrei klingt auch in der Literatur mit, die seinen Namen nicht erwähnt. Ein Beispiel für die implizite Hiob-Thematik ist die 3 Vgl. Gerhard Kaiser, Hans-Peter Mathys: Das Buch Hiob. Dichtung und Theologie (Verlag der Weltreligionen) Insel Verlag, Berlin 2010, 184f.; Paul Huber: Hiob. Dulder oder Rebell? Düsseldorf: Patmos Verlag 1986, 13.

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Hiob – ein sprechender Name

Erzählung «Wakefield» von Nathaniel Hawthorne.4 Der Gatte und Vater verschwindet und wohnt heimlich in der Nachbarschaft, von wo aus er das Leben seiner Familie beobachten kann. Er tritt erst nach vielen Jahren wieder in die Wohnung ein, die er verlassen hat. Sein Verlassen und sein Wiedereintreffen sind in der kurzen Erzählung nicht begründet, nicht motiviert. Er handelt – aus der Sicht der anderen Figuren und des Erzählers – grundlos. Nur der Erzähler kann im Pakt mit dem Leser den Schleier teilweise lüften und berichten, dass der abwesende Gatte und Vater zumindest als Beobachter von aussen und aus der Nähe am Familiengeschehen teilnimmt. Dieser Vater ist kein Sympathieträger, niemand, den man in einer Talk-Show bejubeln würde. Und doch identifiziert sich der Erzähler, verschweigt nicht das Leiden desjenigen, der durch sein Verschwinden andere enttäuscht und dabei «negative Gefühle» hat, vielleicht sogar Gewis­ sensbisse. Gerade diese Phase, in der sich Leser und Erzähler in den Winkel des Familienflüchtigen begeben, liesse sich zu einem Roman ausweiten. Hat der Abwesende überhaupt ein eigenes Leben, oder besteht es nur darin, die Verlassenen nicht aus dem Auge zu verlieren? In der Erzählzeit, die den verborgenen Beobachter sichtbar macht, zählt vorübergehend nur die Perspektive des verborgen Anwesenden, während die Verlassenen, für die er schlicht abwesend ist, nicht eigentlich zu Wort kommen, sondern sich nur in und ausserhalb der Wohnung bewegen. Gut möglich, dass ihre Erinnerungen an ihn verblassen. Er jedoch bleibt auf jene fixiert, die er verliess. Er wird zuhause vielleicht beklagt, verflucht oder aus den Reden und Gedanken verbannt. Er allein denkt, beobachtet und kommentiert in seinem engen Rückzugswinkel und schiebt seine Rückkehr im «rich­ tigen Augenblick» hinaus. Es ist, als hätte er mehr Zeit als die anderen. Er sieht auf den Schauplatz, den er verlassen hat, wie Gott aus dem Himmel auf seine Schöpfung, nur ist das, was er beobachtet, nicht seine Schöpfung, eher schon sein «Scherbenhaufen»; und der, der aus seinem Winkel beobachtet, ist nicht Gott, sondern ein verschrobener, melancholischer, allenfalls «verrückter» Mensch. Liegt in Hawthornes Erzählung so etwas wie Verständnis oder gar eine Entschuldigung für die lange Abwesenheit des Mannes, der seine Gattin und seine «Garantenpflichten» vernachlässigt? Nein. 4 Wakefield. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und abgedruckt in: Natha­ niel Hawthorne: Das grosse Steingesicht. Erzählungen (Die Bibliothek von Babel). Mit einem Vorwort von Jorge Luis Borges. Edition Büchergilde, Frankfurt a.M. 2007, 12–29.

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Hiob – ein sprechender Name

Es bleibt so unverständlich, wie Kleinkindern ein abwesender Vater unverständlich bleibt. Die Erzählung löst das Rätsel der Entfernung und Wiederannäherung nicht auf; gleichwohl gibt sie der Leserin einen Hinweis auf dessen Anwesenheit. Die Länge der Frist seines Ausbleibens ist unerklärlich und unerträglich, und es wird auch nicht «vollständig» erzählt, z.B. davon, ob er nach seinem Wiederein­ treffen bleibt, ob es doch noch einen harmonischen Spätsommer gibt, ob und wie die Frau diese Zumutungen (des plötzlichen Verschwin­ dens und des ebenso abrupten Auftauchens) verarbeitet. Wird sie ihn zurücknehmen? Werden ihn die Kinder nachträglich besser ver­ stehen? Braucht es überhaupt den biologischen Vater? Jede Erzählung ist unfertig; Anfang und Ende liegen im Dunkeln; die Handlungs-Epi­ soden bleiben von literarischen Leerstellen durchlöchert: es klaffen die Lücken aller Fiktion und selbst jeder nach Vollständigkeit strebenden Chronik. In dieser Kurzerzählung wird das unmotivierte Ausbleiben auf die Spitze getrieben. Was dagegen bleibt, ist die Atmosphäre einer langen, irgendwie perversen Abwesenheit und voyeuristischen Nach­ barschaft. Hiob gleicht eher einem epischen Drama als einer Short Story. Die Erzählung von Anfang und Ende ist zwar relativ knapp, doch die Reden sind lang. Wer Hiob wirklich war, verschwindet ebenso in einer Urzeit wie die Kontur der Erzähler – vermutlich haben verschiedene Generationen von Erzählern mitgewirkt. Sie reden nicht von sich als Autoren. Es ist keine Autorenliteratur. Die Endgestalt ist von kunst­ voller Absicht abgerundet und bleibt gleichwohl voller Bruchstellen. Es gibt keinen einfachen und einheitlichen Schlüssel, keine simple These, kein in sich stimmiges Argument, mit dem sich das literarische Werk zusammenfassen liesse. Selbst der Name löst keine Rätsel auf, sondern bildet in gewisser Weise das zentrale Rätsel. Es schallt der Name als Gebetsruf im Ohr: «Wo ist der Vater?» Fast könnte man meinen, der Name nehme einen Gebetsruf Jesu am Kreuz vorweg, in dem sich der Gebetsruf von Psalm 22, 2 («Vater! Vater! Warum hast du mich verlassen?») wiederholt. «Vater» steht nicht für irgendeinen, ersetzbaren oder verwechselbaren Gott, sondern für «meinen Gott», den «Gott der Väter», der «Kindheit», eines langen Lebens. Es ist nicht der «optionale» Gott, den man aus einem Warenhausangebot von Religionen auswählt, obwohl es Gott sein wird, zum dem sich Hiob neu stellen, neu entscheiden wird. Gott selbst wird ihn auffor­ dern: «Gürte deine Lenden wie ein Mann.» Wichtig ist nicht nur der Inhalt der Rede, sondern auch die Szene, wer da ruft. Hiob ist zwar

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Hiob – ein sprechender Name

nicht wie Jesus Sohn Gottes, aber er liegt Gott ganz besonders am Herzen, wie die Rahmenerzählung des Buches Hiob nahelegt. Hiob ist Gottes Knecht, und er wird gegenüber Satan im Prolog im Himmel von Gott als sein getreuer Knecht gelobt. Ein sehr persönliches Vasal­ lenverhältnis wird angedeutet und ein enormer moralischer Kredit... Den Ruf nach dem Vater können die meisten Menschen verste­ hen, ob sie Hebräisch verstehen oder die Bibel studiert haben oder nicht. Der sprechende Name ist ein Zugang, der zugleich ein Zugang zu vielen Wegen der Fortsetzung oder des Abbruchs der Lektüre sein kann. Das Fehlen des Vaters erlaubt eine Generalisierung: Wo ist der Vater? Auf der Jagd? Im Krieg? Im Büro? Bei der Geliebten? Wo wäre der Vater, der zuverlässiger, anwesender, fürsorglicher wäre als der reale Vater? Wo bleiben die konstanten Bezugspersonen der Kindheit? Wo bleibt die Kindheit, in der Erwachsene einst ihren Vater genossen oder erlitten haben? Wie «reifen» Männer zu Vätern oder versagen und werden wieder in die Rolle des «schlechten» Vaters gedrängt, der nie genügt? Und können Grossväter, ältere Brüder oder andere Männer und Mütter nicht die Rolle «des» Vaters übernehmen und ihn ersetzen? Was wäre der Vater, der nicht nur fehlt, sondern auch durch nichts und niemand zu ersetzen wäre? Was bedeutet das Fehlen des Vaters in einer patriarchalen Welt? Was bedeutet sein Fehlen in einer Welt, in der sich die Frauen emanzipieren? Diese Fragen werden aufgeworfen, aber sie werden nicht zum Leitfaden der folgenden Kapitel. Die Fortsetzung setzt immer wieder neu und etwas anders an. Ein vollständiger oder gar gelehrter Kom­ mentar ist nicht vorgesehen. Es gibt davon mehrere, und einige wer­ den gelegentlich erwähnt und in der Bibliographie aufgeführt. Dass ein Kommentar zugleich wissenschaftlich solid und sensibel für die literarischen Qualitäten sein kann, beweist der zitierte Kommentar von Gerhard Kaiser und Hans-Peter Mathys. Hier wird nicht einmal versucht, mit einem solchen Kommentar zu wetteifern oder ihn gar zu übertreffen. Es geht um die Mitteilung von Leseerfahrungen und ihre reflexive und rhapsodische Verarbeitung. Das Erzählen aus der Antike kann zum Nachdenken, aber auch zum eigenen Erzählen anregen.

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Der Plot

«Ein Mann lebte im Land Uz, der hiess Hiob. Dieser Mann war rechtschaffen und gerade und fürchtete Gott und wich vom Bösen. Sein Besitz waren 7000 Schafe und 3000 Kamele und 500 Joch Rinder und 500 Eselinnen und sehr viel Gesinde. Dieser Mann war grösser als alle Ostleute. Es geschah eines Tages, da kam ein Bote zu Hiob und sprach: Die Rinder pflügten, und die Eselinnen weideten neben ihnen. Da fielen die Sabäer ein und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts. Ich ganz allein bin entronnen, es dir anzusagen. Als der noch redete, kam ein anderer und sprach: Feuer Gottes fiel vom Himmel und entzündete die Schafe und die Knechte und verzehrte sie. Ich ganz allein bin entronnen, es dir anzusagen. Als der noch redete, kam ein anderer und sprach: die Chaldäer machten drei Abteilungen und fielen über die Kamele her und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts. Ich ganz allein bin entronnen, es dir anzusagen. Da erhob sich Hiob und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel zur Erde und neigte sich und sprach: Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen und nackt werde ich dahinfahren. Jahwe hats gegeben, Jahwe hats genommen; der Name Jahwes sei gelobt! Jahwe aber segnete Hiob künftig mehr als zuvor, und er bekam 14000 Schafe und 6000 Kamele und tausend Joch Rinder und 1000 Eselinnen.»5

Diese Kondensierung auf den Inhalt der Erzählung lässt vieles weg: die Rahmenerzählung am Anfang (von der «Wette» Satans mit Gott im Himmel), die langen Reden von Hiobs Freunden, seine Gegenre­ den und die Reden Gottes. Auch wird nicht erwähnt, dass es nicht beim ersten Schicksalsschlag sein Bewenden hat, sondern das Hiob auch mit Krankheit und Aussatz geschlagen wird, dass sich seine Frau von diesem Gott und ihrem Gatten abwendet. Viele Details gehen in der Reduktion auf einen Plot verloren. Es wäre auch nicht besonders hilfreich, das Buch Hiob in extenso zu resümieren, weil 5 Hiob, 1.1.3.13a.14 – 17.20 – 21;42,12. Die Kondensierung stammt von Christoph Levin: Das Alte Testament, 4., durchgesehene Auflage, München: C.H.Beck Wissen, 2010, 107f.

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Der Plot

ein grosser Teil (der Mittelteil) hauptsächlich aus lyrischen oder dramatischen Rezitationen besteht; selbst die Stimme Gottes gleicht einem Schöpfungspsalm. Gott und seine Geschöpfe werden als Poeten und Akteure aufgeführt; der Text ist nicht nur ein Lesetext, sondern auch ein Redetext, der zum grössten Teil aus kunstvollen Monologen gebildet ist. Es ist bezeichnend für die tief klaffenden Lücken des kul­ turellen Gedächtnisses, dass diese literarisch grossartigen Monologe der Antike in einer zeitgenössischen Anthologie von Monologen6 fehlen, als hätte es, vor dem Zeitsprung zu Shakespeare und der Literatur der Neuzeit, nur die Monologe der griechischen Tragödien gegeben. Diese Auslassung ist eine «Bildungslücke», mehr noch: eine unzulässige Vereinfachung und ungerechte Weglassung, also eher eine «Bildungsschande», eine Fortsetzung der Abwertung der Hebräischen Bibel durch Weglassung, die den Sinn und Zweck einer Anthologie der schönsten Monologe der Weltliteratur zur Übung von jungen Schauspielerinnen empfindlich schmälert. Als könnte man sich nicht mit Rezitationen von Monologen aus dem Buch Hiob vor Publikum und vor Gott als künftige Schauspielerin hinreichend üben und bilden, selbst wenn der «Rest der Literatur» verschollen wäre! Gleichwohl geht es im Buch Hiob um mehr und anderes als nur um Schauspielerei; es geht um den Schrei nach Gott, die grossen Fragen des endlichen Menschen im Antlitz des Ewigen, um Anfechtung und Bewährung, Einsamkeit und Rechtfertigung, um das Böse, das Schöne in der Schöpfung, um hilflosen Trost, unpassende Belehrung usw. Was in der kunstvollen Gestalt überliefert ist, lässt sich weder durch die Reduktion auf einen Plot noch durch die Extraktion von Lehren und Dogmen ausschöpfen. In der Erzählung ist ein Überschuss, der neue Deutungen anzieht und zurückweist. Eine Annäherung an dieses Werk kann von vielen Seiten erfolgen und von keiner Seite aus abschliessen. Mit der Gattungsform des Essays ist eine offene Deutung angesagt, kein System oder gar eine einzige richtige Interpretation. Es ist ein Versuch zu lesen und zu vernehmen, wie ein grosses Werk der Antike zu uns spricht. Ob es den Glauben bestätigt oder destabilisiert, ob es gar dem Unglauben zugänglicher wird als dem Glauben, das zu entscheiden darf jeder Leserin anheimgestellt bleiben. Die Zeit der systematischen Über­ wachung und Bevormundung der Leserinnen ist vorbei. Vieles ist Vgl. Bernd Kolf (Hrsg.): Die schönsten Monologe der Weltliteratur. Von Aischylos bis Juli Zeh, Leipzig: Henschel Verlag 2016.

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Der Plot

möglich, auch und sogar, dass das Buch zu einem «Lebensbuch» für jene wird, die unter Ungerechtigkeit leiden. Hiob ist als Dulder und Rebell nicht der erste und nicht der letzte seiner Art, und doch ist jede in einer ähnlichen Situation einzigartig, unvergleichbar, ein Einzelfall unter Einzelfällen. Hiob ist vielleicht einsamer als jene modernen Existenzialisten, die sich mit der Absurdität einer Welt arrangieren möchten, in der Gott fehlt. Hiob mit seiner Einsamkeit, welche darin besteht, dass Gott, der ihn trösten könnte, so lange nicht mit ihm spricht… Einsamer als der Vaterlose ist dieser Mann, der einen ewigen Vater hat, der nah ist und doch unbestimmt und unfasslich lange schweigt oder zürnt. «Wie lange noch?» Wäre ein Drehbuch von Hiob nicht Ansporn und Herausforderung für Schauspielerinnen in der Ausbildung?

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Hiob – poetischer Schrei nach Gott

«Das Buch Hiob ist ein sehr gutes Buch, allen betrübten, angefoch­ tenen, leidenden und bekümmerten Herzen zum Trost geschrieben. » (Martin Luther)7

Das Buch «Hiob» ist ein poetisches Buch, aber es ist auch ein Lehr­ buch. Sofern »Hiob« zu den poetischen Büchern gehört, lässt es sich nicht auf eine einfache widerspruchsfreie Theorie reduzieren; es muss nicht einmal einen eindeutigen, von der poetischen Ausdrucksform loslösbaren Gehalt, eine «Botschaft» haben. Als poetisches Buch steht der gute und leidende Mensch im Zentrum; er sucht allerdings nicht das Zentrum in sich, sondern in seinem Gott. Es wird eher etwas szenisch vorgeführt als gelehrt, nämlich dass der gerechte Leidende mit Weisheits-Worten, frommen Schriftzitaten, Ratschlägen und ein­ dringlichen Ermahnungen, dass er von Aussenstehenden, selbst wenn es besorgte und eigens zugereiste Freunde sind, die dieses Leiden nicht an eigener Seele und eigenem Leib erfahren, nicht zu trösten ist. Hiobs Gegenreden zeigen es: die Freunde erweisen sich als hilflose Helfer. Am Ende haben sie ihr Werk für Hiob nicht für ihn, sondern für sich selbst getan, um sich gegen sein Schicksal abzusichern und sich weiterhin einzureden, dass nur ein Leben ohne Sünde ein gutes Leben ist, dass jene, denen es wohl ergeht, keine Sünder sein können. Sie sehen in ihrem Wohlsein den Beweis ihrer Gerechtigkeit. Immerhin sind diese Besucher zunächst längere Zeit wortlos anwesend, teilen sogar Hiobs Elend schweigend, doch nach einer Woche bricht Hiob sein Schweigen mit einer herzzerreissenden Klage; darauf brechen die Besucher das Schweigen, und einer nach dem anderen redet, in wohlgesetzten Worten der Belehrung, mit langen, kunstreich ausformulierten Monologen. Es scheint dem Schwergeprüften, dass die drei Freunde und schliesslich zu allem Überfluss noch ein vierter Hinzutretender (Elihu) alle zu lange reden, mehr von sich als von 7 Zitiert aus: Richard Brüllmann: Lexikon der treffenden Martin-Luther-Zitate. Die eindrucksvollsten Zitate nach Stichwörtern von A-Z geordnet, Thun: Ott Verlag 1983, 111.

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ihm. Sie reden aus ihrer Situation, sie sind verschont und sprechen die Sprache der Glücklichen zu einem, der zur Fremdsprache der Unglücklichen, zu den Dissonanzen der Klagen wechseln musste. Sie sprechen lehrhaft, gleichsam fromme Krisenmanager, und gegen jede empirische Evidenz im «Lauf der Welt», der doch hinreichend zeigt, dass Böse häufig und lange Zeit reich und glücklich sind, während Gute verkümmern. Es gibt keine sichtbare oder gar beweis­ bare «moralische Weltordnung», in der sich Tugend direkt auszahlt und das Laster sofort und angemessen bestraft wird. Die Hinzutreten­ den und monologisierenden Freunde machen dem Unglücklichen die Situation nicht leichter, sondern schwerer, weil niemand lange einem Klagendenden zuhören mag, jeder nur um seine Redezeit kämpft und seine Weisheiten anbringen will. Klagende werden im Alltag schnell als Jammertanten oder Klageweiber verunglimpft; die Klage scheint eine Allegorie weiblicher Schwäche oder «Hysterie» zu sein, Ausdruck eines Mangels an stoischer Männlichkeit, die tapfer aushält und – wie der Indianer am Marterpfahl – schweigt oder gar seine Feinde verspottet. Hiob klagt und geht mit seinen Klagen in Anklagen über; Gott selbst wird als Ursache und Feind angeklagt, aber auch als Retter gepriesen. Eine tiefe Ambivalenz eröffnet sich, in Hiob und in Gott selbst. Hiob hört nicht auf, zu Gott zu beten, der ihn doch bedrängt. Doch er – hört er überhaupt zu? Wie lange noch will er schwei­ gen? Wann wird er mit dem Leidenden selbst reden? Oder zu ihm? Wird er ihm rechtgeben? Oder den Freunden, die versuchen, ihre Lehre zu verteidigen? Gelingt es, das Buch Hiob als große Dichtung und Schrei nach Gott radikal ernst zu nehmen? Und ist es möglich, allgemeine Lehren aus der Lektüre zu ziehen? Weil das Buch «Hiob» auch ein Lehrbuch der Weisheit ist, scheint es etwas zu lehren über Menschen in ähnlichen Situationen. Die Situationen müssten nicht nur äusserlich ähnlich sein, sondern ähnlich im relevanten Sinne, nämlich dass gute Menschen mit Übeln überhäuft und vom Feind (vom Bösen) geschlagen werden. Von aussen betrachtet ist es unverdientes, sinnloses Leiden, gleichsam eine perverse Strafe für einen untadeligen Lebenswandel. «Wenn guten Menschen Böses widerfährt»8: Was passiert im Einzelfall, 8 Vgl. Harold S. Kushner: Wenn guten Menschen Böses widerfährt. Aus dem Ameri­ kanischen übersetzt von Ulla Galm-Frieboes. Bearbeitet von Hans Sponsel, 10., völlig überarbeitete Auflage, München: Gütersloher Verlagshaus 2010.

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und was lässt sich daraus lernen, von den Betroffenen selbst, von den Mit-Betroffenen, Angehörigen und einer mehr oder weniger teilnehmenden Mitwelt? Ist die Lehre des Buches Hiob eine negative, die besagt, dass der gute Mensch, dem Böses widerfährt, durch nichts und niemand (ausser durch Gott selbst) getröstet werden kann? Dass sich andere mit ihren Trost- und Mahnsprüchen zurückhalten und besser schweigen als viele Worte verlieren sollten? Steht Hiob (das Buch und die Gestalt) als Zeugnis da für eine aussergewöhnliche, ja vorbildliche Verbundenheit mit Gott durch das Leiden hindurch? Zeigt das Lehrbuch der Weisheit gar auf, wie Gott trösten kann, wenn der Mensch auf sein Wort hört? Inwiefern ist es Trost, dass Gott im Lob seiner eigenen Schöpfung und indirekt in seinem Selbstlob, dass seine Macht über alles stellt, die Kluft zwischen Schöpfung und Schöpfer bestätigt? Liegt darin gleichwohl eine «Annäherung», eine «Nähe des Fernen», dass Gott seine Worte direkt an Hiob, seinen gerechten Knecht, richtet, und sogar an Hiobs «leidige Tröster», dass er in eigener Stimme Hiobs Reden über und zu Gott gutheisst und den Unglücklichen am Ende sogar besserstellt? Ist das mehr oder etwas qualitativ anderes als die Bestätigung einer ultimativen moralischen Weltordnung, wie sie doch Hiobs kritische Freunde mit Worten aus der älteren Weisheitsliteratur verteidigen? Wenn es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten gäbe, wenn die Fragen nicht durch Antworten «erledigt» werden, so ist es doch dem bleibenden Impuls dieses Werkes zu verdanken, dass diese Fragen gestellt und erwogen werden. Selbst wenn es keine Philosophia perennis in Form von Antworten gäbe, so scheint es doch «überzeitliche» Fragen zu geben, in denen sich die Spannung zwischen dem Ewigen und dem Endlichen fortsetzen. So lange Hiobs Buch Leserinnen und Leser findet, wird das Interesse am Ewigen nicht verschwinden. Auch wenn es kein (besseres) Leben nach dem Tod geben sollte: Gott allein ist ewig. Liegt darin schon der ganze Trost? Oder braucht es dazu noch eine Verlängerung im Jenseits, durch ägyptische, hellenistische und christliche Dogmen gefestigt? Ist das Buch Hiob nicht «aus sich selbst» sinnreich genug, voller Keime und Blüten, wiederum ein Geschenk des Herrn ans Gottesvolk und ein Geschenk der jüdischen Überlieferung an die Menschheit, wie die Thora, die Propheten und die Psalmen?

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Wie in meinem Essay über die Psalmen9 wird auch hier das Buch Hiob als Beitrag zu einer Philosophie aus jüdischen Quellen anerkannt und eine christliche Ausdeutung nicht in den Mittelpunkt gestellt. Damit soll den christlichen Kommentaren nicht ihre Bedeu­ tung abgesprochen werden. Es ist unbestreitbar, dass es ausserjüdi­ sche Einflüsse in der Weisheitsliteratur gibt. Es geht weniger um Polemik und Abgrenzung als vielmehr um «Gerechtigkeit für die jüdischen Quellen» des Denkens, ein Versuch, das Judentum nicht nochmals kulturelle zu «assimilieren» und damit letztlich abzuwer­ ten.

9 Vgl. Jean-Claude Wolf: Poesie und Denken in den Psalmen. Ein philosophischer Essay, Alber Herder, Freiburg i.Br., München 2021. In der neueren exegetischen Literatur wird eine christliche Vereinnahmung der hebräischen Bibel vermieden. Eine christli­ che Deutung der Psalmen oder Hiobs ist möglich, aber nicht zwingend. Damit soll den zahlreichen christlichen Interpretationen nicht die Bedeutung abgesprochen werden. Es lässt sich umgekehrt gegen eine «jüdische Vereinnahmung» geltend machen, dass es in der Weisheitsliteratur der Bibel andere kulturelle Einflüsse gibt und das «Rein­ jüdische» eine Fiktion ist.

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«Denn Allwalts Pfeile stecken in mir»

6 «Ijjob entgegnete, sprach: 2 O würde voll mein Weh gewogen, mein Leid auf die Waage gehoben zumal! 3 Denn nun überwiegts der Meere Sand, drum lallen meine Worte wirr. 4 Denn Allwalts Pfeile stecken in mir, getrunken hat mein Geist ihr Gift, gewappnet nahn mir Gottes Schrecken!»

«Allwalt» – die poetische Übersetzung von (El) Shaddai nach Fri­ dolin Stier10 – überträgt die phonetische Assonanz AA ins Deut­ sche, mit einem Neologismus, der die Bedeutungen All(mächtig), (An-)walt, All-Verwalter laut-klanglich zusammenzieht. Das poeti­ sche, etwas seltsame Wort vermeidet die spätere lateinische Begriffs­ bildung «omnipotens», die, wie so manche Superlativ-ähnliche gram­ matische Form, mehr Probleme aufwirft als löst. Kann die Sprache allein das ausdrücken, was unübertrefflich, unersetzbar, das EinzigArtigste ist, Singulär und doch nicht wie alle anderen Singularitäten? Geht die Übersteigerung von Macht nicht auf Kosten von Weisheit oder Liebe – Attribute, die Gott ebenfalls als Superlative angehängt werden? Was bleibt von einer Allmacht übrig, die sich selbst teilt und schwächt, indem sie Satan eine Zeitlang gewähren lässt, den Menschen und seine Freiheit ehrt, selbst die Freiheit Adams, Kains oder Judas’? Schränken die Möglichkeit und Wirklichkeit der Sünde die Allmacht Gottes nicht (vorübergehend) ein? Wie übt der Ewige Macht aus, der Sünder zu Gründern, Königen, Propheten und Pries­ tern erwählt, der ein ganzes Volk mit dem Makel der Urschuld vor 10 Das Buch Ijjob. Hebräisch und deutsch. Übertragen, ausgelegt und mit Text- und Sacherläuterungen versehen von Fridolin Stier, München: Kösel Verlag 1954; Fridolin Stier. Das Buch Ijob. Hrsg. von Eleonore Beck und Martha Sonntag, Stuttgart: Verlag katholisches Bibelwerk 2011. Im Folgenden wird aus dem zuerst genannten Buch zitiert, wenn es nicht anders angegeben ist.

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allen anderen Völkern auserwählt, sei es auch nur, um – vorbildlich für alle anderen Völker – unter ihm zu dienen und zu leiden? Gott, so ist es überliefert, ehrt den Menschen, seine Würde, indem er ihm freie Entscheidungen zumutet. Er «straft» die ersten Sünder im Paradies und entlässt sie aus dem goldenen Käfig in die Freiheit, hinaus in die Welt der Prüfungen und Bewährungen.11 Der Mächtigste, der seinen Geschöpfen weder den Tod noch die Sünde ersparen kann, ohne ihnen mit der anderen Hand Freiheit und Verantwortung zu kürzen, ist offensichtlich nicht unbeschränkt, unbegrenzt und nicht einmal so frei wie der Mensch; seine Machtfülle lässt sich nicht durch die Grammatik des Superlativs erfassen. Gott kann sich nach orthodoxer Lehre nicht selbst zerstören; der Mensch kann das. Die Hypothese, dass sich Gott sogar bereits zerstört habe, wurde im 19. Jahrhundert z.B. von Julius Bahnsen verwendet. Nach Bahnsen ist die zunehmende Individuation im Kosmos das Resultat einer Zersplitterung Gottes.12 Man kann das Problem der Annahme einer göttlichen Macht zur Selbstzerstörung in den Paradoxien des Begriffs der Allmacht situieren: Ist er allmächtig, so kann er sich zerstören; zerstört er sich, so ist er nicht [mehr] allmächtig; man kann es auch als contradictio in adjecto formulieren: der Ewige hat nicht die Fähigkeit, sich ein zeitliches Ende zu setzen. Der Widerspruch besteht nur so lange, als Ewigkeit über alle Zeit (als atemporal) gedacht wird, und nicht als sehr lange Zeit. Die spitzfindigen Unterscheidungen und Argumente, die besa­ gen, die Wahl des Bösen oder der Vernichtung seien nicht «wahr­ haft» frei, nicht frei im wahren Sinne, im Sinne einer «positiven» Frei­ heit – die philosophischen Debatten über positive und negative Freiheit13 verlieren sich in endlosen Subtilitäten und Sophismen, welche die schlichte Grösse der einen und unteilbaren Freiheit des Menschen verkennen. Sie ist so gross, dass der Gebrauch und der Missbrauch der Freiheit zur Freiheit gehören. Ohne die Freiheit zum 11 Vgl. Meir Shalev: Der Sündenfall – ein Glücksfall? Alte Geschichten aus der Bibel neu erzählt. Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer, Zürich: Diogenes 1997, 194–207 [Es war einmal ein Mann im Lande Uz. Die Geschichte von Hiob]. 12 Vgl. Julius Bahnsen: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen, zwei Bände, Leipzig: Brockhaus 1867. 13 Vgl. die neueren Debatten im Ausgang von Isaiah Berlin in: Texte zur Freiheit. Hrsg. von Jonas Pfister, Stuttgart: Reclam 2014; Freiheit. Zeitgenössische Texte zu einer philosophischen Kontroverse, hrsg. von Philipp Schink, Berlin: Suhrkamp 2017.

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Missbrauch der Freiheit liesse sich die Freiheit des Menschen nicht prüfen und läutern. Eine «Reinigung» oder «Busse» könnte nirgends ansetzen, denn die «positive» Freiheit wäre die halbierte Freiheit, eine «Freiheit» bloss zum Guten, eine Determination zum Guten oder durch das Gute. Auch wenn der «falschen» Freiheit Unfreiheit folgen mag: im Moment der Entscheidung feiert sie ihren Triumph als Freiheit, im Guten und im Bösen. Es scheint fast, als wäre diese Freiheit des Menschen zu gross, als könnte sie Allwalt, wenn nicht begrenzen, so nur durch Zerstörung aufhalten. Erst der vernichtete Mensch ist nicht mehr frei. Im Toten ist der letzte Funke von Frei­ heit ausgelöscht. Der ungeheuerliche Passus aus dem Buch Hiob, das ein Buch vol­ ler Rätsel ist, antizipiert das Wort der «Gottesvergiftung», des «toxi­ schen Gottes», der sich wie eine Ansteckung ins Blut einschiesst; der unberechenbare Virus, der die Menschen seit 2020 im Griff hat, wird in dieser «zweiten Urgeschichte» der Bibel als eine Metapher präfiguriert und wird sich zu einer apokalyptischen Metapher der Endzeit-Seuchen fortentwickeln. Üblicherweise würde man sagen, es gebe keine Sünde ohne den Menschen. Doch ist der Mensch, nur der Mensch der «Sündenbock»? Es gibt keine Sünde ohne Gott, denn Sünde ist Entfremdung von ihm. Gäbe es ihn nicht, so gäbe es Schuld und Fehlbarkeit, aber keine Sünde. Gottes Schrecken bildet das zweite Attribut der Religionsphänomenologie von Rudolf Otto14 für das Heilige bzw. Numinose, das «Mysterium tremendum», per­ sonifiziert und überpersönlich der Schreckliche und Namenlose, der den Menschen – ähnlich wie ein Vergewaltiger sein Opfer – durch seine unverhüllte Präsenz sprachlos machen würde. Das Wesen oder Walten mit den «geheimen Namen» hat ein traditioneller Exorzismus Dämonen (vgl. Mk. 1, 23ff. und 34) und dem Satan zugeschrieben und damit in letzter Instanz auch Gott, sofern er nicht gegen die von ihm erschaffenen Dämonen einschreitet. Im Namen «Shaddai» schwingt auch die Bedeutung «Zerstörer» mit. Manche Gottesnamen stehen im Pluralis excellentiae, der auf eine innere Duplizität oder Diversität Gottes schliessen lässt: Gott der Götter, der Erste in der Götterver­ sammlung, die Götter im Einen Gott oder in Seinem Rat der Götter, der gesteigerte Singular in der Ansprache und Selbst-Rede der Majes­ 14 Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917) Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Joas, München: C.H. Beck 2014.

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tät: Schöpfer, Allherrscher und Retter aller Völker, der sich sogar in ihren scheinbar so fremdartigen Göttern andeutet. Doch schroff von den Götzenbildern abgegrenzt: der Ewige und Lebendige. Es gibt Momente, in denen das Denken von der Vielfalt der Bezüge der Gottesnamen überwältigt wird. Das theologische Bemü­ hen, Gedanken Gottes als Gedanken über Gott zu ordnen oder gar das Geheimnis zu «lüften», zerfällt wieder, wie die Sterblichen selbst zu Staub und Asche zerfallen. Das Reden, das zu so vielen Triumphen und Glanzleistungen führen kann, sinkt in sich zusammen, so wie die Zeit vor der Ewigkeit verbleicht. Gott als «Vergifter» und «Ver­ nichter», der sein eigenes Werk widerruft, seinen Bund «vergisst», der «schläft» oder zu einem grausamen Liebhaber mutiert, der seine besten Freunde quält – so wagt es der Glaube nicht auszusprechen, kontrolliert und sanktioniert von der Orthodoxie, die das Ambiva­ lente in Gott vehement bestreitet; das freie Reden in solchen Extremen wird als Blasphemie getadelt und bestraft. Doch einige «anstössigen Stellen» in der Bibel, im Buch Hiob einfach wegzulassen, umzudeuten oder zu beschönigen, hilft nicht weiter – der Schrecken wird durch wohlmeinende Kommentare vielleicht etwas verzögert, doch er kehrt zurück, und der Kalkül der «Seelsorge», eine Theologie ad usum delphini, versagt. Der stets freundliche und gut gelaunte Gott für Kinder und Greise ist in der Bibel nicht anzutreffen. Manche müssen am meisten leiden, die es am wenigsten ertragen, oder in Situationen, in denen jeder Mückenstich, die leiseste Kritik, berechtigter Tadel den nach Reinheit und Vollkommenheit dürstenden Menschen uner­ träglich wird. Es gibt genug Grund zum Erschrecken, nicht nur vor Gott, sondern auch vor dem, was der Mensch aus der ihm verliehenen Freiheit macht oder nicht macht. Sie ist eine Freiheit zur Trennung, zum Streit, zur Abrechnung, zum Krieg – eine Freiheit zur Gewalt und zur Unmenschlichkeit, zum Kirchenaustritt und zur Verweige­ rung des Glaubens. Diese Freiheit ist das Geschenk Gottes an die Menschen, das sie auch nach der Paradiesvertreibung mitnehmen dürfen. «Gift» bedeutet im Deutschen Gift, im englischen ist es das Wort für Geschenk. Es scheint, als hätte der fürsorgliche Gott dem Gift des Unglücks des Exils oder der Pilgerschaft das Geschenk der Freiheit mitgegeben. Es ist keine vorprogrammierte Freiheit, kein unfehlbares Programm, das durch eine von Gott selbst eingebaute Sicherung verhindert, dass der Mensch zum Mörder des Menschen wird. Auch wenn der Mörder, wenn er nicht bloss wie ein bedrängtes Tier zurückbeisst, sondern angreift und Mordpläne schmiedet, nach

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allen menschlichen Massstäben «zu weit» geht, so geht er eben zu weit mit der «Gabe» der Freiheit. Er kann Hand an sich und andere legen, die Freiheit anderer missachten und mit Füssen treten, sie mit Zwang «bekehren» oder foltern und sich dabei in eine Ideologie flüchten, die ihm dafür ein «gutes Gewissen» verleiht: Töten für eine bessere Welt, foltern für die Erpressung von Wahrheit, Krieg zur ultimativen Schlacht gegen alle künftigen Kriege – in der Ideologie überschlägt sich der «gute Wille» und wird im Ausmass und der Masslosigkeit zum Tötungs- und Todestrieb. Eros übergibt den Stab der Stafette an Thanatos. Kreist das Denken um diese komplexen Bezüge eines «unschul­ digen Leidenden», der sein Leiden von Gott selbst empfängt, so weitet es sich zu assoziativen Kreisen, das Leiden wird zur Fürbitte für die Urschuld der Menschen: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» (Lk. 23, 34) Sie wissen nicht, dass sich ihr Zorn, ihr Spott über den Gottesknecht ergiesst, der mit-leidet und selbst leidet, ohne schuldig zu werden – darin liegt die spezifische Unwissenheit der falschen Richter und Henker und ihrer Komplizen! Die Menschen werden nicht von ihrer Verantwortung, von ihrem Wissen von Gut und Bös freigesprochen, sondern von ihrer «Blindheit» dafür, dass sie die Liebe, die in die Welt gekommen ist, zurückstossen. Der Gedanke eines stellvertretenden Leidens ist umstritten und wird hier nicht ausgesprochen. Dagegen sind die Gedanken, dass Jesus ohne Sünde leidet und seine Leiden nicht an andere weiterlei­ tet, unbestritten. Er durchbricht den Teufelskreis der mimetischen Gewalt, wie es René Girard ausdrückt. Erlittenes Böses wird nicht als Böses vergolten oder an Dritte weitergegeben. In der Vergeltung liegt ein Moment der Nachahmung; sie lässt sich das Mass oder Äquivalent der Strafe für die Tat von der bösen Tat diktieren. Es wird hier darauf verzichtet, Hiob retrospektiv, aus der Sicht einer entwickelten Christologie zu deuten. Hiob ist nicht ein Mann ohne Sünde (oder dann ist er eben «nur fiktiv» und legendenhaft konstru­ iert), sondern ein Mann, der, wie viele Gerechte und Fromme, leidet und sich nicht von anderen einreden lassen muss, dass er für seine Sünden leide. Erklärungen des «Sinns seines Leidens» von anderen Menschen duldet er nicht. Er duldet nicht nur und duckt sich unter den Willen Gottes, sondern schreit danach, dass ihm Gott selbst antworte. Er ist zugleich Dulder und Rebell. Was kaum mehr philosophisch zu denken ist – auf welche «The­ sen» und «Argumente» sollte das hinauslaufen?! –, flüchtet, rettet

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sich ins Gebet. Jesus philosophiert nicht, sondern er betet und handelt; auch sein Rückzug und Schweigen ist ein symbolisches Handeln. Doch mit Jesus ist Hiob nicht «überwunden», sondern Hiob lebt in ihm fort, so wie das jüdische Volk neben dem geistigen Israel der Kirche und des Staates weiterlebt, lange ohne schützenden Staat, ein Exil- und Exodus-Volk, mehrmals und lange ohne Tempel, ein Volk ohne staatlich geschützte Kultstätte, sein Bundesvolk im Krieg, auf der Flucht, in der Gefangenschaft, geleitet und verfolgt von seinem Bundesgott. Gott wird bezeichnet als «Verfolger» im doppelten Sinne: als Begleiter und als Forderer, der nicht lockerlässt. Jesus ist in dieser Hinsicht ganz Jude, als er keine Ruhestätte findet, sich wie Hiob «ausliefert» und bis in die Todesangst hinein das Gebet zur Fürbitte erweitert. In einigen Hinsichten könnte man Jesus als Verdeutlichung von Hiob lesen. Es gibt eine Serie von Episoden aus der Passionsgeschichte, die das Paradox darstellen, dass sich das Gebet nicht auf Bitten für das eigene Ego verengen lässt, sondern sich zum «Opfer im Gebet», d.h. zur Fürbitte für jene erweitert, die durch Unterlassungen oder aktiv an der Verurteilung und Folterung des Gottesknechtes beteiligt sind. Hiob soll zwar nicht gleichgesetzt werden mit dem messianischen Gottesknecht, doch er wird als sein Knecht von Gott selbst dazu autorisiert, für seine Freunde zu «opfern». So spricht er zu den Freunden Hiobs: « […] aber mein Knecht Hiob soll für euch Fürbitte tun, denn ihn will ich erhören, dass ich nicht töricht an euch handle.» (Hiob 42, 8) Mitschuldig wurden die Menschen seiner Umgebung fast alle, sei es als «Täter», sei es als stumme Zeugen oder gelähmte Zuschauer. Die Fürbitte gilt dem Nächsten. Im Evangelium geht Jesu Zuspruch noch an den räumlich Nächsten, den mit-gekreuzigten Verbrecher und Schicksals­ genossen. So spricht Jahwe zuletzt mit seinem bevorzugten Knecht Hiob, aber auch zu seinen Freunden, in Worten des Verzeihens und der Weisung. Die rituellen Handlungen stehen für den symbolischen Akt tätiger Reue. Hiobs Leiden ist «unwägbar», es gibt keinen objektiven Mass­ stab, auch wenn es Versuche gibt, Schmerzen und andere Leiden zu schätzen, etwa auf einer Vergleichsskale 1–10. Bei der Annähe­ rung ans Extrem kann der Mensch wie das Tier nur noch schreien, verstummen oder das Bewusstsein verlieren. Wir schätzen in Ordi­ nalzahlen oder Positionen des Vergleichs, die das Mehr oder Weniger bezeichnen, immer in Relation zu Werten, die sich nicht absolut in Kardinalzahlen oder einfachen Summen von natürlichen Zahlen fixie­

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ren lassen. Hier wird alles «subjektiv», es fehlt zwar nicht ein Stan­ dard, aber eben eine zählbare Einheit, «subjektiv» in der Bedeutung von «in mente», d.h. im eigenen Erleben verankert oder begraben. Ich leide z.B. an einem Tinnitus und stecke die Störung weg, so wie man Nebengeräusche überhört und ein gewisses Anschwellen oder Abschwellen des Geräuschs kaum beachtet. Du leidest an Deinem Tinnitus, der vielleicht nicht stärker ist als meiner, aber er vermischt sich mit einer Schwerhörigkeit oder er raubt Dir den Schlaf, er wird zur Obsession, die permanent (über-)beachtet wird. Niemand weiss, wessen Tinnitus an sich lauter ist; er lässt sich nicht in Dezibel messen, aber das Mehr oder Weniger des Leidens manifestiert sich in der Klage, in der Mimik, in den Gesten, messbar am Bluthochdruck und Serotonin-Spiegel, konkretisierbar an den Behinderungen in Arbeit und Schlaf usw. Es ist ein «Standard» der persönlichen Unerträglich­ keit, kombiniert mit individuell variablen Ausdrucksfähigkeiten und Gewohnheiten. Es gibt brillante Darsteller und virtuose Mitteilungs­ fähigkeiten bezüglich der eigenen Leiden. Doch hört ihnen überhaupt jemand zu? In einem Punkt mögen sich alle ein Stück weit mit Hiob iden­ tifizieren, nämlich in der Hinsicht, in der Menschen von «Freun­ den» oder Bekannten verkannt und missverstanden werden. Das gilt besonders in Not und Krankheit, wenn sich andere zurückziehen oder als hilflose Helfer erweisen. Darin liegt ein Hinweis darauf, warum Hiob trotz der besonders tragischen Sonderstellung des von Gottes Pfeilen Durchbohrten gleichwohl Resonanzen erzeugt, die etwas Universales im Besonderen erkennen lassen.

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Hiob als Privatmann

Hiob hat keinen ihm bekannten speziellen Auftrag, weder von der Gesellschaft noch von Gott selbst. Wenn er «autorisiert» ist, dann dadurch, wie er durch das Leiden hindurch nicht zum «Mörder seiner Seele» wird und weil er schliesslich von Gott selbst zurechtgewiesen und gerechtfertigt wird.15 Er kommt in der Rahmenerzählung nicht vor, weiss also nicht im Voraus, dass er in der Wette im Himmel in die Rolle des Schwergeprüften gestürzt wird. Damit wird der Begriff der Prüfung, der oft leichtfertig verwendet wird, selbst einer Prüfung unterzogen: Er ahnt, dass Gott selbst seine Hand auf ihn gelegt hat, aber er weiss nicht, dass es eine verabredete Prüfung ist, auf die er sich nicht vorbereiten kann, von der er überrumpelt und aus dem bisherigen Leben herausgerissen wird. Er sucht sein Leiden zu begreifen, und seine Freunde versuchen es ihm begreiflich zu machen, doch das scheint zu misslingen. Er kann sein Leiden deshalb noch weniger verstehen als andere, weil er es als ihm von seinem Gott grundlos zugefügtes Leiden erlebte und beklagt. Er wird von Gott geschlagen, insofern ist er der leidenschaftliche, von der Leidenschaft geschlagene Gerechte. Er ist nicht der für ein schweres Verbrechen oder auch nur ein verborgenes «Gedankenverbrechen» Gestrafte. Er exemplifiziert nicht einen allgemeinen Zusammenhang, in dem sich das Glück oder Unglück des Menschen nach seinen Verdiensten richtet. Er fällt nicht in eine Grube, die er anderen gegraben hat.16 Eine drastische Verdichtung erfährt diese ältere Weisheitslehre in der 15 Vgl. Søren Kierkegaard: Entweder-Oder, Zweiter Teil 3. Ultimatum. Das Erbauli­ che, das in dem Gedankenliegt, dass wir gegen Gott immer unrecht haben, zitiert nach der Ausgabe DTV München 2005, 920. Hiob 40, 2: Mit Gott sollst Du nicht rechten (sinngemäß, nicht wörtlich). – Kierkegaard variiert diese These (vor Gott gerechtfertigt, vor Gott nicht gerechtfertigt) in rhapsodischen Hiob-Kommentaren in der Schrift »Die Wiederholung« von 1843. Der junge Freund, der an unglücklicher Liebe leidet, holt Rat und Hilfe bei Hiob, bezieht sich auf dessen Rechthaben und Vorwärtsdringen, Leidenschaft und Schlaflosigkeit. 16 Vgl. Georg Freuling: «Wer eine Grube gräbt …» Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004.

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zweiten Rede Zophars in Hiob 20. Bildas vorangehende zweite Rede schlägt in dieselbe Kerbe, beschwört die Vernichtung des Lebens, des Andenkens und des Namens des Frevlers. «Sein Angedenken schwindet von der Erde; kein Name bleibt ihm auf den Fluren mehr. Vom Lichte stösst man ihn ins Dunkel und jagt ihn fort vom Erdenrunde. Er hat nicht Schoss noch Spross in seinem Volke; und niemand bleibt auf seinen Triften übrig. Ob seines Tages schaudern die vom Westen, und die vom Osten packt der Grauen. Fürwahr, so geht’s der Wohnung eines Frevlers, der Stätte dessen, der auf Gott nicht achtet.» (Hiob 18, 17–28)

Rene Girard zitiert diesen Passus und kommentiert ihn mit folgen­ den Worten: «Es gibt nichts Rituelleres und Traditionelleres als dieses Auslöschen der Erinnerung, dieses vollständige Ausmerzen des Pseudo-Schuldi­ gen. Diese Forderung nach übermässiger Zerstörung tritt in unserer Zeit in verweltlichter Form wieder in Erscheinung. Gewisse religiöse Verfahren lassen an prophylaktische Massnahmen bei Epidemien denken, und auch in unseren Tagen ist die Medizin oftmals mit derar­ tigen Angelegenheiten befasst. Ein ganzes primitives Instrumentarium taucht im modernen Totalitarismus wieder auf.»17

Der «Lohn des Gottlosen» ist scheinbar eindeutig: er steht als ein für immer Verdammter und Vergessener da. Sein Schicksal gleicht einem grauenhaften Fluch Gottes! Hiob ist in den Augen seiner Gattin und seiner Freunde der von Gott selbst Verstossene und Missverstandene, der zu allem anderen Leid hinzu das lange Schweigen oder Wegsehen Gottes beklagt und durchleidet. Häuft er mit seinen Klagen nicht weiteres Unrecht auf sich: das Unrecht des Starrsinns, der Unein­ sichtigkeit, des mangelnden Unrechtbewusstseins, der ausbleibenden Reue? Die klagende, fast blasphemische Besessenheit mit seinen Verlusten, seinen Leiden, seiner Trauer ist im Urteil seiner Kritiker wie der Tinnitus jenes Menschen, der es nicht schafft, wegzuhören und sich über die Störung hinwegzusetzen, als wäre sie nichts im Vergleich zu Gottes Verheissungen für alle, die bereuen. Doch Hiobs Klage und die unlösbare Verbundenheit mit seinem Retter gehören zusammen und bilden das, was in der Psychologie als «double-bind» bezeichnet wird: Es gibt kein Entfliehen vor dem 17 René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich: Benziger 1990, 152.

