Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland [1 ed.] 9783428535224, 9783428135226

Die Beiträge des Bandes spannen einen Bogen von der Entstehung der beiden deutschen Armeen nach 1945 bis hin zur Bundesw

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Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland [1 ed.]
 9783428535224, 9783428135226

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Band 101

Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland Herausgegeben von Hans-Jörg Bücking und Günther Heydemann

Duncker & Humblot · Berlin

BÜCKING / HEYDEMANN (Hrsg.)

Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 101

Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland Herausgegeben von Hans-Jörg Bücking und Günther Heydemann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-13522-6 (Print) ISBN 978-3-428-53522-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83522-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Die Bundeswehr hat lange gebraucht, um die Akzeptanz der bundesdeutschen Gesellschaft zu finden. Mittlerweile hat sich eine grundsätzlich positive Einstellung zur Bundeswehr entwickelt. In einer Umfrage gaben 2006 82 P rozent der Befragten an, ein „sehr positives“, „positives“ oder „eher positives“ Verhältnis zur Bundeswehr zu haben. Dieser Wert hatte 1997 noch bei 76 Prozent gelegen.1 Auslandseinsätzen steht die Bevölkerung jedoch kritisch gegenüber. Dies gilt besonders für die Mission in Afghanistan. Seit die deutschen Truppen dort v ermehrt ins Visier von Aufständischen geraten sind und regelmäßig in Kampfhandlungen verwickelt werden, verstärkt sich die ab lehnende Haltung der deutsc hen Bevölkerung gegenüber der dortigen Stationierung. In einer Umfrage vom April 2010 sprachen sich 70 Prozent für einen Abzug der Bundeswehr aus der Krisenregion aus. 2 P

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Der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR hingegen, bis zur Friedlichen Revolution von 1989/90 ebenso lang existent wie die Bundeswehr und dann im Zuge der Wiedervereinigung in diese i ntegriert, wurde eine ähnliche gesellschaftliche Akzeptanz nie zuteil. Vornehmlich als Satelliten-Armee „der Russen“ betrachtet, durch deren D ienst immerhin 2,5 Million en junge Männer gingen, trugen ein menschenverachtender Kommisston, entsprechendes militärisches Gebaren sowie die permanente „Rotlicht-Bestrahlung“ in erheblichem Maße dazu bei, die Wehrpflichtigen nicht nur „der Armee“, sondern auch dem sozialistischen Staat zu entfremden.3 P

In der T at konnten Wiederbewaffnung und Wiederaufrüstung wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten kaum auf positive Reso nanz stoßen. Zu gegenwärtig waren noch dessen Folgen und Konsequenzen. Mehr als 18 Millio nen Deutsche hatten in der W ehrmacht gedient, darunter fast eine Million Frauen. Etwa 3,25 Millionen waren gefallen, Millionen in Gefangenschaft geraten; erst 1955 kamen die letzten, knapp zehntausend ___________ 1 Laut Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr vom Mai 2007. Abrufbar bei Welt Online, http://www.welt.de/politik/deutschland/article880613/ Deutsche_sind_nicht_stolz_auf_die_Bundeswehr.html. 2 Die Umfrage wurde von Infratest dimap im Auftrag der ARD durchgeführt. Abrufbar auf tagesschau.de, http://www.tagesschau.de/inland/afghanistanumfrage148.html. 3 Zu dieser Schlussfolgerung gelangt Daniel Niemetz in seinem Beitrag „Das feldgraue Erbe – Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär“ in diesem Band.

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deutschen Kriegsgefangenen heim. Hinzu kamen die unzähligen Flüchtlinge und Vertriebenen, die B ombenopfer sowie der noch längst nicht abgeschlossene Wiederaufbau nach enormen Kriegszerstörungen. Der Aufschrei, den die W iederbewaffnungspläne Adenauers weniger als zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der noch jungen Bundesrepublik hervorriefen, war also nur allzu verständlich. Die leidenschaftlich geführte öffentliche Debatte darüber gehört aus h eutiger Sicht zweifellos zu den wichtigsten innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen der 1950er Jahre, die gerade durch ihre kompromisslose Offenheit letztlich die zweite deutsche Demokratie gestärkt hat. Wäre eine entsprechende öffentliche Diskussion in der DDR möglich gewesen, wäre sie kaum anders verlaufen; denn nicht zuletzt aus jüngsten Forschungen wissen wir, dass bereits der Vorläufer der NVA, die Kasernierte Volkspolizei (KVP), größte Schwierigkeiten hatte, überhaupt junge Männer zu rekrutieren und bei der Bevölkerung höchst unbeliebt war. Diese Probleme mögen heutzutage zu den „tempi passati“ gehören und doch schwingen sie noch immer nach. Beide deutsche Armeen, ihre Entstehung und Entwicklung nach 1945 un d nicht zuletzt die gegenwärtigen Probleme der Bundeswehr stehen im Zentrum des vorliegenden Bandes. Er wird eingeleitet durch einen umfassenden Überblick zum markanten Wandel der Militärgeschichte bzw. Militärgeschichtsschreibung seit Krie gsende. Ihm folgt ein erster Themenblock von Beiträgen, die sic h mit aktuellen Verpflichtungen und Problemen der B undeswehr befassen: so zur Rolle und Funktion der Bun deswehr als Bündnisarmee in der N ATO und der E U, zur Abwehr des T errorismus auf hoher See so wie zum verfassungsrechtlichen Auftrag und der internationalen Verantwortung Deutschlands. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf der Entstehung, der Entwicklung und dem Ende des Militärs der DD R, der Nationalen Volksarmee. Der Schilderung ihrer Anfänge, die stark von ehemaligen Wehrmachtangehörigen – wie bei der B undeswehr auch – geprägt waren, folgt ein Beitrag zu ihrem Auftrag in der DDR, vorgegeben vom Warschauer Pakt und der SED; ihr Ende und ihre Integration in die Bundeswehr innerhalb eines Jahres wird in einem weiteren Aufsatz thematisiert. Den Abschluss des vorliegenden Bandes bilden schließlich die Erg ebnisse einer repräsentativen Befragung der M itglieder des Deuts chen BundeswehrVerbandes zur „Berufs(un)zufriedenheit“ der Bundeswehrangehörigen. Wie Jörg Echternkamp in seinem Aufsatz „Wandel durch Annäherung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfolgs? Zur wissenschaftlichen An schlussfähigkeit der deutschen Militärgeschichte seit 1945“ feststellt, hat die deutsche Militärgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine in drei

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Etappen verlaufende Annäherung an die moderne, mit sozial- und kulturhistorischen Methoden operierende Geschichtswissenschaft vollzogen. Zunächst durchlief sie eine bis in die späten 1960er Jahre währende Phase der Institutionalisierung; eine zweite Etappe war von einem weitreichenden Perspektivenwechsel in den 1970er und 1980er Jahren geprägt; schließlich mündete sie in eine dritte, in die Gegenwart führende Phase seit 1989/90, in der die Militärgesch ichte in weiten Teilen runderneuert und als methodisch reformierte Teildisziplin der Geschichtswissenschaft etabliert wurde. In der B undesrepublik sollten für die Er forschung des Zweiten Weltkriegs vor allem zwei außeruniversitäre Einrichtungen eine führende Rolle spielen. Zuerst ab 1949/50 das Mü nchner Institut für Zeitgeschichte, wozu das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) ab 1957 h inzukam. Das MG FA sollte dabei eine Scharnierfunktion zwischen der W issenschaft und der B undeswehr übernehmen. Die erste, bis Ende der 1960er Jahre reichende Phase war geprägt durch einen Mangel an amtlichen Quellen. Erst 1956/58 wurden die ersten militärischen Akten aus den USA zurückgeführt. Es dauerte zehn Jahre, bis dieser Vorgang 1968 weitgehend abgeschlossen war. Ab dann konnten sich erste Forschungsarbeiten auf eine erweiterte Materialbasis stützen, v on denen einige bis heute als Standardwerke gelten. In den 1950er J ahren bildete n eben der Analyse der totalitären NSHerrschaft die militärische Kriegführung einen Schwerpunkt der Gesch ichtsschreibung. Den Historikern ging es nicht zuletzt darum, durch „objektive“, auf Dokumente gestützte Geschichtsschreibung die apologetische Memoirenliteratur zu unterlaufen. Andere Aspekte, etwa die Judenvernichtung, standen dahinter zurück, wenn sie auch nicht verschwiegen wurden. Doch dem unmittelbaren Zusammenhang von Krieg und Holocaust wurde erst ab 1960 mehr Aufmerksamkeit zuteil. Vor allem der Hitlerzen trismus hatte zuvor ein Entlastungsargument geboten und gleichzeitig von der Aufgabe enthoben, nach längerfristigen, nicht zuletzt auch gesellschaftlich-mentalen Ursachen für den Krieg zu suchen. Während der zw eiten Phase der w estdeutschen Militärgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren fand ein Perspektivwechsel hin zur Alltagsgeschichte statt, zu einem Blick „von unten“ auf die Gesellschaft im Krieg. Das resultierte aus einer erneuten Erweiterung der Quellenbasis, zumal verstärkt auf persönliche Zeugnisse wie Tagebücher oder Feldpostbriefe zurückgegriffen wurde. Der Schwerpunkt wurde von der politischen und militärischen Elite a uf soziale Verhaltensweisen während des Krieges verlagert. Die Forschung zum Krieg wurde aber auch a us anderer Richtung geprägt. Die Fried ensforschung nahm sich des Problems militärischer Konflikte unter umgekehrten Vorzeichen an.

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Erst in der letzten Entwicklungsetappe der deutschen Militärgeschichte, die mit der Wiedervereinigung begann, wurde die Disziplin ausgedehnt und theoretische Betrachtungen, methodologische Ansätze und Themen der all gemeinen Geschichte aufgegriffen. Zur Abgrenzung von der herkömmlichen Form des Fachs wurde die Militärgeschichte auch als „neue Militärgeschichte“ bezeichnet. Militärhistoriker stützten sich dabei methodisch auch auf andere Fachgebiete wie etwa die Ku lturanthropologie, Soziologie oder Psychologie. Inzwischen ist der ein stige Graben zwischen allgemeiner Historiographie und Militärgeschichte weitgehend verschwunden. Bezeichnenderweise gibt es seit 1996 erstmals auch einen Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam. Obwohl die Militärgeschichte angesichts des fundamentalen Wandels militärischer Konflikte kaum mehr einen anwendungsorientierten Nutzwert bietet, ist sie keineswegs funktionslos. So haben etwa die Forschungen zur NVA wie zur SED-Herrschaft gezeigt, dass sich zentrale Funktionsmechanismen des DD RRegimes ohne die Geschichte seiner Armee nicht erklären und verstehen lassen. Die Militärgeschichte hat sich daher seit Mitte der 1990er Jahre auch zu einer festen Größe der DDR-Historiographie entwickelt. Die Erweiterung der Militärgeschichte führt nicht zu einem Identitätsverlust, wie bisweilen befürchtet wird. Es spricht vieles dafür, je nach Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Vorliebe, im einen Fall etwa weiter greifende politik-, sozial- , kultur- oder wirtschaftsgeschichtliche Studien durch eine auf das Militär spezialisierte Forschung zu bereichern, im anderen Fall politik-, sozial-, kultur- oder wirtschaftsgeschichtliche Ansätze für militärgeschichtliche Arbeiten zu nutzen. Die traditionelle Selbstbeschränkung auf die Verlaufsgeschichte von Feldzügen und Schlachten ist jedenfalls nicht mehr zeitgemäß. Anknüpfend an die His torie schlägt Klaus Olshausen mit seinem Beitrag „Die Bundeswehr – Bündnisarmee in der Allianz / NATO und der EU. Strategieentwicklung und Streitkräfteplanung“ die Brücke zur Gegenwart. Er leitet mit dem Faktum ein, das mancher deutschen nat ionalen Diskussion bisweilen aus dem Blick zu geraten droht: dass beide deutschen Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland von Anbeginn an fest in Bündnisse integriert waren. Die Nationale Volksarmee war in den Warschauer Pakt eingebunden und die Bundeswehr in NATO und WEU, zu denen heute noch die Integration in EU-Strukturen tritt. Dabei richtet der Autor seinen Fokus freilich im Wesentlichen auf die – übrig gebliebene – Bundeswehr. Im Übrigen, auch daran erinnert er zu Beginn, vollzieht sich jegliche militärische Strategie- und Streitkräfteplanung eingebettet in ein internationales Umfeld, bei Bündnisarmeen speziell auch in deren Organisation. So galt und gilt für die NATO: „Die Allianz handelt im Konsens oder sie handelt nicht.“

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Auf dieser Grundlage zeichnet er die Strategieentwicklung für mehr als ein halbes Jahrhundert nach, beginnend mit dem Kalten Krieg, der in der Anfangsphase geprägt war von den frischen Erfahrungen sowjetischer Expansionspolitik und dem faktischen Nuklearwaffenmonopol der U SA. Die politi schökonomische Antwort auf die „ausgreifende(n) Ideologie des Kommunismus“ war der f orcierte ökonomische Wiederaufbau in Westeuropa, welcher allerdings Ressourcen verschlang, die da raufhin der Ver teidigung nicht mehr zur Verfügung standen. Die konsequente Strategieoption war daher die der „massiven (nuklearen) Vergeltung“. Diese verlor indessen ihre Glaubwürdigkeit in dem Maße, in dem die Sowjetunion ihrerseits über Kernwaffen verfügte und zusätzlich über Trägersysteme, wodurch die USA selbst bedroht wurden. Sobald die UdSSR über taktische bzw. operative Kernwaffen verfügte, bestand die Gef ahr eines Einsatzes von Atomwaffen auf deutschem Boden, falls die Abschreckung versagen sollte. Später trat die Frag e hinzu, ob die USA wegen eines regionalen Konfliktes in Europa einen Angriff auf ihr Land riskieren würden. Das Konzept der „Flexible Response“ war die konsequente militärstrategische Antwort darauf – und es war das Produkt einer mehr als zehnjährigen Diskussion innerhalb des Bündnisses. Politisch flankiert wurde es durch die „Entspannungspolitik“, die ihrerseits darauf angewiesen war, die Kräftebalance einer glaubwürdigen nuklearen und vor allem konventionellen Abschreckung aufrechtzue rhalten bzw. zu schaffen. Die deutsche Wiedervereinigung und die veränderte Sicherheitslage rund um die nördliche Welthalbkugel bildeten die nächste historische Zäsur. Unmittelbar bescherte diese der Bundeswehr zunächst eine Reduktion der Soldaten. Die Allianz reagierte u.a. mit einem Kooperations-, später – nicht zuletzt unter dem Eindruck des jugoslawischen Zerfallsprozesses – mit ei nem Partnerschaftsangebot und einer Öffnung für neue Mitglieder. Ausgerechnet in die Phase einer erwarteten „Friedensdividende“ für ein Bündnis, das se ine Mitglieder rund ein halbes Jahrhundert vor kriegerischen Auseinandersetzungen bewahrt hat, fiel sein erster W affengang in Europa im Rahmen einer „humanitären Intervention“ und – wenig später in Folge der Terrorangriffe zum 11. September 2001 in New York und Washington – die erste Auslösung der B ündnisverpflichtung. Beides verlangte neue strategische Entscheidungen darüber, in welchen Teilen der Welt das Bündnis wem gegenüber aktiv werden sollte. I m Ergebnis wurde das Ver teidigungskonzept auf die weltweite Bekämpfung nichtstaatlicher Akteure ausgedehnt. In einem zweiten Teil unterzieht der Autor diese aufgezeigten strategischen Planungen und ihre Umsetzung in der S treitkräfteplanung einigen systematischen Ansätzen, deren Resultate für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden.

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Dazu gehört die Erkenntnis, dass sich eine Reihe von unterschiedlichen Variablen nahezu beliebig kombinieren lässt: die Ein trittswahrscheinlichkeit von Anlässen für den Einsatz von Streitkräften, das Maß an B etroffenheit und die I ntensität des Engagements. Für die Zeit bis 1989 war dies im Gleichgewicht: Die Allianz hatte der G efahr eine erfolgreiche Strategie und dementsprechende Ausstattung entgegengestellt. Mit Beginn der 1990er J ahre hat sich die W ahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung in Europa reduziert. Dafür sind andere h inzugetreten, mit fein abgestufter eigener Betroffenheit, wobei die h öchste Eintrittswahrscheinlichkeit mit dem geringsten Betroffenheitsmaß korrespondiert. Die zentrale Herausforderung bilden freilich Bedrohungen höherer Intensität, zu deren B ewältigung adäquate finanzielle Ressourcen zur Ver fügung gestellt werden müssen. Hierzu benennt der Autor begrenzende wie unterstützende Faktoren und Handlungsstrategien, um ein Optimum zu erreichen. In diesem Zusammenhang formuliert er drei Leitfragen, welche in einem transparenten demokratischen Kommunikationsprozess auf Grund eines realistischen, plausiblen und verständlichen (Sicherheits- und Verteidigungs-)Konzeptes zu b eantworten sein werden. Ohne dieses, das betont der Verfasser zum Schluss, wird ein durchgreifender Erfolg längerfristig versagt bleiben. An exakt der zu letzt thematisierten (internationalen Terror-)Gefahr knüpft der Beitrag von Sigurd Hessan: „Seesicherheit – Abwehr des Terrorismus in nationalen Gewässern und auf hoher See“, nur – wie es der Titel schon verheißt – spezieller unter dem Aspekt der maritimen Sicherheit. Dass es sic h dabei um keine theoretische Gefahr handelt, belegt der A utor mit Äußerungen aus dem Al-Quaida-Führungszirkel. Die geringe Anzahl neuralgischer geographischer Punkte, „in denen sich fast der gesamte Weltseeverkehr bündelt“, verschärft die objektive Gefahrenlage. Zugleich informiert der Verfasser über die nationalen und völkerrechtlichen Zuständigkeiten. Auch für die Gefahr durch Piratenangriffe oder Terrorangriffe auf Schiffe – wobei die Grenzen fließend sind – muss man sich keine Bedrohungsszenarien ausdenken. Es genügt, wenn die zahlreichen bekannten Fälle der letzten Jahre aufgelistet werden. Darüber, dass von Massenvernichtungswaffen, namentlich sogenannten schmutzigen Atomwaffen, in den Hände n von Terroristen eine ernste Ge fahr für die ziv ilisierte, friedliebende Welt ausgeht, besteht kein Streit. Das s diese per See transportiert werden, überrascht angesichts der Se etransportquote im internationalen Handel nicht. Dass der Autor aber allein für dieses J ahrzehnt drei Fälle au fzählen kann, in denen der Schm uggel mit Raketen, Gaszentrifu-

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gen und Sprengstoff gestoppt werden konnte, zeigt, dass auch diese Gefahr keineswegs virtueller Natur ist. Im Anschluss daran befasst sich der Verfasser mit den deutschen Zuständigkeiten auf See. Laut Grundgesetz sind sie zunächst verteilt auf den Bund und die Länder. Auf Bundesebene sind sechs Ministerien zuständig, auf Länderebene die fünf Küstenländer. Den Ländern stehen für ihre vollzugspolizeilichen Aufgaben im Küstenmeer 29 B oote zur Ver fügung, der B undespolizei und dem Zoll für ihre grenzpolizeiliche Schutzaufgabe sechs bzw. zwölf Schiffe bzw. Boote. Daneben verfügen die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung über vier und der Fischereischutz über drei Schiffe. Zwar sind mittlerweile Koordinationszentren geschaffen worden, die jedoch die Kompetenzverteilung unberührt lassen. Das Verteidigungsministerium gehört nicht dazu. Die Marine steht lediglich zur Amtshilfe zur Ver fügung. Alle Vollzugsbeamten sind mit Handfeuerwaffen ausgestattet, so dass der Autor konstatieren kann: „…dass für die Gewährleistung der Sees icherheit die P olizeien die Zuständigkeit besitzen, viele der zur Gefahrenabwehr erforderlichen Mittel j edoch fehlen. Umgekehrt verfügt die deutsche Marine über viele der benötigten Fähigkeiten, hat aber keine Zuständigkeit.“ Die Diagnose liegt damit klar auf der Hand: Es existiert eine Fülle internationaler Vereinbarungen zum Schutz des Seeverkehrs. Die Bundesrepublik Deutschland ist vielfach Vertragspartner. Es mangelt jedoch an e iner sachgerechten Anpassung nationalen Rechts und effektiver Praxis. Als Therapie postuliert der Verfasser daher nicht nur die Schaffung einer einheitlichen „Deutschen Küstenwache“, sondern er unterbreitet dazu auch konkrete, praktikable Vorschläge. An die veränderte Aufgabenstellung für die Bundeswehr seit der Wiedervereinigung sowie die n eue Bedrohungslage durch den in ternationalen Terrorismus knüpft auch der B eitrag von Eckhard von Klaeden an mit dem Titel „Rückbesinnung auf den verfassungsrechtlichen Auftrag und die internationale Verantwortung Deutschlands“. Er erinnert an die zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr mit bis dato zusammen fast einer Viertelmillion Soldaten – von Europa (Kosovo) über Afrika (z.B. Sudan) bis nach Asien (z.B. das erste Mal in Kambodscha, derzeit in Afghanistan) – und unterstreicht die Aussagen der beiden Autoren zuvor, indem auch er auf die v eränderten transnationalen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Bedingungen sowie auf die kollektiven Sicherheits- und Verteidigungsallianzen verweist, in denen die B undeswehr – entsprechend ihrem darauf hin angepassten sicherheitspolitischem Konzept – ihren Beitrag zur Friedenssicherung leistet. In bemerkenswertem Kontrast dazu steht die öffentliche Meinung, die nur zu etwas mehr als einem Drittel die Auslandseinsätze befürwortet und ihre Argumente nicht selten auch (verfassungs-)rechtlich fundiert. Diesen Aspekt nimmt

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der Autor genauer unter die Lupe. Insbesondere setzt er si ch kritisch mit dem Vorwurf mangelnder parlamentarischer Mitwirkung auseinander. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet das Urteil d es Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994, in dem dreierlei festgestellt wurde: dass in Art. 24 GG die verfassungsrechtliche Grundlage für Auslandseinsätze der Bundeswehr zu sehen ist, zumindest soweit diese im Rahmen eines „Systems kollektiver Sicherheit“ erfolgen, dass ein konstitutiver Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland besteht, der freilich die „militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen“ dürfe, und — wenig beachtet — dass ein für die Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährter Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit existiert, welcher durch die Beteiligung und die Befugnisse des Parlaments nicht berührt werde und die Bundesregierung „hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsä tze, die notwendige Koordination in und mit den Organen internationaler Organisationen“ in besonderem Maße zuständig sei. Da das B undesverfassungsgericht die Anforderungen an die P arlamentsbeteiligung flexibel gestaltet hat, untersucht der Autor im Folgenden, ob dem Gesetzgeber im 2004 in Kraft getretenen Parlamentsbeteiligungsgesetz (PBG) eine sachgerechte Abwägung gelungen ist. Dazu stellt er zu nächst die drei grundsätzlichen Verfahren parlamentarischer Beteiligung unter Bezugnahme auf die §§ 3 ff. PBG dar und erläutert sie zu m Teil detailliert. Seine Kritik entzündet sich indessen weniger am Gesetz selbst als an dessen praktischer Umsetzung. Der politische Dru ck, vor allem durch die die Au slandseinsätze der B undeswehr weit überwiegend ablehnende Öffentlichkeit, aber auch du rch Teile der Opposition führte dazu, die Möglichkeit der abgestuften Parlamentsbeteiligung nicht auszuschöpfen, sondern stattdessen unnötigerweise immer wieder das Parlament ausführlich mit Bundeswehrauslandseinsätzen zu befassen. Beispielhaft führt er dazu die Entsendung von sechs Recce-Tornados nach SüdAfghanistan an. Somit erhält das Parlament, entgegen der verfassungsgerichtlich markierten Kompetenzordnung, Mitspracherechte, die es zu einer antizipierten Exekutivgewalt mutieren lassen. Da von Klaeden dies dem „Selbstverständnis der Verfassungsorgane“ zuschreibt sowie dem Missverständnis, „das Parlament müsse detaillierte Entscheidungen treffen, um eine ausreichende Legitimation militärischer Maßnahmen zu schaffen“, schlägt er eine Reform des PBG vor. An der derzeitigen Fassung bemängelt er vor allem, dass sie einen zu großen Interpretations- und Diskussionsraum für die parlam entarische Beteiligung eröffne und nicht die En tsendung von Truppenkontingenten im Rahmen integrierter Verbände sowie die gelegentliche Notwendigkeit der Geheimhaltung berücksichtige. Der Autor unter-

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breitet hier konkrete Lösungsvorschläge, die die bündnispolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands gewährleisten sollen. Andernfalls – so von Klaeden s Befürchtung – könnte das Vertrauen der Bündnispartner verloren gehen – und damit schließlich auch die internationale Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeit deutscher Außenpolitik. Institutionellen parlamentarischen Reformen, etwa in Richtung eines „Einsatzausschusses“, erteilt er eine Absage. In seinem Beitrag „Das feldgraue Erbe – Wehrmachteinflüsse im DDRMilitär“, konstatiert Daniel Niemetz, dass die NVA trotz ihrer Un iformen weder eine Neuauflage der Wehrmacht, noch ein kompletter Neuanfang ohne Anleihen an deutsche Militärtraditionen war. Tatsächlich hatte sich die SED b ereits seit 1948/49 m it dem Aufbau militärischer Formationen befasst. Dabei bemühte sie sich um die Schaffung eines Offizierskorps, welches ihren sozialpolitischen Vorstellungen, gemäß der Zielsetzung „Waffen in Arbeiterhand!“, entsprach. Eine funktionierende militärische Führungsstruktur ließ sich jedoch zu dieser Zeit nicht ohne erfahrene Spezialisten aufbauen. So mussten von Beginn an ehemalige Wehrmachtangehörige am militärischen „Wiederaufbau“ in der SBZ/DDR beteiligt werden. Zu diesem Zweck entließ die Sowjetunion im September 1948 eig ens 100 kriegsgefangene Offiziere und fünf Generale der ehemaligen Wehrmacht. Diese sollten in leitenden Positionen den Aufbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP) vorantreiben. Auch bei der Ausstattung nahmen die So wjets Einfluss und rüsteten die KVP-Formationen mit Waffenbeständen der ehe maligen Wehrmacht aus. Da s an der Wehrmacht orientierte Erscheinungsbild der 1956 gegründeten Nationalen Volksarmee (NVA) ging sogar auf den Wunsch der sowjetischen Besatzer zurück, die nach der Devise „sozialistischer Inhalt, nationaler Charakter“ verfuhren. In taktisch-operativer Hinsicht war die sowjetische Seite jedoch zu keinen Kompromissen bereit, sondern beharrte auf ihren siegreichen Weltkriegserfahrungen. Dadurch waren Konflikte mit ehemaligen Wehrmachtoffizieren, die auf diesem Gebiet einen Rückschritt gegenüber Taktik und Strategie des deutschen Heeres sahen, vorprogrammiert. Die Motive der Offiziere, wenige Jahre nach Kriegsende erneut eine Waffe in die Ha nd zu nehmen, reichten von beruflicher Existenzsicherung, über Anwerbung unter Sanktionsandrohung bis hin zu politischer Überzeugung und der Einsicht in einen als notwendig erachteten friedenssichernden Wehrbeitrag. Für die SED bed eutete die R ekrutierung von Wehrmachtsveteranen jedoch einen heiklen Spagat. Auf der einen Seite propagierte sie die Bekämpfung des alten „Militarismus“, während sie auf der anderen Seite Vertreter ebendieses Militarismus integrieren musste. Obwohl man um die Ei nbindung möglichst vieler ehemaliger NKFD- und BDO- Angehöriger sowie Absolventen sowjeti-

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scher Antifa-Schulen bemüht war, behielten fachliche militärische Auswahlkriterien ihre Relevanz. Wenngleich die überwiegende Anzahl der ehemaligen Wehrmachtoffiziere dem politischen System der DDR loy al gegenüberstand und ursprünglich hart umworben worden war, sahen sie sich schon bald mit der Tatsache konfrontiert, zwar fachlich ausgenutzt, nicht jedoch wirklich akzeptiert zu sein. Denn für die Partei mangelte es ihnen am nötigen Klassenbewusstsein. Doch der Mangel an geeigneten Nachfolgern machte einen Ersatz der überwiegend in hohen Kommando-, Stabs- und Lehrfunktionen eingesetzten Ehemaligen zunächst unumgänglich. Erst außenpolitische Ereignisse wie der U ngarn-Aufstand des Jahres 1956 sowie die in der Folg e angespannte innenpolitische Situation in der DDR führten dazu, dass das Politbüro 1957 die s ukzessive Entfernung aller e hemaligen Wehrmachtoffiziere aus der NVA beschloss. Dieser Prozess war 1960 weitestgehend abgeschlossen. Die wenigen Verbliebenen konzentrierten sich auf die Bereiche Ausbildung, Militärwissenschaft und Militärmedizin. Mit dem Abstieg der Of fiziere ging indes der Au fstieg der ehem aligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht in Spitzenstellungen der NVA einher. Auf die Gesamtzahl aller ehemaligen Wehrmachtangehörigen in den DDR -Streitkräften bezogen, machten diese z weifelsohne die steilere n und nachhaltigeren Karrieren. Die einstigen Subalternen, die indes keine „faschistische Offiziersvergangenheit“ aufwiesen, brachten nach den Vorstellungen der SED die bess eren sozialpolitischen Anlagen mit. Im Jahre 1960 entstammten gut 32 Prozent des Leitungsoffizierkorps der NVA dem Unterführerkorps der Weh rmacht. Seit 1972 standen zudem alle drei T eilstreitkräfte der NVA unter dem Kommando ehemaliger Wehrmacht-Unterführer. Diese „Subalternisierung“ des Offizierskorps und der Generalität sollte den DDR-Streitkräften allerdings nicht guttun. Denn die meisten der ehe maligen Unteroffiziere und Feldwebel erwarben sich zwar auf sowjetischen Militärakademien das nötige fachliche Rüstzeug, um ihren höheren Aufgaben gerecht zu werden, aber ihre verinnerlichten kommissmäßigen Umgangsformen legten viele nicht mehr ab. So wie die Betreffenden in früheren Tagen mit Rekruten umgesprungen waren, so verfuhren sie jetzt mit untergebenen Stabsoffizieren. Dieser negative Umgang trug zweifellos dazu bei, viele junge Wehrdienstleistende zu desillusionieren und nicht nur der NVA, sondern dem System des Sozialismus endgültig zu entfremden. Mit seinem Beitrag „Der Auftrag der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik“ setzt Marco Metzler die Besch äftigung mit den Nachkriegsstreitkräften im östlichen Teil Deutschlands fort – eingeleitet mit

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einigen grundsätzlichen Betrachtungen zum Verhältnis von Staaten und Armeen sowie methodischen Bemerkungen. An die erste Ste lle seiner Ausführungen rückt er die SED a ls Institution der Auftragsdefinition, gestützt von der KPdSU und dieser verpflichtet. Die Hauptaufgabe der erste n Streitkraft, der Kasernierten Volkspolizei (KVP), bestand noch im Schutz vor sog. „ reaktionären Anschlägen“ nicht darin, einen modernen Krieg zu führen. Dennoch enthielt die – an Stelle eines Eides abzugebende – Verpflichtungserklärung des a ngehenden Polizisten keine Beschränkung auf das Staatsgebiet der DDR. Angesichts der Ausrüstung und des Ausbildungsniveaus war allerdings nicht zu erwarten, dass ihr P otential über die Kernaufgabe hinausreichen könnte. Das änderte sich mit der Errichtung der Natio nalen Volksarmee (NVA) im Jahre 1956. Verfassung und Eid definierten als Aufgabe, „die sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen zu schützen bzw. der DDR „allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-BauernRegierung gegen jeden Feind zu schützen“ – verbunden mit dem Bekenntnis der Waffenbrüderschaft mit der Sowjetarmee und den verbündeten sozialistischen Ländern. Letzterem dienten bereits Anpassungsbemühungen der KVP, die in der NVA fortgesetzt wurden. Dennoch blieb in der Führungsriege die Vo rstellung eines militärischen Konfliktes allein zwischen den beiden deutschen Armeen bis zu m Ende wach. Anfänglich dachte man an einen „begrenzten Krieg“, in dem die NVA gegen einen Aggressor eine Zeit lang die Stellung halten können würde. Später – namentlich in Folge der neuen Strategie der „Flexible Response“ – befürchtete das DDR-Militär einen verdeckten Kampf gegen vom Westen infiltrierte Kleingruppen. Zugleich etablierte sich die NVA jedoch ab der ersten Hälfte der 1960er Jahre als „vollwertige Koalitionsarmee“. Sie hatte – jedenfalls bis zur Modifizierung der Verteidigungsdoktrin des östlichen Bündnisses 1987 – im Falle eines regulären Krieges die Aufgabe, vor allem gemeinsam mit der So wjetarmee in Europa, sofort den Krieg auf das Territorium des Gegners zu tragen und dort zu gewinnen. Der in Verfassung und Eid zum Ausdruck kommende Schutz- und Verteidigungsauftrag erhielt in der Kombination mit der Führung der „Arbeiter- und Bauernregierung“ und dem Führungsanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ einen spezifischen Inhalt, der sich nur aus der dem politischen System zu Grunde liegenden Ideologie erklärt. Danach war die NVA Machtinstrument zur Durchsetzung von Klasseninteressen. Zweck der „Verteidigung“ war es auch, den globalen historisch-gesellschaftlichen Fortschritt zu flankieren, also der Weltrevolution zu dienen. Die praktischen Auswirkungen zeigten sich während der Krisen in der CSSR 1968 und der VR Polen 1981: Die SED-Führung drängte auf Intervention gegen die „konterrevolutionäre“ Politik, und die NVA stand zur

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Verteidigung der „sozialistischen Errungenschaften“ bereit. Realiter wurden ihre Dienste in diesem Zusammenhang aber dann doch nicht genutzt. Dafür unterstützte sie i n Afrika oder Naho st „fortschrittliche“ Staaten oder Org anisationen. Wenn auch die NV A mit derartigen Aktionen eher untergeordnete Bedeutung hatte, bestand grundlegend die Bereitschaft zu weitaus mehr Aggressivität zur militärischen Unerstützung „gesellschaftlichen Fortschritts“ bis hin zur Vision, dass selbst ein atomarer Krieg führbar und zu gewinnen sei. Solange dieser zur Unterstützung des „gesellschaftlichen Fortschritts“ geführt würde, wäre er – unabhängig davon, wer ihn begonnen hätte – stets als gerechter Krieg zur Verteidigung des Friedens qualifiziert worden. Denn das Einstehen für den Sozialismus war per se friedlich. Angesichts der Zerstörungskraft des nuklearen Potentials stand jedoch der Abschreckung seffekt gegenüber dem westlichen, „imperialistischen“ Block zunehmend im Vorde.rgrund. Neben dieser F unktion zählt der Verfasser noch eine Reihe nachgeordneter Aufgaben auf. Immerhin löste die DDR auf ihrem Gebiet das NS-Regime ab, das sich mit der sowjetischen Hegemonialmacht und anderen neuen Verbündeten im Krieg befunden ha tte. Und die DDR war gegenüber dem westlichen Bündnis geographisch exp oniert. Daher musste ihr daran gelegen sein, durch besondere Loyalitätsbestrebungen das Vertra uen ihrer P artner zu gewinnen und sich deren Unterstützung gegenüber Bedrohungen aus dem „bürgerlich-imperialistischen Lager“ zu sichern. Beides sollte du rch eine besonders aktive Mitwirkung auf militärischer Ebene erreicht werden. Im Übrigen diente die NVA als Ausweis staatlicher Souveränität. Während für die KVP noch der Einsatz im Innern zu den offiziellen Aufgaben zählte, war die NVA offiziell nach außen gerichtet. Angesichts des theoretischen Fundaments war es indessen leicht, ausländische Akteure für innere Unruhen verantwortlich zu machen. Das schlug sich auch in der Planung gegenüber „konterrevolutionären“ Aktionen nieder, die einen, wenn auch zurückhaltenden, Einsatz der Armee im Innern vorsahen – namentlich vor dem Hintergrund von Bedrohungsszenarien bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre. Nach dem Mauerbau und dem Aufbau schlagkräftiger anderer be waffneter Organe rückte diese Op tion zunehmend in den Hintergrund, wenn sie a uch nie völlig aufgegeben wurde, wie die Ereignisse während der Friedlichen Revolution von 1989/90 zeigten. Aber auch in anderer Weise sollte die Armee nach innen wirken: Als „Schule der Nation“ sollte sie die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat fördern, das Klassenbewusstsein schärfen und so bewirken, dass Armeeangehörige auch außerhalb ihres Dienstes für das Regime warben – dies verstärkt nach Einführung der Wehrpflicht 1962. Das führte jedoch, wie auch Aufgabenerfüllungen

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im vormilitärischen Feld, etwa bei der „Gesellschaft für Sport und Technik“, zu einer erheblichen militärischen Durchdringung der Gesellschaft. In diesen Zusammenhang sind auch d ie ökonomischen Hilfsleistungen der NVA in Gestalt von „Einsätzen in der Produktion“ einzuordnen. Sie ließen sich als Stärkung der ökonomischen Basis gegen die „imperialistische Bedrohung“ sowie als Beitrag zum Aufbau des Sozialis mus legitimieren im Zeichen der Verbundenheit von Armee und Zivilbevölkerung. Schließlich war die Armee – wie praktisch alle Armeen dieser Welt – auch in den Katastrophenschutz mit einbezogen. Nach dieser Rückschau auf die NVA berichtet Werner E. Ablaß in seinem Beitrag „Von der NVA zur Bundeswehr – Herbst 1989 bis 2. Oktober 1990“ über das Ende dieser Armee. Eingeläutet wurde es mit den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990, die von den Gewählten als Auftrag verstanden wurden, auf die schnelle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hinzuarbeiten. Dazu gehörte auch die Mitwirkung an der Erarbeitung der Ve rträge zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, des Einigungsvertrages und des Zwei-plus-Vier-Vertrages sowie zum Austritt aus der W arschauer-PaktOrganisation. Noch im April 1990 waren die für das neu benannte Ministerium für Abrüstung und Verteidigung Verantwortlichen in ihren Ämtern; der bisherige Minister wurde zum Chef der NVA berufen. Als Zeithorizont für die Wiedervereinigung wurden zu dem Zeitpunkt noch die Jahre 1993/94 ins Auge gefasst. Die NVA war weiter fest in das System des Warschauer Paktes integriert und hatte noch mehr als 100.000 Soldaten; außerdem gab es noch 28.000 Aktive bei den Grenztruppen sowie über 50.000 Zivilbeschäftigte. Mit den 100.000 Beschäftigten in Rüstungsbetrieben und den Fa milienangehörigen war für die soziale Absicherung von ca. 1 Million Menschen zu sorgen. Einerseits waren Vereinbarungen mit der Bundesrepublik Deutschland zur Vorbereitung der Einheit, andererseits mit den östlichen Vertragspartnern über Rüstungsbeschaffung und Vertragskündigungen zu treffen. Dort zeigten namentlich die polnischen Vertreter Sorgen, jedenfalls so lange bis b eide deutschen Parlamente die Anerkennung der Ostgrenze beschlossen hatten. Die osteuropäischen Partner waren gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands aufgeschlossen, weil ein neutrales Deutschland ihnen weniger attraktiv erschien. Die So wjetunion allerdings, mit ihren 380.000 Soldaten u nd 200.000 zivilen Mitarbeitern und Familienangehörigen in der DDR, zeigte sich zunächst wenig beweglich. Das änderte sic h erst nach dem W ashingtoner Gipfeltreffen zwischen Bush und Gorbatschow am 31. M ai 1990 mit der A ussage des Kremlchefs, jedes Land könne seine Bündniszugehörigkeit frei wählen. Auch das Ver halten des