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Hiob als Privatmann

Übermächtigen, den man am meisten liebt und an dem man am meisten leidet. Auch wenn Hiob die Absprache Satans mit Gott nicht durchschaut, so spürt er sein Leiden so, als würde Gottes Hand selbst auf ihm lasten. Das Schlimme kommt von Gott, ist Bestandteil seines Plans; dies nicht anzuerkennen und, aus was für Erwägungen auch immer, in Abrede zu stellen, gliche der vergeblichen Flucht des bereits getroffenen Wilds, das von Pfeilen verwundet ist, die es mit seiner Flucht mitnimmt, so wie das Unglück der Vergangenheit, auch wenn es allmählich verblasst, im affektiven Gedächtnis gespeichert ist und als «Retention» nachklingt, die nie ganz verschwindet, wenn nicht als Fortsetzung der Pein, so doch als unabschliessbare Trauer. Für Hiob gibt es keine Erholung oder Erleichterung – durch eine Flucht vor Gott. Er ist bereits erwählt, ausgezeichnet und am Angelhaken Gottes festgemacht, bevor er geprüft wird. Durch die vollständige Dramaturgie des Buches Hiob wird er zu einem «Lehrer der Mensch­ heit»: «welchen Gott liebt, den prüft er».18 Der implizite Leser des Textes weiss mehr als seine Figur, der Mann aus Uz; die Rahmenerzählung prägt es den Lesenden ein: Hier wird einer bereits zuvor von Gott ausgezeichnet; er wird gelobt, wie der Müller im Märchen «Rumpelstilzchen» vor dem König seine ahnungslose Tochter anpreist, sie könne Gold spinnen, und die in der Folge harten Prüfungen unterworfen wird. So könnte es Satan vorkommen, dass Gott Hiob mit Vorschusslorbeeren versieht oder gar mit ihm «angibt», um seine eigene Ehre zu verteidigen. Tatsächlich scheinen Gottes Ehre und Hiobs Ehre miteinander verstrickt zu sein. Hiob ist, ohne es ganz zu verstehen, auserwählt und gelobt, ohne dass es ihm so direkt gesagt wurde wie den Zuhörern Gottes im Himmel und der impliziten Leserin des Buches. Er ist mit göttlichem Kredit berufen, ohne einen (himmlischen oder irdischen) Ruf zu erhalten. Er erhält keinen Titel, keinen hierarchischen Rang und kein Lehramt. Hiob ist kein lehrender Beamter wie Hegel mit Lehr­ stuhl in Berlin, kein Pfarrer, der ex officio von der Kanzel predigt. Er ist und bleibt der «Privatmann», wie ihn Søren Kierkegaard19, Kierkegaard: Auswahl aus dem Gesamtwerk des Dichters, Denkers und religiösen Redners, unter Mitarbeit von Rose Hirsch besorgt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1961, 277, 273. 19 Vgl. Kierkegaard: Einübung im Christentum und anderes, Köln, Olten: Jacob Heg­ ner, 1951, 179f.; Kierkegaard: Auswahl aus dem Gesamtwerk…, a.a.O., S. 256–279 »Hiob, erlebt von einem Verzweifelten«, Auszug aus: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie, von Constantin Constantius, Kopenhagen 1843. 18

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auch als Identifikationsfigur und Vorbild des Glaubens in der Anfech­ tung, nennt. Es geht in der Leidensgeschichte Hiobs allerdings um den Unterschied zwischen (poetischer) Einbildung von Leiden und tatsächlichen Leiden. Kierkegaard lässt gleichwohl die Möglichkeit offen, dass Hiob nicht real, sondern gedichtet ist. Die Frage nach der Historizität Hiobs ist weniger relevant als im Vorblick auf Christus, den Gottmenschen, dem weder die Realität als Mensch noch die Göttlichkeit abgesprochen werden darf, weil Christus die Menschen vor die Entscheidung stellt, sich zu ärgern oder zu glauben. Christus stellt vor die Wahl, die Ewigkeit in der Zeit anzunehmen. In diesem Sinne ist Hiob nicht vergleichbar mit Christus. Allerdings ist Hiob als Mensch mit einer unbestimmten Leidenszeit und als erprobte und von Gott angenommene Leidensgestalt eine (vielleicht) imaginäre Antizipation des Gottesknechtes. Kierkegaard hält Hiob für jemand, der durch sein Gebet («Gegeben hats der Herr, genommen hats der Herr, gelobt sei der Name des Herrn» (Hiob 1, 21; vgl. 2, 10) charakterisiert wird – ein gültiges Wort, das in der Tradition in Hiobs Namen weitergegeben wurde und sein beispielhaftes und legenden­ haftes Leben markiert. Hiobs Gebet ist wahrscheinlich nicht einem historischen Hiob zuzuordnen, aber es ist als Gebet nicht «säkulari­ sierbar», spricht es doch das religiöse Verhältnis des Menschen zu dem an, was er tun soll und was nicht unter seiner Kontrolle steht, was kein Wissen und keine Technologie zu leisten vermag.20 Kierkegaard vertritt keine autonome, sondern eine theonome Sollens-Ethik. Sie setzt sowohl Gottes Autorität und Willen als auch des Menschen Ent­ scheidung zum Glauben voraus. Abraham, Hiob und Christus stehen als unterschiedliche Vorbilder des Glaubens und des Liebes-Gebotes im Zentrum von Kierkegaards Schriften. Der Mensch kann nicht unter Göttern auswählen, sondern er kann sich «nur» für oder gegen Gott entscheiden; es ist dieser eine Gott, der die Menschen erschaffen hat und sie sucht. Die Entscheidung für diesen Gott kann unter Übersetzt von Emanuel Hirsch (zusammen mit Drei erbaulichen Reden 1843), Sim­ merath: Grevenberg Verlag 2004, 271ff. »Die Anfechtung«, aus: »Rede über die Bestätigung des inwendigen Menschen« 1843; 273–278 »Hiob im Lichte des Glau­ bens«, Rede über Hiob, aus: Vier erbauliche Reden 1843; vgl. Lew Schestow: Siege und Niederlagen, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 183, 186f. 20 Vgl. Jean-Claude Wolf: Warum sich das Gebet nicht «säkularisieren» lässt, in: Oliver Dürr, Ralph Kunz, Andreas Steingruber (Hrsg.): Wachet und betet. Mystik, Spiritualität und Gebet in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Unruhe, Münster: Aschendorff Verlag 2021, 81–91.

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Hiob als Privatmann

besonderen Umständen auch gegen den Staat, gegen die Kirche, gegen Gesellschaft, Kultur und Geschichte ausfallen. In Gewissensfragen ist die glaubende Person die Einzelne, die «Privatfrau».21 Die Fragen, wie man Hiob lesen kann und was Vorzüge und Grenzen von Kierkegaards Lesart von Hiob als Privatmann sind, werden im Kapitel «Wie lesen?» vertieft.

21 Vgl. Jean-Claude Wolf / Catherine Buchmüller-Codoni: Kierkegaard – der Ein­ zelne gegen die Masse, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 61 (2014) 1, 77–95.

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Recht auf Klage

«Pour trouver Dieu, il faut être heureux», zitiert Kurt Marti in seinem letzten Gedicht Rilke: Glücklich konnte er nach dem Tod seiner Frau nicht mehr sein, aber Gott hatte er auch schon vor Hannis Tod nicht finden können. Der Abschied von der Lebensgefährtin war der Zeitpunkt, an dem er mit dem Schreiben aufhörte und danach im Altersheim auf den eigenen Tod wartete. Martis vorletztes Gedicht aus dem Nachlass lautet: Brief (nicht abgesandt): Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, für die Worte des Trostes. Sie empfehlen mir – verkürzt gesagt – Gott sozusagen als Ersatz für die lebenslange Geliebte. Allein, selbst Gott kann mir diese nicht ersetzen. Vermutlich will er das auch gar nicht, ist kein Lückenbüsser. Vergeblich suchen dich meine Augen, die Ohren horchen umsonst, die Hände tasten ins Leere, kusslos welken Lippe und Zunge. Aber ich vergesse nicht, wie wunderbar mich Gott durch dich gesegnet hat.22

Das Buch «Hiob» führt in eine ganz andere Zeit zurück. Die Beschrei­ bung von Hiobs Leben beginnt mit dem Idyll eines glücklichen Patriarchen, der selbst im Glück oder gerade im Glück für jeden der 22 Kurt Marti: «Hannis Äpfel». Gedichte aus dem Nachlass, Göttingen: Wallstein Verlag 2021, 78f. Vgl. Jürg Altwegg: Der gottverlassene Gläubige. Er machte den Schweizer Dialekt weltläufig: Kurt Martis letzte Texte und seine höchst persönlichen Kolumnen aus einem halben Jahrhundert, in: FAZ 24.06.2021.

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Recht auf Klage

vier Söhne früh am Morgen Gott Brandopfer darbrachte (und für jeden der vier zu Gott betete), denn Hiob dachte: «Meine Söhne könnten gesündigt und Gott abgesagt haben in ihrem Herzen. So tat Hiob allezeit.» (Hiob 1, 5).

Offenbar ist Hiob mitten in seinem Patriarchenglück ein um das Heil seiner Söhne bekümmerter Mann und damit dem Unglück näher, als man es beim flüchtigen Durchlesen denken könnte. Das Anfangsglück dauert nicht an, das Glücksrad wird sich drehen. Dieser Hiob wird, nach dem Topos des gefallenen Königs, ins tiefste Elend stürzen; er endet nach dem langen Zwischenstück, seiner «Tragödie»23 mit den «Episoden» seiner Versuchungen, zu denen auch die bitteren Streitgespräche mit den Freunden zählen, nach der langen Nacht eines über ihn verhängten Unglücks, dessen Grund und Sinn er nicht begreifen kann, wieder als seliger Patriarch, der nicht vorzeitig ster­ ben musste. Trotz dieses Anfangs und Endes, das die «Tragödie» ent­ schärft und an ein orientalisches Märchen erinnert, bleibt Hiob ein Denkmal der Klage eines Menschen, der alles verloren hat, sogar den Glauben an den Sinn seiner Geburt. Dazu gehört auch ein Detail, das die Verlustgeschichte zur inneren Katastrophe macht: Nach seiner zweiten Heimsuchung durch die Übel, die ihm Satan zudachte und die ihm diesmal an die Gesundheit, an die Haut gingen, wird er von seiner Frau versucht; danach verflucht er den Tag, den Moment seiner Geburt24 usw. (Hiob 3). Zwar wurde er nicht zum Witwer gemacht, das Leben seiner Frau wurde wie sein eigenes verschont, so wie eine raffinierte Folter das Leben ihrer Opfer verschont, um die Tortur nicht abzukürzen. Seine Frau, die ihm in fleischlicher Liebe verbunden war und nicht mit eigenem Namen genannt wird, wendet sich von ihm ab und fordert ihn auf, diesem Gott abzuschwören und zu sterben. Er soll die Trennung von seinem ewigen Gott vollziehen. «Sage Gott ab und stirb!» (Hiob 2, 9) Auf diese Weise verliert er seine namenlose Gefährtin, durch die ihn Gott mit vier Söhnen und drei Töchtern Vgl. Horace Meyer Kallen: The Book of Job as a Greek tragedy, restored with an introductory essay on the original form and philosophic meaning of Job, New York 1918. Zur kritischen Diskussion vgl. Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München: Beck 2005, 152. Kermani richtet sich gegen Versuche, das Buch Hiob vom Widerspruch zwischen dem «tragischen» und «häreti­ schen» Mittelstück und der Rahmenerzählung zu «reinigen». 24 Vgl. Heinz Rölleke: «O wär ich nie geboren!». Zum Topos der Existenzverwünschung in der europäischen Literatur. Oskar Walzel Vorlesungen, Technische Universität Dresden 2013. 23

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segnete. Als standhafter, wenn auch zu Boden gedrückter Patriarch spricht er zu ihr: «Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen und sollten das Böse nicht auch annehmen?» In diesem allen versün­ digte sich Hiob nicht mit seinen Lippen. (Hiob 2, 10)

Damit ist indirekt das Urteil des anonymen Erzählers über das törichte und namenlose Weib bestätigt. Sie gehört nicht zu den aufrechten Frauengestalten, die im Kontext der patriarchalen Tradition überra­ schen.25 Es findet sich keine Spur von Dank an Gott für die Frau, die ihm zuvor seine Kinder geschenkt hat, die sie beide verloren haben; sie wird von allem Unglück und vom Anblick ihres Mannes, der auf der Asche hockt und sich mit einer Scherbe die Wunden reibt, verstört, vielleicht sogar irr. Sie flucht und wird von ihrem Ehemann im Geist des Verdikts der Weisheitsliteratur über die Nichtigkeit des Reichtums getadelt. (Vgl. Prediger 5 9–19) Die erste Frau Hiobs verschwindet wie der nichtige Reichtum vollständig aus dem Text. Die Erinnerungsspuren an einen Namen oder gar ein mögliches Nachleben sind gelöscht. Es ist wahrscheinlich eine zweite Frau, mit der Hiob nach seiner Wiederherstellung im Rahmen eines verklärten Patriarchats wieder Kinder haben wird, diesmal Töchter mit blumigen Namen und eine neue Frau, welche die Erinnerung an die alte vollstän­ dig zudeckt. Auch der Name der zweiten Frau bleibt ungenannt... In der Erinnerung künftiger Generationen bis heute steht Hiob als erratisches Denkmal der Klage vor Gott da. Es ist der klagende Hiob, der an die äusserste Grenze dessen gehen wird, was das rechte Reden von Gott zulässt. Es ist, als könnte man seine Klage heute noch hören, oder als könnte man ihn zu allen Zeiten wieder heraushören aus den Klagen jener, die alles verloren und vor Gott Erklärungen fordern. In der Folge wird diese Klage im Sinne der Theodizee als Anklage Gottes, Hiob als Kläger und Ankläger verstanden; einige Philosophen haben den Part des Anklägers übernommen, andere haben sich zum Anwalt Gottes (seiner Weisheit, Güte und Gerechtigkeit) gemacht. Die prominente neuzeitliche Besetzung dieses Tribunals bilden der Skeptiker Pierre Bayle als Ankläger und der rationale Metaphysiker Wilhelm Gottlieb Leibniz als Anwalt Gottes. 25 Vgl. Hannelis Schulte: Dennoch gingen sie aufrecht. Frauengestalten im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1995.

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Als letztlich inkommensurabler literarischer Text hat das Buch Hiob den Versuchen, seine Fragen aus menschlicher Sicht zu beant­ worten, den Beziehungskonflikt mit Gott rational zu glätten (als Strafe oder Prüfung) oder Gott vor ein Gericht der «Vernunft» zu zerren, etwas voraus, nämlich die Freiheit des leidenschaftlichen Gebets und die performative Kraft der Frage als Klage vor Gott. Dieser literarische Charakter wird durch die Rahmenerzählung bestätigt. «Dass Gott im Buch Hiob eine Wette mit Satan eingeht, gehört zu den Kühnheiten, wie sie sich nur die Literatur nehmen kann im Sinne eines literarischen Experiments, das keinen kanonischen Platz in der kanonisierten historia sacra beansprucht. Kein Ausleger seit der Antike hat jemals Hiob als historische Figur missverstanden.»26 Menschen in verschiedenen Epochen wenden sich an Hiob als Fürsprecher aller Klagenden, an das Bild, das wir von Hiob überliefert erhalten haben: Gott ist allmächtig, gut und gerecht, doch er lässt seine Freunde, sein Volk keinen Moment in Ruhe. Seine Strenge verbietet jedoch nicht, dass Menschen mit ihren Bitten, Fragen und Klagen vor Ihn treten. Das Paradox ist bekannt: der strenge, aber gerechte Gott, ist zugleich, wenn für den Menschen auch nicht gleichzeitig erfahrbar, der erbarmende und rettende Gott. Die Klagen werden Hiob nicht als Fehler angerechnet. Selbst stürmische und masslose Klagen bleiben vor dem Herrn straflos. Der Mensch liebt, so lange etwas in ihm mit dem Geliebten hadert, und diese innere Stimme hadert, so lange er am Ewigen Vater festhält. Dieses Hadern entsteht aus dem Verlangen, Gott zu begreifen, ihn zu erweichen oder zu erpressen. «Gott, warum lässt Du mich nicht wenigstens einen Augenblick in Ruhe!» (Hiob 7, 19)

Gott ist allmächtig – das bezeugen Christentum und Islam, und sie beziehen sich beide auf den Einen Gott, wie er den fromm Lesenden in der hebräischen Bibel begegnet. Kritisch oder distanziert Lesende werden in diesen Texten eher einen zornigen, zweifelnden und unfertigen Gott finden, wie er in einen fesselnden Trivialroman passt. Freche Leserinnen und Leser werden ihn gar als einen senilen Versager und sadistischen Trottel zeichnen, der sich von Satan mani­ pulieren lässt. Wäre Hiob ein antiker Roman, so könnte man viele 26 Jan Assmann: Hiobs Botschaft. Religion jenseits des Glaubens, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XV/3, Herbst 2021, 120.

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Lesarten in Erwägung ziehen, denn jeder liest, wie er kann, und jede darf lesen, wie sie will – jedenfalls was Romane betrifft. Doch Hiob wird nicht nur als Roman, sondern als Bestandteil der Heiligen Schrift gelesen. Dem Buch Hiob folgt das Buch der Psalmen, aus dem die klagenden Stimmen zwar nicht verschwinden, das sich jedoch als «Buch der Preisungen» in die kollektive Erinnerung eingräbt. Wer schwer leidet und Trost sucht, wird es eher durch eine Lesung in Psalm 23 «Der Herr ist mein Hirte», als durch eine Lesung im Buch Hiob finden. Es ist, als würden die Schrecken des Buchs Hiobs durch das Licht und die Musik der Psalmen kompensiert.27 Eine Theodizee enthält das Buch Hiob jedoch nicht! Gott wird nicht verteidigt und muss sich selbst nicht vor der menschlichen Vernunft verteidigen. Die Schöpfung ist nicht für den Menschen da, sondern für Gott. Gott gehört die Schöpfung, aber er ist als «Herr der Tiere»28 auch für die für den Menschen unerreichbaren und unbezwingbaren Tiere da, nicht nur für den Menschen. «Was die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angeht, die ja das Hauptthema des Hiob-Buches darstellt, münden die Reden inklusive der Gottesreden in eine negative Theologie. Daraus folgt, dass das Buch eines nicht ist: eine Theodizee.»29 Um Hiob in anderer Farbe zu lesen, müsste man einzelne Stellen herausheben, etwa jene unvermittelt strahlende Stelle, wo Hiob durch alle Klagen hindurch ruft: «Aber ich weiss, dass mein Erlöser lebt.» (Hiob 19, 25) Mit dem adversativen «Aber» erhebt sich Hiobs zweite Antwort auf Bildad über den Staub, zu dem ihn (und damit auch «seinen» Gott) die Freunde machen wollen. Es ist, als würden sie «ihren» Gott gegen «seinen» Gott ausspielen und ihn dazu nötigen, «ihren» strafenden Gott (wieder) anzunehmen und «seinem» unbegreiflichen Gott abzuschwören. Hiobs Klage wird von einem Eigensinn genährt, mit dem er an «seinem» Gott festhält, getrieben von der Rebellion gegen einen Gott, den ihm andere auf­ zwingen wollen und der vielleicht sogar seinem eigenen früheren 27 Vgl. Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philoso­ phie, in: Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 2003, 46–71. 28 Vgl. Othmar Keel: Jahwes Entgegnung an Hiob. Eine Deutung von Hiob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978. 29 Jan Assmann (2021): Hiobs Botschaft. Religion jenseits des Glaubens, in: Zeit­ schrift für Ideengeschichte, Heft XV/3, Herbst 2021, 115–128. Zur negativen Theologie gehört ein qualifiziertes Schweigen; Gott wird angerufen, gelobt usw., aber es wird nicht viel über Gott ausgesagt.

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Gottesbild entspricht, über das sich der leidende und klagende Hiob erhoben hat, über einen begreiflichen Gott, der seine Lieblinge verwöhnt und seine Feinde vernichtet. Die alten «Freunde» oder Standesgenossen werden zu neuen Feinden; sie sprechen die Spra­ che der «Bekehrer» und «Missionare» aller Zeiten, die Unglückliche mit «ihrem» Gott, dessen Bild sie sicher besitzen und verwalten, bekehren und bessern wollen. Aus Hiobs Klage wird ein Triumphlied. Die Klage selbst kristallisiert sich zur apodiktischen Aussage «Aber ich weiss», aus der hartnäckigen Frage der Frömmigkeit: «Warum ich? Warum Du? Was spielt sich zwischen uns ab?» Hiobs Suche nach dem rettenden Gott ist, so wenig wie die Beteuerung seiner Schuldlosigkeit (tummah), nie aus der Klage verschwunden. Der Gott der Erlösung kann unmöglich ein Gott sein, der für Taten straft, die nicht begangen wurden. Hiobs Klage endet mit dem Hören seiner Stimme, seines Wortes als Weisung. In dieser Erhörung, nicht in einem erpressten Eingeständnis einer nicht begangenen Schuld, besteht Hiobs Busse. Eine weitere, auffällige Gemeinsamkeit zwischen Hiob und Psalter liegt im breit ausgeführten poetischen Lob der Schöpfung. Poesie ist hier nicht so sehr subjektiver Ausdruck von Gefühlen, nicht «Erlebnisdichtung», in der sich ein modernes Genie von hefti­ gen Empfindungen entlastet, sondern auf den Anfang aller Dinge zurückbezogenes und das Fortwirken des Schöpfers in seiner Schöp­ fung verherrlichendes Lob der Schönheiten und Schrecken der Schöp­ fung, ja Selbstlob des Schöpfers, der seine Schöpfung von Anfang an gut macht und gutheisst. Es ist ein für alle Zeiten klingender, musikalischer Genesis-Kommentar. Im Zentrum steht hier weniger der Bundesgott Abrahams, sondern der urgeschichtliche Gott, der sich der ganzen Schöpfung hingibt und den Menschen in die Schöpfung integriert, statt ihn herauszuheben oder gar zu privilegieren. Das Alte Testament bleibt gültig und wird nicht etwa durch ein Neues Testament oder den Koran ungültig gemacht. Im sog. «alten» Testament gibt es auffällig viel Klageliteratur. Man könnte davon sprechen, dass in diesen Texten die Deklaration eines elementaren «Rechts» angelegt sei: des Rechts zur Klage vor Gott, das auch vor der Anklage Gottes nicht Halt macht. Daraus entsteht die Ambivalenz der Figur, welche sich im Buch Hiob vor Gott beugt (Hiob der Dulder) und mit Gott rechtet (Hiob der Rebell). Es ist unmöglich, den Text als Ganzes in seiner redaktionellen Endgestalt zu lesen und ihn zu vereindeutigen. Besser gesagt: es gehört zum Lesen dieser «hohen Literatur», dem Drang nach Vereindeutigung zu

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widerstehen.30 Deuten ist nicht Vereindeutigen, sondern Aushalten von Ambivalenzen im Text. Nur wenn die Unterwerfung und Empö­ rung (Empor!) zusammengelesen werden, wenn man nicht versucht, den Text zu «hellenisieren», von Widersprüchen zu reinigen und durch Begriffe und Argumente zu ersetzen, bleibt seine wesentliche Ambivalenz erhalten, die ihn zu einem aussergewöhnlichen, «literari­ schen» Text macht, oder zu einem «heiligen Text», der mehr ist als nur von Menschen geplant, gemacht und manipuliert. Dabei wird weniger menschliche Ambivalenz in Gott hineingelesen, sondern Ambivalenz in der Relation des Menschen zum Göttlichen wie ein Übersetzungs­ problem bedacht. Wie übersetzt sich Gott in seine Schöpfung, in die Zeit, in alle Sprachen der Welt? Wie macht er sich gegenwärtig noch verständlich, ohne sich dem engen Verstand seiner Geschöpfe zu überlassen und im Stimmengewirr der Medien unterzugehen? Wird er es noch schwerer haben, mit seiner Stimme zu sprechen in einer Epoche, in der man ihm vorwerfen kann, dass er nicht täglich twittert? Ist Gott altmodisch und zurückgeblieben, dass er nicht twittert? Gottes Stimme muss sich in etwas übersetzen, was Menschen vernehmen, und wenn er sich an den Einzelnen oder an sein Volk richtet, kann er sogar laut werden. Er spricht im Grollen des Donners, aber auch in der Windstille, welche die Ohren seiner Geschöpfe schärft. Das Laute und das Leise sind zugleich Konkretionen und Metaphern. Das Laute Gottes ist nicht das Werk von Lautsprechern, der Effekt menschlicher Technik oder Organisation, nicht vergleichbar mit den bellenden Stimmen politischer Propaganda-Reden. Es ist, wie vor allem das im Schlusskapitel erwähnte Beispiel von Elia zeigt, das Laute und Lautere dessen, von dem alles ausgeht und zu dem alles zurückkehrt. Das Leise Gottes ist zugleich Konkretion und Metapher; es ist nicht das Leise der Leisetreter und Obskuranten, Intriganten und Heimlichtuer, sondern das Leise Seiner Diskretion, mit der er unterscheidet, was die Ohren seiner Geschöpfe vernehmen und ertragen. Ob Gott leise oder laut spricht, ist Bestandteil einer schwierigen Beziehung zu seinen Geschöpfen. Und auch mit der Prise Poesie im Lob und in der Klage vor Gott werden die «Schrecken Gottes» nicht schöngeredet. Die Bibel ist zwar Literatur, aber nicht nur «schöne» oder gar kitschige Literatur.

30 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutig­ keit und Vielfalt, Stuttgart: Reclam 2018.

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Das Buch Hiob ist weder ein gelehrtes noch ein journalistisches Werk und muss anders gelesen werden, u.a. als das Resultat einer langen mündlichen Überlieferung, die Erinnerung an kollektive und individuelle Traumata in sprachlicher Bearbeitung. Der Text verar­ beitet Traumatisierungen, aber auch den Eifer der Hoffnung, die Euphorie der Begegnungen mit dem Göttlichen, seinem Gesetz und seinen Verheissungen in den Erinnerungen und treuen Abschriften des Gottesvolkes. Die Bearbeitung wurde einmal abgeschlossen, zum Kanon und zur Vorlage von Liturgien gruppiert, doch die Werke der Übersetzungen und Deutungen gingen immer weiter und blei­ ben offen; die Gestalt der letzten Redaktion enthält Nützliches und Unbrauchbares für den kultischen und liturgischen Gebrauch. Man­ ches lässt sich anderen schwer zumuten, bietet Anlass zu grausamer Pädagogik oder der Verfolgung der «Ungläubigen». Der Text und das Gottesbild im Text bewahren etwas von süssen und rauen Gesängen, die seine Kinder nicht ganz verstehen, aber kindlich und von Herzen mitsingen oder mitbrummen. Hiob ist ein Werk aus dem Kontext der Klageliteratur der alten Hebräer, ja aus dem grösseren Kontext der jüdisch-christlich-isla­ mischen Kultur. Navid Kermani31 hat ihn explizit in diesen grös­ seren Zusammenhang gestellt. Die «Wahrheit» dieser literarischen Überlieferung liegt nicht in wahren Glaubenssätzen, sondern in der ikonisch einprägsamen und aufwühlenden Gestalt der leidenden Gerechten, die von der Welt zu Verlierern und Narren gestempelt wurden. Das Leid der Welt besteht darin, dass das erfahrene Leid der Opfer an andere weitergegeben und vergrössert wird; die Erlösung beginnt damit, dass Einzelne ausscheren und es nicht mehr nötig haben, Leiden weiterzugeben. Die Klage vor Gott macht darauf aufmerksam, dass ich mehr leide, als ich es verdiene, dass ich in mancher Hinsicht «unschul­ dig» bin an der Ungerechtigkeit und den Leiden, denen ich ausgesetzt bin. Vor Gott oder gegen ihn kann ich nicht Recht behalten, doch ich habe das «Menschenrecht», vor Gott zu klagen und zu schreien, bis er mich tötet oder erhört. So lange der Mensch noch bittet und klagt, hat er noch Hoffnung und Ausrichtung auf eine Instanz, die zuhört. Die Nähe zur Thematik der Theodizee ist dem Buch Hiob ein­ geschrieben. Zugleich enthält es die Absage an eine Theodizee, die Vgl. Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München: Beck 2005. Das Zitat zu Hiobs Klage aus Kierkegaard findet sich im Kontext der Seiten 164 und 256 dieses Buches.

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Gott selbst vor ein Gericht zerren will – welches Gericht wäre dafür zuständig? Es ist eines der letzten Bücher der Bibel, in dem Gott ausführlich und ohne Vermittler zu einem Menschen spricht. Nur sein Urteilsspruch ist Hiob gut genug. Das ist Hiobs Frömmigkeit: dass er den Richterspruch Gottes und nur diesen anerkennen wird, wie auch immer er ausfällt. Es gibt keine rationale Systematik der Klage, sondern nur die Klage selbst als Realität und literarische Gattung. Mit der Klage bricht die Unordnung aus, die keine Doktrin zu glätten vermag. Sie nimmt sich jede poetische Freiheit; die Klage im Gebet darf, was keine Theorie darf: mit Gott streiten und ihm eine Antwort abzwingen. Die Klage überlebt die Konstruktionen der «ewigen Gerechtigkeit» im Verhältnis von Tun und Ergehen, die besagen, dass letztlich durch eine wunderbare moralische Weltordnung alle kriegen, was sie ver­ dienen; die Klage überlebt Theodizeen und ihre Widerlegungen, die Bemühung von Häresien, Manichäismus, Polytheismus oder Atheis­ mus, welche den allmächtigen Schöpfergott als letzte Ursache der Übel beseitigen wollen, um die Frage nach dem Sinn von Leiden zumindest etwas zu entschärfen, wenn auch nicht zu beantworten. In der Klageliteratur bleibt etwas aufbewahrt, was in keine Systematik passt und in keinen ethisch-politischen Menschenrechtskatalog, in dem es um Forderungen von Menschen gegenüber Menschen geht, nur nicht um das «Klagerecht» vor Gott. So wie der Fromme, der sich verlassen und verzweifelnd in der Welt vorfindet, kann keiner klagen; die Klage der Treuen Gottes, die in Straflagern schmachten oder in Kriegen ihre Angehörigen verlieren, richten sich immer noch an Gott und spiegeln eine Mischung von Hoffnung und Verzweiflung; sie sind schneidender als die Klagen jener, die alle Übel menschlicher Bosheit, Dummheit oder dem Zufall zurechnen. Die Betenden in den Psalmen und Klageliedern, den Propheten- und Weisheitsbüchern, der betende Christus am Kreuz verlangen etwas vor Gott, in der Sprache verwirrter und enttäuschter Liebender, die bei der Instanz Trost suchen, die sie, wie sie meinen, in der Not im Stich gelassen hat. Oder sind sie es selbst, die es an Treue und Aufmerksamkeit, an Ausdauer im Gebet und in der Befolgung des Gebets fehlen liessen? Sie mögen sich für gerecht halten, doch können sie das überhaupt angemessen beurteilen? Die von ihrem Gott Verlassenen können sich nicht selbst trösten oder rechtfertigen; sie sind sich ihrer letzten Schwäche und Endlichkeit vor dem Ewigen bewusst. Sie pochen auf das «Recht» auf eine Klagemauer, auf ein «Echo vom Himmel».

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In Hiobs Klage zeigt sich seine Schwäche und seine Treue. Eine Annäherung an dieses Paradox findet sich in einer Passage aus Kierkegaards Buch «Die Wiederholung». «Weh dem! der Witwen und Waisen frisst und sie um ihr Erbe bringt, aber wehe auch dem! der den Trauernden auf subtile Weise um den einstweiligen Trost der Trauer, sich Luft zu machen und ›mit Gott zu hadern‹, betrügen will. Oder ist die Gottesfurcht in unserer Zeit vielleicht so gross, dass der Trauernde die Dinge nicht braucht, die in jenen alten Tagen Sitte waren? Wagt man vielleicht nicht, vor Gott zu klagen? Ist also die Gottesfurcht grösser geworden oder die Furcht und Feigheit? Heutzutage meint man, der eigentliche Ausdruck der Trauer, die verzweifelte Sprache der Leidenschaft müsse den Dichtern überlassen bleiben, die nun, wie Winkeladvokaten bei einem erstin­ stanzlichen Gericht, vor dem Richterstuhl des menschlichen Mitleids die Sache des Leidenden vertreten. Weiter wagt sich niemand. Sprich du deshalb, unvergesslicher Hiob! Wiederhole alles, was Du gesagt hast, du gewaltiger Wortführer, der unerschrocken wie ein brüllender Löwe vor den Richterstuhl des Allerhöchsten tritt! In deinen Worten ist Kraft und Bündigkeit, in deinem Herzen ist Gottesfurcht, selbst wenn du klagst, wenn du deine Verzweiflung vor deinen Freunden verteidigst und wahrst, die sich wie Räuber erheben, um dich mit ihren Reden zu überfallen, selbst wenn du, gereizt von deinen Freunden, ihre Weisheit zertrittst und das, was sie zur Verteidigung des Herrn sagen, verachtest, als wäre es die elende Klugheit eines verlebten Hofdieners oder eines staatsmännisch klugen Regierungsmitgliedes. Dich brauche ich, einen Mann, der laut zu klagen weiss, so dass es im Himmel widerhallt, wo Gott sich mit Satan berät, um Pläne gegen einen Menschen zu schmieden! Klage, der Herr fürchtet sich nicht, er weiss sich schon zu verteidigen; aber wie sollte er sich verteidigen können, wenn niemand zu klagen wagt, wie es sich für einen Menschen gehört. Sprich, erhebe deine Stimme, sprich laut, Gott kann schon noch lauter sprechen, der hat ja den Donner – auch der aber ist eine Antwort, eine Erklärung, verlässlich, getreu, urwüchsig, eine Antwort von Gott selbst, die, wenn sie einen Menschen auch zerschmetterte, herrlicher ist als Stadtklatsch und Gerüchte über die Gerechtigkeit der Vorsehung, erfunden von menschlicher Weisheit, verbreitet von alten Weibern und von Leuten, die keine ganzen Männer sind.»32

Søren Kierkegaard: Die Wiederholung. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Hans Rochol, Hamburg: Meiner2000, 67f.

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Recht auf Klage

Kierkegaards Kommentar wirkt subjektiv und persönlich, gleichsam identifizierend, wenn er sich dessen bewusstwird, dass mancher weni­ ger zu verlieren hat als Hiob, keine Reichtümer, keine Frau, keine Kinder, kurz: kein Patriarchen-Glück – und doch nicht besser dran ist, so dass ihm nur die Klage vor Gott bleibt. Hier das Ende des Zitats, das den Brief eines unglücklich Liebenden an den stillen Mitwisser vom 19. September abrundet. «Ich habe nicht die Welt mein eigen genannt, nicht sieben Söhne und drei Töchter gehabt, aber auch der kann ja alles verloren haben, der nur wenig besessen hatte, auch der kann ja gleichsam Söhne und Töchter verloren haben, der die Geliebte verloren hat, und auch der wurde ja gleichsam mit bösen Wunden geschlagen, der die Ehre und den Stolz verloren hat, und damit die Lebenskraft und den Sinn.»33

Es geht Kierkegaard darum, die Stimme Hiobs zu vernehmen und in die Gegenwart zu übersetzen, Hiob aus der Tiefe der Vergangenheit und aus der Gegenwart zu lesen, als wäre Hiob mit den jeweils Lesen­ den gleichzeitig. So kommt es zu einer Identifikation der Lesenden mit der Figur im Text; sie wird über jeden Zeitabstand hinweg im Lesen und Leben präsent. Was für Hiob gilt, trifft nicht nur «als ob», sondern real auf Jesus zu. Kierkegaard hat das rechte Verhältnis zu Jesus als «Gleichzeitigkeit» ausführlich behandelt.34 Ihm gebührt im christlichen Bekenntnis der Ehrentitel «Kyrios»; sein Wort ist dem Glauben zeitloses Herrenwort. Ob die Redaktion der «Stimme Gottes» in den Gottesreden ästhetisch gelungen ist, bleibt wesentlich umstritten. Gott lässt sich vernehmen als der über seine Schöpfung Erhabene. Er geht nicht in seiner Schöpfung auf, verschwindet nicht in der Natur oder in der Geschichte. Die erhabene Rede Gottes aus dem Wettersturm ist laut, sie muss wie die Heroen und Heroinnen in Richard Wagners Musikdramen einen gewaltigen Orchester-Apparat übertönen; die durchdringende Stimme ist dem Gesetz des Umschlagens des Erhabe­ nen ins Lächerliche ausgesetzt.

Kierkegaard: Die Wiederholung, a.a.O., 69. Walter Rest spricht von einer «Einübung in die Gleichzeitigkeit mit Christus» S. Kierkegaard: Einübung im Christentum und anderes, deutsch von Hans Winkler, herausgegeben und eingeleitet von Walter Rest, Köln und Olten: Hegner, 1951, 14 und 19; Kierkegaard über Gleichzeitigkeit mit Christus vgl. 117ff. Das dänische Original entstand 1848 und wurde 1850 veröffentlicht. 33

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Recht auf Klage

Wo es sich «nur» um Literatur handelt, darf jede lesen, wie sie will. Navid Kermani, der sich nicht scheut, die Narren und Spinner, die Entgleisten und Spötter unter den «Liebhabern Gottes», den Mystikerinnen und Mystikern ausgiebig zu zitieren, verweist auf die literarische Parodie der Wette im Himmel von Robert Gernhardt.35 Kein anderer literarischer Text wie das «Selbstlob Gottes» ist derart dem Umschlagen ins Lächerliche ausgesetzt! Je lauter Gott von oben herab poltert und special effects («Wunder») aufbietet, umso mehr gerät er in die Slapstick-Rolle von Charlie Chaplin als dem grimassie­ renden, fuchtelnden und brüllenden Führer. Bei Robert Gernhardt wird das Erhabene in der Nachfolge der bitterbösen Satiren von Oskar Panizzas «Liebeskonzil»36 zum heruntergekommenen StammtischGeschwafel zweier Betrunkener, einem gutmütigen Cognac-Säufer Satan und einem vergesslichen, aber cholerischen Rotweintrinker Gott. Halbwegs human erscheint nur der angesäuselte Satan, wäh­ rend sich Gott in der Satire selbst doppelt durchstreicht. Der schwung­ volle Text, vielleicht selbst im Suff verfasst, entspricht dem Bedürfnis, ab und zu aus der hohen Tonlage von biblischen Text-Welten auszu­ steigen und einen Gegen-Text zu lesen. Die Intrige im Himmel wird zum derben und lüsternen Narrenstück. In Gernhardts Erzählung wird ein jämmerlicher Gott vorgeführt, der sich nicht an seine Taten und Aussagen erinnert, im Tandem mit Satan als Hanswurst, der zu faul ist, um von sich aus Böses zu tun, der jedoch alles versucht, um die Jähzorn-Ausbrüche seines vertrottelten Chefs zu beschwichtigen. Beide Narren sind verklemmte Voyeure; sie blicken wie gebannt hinunter auf das erste Vorspiel eines jungen Paars. Die ausgelassene Blödelei über die Anmache des Studenten, die voyeuristischen Details über die erotische Mitwirkung der Frau bestätigen den Verdacht Got­ tes (nichts Satans), dass Ewald alias Hiob ein Sünder ist, der sündigen Umgang pflegt. Der flotte Ulk triumphiert über jegliche Hoffnung, dem Göttlichen noch jemals zu begegnen. Das Heilige hat wie in Teilen des zeitgenössischen Theaters nur noch als Lachnummer Platz. Vor diesem Gott lässt sich weder bitten noch klagen. Die Betenden aller Zeiten werden der Lächerlichkeit preisgegeben.

Vgl. Robert Gernhardt: Die Erzählung. Das Buch Ewald, in: Gernhardt: Reim und Zeit & Co. Gedichte, Prosa, Cartoons, Stuttgart: Reclam 2000, 254–272. 36 Vgl. Oskar Panizza: Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie in fünf Aufzügen, Zürich: Verlagsmagazin 1895. 35

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Recht auf Klage

Hiob ist Literatur, aber nicht von dieser Art, die an Robert Gernhardts Reimen und Comics gefällt oder missfällt. «Das Buch Ewald» ist eine Satire auf das «laute Selbstlob Gottes» in der Got­ tesrede, ohne Erwähnung der Brücken, die Gott Hiob und seinen Freunden baut. Die Satire fährt fort, ohne auf die Stimme der Kla­ gen und Bitten Hiobs zu achten. Die leichtfüssige Fortschreibung Gernhardts erliegt der Versuchung zur Vertreibung von Ambivalenz und endet in einer Reduktion von Vielfalt und Tiefe im Text. Das ewig Alberne, es zieht uns hinab. Allerdings ist es nicht der Humor an sich, sondern wohl eher die Grundoption oder Entscheidung des Autors gegen den Glauben. Der verlorene oder fehlende Glaube findet und schafft keinen Zugang zum Spielerischen und Spiel, sofern es in Gottes «Natur» steckt, mit der Sophia und mit der Schöpfung zu spielen.37 Das wäre ein dritter Ansatz, der sich von der antikle­ rikalen Bosheit Gernhardts und einer sauertöpfischen Abwendung von Literatur, Fiktionalität, Virtualität und «Gaming» unterschiede. Er nimmt Gott als Ursache und Vorbild des Weltspiels und den spielenden Menschen nach dem Bild Gottes zum Ausgangspunkt einer differenzierteren Reflexion.38 Wenn Literatur, wie Ralph Waldo Emerson39 statuiert oder Thomas Bernhard suggeriert, wesentlich Zitat ist, stellt sich die Frage, ob das Göttliche oder Heilige im Zitat weitergegeben werden kann. Dem Glauben an die Heilige Schrift entspricht die heilige Lesung, das andachtsvolle Lesen in der Heiligen Schrift als Lebensform und Gebet. Ohne diesen «Anstoss von oben» bliebe der literarische Text ein Labyrinth von Zitaten. Selbst ein andächtiges Lesen muss den Sinn für das Spielerische und die Wette im Himmel nicht verdrängen. Sie gibt der Treue im Glauben etwas von dem Risiko zurück, das sie Vgl. Silvia Schroer: Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz: Grünewald 1996. 38 Es ist ein «kulturkonservativer Reflex», den jeweils neusten Technologien, etwa den Computerspielen pauschal jegliche Chance zu einem Zugang zu Gottes Trans­ zendenz abzusprechen. Zur neueren Forschung vgl. Wolfang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin (Hrsg.): Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2021. Zum Weltzugang durch Spiele vgl. den Beitrag von Stefan Pia­ secki: Deus pars ludi est (Ist Gott Teil des Spiels)? Quaestio: Gewährt die Virtualität von Computerspielen Raum für göttliche Präsenz? (im angegebenen Sammelband S. 319–344). 39 Vgl. R.W. Emerson: Letters and Social Aims, chapter 6 Quotation and Originality (1875), in: The Collected Works of Ralph Waldon Emerson. Vol. VIII, Cambridge, Mass, London: The Belknap Press of Harvard UP 2020, 93–107. 37

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von einem sturen Festhalten unterscheidet. Wie die Heilige Schrift, so kann auch Thomas Bernhards nervtötende Prosa als ein Spiel von Zitaten und Querverweisen gelesen werden. «Oft sagt Köhler mehrere von Karrer stammende Sätze und denkt sehr oft ein von Karrer gedachtes Denken, denke ich, ohne ausdrücklich zu sagen, das, was ich jetzt sage, ist von Karrer, das, was ich jetzt denke, ist von Karrer. Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert, ist auch ein Satz von Karrer, der mir in diesem Zusammenhang einfällt und den Oehler, sehr oft, wenn es ihm passt, gebraucht.»40

Es ist zugleich die Abfolge menschlicher Überlieferung und der Anstoss, sich aus der Verschachtelung menschlicher Zitate heraus an Gott und die Mitmenschen selbst zu wenden, von ihm selbst autoritativ angesprochen zu werden, welche die Heilige Schrift von der weltlichen abhebt. Wenn Gott dem Einzelnen vernehmlich, mit dem Schall einer Stimme spricht, ergibt sich allerdings nicht ein niederschmetterndes Argument für den lebendigen Gott, sondern weit eher eine gesteigerte und spezifische Ambivalenz der Heiligen Schrift. Warum spricht die Stimme Gottes laut und doch nicht allen vernehmlich? Wie verstockt oder taub müsste man sein, um seine Stimme zu überhören? Und was würde mir der Klang seiner Stimme fruchten, wenn er in einer archaischen, vielleicht verschollenen und vergessenen oder sehr fremden Sprache sprechen würde, die nur einige Spezialisten (z.B. Hebraisten, Ägyptologen, Arabisten oder Sinologen) verstehen? Trotz der Fachliteratur über Gottes Wort, Rede, Diskurs41, Kom­ munikation42, Mitteilung, Stimmen und Stimmungen usw. häufen sich dem bohrenden Denken die Fragen an, und nicht die jeweiligen Lösungsvorschläge, die allenfalls als Zwischenberichte und kurz fla­ ckernde Lichter der Forschung aufleuchten und wieder verglühen (veralten). Nicht nur der Intellekt, auch und vor allem die Imagination werden auf die Zerreissprobe gestellt. Die Einbildung scheint sich in Illusion und Wahn aufzulösen, wenn sie Gott hören will und doch nur das Rauschen der Natur oder der technischen Welt vernimmt. Stelle Dir vor, Gott spräche zu Dir, mit der Stimme einer Frau, Deiner Thomas Bernhard: Gehen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, 22. Vgl. Nichoals Wolterstorff: DIVINE DISCOURS. Philosophical reflections on the claim that God speaks, Cambridge: UP 1995. 42 Karl-Heinrich Ostmeyer: Kommunikation mit Gott und Christus (Wissenschaftli­ che Untersuchungen zum Neuen Testament 197), Tübingen: Mohr Siebeck 2006. 40

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Recht auf Klage

Frau, Deiner Schwester, Deiner Mutter usw.? Würdest Du (Mann von altem Schrot und Korn!) überhaupt hinhören? Oder würdest Du es als «Weibergeschwätz» abtun? Und wie steht es mit einem Gott, der Leid zulässt oder zufügt? Spricht Gott zu seinen Freunden (den durch ihn und nach seiner Vorsehung Gerechten) mit dem «Mal­ heur» und dem «Bitteren»43, das er ihnen widerfahren lässt? Und was hätten «wir» davon, sofern «wir» vom äussersten Unglück verschont blieben, denen nie oder auch nur annähernd widerfuhr, was Hiob oder Christus am Kreuz zustiess? Oder wird jeder Gerechte im Leid und in der Nähe des Todes zum Hiob, den Gott «keinen Moment in Ruhe lässt»?

43 Vgl. Simone Weil: Cahiers. Aufzeichnungen, Band 2,2. Aufl. München, Wien: Han­ ser 1993, 222. Sie zitiert Hiob 7, 19; 10, 20; 14, 6 und reflektiert über die volle Zuwen­ dung zu Gott, so wie Gott sich ganz zuwendet und seinen Knecht Hiob nach dem Wortlaut seiner Klage «keinen Moment in Ruhe lässt».

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Hiobs Klagen, so viel weiss man gemeinhin, sind Klagen über schwere Schicksalsschläge und über einen unbegreiflichen Gott. Hiob scheint geradezu untröstlich befangen im Leiden an allem, was ihn hart getroffen und aus dem bisherigen guten Leben geworfen hat. Er scheint so sehr daran zu leiden, dass ihm die Freunde seines Besitzstandes, jene signifikanten Personen und Peers, die nicht ohne wichtigen Grund verreisen, die mehr sind als Mitleidstouristen, nicht Trost gewähren können, sondern ihn auch noch gegen sie aufbringen. So betrachtet wäre Hiob nicht nur vom Unglück getroffen, sondern zusätzlich verbittert und verstockt, menschlichem Zuspruch nicht mehr zugänglich. Es ist ein Gemeinplatz, Hiobs Plagen und Klagen zu erwähnen, ohne sich auf den Text zu besinnen, in dem manchmal unerwartet andre Dinge stehen, die dieses Klischee des elenden Mannes, der jammert und darauf besteht, sein Unglück nicht verdient oder ver­ schuldet zu haben, stören. Die Freunde sind nicht nur deshalb «leidige Tröster», weil Hiob sich nicht leicht wie ein Kind trösten lässt. Nebenbei: nicht jedes Kind lässt sich in jeder Situation leicht trösten. Sie sind auch deshalb leidige, ja hinterhältige Tröster, weil sie Hiobs Verurteilung und Bestrafung geradezu herbeireden. René Girard44, dessen Deutung des rituellen Sündenbock­ mechanismus bekannt und umstritten ist, hat die Aufmerk­ samkeit auf einige Stellen im Buch Hiob gelenkt, welche 44 René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich: Benziger 1990. Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel La Route antique des hommes pervers, Paris: Éditions Grasset & Fasquelle 1985. Der französische Titel, der Hiob nicht erwähnt, bezieht sich auf Hiob 22, 15: «Veux-tu suivre la route antique des hommes pervers?», fragt Elifas, in seiner zweiten Rede. In der modernisierten Luther-Übersetzung steht: «Hältst du den Weg der Vorzeit ein, auf dem die Ungerechten gegangen sind?» Nach Girard ist der Weg der Vorzeit die mimetische Ursprungsgewalt aller Kulturen, der die Idee eines «dieu persécuteur» realisiert. Die Bibel eröffnet dagegen auch die radikal alternative Sichtweise eines «Dieu des victimes». Sie macht Gott als Anwalt der Opfer und die Perspektive der Opfer geltend.

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die Anschuldigungen und Aggressionen hinter dem vermeintli­ chen «Zuspruch» der «Freunde» enttarnen. Insofern ist das Buch Hiob eines der raren Zeugnisse aus der Antike, welches die Proble­ matik und Schändlichkeit des Sündenbockrituals durchschaut und blosslegt. Ob Girard recht hat oder nicht: seine Deutung regt zur wiederholten Lektüre einiger Stellen an. Hiob 29, 9–11 «Fürsten hielten mit Reden sich zurück / und legten ihre Hand auf ihren Mund. Der Edlen Stimme blieb stumm, am Gaumen klebte ihre Zunge. Hörte mich ein Ohr, pries es mich glücklich, das Auge, das mich sah, stimmte mir zu.»45

Kapitel 29 enthält Hiobs Klage und Verteidigung, seinen Rückblick auf die früheren, besseren Tage. Dieser Blick in die Vergangenheit enthält Elemente, die Girard als «Liebedienerei» der anderen Mitglie­ der der Elite ausmachten, zu der sich Hiob einst ebenfalls rechnen durfte, wegen seines Glücks, seiner Vormacht und des Kleids der Gerechtigkeit, das er trug, in dem er sichtbar für Witwen und Waisen wirkte. Diese Sachverhalte zeigen, wie sehr Hiob aus dem Kreis jener «falschen Freunde» hervorgeht, die ihn einst bewunderten und beneideten wegen seiner Herrlichkeit, die ihnen die leiseste Kritik an ihm im Munde erstickte. Sie trauten sich nicht laut zu sagen, was sie vielleicht tuschelten oder dachten, was sie gegen ihn hätten vorbringen können, wäre er nicht einer der Ihren und sogar einer gewesen, der sie dem Reichtum und guten Ruf nach scheinbar über­ ragte. Das Phänomen ist bekannt: einige seiner ärgsten (heimlichen oder öffentlichen) Kritiker mögen über ihn geschnödet haben; sie hegten den Verdacht, den bereits Satan im Prolog äussert: «Meinst du, dass Hiob Gott umsonst fürchtet?» (Hiob 1, 9)

Doch sobald Hiob in die Versammlung der Peers tritt, verstummen die Anschuldigungen. Die Präsenz des mächtigen Gerechten bannt jede Widerrede und macht aus seinen potentiellen Feinden «Liebediener». Dass sich die ostentativen Bewunderer nach Hiobs Fall (dem Verlust seiner «Königswürde») gegen ihn richten, ist wahrscheinlich. Sie machen Stimmung gegen ihn und sind bemüht, sich die Hände nicht zu beschmutzen, sondern andere anzustiften, zum vermeintlich Bes­ 45 Girard zitiert mit Vorliebe aus der französischen Einheitsübersetzung der Neuen Jerusalemer Bibel. Die Hiob-Zitate in diesem Kapitel folgen der deutschen Über­ setzung der Einheitsübersetzung, Freiburg: Herder 1985.

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ten des Kollektivs, und ihn ganz vom Sockel seines ehemaligen hohen Ansehens zu stürzen und ihn, der schon auf dem Boden im Dreck hockt und sich windet, noch zu treten oder treten zu lassen. Diese Einhelligkeit der Verächter und Verfolger schweisst die Gemeinschaft zusammen, wirkt als Sozialtherapie – auf Kosten eines Unschuldigen. Girards Deutung ist bekannt und obsessiv; sie wird am Ende die­ ses Kapitels nochmals zusammengefasst und gewürdigt. Eine Neben­ wirkung dieser (womöglich falschen oder grob verallgemeinernden) Hypothese ist der geschärfte Blick, die etwas andere Lektüre dieser und anderer Stellen im rätselhaften Buch Hiob. Allerdings scheint Girards Sichtweise selbst unkorrigierbar, wenn nicht sogar unfehlbar. Man muss wohl von einer Selbstim­ munisierung seiner Deutung gegen Einwände sprechen. Der Sünden­ bockmechanismus wird von Selbsttäuschung, Konfusion und Lügen­ konstruktionen gestützt und sogar von den «Neunmalklugen» heftig in Abrede gestellt. Seine Analyse verwickelt u.a. in das Paradox der Selbstlüge, das besagt, dass ein und dieselbe Person lügt und belogen wird. Die Anstifter zur Gewalt sind wie jene, die sie aus­ üben, betrogene Betrüger. Einige brillante Geister fühlen sich über diese primitive Liturgie des mimetischen Wunsches erhaben und wirken trotzdem an ihr mit. Derartige Behauptungen Girards führen zur Gegenfrage, warum gerade er (und einige seiner meist zitier­ ten Autoren, die man als «Kumpels» und «Seilschaften» der Girard­ schen Theorie bezeichnen muss), etwas durchschauen, was fast allen anderen offenbar so schwerfällt und was auch in antiken Texten nur ausnahmsweise aufgedeckt und rasch wieder zugedeckt wird: der Magnetismus mimetischer Gewalt. Seine Theorie hat den Reiz einer höheren Unwiderlegbarkeit und zieht jene an, die sich gerne als die wenigen Besseren gegen den Rest der Welt, gegen «die Gesellschaft» verschwören. Konsequent weitergedacht müsste man als Anhänger von Girards Theorie jeder Gruppe, Vergemeinschaf­ tung oder Zugehörigkeit misstrauen. Das lässt etwas ahnen von jener Haltung, von der Nonkonformisten und Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts ausgingen und die besagt, dass sich die «nackte Wahrheit» nur dem Aussenseiter, dem zurückgezogenen Beobachter und apolitischen Eremiten zeigt. Diese Konsequenz könnte auch einen Autor wie Girard zu jenem Mangel an politischen Urteilsvermögen geführt haben, das manche Vertreter einer «verkappten Religion», einer obsessiven, allzu einfachen Weltformel befällt. Sie vergessen über der schönen Einfachheit ihrer Erklärung aus einem Prinzip

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oder durch einen Mechanismus die «Muster der Komplexität», die gegenläufigen Tendenzen, die Teilwahrheiten der anderen, die ihrer Theorie widersprechen. Selbst eine möglicherweise falsche oder allzu simple Theorie kann zu «Zufallstreffern» einer alternativen, vielleicht sogar erhel­ lenden Lektüre führen. Girard hat an klassischen Texten der Antike und aller Epochen (insbesondere Shakespeare) immer wieder etwas Interessantes herausgepickt, vielleicht auch oft genug etwas hinein­ gelesen. Seine Lesart mag als einseitig oder gewaltsam gescholten werden, doch sie schlägt gleichsam einige Funken aus dem Text, der oft wie Granit für das Verstehen wirkt. Man mag seine Kulturanthro­ pologie mögen oder nicht. Dass Girard wie ein blindes Huhn einzelne Körner findet, lässt sich an Beispielen illustrieren. Hiob 6, 15–20 «Meine Brüder sind trügerisch wie ein Bach, wie Wasserläufe, die verrinnen; trüb sind sie von Eis, wenn über ihnen der Schnee schmilzt. Zur Zeit der Hitze versiegen sie, wenn es heiss wird, verdunsten sie in ihrem Bett. Karawanen biegen ab vom Weg, folgen ihnen in die Wüste und kommen um. Nach ihnen spähen Karawanen aus Tema, auf sie vertrauen Handelszüge aus Saba. In ihrer Hoffnung werden sie betrogen, kommen hin und werden enttäuscht.»