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sowjetischen Außenministers bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ließ wenig später Bewegung erkennen; aber die bevorstehende Wiederwahl des Chefs der KPdSU nötigte noch zu innenpolitischer Rücksichtnahme. Nachdem aber Gorbatschow der NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland zugestimmt hatte, erhielt die Verabschiedung des Vertrags zur Deutschen Einheit absolute Priorität. Während unmittelbar zuvor noch die Ausrüstungsplanung der NVA für das Jahr 1991 ein Thema war, erschien diese Jahreszahl nun als Endpunkt der Bemühungen am Horizont. Doch auch diese Vorstellung war rasch überholt, zu schwierig erwiesen sich die – grundlegend falsch eingeschätzten – ökonomischen Verhältnisse nach Einführung der DM am 1. Juli 1990. Die Menschen wollten nur noch den schnellen Beitritt. Das verstärkte i n dessen die Unruhe in der Truppe. Trotzdem wurde die NV A gemäß einem früheren Volkskammerbeschluss am 20. Juli 1990 neu vereidigt. Im Rahmen des Einigungsvertrages wurde die NVA nur noch eingebettet in Regeln für den öf fentlichen Dienst behandelt. Nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages und Zustimmung der beid en deutschen Parlamente zum Einigungsvertrag erfolgte der Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt am 24. Septe mber. Vier Tage später wurden die Generale und Admirale der NVA, die allesamt nicht übernommen wurden, verabschiedet. Im Mittelpunkt der Bemühungen stand in den letzten Wochen die Sicherung von Waffen und Munition. Das war schwierig angesichts der Tatsache, dass ca. 4.000 Berufssoldaten die Armee ohne persönliche Perspektive verlassen mussten. Dennoch hörte die NVA am 2. Oktober 1990 friedlich auf zu bestehen. In dem Bewusstsein, dass es auch anders hätte kommen können, resümiert der Verfasser dieses als ein Ergebnis, um das viele uns beneiden. Mit der heutigen Bundeswehr beschäftigt sich abschließend Gerd Strohmeier unter dem Aspekt der „Berufs(un)zufriedenheit in den Streitkräften. Zusammenfassung und Bewertung der wesentlichen Ergebnisse der Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands“. Darin berichtet der Autor über eine von über 45.000 Mitg liedern des Bu ndeswehrVerbandes mitgetragene Befragung zur Berufszufriedenheit in den Streitkräften. Im ersten Teil erläutert der Verfasser die Methodik. Die Befragung erfolgte über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten – internetgestützt oder postalisch. Vorher und währenddessen war auf unterschiedliche Weise für eine Beteiligung geworben worden, unter anderem in einem Brief des Verbandsvorsitzenden an alle 210.222 Mitglieder, welcher auch Informationen über die Befragung enthielt sowie eine Postkarte zur kostenfreien Anforderung eines Fragebogens. Überdies wurden zur Erhöhung des Rücklaufes fünf Preise ausgelobt. Der vierteilige Fragebogen selbst erfüllte alle sozialwissenschaftlichen Standards und enthielt unterschiedlich viele Fragen zu unterschiedlichen Bereichen,

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teilweise gerichtet an spezifische Adressaten, etwa Berufssoldaten, ehemalige Angehörige der NV A oder Teiln ehmer an Auslandseinsätzen. Alle Befragten konnten zusätzliche Kommentare, Anregungen und Kritik per E-Mail an die Universität Passau senden. Die Internetbefragung erfolgte mittels einer projektspezifisch entwickelten Software, mit deren Hilfe sowohl die Anonymität bewahrt als auch eine Doppelteilnahme ausgeschlossen wurde. Einleitend wurden den Teilnehmenden die Grundlagen der Befragung erklärt und Hinweise zur Beantwortung der Fragen gegeben. Der Fragebogen wurde mit zwei Filterfragen eröffnet, um allen den für sie jeweils relevanten Fragenkomplex zuzuordnen. Die Organisation der Befragung über den Postweg war der Briefwahl nachempfunden, nur die ersten beiden (Filter-)Fragen wurden hier bereits auf der Postkarte zur Anforderung der Unterlagen gestellt, da mit sogleich die en tsprechenden Fragebögen versandt werden konnten. Im Übrigen entsprach der Inhalt der Fragen denen der OnlineBefragung. Zwei Drittel der Befragten haben die Internetbefragung genutzt, ein Drittel die per Post. Im Ergebnis sah sich ein nur verschwindend kleiner Teil der Befragten (3,9 Prozent) von der P olitik unterstützt, einem nur unbedeutend größeren Teil (6,2 Prozent) wurde der Sinn und Zweck der Auslandseinsätze vermittelt, und nur 9,8 Prozent waren der Auffassung, die Gesellschaft stehe voll hinter den Auslandseinsätzen. Nahezu gleich v iele Berufssoldaten bezweifeln, dass die Bundeswehr zukünftig im erforderlichen Umfang qualifizierten Nachwuchs gewinnen werde, nur 19,8 Prozent dieser Gruppe würde ihnen Nahestehenden den Dienst in der Bundeswehr empfehlen. 43,6 Prozent der Berufssoldaten würde sich noch einmal für diesen Beruf entscheiden, 58 Prozent der Zeitsoldaten für diesen Dienst. Zum Ersten merkt der Au tor an, wie wichtig die ideelle Unterstützung durch Politik und Gesellschaft für die Berufszufriedenheit der Soldaten ist, in besonderem Maße bezüglich der Auslandseinsätze, zum Zweiten, dass der Ge winnung qualifizierten Personals eine herausragende B edeutung für die Ei nsatzfähigkeit einer Armee zukommt dass dies aber zu e inem ernsten Problem angesichts der dem ographischen Entwicklung werden könnte. Aber auch bei der A usrüstung und Ausstattung für die Au slandseinsätze zeigten sich gravierende Mängel: Über zwei Drittel bewerteten ihre persönliche Ausrüstung von sehr schlecht bis mittelmäßig; nahezu drei Viertel die materielle Ausstattung, für fast 40 Prozent war die landeskundliche Schulung nicht ausreichend und für 22,1 Prozent die einsatzbezogene Ausbildung. 46,1 Prozent halten die Hä ufigkeit der Auslandseinsätze sowie die ei nsatzfreien Zeiten für angemessen, was, worauf der Verfasser verweist, allerdings zu „schwerwiegenden Fehlleistungen führen kann“.

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Schließlich weisen auch die weiteren Ergebnisse ein hohes Maß negativer Einschätzungen auf, etwa was die Zufriedenheit mit dem Soldatenberuf anbetrifft. So fühlen sich 63,1 P rozent von den Ruhestandssoldaten durch die Bundeswehr nicht angemessen gewürdigt, was ebenfalls geeignet ist, sich negativ auf das Erscheinungsbild des Berufsoldaten auszuwirken. Andererseits betont der Autor, dass keineswegs nur kritische Ansichten geäußert wurden. Es fanden sich auch Äußerungen, welche eine konstruktive Nutzung der Befragung dokumentierten. Die Beteiligung an der Befragung von fast einem Viertel der Mitglieder des BundeswehrVerbandes, in dem deutlich mehr als 50 Prozent der aktiven Soldaten organisiert sind, bewertet der Autor als eine nicht zu vernachlässigende kritische Masse, zumal die T eilnahme von ca. 10 P rozent aller aktiven Soldaten in der B undeswehr schon deshalb bemerkenswert ist, weil der B eantwortungsaufwand vergleichsweise hoch war. Gesteigert wird diese Aussagekraft der Befragung noch dadurch, dass sich sogar 24 P rozent aller Berufssoldaten der Bundeswehr daran beteiligt haben. Aber auch die 7,1 Prozent aller Soldaten auf Zeit übersteigt bei weitem jede repräsentative Stichprobenziehung. Zeigt sich nach alledem in zentralen Bereichen eine vergleichsweise hohe Unzufriedenheit, könnte das zur Folge haben, dass die Bundeswehr zukünftig – ohne signifikante Korrekturen durch die Politik – ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen könnte. Insofern attestiert der Autor akuten Handlungsbedarf. Die jüngst vollzogene Wehrstrukturreform zu einer De-facto-Berufsarmee stellt gewiss eine tiefe Zäsur in der Bundeswehrgeschichte dar. Ob und inwieweit sie sich auf die Berufszufriedenheit der S oldaten auswirken wird, bleibt indessen abzuwarten. Die Herausgeber danken allen Autoren, die das Zustandekommen des vorliegenden Bandes ermöglicht haben, dessen Grundstock die 29. Berliner Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im März 2007 bildete, wozu aber noch weitere Beiträge eingeworben werden konnten. Danken möchten wir schließlich auch den Herren Manuel Glasfort, Gerd Höft und Axel Roetger für die redaktionelle Mitarbeit. Bielefeld/Leipzig, im September 2010 Hans-Jörg Bücking und Günther Heydemann

Inhaltsverzeichnis Jörg Echternkamp Wandel durch Annäherung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfolges? Zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit der deutschen Militärgeschichte seit 1945 ............ ............................................................................... 23 Klaus Olshausen Die Bundeswehr – Bündnisarmee in der Allianz / NATO und der EU. Strategieentwicklung und Streitkräfteplanung................................................................... 67 Sigurd Hess Seesicherheit – Abwehr des Terrorismus in nationalen Gewässern und auf hoher See ............................................................................................................. 83 Eckart von Klaeden ............ Rückbesinnung auf den verfassungsrechtlichen Auftrag und die internationale Verantwortung Deutschlands .............................................................................. 99 Daniel Niemetz Das feldgraue Erbe. Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär ............................. 107 Marco Metzler Der Auftrag der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik ............................................................................................................ 125 Werner E. Ablaß Von der NVA zur Bundeswehr – Herbst 1989 bis 2. Oktober 1990.................. 171 Gerd Strohmeier Berufs(un)zufriedenheit in den Streitkräften. Zusammenfassung und Bewertung der wesentlichen Ergebnisse der Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands ...................................................................................... 179 Verfasser und Herausgeber .................................................................................... 193

Wandel durch Annäherung oder: Wird die Militärgeschichte ein Opfer ihres Erfolges? Zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit der deutschen Militärgeschichte seit 19451 Von Jörg Echternkamp Geschichte ist gedeutete Vergangenheit. Dieser Deut ungsprozess unterliegt der Veränderung seiner Bedingungsfaktoren, hat mithin selbst eine historische Dimension – und kommt daher seinerseits als Gege nstand der geschichtlichen Betrachtung in Frage. Zwar ist der Hi storiker von Berufs wegen mit der Ve rgangenheit, genauer: mit ihrer Deutung befasst; doch lo hnt ein Blick auf die Geschichte der Geschichte, der Militärgeschichte zumal? Welchen spezifischen Erkenntnisgewinn verspricht ein solcher wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick?2 P

Die wissenschaftsgeschichtliche Annäherung an die Hist oriographie von Krieg und Militär ist keine sinnfreie Selbstbespiegelung, sondern hat mindestens drei Vo rzüge. Sie verdeutlicht, erstens, nicht zuletzt dem interessierten Laien, inwieweit die gegenwärtige Geschichte der Streitkräfte mit der Entwicklung der M ilitärgeschichte seit dem Kriegsende 1945 zu sammenhängt. Zweitens hilft sie den Militär historikern, den ei genen Standort zu besti mmen und über die methodischen Ansätze, die inhaltlichen Schwerpunkte und favorisierten Fragestellungen ihrer Arbeit Rechenschaft abzulegen. Schließlich können vor diesem Hintergrund – das ist der dritte Vorzug – am ehesten weiterführende Forschungsperspektiven entwickelt werden. Diese historiographische, das heißt thematische und methodische Entwicklung seit de m Ende des Zw eiten Welt___________ 1

Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der 29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD) am 2.3.2007 in Berlin. Erste Überlegungen konnten 2005 im Institute of European Studies (IES) der University of Californa Berkeley, und i n den Centers for German and E uropean Studies, University of Minnesota / The Twin Cities, Minneapolis sowie der University of Wisconsin / Madison zur Diskussion gestellt werden. Für ihre kritische Durchsicht danke ich Helmut R. Hammerich und Winfried Heinemann, beide MGFA Potsdam. 2 Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989; Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan, 1945-1960, Göttingen 1999.

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kriegs soll zunächst vor allem an einem konkreten Fall vor Augen geführt werden: am Beispiel der Gesc hichte dieses Weltkriegs als einer der g rößten Herausforderungen für die Militärgeschichte nach 1945. Das in den letzten zehn, zwanzig Jahren deutlich gestiegene Interesse an militärgeschichtlichen Themen – dieses Argument sei vorab genannt – lässt sich nicht zuletzt erklären mit den jüngsten Veränderungen in der Art und Weise, wie diese Geschichte geschrieben wird. Die neue Vielfalt an Methoden, die breite Palette der T hemen und, auch das, ein angemessenes Reflexionsniveau haben die Attraktivität der Militärgeschichte so deutlich erhöht, dass man ohne zu übertreiben von einem Boom sprechen kann. Es gab eine allgemeine Richtungsänderung in der Historiographie, die das Beispiel der Weltkriegsforschung besonders gut erkennen lässt: die Annäherung der traditionellen Militärwissenschaft an die allgemeine Geschichtswissenschaft. Dieser allmähliche Perspektivenwechsel und seine wichtigste Konsequenz: die Anschlussfähigkeit militärgeschichtlicher Forschung gegenüber der Fach wissenschaft und ihre Folgen, soll hier zunächst vor allem anhand der Forschung zum Zweiten Weltkrieg näher beleuchtet werden. Welche Veränderungen lassen sich seit Kriegsende beobachten? Wodurch wurden sie verursacht? Was kann eine moderne Militärgeschichte heute leisten – und was nicht? Auch in einem solchen Rückblick auf die Geschichte der Geschichtsschreibung geht es grundsätzlich um die Frage der „Koordination von sich schnell verändernder historischer Erfahrung einerseits und geschichtlichem Denken andererseits“.3 Dazu sind beide Seiten zu bedenken: Zum einen die wissenschaftsinternen Arbeitsbedingungen, von der Q uellenlage über die beteiligten Institutionen bis zu r Methodologie. Wer die Welt kriegsforschung in der B undesrepublik verstehen will, muss ihren jeweiligen Platz in der westdeutschen Geschichtswissenschaft kennen. Zum anderen wäre, was hier nicht im Vordergrund stehen kann, die Krieg sforschung in ihrem außerwissenschaftlichen Zusammenhang zu sehen: demnach müssen die konkreten politischen, gesellschaftlichen, auch die „diskursiven“ Bedingungen berücksichtigt werden. P

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Daher sei v orab daran erinnert, dass ganz im Sinne eines pluralistischen Wissenschaftsverständnisses ein Nebeneinander von traditionellen und neuen Methoden, überkommenen und veränderten Leitkategorien jederzeit möglich war und ist, ohne dass diesen Verästelungen hier im Einzelnen nachgegangen werden kann. Auch in der M ilitärgeschichte gab es gegenläufige Tendenzen. Die Vorstellung eines „Paradigmenwechsels“ verdeckt das schnell. Gleichwohl zeichnet sich eine unübersehbare Entwicklungslinie ab, die sich als W andel ___________ 3

Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989.

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durch Annäherung beschreiben lässt. Zu diesem Zweck lassen sich die vergangenen 60 Jahre deutscher Militärgeschichte grob in drei Etappen untergliedern: eine erste, vom Kriegsende bis in die späten 1960er Jahre währende Phase der Institutionalisierung (I.); ein e zweite Epoche des P erspektivenwechsels in den 70er und 80er Jahren (II.); sch ließlich eine dritte, i n die G egenwart führende Phase seit der Wen de von 1989/90, in der Militärg eschichte in weiten Teilen runderneuert und als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft etabliert wurde (III.). Nach diesem Rückblick geht es über die Weltkriegsforschung hinaus um die laufende Diskussion über die Konsequenzen dieser Entwicklung, insbesondere für den S tellenwert des Krieg es (IV.). Vo r diesem Hintergrund soll schließlich danach gefragt werden, was Militärgeschichte als Zeitgeschichte heute leisten kann und welche Funktionen ihr zugeschrieben werden (V.). I. Deutsche Historiker konnten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst kaum auf amtliche Quellen zurückgreifen. Zum einen war eine große Zahl dieser Quellen während des Krieg es vernichtet worden. Ein besonderer Verlust war das Preußische Heeresarchiv, das nach dem Luftangriff auf Potsdam den Flammen zum Opfer fiel. Auch hatten die Natio nalsozialisten alles daran g esetzt, belastende Akten zu vernichten. Neben dieser materiellen Vernichtung, die insbesondere die Akten der Reichsluftwaffe betroffen hatte, wurde nach dem Krieg eine Menge Quellenmaterial aus Deutschland fortgeschafft. In der Tat handelten die Alliierten genauso wie die Deutschen 1940 in Frankreich: sie requirierten deutsche Dokumente als Krie gsbeute, insbesondere Akten des Auswärtigen Amtes, zentraler Reichsbehörden sowie der Wehrmacht, das heißt des Heeres, der M arine und der Luftwaffe, auch der W affen-SS. Die e ntsprechenden Bestände wurden nach Washington, London, Prag und Moskau verbracht. Allein das amerikanische Kriegsministerium hatte bis zum Ende der Besatzungszeit 1949 ru nd 800 Tonnen vor allem militärischer Akten nach Washington verlagert. Den Alliierten ging es vor allem um die De utungshoheit über die j üngste deutsche Vergangenheit.4 Kein z weites Mal sollten deutsche Historiker und ehemalige Generalstäbler die Möglichkeit haben, durch apologetische Editionen historische Antworten auf die Kriegsschuldfrage zu geben. Dies war nach dem Ersten Weltkrieg der F all gewesen, als Historiker des Reic hsarchivs in P

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___________ 4 Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart, 2004; dies., Bundesdeutsche Souveränität und die Rückgabe der diplomatischen Akten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 17/2005, S. 24-30.

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Potsdam die „offizielle“ Geschichte des Krieges („Der Weltkrieg 1914-1918”) geschrieben und dabei in 14 Bänden auf internationaler Ebene für das Ansehen der deutschen Nation im Kontext von Kriegsschuld und dem Vertrag von Versailles, aber auch gegen die Befürworter ihrer eigenen demokratischen Weimarer Republik gekämpft hatten.5 Der Versuch des preußischen Historikers Hans Delbrücks, Anfang des Jahrhunderts mit seiner „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte“ Militärgeschichte in die allgemeine Geschichte und die akademische Wissenschaft zu integrieren, war bekanntlich an dem Anspruch des Militärs auf Deutungshoheit gescheitert. 6 P

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Stattdessen wollten die Alliierten die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Daher sorgten sie für eine umfassende Sammlung an Quellenmaterial, auf die sich die Anklagen vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT) 1945/46 in Nürnberg und während der zwölf sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse stützen konnten.7 Um die Kriegsverbrechen und den Massenmord an den europäischen Juden auch im juristischen Sinn beweisen zu können, stellten die Siegermächte massenhaft Akten sicher. Außerdem nutzten sie das Beweismaterial bei ihren Bemühungen, die Deutschen „umzuerziehen“, das heißt, ihnen den vermeintlichen preußischen „Militarismus“ auszutreiben, dessen unheilvolle Symbiose mit dem Nationalsozialismus in den Krieg geführt habe. 8 Viele dieser Dokumente wurden alsbald veröffentlicht und standen dann deutschen Historikern jener Zeit zur Verfügung.9 P

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___________ 5 Siehe Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914-1956, Paderborn 2002. Zur „Geschichtspolitik“ des Generalstabs vgl. auch Reinhard Brühl, Militärgeschichte und Kriegspolitik. Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabs 1816-1945, Berlin (DDR) 1 973; Martin Raschke, Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890-1914, Freiburg 1993. 6 Vgl. Sven Lange, Hans Delbrück und der „Strategiestreit“. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1914, Freiburg 1995; Wilhelm Deist, Hans Delbrück. Militärhistoriker und Publizist, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57/1998, 2, S. 731-383. 7 Als Einführung siehe Michael R. Marrus, The Nuremberg war crimes trial 1945-46: a documentary history, Boston 1997. 8 Vgl. Jeffrey K. Olick, In the House of the Hangman. The Agonies of German Defeat, 1943-1949, Chicago 2005, S. 25-135; Dagmar Barnouw, Germany 1945: views of war and violence, Bloomington 1999. Vor diesem Hintergrund schrieb der Doyen der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 4 Bde., München 1954-1968; dazu: Christoph Cornelißen / Gerhard Ritter, Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001. Vgl. zum Thema Wolfram Wette (Hrsg.), Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945, Hamburg 1999. 9 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (Nürnberg, 1947-1949), Nachdruck, München 1984/89.

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Die Historiographie des Zweiten Weltkriegs blieb bis Mitte der 1950er Jahre auf die Aussagen der Akteure, in der Regel die persönlichen Erinnerungen der Offiziere und Generale angewiesen. Die Geschichte der Schlachten – jener Archetypus der Historiog raphie – blieb Sache derer, die sie g eschlagen hatten oder die zumindest dem militärischen Milieu entstammten. Erst 1956/58 wurden die ersten militärischen Akten aus den USA zurückgeführt. Es dauerte zehn Jahre, bis dieser Vorgang 1968 vorläufig abgeschlossen war. Mit der archivalischen Aufbereitung dieser Do kumente durch Institutionen eröffneten sich der Kriegsforschung neue Felder. Doch für ein offizielles „Weltkriegswerk“ fehlten im Gegensatz zur ersten Nachkriegszeit nach 1918 auf deutscher Seite die institutionellen Voraussetzungen. Einen Generalstab, der dieses Un ternehmen hätte bewerkstelligen können, gab es aus naheliegenden Gründen nicht mehr. An einen Lehrstuhl für Militärgeschichte gar war nicht zu denken, sieht man von der Professur für Wehrwissenschaften und Militärgeschichte an der Un iversität Münster ab, die Werner Hahlweg von 1969 bis 1982 innehatte. So fehlte in der Bundesrepublik ein Pendant zu de n operationsgeschichtlichen Monumentalwerken, wie sie die Siegermächte in jener Zeit produzierten. Dennoch wurden im Laufe der 1950er Jahre ein knappes Dutzend Dissertationen zur Außen- und Kriegspolitik des Dritten Reiches geschrieben, vor allem an der Un iversität Göttingen. Auf eine erweiterte Materialbasis konnten sich dann zwischen 1960 u nd 1970 bereits erste Monographien stützen, etwa die Arbeiten von Andreas Hillgruber oder von Hans-Adolf Jacobsen zur nationalsozialistischen Außenpolitik, die bis heute als Standardwerke gelten.10 P

In Westdeutschland waren die frühen 1950er Jahre auch die Gründerzeit der Forschungsinstitute und Arbeitskreise. Sie markieren einen Wendepunkt, weil man nun über diese Art der Einzelforschung hinausgehen konnte. In den ehemals besetzten westeuropäischen Ländern wurden Institute gegründet, um die Verbrechen der Besatzungsmächte und deren Kollaborateure einerseits und das Heldentum des Widerstands andererseits zu dokumentieren. Außerdem sollten die Vorgänger des niederländischen Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD), des belg ischen Centre d'Etudes et d e Documentation – Guerre et Sociétés co ntemporaine (CEGES) oder des französischen Institut ___________ 10 Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a.M. 1968; siehe auch Jacobsens Gedanken über die Geschichte des Krieges: Ders., Zur Konzeption einer Geschichte des Zweiten Weltkrieges, 1939-1945, Frankfurt a.M. 1964; Hans-Adolf Jacobsen / Jürgen Rohwer (Hrsg.), Entscheidungsschlachten des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1960; Hans-Adolf Jacobsen / Hans Dollinger (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg in Bilde rn und Dok umenten, 10 Bde ., München 1969. Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseld orf 1969; ders. (Hrsg.), Probleme des Zweiten Weltkrieges, Köln 1967.

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d’histoire du temps présent (IHTP) die ersten Synthesen zur nationalen Geschichte in den Kriegsjahren liefern. 11 P

In Westdeutschland sollten für die Erforschung des Zweiten Weltkriegs vor allem zwei außeruniversitäre Forschungseinrichtungen eine Rolle spielen. 1949/50 übernahm das In stitut für Zeitgeschichte (IfZ) in München eine Vorreiterrolle in der Er forschung der j üngsten Vergangenheit, einschließlich des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs. 12 Die Grundlagenforschung zum Zweiten Weltkrieg stand nach einer längeren institutionellen Anlaufphase im Mittelpunkt der A rbeiten des Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA). Dessen Ursprung liegt in der „Militärgeschichtlichen Forschungsstelle“, die das Bundesministerium für Verteidigung zum 01. Jan uar 1957 in Langenau bei Ulm eingerichtet hatte. Ihr stand in Personalunion der prom ovierte Historiker Dr. Hans Meier-Welcker vor, der seit 1955 (bis 1958) im Ministerium das b ereits Ende 1951 eingerichtete Referat „Wehrwissenschaften“, das zuweilen auch „Zeitgeschichte und Wehrwissenschaft" genannt wurde, leitete. P

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Nach dem Umzug an den neuen Sitz in Freiburg im Breisgau war MeierWelcker, Oberst i.G., bis 1964 „Amtschef“ der nun als MGFA firmierenden Dienststelle, die als eine zentrale, das heißt die T eilstreitkräfte übergreifende Forschungseinrichtung des Bundesministeriums der Verteidigung fungierte. So sollten nicht nur Konflikte vermieden werden, wie sie vor 1945 zwischen den verschiedenen Wehrmachtteilen immer wieder entstanden waren; vielmehr wollte man einer Militärgeschichte, die sich institutionell und konzeptionell an der Geschichte von Teilstreitkräften orientierte, den Boden entziehen. Als Historiker und Offizier machte sich Meier-Welcker frühzeitig für eine integrale Konzeption von Militärgeschichte stark, die den Ansprüchen der wissenschaftlichen Forschung einerseits und den Erwartungen der Bundeswehr andererseits Rechnung tragen sollte, damit das MGFA eine Scharnierfunktion zwischen der zivilen Gesellschaft im Bereich der W issenschaft und der B undeswehr übernehmen konnte.13 Forschung galt ihm als Grundlage der historischen Bildung: P

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___________ 11 Eine präzise Übersicht gibt Pieter Lagrou, Historiographie de guerre et historiographie du temps présent: cadres institutionnels en Europe occidentale, 1945-2000, in: Comité international d'histoire de la De uxième Guerre mondiale (Hrsg.), The Second World War in the XXth century history, Paris 2000, S. 191-215. Zur Entwicklung der Zeitgeschichte in Frankreich vgl. Stefan Martens, Forschungseinrichtungen zur Zeitgeschichte in Frankreich, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Oldenbourg GeschichteLehrbuch „Neueste Zeit“, München 2006, S. 451–454; ders., Frankreich zwischen „Histoire contemporaine“ und „Histoire du temps présent“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55/2007, S. 583–616. 12 Vgl. Horst Möller / Udo Wengst (Hrsg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999. 13 Vgl. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Vierzig Jahre 1957-1997, Potsdam 1997; 50 Jahre Militärgeschichtliches Forschungsamt: eine Chronik, bearb. von

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„Die Militärgeschichtliche Forschungsstelle steht also als militärische Dienststelle ihrem Wesen nach im Bereich der Geschichtswissenschaft,“ erläuterte Meier-Welcker 1957 in einem Vortrag bei der Historical Division in Karlsruhe, „und hat die Brücke zu schlagen einerseits von der Gesch ichte zum militärischen Leben und andererseits von den gegenwärtigen militärischen Interessen und Fragestellungen zur Wissenschaft.“14 P

Die interne und öffentliche Diskussion darüber, was „das Amt“ leisten und wie die zivilen Mitarbeiter und die His torikeroffiziere sich und ihre Arbeit im Spagat zwischen unterschiedlichen Milieus definieren sollten, kreiste seit Mitte der 1950er Jahre nicht zuletzt um den verschwommenen Begriff der Kriegsgeschichte und ihrer Methoden. Meier-Welcker hatte die Deb atte auf Anregung von General Heusinger in Gang gebracht, vor dem Hintergrund der alth ergebrachten Erwartung auf Seiten der Soldaten, dass Geschichte „um der Nutzanwendung willen“ betrieben werde. Im Rückblick hat Rainer Wohlfeil, 1970 Leitender Historiker des MGFA, die Ambivalenz und damit die Unschärfe des Begriffs auf den Punkt gebracht. „Kriegsgeschichte“ stifte Verwirrung, „weil ihm zwei Bedeutungen immanent sind, ohne daß sein jeweiliges Bezugssystem stets klar benannt wird“. Die Ambivalenz rührte an das Wissenschaftsverständnis, denn der Begriff diente, so Wohlfeil, „entweder als handlungsorientierte Erfahrungslehre im Verständnis von Kriegskunde, die K enntnisse über die Entwicklung der Kriegstheorie und -praxis vermittelt und deren Anwendung in vergangenen Kriegen als Studienobjekt für den Offizier diente und eingebracht wurde bei der militärischen Ausbildung“; oder der Begriff zielte auf eine „geschichtswissenschaftliche Disziplin“. Im letzteren Sinne enthalte er vor allem einen zweifachen Inhalt, einerseits die Geschichte des Kriegskunst, andererseits die Geschichte der Kriege, und das heißt Militärgeschichte im Kriege.“ 15 P

Diese internen Querelen um das wissenschaftliche Selbstverständnis interessierten außerhalb des engen Zirkels der Militärhistoriker kaum jemanden. Einen ___________ Martin Rink, Berlin 2007, bes. S. 12-23; ders., Hans Meier-Welcker – Soldat und Wissenschaftler, in: Militärgeschichte, 2/2007; Hans Meier-Welcker, Soldat und Geschichte: Aufsätze, Freiburg i.Br. 1 976; ders., Über d ie Kriegsgeschichte als Wissenschaft und Lehre, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 4/1955, S. 1-8; ders., Aufzeichnungen eines Generalstabsoffiziers 1939-1942, Freiburg i.Br. 1982 (= Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Bd.26); ders., Deutsches Heerwesen im Wandel der Zeit - Ein Überblick über die Entwicklung vom Aufkommen der stehenden Heere bis zur Wehrfrage der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1956. 14 Zitiert nach Rainer Wohlfeil, Militärgeschichte. Zu Geschichte und Problemen einer Disziplin der Geschichtswissenschaft (1952-1967), in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52/1993, S. 323-344, S. 332. 15 Rainer Wohlfeil, Militärgeschichte; ders., Überlegungen zum Begriff „Militärgeschichte”, in: Stefan Kroll (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster 2000, S. 16-22.

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Eindruck von ihrem Schattendasein in der westdeutschen Wissenschaftslandschaft der 1950er u nd 1960er Jahre vermittelt das a mtspolitische und forschungsstrategische Interesse, das sich 1967 mit der Publikation einer eigenen Fachzeitschrift, der Militärg eschichtlichen Mitteilungen (MGM), verband. Einer internen Weisung zufolge wurde die Z eitschrift ins Leben gerufen, um „fruchtbare Beziehungen zur Fachwelt in Deutschland und im Ausland herzustellen“, „den Austausch von Forschungsergebnissen mit Einrichtungen ähnlich dem MGFA zu fördern“ und „eine sinnvolle Informationsquelle für diejenigen zu sein, die [i m deutschen Heer] Militär- und Kriegsgeschichte unterrichten.“ Nicht zuletzt sollten die MGM „die interessierte Öffentlichkeit ermutigen, sich mit Militärgeschichte zu befassen”16 P

Diese Öffentlichkeit bestand in den er sten Jahren nur aus einem kleinen Kreis. Die Redaktion machte später keinen Hehl daraus, dass am Anfang „der Chor der pessimistischen Stimmen sehr stark“ war. Viele Deutsche erachteten die Beschäftigung mit Krieg und Militär als „unfein“, wie es Manfred Messerschmidt, von 1970 bis 1988 Leitender Historiker des M GFA, rückblickend formulierte.17 Kein Wunder, dass vor allem eng mit dem Militär verbundene Kreise wie der Arbeitskreis für Wehrforschung Publikationen über den Krieg unterstützten.18 Sie beschäftigten sich mit der Herausgabe von Dokumenten wie Franz Halders Kriegstagebüchern oder mit der S childerung von Gefechtsverläufen, in denen die L eistung der Wehrmacht betont wurde. So h eißt es zu m Beispiel im Klappentext eines Werkes über den „Feldzug gegen Sowjetrussland“ aus dem Jahre 1962: „Soldatische Leistungen im Kriege haben ihren ei___________ P

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Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br., BW 7/410 (Dr. von Groote, Hausverfügung 130/65, 2.11.1965). Der Arbeitstitel lautete: „Mitteilungen zur Militär- und Kriegsgeschichte (MMK).” Ich danke Bruno Thoß (Potsdam), der mich auf dieses Dokument hingewiesen hat. 17 Zitiert von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: Kühne / Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 9-46, S. 10. 18 Siehe zu m Beispiel: Andreas Hillgruber, Chronik des Zweiten Weltkrieges, Arbeitskreis für Wehrforschung (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1966. Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte. Eine Einführung, hrsg. im Auftrag des Arbeitskreises für Wehrforschung, Frankfurt a.M. (1966), 2. d urchges. Aufl. 1968; der Band des Historikers, seinerzeit als Oberstleutnant i.G. Referent im BMVg, erschien 1979 in einer 3. Auflage im Bernard und Graefe Verlag für Wehrwesen. Der Geschäftsführer des Arbeitskreises für Wehrforschung zwischen 1954 und 1959, Jürgen Rohwer, war anschließend 30 Jahre lang Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart; vgl. Hartmut Klüver / Thomas Weis (Hrsg.), Marinegeschichte - Seekrieg - Funkaufklärung. Festschrift für Jürgen Rohwer. Beiträge und G esamtbibliografie von Heinz-Ludger Borgert / Michael Epkenhans / Sigurd Hess / Gerhard Hümmelchen / Sönke Neitzel / Thomas Weis / Jürgen Rohwer, Düsseldorf 2004. Vgl. auch das Programm für die 1. Mitgliederversammlung des „Arbeitskreises für Wehrforschung“, am 17.-18. Oktober 1956 in Bad Honnef, Arbeitskreis für Wehrforschung e.V (Hrsg.), BA-MA MSg 3/3648.

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genen Maßstab. Ihr Wert ist von den Zielen der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung im Grunde unabhängig. Seite um Seite des Buches berichtet von den k ämpferischen Qualitäten des jahrelang weit überforderten Ostheeres.”19 P

Mit Blick auf die Methoden und Inhalte lässt sich zunächst ein Widerspruch feststellen. Die unmittelbar nach Kriegsende erhobenen Forderungen nach einer Revision des überlieferten deutschen Geschichtsbildes standen bald im Gegensatz zur Grundhaltung der Historiker, die „unter dem Eindruck einer sich stabilisierenden staatlichen Ordnung immer weniger Anlaß zum Revisionismus sahen“.20 Unmittelbar nach dem Krieg hatten sich Historiker ausführlich zu dem – wie sie es nannten – „Irrweg“ geäußert, den die deutsche Geschichte eingeschlagen und der zum NS-Regime und in den Krieg geführt hatte. In den 1950er Jahren war davon kaum noch die R ede. Zwar distanzierten sich die Menschen von den Gesc hichtsdeutungen des Natio nalsozialismus. An tradierten Themen und Methoden der politischen Gesc hichte hielten sie j edoch fest. Die deutsche Geschichtswissenschaft stand in den 1950er J ahren mehrheitlich weiterhin im Zeichen eines politisch konservativen Historismus und seiner Fokussierung auf wichtige historische Personen. Das innovative Konzept einer breiteren „Zeitgeschichte“ war die Ausnahme, ein „Fremdkörper“ in der Historiographie.21 P

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Welche Rolle spielte da der Krieg von 1939/45? Die Historiker beschäftigten sich mit der j üngsten Vergangenheit im Schatten ihrer persönlichen Erfahrungen – was etwa die Au farbeitung der eig enen militärischen Vergangenheit durch Divisionsgeschichten zeigt. Werner Conze beispielsweise, einer der B egründer der Sozialgeschichte, schrieb 1953 eine Geschichte „seiner“ 291. Infanteriedivision.22 Für Historiker wie für die Gesellsc haft insgesamt stand „1945“ für die „deutsche Katastrophe“, das hieß: die vollständige militärische P

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___________ 19 Franz Halder, Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939 – 1942, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung; Hans-Adolf Jacobsen, Alfred Philippi, Stuttgart 1962-64; Alfred Philippi./.Ferdinand Heim, Der Feldzug gegen Sowjetrussland 1941 bis 1945. Ein operativer Überblick, hrsg. vom Arbeitskreis für Wehrforschung, Stuttgart 1962. 20 Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 302 f. 21 Vgl. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als A ufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/1953, 1-8; eine neuere Zusammenfassung enthält Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Grosse Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgesc hichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003. Das Zitat stammt von Hermann Graml und Hans Woller, „Fünfzig Jahre Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1953-2003“, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51/2003, S. 51-87, S. 53. 22 Werner Conze, Die Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940-1945, Bad Nauheim 1953.

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Niederlage und damit das Ende des deut schen Nationalstaats. 23 Es ist daher kaum verwunderlich, dass das vorrangige Interesse der H istoriker den politischen und militärischen Ereignissen galt, die in diese Katastrophe geführt hatten. P

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Neben der Analyse der „totalitären“ NS-Herrschaft und der f rühen Erforschung des Widerstandes gegen diese Herrschaft bildete die K riegführung durch das Militär des „Dritten Reiches“ einen Schwerpunkt in der Geschichtsschreibung dieses Reiches. Es liegt nahe, in dem Interesse an den militärischen Aktionen auf den Sc hlachtfeldern und der Fu nktionselite der W ehrmacht eine „Konsequenz des methodischen Primats der Außenpolitik“ zu sehen.” 24 Doch ging es den Historikern nicht zuletzt darum, durch „objektive“, auf Dokumente gestützte Geschichtsschreibung die ap ologetische Memoirenliteratur zu unterlaufen – was ihnen teilweise einen dokumentarischen Wert bis heute sichert. 25 Sie wollten Nachkriegslegenden über den Krie g und Erzählungen von Ruhm, Tapferkeit und Kameradschaft entgegenwirken. Andere Aspekte, insbesondere der Massenmord an den europäischen Juden, standen dahinter zurück. Diese Fragen wurden getrennt; verschwiegen wurden sie nicht. So enthält zum Beispiel eine frühe, Mitte der 1950er J ahre von Mitarbeitern des Instituts für Zeitgeschichte verfasste Übersicht über die „Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit 1933-1945“ durchaus ein Kapitel „Verfolgung“ – an das sich ein Kapitel über „Widerstand“ anschließt.26 P

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Den westdeutschen Historikern war daran gelegen, die große M asse der Deutschen, die Zivilbevölkerung wie das Militär, nicht in toto für die unter dem Nationalsozialismus verübten Gräueltaten au f die An klagebank zu setze n. Der ___________ 23 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946. 24 Sebastian Conrad, Göttingen 1999. In Göttingen, seit 1956 in Bonn, befasste sich beispielsweise Walther Hubatsch (1915-1984), während des Krieges Mitarbeiter am Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, außer mit der Verwaltungs- auch mit der Militärgeschichte. Vgl. Walther Hubatsch, „Weserübung“. Die deutsche Besetzung von Dänemark und N orwegen 1940. N ach amtlichen Unterlagen dargestellt (1952), 2. überarb. Aufl. Göttingen 1960; ders., Die Ära Tirpitz. Studien zur deutschen Marinepolitik 1890-1918, Göttingen 1955; ders., Der Admiralstab und die obersten Marinebehörden in Deutschland 1848-1945, Frankfurt a.M. 1958. 25 Als Beispiel: Percy Ernst Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht: (Wehrmachtführungsstab); 1940-1945, geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm, Frankfurt a.M. 1961-1965; Studienausgabe, Augsburg 2005. Walther Hubatsch, Hitlers Weisungen für die Kriegsführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Frankfurt a.M. 1962, als ungekürzte Taschenbuchausgabe im dtv-Verlag München 1965, 2., durchges. und erg. Aufl. Koblenz 1983, zuletzt: Utting 2000. 26 Hermann Mau / Helmut Krausnick, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit 1933-1945. Mit einem Nachwort von Peter Rassow, Bonn 1953.