Dieses poetische Bild mit Sitz im Leben verdeutlicht, dass man sich nicht der Sogwirkung kollektiver Wünsche überlassen sollte. Wer einem Fliessgewässer blind vertraut, kann durch ein allmähliches Versiegen desselben, aber auch durch ein plötzliches Anschwellen und Überschwemmungen vernichtet werden. Das Gewässer ist ein falscher Gott, ein Symbol des tödlichen Mangels oder der katastro­ phalen Fülle, ein Hoffnungszeichen in der Wüste, gestützt und ver­ klärt durch den Mimetismus der Massen. Alle wünschen das Gleiche und geraten in die gleiche Falle. Von dem Fliessgewässer klingt das Gerücht aus der Vorzeit nach, dass es alle nähre und erquicke. Wie Dissonanzen zu dieser harmonischen Grundmelodie ertönen nun diese Verse. Sie zielen auf den Stimmungsumschwung und den Verrat der politischen Freunde. Hiob 17, 6–9 «Darüber [über den Anblick von Hiobs Elend] entsetzen sich die Red­ lichen, der Reine empört sich über den Ruchlosen. Doch der Gerechte hält fest an seinem Weg, wer reine Hände hat, gewinnt an Kraft.»

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Nach Girard werden hier «Reine» und «Gerechte» als Kläger und Rächer enttarnt, welche an der Verurteilung, Verfolgung und Gewalt gegen den «Sündenbock» beteiligt sind. Deutlicher noch wird diese Lesart, wenn man hier die «vermeintlich Reinen» und «Selbstgerech­ ten» setzt. Sonst könnte man (nach Girards Lesart) an der Möglich­ keit von Reinheit und Gerechtigkeit zweifeln. Jedenfalls will sich hier nicht Hiob selbst als «gerecht» und «rein» profilieren. Er sieht sich nicht als «Heiligen», wehrt bloss Verdächtigungen und Anschul­ digungen ab, die ihn zu einem «schuldigen Sündenbock» machen sollen. Man könnte auch weniger Kohärenz in Hiobs Denken und Reden vermuten. Immerhin war er einst auch ein glückliches Mitglied der Elite, ein Begünstigter unter den Begünstigten, dem es nicht an «politischen Freunden» fehlte. Doch in Hiobs Rückschau wird dieser Begriff der «politischen Freunde» (der sich so bei Aristoteles, nicht im biblischen Kontext findet) zersetzt: wer sich zur Beteiligung an der Macht an «politische Freunde» hält und mit ihnen im rivali­ sierenden Zweckbündnis aufgeht, hat den Egoismus und das Aus­ schlussverfahren aller, die nicht zu Elite gehören, nicht durchschaut. Wer dem Zweckbündnis nicht mehr dient, ist besonders geeignet zur vereinigten Verwerfung, zur Einhelligkeit des Todesurteils. So wissen es die «Brüder» oder «Freunde» und bestätigen es sich untereinander und in der harten Gegenrede gegen Hiob: dieser hat sein Unglück verdient; seine «Bestrafung» wird die Gesellschaft in ihrem Zusam­ menhalt reinigen und stärken. Hiob 13, 4 «Ihr aber seit nur Lügentüncher, untaugliche Ärzte.»

Hiob ist nicht sanfter im Umgang mit seinen ehemaligen politischen Freunden als diese mit ihm. Die Kontrahenten schonen sich nicht. Sie schenken sich nichts, wie man auch ironisch zu sagen pflegt. Girards Auswahl von Belegstellen ist erhellend für das, was er sagen will. Die Texte scheinen ihm zum Teil recht zu geben. Doch Girards Theorie steht fest, bevor er sich an die Deutung des Buchs Hiob machte. In seiner Hiob-Deutung findet man nichts, was nicht in seinen übrigen Werken nachzulesen wäre. Diese fertige Theorie vor der Lektüre fasst Girard mit der Begeisterung eines Pioniers und Retters der Welt immer wieder zusammen. «Weitere Gebiete unseres Planeten seien, so wird gesagt wegen der Ausbeutung durch den Menschen, wegen seiner Wünsche, in Wüsten verwandelt worden. Je mehr sich die Wüste in uns und um uns

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ausbreitet, um so stärker wird die Versuchung, die Realität oder Gott selbst zu beschuldigen oder, schlimmer noch, den Nachbarn, den erstbesten Hiob. In der Welt des mimetischen Wunsches neigen alle Individuen dazu, sich gegenseitig, also sich selbst in eine Art Wüste zu verstossen. Hat man diese geheime Verwandtschaft der individuellen Umstände und die überall dieselbe Vereinzelung hervorrufende Entfremdung einmal erkannt, versteht man ohne weiteres, dass der Hunger nach Gewalt wächst und schliesslich, in dem Augenblick, wo die globale Tendenz zur Vereinheitlichung Stellvertretungen und mimetische Polarisierungen begünstigt, an irgendeinem beliebigen Opfer gestählt wird. Vielleicht auch an einem nicht ganz so beliebigen Opfer, an einem Opfer, das stärker im Rampenlicht steht und deshalb exponierter ist, an einem Opfer, das wegen seiner aussergewöhnlichen Stellung innerhalb der Gesellschaft gewissermassen dazu prädestiniert ist … an Hiob.»46

Girard schwankt bezüglich der Frage, wer sich als Sündenbock besonders eigne. Es kommen «beliebige» Opfer als Sündenböcke in Frage, aber eben auch spezifische: soziale Absteiger, oder jene, die immer weit unten sind. Anlässlich Hiobs Erinnerung daran, dass er vormals Witwen und Waisen schützte (vgl. Hiob 29, 13f.), hebt Girard hervor, dass sich nicht nur «gestürzte Könige» oder «Promi­ nente» als Sündenböcke eigneten, sondern auch Witwen und Waisen, vor allem schutzlose Kinder, die keine Eltern und keine dynastische Lobby haben. Sie sind dazu prädestiniert, als namenlose Opfer zu verschwinden. Die Bevorzugung von Waisenkindern als Opfer von Gewalt erinnert an die älteste Schicht primitiver Kinderopfer und ihre Fortsetzung in organisierten kriminellen Pädophilen-Milieus. Hier und unter den zahlenden Kunden kursiert vermutlich noch immer das Vorurteil, dass Kinder ohne Angehörige leichte sexuelle Beute seien, an deren Naivität und Verzweiflung sich die Täter delektieren, Lustobjekte, die erlittene Gewalt schnell vergessen und deshalb später nicht zu Anklägern werden können – oder falls doch, ist die praktische Konsequenz des Kindsmissbrauchs der Kindsmord. Abraham, der potentielle Sohnesmörder in Gottes Auftrag, begibt sich nach einem alten Brauch der Vorbereitungen auf das Sühneopferritual mit dem an den Händen gefesselten Isaak auf den Weg. Es ist ein uralter Weg zur Ausübung sakraler Gewalt. Nur wenn 46 René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, Aus dem Französischen von Elisath Mainberer-Ruh, Zürich: Benziger 1990, 89 (Schluss aus Kapitel 10: Der Sturzbach).

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der Sündenbock tatsächlich ermordet wird, kann Isaak nachträglich zum Idol der wehrlosen Reinheit und Unschuld erhoben werden. Der tatsächlich geopferte Isaak könnte zwar nicht zum Verbündeten seiner Mutter gegen den bösen Vater und zum Ankläger oder Kritiker Abrahams werden. Doch das Kollektiv könnte sich zur Verurteilung und Hinrichtung Abrahams verbünden. Wer seinen Sohn tötet, ist ein Kindsmörder. Wer würde die «gerechten» Mörder Abrahams rächen? Die Phantasien und Gewalttaten von Sühne und Rache kennen immer nur Pausen, kein definitives Ende. Girard versetzt sich in Hiob, guckt gleichsam mit Hiob durch das Prisma seiner Theorie und durchschaut, was die «leidigen Trös­ ter» und «falschen Freunde» betreiben, ohne es zu verstehen. Sie gehören also zu jenen, die nicht wissen, was sie tun, zu den SchuldigUnschuldigen oder Unschuldig-Schuldigen. Eine solche Ausdrucks­ weise, die so nicht bei Girard steht, aber den Geist seiner Kritik spiegelt, stiftet Verwirrung über den epistemischen Status einer Ideologie und den offenbar völlig anderen Status eines souveränen Kritikers von Ideologie. Es gibt hier die selbstgefällige Dichotomie der Verblendeten und der Durchblicker. War Hiob einst ein verblendeter oder erleuchteter Gerechter, der den Witwen half usw.? Oder war er einer der «Freunde», der sich wie sie mit seinen Tugenden und Werken schmückte oder gegen schlechte Nachrede schützte? Warum identifiziert sich jemand wie Girard vollständig mit Hiob, als wäre er vor und nach seinem Unglück der Reine und Gerechte? Profi­ tiert Girards Analyse davon, dass, wie er meint, die Mechanismen des Ostrazismus und der opferkultischen Vernichtung Einzelner in der «Moderne» weniger greifen und nicht mehr die Mehrheit zu ver­ blenden vermögen? Können sich in der Antike Vereinzelte und in der Neuzeit immer mehr Menschen der Affinität mimetischer Wünsche und der Bereitschaft zur Gewalt entziehen? Wiederholen sich die Fehler (die Krisen und Kriege!) der Vergangenheit etwa nicht, als gäbe es keine Friedensprophetinnen, keinen Fortschritt der Einsicht und der Prävention von Gewalt? Wer wären die «tauglichen» Ärzte der Gesellschaft? René Girards Theorie lässt sich folgendermassen darstellen und kritisch würdigen: Am Ursprung der Kultur ist reale Gewalt; sie wird als «Massnahme gegen Schuldige» beschönigt und verschleiert. Es handelt sich im Kern um mimetische Gewalt, die sich paradoxerweise gegen zwei entgegengesetzte Opfertypen richtet: Neid auf mächtige Herrscher, Zorn auf die bereits Marginalisierten. Die Darstellung des

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Faktums von Gewalt in der Geschichte spiegelt sich in Mythen und Fiktionen; sie kann nicht auf Analogien verzichten. Es verleiht der grossen Literatur einen Vorzug vor den erstarrten («normalen») Wis­ senschaften, aber auch die Schattenseiten der Fiktionalität. Kompe­ tenter Umgang mit Metaphern verleiht eine Lesekompetenz, die sich am Buch «Hiob» – jedenfalls im Sinne einer Bestätigung von Girards Theorie – bewährt. Hiob repräsentiert in seinen Reden das riskante Wissen des Einzelgängers, der sich einer Beschuldigung durch das Kollektiv widersetzt. Er wehrt sich, in die Rolle des für die Gesellschaft nützlichen Sündenbocks verwiesen zu werden, dessen Leiden als für alle lehrreich oder heilsam erscheinen sollen. Daraus entsteht der Konflikt der Deutungen von Gewalt in der Geschichte: eine doppelte Parteilichkeit. «Nur die Bibel spricht vom Opfer als Opfer.»47 Girard argumentiert mit dem Geist der Evangelien gegen den Mainstream der Geschichte von Kirche, Theologie und Christentum, ergreift Partei für die Opfer als Opfer und gegen den Rest der Gesellschaft, die Partei der Täter und ihre Komplizen und deren Theologie, wonach Gott selbst das Opfer des «Schuldigen» verlange und die ganze Schuld des Kollektivs auf dem Opfer laste. Dazu greift er zurück auf eine dynamische Auffassung der (Opfer-)Riten und benutzt sie zu einer radikalen Zeitgeist- und Wissenschaftskritik, gegen Soziologie, Eth­ nologie, gegen die Tyrannei der Moden, des Statusdenkens, des Struk­ turalismus und «Platonismus» der Methoden und der Reduktion und Vernichtung von Analogien. Analogisches Denken verschafft einen Zugang zur Bedeutung der Opfer für die Gesellschaft. Die Symbolik des Opfers dient der Einigung und Wiederherstellung von Harmonie in einer Gruppe. Girards Kritik der «Rationalität» oder «Logik» des Sakrifiziellen (des heiligen Opfers) als Mittel zur sozialen Kohä­ sion kämpft an verschiedenen Fronten und richtet sich auch gegen den «gesunden Menschenverstand», der noch bis in die Neuzeit vom Sinn des Strafens und Opferns zum Schutz der Gemeinschaft durchdrungen war. In der Neuzeit wächst das Misstrauen gegen die archaische Logik der Erniedrigung und posthumen Erhöhung des Opfers; der Glaube an den Mechanismus des Sündenbocks ist seit der Aufklärung gebrochen; doch die Mechanismen des Sündenbockes verschwinden nicht und kehren selbst im Neuen Testament, in der Geschichte (religiöser) Verfolgungen und im modernen «Totalitaris­ mus» wieder. Es gibt eine Konvergenz in der Opferkritik der Prophe­ 47

René Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, a.a.O., 191.

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Hiobs Klage gegen seine Freunde

ten, des Buchs Hiob und der Evangelien, die sich nie ganz oder nur teilweise und mit grosser Verspätung gegen das quasi-mythische Ver­ geltungsdenken durchzusetzen vermögen. Diese Theorie des Sünden­ bockes liest Girard aus dem Buch Hiob heraus, oder er liest es hinein, indem er die Rahmenerzählung als irreführenden Zusatz streicht und die Reden Gottes am Ende des Buches als Humbug verwirft.48 Das sind einschneidende Entscheidungen gegen die redaktionelle Endge­ stalt des Buches. Zugleich versucht Girard, Hiob als Gestalt nicht zu idealisieren. Hiob grenzt sich zwar wiederholt gegen Schuldzuwei­ sungen (nach dem Schema des Tun-Ergehens-Zusammenhanges ab), doch Hiob fällt gelegentlich selbst wieder in die alten Muster zurück, schwankt, bleibt dem Denken der «Freunde» teilweise verhaftet. Das Kapitel 18 in Girards Buch setzt sich mit Hiobs Schwanken und Schwäche auseinander. Girard macht sich durch seine methodische Absonderung vom Wissenschaftsbetrieb und seine Sondermethoden der Analogie die Intellektuellen zu Gegnern, die, wie er unterstellt, ihre Abhän­ gigkeit durch mimetische Rivalität nicht erkennen, nicht verste­ hen wollen. Intelligenz schützt nicht vor Neid und Konflikten. Auf den Hinterbühnen des Wissenschaftsbetriebs toben Kriege; Rivalen werden heimtückisch erdolcht. Es geht hier zu wie in Shakespeares Theater.49 Girard denkt mit ausgewähltem Mate­ rial der Ethnologie über die Grenzen aller Disziplinen hinaus. Die (begrenzte) Kreativität von Riten als Dynamik zwischen dem Opfer «Waise» und «König» (den scheinbar entgegengesetzten Opfertypen) findet immer den Sündenbock; wichtig ist die Einhellig­ keit der Anführer und ihrer «Horde» oder «Meute». Girard braucht ähnliche Begriffe und Metaphern der Massenpsychologie wie Elias Canetti. Die Kraft der Verfolger ist eine Kraft aus dem Nicht-Ver­ 48 Die finale Gottesrede, insbesondere «die Poesie des Bestiariums», wird als Farce desavouiert, das Gottesbild dieser angeblichen Gottesrede wird wie folgt kommen­ tiert: «Cette espèce de montreur d’ours qui se fait passer pour Dieu n’a rien a voir avec le Défenseur invoqué. Le Job qui remercie obséquieusement ce charlatan n’a rien à voir avec celui des Dialogues.» (Girard: La route antique des hommes perverss, a.a.O., 162) Prolog und Schluss der Rahmenerzählung ebenso wie der naturkundli­ che Teil der Gottesrede machen das Buch Hiob zur «anecdote burlesque» (163) Es sind «Verschlechterungen» bzw. «Entstellungen» der in den Reden Hiobs verteidig­ ten Opferperspektive. Aus dem Kläger und Rebellen Hiob wird ein Bär, der von seinem Gott am Nasenring herumgeführt wird. 49 Vgl. René Girard: Shakespeare. Theater des Neides. Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Meier, München: Carl Hanser Verlag 2011.

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stehen-Wollen, aus der Verdrängung der nackten Tatsachen von Gewalt gegen Unschuldige. Girards Methode erhebt sich auf kühne Weise über die Wissenschaften und ist auf «methodische Imagina­ tion» (deutsche Ausgabe, 129) angewiesen, dass dieser Theorie und ihrer vielseitigen Anwendung den Charakter von Unangreifbarkeit und Unwiderlegbarkeit verleiht. Die Rezeption von Girard ist polari­ siert in Anhänger, die sich mit der Methode identifizieren, und Kriti­ ker, die sie als unüberprüfbare Selbstimmunisierung gegen Einwände ablehnen. Was einige fasziniert, wird andere abschrecken, nämlich dass Hiob die Wahrheit, wie er sie im Unterschied zum Mainstream zu durchschauen beansprucht, als Ereignis oder Intuition versteht. (Vgl. 139) Das lange Kapitel 15 über die Entwicklungsstadien der Riten lässt tief blicken in Phänomene, vor denen die Philosophie versagt, und es stimmt auch nachdenklich gegen Girards suggestiven Stil. Bestechend und problematisch sind Girards Vergleiche, die Fülle der Beispielsanalysen, seine analogische Methode des Herausarbeitens von Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen griechischen Tragödien und Bibeltexten, etwa der Vergleich von Hiob und Antigone, Hiob und Ödipus, von «Hiobs Freunden» mit den Eumeniden, die christlich inspirierten Analogien von Hiob und Jesus, Analogien zwischen Opferkult und prophylaktischen Massnahmen bei Epidemien, das Motiv der Tilgung des Namens der Opfer, die strategische Zurückhal­ tung der «Freunde» in ihrer Inquisition, Vergleiche ihres Vorgehens mit der «totalitären» Tendenz zur Aushebelung des Rechtsstaats, der Unschuldsvermutung usw. Insgesamt hinterlässt die Lektüre von Girards Buch über Hiob einen zwiespältigen Eindruck. Es scheint, dass seine Deutung den Blick für einige Stellen schärft, die man sonst eher überliest oder denen man nicht viel Gewicht beimisst. Die Aufmerksamkeit für scheinbar nebensächliche Details entspricht sowohl der literarisch als auch der psychoanalytisch geschärften Sichtweise. Auf der ande­ ren Seite ist die Textnähe irreführend, die Deutung vielmehr das Resultat einer selektiven, ja willkürlichen Heraushebung der für seine vorfabrizierte Theorie passenden Stellen und der Vernachlässigung alternativer Deutungen. Die Fokussierung auf die mimetische Gewalt der Freunde ist gelinde gesagt einseitig und scheint die Hauptsache der Beziehungskrise Hiobs im Verhältnis zu seinem Gott auszublen­ den. Man findet in diesem Buch manches, was ein etwas anderes Licht auf Hiob wirft, aber nichts, was das Versprechen des Untertitels erfüllt.

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Girards Theorie und Lektüren weisen keinen politischen «Ausweg aus der Gewalt», sondern eher einen Rückzug aus der Politik in eine apolitische Beobachterposition. Girard erwähnt nicht einmal, dass es verschiedene Forschungsansätze und Ausdeutungen gibt. Stets nimmt er Partei, wenn es sein muss auch gegen den Zorn Gottes. Kaum wird die missbräuchliche «Macht der Opfer» und ihrer laut­ starken Organisationen und Fürsprecher thematisiert. Man könnte einwenden, dass Girard mehr an einer religionsphilosophischen und religionskritischen Thematik interessiert ist als an politischer Theo­ rie, obwohl er seine Theorie als eine (undifferenzierte) Kritik «totali­ tärer» Ideologien und Praktiken mit einem überstrapazierten Jargon aus der Ära des kalten Kriegs formulierte. Im Erscheinungsjahr 1985 ist Girards Buch mehr vom Zeitgeist gefärbt, als seine pauschalen Rundschläge vermuten liessen. Es wird im Blick auf den wachsenden Zeitabstand zur Entstehung seiner Schriften schwieriger, unmittelbar an Girards pauschale Wissenschafts- und Zeitkritik anzuknüpfen. Die häufig sehr anschauliche, jedoch auf die Länge ermüdende mono­ manische Beharrlichkeit in seiner Spurensuche nach verborgener Gewalt gegen Opfer und in seiner Anstrengung, auch das Buch Hiob als «Weg aus der Gewalt» zu verstehen, bleibt trotz ihrer Einseitigkeit und den Unzulänglichkeiten seiner Ausführungen imposant. Sein Lebenswerk ist untrennbar verbunden mit dem Gestus und der Mimik der markanten Persönlichkeit auf den Bildporträts des 2015 verstorbenen Autors. Seinem Buch verdanken wir auch Einsichten über das Schwanken Hiobs zwischen der älteren Weisheitslehre und dem Zeugnis eigener Erfahrung.

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«Mein verschwiegener Mitwisser! Wo ich Hiob nicht hätte! Es ist unmöglich zu beschreiben und genau zu schattieren, welche Bedeutung und welche vielfältige Bedeutung er für mich hat […] Sie haben Hiob gelesen? Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn wieder und immer wieder […] Ihn zitieren aber – das kann ich nicht. Es hiesse meine Trumpf-Sieben in den Stich geben; es hiesse in Gegenwart eines anderen seine Worte zu meinen zu machen. Wenn ich allein bin, so tu ich es, eigne mir alles an; sobald aber jemand zugegen ist, weiss ich sehr wohl, was ein junger Mensch zu tun hat, wenn alte Leute reden.»50

In diesem Zitat lässt Kierkegaard eine Figur in seinem autofiktiona­ len51 Text für sich sprechen, nachvollziehbar über Identifikation und Distanz des Lesens, leises und lautes Lesen, Lesen allein und Lesen in Anwesenheit Dritter, Zitieren und Schweigen. Das Buch «Die Wie­ derholung» gehört zu jenen Büchern, die dazu auffordern, wiederholt zu lesen und von neuem nachzudenken. Die Bedeutung eines wieder­ holten Lesens ist eine Variation des Themas «Wiederholung» (mit der vorgeschlagenen Unterscheidung einer echten Wiederholung als Erneuerung, und blosser Gleichförmigkeit oder Routine) für eine Theorie des Lesens. Wiederlesen heisst neu lesen. Diese Lektüre ist «existentiell»; ich komme selbst ins Spiel, als das Verstehen Mit-Gestaltender (aktiver, produktiver) Leser und durch das Verstehen Mit-Gestalteter (erbauter Leser). So wie Kierke­ gaard gleichsam verwandelt, als Autor oder Pseudonym, in seinen Text eingeht und jeden Lesenden als einzelnen, diesen ganz besonde­ ren Leser anspricht. Literatur entsteht und benutzt die Formen und Ausdrucksmittel eines persönlichen Briefs. Kierkegaard als Autor ist 50 Kierkegaard, Auswahl aus dem Gesamtwerk, a.a.O., 263 (= Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, übersetzt von Emanuel Hirsch, Simmerath: Grevenberg Verlag 2004, 74f.). 51 Zum biographischen Kontext der zweiten Berlinreise und der Redaktion des Buches bzw. der parallelen Journale [Tagebücher] vgl. Clare Carlisle: Der Philosoph des Herzens. Das rastlose Leben des Søren Kierkegaard, Stuttgart: Klett-Cotta 2020, Kapitel 10: «Die Wiederholung: eine neue Philosophie des Lebens».

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sozusagen jeder Leserin wie seiner einzigen Briefempfängerin nahe, und auf diese Weise wird Hiob Dir und mir als Privatmann von einem Privatmann nahegebracht. Hiob als Privatmann? Hiob und seine Freunde sind keine Juden und insofern für Juden nicht direkt «autorisiert»; sie sind nicht insti­ tutionell etablierte Priester oder berufene Propheten; Hiobs «Beru­ fung» erfolgt hinter seinem Rücken, im Prolog im Himmel. Kier­ kegaard liest «identifizierend» in diesem spezifischen Sinn, weil er selbst ein nicht-autorisierter literarischer Prediger ist und weil er selbst unsicher ist darüber, ob er als Verkündiger von Gott berufen sei. Er liest den Text nicht in der Zeit seiner Entstehung, sondern aus sei­ ner ganz anderen Zeit, als wäre Hiob «gleichzeitig» und als handelte es sich um moderne Autorenliteratur von Individuen zu Individuen, mit einer literarischen und exegetischen Lesekompetenz, im Schutz einer Privatsphäre und mit einem garantierten Recht auf freie Mei­ nungsäusserung und Publikationsfreiheit. Das Spannungsverhältnis von Privat und Öffentlich ist der Kristallisationspunkt einer sich im Leben Kierkegaards verschärfenden Kultur- und Kirchenkritik. Kierkegaards schroffe Zeitkritik stützt sich auf diese individuelle Lesekompetenz und seinen Ernst in Glaubenssachen. Doch Kierke­ gaards solitäre Lektüre ist nicht die einzig mögliche, vielleicht auch nicht die beste Interpretation der Bibel. Man könnte sagen, er lese so, als sei Hiob der Autor des Buchs «Hiob». In einer modernen Fassung hiesse es eventuell im Schlusskapitel: Hiob wurde wieder glücklich, und in seinem Alter schrieb er seine Memoiren. Diese Lesart löst vieles aus. Sie «triggert» die Leserin. Lesend gerät sie selbst in die Fabel, sie gestaltet Sinn mit und wird durch das Verstehen mitgestaltet. Ich mache etwas am Text, der Text macht etwas mit mir. Die Dramaturgie des Buchs geht an die äusserste Grenze der Bewährung und der höchsten Anforderung an die Treue im Glauben. So wird die Leserin mit Kierkegaard gleichsam verwandelt; er geht mit der Leserin seiner eigenen Schriften, als Autor oder Pseudonym, in seinen Text hinein und tritt mit der Lesenden wieder geläutert ins Leben zurück. Es gelingt ihm dieser Stil, der seine Bücher unverkennbar macht, ein Stil, der mit der Lesenden zu reden scheint, sie in ein Zwiegespräch verwickelt. Wesentlich im Buch Hiob, sofern es nicht die ominöse Rede Gottes selbst ist, ist das Fragen und Weiterfragen und Selbstbefragen, ausgelöst durch Verluste und Schmerzen, verstärkt durch den Wider­ stand gegen das «weise Geschwafel» der Freunde und Gäste, die Hiob

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mit dem konfrontieren, «was geschrieben steht», was «man sagt», wenn einer tief unglücklich ist. Hiob der Dulder, Hiob, der Rebell, der ehemals Glückliche und nun verarmte Reiche, der mit Gott hadert und sich nicht von anderen, wohlmeinenden Tröstern, einreden lässt, er sei schuld an seinem Unglück und werde für seine Sünde bestraft. «Hiob erduldet alles – erst als seine Freunde kamen – um ihn zu trösten, da wurde er ungeduldig.»52 «Die Freunde machen Hiob genug zu schaffen, der Streit mit ihnen ist ein Fegefeuer, in welchem der Gedanke, dass er dennoch recht habe, geläutert wird […] so helfen die Freunde ihm mit ihren deutlichen Hindeutungen, mit ihren anzüglichen Bezichtigungen, die gleich nei­ dischen Wünschelruten an den Tag bringen müssen, was etwa zutiefst verborgen ist. Sein Unglück ist ihr Hauptargument, und damit ist für sie alles entschieden. Man sollte glauben, Hiob müsse entweder den Verstand verlieren oder, vom Elend erschöpft, in sich zusammen­ sinken, sich ergeben auf Gnade und Ungnade. Eliphas, Bildad und Zophar und vor allem Alihu, der frisch (integer) in den Kampf tritt, als die andern müde sind, variieren das Thema, dass sein Unglück eine Züchtigung sei; er soll bereuen, um Vergebung bitten, so wird alles wieder gut.»53

Mit dem vorangegangenen Zitat aus Kierkegaards Journal (in dem Kierkegaard öfter, aber auch nicht immer nur in eigener Stimme spricht) aus dem Jahr 1849 ist dokumentiert, dass der dänische Autor keine gelehrte Sekundärliteratur über Hiob produziert, sondern «Pri­ märliteratur»; er schreibt nicht historisch-distanziert oder nur im Auftrag anderer («ich sage nur, was die Kirche lehrt»), sondern wie jemand, der schreiben muss und mit etwas (in seinem eigenen Leben, in seiner Zeit) nicht fertig wird. Pathetisch gesagt ist es das Schreiben aus einer «Wunde», nicht das Fortschreiben von Wissenschaft. Kierkegaard ist nicht nur der Verteidiger des Glaubens aus sub­ jektiver Leidenschaft, sondern auch der leidenschaftliche Leser und Autor im Text; seine Texte sind Elemente der zur Klage gesteigerten Leidenschaft des Fragens vor Gott, und sie stacheln die implizite Leserin an, Hiob und Kierkegaards Texte «produktiv» zu lesen, was nicht verwechselt werden darf mit einer Lizenz zu einer schludrigen 52 Søren Kierkegaard: Journale und Aufzeichnungen, Bd. 5, Berlin, Boston: de Gruyter 2015, 373. 53 Kierkegaard, Auswahl aus dem Gesamtwerk, a.a.O., 267 (= Die Wiederholung, a.a.O, 78f.).

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Lektüre oder willkürlichen Deutung. Das biblische Klagen bleibt bezogen auf die Möglichkeit des Lobes Gottes und seiner Schöpfung, so wie die biblische Antwort auf das Fluchen das Segnen ist. Kierke­ gaards Eifer, im Buch Hiob und in anderen Teilen der Bibel wie in einer «Privatliturgie» wieder und wieder zu lesen, ist selbst eine Figur der Wiederholung, die das Thema von Kierkegaards gleichnamiger Schrift ist: nicht mechanische Repetition, sondern wesentliche Wie­ derholung als Erneuerung und Erbauung. Sie realisiert einen Aspekt des Herrenwortes, im stillen Kämmerlein zu beten. Hiob wird in zwei erbaulichen Reden und mit den Fragen des unglücklich Liebenden im Buch «Die Wiederholung» zum Medium von Kierkegaards eigenen Fragen; Anknüpfungen an Hiob sind über seine Werke, Tagebücher und Briefe verstreut; Hiob taucht als leben­ diges Gegenüber und als Mitwisser der unglücklichen Liebe immer wieder auf. Das Buch Hiob wird von Kierkegaard nicht vom «Happy End» her gelesen54; der Mensch neigt in der Wiederherstellung oder gar Steigerung eines vergangenen Glücks dazu, die negativen Erfah­ rungen der «Zwischenzeit», als Hiob litt und nicht wusste, wie lange noch, zu vergessen. Das Glück überdeckt ein vergangenes Unglück. Doch das Helle wird vom Dunklen grundiert; das Dunkle selbst lässt sich im begrifflichen Denken nie einholen, und es ist immer da, sei es auch nur als Kontrast, Schatten und Hintergrund. Deshalb wird das Dunkle und Helle in Erzählungen und Streitreden variiert. Hiob ist umgeben von «beamteten Tröstern», die ihm die Einmaligkeit seines Leidens, seine tiefere Untröstlichkeit nicht «gönnen», die es nicht ertragen, dass einer jammert, obwohl er es doch früher gut hatte und dann «gestrauchelt» ist, auch wenn er sich angeblich nicht an seine Schuld erinnern will. 54 Ähnlich weigert sich die Kreuzestheologie, Christus nur vom Ende (der Aufer­ stehung) her zu meditieren, sondern sie fordert (wie Kierkegaard in «Einübung im Christentum»), Kreuz und Auferstehung gleichermassen zu bedenken, nicht das eine gegen das andere auszuspielen oder die Passionsgeschichte und Nachfolge Christi zu vernachlässigen, um das Wohlgefühl der Gemeinde nicht zu stören. In diesem Sinn gehören auch das Eingedenken der Toten am Totensonntag, am Karfreitag, und das Gebet für die Opfer der Geschichte und Gegenwart zu den Pflichten der Liebe. Vgl. Søren Kierkegaard: Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden. Übersetzt von Hayo Gerdes, Düsseldorf /Köln: Eugen Diederichs Verlag 1966, 378–392, Kapitel IX. Die Pflicht gegenüber den Verstorbenen ist, sofern sie nicht als magische Abwehr von der Ungunst der Toten missverstanden wird, das Paradigma einer nicht-reziproken Liebespflicht. Wer die Toten ehrt, tut es umsonst.

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Ist Hiob in seiner Verzweiflung undankbar? Ist er für Ermahnungen und Reue verstockt? Gehört er zu jenen, die mit dem Begriff der «Sünde» nichts anfangen können, die «modernen Ersatz» (wie «negative Gefühle») dafür suchen, einen Begriff, der weniger belastet und nicht ins Undenkbare verwickelt? Nein! Hiob lässt sich nicht von anderen «Sünde» einreden, er wehrt sich gegen einen missbräuchlichen Gebrauch von «Sünde» als Hammer und Drohung, als Angstmacher und als Busspredigt für andere. «Sünde» macht nur Sinn in «Furcht und Zittern» vor Gott. «Sünde» wäre etwas ganz Intimes, etwas, was Kierkegaard bzw. seine Figur als stiller Mitwisser Hiobs55 in seinem Inneren, in der schmerzlichen Reflexion auf sein Verhältnis zu anderen (zum leiblichen Vater, zu Regine, zur Welt der Armen und Benachteiligten) ausmachen müsste, und «rechtfertigen» könnte ihn niemand – aus­ ser Gott. «Hiob (9, 20) sagt richtig, wenn er auch Recht hätte, vor Gott könnte er nicht Recht haben, weil ihm vor dem Richter angst werden würde. Dieses ist, was ich in einer Rede im Evangelium der Leiden entwickelt habe, das Missverhältnis zw. od. der qualitative Unterschied zw. Gott und Msch.»56

Kierkegaard übersetzt Hiob für sich und seine Leserschaft in den leidenschaftlichen Denker, er macht Hiob zu seinem stillen Mitwisser seines alter Ego im Text und damit indirekt seines Leidens daran, wie er, Kierkegaard, schuldig wird, ohne ganz zu verstehen, wie ihm geschieht, als er seine Verlobung auflöst und Regine im Stich lässt, um ihr dann im Schreiben und Denken treu zu bleiben, doch so, dass er eher zum «Dichter der Liebe» wird, die er in einer Ehe nicht realisieren kann, weil er, wie er meint, die Geliebte nicht besitzen könnte, ohne sie in den Bannkreis seiner Melancholie zu ziehen. Er kann nicht nach seinem eigenen Massstab einer ethischen Ehe leben. Kierkegaard desertiert vor der Ehe und lässt Regine im Stich, ja er setzt die junge Frau bewusst einer Täuschung aus und spielt den frivolen Lebemann, um ihr die Trennung zu erleichtern. Mit 55 Als «mein stiller Mitwisser» wird im Text der «Wiederholung» ein Freund ange­ sprochen, sozusagen ein literarisches Double Kierkegaards, der sich zu sich selbst als Zeuge verhält. Doch der Titel des «stillen Mitwissers» lässt sich auf Hiob übertragen, der so gelesen wird, als könnte er den unglücklich Liebenden besser verstehen als sonst jemand. 56 Kierkegaard, Journale und Aufzeichnungen, a.a.O., S. 373.

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diesem neurotischen Rückzug ins «Dichten der Liebe» macht er sich chronisch schuldig; die Sünde existiert nicht als isolierte Episode (so wie ein naiver Tölpel einmal in seinem Leben betrunken in einem Bordell erwacht), sondern als Fortsetzung der Verletzung anderer und der eigenen Seele, als Nicht-Gehorsam gegenüber dem BeichtVersprechen und Herrenwort: «Sündige fortan nicht mehr!» (Joh. 5, 14; 8, 11) Wer wie Kierkegaard ins eigene existentielle Denken und Schreiben gerät, müsste «autofiktional» schreiben, nämlich aus der Glut dessen, womit er oder sie (die Schreibende) nicht fertig wird. Er kann jedoch weder als Gelehrter noch als existentieller Schriftsteller das eigentlich christliche Leben führen. Gemessen am einfachen Glaubensritter bleibt selbst der religiöse Schriftsteller ein Scharlatan, der schreibt und liest, statt zu leben. Er ist kein Christ, so sehr er einer werden möchte… Er wird nicht schreibend, sondern nur betend und handelnd ein Christ, sofern er Gott ständig darum bittet. Im Buch Hiob gibt es keine dogmatische Sündenlehre. Um nachzuvollziehen, wovon bei Kierkegaard die Rede ist, genügt es auch nicht, die Lutherische Orthodoxie und den dogmatischen Aus­ gangspunkt Kierkegaards zu kennen; die Leserin müsste zusätzlich dazu ihre eigenen tieferen «Existenz-Wunden» erforschen und ver­ stehend ins Spiel bringen, sei es auch nur als Hintergrundresonanz der vertieften Lesekompetenz. Theoretisieren und Predigen ohne eigene Busse geht an der existenziellen Dimension der Sünde vorbei. Nur der Büsser versteht, was Sünde bedeutet. Dieses Verstehen ist nicht rein kognitiv, sondern performativ: es besteht in der Niederwerfung vor Gott. Es geht beim performativen Verstehen der Sünde nicht um Befriedigung theoretischer Neugier darüber, was der (unbekannte) Verfasser in der Antike von Hiob gemeint haben könnte, oder «was im Text steht», oder was «die Absicht des Textes» sei usw. Es geht nicht um distanzierte Tatsachenfeststellungen oder Hypothesen, die umso reiner und zuverlässiger ausfallen, je weniger der Forschende selbst «opfert». Forschung und Wissenschaft setzten diese von Max Weber so genannte «innerweltliche Askese» der Menschen voraus, die sich zu beinahe anonymen Trägern endloser Prozesse der theore­ tischen Neugier oder der technologischen Entwicklungen machen, die Menschen in blosse Werkzeuge und Charaktermasken des Wissens und der Vermittlung von Informationen, Methoden und Hypothesen verwandeln, die sich privat wieder in emotionale Tiere zurückverwan­ deln, nachhause oder an den Fussballmatch gehen. Wie Schizophrene sind sie gespalten, zwischen Erkenntnis und Leben, Dr. Jekyll und

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Mr. Hyde. Soeben haben sie im Labor noch einen Hund lebendig seziert, schon stehen sie wieder zuhause und werden vom freudigen Gebell ihres Hundes begrüsst. So wechseln sie zwischen zwei Welten: einer Welt der kalten Erkenntnis, und einer Welt der Beziehungen und existentiellen Krisen. Mit der Sünde werde ich nicht fertig, sie hat für mich nicht das Leichte oder allenfalls Peinliche eines «Fehlers» an sich, für den man sich entschuldigt, den man wieder gut macht oder den man vertuscht, kein Lapsus, von dem man mit bürgerlicher Zuversicht sagen könnte: «Richten wir den Blick in die Zukunft und denken wir daran, wie wir es künftig besser machen werden.» So wertvoll und ermutigend dieser bürgerliche Zweckoptimismus ist – ohne eine Prise Zweck-Optimismus liessen sich die täglichen Arbeiten gar nicht verrichten –, so trügerisch bleibt er in Bezug darauf, dass ich als stiller Mitwisser meiner Abgründe ahne, dass ich fast ohne Zutun (und oft nur durch Unterlassungen) schuldig wurde und damit zusätzlich meine eigene «Rückfälligkeit» eingeleitet habe, wie jemand, der ein­ mal leichtsinnig an die Nadel oder Flasche gerät und nicht von der Droge loskommt, auch wenn er immer wieder einen neuen Anlauf nimmt, sich aufrappelt und stolz beteuert: «Ich bin clean. Seit zwei Tagen habe ich aufgehört. Es geht aufwärts mit mir.»

Das mag diesmal, für diese Sucht, zutreffen. Doch wahnhaft und naiv spricht jemand, der glaubt, die Sünde ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben, so wie man sich von «Jugendsünden» verabschie­ det. Was man von Beteuerungen und Vorsätzen jener Gebesserten halten darf, die «seit zwei Tagen clean» sind, mag davon abhängen, ob man helfen möchte (dann klammert man sich an jeden Strohhalm, will ermutigen), oder ob man mit ihnen hofft, sie würden – aus eige­ ner oder geheimnisvoll-magischer Kraft – von ihrer Krankheit oder Abhängigkeit erlöst. Woher auch immer die «Bekehrung» kommt: sie lässt sich nicht erzwingen. Mit meiner Sünde verhält es sich anders als mit der Sünde in der Welt. Hiob wehrt sich gegen Anschuldigungen von Menschen, aber er weiss, dass er vor Gott nicht gegen Gott rechthaben kann. Dieses «Sündenbewusstsein vor Gott» ist etwas anderes als die ver­ meintlich beobachtbaren «Sünden der Welt», die man in traditionel­ len oder modernen Lasterkatalogen aufzählt. Wer die Kraft hätte, eigene Sünden vor Gott offenzulegen, hätte nicht die übermütige

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Hoffnung, von einer Abhängigkeit frei zu werden, sondern im Gegen­ teil: die paradoxe Hoffnung, frei zu werden zur «schlechthinnigen Abhängigkeit» von Gott, sich zu freuen daran, dass ich sein Geschöpf bin, inmitten seiner Schöpfung, und dass ich, wenn ich altersschwach werde und mich dem Tod nähere, auf dem Heimweg bin zu ihm, von dem ich gerne abhängig bin. «Sünde» im strikten Sinne ist Flucht vor dem Schöpfer. Daran erinnert Gott, der den Menschen heimsucht. Ich werde aus den Spielen und Schlingen des Lebens herausgerufen; es kommt die Nachricht, heimzukommen. Und ich zögere noch wie ein Kind, das seine Spiele nicht gerne unterbricht, obwohl es längst Hun­ ger hat und den Ruf der Mutter schon dreimal vernommen hat. Wer könnte zugleich leidenschaftlich lieben und die Abhängigkeit vom Geliebten verdammen? Und doch scheint das die Konfliktstruktur der weltlichen Leidenschaft zu sein, jene Antinomie, welche Eros aufregt: die Angst vor dem Verlust des geliebten Freundes und die Angst vor dem Verlust der Freiheit, den Fluchtwegen aus den Verpflichtungen der Liebe. Kierkegaard plädiert auch in seinen Tagebüchern dafür, Hiob nicht vom Happy End aus zu lesen. Scharnierstelle der Metanoia Hiobs ist seine Entgegennahme des Befehls aus Gottes Mund, für seine Freunde zu beten, nicht die neue Familie. In Gottes Anweisung erhält er eine Aufgabe, die er besser versteht als das unergründliche Geheimnis Gottes, etwas, was er tun kann, weil er es für seinen Herrn tun muss, weil es ihm von Gott gesagt ist. Es ist diese für Aussenstehende fast unbegreifliche Freude der Erfüllung des Gebots als «act gratuit» (ohne Gegenlohn): «Du sollst lieben!» und «Du sollst beten!» «Oh, man eilt in den Predigten über Hiob hinaus immer gleich zum Schluss, dass er alles wiederbekam und doppelt. Ich finde es sonderbar, darüber zu predigen. Denn, nicht wahr, wenn es erst geschehen ist, wirst Du Dich schon damit zurechtzufinden wissen, es hinzunehmen. Schau, darum predige ich am liebsten von der Zeit davor.»57

Diese Notiz liesse sich als Bestätigung für Kierkegaards Hang zur Selbstquälerei lesen, doch das wäre einfältiger Biographismus, der nicht weit genug eingedrungen ist in die Kunst des autofiktionalen Schreibens, die Kierkegaard über das Heer der gelehrten Kommenta­ toren hinausträgt und dazu bringt, «Primärliteratur» zu verfassen, die 57

Kierkegaard: Journale und Aufzeichnungen, a.a.O., 33. [1848].

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ähnlich eindringlich bohrt und fragt wie die Figur Hiob, mit dem er sich als seinem «stillen Mitwisser im Leid» identifiziert. Nur jemand wie Kierkegaard konnte eine Schrift «Die Wiederholung» verfassen, die zur wiederholten Lektüre (französisch: Relecture) einlädt und immer noch etwas verbirgt, was sich der Leserin vielleicht in fünf oder zehn Jahren wie von selbst entschleiert. Denn das Motiv der Wieder­ holung macht das existentielle Experiment notwendig, so wie sich Kierkegaard auf die zweite Berlinreise begibt, um herauszufinden, ob sich die erste Reise wiederholen lasse. Im Motiv der Wiederholung liegt das Rätsel des Lebens, das Oszillieren zwischen toter Repetition und lebendigere Neugeburt, das Spektrum gelebter und ungelebter Möglichkeiten vor dem Tod, das weiter ist als jenes der Eintagsfliege und quantitativ kürzer als die Lebensfrist eines Planeten. Gibt es in einem Menschenleben zu viel oder zu wenig Wiederholung? Was wird wieder eingeholt? Und wie tief reichen Hiobs stillere Fragen nach der eigenen Sünde? Und was bringt mir die beharrliche und wiederholte Lektüre des Buchs Hiob? Wie lesen? Ein existentieller Appell lautet: «Versuche es selbst, im Buch Hiob, in der Bibel wieder zu lesen, Deine eigene Wunde zu bekennen und heilen zu lassen. Vollziehe die Wiederholung im Lesen und im Leben, variiere den bewussten Vollzug, wie in einem lebendigen Ritual!» «Ein Jeglicher tue das Seine, der Leser mithin das Meiste. Die Bedeu­ tung liegt in der Aneignung […] die Aneignung ist des Lesers noch grössere, seine sieghafte Hingebung.»58

Inzwischen mehren sich vermutlich bei manchen Lesern die Bedenken gegen die Auffassung von Hiob als Privatmann. Der Zeitenabstand zwischen der mündlichen Überlieferung von Traditionsliteratur wie dem Buch Hiob und ihrer Verschriftlichung ist beträchtlich, und der Zeitenabstand zwischen der Redaktion des Buches Hiob und Kierkegaard (dem 19. Jahrhundert) ist enorm. Genau genommen sind in diesem Kapitel zwei Probleme verschachtelt, die ich unterscheiden möchte: 1) Wie liest Kierkegaard, wie liest eine Figur in Kierkegaards Text: wie liest der unglücklich verliebte junge Mann im Buch «Die Wiederholung» «seinen» Hiob? Es ist eine leidenschaftliche, identifi­ 58 Søren Kierkegaard: Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten, Kopenhagen 1845, Vorwort, in: Kierkegaard: Erbauliche Reden 1844 usw. Übersetzt von Emanuel Hirsch, Simmerath: Grevenberg Verlag 2004, 113.