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Kunstgriff, mit dem die Masse deutscher Soldaten aus der historiographischen Schusslinie geholt wurde, ist bekannt: Die Historiker – nicht nur sie – trennten fein säuberlich zwischen der nationalsozialistischen Diktatur Hitlers un d dem gleichsam neutralen militärischen Instrument seiner Politik. Die „gleichgeschaltete“ Reichswehr als Opfer Hitlers, die Wehrmacht als letztes Refugium im Regime – diese Bilder prägten die Darstellungen bis in die 90er Jahre. Insofern war es nur konsequent, dass sich die deutschen Historiker auf die im engen Sinne militärischen Aspekte des Kriegsgeschehens konzentrierten, ohne die ideologische Dimension weiter auszuleuchten. Wo der „Führer“ durch seine Ignoranz die militärischen Niederlagen zu verantworten hatte, konnten Historiker die heldenhafte Leistung, die Opferbereitschaft der deutschen Soldaten herausstellen, ganz so, als wäre der Krieg ein Krieg wie andere auch gewesen. In der Regel wurde das Krieg sgeschehen ausdrücklich aus dem B lickwinkel der eigenen Armee dargestellt. Auch in den Geschichtsbüchern ging es nach wie vor gegen den „Gegner“. Ein weiteres methodisches Moment unterstützte diesen einseitigen Ansatz. Wer von den Prämissen des Intentionalismus ausging („Männer machen Geschichte“), ließ die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in hohem Maße um die Person des „Führers“ kreisen. Dieser Hitlerzentrismus hatte zwei Folgen. Zum einen bot er den Deutschen ein willkommenes Entlastungsargument. Zum anderen schien es nicht erforderlich, nach längerfristigen Ursachen für den Krieg zu suchen, das heißt nach gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die öffentlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die Geschichten, die in den Illustrierten und Romanen, in politischen Debatten und in Kinofilmen wie „Der Arzt von Stalingrad“ erzählt wurden, hatten einen klaren Tenor: Die deutsche Zivilbevölkerung und die Sold aten der Wehrmacht waren in der großen Mehrheit „Opfer“ der Diktatur und des Krieges. Der unmittelbare Zusammenhang von Krieg und Holocaust erhielt erst ab den späten 1950er und dann in den 1960er Jahren mehr Aufmerksamkeit. Der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main in den Jahren 1963 bis 1965 und 1965/66 s etzten den Genozid auf die Agenda.27 In diesem Zusammenhang wurden am Institut für Zeitgeschichte zahlreiche Gutachten erstellt, insbesondere von Martin Broszat, Hans Buchheim und Helmut Krausnick.28 Sie zeigten, wie die VernichtungspoP

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___________ 27 Siehe Peter Krause, Der Eichmann-Prozess in der deutschen Presse, Frankfurt a.M. 2002; Jürgen Wilke, Holocaust und NS-Prozesse. Die Presseberichterstattung in Israel und Deutschland zwischen Aneignung und Abwehr, Köln 1995. 28 Martin Broszat / Hans Buchheim / Hans Krausnick (Hrsg.), Anatomie des SSStaates, 2 Bde., Olten 1965.

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litik organisiert war und wie sie f unktioniert hatte. Aus diesem juristischen Kontext ergab sich freilich auch ein besonderes Interesse an den Tätern, einer kleinen Gruppe skrupelloser Verantwortlicher. Die deutsche Gesellschaft hatte damit wenig zu tun, so schien es. In der DDR g ab der teleo logische Ansatz des Marx ismus-Leninismus die Marschrichtung der militärgeschichtlichen Forschung vor. Sie wurde früh ein Teil der allgemeinen Geschichte, die zur Legitimierung des politischen Systems herhalten musste. Nach der Wiederaufrüstung der DDR i n den 1950er Jahren wurde Militärgeschichte innerhalb der Nationalen Volksarmee als Studienfach eingerichtet. Die Forschung an dem 1958 gegründeten Institut für Deutsche Militärgeschichte (1972-1990: Militärgeschichtliches Institut der DDR, 1 9901992: MGI) in Potsdam ging von der Prämisse aus, dass Militärgeschichte über die Geschichte von Schlachten hinausgehen sollte. Vom marxistischen Standpunkt aus wurde der Zweite Weltkrieg hauptsächlich als Resultat gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedingungen betrachtet, wie der Faschismus insgesamt als extreme Form des Kapitalismus interpretiert wurde. Die Rolle des M ilitärs in Kriegs- und Friedenszeiten war daher Gegenstand der Forschung . 29 Umgekehrt erschien die westdeutsche Militärgeschichtsschreibung schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedingungen aus diesem Blickwinkel als „reaktionär“.30 P

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___________ 29 Vgl. Reinhard Brühl, Zum Neubeginn der Militärgeschichtsschreibung in der DDR. Gegenstand, theoretische Grundlagen, Aufgabenstellung, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52/1993, S. 303-322; Jürgen Angelow, Zur Rezeption der Erbediskussion durch die Militärgeschichtsschreibung der DDR, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 52/1993, S. 345-57; ders., Forschung in ungelüfteten Räumen. Anmerkungen zur Militärgeschichte der ehemaligen DDR, in : Kühne / Ziemann (Hrsg.), Was ist Mili tärgeschichte, S. 73-89; Hans-Joachim Beth, Militärgeschichtswissenschaft in der DDR, in : Arbeitskreis Militärgeschichte e.V.: Newsletter 7, S. 42-44; bibliographisch: ders. (Hrsg.), Zeitschrift „Militärgeschichte“. Bibliographisches Gesamtregister 1962-1990, Berlin 2000; Hans Ehlert (Hrsg.), Die Militär- und Sicherheitspolitik in der SBZ/DDR. Eine Bibliographie (1945 bis 1995), München 1996. Zum MGI vgl. Hans-Joachim Beth, Forschungen zur Militärgeschichte. Probleme und Fo rschungsergebnisse des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR, Berlin 1998; Dieter Dreetz, Militärgeschichtliches Institut der DDR. Einführungen, Chronik, Erinnerungen, Berlin 2007; kritisch: Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR Berlin 2006. 30 Vgl. nur Gerhard Förster, Die politisch-historische Grundkonzeption der reaktionären westdeutschen Militärgeschichtsschreibung – Ausdruck der Krise des imperialistischen Systems, in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 6/1969, S. 661-677.

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II. In der Bundesrepublik klaffte zwischen der Militär- und Kriegswissenschaft auf der einen Seite und der Geschichtswissenschaft auf der anderen auch in den 1970er, ja noch in den 1980er Jahren ein tiefer Graben.31 Kriegsgeschichte oder „Wehrgeschichte“32 (wie der aus der Z eit des Nationalsozialismus ideologisch belastete Begriff lautete) blieb weitgehend abgeschottet von der Geschichtswissenschaft, insbesondere von sozialgeschichtlichen Ansätzen und Methoden. Allerdings erschienen, das d arf nicht vergessen werden, nicht zuletzt in den Archiven Arbeiten wie die Verbands - und Truppengeschichte der Wehrmacht und der Waffen-SS, kurz: „der Tessin“, die zum Handwerkszeug der Militärhistoriker gehören.33 P

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Sicher, die B erührungsangst zwischen den beiden Bereichen war gegenseitig. In den Augen der meisten Universitätsprofessoren galt das Mili tärische weiterhin als etwas, das wenig mit Wissenschaft, aber viel mit Sinnstiftung und Selbstdarstellung des Mili tärs zu tun hatte. Die n eue Sozialgeschichte, der es um gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen ging, scheute den Krieg und das Mili tär und setzte zunächst andere Schwerpunkte. Aber auch die al lumspannenden Theorien der Makrosoziologie über die Funktionsweise der Gesellschaft waren bei der Analyse des Phänomens „Krieg“ wenig hilfreich. Die Existenz einer militärisch institutionalisierten Forschung – das Militärgeschichtliche Forschungsamt – mag den übrigen Historikern zudem einen willkommenen Vorwand geboten haben, die militärischen Faktoren der Geschichte zu vernachlässigen. ___________ 31 Siehe Bernd Wegner, Kriegsgeschichte – Politikgeschichte – Gesellschaftsgeschichte. Der Zweite Weltkrieg in der westdeutschen Historiographie der siebziger und achtziger Jahre“, in: Jürgen Rohwer (Hrsg.), Neue Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, Koblenz 1990, S. 102-129; Eckardt Opitz, Der Weg der Militärgeschichte von einer Generalstabswissenschaft zur Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, in: Hans-Joachim Braun / Rainer H. Kluwe (Hrsg.), Entwicklung und Selbstverständnis von Wissenschaften. Ein interdisziplinäres Colloquium, Frankfurt a.M. 1985, S. 57-78; Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?, in: ebd., S. 165-175. 32 Vgl. dazu kritisch Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte, in: MGM 1/67, S. 21-29, hier S. 21f; wiederabgedruckt in: Geschichte und Militärgeschichte (wie Anm. 10), S. 165-175, hier S. 166f. 33 Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und der WaffenSS im Zweiten Weltkrieg 1939-1945. Bearbeitet auf Grund der Unterlagen des Bundesarchivs-Militärarchivs; hrsg. mit Unterstützung des Bundesarchivs und des Arbeitskreises für Wehrforschung, 20 Bä nde. Osnabrück 1967 ff. Vgl. auch die Diss ertation des damaligen Archivschülers Hermann Rumschöttel, Das bayerische Offizierkorps 1866 – 1914, Berlin 1973. Eberhard Kessel (1907-1986), der 1962 bis 1972 einen Lehrstuhl in Mainz inne hatte, publizierte zahlreiche strategiegeschichtliche Studien u.a. über Scharnhorst, Gneisenau, Schlieffen, vor allem Clausewitz und Helmut von Moltke.

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Dem widerspricht nicht, dass seit den späten 1960er Jahren im MGFA einzelne militärgeschichtliche Arbeiten entstanden, die in der Rückschau zu Recht als Pionierleistung gelten.34 Im Gegenteil: Die kritische, kompetente Untersuchung zur Indoktrination der Weh rmacht wurde 1969 v on Manfred Messerschmidt, dem langjährigen leitenden Historiker des MG FA veröffentlicht. Im selben Jahr brachte Klaus-Jürgen Müller seine umfassende Studie zum Verhältnis zwischen Hitler un d dem deutschen Heer h eraus.35 Diese Einzelfälle sind jedoch nicht typisch für das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Militärgeschichte, einschließlich der Forsc hung zum Zweiten Weltkrieg. Zugleich gingen von den herausragenden Publikationen wichtige Impulse für eine Modernisierung der Militär geschichte aus. Auch die Rolle der Frau en in den beiden Weltkriegen wurde hier erstmals thematisiert, wenngleich weniger analytisch als dokumentarisch.36 P

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In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Studien zu erwähnen als frühe Beispiele dafür, wie Geschichtswissenschaftler mit Krieg und Streitkräften umgehen: Gerald D. Feld mans 1966 erstmals veröffentlichte Arbeit über Armee, Industrie und Arbeiterklasse im Ersten Weltkrieg sowie Jürgen Kockas Studie über die deutsche Klassengesellschaft zwischen 1914 und 1918. Beide Historiker waren jedoch hauptsächlich an den sozialen und wirtschaftlichen Problemen der Zeit interessiert und weniger an den B esonderheiten der Kriegssituation.37 Eine Ausnahme ist auch die von Conze in Heidelberg angeregte DissertaP

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___________ 34 Ursula von Gersdorff (Hrsg.), Geschichte und Militärgeschichte. Wege der Forschung, Frankfurt a.M. 1974, S. 7-13; dies., Die Arbeit des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (Stand Januar 1973), in: ebd., S. 75-175; Johann Christoph AllmayerBeck, Die Militärgesc hichte in ihrem Verhältnis zur historischen Gesamtwissenschaft, in: ebd., S. 177-199; Klaus A. Maier, Überlegungen zur Zielsetzung und Methode der Militärgeschichtsschreibung im Militärgeschichtlichen Forschungsamt und di e Forderung nach deren Nutzen für die Bundeswehr seit der Mitte der 70er Jahre, Militärgeschichtliche Mitteilungen 52/1993, S. 359-370. 35 Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit de r Indoktrination, Hamburg 1969; Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940, Stuttgart 1969, 2. Ausgabe 1988. Der Band wurde als Teil der MGFA-Reihe „Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte“ veröffentlicht. Vgl. bereits: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Anciennität und Beförderung nach Leistung, Stuttgart 1962 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 4), sowie das Militärgeschichtliche Forschungsamt (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648-1939, begründet von Hans Meier-Welcker, Projektleitung und Gesamtredaktion Gerhard Papke und Wolfgang Petter, 5 B de, Frankfurt a.M. 1964-1979. Zur schwierigen Konstellation am MGFA vgl. Wohlfeil, Militärgeschichte. 36 Ursula von Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945, Stuttgart 1969. 37 Gerald D. Feldman, Army industry and labor in Germany 1914-1918, Princeton/N.J., 1966, übersetzt. Vom Weltkrieg zur Weltwirtschaftskrise: Studien zur deut-

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tion von Reinhard Stumpf über die Wehrmachtelite, ging es hier doch nicht zuletzt um das strukturelle Problem des Verhältnisses von Wehrmacht und Nationalsozialismus.38 P

Anstöße für eine „zivilisierte“ Geschichte des Krieges und der Soldaten k amen auch von einer ganz anderen Seite: der Alltagsgeschichte. Seit den 1980er Jahren gaben in der Regel kleinräumige Untersuchungen mit ihrem eigenen Instrumentarium den Blick „von unten“ auf die Gesellschaft frei – nicht zuletzt auf eine Gesellschaft im Krieg. Die Militärgeschichte des „kleinen Mannes“ zielte auf die einfachen Menschen als Akteure und Leidtragende des Krieges. 39 Die Aufsätze eines vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Bandes behandeln beispielsweise den (größtenteils zivilen) Alltag auf regionaler Ebene zwischen der Sc hlacht von Stalingrad 1943 u nd der Wäh rungsreform 1948, wobei sie das Augenmerk auf die Bedeutung des Krieges als eine Zäsur für die Sozialgeschichte richten.40 Dieser Ansatz wandte sich nicht nur gegen die ältere Ideen- und Institutionengeschichte, sondern auch gegen die Sozial - und Strukturgeschichte, der sie vorhielt, Geschichte ohne den Me nschen zu schreiben und das Individuum in Bevölkerungsstatistiken auszublenden. P

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Ein langfristiger Nutzen dieses Perspektivwandels war die Er weiterung der Quellenbasis. Bislang hatten Militärhistoriker ihre Arbeit häufig unausgesprochen auf die methodische Annahme gestützt, dass man „Objektivität“ am besten durch die Ver arbeitung von umfangreichem Aktenmaterial erziele, beso nders von mehr oder weniger offiziellen Dokumenten des Militärs selbst. Diese Annahme wurde in den 1980er Jahren zunehmend in Frage gestellt. Militärhistoriker in Westdeutschland wurden – ebenso wie ihre Kollegen in Westeuropa41 – für den Positivismus ihrer Arbeit kritisiert. Nun betonten die so genannten Selbstzeugnisse oder „Egodokumente“ wie Privatbriefe oder Tagebücher den „Eigensinn“ des Einzelnen, seinen Widerstand, seine Reaktion auf die beschränkten Alternativen während der Krieg szeit. Der Schwerpunkt wurde von P

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___________ schen Wirtschafts- und Soz ialgeschichte 1914-1932, Göttingen 1984; Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte, 1914-1918, Göttingen 1973. 38 Reinhard Stumpf, Die Wehrmacht-Elite. Rang- und Herkunftsstruktur der deutschen Generale und Admirale 1933-1945, Boppard am Rhein 1982 (zugleich Diss. Heidelberg 1979). 39 Siehe Wolfram Wette, Militärgeschichte von unten. Die P erspektive des kleinen Mannes, in ders. (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, 9-47; Bernd Ulrich, Militärgeschichte von unten. Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 22/1996, S. 473-503. 40 Martin Broszat / Klaus-Dietmar Henke / Hans Woller (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988. 41 Pieter Lagrou, Historiographie de guerre.

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der politischen und militärischen Elite auf soziale Ver haltensweisen während des Krieges verlagert, mithin auf eine niedrigere Ebene. Als neue, wenngleich mit besonderer quellenkritischer Vorsicht zu genießende Quelle wurden die Millionen Feldpostbriefe „entdeckt“42. Deutsche Historiker folgten ihren angelsächsischen Vorgängern, die seit den 1970er Jahren das Leben an der Fro nt in einem interdisziplinären Ansatz untersuchten. Dieser Ansatz setzte auch auf literaturgeschichtliche und kulturanthropologische Methoden.43 Erprobt wurde diese Herangehensweise indes zunächst vor allem für die Kriege der Frü hen Neuzeit und des Ersten Weltkriegs,44 weniger für den Zweiten. P

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Gleichzeitig lenkten jedoch die Erin nerungen der Zeitgenossen die Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen zwischen 1939 und 1945. Die „Zeitzeugen“ wurden mit Methoden der Oral Histor y zu ihrer persönlichen Vergangenheit befragt.45 Der neue, weiterführende Zugang zum Zweiten Weltkrieg resultierte aus der konzeptionellen Erweiterung von der Kriegs- und Wehrgeschichte zur neuen „Militärgeschichte“. Vor allem der nationalsozialistische Krieg diente dazu, eine moderne Art der Militärgeschichtsschreibung zu entwickeln, in der Militär und Krieg in ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang untersucht wurden. War and Society Newsletter hieß die internationale Bibliographie, die seit 1975 als Beilag e der MGM über Neuerscheinungen informierte. 46 Im Vorwort eines Tätigkeitsberichts des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes aus dem Jahre 1982 – anlässlich des 25. Jahrestages – hieß es:47 „Militärgeschichte [... wird] heute in einem komplexen Sinne verstanden. Sie sieht das Militär in Krieg und Frieden in ständiger Wechselwirkung mit Politik und Gesellschaft, P

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Peter Knoch, Feldpost – eine unentdeckte Quellengattung, in: Geschichtsdidaktik 11/1986, S. 154-171; ders. (Hrsg.), Kriegsalltag. Die Rek onstruktion des Kriegsalltags als Aufgabe der historischen Forschung und Friedenserziehung, Stuttgart 1989; vgl. Jörg Echternkamp, Kriegsschauplatz Deutschland 1945. Leben in Angst - Hoffnung auf Frieden. Feldpost aus der Heimat und von der Front, Paderborn 2006, bes. S. 1-9. 43 Als einflussreiches Beispiel siehe: Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, London 1975. 44 Vgl. nur mit weiterführender Literatur Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2002. 45 Das wichtigste Projekt der Oral History dieser Art ist Lutz Niethammer (Hrsg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, 3 Bde., Bonn 19831985. 46 Winfried Rädisch (Hrsg); Erscheinen mit Heft 30/2002 eingestellt. 47 Manfred Messerschmidt / Klaus A. Maier / Werner Rahn / Bruno Thoß (Hrsg.), Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege, München 1982, S. 8; zu den Zielen und Methoden der Militärgeschichte siehe auch die Thesen der MGFA-Arbeitsgruppe Zielsetzungen und Methoden der Militärgeschichtsschreibung in: ebd., S. 48-59, zunächst in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 20/1976, S. 9-17; Wilhelm Deist, Militärgeschichtliche Forschung in Freiburg i. Br., Verband der Historiker Deutschlands, Mitteilungsblatt 1/1990, S. 22-25.

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Wirtschaft, Rüstung und Technik. In Forschung und Lehre bezieht sie dementsprechend über die rein militärischen Gegenstände hinweg alle militärrelevanten Faktoren mit ein. Durch die damit verbundene Anwendung spezifisch historischer Forschungsmethoden ist sie zu ei nem Teil der Geschichtswissenschaft geworden.” 1979 hatte das MGFA in diesem Sinne mit der Veröf fentlichung des R eihenwerks „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ begonnen. 48 Von Beginn dieser zehnbändigen Reihe an sollte die Geschichte des Kriegs als eine Geschichte der deutschen Gesellschaft während des Krieges behandelt werden. Neben den operationsgeschichtlich orientierten Beiträgen wurden auch die s ozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Aspekte berücksichtigt. Zum Beispiel wird der Krieg hier als ein Weltanschauungskrieg analysiert: als ideologischer, vom NS-Regime mit dem Ziel der rasseideologisch verbrämten Neuordnung Europas geführter Feldzug unter „arischer“ Führung. Die Besatzungsherrschaft im deutschen Machtbereich nimmt breiten Raum ein. P

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Der Titel des Reihenwerkes war Programm. Insofern greift die interne Kurzbezeichnung „Weltkriegswerk“, die mit dem Vorgänger kokettiert, zu kurz. Kein Wunder, dass diese of fene Herangehensweise nicht ohne Konflikte abging, die weniger um Detailfragen kreisten als um Grundsatzfragen der Militärgeschichtsschreibung und damit die Ko nzeption des W erkes. Das zei gt sich nicht nur in der zum Teil recht unterschiedlichen Anlage der einzelnen Bände, die sich des Themas mal im Längs-, mal im Querschnitt annehmen, sondern auch in dem Umstand, dass Beiträge mit gegensätzlichen Ergebnissen und Aussagen zwischen denselben Buchdeckeln scheinbar friedlich vereint sind. Hinzu kommt, dass die rund 30jährige Publikationsdauer das Reihenwerk, das auch in englischer Übersetzung erscheint, zu einem Spiegel der Veränderungen des Faches macht, zu denen es selbst beigetragen hat. Die Forschung zum Krieg wurde auch aus anderer Rich tung geprägt. Die Friedensforschung nahm sich des P roblems militärischer Konflikte gleichsam unter umgekehrtem Vorzeichen an. Weit davon entfernt, aus v ergangenen Kriegen für künftige einen mittel- oder unmittelbaren Nutzen zu ziehen, ging es hier darum, die Ursac hen gewaltsamer internationaler Konflikte zu erk ennen und die B edingungen eines dauerhaften Friedens zu studieren. Die h essische Landesregierung betrieb 1970 die Gründung der Hessischen Stiftung Friedensund Konfliktforschung (Frankfurt/Main). 49 1984 wurde der Arbeitskreis HistoP

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___________ 48 Das Deutsche Reich und de r Zweite Weltkrieg, 10 Bde ., hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1979-2008. 49 Zur Geschichte der HSFK: http://www.hsfk.de/index.php?id=53; vgl. auch Andreas Herberg-Rothe, Militärgeschichte als Friedensforschung! Einführung in die Dialektik

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rische Friedensforschung gegründet. Sein Ziel war es, „alle historischen Dimensionen der Friedensfrage“ zu untersuchen. Der moralische Impuls war klar: zukünftige Kriege vermeiden, Gewalt innerhalb einer Gesellschaft einschränken und einen „gerechten Frieden“ fördern. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges spielen in den Debatten dieses Arbeitskreises eine wichtige Rolle, wie das seit 1992 veröffentlichte Jahrbuch eindrucksvoll zeigt. 50 Doch noch 1989 konnte der Geschichtsstudent in einer Einführung in das Studium der neueren Geschichte lesen, dass „die Kriegs- und Militärgeschichte“ im Vergleich mit anderen Teildisziplinen „in besonders hohem Grade zu einem Dasein in der Abgeschiedenheit (neigt), das zu ihrer sachlichen Bedeutung in auffallendem Gegensatz steht.“51 P

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Erst in den 1990er Jahren hat sich die Militärgeschichte letztlich ausgedehnt und theoretische Betrachtungen, methodologische Ansätze und die Themen der allgemeinen Geschichte aufgegriffen. Ihre Vertreter sprechen von einer „Militärgeschichte in der Erweiterung“. 52 Erst seither rückte auch der bis dahin von den Geschichtswissenschaftlern in der Methoden- und Theoriediskussion weitgehend vernachlässigte Zweite Weltkrieg mehr in den Mi ttelpunkt. Zur Abgrenzung von der herkömmlichen Form des Fachs wurde die Militärgeschichte auch als „neue Militärgeschichte“ bezeichnet, die durch weitreichende Entwicklungen gekennzeichnet ist: Historik er zogen Quellenmaterial heran, das nicht aus dem Militär oder der Verwaltung stammte. Somit berücksichtigten sie auch die subjektive Interpretation des Krieges, das heißt die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen sowohl von Soldaten als auch von Zivilpersonen. Als eine Folge des linguistic turn richtete sich das Erkenntnisinteresse auch auf die Sprache, mit der die Menschen mit der „Realität“ umgingen und ___________ P

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der Wissenschaft von Krieg und Frieden, Frankfurt a.M. 1981; siehe Jost Dülffer, Historische Friedensforschung, Neue Politische Literatur 35/1990, S. 178-194. 50 Siehe seine Website: http://www.akhf.de (06/26/2006). 51 Ernst Opgenoorth, Einführung in das Studium der neueren Geschichte, Paderborn 1989, S. 218. 52 Kühne / Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?; siehe insbesondere Thomas Kühne / Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: ebd., S. 9-46 und Anne Lipp, Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kultu rgeschichte, in: ebd., S. 211-227; siehe Klaus Naumann, Neue deutsche Militärgeschichte - Ein Wegweiser, in: Mittelweg 36, 6. Jg., 1997, S. 64-67; Schwerpunkt frühe Neuzeit: Ralf Pröve, Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die neue Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. Perspektiven, Entwicklungen, Probleme. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51/2000, S. 597-612. Bernhard R. Kroener, Wer den Frieden will, erkenne den Krieg. Wege, Irrwege und Ziele der Militärgeschichte in Deutschland, in: Die Welt vom 24. Mai.1997.

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Identitäten schufen. Historiker stützten sich zudem auf Begriffe aus anderen Fachgebieten wie etwa der Ku lturanthropologie, der Sozi ologie oder der Psychologie. Schließlich erweiterten sie den Themenbereich der Militärgeschichte um Fragen der Geschlechtergeschichte,53 der Kultur- und Alltagsgeschichte, um nur einige wenige zu nennen. 54 Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit hat von diesen Innovationen ganz besonders profitiert. 55 P

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Zugleich wurde vor allem am MGFA die bereits in den 1980er Jahren intensivierte Erforschung der sich erheitspolitischen Entwicklung der B undesrepublik, der Integration der Bundeswehr in das westliche Militärbündnis und der Geschichte der NATO vorangetrieben. In den 1980er und 1990er Jahren standen hier die „Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik“56 im Zentrum, von der Entmilitarisierung über den Pleven-Plan, die Debatte über die EVG, schließlich die Integration in die N ATO. Wirtschafts- und rüstungsgeschichtliche Fragen P

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Vgl. nur Christa Hämmerle, Militärgeschichte als Ge schlechtergeschichte? Von den Chancen einer Annäherung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 9/1998, S. 124-135; Karen Hagemann / Ralf Pröve (Hrsg.), Landsknechte, Soldatenfrauen und N ationalkrieger. Militär, Krieg und G eschlechterordnung im historischen Wandel (= Geschichte und Geschlechter, Bd. 26), Frankfurt a.M. 1998. 54 Ein Literaturüberblick befindet sich in Thomas Kühne, Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die ‚ganz normalen Deutschen. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkriegs, Archiv für Sozialgeschichte 39/1999, S. 580-662, und 40/2000, S. 440-486. Siehe auch Jörg Echternkamp, Im Kampf an der inneren und äußeren Front. Grundzüge der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, in: ders. (Hrsg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Erster Ha lbband: Politisierung - Vernichtung - Überleben, München 2004, S. 1-92. 55 Bernhard R. Kroener / Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1996; Johannes Kunisch (Hrsg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999; Bernhard R. Kroener, Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Kühne / Ziem ann (Hrsg.), Was ist Militärg eschichte?, S. 283-299; Ralf Pröve (Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 1997; ders., Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin? Die n eue Militärgeschichte der Frühen Neuzeit - Perspektiven, Entwicklungen, Probleme, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51/2000, S. 597612; Werner Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000; Stefan Kroll / Kersten Krüger (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Hamburg 2000. Bernhard R. Kroener, Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Ralf Pröve und Bruno Thoß, Paderborn 2008. 56 Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4 Bde., München 1982-1997, ND München 2002. Vgl. bereits als erste Bilanz der Vorbereitungs-, Aufbau- und Konsolidierungsphase, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Verteidigung im Bündnis. Planung, Aufbau und Bewährung der Bundeswehr 1950-1972, München 1975. ’

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spielten hier ebenso eine Rolle wie innen- und sozialgeschichtliche Fragen, wenn es um den schwierigen Integrationsprozess der neuen Streitkräfte in der jungen Bundesrepublik ging. Welche Entwicklungen außerhalb der Geschichtsschreibung sind für diesen historiographischen Wandel verantwortlich? Welche Konsequenzen hatte das für die Forschung zum Zweiten Weltkrieg heute und morgen? Außenpolitische, demographische und kulturelle Faktoren haben diesen Wandel besonders gefördert und werden die Forschung zum Zweiten Weltkrieg wohl auch weiterhin beeinflussen. Erstens: Als der Krieg nach Europa zurückkehrte, kam es zu einem Perspektivwechsel. Nach mehr als 40 J ahren, in denen die deut sche Gesellschaft Krieg als etwas ansah, das weit weg war, etwas, das in fernen Teilen der Welt stattfand, gab es plötzlich Krieg in Regionen wie dem Balkan, dem ehemaligen Jugoslawien – an Orten, in denen die Deu tschen zuvor ihren Urlaub verbracht hatten. Als sich die globale politische Lage seit den 1990er Jahren drastisch änderte, zogen Krieg und Streitkräfte wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Besonders wichtig ist die T atsache, dass große Teile der Gesellsc haft eine deutsche Militärpräsenz in Ländern außerhalb Deutschlands zum ersten Mal seit vielen Jahren befürworteten. All dies führte zu einer „historischen Rückkopplung“. Gedanken darüber, was in der Gegenwart geschieht, werden mit Erinnerungen an vergangene Kriegserfahrungen verbunden. Von besonderem Interesse ist etwa der Krieg gegen Zivilisten – man denke an das Thema der strategischen Bombardierung, des Luftkriegs – sowie das Problem der Befriedung, des „winning the peace“ nach der Niederschlagung des Feindes. In der Bundesrepublik wird zudem seit den 1990er Jahren über das Pro und Kontra der 195 6 eingeführten Allgemeinen Wehrpflicht diskutiert, spätestens seitdem der damalige Bundespräsident Roman Herzog zum 40jährigen Jahrestag der Bundeswehr 1995 daran erinnert hat, dass in einem Rechtsstaat „ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers“ stets der sicherheitspolitischen Begründung bedürfe, die du rch gesellschaftspolitische, streitkräfteinterne oder historische Argumente lediglich ergänzt werden könnte.57 Ist sie ein notwendiges Scharnier zwischen Militär und ziviler Gesellschaft und als „legitimes Kind der Demokratie“ unabdingbar? Oder sollte sie aufgrund der neuen sicherheitspolitischen Lage wie auch im Sinne der W ehrgerechtigkeit zugunsten einer Berufsarmee ganz abgeschafft, ausgesetzt und/oder durch eine P

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___________ 57 Ansprache von Bundespräsident Roman Herzog anlässlich der Kommandeurtagung der Bundeswehr, 15.11.1995 (http://www.bundespraesident.de/Reden-undInterviews/-,11072/Reden-Roman-Herzog.htm).

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allgemeine Dienstpflicht ersetzt werden?58 Diese politische Debatte nährte das militärgeschichtliche Interesse an der Genese un d dem Funktionswandel eines wesentlichen Elements der Wehrstruktur. P

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Der zweite Faktor ist ein demographischer. Die jüngere, in den 1970er und 1980er Jahren sozialisierte Generation war von den Kriegs ereignissen 19391945 viel weiter entfernt. Es ging nicht mehr um die Eltern, über deren Rolle im Krieg die Nachgeborenen gestritten hatten, sondern um die Großeltern. Diese zusätzliche Distanz änderte den Blick auf den Krieg. Für diese jüngere Generation war es leichter, Fragen zu stellen. Die polarisierende Kontroverse um die Wanderausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“, die „Wehrmachtausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung, zeugt von der Spren gkraft, die i n dieser lange nicht geführten Debatte zwischen den Generationen liegt.59 Vor dem Hintergrund der veränderten Wahrnehmung des Krieges aufgrund der neuen sicherheits- und außenpolitischen Lage gewinnt das historische Thema noch an Brisanz. P

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Eine dritte Antriebskraft des Wandels ist kultureller Art. Ende der 1980er Jahre kam es zu einem Erinnerungs-Boom. Es entstand eine Eigendynamik von „runden“ Jahrestagen, die den Marktgesetzen der Massenmedien folgten. Zum fünfzigsten Mal jährten sich 1989 der Kriegsbeginn, 1991 der Überfall auf die Sowjetunion, 1993/94 die Sch lacht von Stalingrad und schließlich 1995 das Kriegsende. Der 8. Mai blieb ein Streitpunkt als Kodex der Gedenkveranstaltungen – selbst zehn Jahre nach der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der si ch dafür eingesetzt hatte, diesen Tag als ein en „Tag der Befreiung“ und nicht als einen Tag der Niederlage für die Deutschen anzusehen. ___________ 58

Vgl. Andres Prüfert (Hrsg.), Hat die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland eine Zukunft? Zur Debatte um die künftige Wehrstruktur, Baden-Baden 2003; in historischer Perspektive: Roland G. Foerster (Hrsg.), Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München, 1994; Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. 59 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Vom Tabubruch zur Historisierung? Die Auseinandersetzung um die Wehrmachtausstellung, in: Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Grosse Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte, S. 171-186; Michael Klundt, Geschichtspolitik: Die Kontroversen um Goldhagen, die Wehrmachtsaustellung und das „Schwarzbuch des Kommunismus“, Köln 2000; Johannes Hürter / Christian Hartmann / Ulrike Jureit (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005; Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. Zur Wehrmacht vgl. Rolf-Dieter Müller / Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und R ealität, München 1999; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005; Jürgen Förster, Die Wehrmacht im NSStaat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München 2007, dort weiterführende Literatur zur Rolle der Wehrmacht in Osteuropa.

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Aus historiographischer Sicht muss man schließlich auf die interne Dynamik der Geschichte als Fachgebiet verweisen. Historiker konkurrierten miteinander und setzten ihre Ansprüche auf einen bisher vernachlässigten Bereich der Ve rgangenheit durch.60 Veränderungen in der W issenschaftslandschaft waren Ursachen und Ergebnisse dieses Wandels gleichermaßen. Nach dem Historikertag 1994 wurde der „Arbeitskreis Militärgeschichte“ gegründet. Das Ziel dieses Arbeitskreises ist es, das traditionelle Spektrum der Politik- und Institutionsgeschichte zu erweitern. Seine Mitglieder, darunter zahlreiche j unge Historiker und Historikerinnen, betreiben Militärgeschichte vor allem des 19. u nd 20. Jahrhunderts und nutzen Leitfragen und Ansätze aus Wirtschafts-, Kultur- und Geschlechtergeschichte. Ausdrücklich geht es dem Arbeitskreis Militärgeschichte darum, „dieses aktuelle und wichtige Feld der Geschichtswissenschaft“ zu entwickeln, weil es „an deutschsprachigen Universitäten institutionell nach wie vor kaum vertreten ist“. Das Ziel, die Rolle des Militärs als Teil der frühneuzeitlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, hat sich der Arbeitskreis „Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit“ gesetzt, der seit 1996 als Verein firmiert.61 P

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Seit 1996 gibt es auch einen Lehrstuhl für Militärgeschichte, eine Stiftungsprofessur des Bundesministeriums der Ver teidigung an der Universität Potsdam. Von Berührungsängsten der älteren institutionalisierten Militärgeschichte und der akad emischen Geschichtswissenschaft kann auf beiden Seiten längst keine Rede mehr sein. Die Überlagerung dieser beiden Bereiche wird von allen ernstzunehmenden Historikern anerkannt. Das gilt für beide Seiten. An den Universitäten sind Krieg und Streitkräfte ein Thema wie andere auch. Studenten werden an das Thema Militär, Staat und Gesellschaft sowie die W issenschaftsdisziplin der Militärgeschichte, ihre Geschichtsschreibung und ihre Institutionen herangeführt.62 Darüber hinaus besteht seit 1999 an der U niversität Tübingen der Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und P

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Dieter Langewiesche, Kampf um Marktmacht und Gebetsmühlen der Theorie. Einige Bemerkungen zu den Debatten um eine neue Militärgeschichte, in: Kühne / Zimmermann (Hrsg.), S. 323-327. 61 Vgl. http://www.akmilitaergeschichte.de; www.amg.fnz.de. 62 Jost Düllfer, Militärgeschichte für eine zivile Gesellschaft, in: Christoph Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2000, S. 178-193; Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Eine Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2003; Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003; Ralf Pröve, Militär, Staat und G esellschaft im 19. Ja hrhundert, München 2006; Karl Volker Neugebauer (Hrsg.), Grundkurs deutsche Militärgeschichte, 3 B de., München 2006; vgl. knapp: Klaus-Richard Böhme / Gunnar Åselius (Hrsg.), Why military history?, Stockholm 2000; Stephen Morillo, What is military history? Cambridge 2006.