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zierende Lektüre, als wäre das Buch Hiob das Buch eines unglücklich verliebten Autors. 2) Wie ist Literatur ohne Autor zu lesen? Das Buch Hiob ist wie die meisten Bücher der Bibel nicht Autorenliteratur – der Autor ist unbekannt und offenbar nicht der Rede wert–, sondern Traditionsliteratur, die auf langer mündlicher Überlieferung und späterer Verschriftlichung bzw. Kanonisierung beruht; die Redaktionsarbeit erfolgt nicht von einem namentlich bekannten Autor oder von Autorenkollektiven im modernen Sinne, sondern von anonymen «Übersetzern», Bearbeitern und Kommenta­ toren. Die radikale Übersetzung ist hier nicht so sehr Übersetzung von einer Sprache in eine andere, sondern die Übersetzung einer älteren und längeren mündlichen in schriftliche Tradition, der Prozess der Verschriftlichung. Dieser erfolgt nicht im Sinne der Mitteilung (oder Verbergung) von Absichten eines einzelnen Autors, der für sein Werk zeichnet und damit eine gewisse Verantwortung als identifizierbarer Autor übernimmt. Die Autoren der meisten biblischen Bücher und ihre Absichten sind unbekannt. Die biblischen Bücher entstehen aus dem, was seit langem schon erzählt wird, aus Stories, Spruchsamm­ lungen und Gerüchten, aus Riten und Liturgien, deren Bestandteile die späteren Textgrundlagen von Perikopen werden. Die Verschriftlichung nimmt z.B. eine Lehrerzählung auf, in der sich ältere und jüngere Traditionen durchdringen. Von Autoren ist wie etwa von Moses am Berg Sinai in Form von Gründerlegenden die Rede. Die spätere redaktionelle Arbeit kann darin bestehen, manche Unstimmigkeiten oder Unklarheiten der mündlichen Tradi­ tion zu glätten, dem Narrativ eine gewisse Prägnanz oder Kohärenz zu verleihen. Sie könnte ähnliche Ziele verfolgen wie die Verschrift­ lichung eines Gewohnheitsrechts, das Anlass zu Streitereien gab. Die Redaktion übernimmt gelegentlich die Aufgaben eines Gesetz­ gebers oder Schiedsrichters. Mit der Verschriftlichung wächst auch die asymmetrische Machtposition jener, die lesen und schreiben können. Das sind bis in die frühe Neuzeit Privilegien einer Elite. Bei jüdischen Männern ist die Fähigkeit, die Thora zu lesen, seit langem verbreitet. Ein Ideal der Reformation besteht in «Priestertum» aller, und dessen elementare Umsetzung wird die Alphabetisierung aller sein. Die hermeneutische Prämisse des Protestantismus gegen eine paternalistische Priesterherrschaft lautet: Wir können selbst lesen. Wichtig ist nicht so sehr eine optimal gelehrte oder dogmatisch vorstrukturierte Lesekompetenz, sondern vielmehr die individuelle Aneignung, die Fähigkeit und Ausübung einer idiomatischen Lektüre

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und ihrer Selbstanwendung im Leben. Ich darf nun endlich, in gewis­ sen Grenzen, lesen wie ich will. Vorteil dieser Kompetenzanmassung gegenüber den kirchli­ chen Eliten ist eine Vermehrung von Lesarten und Disputen, die Möglichkeit eines Perspektivismus und ein Recht auf Heterodo­ xie. Der Nachteil, das Risiko des individualisierten Lesens ist der Verlust einer gemeinsamen und geteilten Wahrheit, einer «kano­ nischen» oder «einzig richtigen» Interpretation, einer tragfähigen und lebendigen Tradition. Das Problem kommt bereits in meiner Wortwahl «Lesen als Privatliturgie» zum Ausdruck. Sie ist weniger gemeinschaftsfähig, und es fehlt ihr unter Umständen das Korrektiv des lebendigen Widerspruchs in einer Glaubensgemeinschaft. Das zeigt sich daran, dass Kierkegaards Abrechnung mit der gesamten Christenheit, mit der Kirche und einem reaktionären und pauscha­ len Vorbehalt gegenüber konstitutioneller Monarchie, Demokratie, Presse und Frauenrechtsbewegung in seiner Zeit übers Ziel einer fruchtbaren Selbstkritik des Protestantismus hinausschiesst. Kierkegaard liest Hiob vor dem Hintergrund seiner protestanti­ schen Hermeneutik und zugleich identifizierend, als sei Hiob der Autor des Buches Hiob, in dem sich dieser Hiob an die Leidensge­ schichte des von allen Menschen unverstandenen und damit singulä­ ren Individuums erinnert, die er als Ringen mit Gott, als Einsamkeit vor Gott, als vorübergehende tiefste Verzweiflung des Menschen, dem Gott nicht mehr antwortet, beschreibt. Im Kierkegaards Hiob fallen das protestantische Prinzip der privaten Lesung mit einer auf Hiob zurückprojizierten Situation des modernen Autors ohne Auftrag und gegenüber einem anonymen Publikum, einer unbekann­ ten Leserschaft, zusammen. Das sehr ernste Spiel Kierkegaards mit den Pseudonymen steht einer anonymen Leserschaft gegenüber; die Mehrzahl der «Stimmen» im Text spiegelt das unbekannte und heterogene Lesepublikum seiner Zeit. Auch wenn alle in der Bibel lesen: A liest ästhetisch, B ethisch, C gelehrt, D erbaulich. Das elementare hermeneutische Problem ist für den historischen Laien schwierig zu fassen und bezieht sich darauf, wie Traditionsli­ teratur zu lesen sei. Hier versagen Vermutungen darüber, was ein Autor sagen wollte, was er selbst dachte oder verbarg, was er mitteilen oder zurückhalten wollte usw. Das gesamte Spektrum der vermuteten oder belegten Autorenintentionen oder Autorenstimmungen entfällt. Eine identifizierende Lektüre ist aus Gründen der intellektuellen Integrität ausgeschlossen. Die Möglichkeit, einem Autor zu grollen,

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sich von ihm packen oder langweilen, ärgern oder begeistern zu lassen oder sich Sorgen zu machen um seine (seelische) Gesundheit, fallen als illegitim und störend dahin. Das Problem besteht nicht darin, dass wir den Autor zufällig nicht kennen oder dass er längst gestorben ist, sondern dass es nie einen (primären) Autor gab. Das kann sich eine moderne Lesehaltung, die immer wissen will, wer etwas schreibt, nicht vorstellen. «Ein Text fällt nicht vom Himmel. Menschen schreiben, nicht Geister.» Die für Autorenliteratur typi­ schen Lesarten sind zwar möglich, doch sie gelten als laienhaft. Ich kann die Psalmen lesen, als hätte sie David gedichtet und kom­ poniert. Ich kann im Buch Hiob lesen, als hätte Hiob als erster Autor einige Episoden, Sprüche und Gebete auf Zetteln geschrieben und schriftlich vorformuliert, was später redaktionell überarbeitet und ergänz wurde – in gewisser Weise scheint Kierkegaard Hiob als Primärautor des Textes oder einer Urfassung zu lesen oder das Buch Hiob als Ausdrucks- und Mitteilungsmittel des Autors Hiob durch seine literarische Figur in der Schrift «Die Wiederholung» lesen zu lassen. Diese projizierende Autorenfiktion (die Gestalt Hiobs selbst ist eine fiktionale Figur, Hiob wäre demnach eine Autorenfigur im Text), die Hiob zum «Schriftstellerkollegen» macht, fördert eine identifizierende Lektüre. Sie befremdet aber auch, sobald sie explizit ausgesprochen wird, als Auffassung von Hiob, dem Autor von Hiob, der doch als Figur mehr oder etwas ganz anderes ist als ein Memoiren schreibender Rentner. In der Phase der Leiden und der Depression hätte auch ein realer Hiob wahrscheinlich nicht geschrieben, sondern erst nachträglich. Doch es gibt keinen Autor hinter der Fiktion, keine Figur des Autors im Text, so wenig wie es einen Autor von Träumen gibt. Der Träumende selbst ist «Ort» und Mitursache seiner Träume, aber nicht Autor. Ich erfinde meine Träume nicht; es gibt einen Unterschied zwischen geträumten und erfundenen Träumen. Ich träume, bin Mitursache, führe vielleicht ein Traumtagebuch, greife auf meine «Traumprotokolle» zurück, aber ich bin nicht Autor meiner Träume. Oder anders gesagt: Traditionsliteratur ist vergleichbar mit dem Produkt eines somnambulen Schreibens. (Der Vergleich hinkt, wie jeder Vergleich hinkt.) Auch Traditionsliteratur ist «gemachte» Literatur, aber man weiss nicht von wem, es scheint in der Zeit ihrer Entstehung auch gar keine Rolle zu spielen; die Umstände ihrer Entstehung und Veränderung werden selten oder gar nicht erwähnt oder haben die Form von späteren Legenden. Wir können nur darüber spekulieren,

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wenn wir das überhaupt wollen, wer der primäre Autor war. Er bleibt so unvordenklich wie das Ur-Ei ohne Huhn, aus dem das erste Huhn geschlüpft ist. Wir können versuchen, Traditionsliteratur rein «strukturalistisch» zu lesen und dazu die Machart und Qualität der Texte und ihre Intertextualität zu erforschen. Die Traditionslite­ ratur lässt sich darüber hinaus historisch und religionssoziologisch untersuchen, d.h. im Zeitkontext, im damaligen Sitz des Lebens beschreiben. Bereits im Neuen Testament mehren sich die Indikatoren und Namen für Autoren; es gibt einige identifizierbare Autoren, und ein bedeutsames Pseudepigraphentum, etwa die Zuordnung der Evangelien zu Aposteln, als Annäherung späterer Niederschriften an eine Augenzeugen-Literatur. Die Evangelien werden liturgisch gelesen, als wären ihre Autoren die privilegierten Zeitgenossen und Zeitzeugen Jesu gewesen, was noch überboten wird mit der die Lesung abschliessenden Formel: «Worte des Herrn.». Dieser Modus der Autorisierung ist nach dem vormodernen Verständnis keine Anmassung, sondern das demütige Schreiben und die «heilige Lesung» unter dem Patronat eines illustren Namens und mit der zum Gotteslob geläuterten Intention der Gemeinde. Es sind nicht Plagiate im modernen Sinne, es besteht keine Absicht zu betrügen oder zu manipulieren, sondern der Drang, Traditionsliteratur angesehenen Persönlichkeiten als Autoren zuzuordnen und für die Zwecke der Liturgie zu autorisieren. «Worte des Apostels Johannes» klingen aus der Perspektive moderner Autorenliteratur nach frommem Betrug. Doch es handelt sich eben nicht um moderne Autorenliteratur und darf nach den Methoden der modernen Exegese nicht nach solchen Massstäben beurteilt werden. Autor, Autorität und Tradition sind historisch betrachtet unzertrennlich. Autor (ähnlich wie Maler und Komponist) im Altertum und im Mittelalter ist Autorität und Stan­ deskompetenz einer Minderheit; die Wahrung des wahren Alten ver­ langt, zu ihrer Abgrenzung von konkurrierenden, falschen oder toten Überlieferungen bzw. suspekten «Neuerungen» nach Autorisierung. Vormoderne Autorenfiktionen sind sehr ferne Vorspiele zu einem modernen Verständnis von Autorschaft, doch sie sind es nur für moderne Leser, die pseudepigraphische Textsorten vorschnell an ihre Erwartungen assimilieren. Der moderne Autor emanzipiert sich als Schriftsteller, der für sein Werk gelobt oder getadelt werden kann, aber für die Ereignisse und Figuren im fiktionalen Kontext nicht strafbar ist. Dieser Prozess setzt den Schutz der Privatsphäre, Eigentumsrechte an kulturellen

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Leistungen unter den Bedingungen ihrer technischen Reproduktion und Verbreitung und eine sukzessive Zurückdrängung der staatlichen Zensur voraus. An die Stelle der Zensur tritt eine Literaturkritik, die gute von schlechten Büchern unterscheidet. Es gibt Grenzen für eine Lektüre von Hiob als Privatmann. Im weiteren Sinne geht es um Probleme einer Übersetzung einer Lehre oder eines Vorbilds ins staatsbürgerliche und kirchliche Leben heute. Es genügt nicht, Vorbilder nachzuahmen und an unseren Horizont des Verstehens anzugleichen, so wie die Barockoper antike Themen und Figuren in die Kostüme, Tonarten und Ausdrucksformen moderner Empfindsamkeit verwandelt, sondern es braucht auch die Gegenbe­ wegung einer Distanzierung angesichts des Zeitabstands und einer völlig veränderten kulturhistorischen Situation. Hiob erscheint ein­ mal in Naheinstellung als unglücklich liebender Privatmann und ein anderes Mal in historisch-kritischer Ferneinstellung als Patriarch einer sagenhaften Urzeit. Mehrere Lesarten funktionieren bis heute, was für eine unerschöpfliche Deutungsoffenheit und die literarischen Qualitäten von «Quellen» oder «Primärliteratur» spricht.

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A-historisch oder über-geschichtlich, d.h. typologisch betrachtet ist Hiob der von Gott Schwergeprüfte aller Zeiten, der an dieser Prüfung fast zugrunde geht, der sein Leiden nicht als «Prüfungs­ stress» durchschaut und die gängige Deutung von Leiden und Krank­ heit als «Strafe» zurückweist. Er steckt mitten im Leben, und dass das Leben eine Schule oder Prüfung sei, gehört zu den gedankenlosen Redensarten. Das gehört nun zu dieser ungewöhnlichen Prüfung, nicht zu wissen, dass man, von wem man und wonach man geprüft wird, dass man gleichsam Spielball höherer Mächte sein könnte, die über uns Wetten abschliessen – ein Gedanke, der inkohärent wird, wenn man ihn zu Ende denkt. Was wäre das für eine Prüfung, in der man nicht zumindest ahnte, dass man von Gott und als Gerechter geprüft wird? Dass es um die schwerste Prüfungsfrage geht: Wie treu bist Du Deinem Gott? Bist Du bestochen oder bestechlich? Hast Du einen inneren Vorbehalt, nach der bösen Maxime: «Wenn es mit diesem Gott schlecht läuft, wenn mich die Treue zu viel kosten wird, dann werde ich ihn verfluchen.»? Hiob könnte vorführen, was es heisst, umsonst zu leiden59, besser noch: umsonst zu lieben, im «act gratuit de l’amour pur» im Sinne des François de Fénelon bzw. Kierkegaards «Der Liebe Tun». Wer auf Hiob angesprochen wird, mag sich spontan daran erin­ nern, dass Hiob den Tag seiner Geburt verflucht (Hiob 3, 1–10). Er fügt sich in einen Kontext, den man als «antiken Pessimismus» bezeichnet hat.60 Er spricht den Wunsch aus, nicht geboren worden zu sein. Mit diesem Fluch stimmt er in den Chor antiker und Buddhistischer Vgl. Christoph Türcke: Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob, zu Klampen, 2017. Der Verfasser meint, der Schlüssel zum Betriebsgeheimnis des Buches Hiob sei seine spezifische Form des Märchens. 60 Zum griechischen, biblischen und altorientalischen Kontext vgl. Anton Baumstark: Der Pessimismus in der griechischen Lyrik, Heidelberg: 1898; Hermann Diehls: Der antike Pessimismus, Berlin 1921; O. Loretz: Qohelet und der Alte Orient, Freiburg 1964; R. Braun: Koheleth und die frühhellenistische Popularphilosophie, Berlin 1973; Richard Reschika: Die Schule der Schwarzdenker – Hegesias von Kyrene und der moderne 59

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Pessimisten ein, welche die eigene Geburt als Anfang aller Übel beklagen (vgl. Hiob 3, 11–16), der Leiden und des Bösen. Wäre «ich»61 nicht geboren worden, wären «mir» alle Leiden, die Verstrickung ins Böse oder in tragische Konflikte erspart geblieben. «Ich» wäre «mir selbst» erspart geblieben. Gäbe es gar keine empfindungsfähigen Lebewesen, so wäre die Welt ohne Schmerzen wahrscheinlich auch eine Welt ohne Leiden (wie Langeweile, Angst, Enttäuschungen usw.) und ohne Laster; es bliebe nur noch die «Unschuld» und Leidensfrei­ heit der Pflanzen – sofern man ganz ausschliessen könnte, dass es keine Leiden der Pflanzen gibt. Wie dem auch sei: der Mensch, sein Wille zum Leben und seine weltweite Ausbreitung sind die Säulen jener Übel, welche die Pessimisten beschwören, addieren und negativ bilanzieren oder beklagen. Die Klage selbst kann auch noch pessimis­ tisch betrachtet werden, nämlich als die Kehrseite einer vergeblichen Hoffnung, die nichts als Illusionen erzeugt, und als Jammern, das andere nervt oder ungehört im Raum verklingt. Hiobs Leiden haben allerdings einen andren «Geschmack»: sie werden als Leiden des gebeugten Menschen unter Gott selbst beklagt. Dieser «Geschmack» ergibt für sich betrachtet keinen guten Sinn oder wäre sogar völlig sinnwidrig, etwa als Spiel eines grausamen Gottes, dem die Qualen ein unterhaltendes Schauspiel verschafften. Gottes Gewalt in der Natur, die Undurchsichtigkeit und Unbegreif­ lichkeit seiner Pläne, seine «Ungerechtigkeit» nach endlichen Mass­ stäben, seine Entrücktheit über Raum und Zeit hinaus, das Span­ nungsverhältnis zwischen seinen «Versprechen» und ihrer zeitlichen (Nicht-)Erfüllung, die Erfahrungen, welche die tröstlichen Bilder vom Vater, Freund und seinen lieblichen Wohnungen, als Ankergrund und Fels in der Brandung, (Wunsch-)Bilder vom tragenden und tröstenden Schöpfer, der seine Geschöpfe liebt und retten will, auf der einen Seite, und den Erfahrungen, von diesem Gott verlassen zu sein, von seiner Abwesenheit, seiner Abwendung, seiner ParusieVerzögerung, seiner Drohungen und bisherigen Strafgerichte, auf der anderen Seite, verschärfen den bitteren Geschmack des Leidens am Leben, verstärken die Betrübnis zum Leiden an Gott selbst. Gott Pessimismus, in: Gotteshinterfragungen. Philosophische Beiträge zur Religionskritik, hrsg von Damir Smiljanić, Aschaffenburg: Alibiri Verlag 2020, 15–84. 61 Die Anführungszeichen sollen markieren, dass die Rede von «ich» hypothetisch ist; es handelt sich um den Irrealis, «wenn ich nicht geboren worden wäre». Man könnte auch sagen: «Wenn eine Inkarnation bzw. Individuation von X nicht stattge­ funden hätte.».

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wird als Bedrücker, «Peiniger», Feind wahrgenommen – Attribute, die schwer vereinbar sind mit dem Lob Gottes. Eine Zusammenfassung dieser Intensivierung von Leiden äussert sich in der Anklage vor einem imaginären Tribunal. «Seine Pfeile haben mich durchbohrt. » (Vgl. Hiob 6, 4; 16, 13) Die Klage ist Vorwurf, Empörung, Aufstand, nach der Form einer Rechtseinforderung. Der Schöpfer von allem ist auch die (entfernte oder nahe) Ursache aller Übel, die Menschen über Menschen bringen, Menschen von Menschen erfahren müssen – und sei es auch nur das Unverständnis von «Freunden» und «leidigen Tröstern» –, allmächtiger Schöpfer, der für alles verantwortlich wäre (wenn ihn jemand zur Verantwortung ziehen könnte), inklusive des Schlimmen und Bösen, das er voraussieht, aber weder verhin­ dert noch «rechtzeitig» ausrottet. Hiob ist so gesehen eine Leidensgestalt, welche den antiken Pes­ simismus «bereichert» und bestätigt und ihm eine weiter expressive Bedeutung verleiht. Wenn «ich vor meiner Geburt» wählen könnte, ob ich nicht geboren werde oder ob ich Hiobs Leiden auf mich nehme, würde «ich» (das hypothetische Subjekt) vermutlich das Nicht-Sein vorziehen. Selbst die ganze Leidensgeschichte mit einem Happy End ist nicht attraktiv genug, um überhaupt ans Licht der Welt zu treten. Die bare Existenz selbst scheint nicht «vernünftig vorzugs­ würdig», auch wenn es exzentrische Menschen geben mag, die ein Martyrium (als Glaubenszeugen, oder massive Leiden zugunsten von anderen, oder aus einer (irrationalen?) masochistischen Neigung in Kauf nehmen. Die nahezu allmächtige Bejahung des Egos, die in der Neuzeit als «Gesetz» der Selbsterhaltung bezeichnet wird, erscheint gemildert durch das Bedürfnis nach Kooperation, verzerrt durch das oft ungesunde und exzessive Streben nach Lust und Euphorie und konterkariert durch die Destruktivität im vermuteten «Todes­ trieb» von Suizidenten und Abenteurern bzw. im kollektiven Wunsch nach Krieg, um nur drei gegenläufige Tendenzen zum «Gesetz» der Selbsterhaltung zu nennen. Luststreben und Selbsterhaltung konver­ gieren nicht immer; wir essen lieber, was gut schmeckt, als was für den Organismus und die Lebenserwartung gut ist. Die Neigungen nach Genuss und Wohlbefinden sind keine exzentrischen Wünsche, doch ihre «Normalität» sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht vollkommen konvergieren. Das Streben nach momentaner Lust und jenes nach Lebensverlängerung können auseinanderdriften, was auf eine tiefere Spaltung im Willen zum Leben bzw. dem psy­ chologischen Egoismus hinweisen könnte. Gier wird als besondere

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Herausforderung für die Asketik betrachtet, obwohl Askese als Ziel betrachtet nicht zum «Heil», sondern – wie ungebändigte Gier – zur Selbstgefährdung und Selbstzerstörung führt. Gier und Askese haben eine leicht verwechselbare Affinität zur Selbstauslöschung, nur wird exzessive Gier, anders als exzessive Askese, wahrscheinlich andere schädigen oder vernichten. «Resignatio» und «Mortificatio» (beides sind Termini der Mystik!) kulminieren nach dem Pessimismus im Nihilismus, der totalen Entwertung aller Werte inklusive der Selbst­ achtung bis hin zur illusionslosen Anerkennung der Vergeblichkeit aller Hoffnungen und Projekte. Der existentielle Nachvollzug führt zur schweren Depression und jener kulturellen «Gesamtermüdung», welche Nietzsche als epochale «Décadence» diagnostiziert. Warum hat es das Buch Hiob trotzdem in den Kanon der Bibel geschafft? Dafür mag es mehrere Erklärungen geben. Einerseits fügt es sich in die Masse der Klageliteratur ein und fällt nicht wesent­ lich aus dem Rahmen der Klagelieder, einiger Psalmen, des Buches Koheleth und des Propheten, dessen Name zur Gattungsbezeich­ nung der «Jeremiade» führt. Es gibt gute Gründe, das Buch Hiob nicht aus dem Zusammenhang der gesamten Klageliteratur und anderer «schwarzer» Textpassagen der Bibel zu reissen. Das macht dieses Buch zwar nicht zu einem lichtvollen Werk der frommen Erbauung, aber doch zu einem Buch, das keinen «Fremdkörper» in der gesamten Bibel darstellt. Man könnte auch von einer ganzen Anzahl konfrontativer Textsorten sprechen, welche durch Schock und Drohung aufrütteln. Sie sind nicht «Seelennahrung» oder «Balsam auf ein wundes Herz». Die Klage ist als Ausdrucksform und literarisches Genus der verzweifelten Suche nach Gott, des Flehens und Jammerns vor Gott mit diesem Beziehungsaspekt versehen – selbst das äusserste Gefühl der Verlassenheit als eine Verlassenheit von Gott behält die Intention auf den ganz Anderen und dessen unerreichbare Nähe; an seiner Existenz wird nicht gezweifelt, doch an seiner Unfassbarkeit kann man verzweifeln. Mehr noch: es wird immer noch darauf gepocht, dass dieser Gott die Stimme der Not, die Klage der Menschen hört und – auf seine Weise – erhört. Es ist die Hoffnung der Gebetserhörung, die nicht zu verwechseln ist mit einer simplen Wunscherfüllung und gleichwohl eine Beharrlichkeit im Bitten voraussetzt, die auf dem Glauben an einen Gott insistiert, der zurecht für seine Schöpfung gelobt wird, dem man für sein Dasein dankbar sein kann oder müsste,

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und der dieser Welt nicht gleichgültig gegenübersteht, obwohl er so manche konkreten Erwartungen nicht oder nicht direkt erfüllt. Andererseits erleichtert es die Kanonisierung, dass das Buch Hiob durch eine (nachträglich hinzugefügte?) Rahmenerzählung zu einem Werk wird, das so erbaulich anmuten mag wie einige orienta­ lische Märchen, in denen die Schwergeprüften am Ende sogar noch besser dastehen als zuvor. Gott stellt nicht nur einen status quo ante wieder her, sondern er macht alles neu. Damit erfüllt er seine Verheis­ sungen einer zweiten oder radikal verklärten Schöpfung. «Siehe, ich mache alles neu.» (Offb. 21, 5; 1 Kor. 5, 17; vgl. Jes. 43, 19.) Dieser Erfolg durch die märchenhafte Abrundung der Rahmen­ erzählung ist allerdings kein sicherer Erfolg und keine Garantie für eine einfache liturgische und seelsorgerische Verwendbarkeit des Buches Hiob. Erstens erhöht die Rahmenerzählung den poetisch-fik­ tiven Charakter des Werks und bringt zusätzlich in Erinnerung, dass die Figur Hiob eine Fiktion ist, keine historische Gestalt. Zweitens ist die Vorstellung einer «verbesserten Welt» durch neue «Fruchtbar­ keit» der Menschen ein weiterer Beitrag zur zwiespältigen Bilanz der Tendenz zur Überbevölkerung der Biosphäre durch die Mitglieder unserer Spezies. Der pessimistische Ausruf: «Es gibt zu viele Men­ schen!» oder «Die Vermehrung der Menschen ist Vermehrung der Übel und beschleunigt die Vernichtung diverser Spezies, inklusive der Spezies homo sapiens» wird durch eine dramatische Erzählung mit Happy End eher bestätigt als beseitigt.62 So bleibt das Buch Hiob – mit oder ohne Rahmenerzählung – mehr als nur ein isolierter Bericht über einen Menschen, der mehr Pech hat als andere; das Buch bleibt repräsentativ für Menschen, denen das Weiterleben zu Last wird und im Verhältnis von Lust und Leid eine negative Bilanz aufweist, d.h. ein massives Übergewicht von Unlust und Misserfolg. Ausnahmen von der Regel scheinen jene zu sein, die – als heitere Dummköpfe oder unverschämte Glückspilze – ein Leben führen, das sie auch am Ende des Lebens (ohne falschen Enthusiasmus) derart bejahen würden, dass sie es wiederholen möchten. Die Frage: «Möchte ich mein Leben nochmals leben?» mag als eine Testfrage zur Selbstprüfung verwendet werden, obwohl auch in diesem Selbsttest wahrscheinlich häufig geschummelt wird, weil Menschen vergangene Leiden vergessen oder

62 Im alten Orient war Überbevölkerung kein Thema, Kinder- und Müttersterblich­ keit waren enorm hoch.

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gar verklären und weil sie das anderen zugefügte Unrecht bagatellisie­ ren und verdrängen. Der antike und moderne Pessimismus ist keine rein objektive oder gar wissenschaftliche Haltung zur Welt, auch wenn sie sich noch so nüchtern, aufgeklärt, abgeklärt und mit Zahlen und Statistiken beschäftigt ausgibt. Hinter dem Pessimismus stehen neben abstrakten Abwägungen «Grundstimmungen», Lebensformen und ein Komplex von kognitiven, affektiven und dezisionistischen Faktoren. Insofern ist eine neutrale Abwägung zwischen Pessimismus und Optimismus nur begrenzt möglich und durch vielfältige Mischformen und Kom­ promisse erschwert, aber auch durch Stimmungsschwankungen im Lebensrhythmus. Ich kann in dieser Debatte wie in anderen «Glau­ benssachen» instabil sein: am Morgen optimistisch, am Nachmittag pessimistisch, am Abend melancholisch. So betrachtet scheint sich eine echte oder gar eine wissenschaftliche Debatte, in der es um begründete Meinungsdifferenzen geht, zu verflüchtigen; nicht die Vernunft, sondern die Stimmen der jeweiligen Stimmungen, das Auf­ einanderprallen von Temperamenten scheinen den Takt und Wech­ sel anzugeben. Die Debatten über Pessimismus und Optimismus sind im 19. Jahrhundert auffällig häufig. Es ist das weltanschauliche Vokabular des 19. Jahrhunderts, das in die (nicht nur akademische) Philoso­ phie einsickert, um sie schliesslich wieder zu verlassen. Nicht die Probleme und Themen verschwinden, aber das Vokabular verliert den Glanz einer prägnanten Terminologie und wird zum Jargon der Alltagssprache, in der sich jedermann als Pessimist oder Opti­ mist darstellen kann, ohne diese Sprache notwendigerweise mit spezifischen weltanschaulichen Grabenkämpfen zu verbinden. Es gibt die «Zweckoptimisten» oder die ganz gewöhnlichen Pessimisten, welche anderen nicht trauen und stolz sind darauf, sich weniger Illusionen hinzugeben als Optimisten aller Couleurs, in allen mögli­ chen Lagern. Eine Spielart des Pessimismus ist die Auffassung, das Leben sei ohne Fiktionen, Irrtümer und Illusionen nicht möglich. Als eine zentrale philosophische Diskussion des 19. Jahrhunderts ist die Opposition von Optimismus und Pessimismus in der Philosophie wieder in den Hintergrund getreten, sieht man ab von essayistischen Werken. Sie hat nicht mehr das Gewicht, das ihr Schopenhauer (der zunächst gegen den «Optimismus» von Leibniz als «ruchlose Denkungsart» polemisierte, welche die realen Leiden verharmlose) und die Philosophie nach Schopenhauer als einer metaphysischen

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(bzw. anti-metaphysischen) Grundkonstellation verliehen haben.63 Problematisch ist es nicht nur, diese Diskussion im 20. Jahrhundert (etwa wie Oswald Spengler) nahtlos weiterführen zu wollen, sondern es gibt auch einen Anachronismus in der Rückprojektion der Debatte um Pessimismus und Optimismus auf frühere Epochen, etwa die Rede vom «antiken Pessimismus». Anders gesagt: es scheint proble­ matisch, die Gegenüberstellung als eine rein systematische oder typo­ logische Konfrontation weiterzuführen, ohne sie vielmehr auf eine epochenspezifische Diskussion des 19. Jahrhunderts zu begrenzen.64 Die Annahme, die attische Tragödie oder das Buch Hiob seien wesentlich pessimistisch, Ödipus, Antigone oder Hiob seien selbst zeitlose Figuren oder Typen eines «tragischen Pessimismus», ist dem­ nach mit Vorsicht zu geniessen. Sie ist vermutlich nicht mehr als eine Halbwahrheit, eine Herausforderung für die Schärfung der Begriffe und die Erweiterungen des Horizonts des Verstehens, wenn man ver­ sucht, das Buch Hiob wieder neu und anders, z.B. als Drama zu lesen. Das Buch trifft wie manche Bücher der ersten Bibel mit der ganzen Gewalt einer «archaischen» Vergangenheit auf seine Leserinnen; es veranlasst eine Rezeption im Wandel der Zeiten, die niemand ganz überblicken kann, auch wenn es hervorragende Beispiele historischer, philologischer und theologischer Forschungen zum Buch Hiob gibt. Es ist überdies ein Buch, das die Leidenschaften der Lesenden «trig­ gert». Es ist kaum möglich, gleichgültig zu bleiben, die Lektüre – künstlich gelangweilt oder erregt – abzubrechen und den Blick von der Leidens- und Jammergestalt abzuwenden. Doch manche werden mit der Lektüre aufhören oder gar nicht erst beginnen. Schliesslich gibt es schönere Dinge im Leben und in der Kunst als der Anblick des niedergeworfenen Menschen. Auch in der Bibel ist z.B. das Hohelied erfreulich-heiter, eine vergleichsweise leichte Kost, und ein Hochzeitsbuch, das nicht «herabzieht», vielmehr zu einer langen Tradition mystischer Kommentare und Nachdichtungen beflügelte. Gerade weil das Leben nicht (nur) schön ist, möchte man es sich nicht durch «schwere» Literatur zusätzlich schwer machen. Suchen 63 Vgl. Damir Smiljanić (Hrsg.): Das desillusionierte Bewusstsein. Eduard von Hart­ manns Philosophie des Unbewussten im Spiegel ihrer Rezeption und Kritik (Internatio­ nale Mainländer-Studien, Band 5/20), Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. 64 Sowohl epochal als auch typologisch wurde Pessimismus z.B. auf Plotins Axio­ logie und Kant zurückgeführt. Vgl. Eduard von Hartmann: Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, zweite, erweiterte Auflage, Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich 1891.

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wir nicht in der Literatur und Kunst Ablenkung oder Erheiterung, ja vielleicht Trost, den so manche Menschen in der Realität nicht mehr finden? Oder ist das die Rezeptionshaltung von Spiessern und Epigonen? Hiob ist gewiss eine Herausforderung, keine ange­ nehme Unterhaltung! Eine reflexive Einstimmung in eine Beschäftigung mit dem Buch Hiob kann nicht anders als mit Fragen enden – die Beschäftigung mit Hiob kann niemals enden. Ist die Erfahrung von Glück eine Irregularität und Ausnahme im menschlichen Leben? Ist das Glück nicht immer ein «Glück in Blasen», unter Verdrängung der Last der Sorgen und der Todesangst, ein Glück des Wegsehens vom Unglück und der Ungerechtigkeiten in der Welt, oft sogar eine nur prekäre Episode in zerbrechlichen menschlichen Beziehungen? Bleibt das fröhliche Herz ein Vorrecht der Narren? Ist selbst ein gefestigter Glaube an Gott gefährdet, umbrandet, umstritten und besonders her­ ausgefordert durch die Souveränität und Willkür des Willens Gottes, wenn es ihn überhaupt gibt? Ist er ein berechenbarer Vertragspartner oder nicht vielmehr ein «Geheimnis des Glaubens»? Macht dieser Glaube das Leben eher schwerer als leichter? Gehört er zu jener Sorte von Illusionen, die Leiden schaffen, die wiederum nur in Abhängigkeit von Priestern, Gurus oder Therapeuten gelindert werden könnten, wenn überhaupt? Oder ist es der wahre, treue und unverfügbare Gott aller Menschen? Warum soll ich mir die Lektüre des Buches Hiob überhaupt zumuten? Diese Frage zieht sich durch viele Formen der «Kulturver­ weigerung» hindurch (Warum soll ich mir Kafka zumuten? usw.) und lässt sich vorläufig durch eine Provokation beantworten: Es gibt keine Kultur ohne sozialen und kulturellen Masochismus. Die Werke der Kunst sind in den meisten Fällen nicht profitabel, ihre Erschaffung und ihr Studium bringen wenig «Ertrag», sie bringen den Kunstschaffenden wenig ein und polarisieren die Kunstkonsumenten. Kultur führt zu einem schwer verständlichen Kulturmarkt, der nach ökonomischen Gesichtspunkten wertet. Kultur ist, wenn sie nicht im Kunstmarkt aufsteigt, nicht «systemrelevant», nicht «heilsrelevant», sie «hilft» nicht und «heilt» nicht und führt oft in eine Sackgasse des Misslingens, des ausbleibenden Applauses oder in die Missverständ­ nisse des Applauses oder der Gerüchte. Lesen ist Arbeit, oder es stagniert als Selbstbestätigung. Wie eine Mehrheit der Kirchgänger, wie sie die Religionssoziologie beschreibt, aufschnappt, was sie hören will, so werden auch Kunstsinnige und Kunstbeflissen meist das

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Hiob als Typus des Schwergeprüften

behalten, was sie hören wollen oder – was sie empört. Kunst wird eine der Projektionsflächen für emotionale Likes und Dislikes. Vor wem sollte der verkannte, verbannte, ausgebrannte Künstler, die verachtete, missachtete, beschimpfte oder verhaftete Künstlerin noch klagen, vor wem Recht erlangen? Kann die Klageliteratur der Bibel eine «Dimension nach oben» freihalten, die in einer säkularen Welt verloren geht? Wie, wenn die Bibel oder das Buch Hiob eines Tages verlo­ ren gingen und in naher Zukunft keine Spuren im kulturellen Gedächtnis hinterlassen würden? Müsste eine spätere Generation ihren «Hiob» neu erfinden? Wäre ein vollständiger Bruch mit der jüdisch-christlichen Tradition befreiend oder bedauerlich? Gibt es nicht stets nachwachsende Generationen von Menschen und Wer­ ken, welche eine düstere Sicht der Dinge fortsetzen? Was liegt an diesem alten Buch, was eine junge Künstlerin mit ihrer Biographie und Zeitgeschichte, die vielleicht noch unbelasteter scheint oder mit jüngeren Leiden und Enttäuschung vollgepackt und krank65 ist, nicht neu leisten könnte? Warum dem Alten nachhängen? Hat uns Goethes Altersweisheit: «Das alte Wahre, fass es an»66 heute noch etwas zu sagen? Das schöne lyrische Alterswerk Goethes fand vor allem Gehör im 19. Jahrhundert, das auch eine Epoche des Klassikerkultes und Epi­ gonentums war. Kann das pathetische Gedicht «Vermächtnis» heute ironiefrei zitiert werden? Gibt es einen unbestrittenen klassischen Bildungskanon, zu dem das Buch Hiob gehört? Hat nicht Goethe selbst seinen «Prolog im Himmel» zu Beginn der Faust-Dichtung, für das gesamte lesende Publikum damals noch erkennbar, nach der Rahmenerzählung von Hiob gedichtet? Es geht hier nicht um einen bildungsbürgerlichen Exkurs, sondern um die Frage von Nutzen und Nachteil der Auswahl und Privilegierung «klassischer Werke» der Literatur. Warum immer wieder auf derart schwer verständliche

Die Versuchung, einem (anonymen) Autor des Buches Hiob eine seelische Störung oder Krankheit anzudichten, ist verführerisch und kann zur Pathologisierung von Literatur führen, wie in dem unrühmlichen Spruch Goethes: «Mir will das kranke Zeug nicht munden, / Autoren sollen erst gesunden.» Goethe, Alterswerke, Sprüche, Goethes Werke (Hamburger Ausgabe) Band 1. Hrsg. und kommentiert von Ernst Trunz, München: Verlag Beck 1994, 327. 66 Goethe, Vermächtnis, in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe) Band 1, München: Beck Verlag 1994, 396. 65

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Erzählungen der Vergangenheit zurückgreifen, die zwar das Mitgefühl wecken, aber mehr Fragen aufwerfen als beantworten? Bohrendes Fragen wird leicht zur Fragerei, zum Bandwurm des Schreibens und Zitierens. Die Wahl des Buches Hiob ist eine Möglichkeit der Selbstbegrenzung im endlosen Schwadronieren über die Misere des Lebens und der Geschichte. Die Selbstbegrenzung erlaubt eine gewisse Bändigung und Konzentration der Darstellung, sie ist eine Form des Ordnens im Denken, das sich nicht verzetteln will. Es gibt Zufälle beim Finden und Sammeln von Büchern. Der Zufall hat hier eine Rolle gespielt, aber auch die Psychologie der Auf­ merksamkeit, die uns oft halb bewusst leitet. Literarische Werke wie der Roman «Hiob» von Joseph Roth haben Neugier auf das biblische Buch geweckt. Verschiedene Rezeptionskreise führen vom alten Text aus der Bibel bis zur aufgeklärten Theodizee-Diskussion der Neuzeit und zur Pessimismus-Debatte des 19. Jahrhunderts. Sie gehen auf die Frage nach dem Erbe des jüdisch-christlichen Denkens zurück. Wie gehen wir mit dieser hebräischen Quelle um? Lässt sie uns kalt? Ist sie eine Herausforderung für Spezialisten? Eine aufwühlende Pubertätslektüre? Oder eine jüdische Quelle der Philosophie? Ein Leckerbissen für die Psychoanalyse? Ein Hobby für Esoteriker? Oder erfüllen sich Hiobs Hoffnungen erst in der Auferstehung Christi? Das alles wird in den Text hineingetragen – der Text kann sich nicht gegen die Vielfalt der Lektüren wehren. Angesichts der «Anar­ chie der Lektüren» oder sog. «postmoderner Beliebigkeit» wird das Interesse an Reflexionen über die Kunst des Lesens geweckt. Theorien machen zunächst aufmerksam auf die mögliche und reale Vielfalt von Lesarten, besseren und schlechteren Deutungen, aber vor allem auf gewisse Vorzüge eines methodischen Perspektivismus oder einer Fähigkeit zur flexiblen Variation des Erzählens und Lesens. Ein und dieselbe Geschichte kann verschieden erzählt, verschieden gelesen werden. Ich kann denselben Text heute anders lesen als vor zwanzig Jahren. Jeder Mensch liest vor der Kulisse eines einzigarten Lebens, mit Eindrücken und Stimmungen, die andere nicht (ganz) teilen können. Das spätere Selbst tritt einem früheren Selbst mit der Frage entgegen: Wie hast Du damals den Text gelesen? Warum hast Du die Lektüre abgebrochen? Was bleibt von einer Lektüre übrig? Lohnt es sich, diesen Text mehrmals zu lesen? Ist der Text belastbar, oder lässt er sich leicht abhaken? Wird die Lesung in der Bibel zu einer (gemein­ schaftlich getragenen) Lebensform, oder bleibt sie Fachgebiet, wird sie zur Nebenbeschäftigung, als Abwechslung von Arbeit und Sorgen,

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Hiob als Typus des Schwergeprüften

zu einem Kontrastmittel gegenüber dem «wirklichen Leben» oder den hohen Anteilen des Lebens in virtuellen Medien? Warum haben so viele Menschen, die lesen können, gleichwohl keine Lust, keine Zeit, keinen Mut oder Übermut, schwierige, «schwere» oder «ungeniess­ bare» Texte (mehrmals) zu lesen? Warum wird die Leserin selbst zur Legende oder zum Bildporträt einer vergangenen Epoche? Und warum vertiefen sich die meisten Menschen in öffentlichen Verkehrs­ mitteln nicht in Bücher, und warum tun es einige doch wieder? Und so geht die Fragerei weiter und kann nur durch eine Dezision mit dem Griff zum «bewährten» Buch vorläufig abgebrochen werden. Was steht im Buch Hiob? Es könnte sein, dass im Text einiges aufwar­ tet, was für mich oder Dich überraschend ist, etwas was abweicht von den Gerüchten und vagen Erinnerungen an einen Mann namens Hiob und eine Serie von Hiobsbotschaften, etwas, worauf ich jedenfalls nicht von selbst gekommen wäre, also nicht nur eine Bestätigung meiner oder Deiner vorgefassten und fertigen Meinungen. Lesen wir (in diesem seltsamen Pakt von Autor und Leser67) nochmals, was tatsächlich dasteht, im Urtext oder in einer der Über­ setzungen! Lassen wir uns, allein oder gemeinschaftlich lesend, auf die langen Reden und Gegenreden mit den Besuchern Hiobs ein! Wundern wir uns nochmals über Gottes gewaltigen Zwischenruf! Das wäre ein Lesen nach dem Buchstaben und ein Tasten nach dem Sinn und Geist des Wortes.

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Autorin und Leserin sind mitgemeint.

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Margarete Susman wurde 1872 in Hamburg geboren und starb 1966 in Zürich. Ihre Autobiographie erschien 1964 unter dem Titel «Ich habe viele Leben gelebt». Ihr Hiob-Buch68 wurde z.T. während des zweiten Weltkriegs geschrieben und erschien in erster Auflage 1946, in zweiter, um eine Einleitung erweiterter Ausgabe 1948. Der Klap­ pentext des Verlags und ein Nachwort der Rabbinerin Elisa Klapheck informieren über den Kontext der Entstehung, die Bedeutung und die Grenzen dieses Werks und seine Wirkungsgeschichte. Das Buch verfolgt ein religionsphilosophisches und ein politi­ sches Interesse, die sich nicht leicht auseinanderdividieren lassen. Meist wird in der aktuellen Diskussion das politische Interesse in den Vordergrund gerückt, allenfalls noch die freundliche, aber kritische Haltung zum Zionismus bzw. einer den Nationalismus sprengenden und übersteigenden «messianischen Politik». Als Beitrag zu einer Erklärung des Holocaust oder gar zu einer Theodizee («Rechtferti­ gung Gottes angesichts der Leiden und Ungerechtigkeiten in der Welt») ist das Buch unbrauchbar und wohl auch nicht intendiert. Eher schon geht es darum, das jüdische Volk als «Volk ohne Bild und Grenzen» und seinen Beitrag für die übrige Welt zu erläutern. Diese Bildlosigkeit hat sich nach dem schrecklichen Massenmord an den Juden zum Verlust des Menschenbildes verschärft. « […] das Bild des

68 Margarete Susman: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Suhr­ kamp Verlag, Jüdischer Verlag, Berlin 2022, 192 Seiten. Zu Kafka vgl. 16, 43, 62, 97. Vgl. M. Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka, in: Der Morgen V, 1, April 1929, 37. Hier nimmt Susman vorweg, wie der Prozess mit Gott seine Gestalt ändern werde: « […] in einer Form, in der Gott ganz verstummt, der Mensch allein redet – in der er aber, auch wenn er Gottes Namen verschweigt, immer nur mit Gott redet.» Die Kontinuität in der Diskontinuität besteht darin, dass der Name Gott in der Tradition fast nur im Gebet ausgesprochen wird.

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Menschen überhaupt ist uns ja verloren; der Name Mensch ist für uns heute nicht lesbarer als der Name Gott.»69 Obwohl die Schreibweise des Buches rhapsodisch und evokativ ist, enthält es doch interessante und teilweise prägnante Formulierun­ gen, die für eine Beschäftigung mit dem Buch Hiob hilfreich sind. Hiob wird zur zeitlosen, gestaltlosen70 Gestalt für die Situation des Einzelnen vor Gott, während er alles verliert (sogar sein Leben scheint auf dem Spiel zu stehen), während seine Frau, die ihn zur Abwendung von Gott anstiftet, sich von Hiob und seinem Gott abwendet und ihn seine glücklicheren Standesgenossen und «Freunde» missverstehen. In der äussersten Not wird Hiob zur Klage, zum Schrei nach Gottes Antwort und zur mehrmals zitierten Bewährung der Treue im Lob des lebendigen Gottes: «Aber ich weiss, dass mein Rächer, mein Löser, mein Erlöser lebt»71 und im poetischen und betenden Lob der Schöpfung. Hiob wird am Ende doppelt belohnt: er vernimmt (wie auch seine Freunde) Gottes eigene Stimme und überwältigende Gegenwart, und sein früheres Patriarchen-Glück wird erneuert und vermehrt. Sagt Hiob zu Beginn seiner Schicksalsschläge «Gott hats gegeben, Gotts hats genommen, gepriesen sei der Name Gottes», so könnte er am Schluss hinzufügen: Gott hat es genommen, Gott hat es vielfach wiedergegeben.» Fluch und Segen, Dank und Klage sind nah beisammen. Susman schliesst sich der Meinung an, dass die Rahmen­ erzählung von der Teufelswette und der finalen Wiederherstellung Hiobs kein redaktioneller Zusatz ist, den man weglassen könnte. Sie liest das biblische Buch weniger historisch-philologisch als vielmehr poetisch und philosophisch. In Susmans Buch wird die Rede von Satan wiederholt aufgegriffen, auch wenn eine nicht-mythologische Übersetzung für das Böse in Erwägung gezogen wird. Susman hebt hervor, dass im Gottesverhältnis von Hiob das Vertrauen in Gott auf dem Spiel steht. In den Disputen mit seinen Freunden und Besuchern ergibt sich, dass diese beim Unglücklichen nach einer Schuld fahnden und ihn nötigen möchten, eine Schuld zuzugeben (sie stellen ihn gleichsam unter Beichtzwang), während Hiob auf seiner Unschuld insistiert. Er ist sich keiner spezifischen Schuld bewusst, mit der er die Grösse seines Unglücks als Ausdruck Susman, 111. Eine ähnliche Diagnose findet man bei Hans Jonas. Von der Gestaltlosigkeit spricht Susman in der Übertragung von Hiob auf das jüdische Volk. Vgl. Susman 2022, 95. Diese Gestaltlosigkeit steht im Widerspruch zur Überlebenslogik und den Exzessen des Nationalismus. 71 Hiob 19, 25; Susman 2022, 33, 110, 137. 69

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des Willens Gottes verstehen könnte. Hiob will vor seinen Anklägern nichts vertuschen, er müsste sich nicht vor anderen Menschen recht­ fertigen. Er versucht Gottes Wille und Gerechtigkeit zu verstehen und vermag Gottes verborgene Absicht nicht nach dem althergebrachten Schema von Strafe für Ungehorsam einzuordnen. Er erinnert sich an keine spezifische und bisher verheimlichte Untat, an keinen Frevel, der ihm sein furchtbares Schicksal als ein «verdientes» erscheinen liesse. Gleichwohl findet sich bei Hiob das Zugeständnis, dass er nicht «rein» sei. «Wer will einen Reinen finden bei denen, da keiner rein ist?» (Hiob 14, 4) Wie lassen sich die Leugnung von Schuld gegenüber den anderen Menschen mit dem Zugeständnis der eigenen Unreinheit vereinbaren? Irrt sich Hiob über sich selbst? Wird er erst nach der Rede Gottes bussfertig? Auf diese schwierige Frage, ob Hiob schuldig oder unschuldig sei, gibt Susman eine prägnante Antwort, die weit über den Einzelfall von Hiob hinaus bedeutsam ist. Sie schreibt im Anschluss an die zitierte Stelle 14, 1: «Kein Mensch ist rein vor Gott; keiner kann in den Lebensbedingun­ gen, in die er gestellt ist, rein bleiben. In der einmal gefallenen Schöpfung gibt es Unschuld im strengen Sinne nicht. Darum weiss Hiob sich als Mensch schuldig. Aber er findet seinen Anteil an der allgemeinen Schuld nicht heraus.»72

Hiobs Reinheit kann nur «Reinigung», seine frommen Opfer können wie alle menschlichen Opfer nur Sühne für die gemeinsame Schuld sein.»73. Sein Gottesleben verläuft nicht linear und monoton, sondern nach dem Paradigma von Jacobs Ringen mit Gott. «Auf dem Boden dieses Ringens allein und im Zusammenhang mit ihm ist auch die unbedingte Reinheit Hiobs zu gewahren, die beides, Reinheit und Schuld, zugleich ist.» Die Opfer, die er auch vor der Prüfung für seine Söhne bringt, ist «zugleich stellvertretende Reinigung.»74 Übertragen auf die Geschichte Israels sind die Leiden des jüdischen Volks zugleich stellvertretend für die ganze Menschheit. Es sind Leiden, die nieman­ den gleichgültig lassen könnten, die uns alle angehen. Nimmt man diesen Gedankengang ernst, wird man nicht der Versuchung erliegen, das Buch ausschliesslich mit einem säkularpo­ litischen Interesse zu lesen und allenfalls als Schuldzuweisung ans 72 73 74

Susman 2022, 29, kursive Hervorhebung im Original. Susman, 2022, 39. Susman, 2022, 41.

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jüdische Volk oder als Vermischung von Opfern und Tätern katego­ risch abzulehnen, als ginge es darum, Hiob und – in der kühnen Übertragung und Analogie – dem jüdischen Volk eine Schuld oder Mitverantwortung für seine unermesslichen Leiden in Geschichte und Gegenwart zu unterstellen. Die Unreinheit ist eine Unreinheit aller Menschen, und niemand «verdient» dafür menschliche Grau­ samkeiten. Vielmehr geht es darum, eine unaufhebbare Differenz im Verhältnis zu Gott und im Verhältnis zu den Menschen festzuhalten. Im Verhältnis zu den Menschen gibt es Moral und Unmoral, doch die Gerechten brauchen nicht «rein» zu sein. Jedenfalls können sie nicht für «Unreinheit» vom Recht im säkularen Staat oder gar durch Verfol­ gung und Kriege bestraft werden. Vor Gott sind wir alle unrein, aber wir kennen bis ans Ende der Zeit, bis zum letztinstanzlichen Urteil des Ewigen über sein Volk, über jeden Einzelnen, nicht den exakten Anteil an Schuld. Das erklärt Hiobs Unruhe und Ungewissheit. Über den genauen Schuldanteil am Leiden der Menschheit sind wir auf Vermutungen und Schätzungen angewiesen. Ein ähnliches Problem ergibt sich im Strafrecht, nämlich bei der Festlegung des Strafmasses. Auch hier gibt es Ungewissheiten darüber, welches Strafmass der Einzelne verdient, meist wird das Strafmass nur konventionell, «pro­ portional» und «relativ» festgelegt, als ein Kompromiss zwischen den Extremen, zur Vermeidung exzessiver oder laxer Strafen. Die «Ver­ hältnismässigkeit» im Recht ist eine Art arithmetische Leerstelle; nur der Einzige, der die Menschen erschaffen hat und ihre Herzen kennt, kann diese Leerstelle ausfüllen. Gott sagt am Ende, Hiob habe recht geredet. Hiobs Überlegenheit über seine Freunde besteht jedoch keineswegs in einer messbaren Tugend, und auch nicht in einer besseren Theologie, deren Aussagen über Gott alle wahr wären. Strikt genommen gibt es über Gott nichts, was man mit Gewissheit aussagen könnte. Hiob ist nicht der bessere Theologe, der besser über Gott redet als andere; er hat trotz der Anfechtung und Versuchung, Gott zu lästern und zu leugnen, «nicht von Gott, sondern mit Gott geredet […]»75 Ob Dank oder Anklage Gottes: Hiob hat den Dialog mit Gott nicht abbrechen lassen. Die fast unscheinbare Stelle, an der Susman vom Anteil bzw. der Distribution von Schuld an der Gesamtschuld spricht, ist deshalb bedeutsam, weil die Rede von diesem Anteil an Schuld auch in der Übertragung auf kriegerische Nationen wiederkehrt. Hiob übersteigt 75

Susman 2022, 125.

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das Szenario eines Krieges aller gegen alle oder einer Welt von Selbstverteidigern und Angreifern dadurch, dass er sich «dem ihm von Anbeginn gewordenen Auftrag des Unbedingten unterstellt», und dieser Vorbehalt gegen eine Anpassung an die übrige Welt wird nun auch dem jüdischen Volk attestiert. Der Wille zur Nicht-Assimilation wird mit der «Treue gegen seinen Ursprung» verknüpft. Wie Elisa Klapheck im Nachwort verdeutlicht, bleibt Susman einem (utopisch-anarchistischen) Ideal von Gemeinschaft verpflich­ tet, zu dem sie Gustaf Landauer inspirierte, und sie widersteht folge­ richtig einer Reduktion der politischen Agenda auf einen jüdischen Staat. Hier liegt auch ein Grund für ihren Vorbehalt gegen eine nationalistische Tendenz des Zionismus. Die Neuauflage des Buches rechtfertigt sich dadurch, dass hier ein philosophischer Text von einer jüdischen Intellektuellen wieder zugänglich gemacht wird, der zugleich literarische Qualitäten hat. Ihre Vielseitigkeit hat Susman auch in ihrer Theorie der Lyrik und der schönen Monographie «Frauen der Romantik» bewiesen; ihrer Darstellung von Rahel Varnhagen hat sie das Zitat von Rahel vor­ angestellt: «Ja wohl, wen Gott umtreibt, kann der sich halten und lieblich sein?», in dem die Schriftstellerin der Romantik die doppelte Stigmatisierung einer nicht hübschen und einer jüdischen, von Gott umgetriebenen Frau zusammenfasst. Der Hiob-Essay war damals nicht und ist auch heute nicht Ausdruck eines vorherrschenden Zeit­ geistes, sondern eines denkenden Widerstands, der sich nicht für die Legitimation von Macht und Krieg missbrauchen lässt. Krieg wird vor dem Hintergrund der prophetischen Friedensutopien als «Todsünde76 verworfen. Entsprechend muss auch der Anteil aller kriegsführenden Parteien aller Kriege in die Waagschale der ewigen Gerechtigkeit gelegt werden. Die «Unreinheit» vor Gott wird abgebildet im Anteil an Schuld aller, ob sie z.B. aufrüsten oder nicht, ob sie handeln oder sich vornehm zurückziehen. Im Unterschied zu gewissen versponne­ nen Autoren – man denke an Heidegger – ist Susmans Text, wenn auch nicht immer direkt praktisch verwertbar, doch dem ideologi­ schen Missbrauch gegenüber geschützt. Der Ausgang vom jüdischen Volk führt zu Überlegungen, die alle Menschen und eine universelle Anthropologie von Exil und Heimat betreffen. «Galuth ist die Sühne

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Susman 2022, 130, vgl. 137, 147.