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Gesellschaft in der Neuzeit“.63 Das I nstitut für Zeitgeschichte hat erste Ergebnisse des Projekts „Wehrmacht in der N S-Diktatur“ veröffentlicht.64 Das MGFA hat das Reihenwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ 2008 abgeschlossen. Die letzten drei Bän de, die die Operationen an der Os tfront 1943/44, die deutsche „Kriegsgesellschaft“ 1939-1945 sowie das Kriegsende behandeln, spiegeln die Methoden- und Themenvielfalt wider, welche die Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Öffnung der Mil itärgeschichte gewonnen hat und die allei n der Ko mplexität des Krieg sgeschehens gerecht werden kann.65 Militärgeschichte und Militärsoziologie stehen an der Universität Potsdam im Zentrum des 2007 gestarteten Master-Studiengangs „Military Studies“, eine Kooperation der Universität mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der B undeswehr und dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, der sich die Analyse des Mi litärs in Geschichte und Gegenwart sowie – auch hier – „die Untersuchung der Wechselwirkungen von Militär, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur“ auf die Fahnen geschrieben hat. 66 P

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Diese institutionellen Verzahnungen belegen, wie sehr der Wandel der Militärgeschichte zu einer Annäherung an die Geschichtswissenschaft geführt und umgekehrt diese Annäherung den Wandel bis jetzt vorangetrieben hat. An „Einführungen“ in das Thema – ein bewährter Gradmesser für die Etablierung von Forschungsrichtungen – herrscht kein Mangel.67 P

___________ 63 Der SFB 437 befindet sich mittlerweile in der letzten, bis 2008 dauernden Schlussphase; vgl. http://www.uni-tuebingen.de/SFB437/ (25.02.2007). 64 Johannes Hürter, Hitlers He erführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 22007; Peter Lieb, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44, München 2007. Weitere Teilprojekte: Dieter Pohl, Die He rrschaft der Wehrmacht. Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 19411944, München 2008; Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und Etappe im deutsch-sowjetischen Krieg1941/42, München 2006; vgl. http://www.ifzmuenchen.de/ 74.html. 65 Karl-Heinz Frieser (Hrsg.), Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8); Jörg Echternkamp (Hrsg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945, 2 Bde., München 2004/05 (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1-2); Rolf-Dieter Müller, Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945, 2 B de., München 2008 (= Das Deutsche Reich und de r Zweite Weltkrieg, Bd. 10/1 -2). Vgl. Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, Weyarn 1997, und als neuere Monographien mit unterschiedlichen Akzenten: Rolf-Dieter Müller, Der letzte deutsche Krieg 1939-1945, Stuttgart 2005; Michael Salewski, Deutschland und der Zweite Weltkrieg, Paderborn 2005. 66 Vgl. http://www.militarystudies.de/index.php?ID_seite=2. 67 Gerd Krumeich, Militärgeschichte für eine zivile Gesellschaft, in: Christoph Cornelißen (Hrsg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2000, S. 178-193; Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militär-

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IV. Ob Militärgeschichte in Deutschland weiterhin ein Thema für Hauptseminare, Examensprüfungen und Dissertationen bleibt, bleibt abzuwarten. Wenn sich die militärisch institutionalisierte Militärgeschichte in Nischen zurückzöge, ließe sie die epistemologischen und methodologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ebenso außer A cht wie die Ausweitung der B egriffe, Themen und Quellenmaterialien der Mil itärgeschichte, die do ch mit ihrer mühsamen Modernisierung seit 1945 verbunden sind. Dazu gehört nicht zuletzt, dass auch für Militärgeschichte gilt, was für jede ernstzunehmende Geschichtsschreibung zutrifft: dass sie die übliche „kritische Distanz“ (das heißt nicht: eine negative Haltung) zu ihrem Gegenstand gewinnt und wahrt, um ihn mit dem Seziermesser der Geschichtswissenschaft anzugehen. Doch einmal angenommen, die Anschlussfähigkeit bliebe der Militärg eschichte und damit der W eltkriegsforschung in vollem Umfang erhalten: in welche Richtung könnte sie sich weiterentwickeln? Der skizzierte Wandel der Militärgeschichte durch Annäherung an die Gesc hichtswissenschaft lässt s ich auch als Abkehr von einem sektoralen Wissenschaftsverständnis interpretieren. Wenn die bis weilen verdächtig oft zitierte For mel, Militärgeschichte sei e ine Teildisziplin der Gesch ichtswissenschaft, mehr signalisieren soll als nur die ohnehin unumgängliche Verpflichtung auf die h istorisch-kritische Methode, kann sich die Aufgabe der Militärgeschichte nicht in der Betrachtung von Themen erschöpfen, die wie in einem separaten – fast möchte man sagen: als „militärischer Sicherheitsbereich“ mit besonderem Hausrecht ausgewiesenem – Terrain liegen, das du rch den Hinw eis auf einen arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb zusätzlich von der übrigen Geschichtswissenschaft abgeschottet wird. Liefe Militärgeschichte dann nicht Gefahr, in den Augen der „allgemeinen“ Geschichtswissenschaft auf eine nahezu hilfswissenschaftliche Funktion reduziert zu werden? Doch die Erweiterung der Militärgeschichte scheint manchen Militärhistoriker arg zu beunruhigen. Mit der Offenheit drohe dem Fach ein Identitätsverlust. Die Freude über die mühevoll erreichte Anschlussfähigkeit im geschichtswissenschaftlichen Diskurs – sofern sie echt war – weicht der Sorge um die Substanz eines Faches, das sich einst seines Platzes in der Nisc he sicher sein durfte. Aus diesem gegenüberliegenden Blickwinkel müsste der W andel ___________ geschichte, Tübingen 2002; Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003. Vgl. auch: Militärgeschichte als Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 2/2005, 1; zu Österreich vgl. Manfried Rauchensteiner, Die Militärgeschichtsschreibung in Österreich nach 1945, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Militärgeschichte in Deutschland und Österreich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Herford 1985, S. 134-161; Peter Broucek / Kurt Peball, Geschichte der österreichischen Militärhistoriographie, Köln 2000.

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durch Annäherung zwangsläufig als Verlustgeschichte geschrieben werden. Wem diese Entwicklung der Militärgeschichte insofern zu weit geht, als sie der Schlacht, der Op eration, dem Feldzug nicht mehr so viel Au fmerksamkeit schenkt wie das ein mal der Fall war, sieht in dieser Öffn ung zugleich eine „Verengung“: eine Einschränkung etwa auf die Kulturgeschichte und die Holocaustforschung. Der Gewinn an Substanz erscheint gleichermaßen als ein Substanzverlust. Einerseits wird der Z ugewinn an Ko mplexität begrüßt, andererseits der da mit einhergehende Verlust der Fokussierung auf einen bestimmten Gegenstandsbereich bedauert.68 Auch aus einem leicht verschobenen Blickwinkel kann eine Militärgeschichte, wie sie Rainer Wohlfeil als „die Geschichte der bewaffneten Macht eines Staates in der Breite ihrer historischen Entwicklung“ definierte, in deren Mittelpunkt „der Soldat in allen seinen Lebensbereichen“ stehe, ebenfalls als eine „restriktive Sicht“ erscheinen, weil die vielschichtige Erforschung des Militärs die komplexe Erforschung von Kriegsursachen, Kriegszielen, Kriegsverläufen und Sicherheitspolitik weitgehend ausschließe.69 P

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Was scheint da n äher zu liegen, als sic h auf das W esentliche zu besi nnen? Als „harter“ Kern der Militärgeschichte wird dann die Geschichte des Militärs im Krieg, insbesondere die Geschichte der Kriegführung ausgemacht. Dass just jener Bereich, der bislang selten aus dem Windschatten der methodischen Weiterentwicklung herausgekommen ist, als bevorzugtes Feld ausgeschildert wird, kann nur auf den ersten Blick überraschen. So eindrucksvoll der Wandel durch Annäherung in vielen Bereichen der Militärgeschichte bislang verlaufen ist, so deutlich ist auch geworden, dass sich die operativ-taktischen Vorgänge (oder doch nur: dessen Geschichtsschreiber?) gegen eine systematisch erneuerte Betrachtungsweise offenbar mehr sperren als andere Dimensionen von Krieg und Militär. Jedenfalls ist bis heute nicht ganz klar, wie denn eine moderne „Operationsgeschichte“ aussehen soll. Immerhin war die Jahrestagung des Arbeitskreises ___________ 68 Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Historische Zeitschrift, Beiheft 44, S. 287-307, S. 302. Vgl. zum Thema hier nur Neil Gregor (Hrsg.), Nazism, War and Genocide, Exeter 2008. 69 Vgl. Beatrice Heuser, Kriegswissenschaft, Friedensforschung oder Militärgeschichte? Unterschiedliche kulturelle Einstellungen zum Erforschen des Krieges, in: Detlef Nakath / L othar Schröter (Hrsg.), Militärgeschichte. Erfahrung und Nutzen, Schkeuditz 2005, S. 132 f. Das historiographische Argument verbindet sich hier (S. 128) mit der forschungsstrategischen Bemerkung, dass das MGFA aufgrund seiner langjährigen Forschungsschwerpunkte (Geschichte der Bundeswehr, der NATO, der NVA) „keine Expertise auf politisch-militärischem Niveau zu wirklichen Kriegen, mit Ausnahme der zwei Weltkriege, zu bieten hätte, wenn jemand im Bundesverteidigungsministerium denn tatsächlich auf die Idee käme, sie ihm abzuverlangen.“

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Militärgeschichte 2001 in Potsdam diesem Thema gewidmet. Doch programmatische Aufsätze, die mögliche Themen benennen, Forschungsfragen formulieren und das methodische wie begriffliche Instrumentarium beschreiben, lassen sich an wenigen Fingern zählen.70 Sie müssten auch erläutern, wie die großen Schwächen der traditionellen Kriegsgeschichte vermieden werden, namentlich ihre regelmäßige perspektivische Verkürzung, ihre nicht selten unreflektierte Nähe zur Quellensprache (die häufig „dramatisch“, selten wissenschaftlich ist) und, nicht zuletzt, ihre T endenz zur Selbst genügsamkeit. Ein solc hes Defizit an Streitlust muss angesichts der zugleich behaupteten Relevanz verblüffen. Oder will man es sich wirklich so leicht machen und die Reflexion mit dem ebenso kategorischen wie tautologischen Verweis auf das vermeintlich Offensichtliche abtun? P

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Überzeugender ist weiterhin die erfahrungsgesättigte Einsicht, dass dort, wo der Gegenstand zum Greifen nahe zu liegen scheint – etwa, weil der Militärhistoriker dem militärischen Milieu angehört – das Bemühen um so intensiver ausfallen muss, die kritische Distanz zu gewinnen, die ein e Annäherung im geschichtswissenschaftlichen Sinn erst er möglicht. In diesem Wechselspiel von Distanz und Annäherung liegt bekanntlich ein Spezifikum der wissenschaftlichen, hermeneutischen Betrachtung. Dazu gehört zwingend eine Begrifflichkeit, die den g ebührenden Sicherheitsabstand erkennen lässt und zwischen der Fachsprache des ‚historischen Militärs und der des Militärhistorikers zu trennen weiß.71 Vor allem aber: Erst die bewusst geschaffene Distanz auch ermöglicht den Wechsel der Perspektive, der es erlaubt, einen Gegenstand von unterschiedlichen Seiten zu betrachten – und nicht allein wie selbstverständlich aus den Augen der militärischen Führung, üblicherweise jener der eigenen Nationalität. (Eine andere Frage ist, ob ein solcher Kraftakt in der universitären Forschung zu erwarten ist, wie vor längerer Zeit gefordert,72 oder am Ende wegen der dort weiterhin vermuteten „Berührungsängste“ doch eher von einer „militä’

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___________ 70 Vgl. aber Stig Förster, Operationsgeschichte heute. Eine Einführung, in: MGZ 61/2002, 2, S. 309-313. Das Themenheft „Operationsgeschichte heute“ greift auf die Diskussion der Jahrestagung zurück, ist aber kein Konferenzband. 71 Das bedeutet nicht, um dem Missverständnis vorzubeugen, dass diese an die Stelle jener tritt, so ndern, dass komplexe militärische Vorgänge auch mit Kategorien erklärt werden, die nicht zwangsläufig aus der Sprache des jeweiligen Militärs stammen. Auch Kirchenhistoriker beispielsweise reden über Kirchengeschichte nicht in der Terminologie des Vatikans, des Katholizismus oder pietistischer Zirkel. Zudem: Wo Fachleute nicht nur für Fachleute schreiben, sondern sich einem breiteren Publikum verständlich machen wollen, kommen sie gar nicht darum herum, die geeigneten Worte zu finden. 72 Bernd Wegner, Wozu Operationsgeschichte? in: Thomas Kühne / Ben jamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000, S. 105-113.

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rischen Dienststelle“73 – oder ob diese A lternative in der wissenschaftlichen Praxis, die nicht durch Institutsmauern begrenzt wird, gar keine ist.) P

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Soviel scheint gewiss: Ein semantischer Rückzieher auf den Leitbegriff der „Kriegsgeschichte“ ist im Kontext der deutschen Wissenschaftsgeschichte, um die es hier in erster Linie geht, wenig hilfreich. 74 Ganz abgesehen davon, dass damit der seit J ahren ebenso facetten- wie ertragreichen Erforschung nicht Krieg führender Armeen wie der Bundeswehr und der N VA bestenfalls eine nachgeordnete Rolle zugestanden würde, handelt es sich doch um einen Griff in die semantische Mottenkiste der Militärgeschichte. Denn um den ambivalenten Begriff der Krieg sgeschichte kreiste ja bereits vor mehr als vierzig Jahren im MGFA der Streit um das rechte Verständnis von Militärgeschichte; davon war bereits die Rede. P

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Der Krieg ist längst – wie könnte es anders sein? – ein zentraler Gegenstand der modernen Militärgeschichte, das Schlachtfeld ein Experimentierfeld für innovationsfreudige Militärhistoriker und Militärhistorikerinnen. 75 Ihnen geht es unter anderem um Formen kriegerischer Gewalt, um das Töten und Sterben von Kombattanten und Nichtkombattanten, um die Organisation und den Einsatz von Heer, Luftwaffe und Marine, um die Mobilisierung der Kriegswirtschaft und Rüstungsanstrengungen im eigenen Land, um Besetzung und Besatzung anderer Länder. Nicht zuletzt die dem „Totalen Krieg“ gewidmete mehrteilige Konferenz- und Publikationsreihe wie auch die zehnbändige Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ zeugen von den vielfältigen Herange___________ P

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73 Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Historische Zeitschrift, 2007, Beiheft 44, S. 287-307, S. 306 f. 74 Für einen Seitenblick auf die Debatte in den USA vgl. insbesondere die Beiträge von John A. Lynn, The Cultural Approach to the History of War, in: Journal of Military History [JMH] 5/57, S. 13-26; ders., The Embattled Future of Academic Military History, in: JMH 4 /61, S. 777-789; ders., The Course of Military History in the United States Since World War II, in: JMH 4/61, S. 761-775; ders., Clio in Arms: The Role of the Military Variable in Shaping History, in: JMH Jan. (55), S. 83-95. Vgl. auch Peter Paret, The History of War and the New Military History, in: ders., Understanding War. Essays on Clausewitz and the History of Military Power, Princeton / NJ 1 992, S. 209226. Vgl. kritisch Dennis E. Showalter, Militärgeschichte als Operationsgeschichte: Deutsche und amerikanische Perspektiven, in: Kühne / Ziemann (Hrsg.), S. 115-126. 75 Vgl. nur Stig Förster, Vom Kriege. Überlegungen zu einer modernen Militärgeschichte, in: Kühne / Ziemann, S. 265-282. Lesenswerte Darstellungen sind: Stig Förster / Markus Pöhlmann / Dierk Walter (Hrsg.), Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai, München (2001) 2004; Saul David, Military blunders. The how and why of military failure, London 1997 (dt. Die größten Fehlschläge der Militärgeschichte. Von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zur Operation Desert Storm, München 2003). Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 2005; vgl. auch Stig Förster u.a. (Hrsg.), Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Portraits, München 2006.

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hensweisen, die der Vielschichtigkeit, der Totalität des Krieges gerecht werden wollen. Wenn dennoch zuweilen das Menetekel einer „Militärgeschichte ohne Krieg“ an die Wand geschrieben wird, dann im Zuge einer Engführung des Komplexphänomens Krieg auf einen shooting war, die zuweilen unausgesprochen mit dem Vorwurf daher kommt, die „kulturalistische“ Wende mit ihrem anders gelagerten Erkenntnisinteresse habe die Militärgeschichte von ihren „eigentlichen“ Themen abgelenkt. Der Popanz eines Kulturalismus passt in das Schwarzweiß-Bild, das ei nige wenige Militärhistoriker zeichnen. Doch kaum ein Vertreter der „neuen“ Militärgeschichte frönt noch einem überholten „Kulturalismus“ – falls das je der Fall gewesen sein sollte. Im Gegenteil: Einer kulturgeschichtlich informierten Militärgeschichte geht es nicht zuletzt um die Vermittlung von Diskurs und Praxis, von Vorstellungen und Handeln, also durchaus etwa: von strategischem und operativem Denken und Kriegführung. Ohne Clausewitz erst zitieren zu müssen, ist umgekehrt an die altbekannte Tatsache zu erinnern, dass die Kriegführung, die in einer bestimmten Schlacht wie unter einem Brennglas aufscheint, ihrerseits die Gesell schaftsordnungen der Gegner widerspiegelt.76 P

„Die Debatte über die Zukunft der Operationsgeschichte dürfte wohl gerade erst angefangen haben“, vermutete Stig Förster 2002. Weit genug gekommen ist sie seither nicht.77 Eins ist jedoch sicher: Eine moderne Operationsgeschichte, die methodisch kontrolliert ist und nicht unkritisch daherkommt, die mit ihrem spezifischen Ansatz zur Beantwortung übergreifender militär- und allgemeingeschichtlicher Probleme beiträgt und kein Selbstzweck ist, die da s militärgeschichtliche Wissen erweitert, ohne auf dessen militärische Verwertbarkeit zu schielen: eine solche Operationsgeschichte „jenseits von Uniformseligkeit und strategischen Sandkastenspielen“78 ist ein unverzichtbarer Teil der Militärgeschichte. Das Ka mpfgeschehen darf nicht selbsternannten Experten überlassen bleiben. P

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Die Operationsgeschichte ist dabei, Untersuchungsfelder zu beackern, ohne das Publikum durch Detailversessenheit zu langweilen, die bestenfalls von antiquarischem Interesse ist. Historiker und Historikerinnen, die militärisches Handeln vor und im Krieg unter die Lupe nehmen, profitieren von dem Wechsel der Perspektiven. Zu den Herangehensweisen und Themenschwerpunkten, die in der Praxis integrativer Ansätze teilweise miteinander verbunden sind, ___________ 76 Vgl. Förster / Pöhlmann / Walter, Die Schlacht in der Geschichte, in: dies. (Hrsg.), Schlachten, S. 7-18, 16. 77 Förster, Operationsgeschichte heute, S. 313. 78 Förster / Pöhlmann / Walter (Hrsg.), Schlachten, Klappentext.

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zählen: (1) die Planungen des Krieges, (2) der Verlauf von Gefechten, Schlachten und Feldzügen auf der st rategischen, operativen und zuweilen taktischen Ebene und deren In teraktion, (3) technikgeschichtlich die Entwicklung der Waffen und die „Maschinisierung“ der Kriegsführung; 79 (4) wirtschaftsgeschichtlich die Mobilisierung für den Krieg, dessen Rückwirkungen auf die Industrie (5) mentalitäts- oder kulturgeschichtlich das operative Denken im Kontext der politischen, militärischen Mentalität,80 (6) kulturgeschichtlich die subjektive Seite des Krie ges: die Motivation und Moral der S oldaten; (7) erfahrungsgeschichtlich die k onkrete Situation des Ka mpfes, des T ötens und Sterbens an der Front;81 (8) der Übergang von der Krieg- in die Nachkriegszeit; (9) erinnerungsgeschichtlich das Nachwirken von Feldzügen und „Schlachtmythen“, von Siegen und Niederlagen, im politischen und militärischen Diskurs etwa oder in der popular culture, wo einzelne Schlachten als pars pro toto ganze Kriege evozieren82 (10) schließlich die Gesch ichte der Op erationsgeschichtsschreibung. Dazu können fallweise verschiedene Untersuchungsebenen gewählt werden, die vom Individuum über die einzelne militärische Einheit 83 hoch zur militärischen Führung reichen. In der Regel ist die Ko mbination mehrerer Ansätze sinnvoll, wenn nicht zwingend. 84 Will man etwa den Tötungsakt einer Kampfhandlung genauer betrachten, sind Kenntnisse über den ope rativ___________ P

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79 Stefan Kaufmann, Kriegführung im Zeitalter te chnischer Systeme – Zur Maschinisierung militärischer Operationen im Ersten W eltkrieg, in: MGZ 61/2002, 2, S. 337-367. 80 Vgl. Jürgen Angelow, Der „Kriegsfall Serbien“ als Willenstherapie. Operative Planung, politische Mentalitäten und Visionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: MGZ 61/2002, 2, S. 315-336. 81 Vgl. das Plädoyer von Michael Geyer, Eine Kriegsgeschichte, die vom Tode spricht, in: Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995, S. 136-161. 82 Diese zum Teil noch weiter reichende symbolische Funktion belegen die Namen von Schlachten wie „Waterloo“, „Verdun“ und „Dien Bien Phu“. Die Mythisierung der Schlacht bei Stalingrad gehört ebenso in den Zusammenhang, wie das in den 50er Jahren gepflegte Selbstbild der ehemaligen Generale der Wehrmacht, demzufolge ihre eigene Professionalität durch Hitlers Dilettantismus ausgehebelt worden sei. Vgl. Jürgen Förster (Hrsg.), Stalingrad. Ereignis – Wirkung – Symbol, München 1993; Roman Töppel, Legendenbildung in der Geschichtsschreibung: Die Schlacht bei Kursk, in: MGZ 61/2002 2, S. 369-402; Gerd Krumeich, Schlachtenmythen. Ereignis, Erzählung, Erinnerung, Köln 2003. 83 Vgl. Sönke Neitzel, Des Forschens noch wert? Anmerkungen zur Operationsgeschichte der Waffen-SS, in: MGZ 61/2002, 2, S. 403-429; Christoph Rass, Menschenmaterial. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 – 1945, Paderborn 2003; Christian Ingrao, Les chasseurs noirs: la brigade Dirlewanger, Paris 2006. Vgl. auch das Dissertationsprojekt, Faktoren militärischer Effektivität im Ersten W eltkrieg am Beispiel der 11. bayerischen Infanteriedivision, (Christian Stachelbeck, MGFA). 84 So auch Neitzel, S. 294.