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für alles.»77 «Zion bleibt Galuth bis zur Endzeit.»78 Ist das Exil des jüdischen Volkes deutbar als «Busse für die Menschheitsschuld»79, dann nur in dem strikten Sinne einer möglichen Busse aller unreinen Menschen, oder stellvertretend für alle Menschen, eine Busse vor Gott, aber eben keine Legitimationsgrundlage für die Verfolgung und Vernichtung von Menschen durch andere Menschen oder gar eine konfuse Theodizee. Susman verkörpert eine lebenslängliche Lernfä­ higkeit, mit der sie u.a. ihrer eigenen Darstellung von Hiobs Schicksal und dem des jüdischen Volkes nachträglich kritisch gegenübersteht. Sie macht aus dem eigenen Buch kein System und bleibt in dieser Hinsicht Schülerin von Georg Simmel; ein philosophischer Essay enthält kein unverrückbares dogmatisches System. Das trifft auch und vor allem auf die Bemerkungen zu Jesus zu. Jesu Gestalt und sein stellvertretendes Leiden sind in jener des Gottesknechtes vorwegge­ nommen: «Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm ver­ barg.»80 Die Differenz des Judentums gegenüber dem Christentum bleibt bestehen und kristallisiert sich in der Ablehnung eines «Sohnes Gottes», «um des gestaltlosen Einen willen […]»81 Die Differenz geht jedoch über jene von Synagoge und Kirche hinaus.82 «Jeder feste Besitz ist uns entrissen; wir kennen allein das Ringen.»83 Susmans Bekenntnis einer Affinität zu Jesus reisst keine Unterschiede zwischen Judentum und Christentum ein und kann – entgegen der Kritik von Gershom Scholem84 an Susmans Buch – als ein frühes Modell einer selbstbewussten und reflektierten Teilnahme am interreligiösen Dialog gelesen werden. Das belegt u.a. ihr Kommentar zu van Gogh, der seine ursprünglichen Pläne verwirft und schliesslich ganz darauf verzichtet, die Gestalt Christi zu malen. Sie sieht darin eine Variante eines christlichen Verzichts auf die Gestalt Christi. Damit ist nicht nur die sinnliche Gestalt gemeint, sondern auch eine dogmatische Susman 2022, 93. Das Exil (hebräisch Galuth) als Sühne steht «am genauesten der dämonischen Abwälzung eigener, innerer Last auf fremdes Leben entgegen […] » Sühne durchbricht den brutalen Vergeltungskreislauf der Welt. 78 Susman, 2022, 107. 79 Susman 2022, 70. 80 Jes. 53, 3; Susman 2022, 84. 81 Susman 2022, 114. 82 Susman, 2022, 115. 83 Susman, 2022, 116. 84 Vgl. Gershom Scholem: Judaica 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, 7–19 (Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch). 77

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Gestalt, die Christus auf ein trinitarisches Bekenntnis und andere Zwecke festlegt. «Und mit diesem Verzicht auf die Gestalt Christi hat er [sc. van Gogh] Christus noch tiefer in sein Leben aufgenommen und aus ihm mit den Ärmsten der Armen, ›die zerbrochenen Herzen zu verbinden‹, gelebt.»85 Heute (unmittelbar nach der Barbarei des Holocaust) würde sich dieser gestaltlose Jesus nach Susman für das Judentum entscheiden. Neutraler formuliert: Jesus gehört allen, die gebrochenen Herzens sind; für sie gibt es die Hoffnung der Hoffnungslosen. «Die Hoffnung ist die Blüte des Gesetzes.»86«Die einzige Frage, die von dem himmlischen Richter an jede vor ihm erscheinende Seele gestellt wird, lautet nach einem Wort des Talmud: Hast du gehofft auf das Heil? »87 Hiob ist kein «pessimistisches» Buch, sondern ein mahnendes Trostbuch. Die Hoffnung auf den Retter und die christliche Hoffnung auf Auferstehung sind verschieden und doch eng verwandt. Nach der Legende seiner Schüler war Pythagoras im Stande, die Sphärenharmonie als klingende Musik zu hören.88 Er hatte sozusagen ein absolutes Gehör, bezogen auf die Botschaft aus dem Universum, die von der Mehrheit nur als rätselhafter Code wahrgenommen wird, als eine Schrift, die der Alltagsverstand nicht zu entziffern vermag. Zur Fähigkeit, die Weltschrift, das «Buch der Welt» vollständig zu dechiffrieren, gehört nicht nur ein ungewöhnlicher Intellekt oder eine umfassende Bildung, sondern auch eine asketische Lebensform. Was andere allenfalls indirekt erkennen oder berechnen können, hat sich dem Pythagoras der Legende auch unmittelbar als überwäl­ tigende Schönheit offenbart. Es mag in der Geschichte immer wie­ der «Heilige und Virtuosen» gegeben haben, welche dieses absolute Gehör hatten, denen die Sprache der Natur, aber auch das «Wort Gottes» vernehmbar war, so wie in der Urzeit Hiob die Stimme Gottes vernehmen konnte. Ist in der Neuzeit, nach der Aufklärung bzw. in der Moderne das Gehör (als ein «drittes Ohr») für die Musik der Welt oder gar das Wort Gottes völlig verlorengegangen? Vermag der Blick zu den Sternen, auf die Wunder der Natur und die progressive Richtung der Geschichte Susman, 2022, 116. Susman, 78. 87 Susman, 79. 88 Vgl. B.L. van der Waerden: Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich, München: Artemis Verlag 1979; Christoph Riedweg: Pythago­ ras. Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung, München: Beck-Verlag 2002. 85

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nicht mehr auszureichen, um eine den ungeübten oder getrübten Sinnen der Menge verborgene Wahrheit zu offenbaren? Steht bereits Hiob für das Problem einer zunehmenden Schwierigkeit, den Lauf der Welt zu «lesen», etwa nach dem einfachen Schema, dass es sich für den Tugendhaften auch lohnt, tugendhaft zu sein, und dass die Bösen früher oder später ihre gerechte Strafe erlangen? Wird diese «mora­ lische Weltordnung» wie im Krisenjahr um 1800 in Deutschland als «Fiktion» durchschaut? Sind demnach die «Gehörlosen» die Klü­ geren und Ehrlicheren, als jene, die immer noch auf die Gerechtigkeit der Endzeit hoffen? Ist der Weltenlauf nur noch das Zerrbild der Satire, wie es Goethe in seinem Versepos «Reineke Fuchs» gezeich­ net hat? Eine Welt, in der Schlaumeier, Heuchler und Gewalttäter triumphieren? Was bedeuten Siege und Niederlagen ganzer Völker in der Geschichte? Kann man ein Volk und seinen Gott «widerlegen», indem man es exterminiert? Lässt sich «Bedeutsamkeit» auch direkt und ohne Filter von Theorien und Interpretationen vernehmen? Und selbst wenn das nicht möglich wäre, fügt das geniale Hören der Sphärenmusik den mathematischen Modellen etwas hinzu, das tiefer ins «Wesen» oder die «Wahrheit» eindringt als z.B. die lebhafte Veranschaulichung von fernen Galaxien durch Computeranimation? Sind die Schönheit und Harmonie der Welt auch ohne Vermittlung von Schein und Illusion zu haben? Margarete Susman hat die «Frage Hiobs» als Schicksalsfrage des jüdischen Volkes weitergedacht. Was sich gegen das jüdische Volk richtete, war ein «metaphysischer Hass», der sich nicht in empirischen Eigenschaften von Individuen oder eines Volkes festmachen lässt. Quasi jede «Begründung» des Antisemitismus und Anti-Judaismus erweist sich bei näherer Prüfung als Argument, das viele Juden nicht trifft und viele Nicht-Juden mit-betrifft. Empirische Verallgemeine­ rungen sind fehlbar; Judenhass auf der Grundlage empirischer Verall­ gemeinerungen ist falsch. Es ist, als müsste der wahrhaft Hassende etwas sehen, was die Gleichgültigen nicht zu sehen vermögen, eine Serie von nicht-natürlichen Eigenschaften, sozusagen die verborgene Hässlichkeit des jüdischen Typus. Ein Motiv dieser äussersten Ver­ folgung bis ins unsichtbare Wesen wird auf eine seltsame Weise in Gottes Erlaubnis an die dunkle Macht präfiguriert, Hiob, den Gerech­ ten, mit allen Mitteln zu prüfen, ohne ihm das Leben zu nehmen. Die Folter der Prüfung soll nicht vorschnell beendet werden. Gott allein bleibt Herr über Leben und Tod, doch er delegiert die harsche Prüfung, er lässt den bösen Geist mit seiner Zustimmung gewähren. Er auto­

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risiert die Versuchung und steht damit selbst hinter der Versuchung. Das Verfahren erinnert von Ferne an die Praxis der mittelalterlichen Folter als Mittel der Wahrheitsfindung. Es ist, als könnte der Mensch sich nur in der äussersten Verzweiflung als der wahrhaft Gerechte beweisen, als wäre Tugend im normalen Leben immer mehr oder weniger geschickte Schauspielerei, allerdings nicht aus Freude am Spiel, sondern mit der Erwartung eigener Vorteile. Bevor dieser Test der Hiobsplagen bestanden ist, gilt – jedenfalls in der Welt, für den Blick «Satans» – der Verdacht der Unlauterkeit. Der Gerechte, so lautet dieser Verdacht, ist so lange gerecht, als es ihm nützt. Gott selbst, der doch unbedingt liebt, stimmt gleichwohl in eine solche Wette ein und lässt es zu, dass Hiob auf entsetzliche Weise geprüft wird. Hiob selbst kennt diesen Hintergrund, den Prolog im Himmel, nicht; ihm widerfährt die zweifache Prüfung: jene des Leidens selbst, und jene des möglicherweise sinnlosen Leidens. Die Erfahrung der Absurdität manifestiert sich in Fragen und Klagen: Warum gerade ich? Was ist der Sinn meines ausserordentlichen Leidens? Warum musste ich überhaupt geboren werden? Warum muss ich weiterleben? Übertragen auf das jüdische Volk lautet die Frage: « […] muss dies ständig verstörte und zerstörte Volk überhaupt leben? Und warum muss es leben? Wäre es nicht für das Volk unendlich viel leichter gewesen, aus der Geschichte zu verschwinden und nur als Mythos erhalten zu bleiben? […] Auch das Leben Hiobs ist sichtbar gekennzeichnet allein durch den Fluch. Im Fluch umreisst sich seine Wirklichkeit, ist er herausgehoben aus der menschlichen Gemein­ schaft, die ihn nicht begreift und darum verwirft, ist er verstossen auf den abgesonderten Aschenhaufen, in das Grauen des Todes, erfährt er in ihm erst die Finsternis des Geheimnisses, das über seine Frühzeit in sein eigenes Licht verhüllt leuchtet […]»89

Wohin wird die unauslöschliche Brandspur des Göttlichen in der Geschichte noch führen? Wohin hat sie in der Epoche der staatlich gezielten Massentötung von Juden im Einflussbereich der Nazis geführt? Der Ausdruck «Massentötung» soll den Mord nicht in eine Nebelsphäre der Anonymität entrücken! Hinter jedem Mord steht mindestens ein verantwortlicher Mörder, der zur Verantwortung gezogen werden sollte. Bleibt hier nicht jede «Rechtfertigung» zum

Susman 2022, 60; vgl. 120. Die Frage entspricht der satanischen Intention und weitgehenden Durchführung des Völkermordes.

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Scheitern verurteilt, wenn nicht sogar verwerflich? Selbst die positive Nebenwirkung, dass der Antisemitismus nach dem Genozid lange Zeit nicht mehr salonfähig ist, bildet keine «Rechtfertigung» der Gräueltaten. Wäre die «Rechtfertigung» weniger plausibel, wenn es stimmt, dass es immer noch und immer von neuem Antisemitis­ mus gibt? Kann ein solches naives Folgenargument überhaupt das Ungeheure und das Unrecht neutralisieren? Wurde mit der Ausfüh­ rung staatlicher und technischer Vernichtungsprogramme der Bogen der «Prüfung» definitiv und für immer überspannt, so dass man nicht mehr daran glauben mag, dass in der Finsternis ein Licht leuchtet, oder dass die «Zeichen» der Natur und Geschichte überhaupt noch eine lesbare Schrift bilden? Margarete Susman zitiert Franz Kafka – «die Musik der Welt bis in alle Tiefen abgebrochen», in einem Aufsatz mit dem Titel «Sterne» (1936, erweitert 1965), und wiederholt Kafkas Satz in ihren eigenen Worten: «Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr.»90 Gemeint ist die Krise einer (naiven) Naturteleologie, eines ungebrochenen Mutes, die «Schrift» und «Zeichen Gottes» in der Natur und in der Geschichte zu verstehen. Der metaphysische Optimismus von Leibniz steht im Konflikt mit einer empirischen Betrachtung der Geschichte und hat seine Plausibilität selbst für den Glauben eingebüsst. Gottes Heilsplan ist nicht aus den «Gesetz­ mässigkeiten der Geschichte» ablesbar. Man könnte auch von einer geschichtsphilosophischen Verzagtheit sprechen. Die «Antwort» Gottes an Hiob bringt bekanntlich «nichts Neues», was Hiob nicht bereits im 9. Kapitel als Antwort auf seine Freunde ausgesprochen hätte und was Hiob und seinen Freunden nicht aus dem Schöpfungsbericht und den grossen Schöpfungspsal­ men, aus denen zitiert wird, geläufig wäre. Die Antwort ist ein auto­ ritäres Donnerwort, ein Verweis auf das Unzählbare, Unmessbare, Unerschöpfliche, Faszinierend-Schöne und Schreckliche der Schöp­ fung, die den Menschen als Wunder vor Augen liegt und seine Bestre­ bungen übertrifft, begrenzt, zunichtemacht und wieder ins Walten der kosmischen Kräfte zurücknimmt, als hätte der Mensch nie gelebt. Das Spiel von Entstehung und Vernichtung unter Gottes Auge, aber auch sein wiederholtes punktuelles Eingreifen, Vernichten und Erneuern ist das erste Wunder Gottes, die anfängliche und fortgesetzte Schöp­ Margarete Susman: Sterne (1936), erweitert in: M. Susman: Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914–1964, hrsg. von Manfred Schlösser, Berlin: Agora 1965, zweite Auflage 1994, 74, 78.

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«Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr»

fung. Des Menschen Weisheit ist Torheit, der endliche Mensch ist nichtig vor Gott; der Mensch kann sich nicht mit Gott messen; er kann sich nicht selbst vor Gott rechtfertigen. Man könnte geradezu von einer arroganten Theodizee-Verweigerung Gottes sprechen. Hiob bleibt in seinem äussersten Leiden «hellsichtig», verbunden mit einer spätjüdischen Weisheitsliteratur, welche auch eine Ausweglosigkeit und Niederlage für die Gerechten in Erwägung zieht. Es gibt nicht nur die «archaische Weisheit», die besagt, dass es den Guten gut, den Bösen schlecht ergehen werde, sondern auch die desillusionierte Weisheit, dass es diese vollkommene Gerechtigkeit nicht gibt, die dann allerdings durch das zweite Wunder übertroffen wird, das darin besteht, dass Gott zu Hiob selbst spricht, vermutlich nur ihm selbst vernehmbar. Es ist das Wunder der von Hiob vernommenen Stimme, HIS MASTER’S VOICE, die vernehmbare Theonomie, welche sich gegen die Autonomie oder Logonomie (die Vernunftherrschaft des Menschen) durchsetzt. Zuerst richtet sich die Stimme an Hiob selbst; an ihn richtet er sein Wort. Er erweist ihm die Huld der Anrede. Wort, Gesetz (Tora), Antlitz sind anthropomorphe Metaphern von Präsenz und Zuwendung. Für Hiob scheinen es mehr als Metaphern zu sein, nämlich überwältigende Klänge, ein «Brausen» Gottes. Auch wenn er (der Namenlose mit den geheimnisvollen Benennungen) mit Hiob streng spricht, so ist die Begegnung mit dem Herrn dem Schreck und der Freude vergleichbar, die ein Freund bereitet, der unerwartet hereinkommt und den Freund mit eigener Stimme (nicht mit Mails oder Briefen) begrüsst. Es ist wie das Nörgeln oder Schimpfen einer Mutter, die das Kleinkind nicht als Abweisung, sondern sogar als Zuwendung und Nähe fühlt. Alltägliche Erwartungen werden durch­ kreuzt und übertroffen, wenn der Herr selbst Recht spricht und sogar Hiob gegenüber seinen Freunden recht gibt. Es wäre allein schon ein Wunder und wunderbar gewesen, wenn Gott selbst gesprochen und Hiob verflucht hätte. In der Rahmenerzählung am Ende des Buches wird Hiob nicht nur auf märchenhafte Weise wieder in sein gutes Leben zurückgeführt, ja das erste Glück wird sogar durch das zweite Glück noch übertroffen, weil es kein grösseres Glück gibt als jenes, das dem Genesenden und Erlösten widerfährt, der den Segen und die Heilung aus Gottes Wort selbst empfängt. Es ist intensiv wie die Erleichterung nach einer bestandenen Prüfung auf Leben und Tod. Hiob ist wieder, wie die Menschen vor der Urschuld des Sündenfalls und dem Trauma der Vertreibung aus dem Paradies, ins Gespräch mit Gott einbezogen, nachdem er so

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lange aus dem Gespräch am Anfang der Rahmenerzählung und dem Verstehen des tieferen Sinns seiner Plagen, als von einem Gespräch und einer «Teufelswette» Gottes im Himmel, ausgesperrt war. «Die da unten» verstehen nicht, was «die da oben» aushecken. Nie konnte Hiob mit Gewissheit erfahren, wie er «hinter seinem Rücken» mit einem Dritten über ihn im Himmel gesprochen hatte, ihn als seinen gerechten Knecht lobte; nicht konnte er mit Gewissheit voraussehen, dass dieser Gott jemals zu ihm sprechen würde, und nicht nur über ihn; er kann nicht wissen, ob er sich mit Satan gegen Hiob einen grausamen Jux machte. Er weiss nicht, dass er vielmehr, wie es die Erzählung mitteilt, hinter dem Rücken des Gerechten, auf den er stolz war, an seinen «Prüfungskandidaten» glaubte, beinahe für ihn bürgte und ihm wahrscheinlich sogar half, die Prüfung zu bestehen, aber ihn auch durch sein Lob indirekt in Gefahr brachte. Die Leserin weiss mehr, als Hiob wissen konnte, nämlich dass Gott zugleich diese Wette zuliess und als Herr über Leben und Tod auch jener Gott bleibt, der in seiner Gerechtigkeit und Güte niemanden über seine Fähigkeiten hinaus fordert und prüft. Niemand hat zu Hiob gesprochen: «Mein Joch ist sanft.» (Vgl. Mt. 11, 30) Und er hätte es in seiner Verzweiflung kaum geglaubt oder als leidigen Trost zurückgewiesen. Der gerechte Gott fordert nach der Glaubenslehre nur das, was der Mensch leisten kann, wenn er will. Ein anderer Glaube als der freiwillige hätte vor Gott keinen Wert. Gewiss, Hiob übersteht mehr, als dass er die Prüfung besteht; in den Augen der kritischen Kollegen ist er ohnehin kein Musterschüler der Zerknirschung; es ist eine ungewöhnliche Prüfung, die man zwar überleben, aber nicht «glanzvoll» bestehen kann; nach allem was die Leserinnen des Prologs wissen, ist es gut möglich, dass er sogar zugunsten seines Prüflings auf eine gött­ liche Art schummelt, wie der Gott «rechnet», der die Summe der Sünden nicht zusammenzählt, sondern tilgt. Es besteht Hoffnung, dass am Ende Gottes Barmherzigkeit über seine Strenge siegen wird. Kein Mensch wäre befugt, andere Menschen auf diese Weise zu prüfen, ohne damit in die Anmassung der Gesinnungsprüfungen der Inquisition zurückzufallen. So wird Hiob doppelt geprüft: durch das Leiden, das ihn zunächst zum «Stoiker» macht, der einwilligt in das, was sich eh nicht ändern lässt und damit über Gott spricht, der Leben gibt und Leben nimmt, und seinen Namen lobt. Doch die Prüfung ist nicht zu Ende, die fertigen Sprüche des Glaubens gehen ihm allmählich aus. Zusätzlich wird er geprüft durch ein Leiden, des­ sen «höheren Sinnzusammenhang» er nicht durchschaut. Der Sinn

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«Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr»

seines Leidens wird ihm niemals erklärt, oder eben nur nach dem frommen Schema zweifelhafter Freunde, welche das Leiden als Busse für seine Sünden verstanden wissen wollen. Indem die Freunde sein Leiden als Bestandteil einer «metaphysischen Gerechtigkeit» deuten, nehmen sie Hiob sein Leiden weg, als wäre er nicht der gerechte Leidende, sondern ein beliebiger Gefolterter, der zu einem falschen Geständnis gezwungen werden soll und nur so lange leiden muss, bis er jene Sünden «bekannt», die er gar nicht begangen hat, symbolisch oder heuchlerisch Busse tut und sein Leiden als «Strafe» akzeptiert. Diese Folter würde jene falschen Schuldgefühle erzeugen, die der satanischen Einflüsterung entsprechen: «Du bist verantwortlich für Deine Leiden; Du könntest sie jederzeit beenden.» Problematisch erscheint die Rückanwendung einer Christologie, welche Hiobs Leiden als stellvertretende Leiden für die Menschheit sieht. Hiob würde dann als defizitärer Christus erscheinen, der nicht leiblich aus dem Grab auferstanden ist. Hiob als Lamm oder Opfer für die Sünde der Welt wäre ein Konstrukt jener, denen diese Leiden erspart bleiben, oder ein Trostpreis für Juden, die Christus nicht annehmen wollen. Einen Funken Wahrheit kann das Opfer-Konstrukt nur dann haben, wenn es von Hiob selbst so erfahren und von Gottes Stimme als solches angenommen wird. Entscheidend ist wieder der Gedanke, dass keine Theorie, kein Ratschlag von aussen das bewir­ ken kann, was allein das heilende Wort Gottes vermag. Es ist die heilsame Stimme, welche die Umgebung von Jesus auf ihre Weise vernehmen wird. «Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.» (Mt. 3, 17; Mk. 1, 11; Lk. 3, 22)

Oder als Stimme Jesu vom Kreuz: «Heute noch wirst Du mit mir im Paradies sein.» (Lk. 23, 43)

Dieses «heute noch» beschwichtigt die Grundklage: «Wie lange noch?» Wer diese einzigartig beschwichtigende Stimme vernimmt, wird gerechtfertigt. Gott selbst ist die Rechtfertigung, keine Philosophie. Doch wer dürfte heute von sich sagen: «Ich habe Gottes Stimme gehört»? Heute, damit ist gemeint: das Zeitalter der technischen Medien, des Stimmengewirrs im Äther, des ununterbrochenen Fla­ ckerns und Rauschens der Werbung, das Zeitalter der Psychotherapie mit ihren Theorien der «inneren Stimmen» als Symptome von seeli­ schen Krankheiten. Könnte sich hier überhaupt noch eine Stimme

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«Wir vernehmen die Musik der Welt nicht mehr»

Gottes eindeutig und unverwechselbar Gehör verschaffen? Oder ist das Musik aus einem längst vergangenen goldenen Zeitalter im Paradies und seiner Spiegelungen im langen und erfüllten Leben der Patriarchen? Ist Gott verstummt? Spricht nur noch der Mensch?

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«Der Frevler Jubel ist kurz»

Die alte Lehre besagt, dass der Ungerechte kurz und schlecht lebe, während der Gerechte lang (glücklich) lebe. Das ist die Vorstellung einer «moralischen Weltordnung», in der jeder kriegt, was er verdient. Daran appelliert die Plattitüde der «Gesundheitsfanatiker», die glau­ ben, ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen «hart erarbeitet und ver­ dient» zu haben. «Ich gebe Dir, Du gibst mir. Ich opfere Dir, Du gibst mir Glück und Gesundheit. Ich bin gesund, weil ich gut gelebt habe; Du bist krank, weil Du kein Yoga, keine bewusste Ernährung, kein achtsames Leben kennst.» So spricht spirituelle Selbstzufriedenheit, die Influencerin, die sich und ihre Followers über die Menge erhebt, die falsch lebt. Sie propagiert das Wahre, umgeben vom Falschen. In dieser Rede kommt der alte Tun-Ergehen-Zusammenhang zur Sprache: «Was auch immer Dir zustösst, Du hast es verdient. Jeder lebt und stirbt, wie er es verdient. Niemand leidet (liebt) vergeblich (kostenlos oder nur auf eigene Kosten). Daran fügt sich der Umkehr­ schluss: «Wenn du leidest, jammerst und (zu früh) stirbst, dann haben wir Menschen einen Wink Gottes erhalten, wir «sehen», wie ein Sünder an den Folgen seiner Sünden erstickt. Ein Unschuldiger, Gerechter, Frommer lebt glücklich und stirbt alt und satt. Er fährt kerngesund aus dem sterblichen Leib und fällt direkt in Abrahams Schoss. Das kann man doch sehen! Warum will der Klagende (Hiob) das nicht einsehen? Warum bleibt er uneinsichtig, verstockt und lässt sich nicht zur Busse bewegen? Warum weist er berechtigte Kritik als Beschimpfung zurück?» Wer ist der bessere Verteidiger Gottes – Hiob oder seine unseli­ gen Tröster? (Vgl. Hiob 16, 1) Diese Frage entscheidet keine Philosophie, sondern Gott selbst. Er gibt am Ende Hiob recht und bestätigt, dass dieser recht gespro­ chen habe von ihm, dem Ewigen. Obwohl die Freunde es «gut mein­ ten» und die alte Lehre wiederkäuen, den Klatsch und das Gerede aller Zeiten, die das erhabene Bild der moralischen Weltordnung an die Wand malen und die Welt nach ihrem Gemälde kommentieren, haben sie von Gott nicht recht geredet.

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Hiob dagegen insistiert darauf, dass er nicht für seine Sünden leide – oder sollte er doch «ohne sein Wissen gesündigt haben»? (Vgl. Hiob 19, 3) Ist das eine rhetorische Gegenfrage an die Freunde, die besagt: «Sünde ohne Wissen» gibt es nicht? Demnach habe ich nicht wissentlich oder unbewusst und überhaupt nicht gesündigt, werde nicht für intendierte oder begangene Sünden bestraft, sondern Gott selbst schickt mir das Gute und Schlechte, das Leben und den Tod. Gott selbst wird mir zum Feind, dem ich klage, zu dem ich gleichwohl bete. (Ein aussergewöhnlicher Feind!) Das ist das Paradox: Gott wird angeklagt, und vor Gott wird geklagt. Jakob Böhme hat das in seiner kühnen Bildsprache so übersetzt, dass deus zelotes (der eifernde Gott, Gottes Grimm) den Menschen verfolge, und dass der Mensch zu Christus fliehe und, unter dessen Schutzmantel geborgen, dem Grimm des Vaters entkomme. Hier wird eine «Duplizität in Gott» angesprochen; so spricht unser unzulängliches begriffliches Reden, als gäbe es zwei Götter in einem Gott: einen unerbittlichen Richter, der für die Gerechtigkeit steht, und einen Allerbarmer (Mut­ ter, Schwester, Hoffnung), der für die Liebe und das Verzeihen steht; die Klage des Hoffnungslosen reicht ins Totenreich hinunter; selbst im Scheol waltet ein allmächtiger Gott, vor dem wir erzittern müssen, der uns überall hin «verfolgt». Doch wo bleibt die Billigkeit und Gnade Gottes, die wir in allen anderen Instanzen vergeblich anrufen? Der Grube ruf ich «Vater» zu, «Mutter», «Schwester mein», dem Wurm. (Hiob 17, 14)

Der astronomische Himmel schweigt, die astrologisch gedeuteten Gestirne Sonne, Mond und Sterne trügen, der vom gefangenen und gequälten Prometheus beschworene Äther der Griechen erhört diesen Schrei nicht; der Eine und Einzige Himmlische dagegen versteht uns alle, ist bereits als Retter aus der Ewigkeit in die Zeit eingebrochen, zu uns unterwegs. Es wäre als höchste Allegorie ausgesprochen die Erfahrung einer unglücklichen Liebe, die am Ende doch noch erwidert wird, einer Sehnsucht, die trotz allem noch Erfüllung finden wird, die Hiob zum scheinbar völlig unmotivierten Schrei hinreisst. «Ich weiss, dass mein Löser lebt.» (Hiob 19, 25)

Es ist, als dringe plötzlich ein Lichtstrahl der Ewigkeit aus der Dunkel­ heit heraus.

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«Der Frevler Jubel ist kurz»

In der Wechselrede zwischen Hiob und seinen Gästen geht es nicht um den disziplinierten Austausch von Argumenten, nicht um eine «liberale Debatte», nicht um einen Wettkampf nach Punkten, nicht um die Frage: «Wer hat das bessere Argument?» Sucht die Philosophie nach der klaren These und dem besseren oder besten Argument, so verfehlt sie die Bedeutung der «Disputatio» Hiobs mit seinen Freunden. Auch die mittelalterliche «Disputatio» mit der Fik­ tion des advocatus Diaboli ist eine Verharmlosung und Verfehlung der existenziellen Schärfe eines Streits und Interessenkonflikts, in dem es um Macht, Geld, Territorium, Ansehen, Stellung und Existenz­ grundlage geht. Die völlige Unverhältnismässigkeit des vernünftigen Zuredens, der begründeten Anklage, der «sachlichen» und «unpartei­ ischen» Rede der Satten und Gesunden scheint diesen selbst völlig zu entgehen, während sie Hiob übergross und überempfindlich wahr­ nimmt. Der Unterschied zum ehrgeizigen und doch wieder fast betuli­ chen Austausch von Argumenten unter ebenbürtigen Vernunftwesen ist für den impliziten Leser augenfällig; die schwankende Zuneigung der Leserin bevorzugt immer wieder die verzweifelte Lage Hiobs, die Gereiztheit eines verwundeten Menschen, der nicht mehr schläft. Hier besteht eine tiefe Inkommensurabilität zwischen Vernunft-Opti­ mismus und gestörtem Urvertrauen. Es ist wie die Zwiesprache zwischen einem Kind und Erwachsenen, zwischen einem Weisen und Narren, zwischen einem «unverschämten Glückspilz» und einem Hoffnungslosen, einem erfolgreichen Geschäftsmann mit einem brot­ losen Dadaisten. Die Bedeutung dessen, was die jeweilige Seite sagt, lässt sich nicht davon ablösen, wer spricht, in welcher Situation, aus welchem Leidensdruck heraus. Gäbe es einen grösseren Hiatus als den zwischen «freundlichen Optimisten» und «hadernden Pessimisten»? Gleichwohl ist es Hiob, der am Ende von höchster Stelle recht bekommt. Er hat sich nicht durch den «zwanglosen Zwang des besse­ ren Arguments» (Habermas) hochgearbeitet und über seine Gegen­ redner erhoben, sondern er wird von ihm erhöht, er, der Ewige, spricht so wie einer, der sich von Hiob besser «verstanden fühlt» als von dessen Freunden und disputierenden Gegnern. Hiob ist im Recht des unglücklich Liebenden. Er insistiert darauf, dass ihn nur die Eine und Einzige Geliebte trösten könnte, doch diese scheint ihn zurzeit feindselig zu misshandeln. Sein Knecht Hiob habe recht von ihm gesprochen, lautet das Lob von höchster Stelle; der einzige Trost kommt von der wahren Liebe, die man in der Verzweiflung anklagte, die nun plötzlich Huld zeigt. Es

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«Der Frevler Jubel ist kurz»

ist die Liebe, unter der man «so lange» litt, vor der man sich nicht zu Huren und Kumpanen flüchten kann, deren «Trost» nicht zählt. Ihr Zuspruch allein heilt. * Ist das Kranken- und Sterbelager überhaupt der rechte Ort für eine Disputation, für fromme Ermahnungen? Gleichwohl lassen sich beide Seiten auf eine heftig geführte Zwiesprache ein; der Wider­ spruch wird von beiden Seiten angefacht; es spielt sich ein rhetorisches Feuerwerk ab, dass es schwer macht zu entscheiden, wer Recht hat und wer nicht. Welche Leserin überblickte den «Spielstand» und könnte entscheiden, wer «gewonnen» und wer die «Arschkarte» gezogen hat? Geht Hiob zunächst als gehorsamer Knecht und danach als Rebell gegen das Kismet nicht zu weit? Gibt es doch noch eine Sünde, die er leugnet und versteckt? Und sind seine Freunde nur «falsche» Freunde, die ohne Sinn und Verstand schwätzen? Oder sind es zwar ordentliche Schriftgelehrte, aber schlechte Seelsorger, die ihre Schelte nicht dosie­ ren und der Situation anpassen? Eine Angriffsfläche für Kritik und Einwände, Empörung und Missverständnisse bietet das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Unsere Sprache ist nicht auf die Ewigkeit vorbereitet und eingeschworen. Alltäglich sprechen wir von «ewigen Querulanten» und wissen nicht, was wir sagen. Niemand versteht, was ›Ewigkeit‹ bedeuten soll; moderne Zeitphilosophen haben diesen Begriff in die Rumpelkam­ mer der Metaphysik geworfen und vergessen. Sie interessieren sich gewöhnlich nicht für Ewigkeit, wollen die Zeit definieren und besser verstehen, scheissen auf die alte theologische Ewigkeit. Platon hat die Zeit als Abbild der Ewigkeit eingeführt, die Neuplatoniker sind ihm treu gefolgt, die Allianz von Platonismus und Christentum hat dazu geführt, dass die Zeit als von Gott geschaffen verstanden wurde, und alles, was von Gott geschaffen wird, ist im weitesten Sinne nach seinem Bild (seiner Idee, seiner Repräsentation) geschaffen. Der Verdacht besteht, dass die Metaphysiker nicht wussten, was sie sagten. Einige Menschen können geschickt philosophieren, doch verste­ hen sie, wovon sie so virtuos reden? Die Verbindung von luzidem Scharfsinn und blödem Glotzen ist sehr real! Wir glotzen auf die Ewigkeit wie eine Kuh ein Scheunentor anstarrt. Wir können die Ewigkeit nicht «verstehen» und nicht «schätzen», so lange wir in der Zeit stecken und die Klage erklingt: «Wie lange noch?» Die alte Lehre sagt: «Kurz ist des Frevlers Jubel.» (Vgl. Hiob 20, 5) Was

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«Der Frevler Jubel ist kurz»

ist «kurz» im «kurzen» Leben des Menschen? Wie lange dauert eine Migräne? Wie lange dauert ein Tag in der Kindheit, im Leben der Erwachsenen, im Alter? Wie lange dauern die Nächte im Spital, wie lange im Armenhaus? Wie lange dauert eine Galgenfrist? Wer zählt und unterscheidet alle Tage, alle Sandkörner, alle Lebewesen auf der Erde und im Meer? Hier werden Rede und Gegenrede zwischen Hiob und seinen Freunden inkommensurabel, zwei verschiedene Masse werden ver­ wendet, wenn die Freunde von der Kürze des Glücks des Ungerechten sprechen, wenn Hiob vom «Ewigen» spricht, der ihn quält und erlöst. Die empirische Plattitüde, dass der Gerechte lang lebt und spät und satt stirbt, ist, als empirische Verallgemeinerung verstanden, leicht widerlegbar, es sieht doch ganz und gar nicht so aus, als würde sich Tugend lohnen, als wäre das Laster eine Form der Selbstschädigung! Es sieht nicht so aus – in der Zeit. Wird es anders aussehen sub aeternitatis specie? Die Streitrede geht nicht zu Ende, führt zu keinem alle überzeu­ genden Ergebnis, muss von einem «externen Schiedsrichter» abge­ pfiffen und evaluiert werden. Dieser scheint nicht auf die Sache einzugehen, sondern endet mit einem Machtwort. Dies und vieles anderes führt das Buch Hiob vor Augen wie dramatische Konzept­ kunst, welche die Tiefen und Abgründe von Begriffen durch Inszenie­ rungen auslotet. Schliesslich müssen alle Kontrahenten kapitulieren, keiner Spielpartei in der Rede steht die Triumphgeste über die besieg­ ten, «gedemütigten» Gegner zu. Niemand triumphiert – ausser dem ewigen Gott. Bei ihm macht die Frage der leidenden Kreatur: «Wie lange noch muss ich leiden? Wie lange noch warten?» keinen Sinn. Gott selbst leidet nicht an Zeitnot, Zeitangst, Zeitstress. Er kann Unheilszeit in Heilszeit verwandeln, weil er über der Zeit steht und sich doch auf die Zeit eingelassen hat.

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Der neue Hiob, die neue Einsamkeit

Ist das Buch Hiob aktuell? Historikerinnen mögen diese Fragen nicht schätzen, denn einerseits gibt es, abgesehen von neuen Technologien, kaum etwas radikal Neues unter der Sonne; andererseits beruhen Aktualisierungen oft auf methodisch fragwürdigen «Zeitsprüngen»: Vergangenheit wird zur Gegenwart nivelliert, als wären «ewige Pro­ bleme» und gar «ewige Lösungen» in allen Epochen zu finden, die man dann ohne Rücksicht auf ihre Herkunft aus dem historischen Kontext herausreisst und in «Lebenshilfe für heute» umgiesst. ›Neu‹ und ›aktuell‹ sind längst zu Anpreisungen der Werbung verkommen. Innovationen sind meist mit Folgenlasten verbunden. Ein Schritt voran, zwei Schritte zurück: die Vorstellung eines linearen Fortschritts wird von Erfahrungen des Stillstands und von Rückschlägen durch­ kreuzt. Hiobs Erfahrungen der Schrecken Gottes spiegeln sich in verzerr­ ter Form in der modernen Literatur, sofern eine gottlose, unerlöste und unerlösbare Welt und eine tief ambivalente, meist düstere Auf­ fassung des Vaters überwiegen, bei dem es kein Heil gibt. Wo der Vater ist, will man gar nicht mehr wissen. Am besten wäre es, wenn der Übervater nirgendwo wäre, weder als positive noch als negative Realität. Die Erfahrungen der Schrecken des übermächtigen Vaters stehen im Zentrum des Romans von Jacques Chessex mit dem Titel L’Ogre (Der Kinderfresser). In der Erzählung aus der Perspektive des Sohns entfaltet sich der Übervater als Moloch auf Kosten einer Gattin, die zur Hausfrau und grauen Maus und nervösen Mutter geschrumpft ist, die ihren Kindern Kadavergehorsam und Unterwürfigkeit bis zur seelischen Verkümmerung vorlebt. Einer der Söhne, der Erzähler, ein Lateinlehrer in der französischen Schweiz, führt ein Leben als neurotischer Versager. Dieser kann seine inneren Erfahrungen und seine Sexualität mit einer Kunststudentin nicht teilen, ohne von Schuld und Eifersucht verzehrt zu werden. Der Roman beginnt mit einer Beschreibung der schambesetzten heimlichen Genugtuung des Sohnes über die Verbrennung des Leichnams des Vaters. Dieser war ein von seiner Arbeit besessener Dorfarzt und Haustyrann; sowohl

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Der neue Hiob, die neue Einsamkeit

Hiobs Gewissheit, dass von diesem Übervater das Heil komme, als auch die erlösenden Worte Gottes fehlen in diesem Roman. Es ist eine ästhetisch leuchtende, aber keine erbauliche Prosa, keine tröstliche Gutenachtgeschichte, die versöhnlich endet. Es fehlt das ewige Licht, das Hiob als Rettung in der Finsternis aufscheint. Mit grauenhafter Ausführlichkeit wird zu Beginn des Romans der Zerfall des Fleisches des Vaters und das Geschick seiner Asche beschrieben. Der Sohn besucht seine einsame Mutter nach dem Tod des Vaters und findet bei ihr Krematoriums-Zeitschriften; auch das Leben der Witwe bleibt überschattet vom Patriarchen der Familie. Der Sohn erkennt ihre Leidensgeschichte und kann seine Gefühle nicht mit der Mutter teilen. Sein Vater hatte ihm seine Jugendfreundin ausgespannt. Er umarmt beim Abschied die von Arbeit und Dulden abgemagerte Mutter zum ersten und letzten Male. Seine Abrechnung mit dem Vater besteht in einer Blasphemie: «Dieu est un salaud.» Damit bringt er seine lei­ denschaftliche Unfähigkeit, einem Gott und Herrn zu vertrauen, zum Ausdruck. Es gibt nicht nur Pathologien des Glaubens, sondern auch solche des Unglaubens. Die Erzählung ist durchsetzt von Rückblenden auf eine beengte Kindheit und missglückte Anläufe zu einem eigenen Leben; man wird nicht auf die Idee kommen, der Roman sei den Eltern gewidmet, um Vater und Mutter zu ehren. Dieser Roman verdient ganz abgesehen von seinen grossartigen literarischen und filmreifen Bildern nur schon deshalb hier Erwähnung, als jedem der vier Teile Zitate aus dem Buch Hiob vorangestellt werden, welche die Stimmung und Färbung dieses «schwarzen Romans» über eine Doppelbindung von Übervater und schmächtigem Sohn markieren. Wie im Brief Kafkas an den Vater wird beim Lesen deutlich, wie sehr das Selbstbild des Sohnes und das Selbstbild des Vaters auseinanderklaffen müssen. Dem ganzen Roman vorangestellt ist folgendes Zitat: «Warum tust du dich nicht von mir und lässest mich nicht?» (Hiob 7, 19). Der Sohn erzählt aus der Perspektive des vom alles durchdringenden Blick des thronenden Vaters am Familientisch bedrängten Kindes. Die Gegenwart des Vaters ist eine einzige Beleidigung und fortwährende Belästigung des Sohnes; seine Abwesenheit schürt Schuldgefühle ihm gegenüber. Selbst der Tod des Vaters bedeutet keine Zäsur; die sym­ bolische Macht des Vaters entfaltet sich nach dem Tod seines Leibes weiter. Dem Teil 1, «Krematorium», steht das Zitat voran: «Lass ab von mir, denn meine Tage sind eitel» (Hiob 7, 16). Die im Schatten des Vaters verbrachte Lebenszeit ist verlorene Lebenszeit; nach dem Tod des Vaters bleibt dem Sohn nur noch ein kurzes, entsagungsvolles,

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Der neue Hiob, die neue Einsamkeit

misslingendes Leben. Teil 2, «Der Geist des Dionysos», beginnt mit Hiobs Klage über seine Geburt: «Warum hat man mich auf den Schoss gesetzt? Warum bin ich mit Brüsten gesäugt?» (Hiob 3, 12). Teil 3, «Eifersucht», hebt an mit den Worten: «Sein Gebein war voller Jugendkraft, doch mit ihm bettet sie sich in den Staub.» (Hiob 20, 11) Der Tod als Rückgang in die vollendete Nichtigkeit verhindert nicht nur eine Verherrlichung des Menschen, sondern auch die Treue zum besseren und ewigen Vater im Himmel. Gott selbst verliert mit diesem irreparablen Tod sein Geschöpf. Teil 4, «Die Opferung», wird eingeleitet vom Motto, das bereits die Grunderfahrung im ersten Teil charakterisiert: «Die Verwesung heisse ich meinen Vater.» (Hiob 17, 14) In diesem Roman wird ein moderner Hiob in einer kaputten Lebenswelt dargestellt. Er schöpft nur Bestätigung seines privaten Scheiterns aus den aus dem Zusammenhang gerissenen und verfrem­ deten Zitaten eines Buches der Bibel, das ebenso unverständlich, erschütternd und abstossend erscheinen muss wie das Geschick des Anti-Helden des Romans von Chessex. * Eine Häufung von Hiobsbotschaften kann der äussere Anlass, die «neue Einsamkeit» mag ein Syndrom der Gegenwart sein, dass in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021(und 2022?) an die Oberfläche gespült und verstärkt wurde. Das «innere Exil» der Vereinsamung manifestiert sich in den Diktaten, soziale (nicht nur physische) Distanz zu halten, auf übliche Grussformen und gesellige Anlässe zu verzichten, Masken- und Hygienezwang und Quarantäne, eine Garantie von Sicherheit durch Rückzug ins Private, während draussen Geschäfte und öffentliche Räume gesperrt und möglichst alle Anreize zu Ansammlungen vermindert werden. Was im ersten Augenblick wie zur Abwehr eines gemeinsamen Feinds vereinigt, beginnt früher oder später zu polarisieren – die Pandemiezeit hat einen ungewissen Ausgang, Gewinner und Verlierer; Verbote werden wie endzeitli­ che Ermahnungen mit Durchhalteparolen mühsam aufrechterhalten, Beschränkungen und Aufrufe zur Beschleunigung der Wiederher­ stellung des status quo ante kreuzen sich. Corona-müde Menschen verharren in einer Grundform biblischer Klagen: «Wie lange noch? » Ratlosigkeit und Verbitterung verhärten sich zu Koalitionen von Querdenkern. Was zunächst als notwendige zentrale Planung und Anordnung von Oben akzeptiert wurde, wird im Verlauf der Zeit als Willkür und Ungerechtigkeit verschrien. Doch längst vor dem

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Der neue Hiob, die neue Einsamkeit

verordneten Lockdown waren Menschen im «inneren Lockdown», im Rückzug in die eigenen vier Wände oder in virtuelle Netzwerke. Dichte Beschreibungen der Phänomene dieser neuen-alten Ein­ samkeit finden sich in populären Werken der Alltags-Soziologie, an der unzählige Medien mit Interviews, Talkshows und Reportagen mitwirken. In Zeiten des Lockdowns werden ganze Bücher, Dramen, Kompositionen und Abhandlungen als Früchte der einsamen Arbeit aus Zeiten der Pandemie zum Thema «digitale Einsamkeit» veröf­ fentlicht.91 Appelle an den Gemeinsinn oder konkrete Vorschläge, wie man wieder unter Leute tritt und reale (nicht virtuelle) Beziehungen knüpft, lassen meist jene Dimension aus, die das Buch Hiob charakte­ risiert: Vom Leiden an Verlusten, an der Abwendung der Ehefrau, dem letzten Unverständnis der Freunde, gelangt Hiob zu einem Hadern mit Gottesbildern seiner Tradition, etwa dem Bild von Gott, der Gutes und Böses vergilt und den Lauf der Welt lenkt. Bis sich Gott selbst meldet, Hiob und seine Freunde verspottet und gleichwohl Hiob recht gibt: nur dieser habe recht gesprochen von ihm. Hiobs Gott zeigt sich als gemeinsamer Gott über allen Parteien, und zwar erhält Hiob den Auftrag der Fürbitte für seine Freunde, und diese erhalten den Auftrag zu opfern. Die Erfüllung besteht darin, dass Gott selbst zu Hiob und in einer kurzen Anrede auch zu dessen drei Freunden spricht und ihnen sagt, was sie tun sollen. Das mag als paradoxe Steigerung der Liebe und Zuwendung erscheinen: eine Liebe, die gebietet und verbietet. Verstärkt sie nicht die Pathologien des Unglaubens, das Leiden an Autoritäten? Doch genau in diesem Aspekt geht Gott über den Kuschel-Götzen hinaus und bietet den Menschen überdies etwas, was verständlicher und leichter ins Leben zu übersetzen ist als eine Überbelichtung des menschlichen Auges durch eine krasse Offenbarung: nämlich prakti­ sche Weisheit und Schranken, statt die «nackte Wahrheit».92 91 Vgl. Diana Kinnert: Die neue Einsamkeit und wie wir sie als Gesellschaft überwin­ den können, Hamburg: Hoffmann & Campe 2021. Die Frage, wie Gebet und Anruf Gottes die digitale Einsamkeit lindern oder sogar noch verstärken könnten, wird nur beiläufig gestreift. Gott selbst scheint sich nicht der digitalen Medien zu bedienen. Eine Mail von Gott würde vermutlich von Spam-Filtern abgefangen. 92 Vgl. Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit, Berlin: Suhrkamp 2019. Metapho­ risch gesprochen liegt die indirekte Mitteilung Gottes darin begründet, dass er sich weigert, sich uns nackt zu zeigen. Oder biblisch gesprochen: Sein unverhüllter Anblick (sein «Auge») würde uns töten (restlos überfordern). (Vgl. Ex. 33, 20–23) Anders gesagt: die nackte Wahrheit wäre trostlos.

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Gott zeigt sich nicht in einer beschreibbaren Gestalt, sondern in einer Präskription: In der präskriptiven Anweisung Gottes an Hiob liegt wohl die «Erfüllung» oder «Antwort» auf Hiob, weniger in der anschliessenden, märchenhaften Wiederherstellung, ja Bes­ serstellung Hiobs mit einer (vermutlich neuen) Frau und drei erb­ berechtigten Töchtern mit anmutigen Namen. (Hiob 42, 13–15) Die­ ser Vision einer Wiederherstellung der Familie und Verdoppelung des Vermögens geht die entscheidende Wandlung voraus, die Gott wirkt und Hiob nachvollzieht: Gott ist nicht mehr das «unsterbliche Gerücht» einer urzeitlichen und kontinuierlich-diskontinuierlichen Tradition. Gott lässt sich nicht auf die ältere und schematische Weis­ heit der Vergeltung reduzieren. Es ist ein qualitativer Sprung, ob man von Gott gehört hat oder ob man Gott selbst gehört hat. Kann man das heute noch verstehen? Hat das noch irgendeine Aktualität für heute, oder ist das eine veraltete Botschaft, gleichsam eine von vielen Stimmen, die im kosmischen und technischen Rau­ schen untergeht? Zunächst wird man an das Klischee vom Wort Gottes erinnert: Wer nur aufmerksam und mit der Hilfe des Heiligen Geistes in der Bibel liest, hört bzw. vernimmt Gottes Wort. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Kann man dieses Hören befehlen? Ist das geistige Verneh­ men auch ein sinnliches Hören? Gibt es einen «höheren Sinn» nach der Hypothese eines unsichtbaren Ohrs hinter dem physischen Ohr, gleichsam einem unsichtbaren, geheimnisvollen Organ? Jedes Wort der Bibel, so könnte man sagen, wäre für dieses Organ wie für ein per­ fektes Stimmen-Erkennungsprogramm unmittelbar und unfehlbar als Wort Gottes erkennbar... Wer von sich behauptet, das Wort Gottes unfehlbar zu hören, gibt sich wahrscheinlich einer Selbsttäuschung hin oder macht anderen etwas vor. Das Modell eines direkten sinnlichen Hörens des Wortes Gottes wird in der Tradition durch die Bedeutung der Stille und des Schweigens als Zugang zum Göttlichen eingeschränkt und kompli­ ziert.93 Schweigen und Stille werden inzwischen als Ruhepole und Mittel empfohlen, um der Allgegenwart der digitalen Medien, ihren

93 Vgl. Thomas Merton: Das Zeichen des Jonas. Tagebücher, Einsiedeln, Zürich, Köln: Benziger Verlag 1954, 202f., spricht vom vollständigen inneren Schweigen. Vgl. Klaus Berger: Schweigen. Eine Theologie der Stille, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2021.

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Bildern und Geräuschen zu entkommen.94 Der Themenkomplex von Stille und Schweigen klingt an der Stelle an, wo die Freunde in Hiobs Gegenrede dafür getadelt werden, dass sie überhaupt reden, statt (weiter) zu schweigen. «Atque utinam taceretis ut putaremini esse sapientes» (Hiob 13, 5) Wollte Gott, dass ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben. (Nach Martin Luther übersetzt.) «Stultus quoque si tacuerit sapiens putabitur et si conpresserit labia sua intelligens» (Sprichwörter 17, 28) Auch ein Tor, wenn er schwiege, würde für weise gehalten und für verständig, wenn er den Mund hielte. «Si tacuisses, philosophus mansisses.» Hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben. (nach Boethius)

Wörtlich zitiert ist es die Antwort auf einen, der mit der Frage bedrängt: «Anerkennst Du mich endlich als Philosophen?» Dieser Fragende ist compliment fishing und erhält eine böse Abfuhr. «iam tandem», inquit, «intellegis me esse philosophum?» Tum ille nimium mordaciter: «intellexeram», inquit, «si tacuisses»95 «Begreifst du nun, dass ich ein Philosoph bin?» Darauf sagte der andre bissig: «Ich hätte es begriffen, wenn du geschwiegen hättest.»

In eine ähnliche Richtung zielt das Sprichwort: «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.» Damit wenigstens der Anschein von Weisheit durch Schweigen gewahrt wird, hat Nietzsche maliziös ein «Weibssprüchlein» formu­ liert: «Schwarz Gewand und Schweigsamkeit kleidet jeglich Weib – gescheidt.»96

Die repressive Diskriminierung von Frauen wird als Redeverbot für Frauen in der Öffentlichkeit und in der Kirche ausgedrückt. Vgl. Marc de Smedt: Éloge du Silence. Édition revue et augmentée, Albin Michel 2018, 251–264. Zur Kulturphilosophie des Worts und des Schweigens vgl. Max Picard: Der Mensch und das Wort, Erlenbach- Zürich und Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag 1955; Max Picard: Die Welt des Schweigens, Erlenbach-Zürich 1948. 95 Boethius: Trost der Philosophie. Lateinisch-deutsch, mit einer Einleitung von Olof Gigon, München: dtv 1981, 83/85. 96 Fr. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 237 (Sieben Weibssprüchlein), in: KSA 5, 174. 94

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«[…] sicut in omnibus ecclesiis sanctorum /Mulieres in ecclesiis taceant non enim permittitur eis loqui sed subtitas esse sicut et lex dicit» (1 Kor. 14, 33f.) Wie in allen Gemeinden der Heiligen / sollen die Frauen schweigen in der Gemeindeversammlung; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. (Nach Martin Luther übersetzt.)

In der Dynamik der Wechselreden Hiobs und seiner Freunde, die eher einer Konfrontation von Redeblöcken als einem echten Dialog gleicht, wird Hiob zur Klage veranlasst, dass ihm niemand zuhöre. «O hätte ich einen, der mich anhört […]» (Hiob 31, 35) Der Ruf richtet sich auch gegen die Länge der Reden der anderen, die sich selbst gerne reden hören – so wie Dispute oft auch ein Streit um Redezeit sind97, wenn die Reden der Beteiligten sich wie im Buch Hiob zu Monologen auswachsen, welche die Gegenseite nicht überzeugen können, sondern eher die Borniertheit oder Eitelkeit des Dauerredners offenbar machen. Das trifft auch auf den vierten Redner Elihu ein, der gleich drei Reden hintereinander hält (Hiob 32,1–37, 24) und an den sich Gott in der Schlussrede gar nicht wenden wird. Er verschwindet, wie übrigens die erste Gattin Hiobs, aus dem Text. Dauerredner stehen seit der Kritik von Sokrates an Protagoras unter dem Sophis­ mus-Verdacht. Der Verdacht liesse sich auf das Verfassen von Büchern ausweiten, die ihre Leserschaft nicht zum Reden kommen lassen, sondern zum stummen Weiterlesen verdammen. Sollten nun die beiden Gottesreden im Buch Hiob von den Mono­ logen der Menschen qualitativ verschieden sein? Auf den ersten Blick lesen sie sich wie eine Fortsetzung der Rhetorik des Vorredners Elihu, der nach einer vermutlich späteren Redaktion Monologe akkumuliert, und der rhetorischen Poesie von Schöpfungspsalmen. Auch Hiobs Weisheitslied (Hiob 28) liesse sich Gott selbst in den Mund legen; es nimmt Gottes Selbstlob in der Antwort inhaltlich vorweg. Histo­ risch-kritisch geschult (oder verbildet), ahnt man die menschliche Redaktion hinter der angeblich direkten Rede Gottes, als wolle sich ein auktorialer Schreiber die Rolle eines göttlichen Schiedsrichters

97 Vgl. Jean-Claude Wolf: Vielstimmigkeit – eine protagoreische Rhapsodie, in: Ist der Mensch das Mass aller Dinge? Arianna 4, hrsg. von Otto Neumaier, Bibliopolis, Möhnesee, 2004, 89–108.

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anmassen. Kommt hinzu, dass das Buch Hiob Fiktion ist – inwiefern ist überhaupt noch etwas in diesem Buch real?98 Das angeblich einfache und unvermittelte Hören des Wortes Gottes ist eine Vereinfachung und Vernachlässigung von kritischen Vorbehalten gegenüber dem Verstehen von Texten in einer natürli­ chen Sprache und ihren Übersetzungen. Es stellen sich die Fragen nach der menschlichen Redaktion und der menschlichen Kunst des Verste­ hens von Texten. Der Bezug zum Text ist nicht direkt vergleichbar mit dem Bezug zur Welt. Die Arbeiten der Hermeneutik und der Philolo­ gie ziehen die Arbeit von Menschen an diesen Texten durch Redaktion und Lektüre in Betracht. Das «Wort Gottes» begegnet zunächst als Wort von Menschen in ihren jeweiligen natürlichen Sprachen. Über­ liefert, weiter strukturiert, bewahrt und bestätigt wird es als «Worte des Herrn» überdies in dogmatischen und liturgischen Zusammen­ hängen. Es sind «Gebrauchstexte» der Gemeinden und der Doktrin, aber auch Texte für «Einsame». Das Buch Hiob ist ein Identifikations­ angebot für die Erfahrung der «siebten Einsamkeit». Steigerungsfor­ men der sozialen Isolation und Verzweiflung manifestieren sich an dem «Privatmann» Hiob. Er bleibt so lange «Privatmann», als ihm nur mündliche Überlieferungen und Texte der Tradition zugänglich sind und ihm das Äusserste der Verluste und Erniedrigungen erspart bleibt, solange er nicht ein beinahe ohrenbetäubendes Donnerwort von «his master’s voice» und den Auftrag erhält», für seine feindlichen Brüder zu beten und ihnen den Auftrag zu überbringen, Gott zu opfern. Gott hilft, indem er den Gesetzen des Zusammenlebens der Menschen kultische Pflichten hinzufügt. Darüber hinaus lässt er sich von Zeit zu Zeit mit eigener Stimme vernehmen. Hiob erfährt eine spezielle Offenbarung wie ein Prophet oder König, mit einem gleichsam priesterlichen Auftrag zur Fürbitte und Ermahnung anderer verknüpft. Gott zeigt sich erkenntlich, in dem er seinen Knecht in die Pflicht nimmt, Hiob zu seinem erprobten Zeugen weiht.

98 Um dieser «Logik»: «Wenn es sich um Fiktion handelt, ist alles von Menschen gemacht und unverbindlich», zu entgehen, wird gelegentlich die historische Realität von Hiob behauptet. Vgl. Alexander vom Stein: Hiobs Botschaft, Lychen: Daniel Verlag 2017. Wahrscheinlich liegt dieser «Logik», die besagt, dass Fiktion «nicht ernsthaft» sei, die Auffassung zugrunde, dass Hiob Christus antizipiere und dass es dogmatisch nicht zulässig sei, über Christi «historische Realität» oder seinen «Schein­ leib» zu spekulieren und damit seine Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung zu einer «blossen Fiktion» zu machen.

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Menschen, welche Gottes Absichten und Gedanken nicht «hören», erhalten als Surrogat der Verlautbarung eine «ver­ ständliche Übersetzung» in mündlicher und schriftlicher Überliefe­ rung: die konkrete Pflicht, Gott zu loben und zu preisen und ihn kultisch und durch Nächstenliebe zu ehren. Hiob hat auch «vor und während der Prüfung» diese überlieferte Pflicht nicht vernachlässigt, wenn er mitten und unvermittelt aus seinen Klagen heraus das Lob Gottes singt: «Ich weiss, dass mein Erlöser lebt.» (Hiob 19, 25)

Das ist kein gewöhnlicher Satz, keine Aussage darüber, was Hiob weiss, sondern ein hebräisches Lied und eine Vorwegnahme des nachösterlichen Jubels der Christen, wie ihn Händel im Oratorium Messias vertont hat. Es ist selbst eine Preisung, ein Psalm-Wort. Gott wird nicht als Retter erkannt – es gibt hier keinen möglichen Gegen­ stand einer theoretischen Erkenntnis –, sondern er wird mit dieser performativen Rede gepriesen. Das Lob geht über eine Beschreibung oder Konstatierung hinaus: Gott straft nicht nur wie ein irdisches Gericht für begangene Sünden, sondern er «rettet» und wird dem Menschen im Hymnus seiner Gerechten zugänglicher. Er wird als jener Einzige gelobt, der etwas vermag, was kein irdisches Gericht erreichen wird: vollständige Gerechtigkeit des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung, die er selbst am Anfang als gut, sehr gut lobt. (Vgl. Gen. 1, 3) Gottes Lob der Schöpfung, seine Liebe zur Schöpfung ist dem Lob der Menschen vorangegangen. Nur wer alles, was von Gott kommt, lobt, vermag das Gute in allem zu erkennen – nicht umgekehrt! Niemand ist verpflichtet, Optimist zu sein; es gibt nur die Pflicht, Gott und Seine Schöpfung zu loben. Gottes Züchtigung ist mehr als Busse, Demütigung, Beschä­ mung und mühsame soziale Reintegration. Doch was ist sein Gericht, sein Urteil? Lässt sich darüber etwas sagen? War es vorhersehbar, dass er Hiob loben und seine Freunde99 tadeln würde? Und was wird neu, wenn er sich selbst verlauten lässt? Gibt es eine direkte Wahrnehmung der Stimme Gottes, die heilt und rettet? Ist die Stimme Gottes nicht oft zu leise, oft zu laut, um «verstanden» zu werden? Wird die direkte Perzeption der heiligen Stimme nur einigen Aus­ Das Buch Hiob fügt der antiken Auffassung von Freundschaft eine Nuance hinzu, welche tiefer in die Ambivalenz von Freunden als Tröstern und Helfern hineinblickt, als es einem ungebrochenen Lob der Freundschaft möglich scheint. Wer bewahrt uns vor unseren «Freunden»?

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erwählten zu Lebzeiten zuteil? Falls er diese exzeptionellen Erfah­ rungen einigen Wenigen gewährt, lassen sich ihre Klänge anderen (dem «Volk», allen Völkern) mitteilen? Kann man über Musik reden? Ist Gottes Musik selbst eine Art transkulturelle Botschaft? Verfällt die Mitteilung unvermeidbar zu altorientalischen Märchen-Bildern eines neuen Paradieses oder zum «Abbild» seiner Stimme in den Klängen der Kirchenglocken, der Orgel oder des Gesangs seiner Gemeinden? Wären das Surrogate oder approximative Mitteilungen von Gottes Stimme als gleichem Lohn für alle, mit oder ohne Vorleistungen? Oder sind Glaube, Vertrauen, Lob und Reue notwendige Vorausset­ zungen, damit Gott verirrte Seelen retten kann? Was geschähe mit jenen, die selbst von einem allerbarmenden und gerechten Gott nicht gerettet werden könnten? Wären sie Opfer einer Selbst-Bestrafung durch Mangel an Unrechtbewusstsein und echter Reue? Beginnt für die Verstossenen eine «neue Einsamkeit» – die Einsamkeit im siebten Untergeschoss der Unterwelt, in einer Hölle, die selbst für Gott unerreichbar bliebe? Wäre eine moderne Hölle eine «digitale Einsamkeit» mit einer Internet-Verbindung ohne reale Welt und ohne lebendiges Gegenüber? Wie dem auch sei: das Buch Hiob bleibt keine düstere Story der Vergangenheit, sondern wirkt und endet in seiner poetischen Gesamt­ redaktion als ein Trostbuch. Lob und Jubel Hiobs erschallen mitten im Leiden: «Ich weiss, dass mein Erlöser lebt», und der Hymnus wird durch ein Wunder bestätigt: Gott sagt dem Menschen Hiob, was er zu tun hat.

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Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst?

Eine Fraktion der Theologie100 setzt sich dafür ein, dass Gott selbst nicht zum Bösen verführe, nicht für Versuchung bzw. Anfechtung verantwortlich sei. Dafür hat Gott «einen Mann fürs Grobe»: Satan. Während es Versuchungen zu vielen vermeintlichen Gütern oder bösen Handlungen gibt, gäbe es nur eine spezifische Anfechtung101: die Schwächung oder Zerstörung des Vertrauens in den Schöpfer. Gott selber könne es nicht sein, der ein solches Misstrauen vorantreibe; ein Gottesbild102, wonach Gott gut und böse und damit ähnlich korrupt wie die Menschen nach dem Sündenfall wäre, denen das Gute und das Böse aus dem eigenen Herzen aufsteigt, beruht auf einer Projektion, einem Missverständnis, einer Neigung, von sich weg auf einen Sündenbock zu sehen. Gott ist Ursache des Bösen, aber nicht böse (weder moralisch noch im Sinne der Sünde). Wie liesse sich zu einem Herrn beten, der zugleich heilt und verdirbt!103 Der Vertrauensverlust resultiert nicht aus einer Ambivalenz Gottes, sondern ist selbstgemacht; der Mensch löst das Misstrauen gegenüber Gottes Güte und Fürsorge aus, statt ihm nach der Überlieferung und Gottes Verheissungen unbedingt zu vertrauen. Geht dieses Ver­ trauen verloren, ist alles verloren. Der Mensch kann Gott und die Schöpfung nur noch mala fide betrachten; er ist von der «Schule des Verdachts» angekränkelt, kommt nicht mehr aus der Spirale

100 Zur Debatte vgl. Jean-Claude Wolf: Philosophie des Gebets. Gebetsscham und Langeweile in der Moderne, Münster: Aschendorff Verlag 2020, 76; Thomas Söding (Hrsg.): «Führe uns nicht in Versuchung.» Das Vaterunser in der Diskussion, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2018. 101 Vgl. Karl Barth: Einführung in die evangelische Theologie. Text und Anmerkungen. Hrsg. von Matthias Käser, Magdalene L. Frettlöh und Dominik von Allmen-Mäder, Zürich: TVZ 2021, 207–226 [Anfechtung]. 102 Auf Deutungen von Gen. 1, 26f., wonach Gott den Menschen nach seinem Bild schuf, soll hier nicht eingegangen werden. 103 Vgl. die Uneinigkeit zwischen C.G. Jung und Martin Buber in: M. Buber: Gottes­ finsternis. Mit einer Entgegnung von C.G. Jung, Gerlingen: Lambert und Schneider, 2. Aufl. 1994.

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Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst?

der Anschuldigungen, Klagen und Resignation heraus. Könnte man weiterleben, wenn man niemandem, nur noch sich selbst oder am Ende nicht einmal sich selbst mehr traute? Woher käme Beständig­ keit, Zuverlässigkeit, Festigkeit im Standhalten gegen äussere Feinde und innere Stimmungsschwankungen? Wie lebt es sich mit einem fundamental beschädigten Selbst-Vertrauen? Geht mit dem Verlust des Vertrauens in Gott auch das Selbstvertrauen verloren?104 Der «Versucher» als Satan ist eine zwischen den Menschen und Gott geschaltete Vermittlerfigur, von Gott geduldet oder wie ein Hausverwalter angestellt, der auch gewisse Kontrollaufgaben übernimmt. Anfechtung geht – mythologisch oder dämonologisch gesprochen – vom Teufel aus oder ergibt sich aus einer Verwechslung der Stimmen von Dämonen mit der Stimme Gottes. So stellt es die Mythologie des Bösen dar.105 So spricht die eine Fraktion; die andere erwidert: Anfechtung geht, ohne Mythologie gesprochen, von Gott aus, sie liegt, abstraktbegrifflich verstanden, im (Miss-)Verhältnis von Zeit und Ewigkeit begründet. Anfechtung entsteht unvermeidlich aus dem Missverhält­ nis von Zeit und Ewigkeit und manifestiert sich in den Phänomenen von Ungeduld, Gier, verschärfter Konkurrenz, Todesangst usw. Diese Ausdeutung des Spannungsverhältnisses von Zeit und Ewigkeit ist jedenfalls ein Versuch einer nicht-mythologischen und nicht-allego­ rischen Deutung. Sie verdeutlicht als abstraktes Modell und Alterna­ tive zu den Bildern von Satan und Dämon, dass es grundsätzlich unmöglich ist, von uns her, d.h. aus der zeitlichen Perspektive, Gott zu verstehen; von ihm her muss die erste Anrede ausgehen: Gottes Denkbarkeit gründet in Gottes Zuspruch, seiner Offenbarung. Anfechtung wäre so betrachtet weniger das ausschliessliche Pro­ dukt einer bösen Absicht, als vielmehr eine Mischung von Bosheit, 104 Diese Fragestellung spielt auch im bekannten Essay von R.W. Emerson (Self-Reliance, 1841) eine Rolle, obwohl der Text hauptsächlich als eine naturpan­ theistische «Souveränitätserklärung des nonkonformistischen amerikanischen Geis­ tes» rezipiert wurde. Im selben Text steht auch der Satz: «When a man lives with God, his voice shall be as sweet as the murmur of the brook and the rustle of the corn.« (The Portable Emerson. Ed. by Carl Bode, Penguin Books, 1981, 152.). 105 Vgl. Gustav Roskoff: Geschichte des Teufels (1869). Hrsg. von Abraham Melzer, Köln: Parkland Verlag 2004, 170–180 (Der Satan im AT); Francesca Yardent Albertini: Hiob 2.1 – 7a. Aspekte zur «Wette» zwischen Gott und dem Satan in der jüdischen Philosophie des Mittealters, in: Johann Ev. Hafner / Patrick Diemling (Hg.): Die Kommunikation Satans. Einflüsterungen, Gespräche, Briefe des Bösen, Frankfurt a.M.: Verlag Otto Lembeck 2010, 49–63.

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Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst?

Egoismus und Unfähigkeit, das Risiko eines fundamentalen Missver­ ständnisses aus eigener Kraft zu überwinden. Die Anfechtung geht wie die erste Anrede (die Offenbarung) vom Ewigen aus, wird von Satan ausgeführt und vom Menschen im Wunsch gespiegelt, dem Ewigen zu entkommen, es hinter uns zu lassen, gottlos zu sein. Das Motiv der Gottesflucht im Wunsch, nicht geboren zu sein, und die ver­ störende Wirkung der Echtheitsprobe sind korrelativ. Hiobs Freiheit bleibt, wie vor allem die jüdische Deutung der Wette unterstreicht, bestehen, sonst hätte die Prüfung keinen Sinn. Doch die Prüfung ist unangekündigt und unerklärt und bleibt unbegreiflich. Der Schock der Theophanie in den abschliessenden Gottesreden wird durch die Gesetze und Verheissungen gemildert, mit denen dem Menschen von Gott gesagt ist, was er zu tun habe und was er hoffen darf. In der so begründeten Hoffnung wächst die Kraft zur Überwindung der Anfechtung.106 Glaubens- und Vertrauensverlust können als Befreiung von Wahnvorstellungen und Zwängen begrüsst werden; es bleibt jedoch ein Rest von Bedauern oder «Fehl Gottes», ähnlich wie das Bedauern über den Verlust von kindlicher Naivität bei mir selbst oder meinen Kindern. Nach der Vertreibung aus dem Paradies beginnt das Marty­ rium der Reflexion. Für Anfechtung braucht es eine Anfälligkeit, und diese liegt im Wesen des zeitlich begrenzten Menschen und dessen Vorbehalten gegen einen Gott, der sich nicht nach menschlichen Massstäben verhält, der umgekehrt mich nach seinem Bild geschaffen und gültiges Recht mitgeteilt hat. Satan ist auch eine vorgeschobene Figur zur Veranschaulichung dessen, dass Gott die Übel und das Böse zulässt, solange er das Leben und die Freiheit der Menschen nicht zurücknimmt. Wenn alles von Gott geschaffen ist, dann auch dieses Phantom des Teufels. Satan könnte nichts bewirken, wenn die Menschen nicht die Disposition hätten, seinen Einflüsterungen oder Empfehlung zu erliegen. Wer verführungsresistent wäre, gliche eher einem Stück Holz als einem Menschen aus Fleisch und Blut. Und wer wie Hiob durch die Hölle schwerer Anfechtungen hindurchmuss und gleichwohl Gott als «sei­ nen Retter» lobt, geht bewährt und geläutert aus dem Leiden hervor. So mögen unzählige Kommentare und Predigten den verwirren­ den Sachverhalt deuten (oder überspielen), dass Gott die Sünde, selbst 106

Vgl. Karl Barth, a.a.O., 227–246.

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Anfechtung – von Satan oder von Gott selbst?

die möglicherweise unverzeihliche Sünde gegen den Heiligen Geist zulässt, ja sogar vorhersieht, wenn er wie der Gott der Philosophen oder Gott als Allwissender alles weiss. Gott handelt wie eine schwache, aber legale Polizei: er gebietet, verbietet, ermahnt, aber handelt nicht präventiv, verhütet die Sünden der Menschen nicht. Doch auch hier geht es um Zeit: er zaudert, greift nicht sofort ein. So kommt es uns vor, weil wir eine begrenzte Lebenszeit haben. Tatsache ist, dass sich die menschliche Vernunft hier in Wider­ sprüche verwickelt und lieber aus den labyrinthischen Erzählungen, Bildern und Gebeten der Religion ganz heraustreten möchte. Die Vernunft will den Mythos durch den Logos ersetzen – doch Mythen wachsen nach, erstrecken sich bis in die Mythen des Alltags und des Aberglaubens. Die Vernunft gebiert Gespenster, die sich im Wunsch des Menschen äussern, das Böse in der Welt auszurotten, den Körper zu steigern oder, wenn es nicht mehr gelingt, ganz zu verlassen und ein neues Leben ohne Körper oder mit einer neuen «Hardware» zu beginnen. Eine selbstkritische Religionsphilosophie dagegen ver­ steigt sich nicht zur Ingenieurs-Wissenschaft, konstruiert keine neue Hardware für das Überleben einer alten Software in einem neuen Gehäuse, um Menschen ein immer längeres Leben zu gewähren, sondern sie hat den Status eines Kompromisses der Vernunft mit der Unvernunft. Sie reflektiert das Verhalten Hiobs, der sich in das hymnische Lob Gottes rettet, in die Rede des Gebets wechselt, sich Ihm ausliefert, statt vor den Mächtigen und Wortgewaltigen der Welt zu katzbuckeln.107

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Vgl. Karl Barth, a.a.O., 247–261 [Gebet].

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Fabeln ohne Tiere

Die Erwähnung der Seeungeheuer im Buch Hiob verweist auf die Gattungsform der Fabel. Auch die Fabeldichter Aesop, Jean de La Fontaine u.a. haben nicht nur Tierfabeln verfasst, sondern auch Fabeln ohne Tiere. Genau genommen sind alle Fabeln Stories oder Gedichte ohne Tiere.108 Tiere kommen in Fabeln so wenig vor wie an einem Maskenball. So kommen auch im Schöpfungsbericht, in Schöpfungspsalmen und im Buch Hiob zwar Tiernamen, aber keine Tiere vor. Tiere sind allenfalls gemeint bei der Gesetzgebung in Bezug auf Nutz- und Opfertiere. Sonst sind Tiere nicht anwesend; sie sind «Kreaturen», «Geschöpfe» und anthropomorphe Projektionsflä­ chen. Erwähnungen und Beschreibungen von Tieren stehen im Dienst der Anthropologie oder des Schöpfungslobes. Gemessen am empi­ risch und experimentell kontrollierten Tierwissen der modernen Ethologie kommen Tiere in Antike und Mittelalter nicht vor, son­ dern nur Tiernamen und Assoziationen aus Phantasien und meist ungenauer Beobachtung. Sie dienen der Unterhaltung und Erbauung. Nicht alle Fabeln sind Tierfabeln, und in den Tierfabeln geht es nicht um Tiere (im Sinne der modernen Ethologie), sondern um Mas­ ken und Moral für Menschen. Es gibt ein wesentliches Desinteresse der Fabel am Tier; weder geht es der Fabel um das empirische Studium von Tieren, noch um ein Fabula docet für Tiere, und schon gar nicht um «Tierschutz» aus der Vergangenheit, sondern um den Menschen in zeitlosen und didaktischen Typologien. Das «Fabulieren», das Tie­ ren Rede, Charakter und Handlung verleiht, ist nichts als Einkleidung und Projektionsfläche zur indirekten Mitteilung unter Menschen; die direkte Mitteilung steht in der abschliessenden Pointe, der «Moral von der Geschichte». Zeitlos mögen einige Typen und Charaktere 108 Bezeichnend für Fabel ist «das Schweben zwischen Anschaulichkeit und Abstrak­ tion»; die Fabel eröffnet einen Bühnenraum, auf dem Tiere als Tiere nicht vorkom­ men. Vgl. Klaus Doderer: Fabeln. Formen, Figuren, Lehren, München: dtv 1977, 32, 41. «Bei der Besinnung auf die Struktur dieser Fabel muss ich daran erinnern, dass stillschweigend seither zwar von Tieren gesprochen wurde, aber Tiere nicht gemeint waren.» (23).

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Fabeln ohne Tiere

erscheinen; als zeitbedingt erscheinen nachträglich manche morali­ schen oder erbaulichen Pointen. Im Gegensatz zur Tierfabel ist eine Literatur, in der das Tier als Tier zur Sprache kommt. Im folgenden Fisch-Gedicht wird ein Versuch gemacht, einen Fisch als Fisch, nicht als Allegorie oder Gleichnis für etwas anderes darzustellen. Es ist moderne Lyrik ohne Moral. Es gibt in der Gegenwart Tierlyrik mit radikaler Absage an moralische Pointen, Tiere aus einer Natur ohne Vermenschli­ chung, wie im Band «Tiere wissen nicht Bescheid» von Sebastian Unger.109 In Gedichten «ohne Moral» wird die Tendenz zur anthro­ pomorphen Projektion zurückgenommen, die Natur «an sich selbst betrachtet» zerstört falsche Bilder und allegorische Verschleierungen. Eine radikale Abweichung von der Vermenschlichung von Tieren findet man im folgenden Gedicht: Zusehen müssen, wie Dinge tauschen untereinander, was eigentlich ihm gehört die Seeoberfläche die sich beim plötzlichen Aufblitzen der Idee eines grossen Lebens im Fisch verflüchtigt um selbst tatenlos zu verstreichen bleibt nur die Möglichkeit an der Schnittstelle die sich mit Wasser vollsaugt.

Das Gedicht von Sebastian Unger aus dem zitierten Band ist die Num­ mer 4 aus einem Zyklus mit dem Titel «Lenz (aufgelöst wandern)». Es gibt eine Gelöstheit im Wandern als Metapher des Gedankengangs; die reine Gedankenarbeit sucht keine Realisierung in einem «Werk», wird jedoch nachträglich zur Augenblicksmetapher im Gedicht ver­ arbeitet. Geheimnisvoll scheint die Referenz «ihm» in der zweiten Zeile «was eigentlich ihm gehört». Wem gehört die Idee eines grossen Lebens? Wem gehört die Seeoberfläche? Wem gehört der Fisch? Wem gehört das Aufblitzen, die Idee, die sich «im Fisch verflüchtigt»? Steht hier der Fisch symbolisch oder emblematisch für etwas ande­ res als den Fisch? Wahrscheinlich nicht. Er IST der Fisch, der sich verflüchtigt, mit dem sich der Augenblick tatenlos verflüchtigt, den nur das Gedicht «festhält» und in eine Abstraktion «übersetzt»: die Möglichkeit an der Schnittstelle, die sich mit Wasser vollsaugt, die Möglichkeit eines Wesens, das unter Wasser atmen kann, während es an der Wasseroberfläche nicht Luft atmen (Luft schnappen) könnte. 109

Sebastian Unger: Tiere wissen nicht Bescheid, Matthes & Seitz, Berlin 2018.

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Fabeln ohne Tiere

Der Fisch ist kein Objekt der Beschreibung, sondern ein Fisch-Ereig­ nis. Das kurze Fisch-Ereignis wäre nicht eines der Säugetiere der Meere (wie Wale), sondern die Möglichkeit eines Übergangs vom Kiemen-Atmen zum Lungenatmen, oder eine Zwischenzone, in der sich ein Wesen atmend oder erstickend aufhält. Zurück zu den klassischen Fabeln, zu zwei Beispielen von Fabeln ohne Tiere. Der Fabelfreund ist nicht per se ein Tierfreund, Fabeltiere (ob halb-realistisch oder völlig phantastisch oder wie der Leviathan ein monströses Hybrid von Krokodil und Walfisch) sind nur Men­ schen (Typen, Charaktere, Dämonen) hinter Tierlarven. Das mythisch überhöhte Untier wird gar zur Trumpfkarte in Gottes Rede an Hiob. (Vgl. Hiob 41) Die Transposition von Menschen oder Naturkräften in Tiere erlaubt Distanz, Sarkasmus, Korrektur der Arroganz von Menschen, sofern sie sich über Tiere schlechthin erhaben fühlen, oder den Triumpf des Schöpfers über seine Geschöpfe. Der gleichsam zoologische Blick auf das gesellschaftliche Leben verleiht den Illustra­ tionen von Grandville ihren Biss und der Gottesrede an Hiob ihre symbolische Gewalt. Nach Herman Melvilles «Moby Dick»110 sind die vielfachen Abbildungen des biblischen Leviathans verzerrte Bilddarstellungen des Walfisches, Produkte eines ungenauen Hinsehens auf das Unge­ heuerliche. Leider verdankt sich eine genauere Beschreibung und Klassifizierung dieser Meersäuger nicht dem spirituellen, sondern dem materiellen Interesse der brutalen industriellen Ausbeutung, dem ungeheuerlichen Massaker und Unrecht an unseren nächsten Verwandten im Tierreich der Ozeane. Die Kriegszüge gegen Wale und Fische werden von abenteuerlustigen und geldgierigen Männern geplant und ausgeführt, die keine Skrupel kennen. Die literarische Gestaltung und Verklärung ändert nichts daran, dass Wale wie Schiffe zwar Namen tragen und personifiziert werden, doch nur Staffage sind für menschliche Seelendramen. Der melancholische Machismo kulminiert im «Sultanismus» des Kapitäns Ahab.111 Dieser macht in der Folge einer früheren Verletzung durch einen Wal, die zur Amputation eines Beines führte, das absurde und selbstzerstörerische Unternehmen des Walfangs, das auch andere Männer ins Verderben führt, zur Privatfehde gegen den zum persönlichen Feind erklärten Vgl. Herman Melville: Moby-Dick, oder: Der Wal. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Mit Illustrationen von Raymond Bishop und einem Nachwort von Alexander Pechmann, Salzburg und Wien: Jung und Jung 2016. 111 Moby Dick, a.a.O., 218. 110

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Wal. Doch damit wird der Wal nicht als Person mit einem eigenen moralischen Status respektiert, nicht im Sinne des Respekts vor vergleichbaren Interessen und Rechten. Es ist diese Atmosphäre von Männerehre und Männerromantik, die es empfindsamen Leserinnen und Lesern erschwert, diesen Roman zu Ende zu lesen, obwohl es sich um Fiktion von literarischem Weltrang handelt. Der Sinn für die Leiden der Kreatur geht wie bei den Stierkämpfen im zuweilen kit­ schigen Schwulst von Traditionen, Ritualen und Symbolen verloren. Empathie mit den Leiden der Tiere wird ausgeschaltet. Der Walfang wird, ähnlich wie die Seefahrt und die Bewohner der Südseeinseln in den Romanen von Joseph Conrad, in Melvilles Meisterwerk zum Requisit für ein Drama menschlicher Beziehungen und Konflikte, umgeben von einer unzähmbaren Natur. Auch hier kommen Tiere reichlich vor, doch sie werden zu Projektionsflächen menschlicher Begriffe und Affekte; im Wesentlichen geht es um Ehre und Abenteuer von Männern. Entgegen dem Titel und den vielfachen gelehrten Exkursen, in dem der Wal als «Held» und Objekt der Neugier firmiert, geht es um menschliche Ehre, Loyalität und Wahnsinn. Wahre Freunde sind selten, selten wie wahre Freunde von Tieren. Dabei ginge es weniger um affektive Liebe zu Tieren, sondern um tätige Liebe, mit der sich Menschen für Tiere, um der Tiere willen, einsetzen, auch wenn ihr Herz nicht vollkommen rein ist. Sie finden sich weniger unter den Bauern, Jägern, sentimentalen Hunde- und Katzenhaltern, sondern vielmehr dort, wo Menschen Tiere ohne Profitinteressen von Ausbeutung oder Verwahrlosung schützen und retten. Es sind Menschen, die Zeit und Ressourcen für Tiere (und nicht nur für «ihre» Tiere) opfern und auf Nutzung der Tiere als Ressourcen so weitgehend als möglich verzichten. Sie entwickeln eine tiefsitzende Skepsis gegen die kulturellen Selbstverständlich­ keiten der Nutzung, Vermarktung und Vernachlässigung von nichtmenschlichen Lebewesen. Wahre Tierliebe (Zoophilie) bleibt nicht bei Gleichnissen mit Tieren stehen, sondern steigt zu nicht-menschlichen Lebewesen wie ein hilfreiches Lebewesen hinab, ohne an menschli­ chem «Eigentum» und vermeintlichen Privilegien der Spezies homo sapiens festzuhalten, so wie Gott in Jesus zu den Menschen herab­ steigt und den Menschen ein hilfreicher Mensch wird.112 Es handelt Vgl. Hebr. 2, 5–18; Philipper 2. Zur kenotischen Struktur einer Tierethik vgl. Jean-Claude Wolf: Humanismus oder warum wir keine Tiere sind. Überlegungen im Ausgang von Wladimir Solowjew, in: TIERethik. Zeitschrift für Mensch-Tier-Beziehung

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sich um wertschätzende, nicht verächtliche «Herablassung», ähnlich wie sich Erwachsene in die Präferenzen von Kindern einfühlen und zu Gefährten und Begleiterinnen der Kinder werden. Tierschützer und Tierbefreier (Männer und Frauen) kümmern sich um Tiere. Sie geben fast alles weg für Tiere, nicht nur für die «eigenen». Sie werden im Akt der Kenosis (des Hinabsteigens) selbst in hilfreiche Tiere oder Genos­ sen von Tieren verwandelt, wie Jesus zum hilfreichen Menschen wurde, ohne dass es ihm gedankt oder positiv vergolten wird. In den Augen ihrer hämischen Mitmenschen werden Zoophile als «Tiernar­ ren» oder häretische Anhänger eines Tierkultes verurteilt. Sie wollen den Tieren dienen, statt sich von ihnen bedienen zu lassen. Auch die meisten der von ihnen geschützten und umsorgten Tiere erweisen ihren Rettern oder Helfern keine Wohltaten der Dankbarkeit. Der wahre Tierfreund (wenn es ihn gibt, und er nicht wiederum nur Erfindung franziskanischer Legenden ist) ist der wahre Asket, der sich weder an Güter (gute Dinge), noch an Menschen und an Tiere, noch an Götter bindet. Er «verzichtet» in den Worten von Simone Weil selbst auf die «Tröstungen der Religion».113 Wer nur das Eine will, nämlich das Gute, heftet sich nicht an gute Dinge. Simone Weil unterscheidet ähnlich wie Platon, Iris Murdoch und George Edward Moore in den «Principia Ethica» zwischen dem Guten (the Good), der Bedeutung von ›gut‹ und guten Dingen (good things).114 Der Oppo­ sitionsbegriff zu «Haftung» (attachement) ist «Loslösung» (détache­ ment). Simone Weil verweist in diesem Zusammenhang auf die Fabel «L’avar qui a perdu son trésor» nach der Sammlung von Jean de La Fontaine, viertes Buch, Fabel 20. Etwas weiter vorne steht 7. Jg. 1. Heft 10, 2015, 25–38. Die Tierethik seit Peter Singer bekräftigt, dass nichtmenschliche Lebewesen nicht eine homogene Klasse von «Tieren» sind. «Tiere» (als Sterotyp) sind nicht reale Tiere! Ich gehe einen Schritt weiter und erläutere, inwiefern Menschen zwar moralfähige Lebewesen und ebenfalls keine «Tiere» sind. Diese Über­ legungen bringen Hypothesen zu einer «natürlichen Gleichheit aller Menschen» [= Superiorität aller Menschen über alle andren Lebewesen] ins Wanken und sind deshalb heftig umstritten. 113 Simone Weil: La pesanteur et la grâce, Paris: Librairie Plon 1948 / Schwerkraft und Gnade. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Neu herausgegeben von Charlotte Bohn und mit einem Essay von Franz Witzel, Berlin: Matthes & Seitz 2021. [Eine posthume Auswahl von Texten, die 1940 entstanden]. 114 Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, a.a.O., 20, 111: G.E. Moore: Principia Ethica [OA 1903]. Revised edition. With the Preface to the Second Edition and other papers. Edited with an introduction by Thomas Baldwin, Cambridge: UP 1993.

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die Fabel 17 «Paroles de Socrates».115 Beides sind Fabeln ohne Tiere. Wichtige Gedanken verbinden die beiden scheinbar so verschiede­ nen Fabeln vom Geizigen und von Sokrates. Die «Moral» der Fabel von Sokrates besagt, dass wahre Freunde selten sind, insbesondere unter jenen «Freunden» des Sokrates, die ihm ein grösseres Haus scheinbar selbstlos gönnen würden. Die falschen Freunde sind als Altruisten «verkleidet». Sie schmeicheln und raten ihm zu einem Prestigebau, der seiner «Bedeutung entspreche», von dem sie, das ist ihr Hintergedanke, als Gäste und Parasiten profitieren werden. So wird mancher dazu gedrängt, auf hohem Fuss oder über seine Verhältnisse zu leben, um die Wünsche anderer zu befriedigen. Sokra­ tes ist der stoische Typus des Menschen, der solchen Versuchungen widersteht, sie nicht einmal an sich herankommen lässt. Diese beiden Fabeln «fabeln» nicht, sind weniger dem Märchen verwandt als typische Tierfabeln, in denen Tiere reden und handeln. Kierkegaard wertete im Schöpfungsbericht, den er sonst als «Wahr­ heit» betrachtet, nicht als Allegorie, die Episode von der Schlange im Paradies als blosse Fabel ab.116 Sprechende Tiere, so lautet das Argument, sind Phantasieprodukte oder entstammen einer archai­ schen Dämonisierung der Natur. Diese Abwertung ist vielleicht ein Abwehrreflex gegen eine gnostische Aufwertung der Schlange als Christus, der es besser meint mit den Menschen als der (böse) Demi­ urg. Der Preis einer solchen «Erklärung» des Bösen ist der Dualismus zweier Gottheiten. Wie dem auch sei: Niemand weiss so genau, wer oder was hinter der Larve der Schlange steckt. Könnte es sogar Gott selbst sein? Letztlich geht es um eine gewisse Aporie der Frage, woher das Böse stammt. Dem Buch Hiob kommt eine zentrale Stellung zu: es wirbelt Fragen der sog. Theodizee (Woher kommt das Böse? Warum müssen Gerechte leiden?) auf, doch es schlägt keine «wissenschaftli­ che» Lösung vor. Das Rätsel des Bösen könnte sich als das Rätsel der Zwiebel erweisen: beim Schälen der Zwiebel stossen wir auf Blätter über Blättern und keinen Kern. So könnte auch das Böse keine «Sub­ stanz» haben, die Frage nach der Ursache zu einem regressus ad Vgl. Jean de la Fontaine: Sämtliche Fabeln. Französisch und Deutsch. Mit den Illustrationen von Grandville, München: Winkler Weltliteratur, 2. Aufl. 1989, Viertes Buch, Fabeln 17 und 20. 116 Vgl. Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst (OA 1844), Erstes Kapitel, § 6. Übersetzt von Emanuel Hirsch, Simmerath: Grevenberg Verlag 2003, 46. 115

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infinitum führen, das vermeintlich substantielle Böse sich als blosse privatio boni (Augustinus) erweisen: ein «Raub am Guten». Nach Simone Weil ist das Böse die innere Leere, die ich nicht aushalte.117 Adam und Eva, so könnte man ihren Gedanken weiterspinnen, hielten die eigene Leere (Langeweile!) oder Entspannung nicht aus, wie Liebespaare, die nach dem Geschlechtsakt stumm rauchen oder sich streiten; sie müssen das Idyll zerstören, um nicht vor Langeweile zu sterben. Menschen halten ein ungetrübtes Glück, einen völlig unbewölkten Himmel nicht lange aus. Auch halten sie ihr zum Teil selbstverursachtes Unglück vorschnell für einen hinreichenden Grund, Gott zu verfluchen. Hilft die Meditation über Hiob als Übung im Aushalten der eigenen Leere? Stelle Dir alles Unglück der Welt als Unglück vor, das Dich wie eine ansteckende Krankheit befällt – bist Du jetzt befreit (détaché) von der Verhaftung (man beachte den Doppelsinn im deutschen Wort von «Haft» und «Anhaften», das französisch «atta­ chement» heisst) an die Welt? Genügt ein Training der schwärzesten Imagination, das volle Repertoire des poète maudit, oder bedarf es zur Loslösung von der Welt der Wucht realer Schicksalsschläge? Oder muss ich tatenlos auf die ultimative Ernüchterung warten, ohne mich auf eine «Prüfung» vorzubereiten? Naht das Ende als nächtliches Klopfen an der Haustüre, als wäre es ein Überfallkommando, das mich aus der Wohnung zerren und dorthin bringen wird, von wo niemand zurückkehrt? Aus einem Übermass morbider Phantasie? Warum bin ich nicht immun gegen das Umschlagen der Stimmung, den Einbruch der grossen Panik? Warum hat sich Hiobs erste Gattin nicht als HIOBA bewährt? Verdrängte Gewalt in der Geschichte richtet sich gegen Sklaven, Kinder, Frauen und Tiere. Die Fabel ohne Tiere bestätigt die Vermu­ tung, dass in einer langen Geschichte der Gewalt gegen Tiere Gewalt (als Leidenszufügung und Tötung von Tieren) nicht als Unrecht wahrgenommen wird. Tiere sind das Paradigma der «stummen Krea­ tur» und damit der sprachlosen Opfer. Tiere werden in der allegori­ schen Darstellung nicht als Tiere wahrgenommen. Sie erscheinen im biblischen Kontext als Bestandteile einer schönen und schrecklichen Schöpfung oder als rätselhafte Monster. Das passt zu Girards These, dass Opfer zumeist nicht als Opfer dargestellt werden. Die kritische Diagnose des Fehlens der Tiere im Bestiarium der Mythen und Reli­ 117

Vgl. Weil: Schwerkraft und Gnade, a.a.O., 11–18.

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gionen richtet sich aber auch gegen die partielle Blindheit der Bibel und Girards bezüglich des Unrechts und der Grausamkeit gegen Tiere.

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Nach Nietzsche enthält das Christentum (dieser «Platonismus fürs Volk»118) falsche Psychologie. Das ist eine vielfach variierte Vermu­ tung, die nachdenklich stimmt, wenn man sie nicht blind verwirft. An der Medizin der Antike orientieren wir uns heute nicht mehr. Können wir uns noch an die veraltete Psychologie der Bibel halten? Eine Antwort auf diese Frage kann nicht pauschal ausfal­ len. «Prüfet alles, das Gute behaltet.» (1 Thess. 5, 21) Wie steht es nun mit der Idee einer Prüfung Hiobs? Eine allzu menschliche Auffassung von Prüfung besagt, dass eines Menschen wahres Wesen sich erst dann zeige, wenn er auf die Folter gespannt wird. Dieser fürchterliche Irrtum, der Wahrheitssuche durch Erpressung erzwingen will, liegt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ideologie der Folter als Medium der Wahrheitssuche zugrunde; er findet sich modellhaft im Buch Hiob, das nach langen mündlichen Überlieferungen von einem unbekannten Menschen kunstvoll redigiert wurde, nämlich derart, dass Hiob an Seele und Leib mit Plagen und Anfechtungen gefoltert und als rein oder unrein befunden werden soll. Satan erhält von Gott die Lizenz zur Folter; nur das Leben des Gefolterten soll verschont werden, denn ein vorschneller Tod könnte die Folter abkürzen, und Gott behält sich gegen Satan das Recht über Leben und Tod vor. Die vorsätzlich zugefügte bzw. «von oben» autorisierte Qualfolter zur Echtheitsprüfung des Herzens ist eine nur den Meuten im Tierund Menschenreich entsprungene und unmenschliche Methode, und Gott, der doch mühelos in die Herzen der Menschen sieht und seine Geschöpfe besser kennt, als sie sich selbst kennen, hätte einen derart leidvollen Umweg nicht nötig. Auch müsste er in seiner höchsten Weisheit kaum vor Satan (diesem die Erde durchstreifenden Spitzel des Himmels) Hiobs Ehre verteidigen, um seine eigene Ehre zu wahren. Wäre Gottes Ehre (die fernhin leuchtende, das Dunkel durch­ dringende, la Gloire de Dieu) unentwirrbar mit der Ehre und dem Lob seiner Geschöpfe verknüpft? Muss Hiob leuchten, damit Gott 118

Fr. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse [OA 1886], in: KSA 5, 12 [Vorrede].

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nicht verblasst? Will dieser souveräne Gott nicht zwischen Selbstlob und Lob seiner Schöpfung unterscheiden? Genügt ihm sein Selbstlob nicht? Oder lässt sich der erzählte Gott zu sehr auf die Zeit ein, unterwirft Er sich der Zeit, macht sich zum Knecht der ewigen Liebe in der Zeit, zum mit-leidenden Dulder und Prüfer, der neue Massstäbe der Hingabe und des Verzeihens setzt? Wer diese Zusammenhänge zu «begreifen» meint, macht sich etwas vor. Philosoph wäre geblieben, wer dazu geschwiegen hätte. (Vgl. Hiob 13, 5) «[…] das Schweigen ehrt die Bekümmerung und ehrt den Bekümmer­ ten, wie Hiobs Freunde, da sie aus Ehrerbietung schweigend bei dem Leidenden sassen und ihn in Ehren hielten. [Vgl. Hiob 2, 13] Und doch, sie sahen ihn an! Dass aber ein Mensch den anderen ansieht, schliesst wieder einen Vergleich ein. Die schweigenden Freunde verglichen Hiob nicht mit sich selbst, das geschah erst, als sie die Ehre (in der sie schweigend ihn hielten) und das Schweigen brachen, um den Leidenden mit Reden zu überfallen […]»119

Es ist eine mögliche kritische Deutung, die im Buch Hiob inszenierte Prüfung als Machwerk der menschlichen Phantasie zu entlarven, die eines Gottes der höchsten Weisheit unwürdig wäre. So betrachtet ist die Idee, dass Hiob zwar nicht unschuldig bestraft, aber geprüft werde, nicht wirklich tragfähig. Wieder einmal scheitert der Verstand, der Gottes Absichten «begreifen» will (im Sinne von Hegels spekulativer Philosophie), an sich selbst und seinen falschen Ambitionen. Es wäre sogar niedrig von Gott gedacht, wenn man glaubte, er müsse an Hiob dessen und seine eigene Ehre prüfen und bewähren, ähnlich erbärm­ lich wie die Überzeugung, man könnte Gott selbst beleidigen. Im Islam wird Allah (gepriesen sei sein Name) als über Beleidigungen erhaben gedacht; umso empfindlicher werden Beleidigungen seines Propheten empfunden und geahndet. Spinozas Gott ist weder durch Beleidigungen, noch durch das Gebet erreichbar. Daran sieht man jedoch, dass das Denken der Frühaufklärung in seinem radikalen Kampf gegen eine anthropomorphe, «inadäquate» Idee Gottes zu weit geht, so dass die Rolle des Gebets für die Gott-Mensch-Bezie­ hung völlig irrelevant wird. Gefragt ist hier eine «Demütigung» des 119 Søren Kierkegaard: Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1947. Übersetzt von Hayo Gerdes, Simmerath: Grevenberg Verlag 2004, 168f. [Zweite Abteilung: Was man lernt von den Lilien auf dem Felde und den Vögeln des Himmels. Drei Reden. Erste Rede, I].

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Verstandes unter dem Diktat des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, aber nicht im Sinne einer dialektischen Methode oder Spekulation. Der zu empfehlende Umgang mit Widersprüchen gleicht eher der Antinomik (nach Kants Antinomienlehre) oder Aporetik, dem Aushalten tiefer Widersprüche. Diese müssten als Hindernisse, als Anstösse zum Weiterdenken und als Freiraum zur Widerrede (Dialogik) ausgehalten werden, statt sie einseitig zuungunsten von A oder Nicht-A zu eliminieren. Dürfen sich A und Nicht-A aneinander reiben, erzeugt es Wärme. Am (nicht-banalen) Widerspruch wachsen die Kräfte; wie Hindernisse und Steigungen gewähren Widerstände und Widersprüche einen höheren Trainingseffekt für das Denken des Glaubens. Schliesslich ginge es darum, im entschlossenen und achtsamen Glauben an den Ort der Gnade vorzudringen, wo «der unvereinbare Gegensatz seinen Ort» hat.120 « Ou on s’est soumis les contraires, ou on est soumis aux contraires. »121

Auf einer falschen (oder fehlbaren) Psychologie beruht auch der Kampf gegen die «Lebenslüge» im 19. Jahrhundert, der sich in der Literatur bis heute fortsetzt. Der Roman «Im Vertrauen» von Dome­ nico Starnone ist raffiniert und schleppt gleichwohl das uralte Vorur­ teil weiter, dass es unter den luziden Gedanken eine «verborgene Kanalisation» aus Trieben und Wünschen gebe. Ob sich das Denken des grenzenlosen (Selbst-)Misstrauens selbst eine Grube gräbt? Eine Zwischen-Bilanz des Romans lautet: Die Autonomie des Ichs ist eine Chimäre, im Untergrund walten zerstörerische Triebe. Ist das wahre Wesen die objektive (universale) Vernunft, der Wille zum Guten oder ein selbstzerstörerischer Trieb? Fragen nach dem wahren Wesen122 zielen auf etwas, was es vielleicht nicht gibt oder nie gab: eine nicht-deformierte Kindheit bzw. den reinen Ursprung, der später durch Einflüsse der Kultur und Gesellschaft entstellt und überformt wurde. Von der Strömung der Willensmetaphysik von Schopenhauer bis Freud getrieben, wird angenommen, dass das «wahre Wesen» der Menschen nicht in ihrem Verhalten, sondern in ihren geheimen Fan­ Simone Weil: Cahiers. Aufzeichnungen, Bd. 4, München: Hanser 2017, 19. Simone Weil: La pesanteur et la grâce, Librairie Plon 1947, POCKET: Paris-Cedex 2009, 174; Schwerkraft und Gnade. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Neu herausgegeben von Charlotte Bohn und mit einem Essay von Frank Witzel, Berlin: Mathes & Seitz 2021. 122 Domenico Starnone: Im Vertrauen. Roman. Berlin: Wagenbach 2021, 10. 120

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tasien und verdrängten Begierden residiere. Die wahre und innerste Gesinnung, so lautet die Hypothese, zeigt sich im Moment der Todesangst, in dem die Lebenslügen und die anderen Konstruktionen der Selbsterhaltung zusammenbrechen. Das unbeweisbare Vorurteil von der mittelalterlichen Folter als Gottesurteil bis in den Roman­ teppich von Domenico Starnone hin bleibt konstant: die Wahrheit zeige sich nach dem Zusammenbruch der «Lebenslügen», wenn viel­ leicht auch nur kurz wie ein Regenbogen. Die Modifikation der Moderne besteht in der voluntaristischen bzw. tiefenpsychologischen Ausdeutung dieses «wahren Selbst» als Rückkehr des Verdrängten. Hinter der zivilisierten Fassade verbirgt sich – eine beschämende Banalität. Diese «bittere Wahrheit» schmeckt wie die Lehre des psychologischen Egoismus schal. Nach diesem Gesetz verliert die Geliebte, die eines Tages den Geliebten ertappt und «vollständig durchschaut», das Interesse und wendet sich vom Geliebten ab, weil es kein «interessantes Geheimnis» mehr zu erforschen gibt. Das «Geheimnis» wäre nur «banaler Egoismus». Ein hypothetischer Hiob, der Gott verfluchte, hätte sein «wahres Wesen», seinen Egois­ mus preisgegeben. Der Zusammenbruch, der dazu führt, dass Hiob die Stunde seiner Geburt, ja den ersten Tag der Schöpfung verflucht und Gott als «Feind» erfährt, könnte auch etwas ganz anderes bedeuten, näm­ lich einen Schwächeanfall, oder den Ausbruch einer Psychose, die nur auf günstige Gelegenheiten und Auslöser wartet, Dispositio­ nen, die wie Krebszellen «darauf warten, geweckt zu werden» und den «Befehl» erhalten, zu wuchern und die Widerstandskräfte der Diskretion, der Scham, der Zurückhaltung und Diplomatie, der netten Fassade und angenehmen Rollenspiele zu schwächen. Hier muss man der vorschnellen Deutung widerstehen, wonach das «wahre Selbst» sich in der äussersten Verzweiflung zeige. In der Stunde der Verzweiflung weitet sich die Nähe des Lebensendes zur Phantasma­ gorie des Weltenendes, zur kollektiven oder gar kosmischen Tragödie. Das «letzte Stündchen» soll «die Stunde der Wahrheit» sein? Diese Auffassung suggeriert das Gebet zur Madonna: «Bitt für uns jetzt und in der Stunde unseres Sterbens», als wäre diese letzte Stunde die Stunde der Wahrheit oder Bewährung, die in Panik versetzt und die nur mit dem Sakrament der letzten Ölung gemildert werden kann. Doch das schlichte Ave Maria spricht auch im Sinne einer gelassenen

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Bitte um Hilfe.123 Hiob wäre nüchtern betrachtet auch nur das Porträt des geschundenen Menschen, der, wie es die Überlieferung will und vielleicht auch beschönigt, es aus Furcht und Zittern unterlässt, den unterdrückten Fluch gegen Gott zu schleudern, wie es ihm seine Frau eingibt (vgl. Hiob 2, 9), oder (was nicht überliefert ist) wie ein Indianer am Marterpfahl Gott als seinen Feind, als erbärmlichen Versager-Fetisch zu beschimpfen oder «hinter sich zu lassen», ein Götze, der keinen mildtätigen Regen spendet, sondern sieben weitere Plagen. Das wäre die Erfüllung der Voraussage Satans. «4. – Der Satan antwortete dem Herrn und sagte: Haut um Haut! Alles, was der Mensch besitzt, gibt er hin für sein Leben. Doch streck deine Hand aus, und rühr an sein Gebein und Fleisch; wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen. – 5. – Da sprach der Herr zum Satan: Gut, er ist in deiner Hand. Nur schone sein Leben!» (Hiob 2, 4f.)

Das ungeprüfte Axiom dieser Prüfung lautet: «Erst wenn es Hiob an die Haut geht, zeigt er, was wirklich in ihm ist.»124 Selbst wenn Hiob zum Äussersten [Fuck God] geschritten wäre, von seiner Gattin bestärkt (vgl. Hiob 2, 9), welche seine eiternden (ansteckenden) Pusteln oder Beulen und den Gott, der diese grausamen Spiele an seinem «Gerechten» ausüben lässt, nicht mehr erträgt, selbst wenn er sich hätte dazu hinreissen lassen, Gott zu verfluchen, was er vielleicht indirekt tut, wenn er seine Geburt und damit seine Mutter und seinen Schöpfer verflucht: der blasphemische Hiob, der vom Liebling Gottes zum Liebling und Sklaven Satans mutierte – hätte diese Wandlung etwa sein «wahres Selbst» gezeigt, oder nicht nur ein «Farbspiel der Stimmungen», eine situative Entgleisung, wie sie z.B. einer guten Mutter widerfahren kann, die ihr Kind schlägt und es sogleich bereut oder schweren Herzens darüber hinweggeht? Ist die überforderte Mutter, die ausrastet und dem gnadenlosen Stresstest durch ihre Brut erliegt, jene verzweifelte Frau, die ihr «wahres, aber leider schwarzes Selbst» zeigt? Zeigt sich im Fluchen das sonst unter allen Zurückhaltungen und Verkleidungen, allen Schutzschildern aus «Tugenden» und Schminke versteckte «wahre Selbst»? Warum sollte es sich beim Kollaps der Selbstkontrolle zeigen, aber nicht 123 Vgl. Papst Franziskus: AVE MARIA. Die Mutter Gottes und ihr Geheimnis. Mit Marco Pozza. Aus dem Italienischen von Gabriele Stein, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2019. 124 Heinrich Gross: Ijob, Würzburg: Echter Verlag, 2. Aufl. 1998, 17.

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im Übermut, im ansteckenden Gelächter, beim Triumph über den Feind? Könnte es sein, dass sich «das wahre Selbst» niemals zeigt, weil es nicht existiert? Weil jeder Mensch in extremis instabil oder «käuf­ lich» ist… «Everybody has his prize», lautet der schlimme Verdacht des ersten Cousins des Zynikers.125 So wie die Möglichkeit besteht, dass Gottes Zeichen und Wunder, ja selbst seine Offenbarungen so schleierhaft undeutlich bleiben, oder so plump überdeutlich werden, als spräche Gott zu den Zeugen Jehovas –, dass die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit besteht, dass es ihn, gelobt sei sein Name, nicht gibt? Eine Welt, in der es keinen Gott, kein «wahres Selbst» gäbe, im dem die Identität der Person nichts als ein Bündel von Sinnesein­ drücken wäre, gäbe es kein Fundament für eine moralische Verantwor­ tung. Manche Gewissenserforschungen und Grübeleien werden ver­ mieden, weil sie das Gemüt bedrücken und nicht weiterführen. Sie graben sich ein und verdunkeln und erkälten, statt zu erhellen und zu wärmen. Saure Gedanken tropfen wie Essig ins Gebet und stören die Andacht. Doch sind die zur Verzweiflung gesteigerten Zweifel, weil sie belastend sind, per se falsch? Zweifel und Frage können weder falsch noch wahr sein; sie sind in gewissen Situationen «unpassend», in extremis unerträglich und lähmend wie die schwarzen Hornissen der Apokalypse und zerfallen rasch zu Schattenspielen, wenn sich der Mensch seiner Arbeit, den Freunden, der Gymnastik oder einem geselligen Spiel zuwendet. Wer nicht verdrängen kann, kann keine Feste feiern… Der Verdacht, dass mancher sein (beschämendes) Geheimnis mit ins Grab nehme, seine «versteckten Leichen im Keller» verberge und seine Hinter-Gedanken den Mitlebenden entziehe, liegt auf der Hand. So könnte jemand einen Mord bis an sein Lebensende niemals bekennen, wie es Nathaniel Hawthorne in «Der scharlachrote Buchstabe»126 über Herzen als Mördergruben durchbuchstabiert. Im Dorf zielen die Neugierigen, die Inquisition des Pastors, das Klopfen Zur Diskussion vgl. John Hospers: Human Conduct, New York etc.: Harcourt Brace Jovanovitch, Inc. 1972, 143f., 412. Der Zyniker nennt Altruisten oder Virtuosen der reinen Liebe – Narren. Der Folter widerstehen müssen z.B. Untergrundkämpfer oder Glaubenszeugen. Der Punkt, an dem niemand mehr eine Folter aushält, lässt sich mithin nur schwer bestimmen. 126 Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe (The Scarlet Letter. A Romance, Boston 1850). Neu übersetzt und kommentiert von Jürgen Brôcan, München: Hanser 2014, Kapitel X und XI. 125

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des Beichtspiegels ans «Innere des Herzens», das so lange «interes­ sant» bleibt, als es sich nicht mitteilt. Würde jemand «alles erzählen», käme vielleicht auch wieder nur ein Mord, den jeder begeht127, ans fahle Tageslicht, oder die harmlosen Sünden von schamhaften Nonnen. Doch es müssen nicht Trivialitäten sein, die das Herz des Menschen zu einer «Mördergrube» machen. Hier nur einige Beispiele von leicht zu verdrängendem Unrecht: Eine Regelverletzung aus Versehen, aus (unverschuldeter?) Unwissenheit, (verzeihlicher?) Fahrlässigkeit, aus gedankenlo­ ser Routine usw. Ein Fehltritt mit unvorhersehbaren (?) Folgen. Nebenwirkun­ gen von Handlungen oder Unterlassungen, die nicht an sich falsch sind. Ein vergessener «beseitigter» Konkurrent. Ein Opfer unserer Intrigen. Die schlimmen Folgen von Unterlassungen – z.B. der täglichen Unterlassung, das Beste für alle Flüchtlinge, Armen und Abhän­ gigen zu tun. Die akkumulativen Folgen von Einzelhandlungen, die an sich minimale Wirkungen haben, sich aber mit der Zeit oder im Kollektiv zusammenzählen. Die Vernachlässigung der Pflichten gegenüber künftigen Gene­ rationen, zu denen unter den Bedingungen hoher Kindersterb­ lichkeit auch die Pflichten zur Prokreation gehörten. Wer unter prekären Bedingungen keine Nachkommen hat, kann das Über­ leben eines Stammes gefährden. Wer unter anderen Bedingun­ gen mehr als ein Kind hat, trägt zur «Überbevölkerung» oder Belastung der Umwelt bei. Usw. Die Liste der wahrscheinlichen «Morde, die jeder begeht» und der verdrängten repetitiven und akkumulativen Sünden ist damals wie heute endlos. Doch das Grübeln über verborgene Sünden führt nicht ans Licht, sondern eher ins Dunkle. Auch das Insistieren von Hiobs Gefährten bleibt zwecklos: Es führt nicht zur Klärung oder Aufdeckung, sondern zur «Verstocktheit» dessen, der mit Mitteln der peinlichen Befragung zur Busse oder Reue gedrängt werden soll. Wir stehen letztlich hilflos vor der Dunkelkammer des fehlenden Unrecht­ 127 Vgl. Heimito von Doderer: Ein Mord, den jeder begeht. Roman. Einmalige Jubilä­ umsausgabe. Mit einem Nachwort von Heinrich Steinfest, München: Beck 1995.

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Das Herz, eine Mördergrube

bewusstseins. Es ist fast unmöglich, bei anderen Unrechtbewusstsein aus dem Nichts zu erzeugen, wenn es nicht schon latent da ist. Hiob hat aber, nach dieser märchenhaften Erzählung, kein Unrecht an Menschen begangen. Als Märchen hat sie eine modellhafte Funktion, die zur Frage führt: Gäbe es selbst für jemand, der kein Unrecht nach menschlichen Massstäben begangen hätte, ein Unrecht vor dem göttlichen Massstab? Die Antwort lautet: Hiobs «Unrecht» gehört vor ein anderes als vor das Forum menschlicher Richter; es unter­ liegt auch nicht dem von Immanuel Kant so genannten «Gerichtshof der Vernunft». Es ist Unrecht gegenüber der «höchsten Instanz» des Schöpfers, der Abstand des geschöpflichen Menschen, der hinter der vollständigen Erfüllung des Gesetzes zurückbleibt. Der tiefere Sinn der oft gerügten Komplexität und Pedanterie des mosaischen Gesetzes bis in alle absurd anmutenden Einzelheiten ritueller Regeln besteht nicht darin, den Menschen zu überfordern, ihm seine Unvollkom­ menheit vorzuwerfen und ihn in die Verzweiflung oder Apathie zu lenken, sondern es dient als Spiegel seiner Schwäche und Endlichkeit vor Gott; nur vor Allwalt (nach der Hiob-Übersetzung von Fridolin Stier) wird er sich dessen inne und sucht Zuflucht beim Erbarmen des Ewigen. Hiob ist nicht wie ein renitenter und grantelnder Patient, der keine Hilfe annimmt; er nimmt Gottes Hilfe an. So ist es parado­ xerweise der Anfang der Demut und Einsicht in Gottes Gnade, am Gesetz in seiner furchterregenden Grösse und Schwere zu scheitern und wie Hiob nach Gott, seinem nahen Retter, zu rufen. Am Gesetz so grandios scheitern kann nur jemand, der sich um seine skrupulöse Erfüllung bemüht hat. Und als derart um das Gesetz Bemühter und fürsorglicher Vater, der sogar für den Erlass möglicher Sünden seiner Söhne Opfer darbringt und auf Gottes Hilfe baut, ist Hiob Gottes untadeliger Knecht.

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Das Problem der direkten Rede Gottes

Es gibt viele Aussagen über Gott, Prädikationen oder Existenzaussa­ gen. Doch Gott selbst: macht er auch Aussagen? Spricht er Weishei­ ten und Befehle aus? Kommuniziert Gott? Und wie? In welcher Spra­ che? Das Problem wird nicht etwa erleichtert, sondern eher verschärft durch mündliche und schriftliche Überlieferungen direkter Rede Gottes, die in einer modernen Gesellschaft mit ihren sich rasant entwickelnden «Humantechnologien der Kommunikation» wie alle nicht von Menschen gewirkten «Wunder» immer unwahrscheinli­ cher wird.128 Die Überlegungen von Niklas Luhmann haben die folgenden Gedanken dieses Kapitels angeregt. Es geht nicht darum, Luhmanns sich wandelnden und – nach seiner eigenen Überzeugung – schnell veraltenden Theorien zu referieren und zu würdigen, obwohl sich daraus einiges lernen liesse, wenn man seinen zum Teil unnötig schwierigen Jargon übersetzte und sich an einige Beispiele hielte, mit denen er seine Problemanalysen illustriert. Manche Thesen sind wackelig, aber anregend, unter anderen die These, dass im sog. Alten Testament direkte Rede Gottes häufiger, fast schon Routine sei, während sie im Neuen Testament fast verschwinde und ersetzt werde durch Reden und Leben des Inkarnierten und Auferstandenen. Diese vermeintliche Dichotomie zwischen AT und NT ist nicht nur reichlich schematisch, sondern erinnert auch an die Tradition der Abwertung des AT’s als «Vorstufe» zum NT. Luhmann spricht als Soziologe und Kommunikationstheoreti­ ker. Er konstatiert, dass Beobachtung selbst ein empirischer Prozess ist: Beobachter werden beobachtet, sind der Beobachtung zugänglich. Nur Gott selbst, wenn es ihn nach den Vorgaben der Theologie gäbe, 128 Vgl. Niklas Luhmann: Lässt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? In: Luhmann: Soziologische Aufklärung. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Band 4, 3. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 241–249.

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wäre der über alle gewöhnlichen Beobachter gestellte, nicht beob­ achtbare Beobachter. Luhmanns flexible, aber schwer referierbare Theorie ergibt sich als Folge vielfacher Revisionen seiner funktionalen Theorie der Religion und seiner Bezugnahme auf revidierte Begriffe von Kommunikation und sozialer Differenzierung. Wer sich damit eingehend beschäftigen will, muss sich durch manche Arbeiten Luh­ manns hindurcharbeiten.129 Es wäre naiv zu denken, dass z.B. eine Radioansprache Gottes das Paradox beseitige, dass Gott in einer natürlich gewachsenen Sprache einer bestimmten Sprachgemeinschaft und entsprechenden Überset­ zungen in andere natürliche Sprachen «spricht und befiehlt» und doch zu allen Menschen auf seine (nicht auf ihre) Weise spricht. Das Paradox der göttlichen Mitteilung in einer natürlichen Sprache wird nicht gemildert, sondern verschärft. Wie liesse sich Gott an seiner Stimme (Artikulation, Tonhöhhe usw.) erkennen? Wie «klingt» und wie «wirkt» eine «göttliche» Rede am Radio in anderen Regionen oder Ländern, in denen die direkte Rede von der Stimme eines Übersetzers überblendet wird? Wie «klingt» oder wirkt Gottes direkte Mitteilung, wenn sie von Übersetzern, Neuinterpretationen und Diskussionen diverser Epochen und Kulturen gefiltert und gedeutet wird? Die angeblich direkte Rede wird durch ihre direkte Übertra­ gung nicht authentifiziert. Das Paradox einer unmittelbaren Mittei­ lung Gottes erscheint dem Verstand wie die Einheit von Gott und Mensch in Christo als Unmöglichkeit. Was als unmöglich erscheint – eine zeichenhafte oder stimmhafte Mitteilung Gottes, die sich durch Signatur und Stimme authentifizieren lässt – wäre Gott nicht möglich, wenn er nicht unseren Verstand verwandeln und erhellen würde, damit wir seine «Signatur» lesen können. Wie Offenbarung möglich ist, können wir nicht begreifen.130 Es scheint, dass uns Offenbarung immer nur «verzerrt» und von unserer Perspektive oder Borniertheit aus erreichen kann; sie wird indirekt, medial gebro­ chen (z.B. durch Schrift, kirchliche Lesung oder Radioübertragung), durch Übersetzer und Kommentatorinnen kolportiert, interpretiert, nachgebessert, entstellt, kurz: in die Kommunikation einer oder mehrerer Gesellschaften hereingezogen, «angepasst» und «beheima­ 129 Genannt seien hier die beiden Bücher Funktion der Religion (1977) und Die Religion der Gesellschaft (2000). Luhmann starb 1998. Der zuletzt genannte Titel erschien aus seinem Nachlass. 130 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792). Hrsg. und eingeleitet von Hans Jürgen Verweyen, Hamburg: Meiner Verlag 1998.

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tet». Was Gott «sagt», wird auf verschiedene Weise von vielen Men­ schen zahlreicher Sprachgemeinschaften mit variablen Lese- und Schreibkompetenzen bearbeitet, nähergebracht – oder verdorben. Manche geben «Worte Gottes» so steif und despotisch weiter, dass es zwar ihre «Follower» beeindruckt, andere aber nicht überzeugt oder abstösst. Niemand übersetzt ungefiltert und völlig neutral und punktet bei jedem beliebigen Publikum. Direkte Rede wird meist von anderen beobachtet und mitgehört, an die sie nicht direkt gerichtet ist oder die sie nicht zu überzeugen vermag; diese unbeteiligten oder angewiderten «Statisten» werden einen ganz anderen Eindruck von «Gottes Rede» gewinnen als jene, die um Gottes Wort bitten, auf eine «Antwort» von ihm selbst warten und von der direkten Anrede überwältigt und überzeugt sind. Redet Gott mit den Menschen? Wer in dieser Frage nie eine skeptische Verunsicherung erlebt, setzt sich über Schwierigkeiten hinweg, die sich in analoger Weise, wenn auch weniger fundamen­ tal, bei der sog. Interspezies-Kommunikation stellen. Die Frage, ob Tiere mit uns reden, würde man nicht mit dem Verweis auf schrift­ lich fixierte Tierfabeln beantworten wollen. Der Hinweis auf «Klassi­ ker» und «Schriften», in denen das «Wort Gottes» überliefert wird, genügt nicht. Im Gegenteil: Dass Tiere im Kontext von mündlich überlieferten und schriftlich fixierten Märchen und Fabeln sprechen, bestätigt die Common-sense-Überzeugung, dass Tiere wie Kinder vor dem Spracherwerb «sprachlos» sind und – ausser mit Kindern und Narren – nicht reden. Nur allegorische oder geträumte Tiere halten Reden. Spricht mein Hund im Traum zu mir, so werde ich das als eine Besonderheit der Traumwelt anerkennen. Manche Tiere drücken Gefühle und Wünsche aus, einige verstehen sich auf soziale Interak­ tion und kommunizieren untereinander, aber sie bleiben stumm (nicht dumm und nicht ohne andere Möglichkeiten der Kommunikation!), verwickeln uns nicht in Verhandlungen und Dialoge, erheben keine Ansprüche auf Sitze im Parlament. Sie wachsen nicht wie Kinder in eine Kommunikationsgemeinschaft hinein, werden nicht im Eltern­ haus und in der Schule wie Kinder allmählich in die Debattiergemein­ schaft der Erwachsenen begleitet. Tiere (Insekten oder hochentwi­ ckelte Säugetiere) sind nicht vertragsfähig und legen keine expliziten Versprechen oder Gelübde ab. Sie verhalten sich nicht moralisch. Einige verhalten sich in einem rudimentären Sinne moralanalog, ähnlich wie geistig schwer behinderte oder demente Menschen, mit denen man noch nicht oder nicht mehr vernünftig reden kann, oder

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sogar mit deutlich höheren Leistungen. Einige verhalten sich z.B., als ob sie dankbar oder beleidigt, eifersüchtig oder enttäuscht wären; ob sie es in der Weise sind, wie wir diese Konzepte verwenden, wissen wir nicht. Man kann mit Tieren nicht diskursiv (in Begriffen und Argumenten) reden, nur «Worte verlieren» (z.B. in einer Rede an die Katze, das Mausen zu unterlassen) oder sie mit der Stimme wecken, aufreizen, erschrecken oder beruhigen. Ein Hund «versteht» nicht viel mehr als ein Kind von zwei Jahren (immerhin!), mit dem ich in einer ihm völlig fremden Sprache schimpfe. Tiere reden nicht in Worten mit uns – ausser in Trickfilmen, Fabeln, Märchen und Träumen. Rede in Worten ist nicht identisch mit dem Gebrauch von Zeichen, Aus­ drucksfähigkeit, geistigem Lernen oder arteigener non-verbaler Kom­ munikation. Diese Fähigkeiten werden weiter erforscht und fördern immer neue Überraschungen zutage, doch Hoffnung auf elaboriertere Dialoge mit Tieren, losgelöst von der unmittelbaren Futtersuche, den spielerischen und sozialen Impulsen, besteht nicht, oder nur in esoterischen oder zoophilen Kreisen. Für den «Tiernarren» können Tiere alles! «Herrchen» reden mit ihren Hunden, doch erwarten nicht, dass ihre Hunde in gesetzten Worten mit ihnen reden. Der Dichter Jacob van Hoddis, der vor den Vögeln im Freien den Hut zieht und sie grüsst, ist entweder ein Clown (er tut es zur Unterhaltung für andere Menschen), oder ein Grenzfall für die Psychiatrie. Das ist keine prinzipielle Skepsis in Bezug auf die Intelligenz oder den Geist einiger Tiere131, sondern eine Präzisierung des Unterschieds zwischen verbaler Rede und nicht-sprachlicher Kommunikation, Phantasie und Realität und der Versuch einer Abgrenzung von esoterischen Lehren. Doch die scharfe Unterscheidung zwischen wissenschaftlich dis­ tanzierter Haltung und esoterischer Leichtgläubigkeit ist ihrerseits eine kommunikative Konstruktion, die dazu dient, sich von anderen abzugrenzen, und die Frage, ob Tiere «irgendwie» mit uns reden, wird künstlich isoliert und dem Streit entzogen, obwohl sie doch 131 Statt von «Tier» spricht man neutraler von «nicht-menschlichen Lebewesen». Der Ausdruck TIER bezeichnet keine biologische Spezies oder eine homogene Art. Die Biologie erforscht nicht die «Gleichheit der Tiere», sondern die Diversität von Lebe­ wesen. Die Erforschung der Intelligenz von Tieren hat immer wieder Erstaunliches zu Tage gefördert. Ein Aspekt der besonderen Schutzbedürftigkeit von Tieren erklärt sich aus ihrer Sprachlosigkeit, die es ihnen verwehrt, Sklavenaufstände, Gewerkschaften oder eine Lobby zu bilden. Die Tierethik bleibt weitgehend advokatorisch. Menschen versuchen, gegen andere Menschen, die Interessen und Rechte von Tieren zu vertreten und durchzusetzen.

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ganz zentral ein Streitpunkt unter Menschen in ein und derselben Gesellschaft ist, so wie Esoterik und «Aberglauben» die hartnäckigen Feinde und Begleiter der Wissenschaften sind. Man kann auch nicht die historisierende Distanz einbauen und sagen: «Früher, ja früher, da hat man an Mythen und Märchen geglaubt.» Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der dieser Glaube verschwunden ist, und wir müssen uns darauf einstellen, auf Kinder und Erwachsene zu stossen, die sich mit solchen Abgrenzungen und vermeintlichen Richtigstellun­ gen fundamental missverstanden, übergangen und ausgeschlossen fühlen. Die Elite sagt: Dummheit stirbt nicht aus. Die anderen sagen: die Dummheit der Eliten wächst. Es gibt keine feste und uneinnehm­ bare Position von «wissenschaftlichen Beobachtern», sondern alle Beobachter werden beobachtet. Sie «spüren» es und reflektieren es auf ihre Weise, dass sie von anderen beobachtet, kommentiert und bewertet werden. Es geht hier nicht nur um Erkenntniskritik, sondern auch um die Grenzen der Selbstwahrnehmung und das begrenzte Unrechtbe­ wusstsein. Man kann im Unrecht sein, ohne es zu merken, aber man «hört», dass uns andere tadeln. «Wir» ahnen, wie uns andere bewerten oder abwerten, im Widerspruch zu dem, was wir aus unserer Perspektive gewahren oder ignorieren; wir «wittern» gewisse Sachverhalte, die wir – an anderen oder uns selbst – nicht sehen – etwa eine Atmosphäre von Ablehnung und Antipathie oder Gerüchte, die über uns kursieren. Die Fähigkeit, von «Feinden» zu lernen, ist ebenfalls begrenzt. So wie Ernüchterte frisch Verliebte beobachten, so können Verliebte sich als Verliebte, aber auch aus der Sicht von Nüchternen beobachten, und sie «ahnen» oder eben auch nicht, dass ihnen, trotz aller Beobachtung der Beobachter, etwas entgeht, dass sie ausgespäht werden, als gäbe es eine externe Instanz, die auch jene Dinge sieht, die sonst niemand sieht. Den Verliebten und Frommen entgeht gewöhnlich ihre Lächerlichkeit in den Augen Ausserstehender. «Fromme» oder «in Gott Verliebte» verlassen sich darauf, dass es Gott gibt, der mehr weiss als alle Menschen, mehr, als jeder von sich selbst und anderen weiss. Sie müssten, obwohl sie doch vermeintlich in ihrem Vertrauen auf Gott «befangen» sind, mehr «ahnen» als andere, wenn ›ahnen‹ mitbedenkt (wenn auch nicht begreift), was man nicht weiss oder nicht wissen kann. Um die Tier-Mensch, Mensch-Gott-Analogie zu verwenden, so muss Gott wie ein Skeptiker bezüglich der Kommunikation mit Tieren damit rechnen, dass wir Menschen kommunikativ schwach bleiben. Wir

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können seine Zeichen und Wunder nur teilweise entschlüsseln, und wir bleiben in unseren Gebeten wie die ganze seufzende Kreatur nicht-diskursiv, sondern expressiv. Die Ironikerin weiss, dass ihr individueller Wissensvorrat wie auch der kollektive Wissensvorrat der Gesellschaft und der Infor­ mationsproviant aller Zeiten Stückwerk bleiben. Dieser «sokrati­ sche» oder «salomonische» Vorsprung darf wiederum nicht missdeu­ tet werden, als wäre die Ironikerin selbst in einer privilegierten Position – Luhmann nennt es «besserwisserische Aufklärung». Auch die «Aufklärer» werden beobachtet und kommentiert. Der Fromme und die Ironikerin – wenn wir Sokrates und den Gläubigen einander annähern wollen – halten sich so wenig wie andere für Gott, nehmen keinen «göttlichen Standpunkt» ein, keine Position in einem «kosmi­ schen Exil», die ihrerseits nicht beobachtet und erschüttert werden könnte; sie appellieren an keinen idealen Diskurs ausserhalb rea­ ler Diskurse. Vielmehr dreht sich die Ironikerin, wie es Friedrich Schlegel formulieren wird, in permanenter Selbst-Parodie, verwei­ gert eine epistemische Heldenrolle. Sie kann die absolute Wahrheit nicht haben. Naive Beobachter, vulgo Gaffer, beobachten andere, z.B. Ver­ kehrsopfer, die am Boden liegen, nur nicht sich selbst; es sind selbst­ vergessene Beobachter, die wie Kinder gucken und erschrecken, wenn sie bemerken, dass man sie dabei beobachtet, wie sie gucken. Kinder und andere Gaffer ignorieren, dass man sie bei ihrem Voyeurismus beobachtet. Doch sie erschrecken, wenn sie beim blöden Glotzen ertappt werden; sie ducken sich unter die Masse passiver Zeugen, die sehen, ohne Verantwortung zu übernehmen. «Man» schaut hin, bis es einem langweilig wird. Einige hören auf zu starren, wenn sie sich angestarrt fühlen; andere verfallen wiederholt ins dumpfe und sture Hingucken. Wenn man diese Prozesse von Beobachtung und Mitteilung in der Gesellschaft, in der jeder andere beim Beobachten observieren kann und doch keiner lange völlig unbeobachtet über allen stehen wird, in einer Gesellschaft, in der es nur Perspektiven, keine jeder Beobachtung entzogene Superperspektive gibt, welche alle anderen Perspektiven wie Teilwahrheiten zur ganzen Wahrheit zusammen­ fasst oder «objektiviert», dann stellt sich das Problem der direkten Mitteilung Gottes nochmals anders. In diesem Sinne ist Gott, wie man sagt, «nicht von dieser Welt», «nicht in der Geschichte», «nicht in der Natur», «nicht in Raum und Zeit», selbst wenn er sich in diesen

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Medien und Dimensionen offenbart oder inkarniert. Es ist vielleicht nicht mehr so wichtig, ob und wie Gott direkt mit uns spricht, denn wir bleiben in der Welt, in der Gesellschaft, in der Geschichte, in Überlieferungen, welche die Mitteilung Gottes vielfältig spiegeln und deuten. Keiner kann, nur weil er oder sie Gottes Stimme zu verneh­ men glaubt, aus jeder Deutungs- und Streitgemeinschaft austreten. Ich habe vielleicht etwas gehört, was andere nicht gehört haben, nicht hören können – doch wie lebe ich damit? Wem und wie teile ich es mit? Was gibt mir dieser ungeheure «Kick», von Gott persönlich gemeint und angesprochen zu sein, für mein Leben, für das Leben mit anderen? Und was wäre der Unterschied zu jenen, die nie einen solchen «Kick» erfahren haben? Wann wäre eine Mitteilung von Gott und eine anschliessende Mitteilung an andere über die Mitteilung Gottes klar und eindeutig genug? Wir haben ein Vorverständnis von Kommunikation, das besagt: Wer kommuniziert, «gibt» eine Information an andere «wei­ ter». Doch die Metapher der Weitergabe ist nach Luhmann irrefüh­ rend; was ich als Information weitergebe, behalte ich zugleich für mich selbst. Es geht mir nicht verloren, wenn ich es weitergebe, und doch geht etwas verloren: die Unmittelbarkeit der ursprünglichen Rede Gottes. Besser wäre vielleicht die Metapher der «Teilgabe»: Ich lasse die anderen an dem, was mir widerfuhr und was ich darüber denke, teilhaben. Auch hier wird nichts buchstäblich aufgeteilt und dabei in kleinere Portionen verkleinert. Haben wir etwas Besseres zur Klärung von Kommunikation als solche unzulänglichen Metaphern? Oder ent­ zieht sich der Prozess der Kommunikation einer «statischen» Defini­ tion? Kommunikation ist ein Prozess, der dadurch, dass er sich immer wieder an andere richten kann und auch dazu führen kann, dass ich mich selbst besser oder schlechter ausdrücke und verstehe, unab­ schliessbar ist. Wann ist ein Gedanke klar genug formuliert? Wenn er allen «einleuchtet», die sich dafür interessieren. Diese Antwort bringt Zufälle ins Spiel: Wann interessiert sich jemand für etwas oder für eine Person, die spricht? Wann setzen Müdigkeit oder Missverständnisse diesem Verstehen Grenzen? Müsste ein hinreichend klar formulierter Gedanke alle möglichen Missverständnisse ausräumen? Würde die Ausführlichkeit dieser Ausformulierung (ihre «Systematisierung») die meisten langweilen, abschrecken oder auf ganz andere Gedanken bringen? Wer ausführlich redet und spricht, wird auch über längere Zeit beobachtet. Warum spricht der so viel und so lange? Schwingt

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ein Ton von drängender Persuasion mit? Will mich der andere nicht nur informieren, sondern auch belehren, bearbeiten, manipulieren oder ganz auf seine Seite ziehen? Wer solchen Nebengedanken freien Lauf lässt, hört schon längst nicht mehr mit, hat aufgehört, geduldig aufzunehmen und den reinen Empfänger der Mitteilung von Informationen zu spielen. Wie wirkt eine direkte Gottesrede? Überzeugend? Beglückend? Überwältigend? Vergewaltigend? Und wie, wenn ich feststellen muss, dass mir Gott mit der Kraft letzter Autorität Banalitäten mitteilt und Dinge wiederholt, die ich bereits vom Katechismusunterricht kenne und von denen ich mich längst distanziert habe? Wie, wenn Gott mit uns spricht und auf uns wirkt wie ein aggressiver Sektenprediger, ein bewaffneter Prophet? Sprache und Schrift dienen der möglichen Verbesserung von Formulierungen. Verschriftlichung hilft, Gedanken besser, überprüf­ barer und «haltbarer» zu fixieren. Formulierungen sind Formen der Konservierung. Eine feste Formulierung scheint dauerhafter als eine lose Rede zu sein. Die Schriftkultur schafft eine Klasse von Schriftge­ lehrten, die dem «dummen Volk» erklären, was dieses aus Mangel an Bildung nicht formulieren oder verstehen kann. Doch was geht mit der Schriftlichkeit nicht alles verloren! Der Buchstabe bewahrt, und der Buchstabe tötet. Die Verschriftlichung von direkter Rede Gottes überliefert nicht die «Stimme» selbst wie in einem Hörbuch; sie bringt uns nicht nur keinen grossen Schritt für eine «Beglaubigung der Echtheit einer Mitteilung» weiter, sondern die eingeschlagene Beweisfigur: «Gott spricht zu uns, wenn er sich in eine menschliche Sprachgemeinschaft eingemeindet hat» wirkt der anderen, theolo­ gisch reflektierten Überzeugung entgegen, dass sich Gott nicht «paro­ chial» verhalte, nicht der Hausgott einer Gruppe oder Sekte sei, sondern sich solchen «Einbürgerungen» entziehe. Wäre Gott durch verbesserte Technologien der Kommunikation von der Schrift bis hin zu den elektronischen Medien erreichbar, so müsste er sich inzwischen regelmässig und überdeutlich auf dem Internet, in den sozialen Medien und global verständlich mitteilen. Es käme zu jener Offenbarungstranszendenz, welche die Überlieferung als das Hören der Stimme Gottes oder das Lesen eines überdeutlichen Schriftzugs in den Wolken illustriert. Warum spricht Gott in unsren modernen Gesellschaften nicht zu uns in überdimensionalen Sprechblasen, Voice-Mails und über die jeweils neusten Mediensysteme? Kurz gesagt: Warum ist Gott nicht überdeutlich? Warum ist er – gemessen an wissenschaftlichen und alltäglichen Standards der Kommunikation

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– nicht mitteilsamer? Oder anders gefragt: Ginge Gottes Stimme in der Vielstimmigkeit der Kulturen und Sprachen unter, wenn er sich allen Menschen und für alle eindeutig in Stimme und Schrift offen­ barte? Während der mündlichen Überlieferung und der Schrift noch eine primitive Magie anzuhaften schien, werden die modernen tech­ nischen Medien als von Menschen gemachte Medien entzaubert. Sie bilden Blasen des Anthropozäns, reproduzieren oder variieren von Menschen für Menschen geschaffenen Ereignisse, die nicht über sich hinaus, auf den Einbruch des Ewigen in die Zeit ver­ weisen. Kaum jemand erwartet, in modernen Medien andere als menschliche, synthetische oder – besonders optimistisch – extra­ terrestrische Stimmen zu vernehmen. Als Rede und Schrift noch magisch wirkten und mit Worten zauberten, vermochten einige Auserwählte (wie Hiob) Gottes Stimme zu vernehmen. Wunder werden in der technischen Welt immer unwahrscheinlicher. Die neueren Medien sind Echoräumen des Anthropozäns – der Mensch vernimmt nur noch, was Mitglieder seiner eigenen Spezies sagen und hervorbringen: «echte» oder «künstliche» Zeichen, oder unverständ­ liche Signale aus dem Universum. Gottes Stimme wird nicht mehr vernommen. Wir erwarten nicht, Gottes Stimme am Telefon, im Radio oder im Internet zu hören, und Gott – kann er nicht oder will er nicht direkt mit allen Menschen reden? Selbst im Anthropozän, jener Epoche, in der mehr als jemals zuvor von Menschen kontrolliert und produziert wird, ist das von Menschen Gemachte umstellt von einer nur bedingt machbaren Umwelt und einem astronomischen Himmel, der nicht von Menschen gemacht ist und sich nicht nach ihren Wünschen richtet. Es gibt noch eine «Schöpfung» nach dem «Tod des Schöpfers», von ferne verwandt jener Schöpfung und ihrer Überlegenheit über menschliche Werke, die Hiob beschwört und mit deren schönen und erschreckenden Wundern ihn Gottes Rede nochmals konfrontiert. Die Schöpfung des Anthropozäns ist eine Schöpfung von allen und von niemand. Wir sind alle an der Dynamik der technischen Zivilisation beteiligt und keiner kann sie als Individuum steuern. Die Schöpfung Gottes dagegen verweist auf den Schöpfer, entspricht seinem Willen, seiner Macht, seiner Liebe und Sorge; sie ist daher nicht «sinnleer» wie jene harte Realität, welche die Sphären und Informationsblasen des Anthropozäns umgibt und letztlich zerstören wird. Selbst ins Anthro­ pozän (die «Schöpfung ohne Gott») wirken jene Schicksalsschläge

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und der von der Technik nur hinausgezögerte Tod wie die Moira von aussen ein. Der Tod scheint das Ende der Mitteilung, der Emp­ fänglichkeit für Mitteilungen zu sein. Könnte es sein, dass jemand stirbt und nichts mehr vernimmt, obwohl Gottes Rede noch weiter zu ihm spricht? Gott stösst mit gewissen Vorstellungen des Todes an eine Grenze der Mitteilung: es ist, als könnte seine Rede den Menschen nach dem Tod (im Totenreich) nicht mehr erreichen. Gott wäre gleichsam machtlos gegen den Tod. Es gibt im Buch Hiob keine dogmatisch geklärte oder philoso­ phisch konstruierte Auffassung von der Unsterblichkeit des Men­ schen, einem Leben nach dem Tod, Bilder von der Hölle oder von Satan als einer Gegenmacht Gottes, und Hiob weiss nichts von dem Arrangement im Himmel, nach dem Satan als einer der Göttersöhne auf Gottes Geheiss dessen Leben verschonen muss. Das zweite Leben am Ende der Rahmenerzählung scheint ein neues Leben zu sein, wenn auch in der orientalisch-märchenhaften Form eines blühenden Familienlebens des Patriarchen. Es wäre auch das neue Leben, an dessen Ende der Mensch nicht in die Hände Satans, sondern in die rechte Hand Gottes (des Retters) zurückfällt. Das Problem der unmöglichen Mitteilung Gottes ist nicht neu und wurde nicht erst im Anthropozän von den neuen Medien ver­ ursacht, sondern nur verschärft. Gott ist, im Unterschied zu den vielfältigen Religionen, nicht von Gott gemacht. Goethe sagt in den Gesprächen von 1831 zu Eckermann (in Eckermanns Paraphrase): «In dieser Hinsicht ist es denn schon ganz recht, dass alle Religionen nicht unmittelbar von Gott selber gegeben worden, sondern dass sie, als das Werk vorzüglicher Menschen, für das Bedürfnis und die Fasslichkeit einer grossen Masse seinesgleichen berechnet sind. Wären sie ein Werk Gottes, so würde sie niemand begreifen; da sie aber ein Werk der Menschen sind, so sprechen sie das Unerforschliche nicht aus.»132

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Einführung von Ernst Beutler mit erklärendem Register, Zürich: Artemis Verlag 1948, dritte Aufl. 1976, 467 [28. Februar 1831] Eckermann selbst deutet Mythen wie jenen der Mütter im Faust als eine poetische Schöpfung. A.a.O., 385f. Dort heisst es auch: «Wir schliessen auf einen geistigen Urquell, auf ein Göttliches, wofür wir keine Begriffe und keinen Aus­ druck haben und welches wir zu uns herabziehen und anthropomorphisieren müssen, um unsere dunkelen Ahndungen einigermassen zu verkörpern und fasslich zu machen.». 132

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Sind Religionen ein Werk der Menschen, spricht sich der Unerforsch­ liche in ihnen nicht selbst aus; sie bilden ein Gewebe aus Gerüchten und Zitaten. Direkte Vision bzw. Offenbarung ist nicht mitteilbar ohne menschliche, vermenschlichende Bearbeitung. Das Paradox der göttlichen Mitteilung wird durch die Christo­ logie nicht beseitig. Ist Gott Mensch, so wird er von den Zeitge­ nossen verkannt; ist Gott nur Gott, so wird er von niemandem erkannt. Ist er zugleich Gott und Mensch, käme alles darauf an, dieses «zugleich» nachzuvollziehen, selbst mit Jesus gleichzeitig zu werden.133 Dies verspricht die Heilige Schrift: «Gottes Wort für alle Zeiten» zu sein. In ihr spricht Gott mit jedem Individuum, zu allen Zeiten. Die Heilige Schrift entzieht sich der modernen Philologie. Die Philologie stösst nur zu Texten vor, in denen «Jemand wie Gott» spricht, als ob Jemand Gott wäre. Es mag genug theologische Erklärungen (oder Ausflüchte) geben, um plausibel zu machen, warum sich Gott nicht allen lautstark oder in Neonschrift am Himmel mitteilen will. Sein schierer Anblick von vorne gilt als tödlich. (Ex. 33, 23) Er zeigt sich nicht, um uns nicht auf der Stelle zu zerstören. Doch warum lässt er sich nicht öfter und deutlicher hören? Diese Art von Mitteilungen in einer modernen Gesellschaft wäre kaum von einer Dauerwerbesendung zu unter­ scheiden und sogar dem Verdacht ausgesetzt, dass sie von «Kapitalis­ ten», Jesuiten oder «Verschwörern» erschaffen und gelenkt würde. Es wäre eine Art von unwiderstehlicher Gross-Manipulation: Niemand könnte ausweichen, keiner zweifeln, Glaube an Gott wäre überflüssig, Misstrauen würde sofort im Keim erstickt. Gott wäre nicht nur überdeutlich, sondern er würde sich auch als übermächtig erweisen. Menschliche Freiheit steht auf dem Spiel, auch die Freiheit, sich einer Religion oder aller Religion zu entziehen, kräftig zu «sündigen», ganz oder wenigstens hinreichend mündig zu werden usw. Gott wäre über­ präsent wie Vormünder und Eltern, die Einfluss und Kontrolle auf ihre heranwachsenden Kinder nicht allmählich reduzieren, um diese in die Selbstbestimmung zu entlassen. Gott, so wird man den Sachverhalt von «Gottes Schweigen» deuten, verzichtet auf Eingriffe, Übergriffe, und damit auch auf eine Art von unwiderstehlicher Verständlichkeit oder zwingender Kommunikation. Gott bleibt bis zu einem gewissen Grad unverständlich, hüllt sich in eine Wolke, macht aus sich ein 133 Vgl. Hayo Gerdes: Søren Kierkegaards ›Einübung im Christentum‹. Einführung und Erläuterung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, 74–78.

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Geheimnis, bleibt (als ewiger Gott für endliche und sündhafte Wesen) ein Geheimnis. Es ist kein Zufall, dass sich die europäische Romantik nach 1800 in einer kritischen Weiterführung der Aufklärung als religions­ freundlich erweist und zugleich Religion umdeutet in etwas, was im Gefühl und im einem unabschliessbaren Prozess der Kommunikation residiert, nicht oder jedenfalls nicht primär im Intellekt. Friedrich Schleiermacher meint, dass alles Verstehen vom Missverständnis ausgeht134 (und zu alten oder neuen Missverständnissen zurück­ kehrt), und Friedrich Schlegel äussert sich in einem «Fragment» mit dem Titel «Über die Unverständlichkeit» lobend über jenen Rest des Unverstandenen, der manche von Religion und Lyrik abschreckt und andere immer wieder darauf zurückführt. Er spricht es als ironisches Lob aus und meint damit etwas Ernsthaftes, wenn er schreibt: «Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? – Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhe auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, dass man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann. Eine unglaublich kleine Portion ist zureichend, wenn sie nur unverbrüchlich treu und rein bewahrt wird, und kein frevelnder Verstand es wagen darf, sich der heiligen Grenze zu nähern. Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muss, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.»135

Das ironische Lob der Unverständlichkeit, vergleichbar mit dem ironischen Lob der Torheit des Erasmus, ist kein Plädoyer für die Ausweitung des Obskurantismus, den Rückfall in Barbarei usw., 134 Zum Überblick über Schleiermachers Vorlesungen und Werke über Hermeneutik vgl. F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977; Dietz Lange: Hermeneutik, in: Schleierma­ cher Handbuch. Herausgegeben von Martin Ohst, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 300–308. 135 Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit (1800), zitiert nach Stefan Matu­ schek: Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik, München: C.H. Beck 2021, 36. Schlegels Text ist auch zugänglich in Friedrich Schlegel: Schriften zur Kriti­ schen Philosophie 1795–1805. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko, Hamburg: Meiner 2007, 104–116.

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sondern eine Erinnerung daran, dass ein Anteil des Besten, das wir im Leben erfahren, nicht rational auflösbar, unverfügbar, weder erkennbar noch machbar, sondern intransparent136 bleibt, sei es als «blinder Fleck», als «Zufall» oder «Fatum», sei es als «Blackbox», sei es als jenes, was uns zurückstösst und zugleich anzieht, die Liebe zu einem «schwierigen Menschen», der Liebende selbst, der sich als «schwieriger Mensch» entdeckt und gleichwohl geliebt fin­ det, jene Spur des Unverständlichen, welche die Ausdruckskraft von Dichtung und Gebet erhöht. Das Unverständliche irgendwie «anzu­ nehmen» hiesse, ihm nicht besserwisserisch zu begegnen, es nicht als unerwünschte Abweichung oder «Alterität» eliminieren zu wollen. So spricht Goethe mit Eckermann über sein Hauptwerk: «Der Faust […] ist doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich. Auch muss man bedenken, dass der erste Teil aus einem etwas dunklen Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauf­ lösbaren Problemen.»137

Was Goethe vom «Faust» sagt, trifft mutatis mutandis auf das Buch Hiob zu. Dass in diesem Buch (angeblich) Gott selbst spricht, «löst keine Probleme», etwa jene der Theodizee, sondern ist ein Anstoss zu weiterem, nicht abschliessbarem Denken. Nur für Hiob selbst (als Figur in einem poetischen Text) ist es das heilende Wort. Eine «elitäre» Erklärung scheint die Frage nach der direkten Rede Gottes zu beantworten: Gott redet nicht permanent und nicht mit allen, sondern nur höchst sporadisch und nur mit einigen Auserwähl­ ten, die er meist zuvor besonders streng prüft und nach seinem Willen auswählt. Warum er gerade Hiob auserwählt und ausgerechnet seinen Gerechten leiden lässt, bleibt unbeantwortet. Umgekehrt kann ich ohne Aussicht auf Antwort fragen: Warum blieb ich (bisher) von Vgl. Niklas Luhmann: Die Kontrolle von Intransparenz. Hrsg. und mit einem Nachwort von Dirk Baecker, Berlin: Suhrkamp 2017; Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Wien, Salzburg: Residenz Verlag 2018. In diesen Zusammenhang gehört die von Max Scheler gemachte Unterscheidung von Heilswissen als liebender Teilnahme und wissenschaftlichem Herrschaftswissen. Vgl. Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926 (= Scheler, Gesammelte Werke, Band 8, 3. Auflage hrsg. von M.S. Frings, Bern: Francke Verlag 1980). 137 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Einführung von Ernst Beutler mit erklärendem Register, Zürich: Artemis Verlag 1948, dritte Aufl. 1976, 348 [Sonntag, den 3. Januar 1830]. 136

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der grauenhaften Prüfung verschont? Warum gibt es Verschonte und Verwöhnte? Schwer Geprüfte, so heisst es nach einer Erwählungslehre im Geiste Calvins, erhalten keine Antwort auf die Warum-gerade-ichFrage, sondern eine Aufgabe: sie werden zu Zeugen, Vermittlern oder Sprechern, Priestern, Propheten, Sehern, Orakeln oder von Gott gesalbten Königen, oder Gott als138 der inkarnierte, wirkende, leidende und auferstandene Logos wird zur Selbstoffenbarung Gottes in Christo. Gott wählt gleichsam den Umweg, die Indirektheit für die meisten, und selbst seine Geburt als Mensch bringt den Menschen Gott näher, aber als Inkognito in einem Menschen aus Fleisch und Blut. Dass es ein «Mangel» Gottes sein könnte, (noch) nicht inkar­ niert zu sein, wird in einer Klage Hiobs angedeutet: «Hast du denn auch fleischliche Augen [Menschenaugen], oder siehst du wie ein Sterblicher sieht?» (Hiob 10, 4, aus Hiobs erster Antwort auf Bildad)

Diese Stelle kann als rhetorische Frage verstanden werden, die wie der folgende Vers verdeutlichen will, dass Gott nicht endlich und nicht fleischlich ist. Die Antwort wäre ein kategorisches Nein. Gott ist nicht fleischlich. Die Stelle könnte (mit spekulativer Freiheit gelesen) auch Klage und Anfrage nach der Empfänglichkeit Gottes für die Erfah­ rungen und Leiden fleischlicher Wesen sein. Wie kann ein ewiges Auge menschliche Sorgen und Leiden je ganz ergründen? Das klingt fast wie eine erkenntnistheoretische Frage nach der Erkennbarkeit des endlichen Menschen durch einen ewigen Gott. Eine Möglichkeit wäre, dass Gott seine Geschöpfe besser versteht, weil ihm nichts Menschliches fremd ist, weil er selbst durch Inkarnation die Gestalt eines Menschen annehmen will, um als Gottes Sohn sich in der Realität mit den Menschen zu freuen und zu leiden. Alle Menschen haben als seine Geschöpfe eine gewisse Emp­ fänglichkeit für Gottes Offenbarungen, ja sie haben bereits sein Gesetz ins Herz geschrieben (das Gewissen), aber es gibt Barrie­ ren, die sich aus ihrer Endlichkeit und der «Sünde» ergeben. Gott verschliesst sich nicht den Menschen, sondern die Sünde verstopft 138 Das «hermeneutische Als» erinnert daran, dass Gott in Christo wie in einer verständlicheren Übersetzung zu uns spricht, als wollte Gott in Christo den Menschen besser verstehen und sich damit dem Menschen verständlicher machen. Aber die Inkarnation Gottes in einem Menschen (einem Mann!) reizt auch zum Widerspruch und hermeneutischen Kannitverstan gegen den verdächtigen Anthropomorphismus nach der Kritik von Xenophon und Protagoras in der Antike.

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die Ohren, welche (die Stimme, das Wort Gottes) nicht mehr hören können. Im Paradies, in manchen Erzählungen der hebräischen Bibel, in Psalmen und im Buch Hiob gibt sich Gott (immer wenigen Indi­ viduen) in eigner Stimme zu vernehmen; im Neuen Testament wird nach Luhmann direkte Mitteilung Gottes als Stimme von oben rar, gar überflüssig, da nun Jesus selbst Herrenworte spricht. Nach der Auf­ klärung gilt ein ungeschriebenes «drittes Testament», das besagt, dass Menschen vernünftig und mündig genug sind und Gottes Interventio­ nen in der Welt nicht mehr bedürfen. Es verkündet das Evangelium der Autonomie. In diesem Rückzug Gottes aus der Geschichte liegt die besondere Prüfung des aufgeklärten Menschen durch Gott: dass sich Gott nicht einmischt, nicht auf diese oder jene Weise die Gesetze der Natur stört, weder leise noch mit Donnerstimme spricht. Der Mensch ist auf seine eigene Vernunft gestellt; Gott spricht nicht mehr mit ihm, weil der Mensch es nicht mehr braucht. Er ist reif und vernünftig genug für einen vernünftigen Glauben an Gott. Doch ist der Gott der Vernunft und Philosophen auch der lebendige Gott? Wenn der Mensch nach der Aufklärung gleichwohl versucht, im Gebet und Ritual mit Gott zu sprechen, so spricht er in der Sprache seiner Herkunft, seiner Gemeinde – Gott wird als Trost und Instanz von Versprechen quasi verfügbar gemacht. Zugleich gibt es immer wieder den Schock, die Krise, wie damals, nach Psalm 89, 20–38, als Gott selbst (durch eine Vision!) in eigenen Worten seinen Heiligen und dem messianisch erhöhten David ewige Bundestreue versprach, und Volkes Stimme und schliesslich der Einzelne vor Gott dagegen spricht (Ps. 89, 39–53) und sich über den Vertragsbruch Gottes beklagt, der sich offenbar, nach schweren Niederlagen und Zerstörungen der Mauern – durch den Feind? durch Gott? durch Gott als Feind? – nicht an seine eigenen Regeln und Versprechen hielt, wankelmütig, zornig oder durch grollenden Rückzug «ausrastete», als wäre er nicht der unbewegte Beweger des Aristoteles, sondern der bewegliche Beweger der Tora und der Propheten. Der Gebetsruf des spannungsreichen Psalms mündet in die Klage «Wie lange noch?» (vgl. Ps. 89, 47) und in das Lob Gottes. Wie im Buch Hiob kann die betende Stimme dem Volk und dem Einzelnen zugeordnet werden. Der Mensch wendet sich vertrauensvoll an den ewigen (= konstanten) Gott, und dieser erweist sich als launisch, reumütig und intransparent. Ist Gottes «Wesen» so, oder ist es der Ewige, wie er dem Menschen begegnet, der die Kürze seines Lebens bedenkt? Das Gebet als Dank und Bitte, Klage und Unterwerfung unter Gottes Willen spiegelt diese Ambivalenz oder

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Unverständlichkeit Gottes (oder des Menschen selbst). Gott steht für das unbedingte Vertrauen und für den Vertrauensbruch (Gottes und des Menschen). Das Verhältnis Gott und Mensch wird unauflöslich wie ein Spiegelverhältnis zwischen Verwandten, die sich einander besonders nahe fühlen und trotzdem immer wieder missverstanden und zerstritten sind. Gott selbst scheint sich periodisch zurückzuzie­ hen und wieder anzunähern. Manchmal wird Gott zum Partner, der mit sich reden und verhandeln lässt und selbst deutlich antwortet; manchmal wird er zum schlechthin Anderen, mit dem wir nicht reden, den wir nicht hören oder verstehen können. An diesem Punkt der Beschreibung könnte man das Interesse an Gott verlieren. Es ist kein Interesse, das zur Wissenschaft qualifi­ ziert. Es wird nicht gerne gesehen, wenn Forschende bekennen und sich nicht darauf beschränken, ihre religiösen (oder antireligiösen) Überzeugungen und Praktiken in die Privatsphäre zu verbannen. Probleme, die sich nicht eindeutig bewerten lassen, werden in die Privatsphäre verbannt. Dort gibt es die Chancen einer Kommunika­ tion in Familien und Gemeinde, den Austausch mit Freunden oder das Therapiegespräch, um Probleme des gestörten Urvertrauens und seine Auswirkungen auf Befinden und Lebenstauglichkeit zu erörtern oder zu behandeln. Die Wissenschaft hat sich längst zurückgezogen und verhält sich streng beobachtend oder «statistisch» zum Glauben, der die Menschen einer grösseren Gemeinschaft eher polarisiert als zusammenschweisst. Und wenn Religion Gruppen oder gar Staaten und Imperien zusammenhält, dann ist das nur möglich durch Kon­ trolle und Sanktionen gegenüber jenen, die nicht mitmachen. Mit der modernen Ausdifferenzierung des Wertes einer Privatsphäre und eines Schutzes von persönlichen Daten gibt es einen Freiraum, der es Menschen erlaubt, ohne «Bestrafungen» durch andere auf ihre Façon selig zu werden. Dass Gott sich in direkter Rede an die Menschen wendet, ist also heute noch mehr als in Antike und Mittelalter eine potentielle Bedrohung oder Zerstörung der Privatsphäre jener, die anders oder gar nicht an den einen Gott glauben. Die Privatsphäre ist auch heute nicht sakrosankt und kein Schutzschild für die Straflosigkeit häuslicher Gewalt oder der Vorbereitung von Straftaten. Doch vor einer überlauten Radioansprache Gottes werden wir in unseren vier Wänden und hoffentlich auch auf den meisten öffentlichen Plätzen verschont. Damit sinkt auch die Bereitschaft, mit Gottes Offenbarung zu rechnen oder sich auf diese Eventualität vorzubereiten und einzu­

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üben. Wir hören Gott nicht mehr zu uns reden, weil wir unsere Ohren nicht reinigen. Die Ohren werden verstopft durch den Lärm und das permanente Rauschen der Medien und Maschinen. Der «stille Ort» ist nicht mehr ein sakraler Bereich, sondern die Toilette. Dort hören wir nichts als unsere eigenen Geräusche und riechen nichts als den eigenen Gestank. Worauf will ich hinaus? Ich kann das Problem der direkten Rede Gottes auch nicht lösen. Es gibt dazu zwei Haltungen: – –

Es gibt keinen Gott. Es gibt nichts zu hören. Was als direkte Rede Gottes ausgeben wird, sind Erfindungen von Menschen. Es gibt die Hoffnung, dass Gott zu jedem Menschen sprechen wird. «Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.» (Mt. 8, 8)

Diese idealtypischen Gegensätze schliessen sich aus und sind immer noch lebendige Optionen139 und Lebensformen, die in einer pluralis­ tischen Gesellschaft koexistieren müssen. Die andere Fragestellung, ob Kommunikation mit Gott im Gebet möglich sei, soll hier nur noch kurz erwähnt werden. Sie wird auch so verstanden, dass nur seine Freundinnen und Freunde Gott erreichen, die immer wieder mit Gott reden. Freundschaft mit Menschen und mit Gott ist die Fortsetzung einer Kommunikation. Martin Buber und andere Autoren haben versucht, das Gebet als performative Anrede140 zu sehen, für die sich die Frage der Rede über Gott, insbe­ sondere die Frage, ob Gott überhaupt existiert, oder ob Gott jemals zuhört, wie von selbst beantwortet. Performative Anrede tut, was sie sagt: Sie spricht nicht oder nicht ausschliesslich über Gott (als «den grossen Abwesenden»), sondern wesentlich mit Gott als Schöpfer, Vater, Herr, Retter, Ewiger, Partner, der Eine unter vielen Namen, die zugleich Eigenschaften bezeichnen können, aber wesentlich als Eigennamen fungieren. Zu diesem Zweck wird die von Martin Buber angeregte Schreibweise der Pronomen und Adjektive für Gott mit Kapitälchen hier weitergeführt. Diese Hervorhebung deutet auf eine Vgl. William James: The Will To Believe (1896), London 1905, in: The Works of William James: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, Cambridge, Mass., London: Harvard UP 1979, 15–33; Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg, Basel Wien: Herder 2012. 140 Weiteführend dazu vgl. Karl-Heinrich Ostmeyer: Kommunikation mit Gott und Christus, Tübingen: Mohr Siebeck 2006; Günter Bader: Psalterspiel, Tübingen: Mohr Siebeck 2009; Michael Meyer-Blanck: Das Gebet, Tübingen: Mohr Siebeck 2019. 139

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gewisse «Befangenheit» des Autors hin, besser gesagt eine herme­ neutische Offenheit dafür, dass Kommunikation mit Gott möglich ist, auch wenn sie sich nicht aus den Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Kommunikation vollständig erklären lässt. Ganz ungeeignet scheint die Selbstabschliessung von Kommunikation auf einen idealen Konsens einer universalen Sprachgemeinschaft. Philo­ sophisch gesprochen geht es um Kommunikation zwischen Ewigkeit und Zeit, Transzendenz und Immanenz usw. Theologisch gesprochen können wir mit Gott reden, weil er uns zuerst nach seinem Bild geschaffen und uns zuerst in Adam (als Menschen) anspricht und dazu auffordert zu beten. Solange ich zu ihm bete, halte ich daran fest, dass es ihn gibt, und zwar nicht nur in der Form einer isolierten, sturen Meinung oder sozialen Konstruktion, sondern in Form eines Handelns, eines Sprechaktes, einer Lebensform, in der sich die Übung der Anrede und die Fortsetzung des Gesprächs wiederholen, vertiefen, erneuern und die Erfahrungen mit Gott erweitern. So spricht und hadert Hiob mit Gott in leidenschaftlichen Psalmen. Das ist keine ausschliesslich theo­ retische, sondern primär eine lebenspraktische «Lösung» der Frage nach der Möglichkeit der Kommunikation mit Gott. Es ist eine Form der Praxis der Verbundenheit mit Gott. Sie muss manche Krisen überstehen, auch jene ersten Krisen, die dazu führen, dass die Gesprä­ che von Kindern mit ihren Puppen aufhören, bis hin zu den Krisen der Mystiker, die sie als Wüste oder Durststrecke beschreiben. Die kindlich-symbiotische Vertrautheit mit Gott geht durch Prozesse der Aufklärung und Entfremdung hindurch. Das Gespräch wird beständi­ ger und bewusster sein müssen, eben wie ein Gespräch, das wir nicht abbrechen lassen, sondern selbst in der Abwesenheit mit lebenden und toten Menschen fortsetzen und das sich in uns und um uns (in der Gemeinde) als Gespräch mit Gott fortsetzt. Ist es unter Bedingungen der Moderne schwieriger, von Gott angesprochen zu werden und mit ihm zu sprechen? Ja und nein. Es ist schwieriger: Die Tendenz zur Ausweitung der Kommuni­ kation auf eine globale Verständigung erweckt den Eindruck einer völligen «Humanisierung der Kommunikation». Anders gesagt: die Ausweitung der Kommunikation entspricht der Diagnose eines von Menschen gemachten Universums der Verständigung, in dem sich so etwas wie ein nicht von uns konstruierter Gott nicht mehr findet. Damit wird naives Beten schwieriger.

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Nein, Beten in der Moderne ist nicht schwieriger, sondern ein wenig anders geworden. Wie könnten Umstände je schwieriger sein als jene, die Hiob widerfahren, der gleichwohl ehrlich und hinge­ bungsvoll betet? So steht sein Gebet als zeitloses Vorbild da für jenen, der «richtig von Gott spricht», indem er an ihm festhält, zu ihm spricht. Hiob ist ein Heiliger im Gebet, durch das Gebet, eine höhere Bestätigung, dass sich Gott seinen Gerechten als gerecht erweisen wird. Wenn wir heute beten, betet Hiob mit. Die Moderne bietet sogar den Vorteil, dass wir nicht nur als Betende von aussen oder mala fide beobachtet, kommentiert und verspottet werden, sondern dass wir auch wissen und ertragen müssen, dass wir unfreundlich beobachtet werden – wie auch wir unsere Beobachter beobachten und z.B. konstatieren, wie selbstgefällig, fanatisch, eigensinnig, unkorri­ gierbar, aber auch wie verzweifelt und hilflos «säkulare Besserwis­ ser» oder «ironische Polytheisten», «neue Atheisten» oder Wissen­ schaftsgläubige sein können. Die Frommen können es mitansehen, wie jene spöttischen oder gleichgültigen Beobachter, die den Gang in die Kirche meiden oder gar die Kirchen verachten, die nicht sterbenden Kirchen oder die wuchernde Religion ausserhalb der Kirchen in keiner Weise als «Evidenz» oder «Beweis» für den Glauben verstehen werden, sondern als Bestätigung, dass Fromme sich in religiösen Stützgruppen bestätigen und nach aussen absichern, wenn nicht sogar gegen Beobachtung und Kritik von aussen weitgehend immunisieren müssen. Das führt dazu, dass der Prozess der Klärung des Glaubens, verstanden als Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation, wesentlich unabschliessbar und immer nur begrenzt persuasiv bleibt, dass scheinbar entgegengesetzte Positionen nie «klar genug» sind, dass es kein alles entscheidendes Donnerwort und keine realistische Aussicht auf einen mehr als nur lokalen Konsens gibt. Keine Sprach­ gemeinschaft, keine Elite, keine Insel der idealen Kommunikation bildet einen nicht-beobachtbaren und nicht vernünftig bestreitbaren Standpunkt, die die Welt aus einem Punkt kuriert. Es gibt immer einen Rest von «reasonable disagreement». Es gibt kein «kosmisches Exil», keinen archimedischen Punkt, von dem aus man auf fromme Grüpp­ chen herunterblicken könnte, es wäre denn – ausgerechnet! – der ewige Schöpfer selbst, in Beziehung auf den sich die Frommen ihrer Grenzen, aber auch ihrer Nähe zur lebendigen Wahrheit versichern. Denn von Gott heisst es im Lob, zu ihm gesprochen: «Wer ist wie Du?» (Ps. 89, 9)

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Was zweierlei heisst: «Kein Mensch ist wie Gott.» Und: «Ich, Dein Geschöpf, bin niemand, gehöre Dir.» Mit dieser Zweideutigkeit scheint Paul Celans «Psalm» zu spielen. Es müsste friedliche Mittel und Wege geben, gegen den Rest der Gesellschaft und schliesslich in dieser Weltgesellschaft und mit allen zu leben, ohne sich in Gewalt und Kriege verwickeln zu lassen. Doch es gibt keine triumphierende Formel der Zusammenfassung und Überbietung aller bisher erreichten Reflexionen und Forschungen, kein gutes Schlusswort zur Frage nach Hiob oder Hioba in der Moderne – einige werden zum bisher Gesagten nicken, andere werden es als eine «schlechte Predigt» zurückweisen oder ignorieren. Immanuel Kant hat einen Seitenblick auf Hiob geworfen. In seinem Aufsatz «Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee» von 1791 spricht er sich gegen (pseudo-)wissen­ schaftliche Projekte der Rechtfertigung Gottes aus, hebt aber die Wahrhaftigkeit und Lauterkeit Hiobs hervor. «Hiob wird als ein Mann vorgestellt, zu dessen Lebensgenuss sich alles vereinigt hatte, was man, um ihn vollkommen zu machen, nur immer ausdenken kann. Gesund, wohlhabend, frei, ein Gebieter über andre, die er glücklich machen kann, im Schosse einer glücklichen Familie, unter geliebten Freunden; und über das alles (was das Vornehmste ist) mit sich selbst zufrieden in einem guten Gewissen. Alle diese Güter, das letzte ausgenommen, entriss ihm plötzlich ein schweres über ihn als Prüfung verhängtes Schicksal. Von der Betäubung über diesen unerwarteten Umsturz allmählich zum Besinnen gelangt, bricht er nun in Klagen über seinen Unstern aus; worüber zwischen ihm und seinen vorgeblich sich zum Trösten einfindenden Freunden es bald zu einer Disputation kommt, worin beide Teile, jeder nach seiner Denkungs­ art (vornehmlich aber nach seiner Lage), seine besondere Theodicee zur moralischen Erklärung jenes schlimmen Schicksals aufstellt. Die Freunde Hiobs bekennen sich zu dem System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit, als so vieler Strafen für begangene Verbrechen; und ob sie zwar keine zu nennen wussten, die dem unglücklichen Mann zu Schulden kommen sollten, so glaubten sie doch a priori urteilen zu können, es müsste deren auf sich ruhen haben, weil es sonst nach der göttlichen Gerechtigkeit nicht möglich wäre, dass er unglücklich sei. Hiob dagegen – der mit Entrüstung beteuert, dass ihm sein Gewissen seines ganzen Lebens halber keinen Vorwurf mache; was aber menschliche unvermeidliche Fehler betrifft, Gott selbst wissen werde, dass er ihn als ein gebrechliches Geschöpf gemacht habe – erklärt sich für das System des unbedingten göttlichen

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Ratschlusses. «Er ist einig», sagt er, «er macht, wie er will» (Hiob 23, 13) In dem, was beide Teile vernünfteln, ist wenig Merkwürdiges; aber der Charakter, in welchem sie es tun, verdient desto mehr Aufmerksam­ keit. Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Mute ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Mute sein würde; seine Freunde dagegen sprechen, wie wenn sie insgeheim von dem Mächtigeren, über dessen Sache sie recht sprechen, und bei dem sich durch ihr Urteil in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, behorcht würden. Diese ihre Tücke, Dinge zum Schein zu behaupten, von denen sie doch gestehen mussten, dass sie sie nicht einsahen, und eine Überzeugung zu heucheln, die sie in der Tat nicht hatten, sticht gegen Hiobs gerade Freimütigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt, dass sie fast an Vermessenheit grenzt, sehr zum Vorteil des Letzteren ab […] Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Überzeugungen zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich nicht vor Gott (wo diese List ohnedies ungereimt ist): diese Eigenschaften sind es, welche den Vorzug des redlichen Mannes in der Person Hiobs vor dem religiösen Schmeichler im göttlichen Richterausspruch entschieden haben.»141

Kants Kommentar zu Hiob zeigt eine Wertschätzung des Charakters von Hiob, der die Wirkungen seines Verhaltens weder auf andere Menschen noch auf Gott selbst berechnet. Hiob schmeichelt sich nicht ein, selbst mit seinem Lob des Schöpfers bleibt er sich selbst treu und lässt sich nicht zu einem erpressten und lügenhaften «Folterge­ ständnis» hinreissen, um seine Haut zu retten. Diese Wertschätzung Kants für Hiob ist sowohl grandios als auch einseitig; sie zeigt die aller Spekulation über übersinnliche Gegenstände abgeneigte Verach­ tung Kants für die, wie er meint, schlechte Qualität der Argumente, welche Hiob und seine Freunde (deren Theodizee) verwenden und vollzieht eine Reduktion des betenden Hiob auf dessen Redlichkeit und Selbstachtung: Hiob ist demütig vor Gott, ohne vor Gott zu kriechen. Zweifellos spricht durch diese identifizierende Deutung hindurch Kants eigene Ethik des guten Willens, seine Hochschätzung eines unbestechlichen, reinen Herzens und seine tiefe Abscheu vor Selbst-Täuschung und Kriecherei. Allerdings hätte es im Sinne von 141 Vgl. Kants Werke, Akademie Textausgabe, Band VIII Abhandlungen nach 1781, Berlin: de Gruyter 1968, 265f.

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Das Problem der direkten Rede Gottes

Kants Deutung Gottes Stimme vom Himmel herab nicht gebraucht; Gottes direkte Rede kann als Fiktion gelten. Kant bestätigt an Hiob das Fundament seiner vor 1800 ausformulierten autonomen Vernunft­ ethik. Dabei spielt auch der historische und epochale Kontext des Buches Hiob für Kants Erwägung keine Rolle. Der in seiner Zeit, unter seinen Zeitgenossen mit Gott ringende und betende Hiob sowie die wunderbare Gebetserfüllung durch die direkte Rede Gottes an Hiob und seine Freunde am Ende des Buches ist für Kant uninteres­ sant, gleichsam Schnee von gestern. Im Unterschied zu Schlegels frühromantischem Lob der Unverständlichkeit, das auch den Versuch darstellt, seine eigene Epoche im Blick auf Vergangenheit und Zukunft (eines besseren Lesens) auf das hin zu deuten, was menschliches Begreifen übersteigt, fehlt in Kants Bemerkung zu Hiob der Impuls, nochmals und erneut auf die Lektüre eines Klassikers der Antike zurückzukommen und ein besserer Leser dieses inkommensurablen Werkes zu werden. Kant findet in seiner knappen Hiob-Paraphrase, in der er mehr weglässt als ausführlich nacherzählt, Bestätigung seiner fertigen Moraltheorie, keine Erschütterung oder Bekehrung zur Selbstprüfung durch Erfahrung und Geschichte. Kant verharrt in der Epoche der Kritik und gelangt nicht in die Epoche der Selbstparodie, mit ihren subtileren Formen der Ironie und historischen Selbst-Dis­ tanzierung, aber auch mit dem Risiko für Schlegels Philosophie, sich in der reflexiv und chronisch werdenden Ironie zu verheddern.

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

«Mein Harfenspiel ist zur Klage geworden und mein Flötenspiel zum Trauerlied.» (Hiob 30, 31)

Das Buch Hiob enthält Lehre und Poesie. Wie geht das zusammen? Was für eine Klassifikation ergibt sich daraus, dass dieses Buch sowohl ein Weisheits-Lehrbuch als auch ein poetisches Buch ist? Es ist sowohl Fiktion als auch Überlieferung der Stimme Gottes, der zu seinem Knecht spricht. Ist dieses hybride Genre einer der Gründe, warum das Buch wie Goethes «Faust» als «inkommensurabel», weil nicht an einer scharf abgrenzbaren Gattung messbar ist? Wäre das ein Aspekt literarischer Qualität, auch antiker Literatur, nicht nur moderner, nämlich dass das Buch einmalig, nicht vergleichbar oder jedenfalls nicht leicht zu klassifizieren ist? Das Buch Hiob enthält Poesie. Sie drückt sich in Hiobs Klagen, aber auch im Lob des Schöpfers und der Schöpfung aus. Poetisch ist Hiobs Erinnerung an seine guten Zeiten. (Hiob 29) Sie gipfelt im Kontrast zu den anderen, als Hiob wie ein König inter pares war. (29, 25) Diese «Elite», wie sie René Girard142 nennt, war neidisch und voller «Liebedienerei»; man unterwarf sich dem Ruhm und Ansehen eines Gerechten vor Gott und den Menschen. So gleicht Hiobs Schick­ sal jenem des gestürzten oder gefallenen Königs, seine vormaligen Freunde dagegen gleichen Speichelleckern, die zur Meute mutieren. Hiobs Klage bezieht ihre Schärfe aus dem Kontrast zu seiner nostal­ gischen Erinnerung; die Klage richtet sich gegen Gottes Grausamkeit und gegen seine «Freunde», die ihn inzwischen anklagen und verflu­ chen, so wie Hiob einst selbst involviert war in die Verachtung oder Vertreibung der Väter jener Jungen, die ihn jetzt verachten, und die Ächtung der Armen und Verlierer der Gesellschaft. Hiob ist also in Ungerechtigkeit verstrickt gewesen; sein Glück war vermischt mit 142

Vgl. Rene Girard: Hiob. Ein Weg aus der Gewalt, Zürich: Benziger 1990, Kapitel 8.

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

Unrecht, das ihm damals nicht als Unrecht vorgekommen ist, dass er nun am eigenen Leib erfahren muss. Hier stellt sich die Frage, inwiefern Hiob selbst in die Denkmuster jener Freunde verstrickt war, die ihn nun bedrängen. Er war ja vormals selbst unter den Sicheren, die bereitwillig glauben, dem Unglück gebühre Verachtung. (Vgl. 12, 5) Dies ist konventionelle soziale Moral. Er wurde ebenfalls im Denken des Tun-Ergehens-Zusammenhang erzogen und hat dieses Denken übernommen, bevor ihm die eigene Erfahrung einen Strich durch die Rechnung machte. (Vgl. 27, 11–23) Die Tiraden über das schreckliche Los der Gottlosen wirkt auch in Hiobs Reden und Denken nach, und schon allein wegen der Evidenz dieser Konstruktion muss er immer wieder seine Unschuld beteuern! Er widersetzt sich der Evidenz, dass sein Unglück selbstgemacht sei (vgl. 4, 7, die Worte Elifas), dass nun Hiob nach dem Gesetz der Vergeltung (ius talionis) für (verborgene) Sünden bestraft werde. Zugleich gelingt es ihm nicht, in seinem Geschick eine verständlichere Sinnstruktur oder die automatische Bestätigung einer a priori-Struktur zu finden, welche den Sinn des Leidens mit dem Sinn einer Strafe verquickt. Oberflächlich betrachtet ist der Verlauf des Gedankengangs von 27, 11–23 verwirrend, als würde Hiob die Freunde mit ihrer eigenen Theorie, an die er zuvor und in Sicherheit sich wiegend selbst glaubte, verhöhnen. Daraus ergibt sich keine philosophisch akzeptable Schlussfolgerung, sondern eher ein Grübeln mit den Mitteln und innerhalb einer anerkannten moralischen Weltordnung, nach der die Gerechten gedeihen und die Gottlosen verderben, und dagegen, unvermittelt und unvermittelbar, eine Singularität, ein Fall für sich: der Fall des leidenden Gerechten, der nicht nur an der Verachtung der Menschen, sondern noch viel­ mehr an der «grausamen Abwendung» Gottes leidet. Das alles ist so wenig «logisch» oder durch eine Metaphysik a priori (vor aller Erfah­ rung) erkennbar, es ist so sehr nur eigene Erfahrung (a posteriori), dass die Ausdrucksweise dafür «poetisch» erscheinen muss. A priori und wider alle Erfahrung argumentieren die Freunde; insofern sind sie «Rationalisten», «Sophisten» oder «Metaphysiker». Sowohl Got­ tes Abwendung als auch seine Zuwendung sind nicht im Sinne einer quasi-wissenschaftlichen Theodizee «theoriefähig», sondern brechen aus der Ewigkeit ein, in den Bereich dieser lebensgeschichtlichen Erfahrung. Hiobs Erfahrung mit Gott ist theorieresistent. Wer das, was Hiob zustösst, nicht erfahren hat, kann nicht mitreden und sollte sein alltägliches Jammern über eigene Kalamitäten und sein Lästern über andere aus einer Position vermeintlicher Sicherheit nicht mit

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

Hiobs Klagen aus dem Abgrund der Verzweiflung verwechseln. Inso­ fern ist «Poesie» der Klagelieder eine Alternative zu einer alltäglichen Kommunikation, welche von einer gewissen durchschnittlichen Nor­ malität, einem scheinbar immer wieder bestätigten Tun-ErgehensZusammenhang ausgeht. Die «Prosa des Alltags» beruht weniger auf Erfahrung mit der göttlichen Weisheit als vielmehr auf Gerücht (vgl. 28, 22) Das Buch Hiob enthält Belehrung, ja sogar ein Lied von Gottes Weisheit (28), in dem sich die Gattung von Dichtung und Lehre wie zum «Lehrgedicht» zusammenfügen. Gleichwohl ist das Buch Hiob kein Lehrgedicht im Sinne von «De Rerum Naturae» von Lukrez, keine in elegante Verse und schöne Bilder verpackte Weltweisheit (ein älteres deutsches Wort für Philosophie). Die Belehrung geht in eine Richtung der Aufhebung von Philosophie als Torheit. Hiobs «Weis­ heit» besteht nicht in der scheinbar unvorsichtigen Behauptung, er sei ein Mensch ohne Sünde oder er habe vormals wie auch jetzt eine «reine Weste», sondern lediglich darin, dass er damals und besonders auch jetzt seine Lippen zähmt und nichts Unrechtes gegen Gott sagt. Es ist die Weisheit des Schweigens. (Vgl. 13, 5) Wie sich in der Rede Gottes herausstellt, hat sich Hiob in diesem Punkt nicht geirrt. Gott wird von Hiob sogar als «grausam» (Hiob 29, 21) angeklagt, aber Gott selbst wird zum Anwalt Hiobs. Hiob ist nur die Rolle jenes Menschen zugewiesen, welcher die Lästerung Gottes, die Sünde wider den heiligen Geist vermeidet und damit auch anderen kein verderbliches Beispiel eines von der Treue zu Gott abgefallenen Menschen liefert. Seine Treue oder Anhänglichkeit zu Gott mutet in der Extremerfahrung seiner Verluste fast übermenschlich an, doch Hiob hat, ob er das zu jedem Zeitpunkt mit Sicherheit glaubt oder nicht, Gott als seinen Anwalt und Retter auf seiner Seite. Gott hat sich bereits vor der «Prüfung» (die vielleicht gar nicht diesen Namen verdient) für «seinen Knecht» entschieden. Der eigentliche und ein­ zige «Held» ist nicht Hiob, sondern der Ewige. Das Buch Hiob haben Aussenseiterinnen wie Simone Weil kom­ mentiert, weil sie darin einen «Sinn» sahen, der das Begreifen der Philosophie übersteigt. Einerseits führt Hiob das Leiden zur interes­ selosen Bewunderung der Erhabenheit und Schönheit der Schöpfung. Andererseits motivieren ihn der Schmerz und der Schock nicht nur seiner Schicksalsschläge, sondern auch die Wucht der zweiten Rede Gottes aus dem Wettersturm (ab 40, 6), der «Drohung» mit den Seeungeheuern, dazu, Hiob «abzulösen» vom «Band». Hiob ist in der

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

Phase des Leidens und Klagens an der «Arbeit des Durchbeissens», der Arbeit der Erinnerung an das Gesetz, an das er sich hielt und weiter hält, ohne dass es ihn vom Unglück bewahrt hätte. Die Stimme der Väter ist so sehr verinnerlicht, dass die Erfahrung des Unglücks und des «ausbleibenden Gottes» die Wahrheit der Weisheitslehre und ihre Ausdeutung der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott Lügen straft. «Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaf­ fen und ihn zum Abbild seines eigenen Wesens gemacht.» (Weish. 2, 23) Mit dem Klang der «Stimme Gottes» – ach könnten wir lesenden Epigonen diesen wunderbaren Klang noch einmal hören! – wird ihm als Teilerfolg der Askese die Gnade gewährt. So steht paradoxerweise die Rede Gottes von der bedrohlichen Seite des Schönen, das «es gelassen verschmäht, uns zu zerstören» (R.M. Rilke, Erste Duineser Elegie), für die Gnade, die erst jetzt eintritt. Hiob, der sich dem Tod nahe glaubte, von seiner Frau und den Freunden als Moriturus behandelt wurde und damit in der Gefahr der Hoffnungslosigkeit der Gottlosen (vgl. Weish. 5, 14), wird begnadigt. Wie aus der Todeszelle nochmals entlassen, wird er ein zweites, erneuertes Leben antreten. Wichtig ist für diese Deutung, dass Hiob sich in der Leidenszeit nicht als von Gott geprüfter und auserwählter «Star» vorkommt, dass er nicht ganz versteht, wie sehr ihn derselbe Gott, der ihn derart ungewöhnlich leiden lässt, bevorzugt. Das könnte ihm «in den Kopf steigen», wenn er es wüsste oder auf sich bezöge wie gewisse politi­ sche Kreise im Judentum auch ohne religiöse Praxis an der Vorstellung einer besonderen «Auserwähltheit des Volkes Israel» festhalten. Aus­ erwählt oder von Gott privilegiert zu sein: nichts von alledem darf wie ein Recht beansprucht werden. Es gibt einen Tugendstolz und einen Märtyrerstolz. Beiden kann man entgegenhalten, dass es ihnen noch an Demut fehle.143 Nicht über das Gefühl der Auserwähltheit, sondern nur über den Weg der vollständigen «mortificatio» kehrt Gottes Gnade zu Hiob zurück. Hiob sieht sich nicht als der «Lieblings­ schüler» Gottes, sondern er muss, bevor die Gnade wirken kann, sein Nichts lieben. «Mein Nichts lieben, lieben, nichts zu sein.»144 143 Vgl. Jonas Puchta: »Du bist mir noch nicht demüthig genug». Phänomenologi­ sche Annäherungen an eine Theorie der Demut, Freiburg / München: Verlag Karl Alber 2021. 144 Simone Weil: Cahier. Aufzeichnungen. Hrsg. und übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, München, Wien: Carl Hanser Verlag 2. Aufl., Band 2, 2017, 186.

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

Das ist wie gesagt kein «wissenschaftlicher», sondern ein persönlicher Kommentar Simone Weils in der Nachfolge und Weiterführung der Tatsache, dass Hiob nach seinem «Königssturz» nur noch der Privat­ mann ist und nur noch vom Einzelnen, von der Einzelnen existentiell nachvollzogen werden kann. Ein solcher Kommentar führt zurück ins Leben und Werk der Autorin, Simone Weil, die sich dieser langsamen Ablösung von der Welt gestellt hat, um herauszufinden, «auf welcher Stufe die Liebe steht.»145 Hiobs Schmerz dient der Selbstprüfung, er ist unverzichtbar, um von der Zeit in die Ewigkeit zu gelangen.146 Dieser «Sprung» ist nicht durch Askese zu erzwingen. Askese bleibt nur Vorbereitung und kann in eine Finsternis ohne Gott führen. Um die Unmöglichkeit einer asketischen Selbsterlösung zu veranschauli­ chen, greift Simone Weil auf ein Bild aus dem Johannes-Evangelium und der Mythologie des ersten Menschen zurück, der über ein «Chlo­ rophyll» verfügte, dass es ihm erlaubte, sich vom Licht (der Liebe Gottes) und einigen Mineralien allein zu ernähren.147 «Jesus spricht zu ihnen: Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.» (Joh. 4, 34)

Die himmlische Liebe wäre abgelöst vom Verzehr anderer Lebewesen und der Notwendigkeit eines Körpers mit einem Darm. So malt es die Mythopoese von Adam Kadmos148 aus: eine schwebende Androgyne ohne Unterleib, das absurde Fernziel einer turnerischen oder technischen Askese. Um vollends zu «beweisen», dass das Buch Hiob nicht eine verkappte Philosophie in lyrischer und narrativer Form ist, wird das Unverständliche in der Rede Gottes auf die Spitze getrieben. Manche Menschen stehen vor einer modernen Skulptur oder einem dadaistischen Gedicht und sagen: «Das verstehe ich nicht. Das kann man nicht verstehen.» Diese Reaktion wird sich auch angesichts der Rede Gottes einstellen, die den Menschen Hiob mit der Horrorgeschichte eines mythischen Behemoths und Leviathans (Hiob 40f.) brüskiert, fast so, wie der Teufel und das Krokodil im Kasperle-Theater eine Schar von Kindern aufwühlen und entsetzen. Nur geht es hier nicht um Unterhaltung für Kinder, sondern um die Simone Weil, a.a.O., 185. Simone Weil, a.a.O., 117. 147 Simone Weil, a.a.O., 130. 148 Vgl. Ernst Benz: Adam und der Mythus vom Urmenschen, München-Planegg: Otto-Wilhelm-Barth-Verlag 1955. 145

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Eine poetische Lehre aus den Schrecken des Leviathan

Unverständlichkeit der Schöpfung, hinter der die Unverständlichkeit des Schöpfers aufscheint. Kein Anhänger der Theorie des kommuni­ kativen Handelns von Jürgen Habermas wird von einer Stimme «aus dem Wettersturm» mit sich reden und sich von Behemoth und Levia­ than in Angst und Schrecken versetzen lassen. Der Leviathan ist kein fairer Player in einer «herrschaftsfreien Kommunikation», son­ dern scheinbar ein nicht-menschlicher oder dämonischer Despot, der fest im Sattel sitzt und seine Untertanen nicht mit Schmeicheleien oder Argumenten überzeugt, sondern anherrscht. Mit dem furchter­ regenden Leviathan lässt sich kein Bund schliessen (40, 28); ein Bündnis im vernünftig-aufgeklärten und moralisch bindenden Sinne wäre nur unter Gleichen möglich. Ähnlich besteht der «Vertrag» im staatsphilosophischen Werk Leviathan von Thomas Hobbes (1588– 1679) nur unter Menschen: jeder Mensch muss mit allen anderen Menschen seines Territoriums einwilligen, sich dem Leviathan zu unterwerfen. Der Leviathan als «sterblicher Gott» ist durch keinen Vertrag und keine Gesetze gebunden; er kann nicht vor Gericht gezo­ gen werden.149 Doch im Unterschied zum unsterblichen Gott wird der Staat dereinst untergehen. Steht der absolutistische Staat über den gleichen Bürgern, wie viel mehr trifft dies auf den unsterblichen Gott zu! «Denn er ist nicht ein Mensch wie ich, dem ich antworten könnte, dass wir miteinander vor Gericht gingen.» (9, 32, vgl. 9, 19) Vor Gott gibt es nur «Pseudoverhandlungen» und – früher oder später – Unterwerfung und Tod. Der Herrscher ist kein Bürger aus unserer Mitte. Gott gibt keine Antwort, sondern eine Belehrung (42, 4), eine magistrale «lectio divina» aus Zurechtweisung und kultischen Aufgaben, schliesslich sogar mit einer «Rechtfertigung Hiobs». Doch offenbar ist es weniger der Inhalt der Reden, sondern vielmehr die (mütterliche oder väterliche) Stimme, welche die Wir­ kung der Gnade hat. Wie mag Gottes Stimme geklungen haben? Wie Glocken? Wie das Brausen der Orgel? Mit welcher Musik wäre die Stimme Gottes, das Brausen aus dem Wettersturm vergleichbar? Bleibt die «Stimme Gottes» wie das Licht als Nahrung «nur» eine weitere Metapher für die himmlische Liebe?

149 Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan (1651). Revised student edition. Ed. by Richard Tuck, Cambridge: UP 1996.

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Gottes leise Stimme

Ist eine unhörbare Stimme noch eine Stimme? Wie leise kann eine Stimme werden und doch noch Stimme bleiben, vernehmlich dem Ohr, von jemand, der spricht, nicht nur noch «innere «Stimme» und Stimmung? Was wäre das für eine Stimme, die nur einer hört? Müssten es nicht viele oder alle hören wie die lauten Stimmen der Medien? Ist eine unhörbar werdende Stimme überhaupt noch eine Stimme, kein Verstummen? Oder liegt es an der Harthörigkeit, an der Verstocktheit von Ohren, die nicht hören wollen, dass die Stimme nicht mehr spricht? Wie, wenn die Stimme des Ewigen Unsichtbaren für die meisten Menschen lautlos bliebe? Nur wenige können ihn wie Moses auf dem Sinai autoritativ reden hören, oder wie Elia am Horeb im Flüstern des Windes und seinen anschliessenden Anweisungen vernehmen. «Die Stimme eines verschwebenden Schweigens», wie Martin Buber übersetzt, ist das Medium, aus dem heraus Gott mit Elia spricht.150 Es ist das Verstummen der (dämonischen) Kräfte der Natur. Auserwählte nur scheinen den «lieblichen Klang seiner Gesetze» zu vernehmen. Das Gesetz wird von den «Fussgängern», dem murrenden Volk, als Probe und Qual geschmäht und wie eine sinnlose Ampel mitten in der Wüste umgangen, nicht als einzigartige Himmelsleiter benutzt. Nach dem spektakulären Opferwettstreit des Elia auf dem Karmel mit dem vom einen und wahren König (wie er in den Psalmen 93– 100 gelobt und gepriesen wird) mit dem seiner Frau Isabell Hörigen und Baalsdiener, dem abtrünnigen König Ahab (dem Archetypen von Melvilles unerbittlichem Holzbein-Kapitän Ahab in Moby Dick) und dessen Propheten, die hinkend und erfolglos um ihren Altar tanzen, als der Herr Zebaoth und Zelotes mit Feuer vom Himmel zu Elia sprach und mit der Gewalt von Flammen vom Himmel das Gebetsopfer des Elia erhört (1 Könige 18), folgt im äussersten Kontrast 150 Vgl. Rabbi Nachmann von Breslav. Lobpreis und Lehrgespräche nach den Auf­ zeichnungen seiner Schüler. Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Hans-Jürgen Becker, Berlin: Jüdischer Verlag in Suhrkamp Verlag 2021, 148f.

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dazu die Szene am Horeb. (1 Könige 19) Sie entwirft das Gegenbild auf die Parodie des lautstarken Baalskultes. Es ist ein locus classicus für die Art und Weise der Bekundung des Numinosen bis an die Grenze einer «sprachlosen Stimme», einer Stimme aus dem Verstummen der Gewalt der Natur, Belegstelle für Vorbehalte gegen einen naiven Naturpantheismus, Dokument einer alle Worte übersteigenden Mit­ teilung Gottes an seinen auserwählten Propheten. Dort wird sogar explizit ausgeschlossen, dass Jahwe mit Krach und Krawall spricht. Diese «Rede» Gottes, die sich zu jeder Zeit für jeden Menschen aus der Stille aufkeimend wiederholen kann, sollte in der Geschichte der Menschen in Erinnerung bleiben bis ans Ende der Tage. Da Vorüberfahrender: Ein Sturmbraus, gross und heftig, Berge spellend, Felsen malmend, her vor seinem Antlitz: er im Sturme nicht – und nach dem Sturm ein Beben: er im Beben nicht – und nach dem Beben ein Feuer – er im Feuer nicht –, aber nach dem Feuer eine Stimme verschwebenden Schweigens. 1 Könige 19, 11–13a.151

Wie Gott Adam nach dem Sündenfall fragt: «Adam, wo bist du?» stellt er erneut die Frage: «»Was hast du hier zu tun, Elia?» (1 Könige 19, 13b) Gott braucht von Adam bzw. Elia nicht etwas zu wissen, was er nicht wüsste; der Ewige fragt nicht nach einer Information, die er, für den es kein Noch-Nicht gibt, noch nicht hätte; Gott weiss alles, bevor er es aus dem Mund des Menschen vernimmt – er hat den Mund des Menschen geschaffen und kennt seine verborgenen Gedanken und selbst das, woran noch niemand gedacht hat. Gott fragt, weil er es liebt, sein Geschöpf anzurufen, sein Kind zu wecken. Er nennt den Menschen DU; er gibt sich als Person aus den unpersönlichen Elementen zu erkennen, der Erhabene macht sich anthropomorph, personifiziert sich, macht sich zum Du, das angerufen werden kann. 151 Die Schrift. Band 2, Bücher der Geschichte. Verdeutscht von Martin Buber, gemein­ sam mit Franz Rosenzweig, Deutsche Bibelgesellschaft, Gütersloher Verlagsgesell­ schaft, 8. Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1955, 406.

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Er ist der, der sich nähert, das Gebet der Menschen erhört, bevor sie reden, auf seine Weise, nach seiner Weisheit, nicht immer gleich Wünsche erfüllt, wie es die Menschen gerne hätten oder wie sie ihn, gelobt sei sein Name! erpressen und manipulieren möchten. Der Höchste hat mit Elia etwas vor, gibt ihm Anweisungen und Zeichen der Bestätigung. Es ist kaum zu überschätzen, welche Bedeutung der betende und lauschende Elia für das Gottesleben von Juden, Muslimen und Christen hat oder haben sollte. Gottes Reden an Hiob erfolgen mit szenischer Angabe als Stimme aus dem Wettersturm, als eine Stimme, die das Brausen übertönt oder selbst im Brausen besteht, eine brausende, stürmische, imperiale Antwort, in der sich Gott seinem Getreuen und seinen «falschen Freunden» laut und deutlich nähert, sie Du und beim Namen nennend, ein Gott, der die Menschen kennt, nicht ein Gott, dem die Menschen unbekannt, unverständlich, gleichgültig sind. Die Elia-Geschichte verläuft in Erzählformen der Legende. Wer wird heute noch wie Elia am Bach Krit von Gottes Raben mit Brot und Fleisch gefüttert? Daraus könnte man die Forderung eine «Dis­ tanzierung» oder «Historisierung» ableiten, welche besagt, dass es in jene «unvordenklichen Zeiten» gehört, als Gott noch mit einigen Menschen sprach. Daraus entsteht die Neigung zur Unverbindlich­ keit, als ginge es in der Gottesrede nicht um mich, um uns, um alle, sondern eben nur um jene, die damals lebten. Es wäre keine «Wahr­ heit für alle», keine «Wahrheit für uns und für mich», sondern «nur Wahrheit für jene». Wer so «relativiert», verfehlt die Wahrheit, die nicht von Menschen gemachte. Der eifernde ewig Treue, der uns befreien will, kommt der distanzierenden, vermeintlich «wissen­ schaftlichen» Exegese nicht ins Ohr. Martin Buber gibt im ersten Kapitel seines Büchleins «Der Weg des Menschen. Nach der chassidischen Lehre»152 der Bedeutung von Frage und Antwort in der Paradieserzählung eine einfache Wendung. Es gilt in jeder Generation neu zu vernehmen, dass er nicht in alten Legenden zu längst Verstorbenen spricht; der Ewige spricht zu jedem Menschen zu jeder Zeit. Der Mensch, der Gottes Stimme vernimmt, antwortet gottesdienstlich. Die Frage «Wo bist du, Adam?» richtet sich an Dich und mich; wir sind es, Du und ich, die sich vor dem Martin Buber: Der Weg des Menschen. Nach der chassidischen Lehre, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962. Wieder abgedruckt in Buber: Werke, Dritter Band: Schriften zum Chassidismus, München, Heidelberg: Kösel-Verlag, Verlag Lambert Schneider 1962, 713–738. 152

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Ewigen verantworten müssen. Es ist mehr als nur eine «religionsge­ schichtlich interessante Frage», es ist eine «existentielle Frage», und zugleich die Frage nach der Wahrheit (Bewährung, Bewahrheitung) Gottes in seiner Rede. Wenn ein Mensch anruft und am Telefon fragt: «Wo bist Du?», dann will er etwas erfahren, was er noch nicht oder nicht mit Sicherheit weiss. Ganz anders fragt Gott, der den Menschen sucht. Gott auf die Frage «Wo bist Du?» mitzuteilen, wo ich bin, kann ihn nicht über etwas belehren, was er nicht schon wüsste; seine Frage ist Aufforderung zur Selbstbesinnung vor seinem Gebot, zum Versuch der Ver-Antwortung. In der neueren Forschung wird zurecht darauf hingewiesen, dass es nicht damit getan wäre, den Inhalt der Reden Gottes am Ende des Buches Hiob zu ignorieren und ihre Bedeutung nur darauf zu reduzieren, dass Gott nun endlich aus dem Verborgenen tritt und mit Hiob spricht.153 Müsste der Klang seiner Stimme, seine erfahrene Nähe Hiob genügen? Wäre es schon damit getan, dass seine Stimme alle (dämonischen) Stimmen übertrifft und übertönt? Wer sich mit Lautstärke zufrieden gibt, übersieht nochmals das Paradox einer Stimme Gottes: Könnte es genügen, dass Gott nur laut genug schreit, oder lauter und Mark und Bein durchbohrender als eine Stimme (die laute Stimme des «Führers»), damit er wenigstens seine Auserwählten und Propheten erreicht? Ist Gott gar ein besonders lautstarker, aber miserabler «Gesprächspartner»?154 Und müssten seine «Lautsprecher», die Propheten, ein besonders lautes KassandraHeulen anstimmen, um ihn zu beglaubigen? Oder ist das ein vulgäres Missverständnis, das sich auch in den ästhetischen Präferenzen der Massen äussert, die ein Fest oder eine Musik nur dann begeistern, wenn sie betäubend oder berauschend laut sind? Mit dem Trost aus der Stimme oder – plumper: einer Beglaubi­ gung durch Lautstärke kann sich eine Deutung nicht zufriedengeben, welche die Frage nach der Wahrheit Gottes nicht aufgibt. Mit dem Wahrheitsanspruch ist nicht die Anmassung einiger Hüter oder Ver­ walter der Orthodoxie gemeint, die Wahrheit zu besitzen, sondern Vgl. Sylvia Schroer: In die Enge getrieben – in die Weite geführt. Hiobs Klage und die erste Gottesrede Hiob 3 und 38, 1–39,35, in: Bibelarbeit in der Gemeinde. Hiob. Ökumenischer Arbeitskreis für Bibelarbeit, Fr. Reinhardt Verlag Basel, Benziger Verlag Zürich 1989, 128–160. Dieser Beitrag ist hilfreich zur Gliederung und Deutung der Stelle aus dem Zeitkontext ihrer Entstehung. 154 Zu Hitlers Stimme im Rundfunk vgl. Martin Buber: Aus einer philosophischen Rechenschaft, in; Buber: Werke, 1. Band, a.a.O., 1121f. 153

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die Hoffnung auf eine Erfüllung der Sehnsucht nach Wahrheit, kurz: die kompromisslose Suche nach Wahrheit.155 Die Suche nach Gott will sich nicht von den lauten Stimmen falscher Propheten und Dämonen fangen lassen. In Hiobs Reden erklingt der Schrei nach Gottes Wahr­ heit (Treue), und Gottes Reden antworten darauf. Gottes Rede enthält diese Wahrheit, gibt die Wahrheit, Gott bewahrheitet und bewährt sich in seiner Antwort und bestätigt Hiob, dass dieser sich sogar in seinen Klagen und Anklagen «bewährt» habe. Hiob rechtfertigt sich nicht selbst, sondern Gott schenkt Hiob die Kraft und den Erfolg der Bewährung, Er rechtfertigt den Menschen. Hiob stellt die Frage nach seiner Schuld, und er kann sie nicht beantworten, weist vielmehr die Option zurück, vor drängenden Zeitgenossen einen Frevel einzugestehen, den er nicht begangen hat, nur um das Schema der «Freunde» zu bestätigen, das Vorurteil, dass der Leidende sein Leiden selbst verschulde, die selbstgerechte Bestä­ tigung, dass jene, die Hiobs Schicksal nicht teilen, einen grösseren Anspruch darauf haben, als Gerechte zu gelten. Doch Hiob, der keinen Frevel zugeben will, den er nicht begangen hat, ist ein Mensch, und kein Mensch ist vor Gott ohne Schuld. Gottes Rede ist Antwort, nicht Antwort-Verweigerung, weil sie im wesentlichen Punkt genau auf Hiobs Rede antwortet. «Schuldige mich nimmer!» – So ruft Hiob Gott an (10, 2). Gott aber spricht zu ihm (40, 8): «Willst Du gar mein Recht zerbröckeln, mich schuldigen, damit du bewahrheitet werdest?» Hier ist die Dialektik im Raume zwischen Gott und Mensch an ihr Ende gelangt.156

Das Zitat von Martin Buber zeugt für das genaue Denken, das sich hinter einer oft poetischen Sprache verbirgt. Gott hat sich Mose auf dem Berg Sinai mitgeteilt, und zwar hat er seinem Volk, stell­ vertretend für alle Völker, die «Gabe seiner Gebote» gemacht. Eine

Ob «Wahrheit» in der Wahrheit von Aussagen oder in der Bewährung und Treue gipfelt, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Gewiss ist dagegen, dass die «Wahrheit Gottes» seine Gerechtigkeit, seine Macht und seine Liebe einschliesst. Sie kommt der alltäglichen Rede von einer «wahren Freundin» näher als dem sterilen Sinn eines «wahren Satzes». Nicht alle Menschen sind Intellektuelle und verfügen über die Voraussetzungen, verschiedene «Wahrheitstheorien» zu analysieren. «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben» (Joh. 14, 6) richtet sich an alle, nicht nur an «Den­ ker*Innen». 156 Martin Buber: Zur Verdeutschung des Buches Ijob (Hiob), in: Buber: Werke, 2. Band, a.a.O., 1173f. 155

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sittliche Norm hat nur einen absoluten Anspruch (eine kategorische Geltung), wenn sie als Gabe des Absoluten geglaubt wird. Buber schreibt «Gabe» und meint damit den göttlichen Befehl. Er illustriert das am Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Dieses Gebot gilt katego­ risch, doch wie das Wort «ehren» in der Geschichte und der Situation des Einzelnen zu deuten und zu realisieren sei, ist Aufgabe der Deutung und Diskussion der Menschen. Und der Geist auch dieses Gebotes ist nach Hillels und Jesu Lehre im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst, das befielt, Gott über alles zu lieben und den Menschen zu lieben, wie sich jeder selbst liebt (bzw. lieben soll). So findet die Rede Gottes nur dort Eingang, wo sie von Generation zu Generation, von jedem Einzelnen wieder gehört, gedeutet und umgesetzt wird.157

Vgl. Martin Buber: Aus einer philosophischen Rechenschaft, in; Buber: Werke, 1. Band, a.a.O., 1118f.

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Zur Übersicht über aktuelle Hiob-Kommentare vgl. http://www.the ologische-buchhandlung.de/bibelstellen/ijob.htm

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