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taktischen Zusammenhang ebenso hilfreich wie die der möglichen Feindbilder; Bedrohungsperzeptionen und Feindanalysen weisen ihrerseits über technische Aufklärungsprozesse hinaus; und die Rolle eines Militärpiloten hängt zum Beispiel mit seinem Habitus im Zeichen der Technisierung zusammen.85 Auch eine solche Geschichtsschreibung kann im Übrigen nur davon profitieren, wenn sie mit laufenden Forschungsdiskussionen verknüpft ist, statt um sich selbst zu kreisen. P

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Kaum ein historisches Phänomen ist in dem Maße grenzüberschreitend wie der Krieg und wie die Organisation von Streitkräften im Rahmen internationaler Bündnisse. Dem Militärischen haftet insofern immer etwas „Transnationales“ an. Dennoch wird die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der eigenen Streitkräfte immer noch häufig in das Prokrustesbett der Nationalgeschichte gezwängt. Eine Globalisierung oder in einem ersten Schritt eine Europäisierung der Geschichte von Krieg und Militär bieten daher mehrere Vorzüge.86 Sie werden im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg etwa die spezifischen Chronologien des Kriegs aufzeigen, die verschiedenen Anfangs- und Endpunkte markieren und dazu beitragen, das Konstrukt des einen Weltkriegs zu studieren. Auch könnte intensiver nach der Wahrnehmung des Militärs durch Angehörige anderer Nationen im In- und Ausland und nach ihren Auswirkungen auf die internationalen und bündnisinternen Beziehungen gefragt werden. Die transn ationale P

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___________ 85 Vgl. Christian Kehrt, Schneid, Takt und gute Nerven. Der Habitus deutscher Militärpiloten und Beobachter im Kontext technisch strukturierter Handlungszusammenhänge, 1914-1918, in: Technikgeschichte, Bd. 72, 2005 H 3, S. 177-201; Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und br itischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998; Kathrin Orth, Kampfmoral und E insatzbereitschaft in der Kriegsmarine 1945, in: Jörg Hillmann / John Zimmermann (Hrsg.), Kriegsende 1945 in Deutschland, München 2002, S. 137-155. 86 Als Beispiel einer international angelegten Militärgeschichte vgl. die Publikationen der 1992 begonnenen Konferenzreihe: Stig Förster / Jörg Nagler (Hrsg.), On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997; Manfred F. Boemeke (Hrsg.), Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871-1914, Cambridge 1999; Roger Chickering / Stig Förster (Hrsg.), Great War, T otal War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge 2000; Roger Chickering / Stig Förster (Hrsg.), The Shadows of Total War. Europe, East Asia, and the United States, 1919-1939, Cambridge 2003; Roger Chickering et al. (Hrsg.), A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937-1945, Cambridge 2005. Vgl. auch Michael Epkenhans (Hrsg.), Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und W irtschaft in Europa, den USA sowie Japan, München 2003; Jörg Echternkamp / Stefan Martens (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn 2007, dies., Der Weltkrieg als Wegmarke? Die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges für eine europäische Zeitgeschichte, ebd., S. 1-33.

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Vernetzung von Soldatenverbänden wäre ebenfalls ein vielversprechender Gegenstand militärgeschichtlicher Forschung. Krieg und Militär können zudem noch systematischer als bisher ein Gegenstandsbereich für Fallstudien zu epochenübergreifenden Fragen sein, statt mehr oder minder „für sich“ genommen zu werden. Künftig könnte es etwa verstärkt darum gehen, das Geschehen der J ahre 1939 bis 1945 in einer zeitlich weiter greifenden, diachronen Betrachtung zu analysieren. Die Formel vom „Zeitalter der Weltkriege“ weist in diese Richtung, da sie hilft, sowohl den Er sten und Zweiten Weltkrieg als auch die Zwischenkriegszeit zu betrachten.87 Einen Ansatz könnte hier die h istorische Analyse kriegerischer Gewalt bieten – sofern sie trennscharf definiert ist.88 Ein anderer zielt ep ochenübergreifend auf die Entwicklung des de utschen operativen Denkens in vier deutschen Armeen im Zusammenhang der gesamtgesellschaftlichen Kriegsorganisation, mithin in ihrem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontext. 89 P

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Kriegsgefangenschaft, das Ver hältnis von Staat und Krieg, Besatzungsherrschaft, das Entstehen militärischer Konflikte und ihre Beendigung, Heldentum oder das Ver hältnis von Krieg und Geschlecht, die Waffe als Symbol: Die Liste derartiger Längsschnittanalysen, wie sie etwa auf den Jahrestagungen des Arbeitskreises Militärgeschichte im Zentrum standen, sollte verlängert werden.90 P

Für das Eu ropa zwischen 1945 u nd 1989/90 hat es der M ilitärhistoriker in der Regel nicht mit einem „heißen“, sondern einem imaginären Krieg zu tun, dem virtual war. Erste Strat egiepapiere für einen bewaffneten Konflikt zwischen den ehemaligen Verbündeten gab es bereits 1945. Die gegenseitige Be___________ 87 Vgl. dazu Jörg Echternkamp, Ein Zweiter Dreißigjährige Krieg? Vom Nutzen und Nachteil einer Deutungskategorie der Zeitgeschichte, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hrsg.), Kaiserreich, Göttingen 2009, S. 265-280. 88 Vgl. Andreas Gestrich (Hrsg.), Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts, Münster 1996; Wolfgang Knöbl / Gunnar Schmidt (Hrsg.), Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne, Frankfurt/M. 2000. 89 Gerhard P. Groß, MGFA. 90 Vgl. Rüdiger Overmans (Hrsg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999; Werner Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter b is zur Moderne, Göttingen 2000; Bernd Wegner (Hrsg.), Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, Paderborn 2000; ders. (Hrsg.), Wie Kriege enden. Wege zu m Frieden von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2002; Nikolaus Buschmann / Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001; Ute Daniel (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006; Dietrich Beyrau u.a. (Hrsg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007.

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drohungsperzeption, die Organisation der Militärbündnisse, ihre Kriegsplanungen, die geheimdienstlichen Aktivitäten und die Spannungen zwischen den beiden „Blöcken“ sind zentrale Themen des 1999 ins Leben gerufenen Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact (PHP).91 Mit der Freigabe der Dokumente werden seit einigen Jahren die Strategiepapiere, Operationspläne und Manöverkonzepte des Warschauer Paktes und der NATO während des Kalten Krieges unter die Lupe genommen. Wie wäre der Krieg geführt worden, wenn es ihn gegeben hätte? Diese kontrafaktische Frage lenkt den Blick auf die Untersuchung ganz realer Wahrnehmungen, militärischer Planungen und Übungen, nicht zuletzt im Hinblick auf den zentralen Se ktor in Europa in den 50er und 60er Jahren, als sich beide Seiten waffenklirrend am Eisernen Vorhang belauerten.92 Die Archive halten für diesen Zeitraum hinreichend Quellen bereit – sieht man von den Moskauer Militärarchiven ab. P

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Auch hier ergänzen sich die Ansätze im Sinne einer integralen Militärgeschichte zu einer multiperspektivischen Betrachtung. So geht es zum einen um technik-, rüstungs- und organisationsgeschichtliche Fragen, wenn die erh öhte Zahl taktischer Atomwaffen bei den Streitkräften auf beiden Seiten zu grundlegenden Umstrukturierungen führte, die wiederum mehr Mobilität, einen höheren Grad an Mechanisierung und Panzerung und kleinere selbstständige Einheiten zur Folge hatten. Dass die logistische Entwicklung mit dem technischen Fortschritt und der geänderten, atomaren Planung nicht Schritt hielt, ist ein Beispiel für das Spannungsverhältnis, in dem einzelne Faktoren zueinander stehen können. Zum anderen weist die e her kulturgeschichtliche Frage nach Selbst- und Fremdbildern, nach der su bjektiven Wahrnehmung und offiziellen Deutungsangeboten durch die Propaganda auf die teils hysterischen Bedrohungsperzep___________ 91 Dieses wohl größte internationale Kooperationsprojekt für die Geschichte des Kalten Krieges hat jüngst den Akzent unter dem neuen Namen Parallel History Project on Cooperative Security auf die Entstehung und Entwicklung aktueller sicherheitspolitischer Angelegenheiten und der involvierten Institutionen verschoben, darunter zum Beispiel die Erweiterung der NATO, Friedenssicherung und die Rolle v on Nongouvernmental Organisations (NGOs) als neue Faktoren der Sicherheitspolitik.Vgl. die Website des PHP: http://www.php.isn.ethz.ch/about/index.cfm. Wie das PHP wirkt auch das 1991 gegründete Cold War International History Project (CWIHP) 1991 im Rahmen der Forschungskooperation zwischen Ost und West auf die Freigabe von Quellen hin. 92 Vgl. Jan Hoffenaar / Dieter Krüger (Hrsg.), Warfare in the Central Sector, 19481968 (in Vorbereitung), (Tagung des Niederländischen Instituts für Militärgeschichte und des MGFA, Münster 22.-23.3.1997). Die Rolle, die der „Alpenraum“ für die verschiedenen militärstrategischen Planungen spielte, beleuchtete die gleichnamige Tagung der LVAk und de s MGFA in Wien (24.-28.9.2007); Dieter Krüger / Felix Schneider (Hrsg.), Der Alpenraum im Kalten Krieg, (in Vorbereitung).

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tionen der Militärallianzen als einen wesentlichen Faktor ihrer Planungen.93 Das Misstrauen zwischen den US A und der UdSSR prägte die In terpretation des Handelns der Gegen seite und goss Öl i n das Fe uer des kon ventionellen und atomaren Wettrüstens. Doch auch wenn die Nachrichtengewinnung das Gegenteil zeigte und man im Kreml und in Ostberlin sicher sein konnte, dass die NATO keine Angriffspläne verfolgte, gab es offenbar ideologische Gründe, am Feindbild eines offensiven Gegners festzuhalten, innen- wie bündnispolitisch. Auch die Erin nerung an den deu tschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 stärkte das Misstrauen des Kreml.94 P

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Bereits seit den 1990er Jahren wird die Geschichte der NATO nicht als Aneinanderreihung einzelner nationaler Militärgeschichten, sondern transnational geschrieben. Die Bündnispolitik, die Interdependenz von nationalen Belangen und Bündnisinteressen, die a uf Europa gerichtete Integrationskraft des B ündnisses: Um diese Probleme kreisen am MGFA die Beiträge der Reihe „Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956“.95 P

V. Mit der alten Kriegsgeschichte, die auf einen „äußeren“ Nutzen bedacht war, hat all das nichts mehr zu tun. Ein „applikatorisches“, auf Übertragbarkeit angelegtes Verständnis von Operationsgeschichte liefe schon deshalb häufiger ins Leere, weil sich der Charakter des Krieges in den letzten Jahren drastisch geändert hat. Statt des räumlich begrenzten Aufeinanderprallens der Ko ntrahenten haben wir es künftig zum einen mehr mit low intensity conflicts zu tun, bei denen eine irregulär kämpfende Truppe einen konventionell überlegenden Gegner bekämpft, zum anderen mit einer modernen Kriegführung, die seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 durch den Einsatz von Computern und Medien geprägt ist. So gesehen, „nützt“ moderne Militärgeschichte für die Zukunft nichts. ___________ 93

Vgl. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2007, S. 158 f. Vgl. nur Vojtech Mastny / Sven G. Holtsmark / Andreas Wenger (Hrsg.), War Plans and Alliances in the Cold War. Threat Perceptions in the East and West, London 2006. 95 Winfried Heinemann, Vom Zusammenwachsen des Bündnisses. Die Funktionsweise der NATO in ausgewählten Krisenfällen 1951-1956, München 1998; Norbert Wiggershaus / Winfried Heinemann (Hrsg.), Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten, München 2000; Vojtech Mastny / Gustav Schmidt, Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946 bis 1956, München 2003; Christian Greiner / Klaus A. Maier / Heinz Rebhan, Die NATO als Militärallianz. Strategie, Organisation und nukleare Kontrolle im Bündnis 1949 bis 1959, München 2003; Helmut R. Hammerich, Jeder für sich und Am erika gegen alle? Die Lastenteilung der NATO am Beispiel des Temporary Council Committee 1949 bis 1954, München 2003; Dieter Krüger, Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftliche und politische Integration Westeuropas 1947 bis 1957/58, München 2003. 94

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Doch auch das Ge genteil trifft nicht zu. Militärgeschichte ist, solange sie sich als wissenschaftliche Teildisziplin versteht, keine l’art pour l’art. Die Organisationsgeschichte einer militärischen Einheit, die Ver laufsgeschichte einer Operation, die Arbeit einer Propagandakompagnie: sie rechtfertigen den Aufwand militärgeschichtlicher Studien nicht allein deshalb, weil es diese bislang nicht gab. Die An twort auf die immer mal wieder aufgeworfene Frage nach Sinn und Zweck kann freilich nicht mehr so einfach ausfallen, wie das in Zeiten der alten Kriegsgeschichte der Fall war. Was also leistet eine moderne Militärgeschichte heute? Zunächst: Auch Militärgeschichte rechnet sich nicht – zumindest nicht vordergründig in jenem merkantilen Verständnis, das geisteswissenschaftlichen Disziplinen immer häufiger entgegenschlägt. Doch jenseits dieser Milchmädchenrechnungen ist die Frage sinnvoll, weil sie immer wieder zur Selbstvergewisserung zwingt. Für die zivile Gesellschaft wie für die B undeswehr liegt die wesentliche Funktion darin, militärhistorisches Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen. 96 P

So ist beispielsweise die DDR-Militärgeschichte über ihre wissenschaftliche Relevanz hinaus von gesellschaftlicher, politischer Bedeutung. Den engen Zusammenhang von Macht und Militär, v on Heeresverfassung und Herrschaft zeigt die Gesch ichte der Natio nalen Volksarmee besonders deutlich. Die Fo rschungen zur NVA wie zur SED-Herrschaft haben gezeigt, dass sich zentrale Funktionsmechanismen des DDR-Regimes ohne die Geschichte seines Militärs nicht hinreichend erklären und verstehen lassen. 97 Wie die DDR ihre Herrschaft nach innen und nach außen zu sichern gesucht hat, ist ohne die Kenntnis seiner bewaffneten Macht nicht zu klären. Militär- und sicherheitspolitische Fragen spielten etwa beim Bau der Mauer 1961 wie bei ihrem Fall 1989 und im Vereinigungsprozess eine Rolle. Die Militärgeschichte der NV A hat sich daher seit Mitte der 1 990er Jahren zu einer festen Größe i n der D DR-Historiographie entwickelt.98 Die neuere NVA-Geschichte zeigt zudem, wie eng MilitärgeP

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Vgl. Bernhard Chiari, Militärgeschichte: Erkenntnisgewinn und Praxis, in: Benjamin Ziemann (Hrsg.), Perspektiven der Historischen Friedensforschung, Essen 2002, S. 286-300. 97 Zur Militärgeschichte der DDR n ach 1989/90 vgl. Hans Ehlert (Hrsg.), Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven, Berlin 2004; Heiner Bröckermann / Torsten Diedrich / Winfried Heinemann / Matthias Rogg / Rüdiger Wenzke, Die Zukunft der DDR-Militärgeschichte. Gedanken zu Stand und Perspektiven der Forschung, in: MGZ 66/2007 1, S. 71-99. 98 Bruno Thoß (Hrsg.), Volksarmee schaffen – ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer „verdeckten Aufrüstung“ in der SBZ/DDR 1947 – 1952, München 1994. Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 86 f. Eine erste Bilanz zogen Hans Ehlert / Armin Wagner, Äußere Sicherheit und innere Ordnung. Armee, Po-

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schichte mit den la ufenden theoretischen Debatten über die ang emessene Konzeptualisierung der all gemeineren Geschichte, das heißt hier: der D DRGeschichte verbunden sein muss, wenn sie dem Ziel einer modernen DDRMilitärgeschichte weiter gerecht werden und über die engeren Fachkreise hinaus mehr Aufmerksamkeit gewinnen möchte.99 P

Auf der ein en Seite, im Rahmen einer internationalen Militärgeschichte, kann sie durch die Einbettung der NVA in das östliche Militärbündnis zu einer Europäisierung der DDR-Geschichte beitragen, sie kann die Mechanismen des Kalten Krieges beleuchten und den deutschen Beitrag in der Systemkonkurrenz herausarbeiten. Auf der anderen Seite, in der Binnenperspektive, kann sie über ihren Beitrag zur Herrschaftsgeschichte hinaus zum Beispiel durch regionalgeschichtliche Tiefenbohrungen neue empirische Kenntnisse gewinnen – etwa über die Standorte der NVA100 –, nach Kontinuitäten und Traditionsüberhängen aus der deutschen Geschichte vor 1945 fragen und nicht zuletzt die „Militarisierung“ des DDR-Alltags ins Visier nehmen. Keine Frage, auch die Mili tärgeschichte der DDR kann als Forschungsgegenstand von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozessen nicht abgekoppelt werden. Die Prognose lautet: Weil sie bislang im Schatten herrschaftsgeschichtlicher Ansätze gestanden haP

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___________ lizei und paramilitärische Organisationen im SED-Staat, in: Rainer Eppelmann / Bernd Faulenbach / Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn 2003, S. 141-150. 99 Vgl. Heiner Bröckermann et al. , Die Zu kunft der DDR-Militärgeschichte; sowie die bislang 14 Bände der umfangreichen Reihe Militärgeschichte der DDR: Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee. Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952 bis 1956, Berlin 2001; Stephan Fingerle, Waffen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offizierskorps der Nationalen Volksarmee und i hrer Vorläufer, Berlin 2001; Hans Ehlert (Hrsg.), Armee ohne Zukunft. Das Ende der NVA und die deutsche Einheit. Zeitzeugenberichte und D okumente, Berlin 2002; Armin Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, Berlin 2002; Frank Hagemann, Parteiherrschaft in der Nationalen Volksarmee, Berlin 2002; Christian Th. Müller, Tausend Tage bei der „Asche”, Berlin 2003; Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen, Berlin 2003; Hans Ehlert / Matthias Rogg (Hrsg.), Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven, Berlin 2004; Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin 2005; Frank Umbach, Das rote Bündnis. Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955 bis 1991, Berlin 2005; Torsten Diedrich / Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005; Clemens Heitmann, Schützen und helfen? Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90, Berlin 2006; Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachtseinflüsse im Militär der SBZ/DDR, Berlin 2006; Armin Wagner / Matthias Uhl, BND contra Sowjetarmee: westdeutsche Militärspionage in der DDR, Berlin 2007. 100 Vgl. online: Die Standortdatenbank der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR, (http://www.mgfa-potsdam.de/html/standorte_einleitung.php).

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be, „wird sich der Beitrag der Militärgeschichte zur Alltags-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte der DDR verstärken.“101 Die zeitnahe professionelle Aufarbeitung der militärischen Vergangenheit trägt auch hier – im Gegensatz zu der Zeit nach 1945 – dazu bei, dass diese nicht der ap ologetischen Memoirenliteratur derer überlassen bleibt, die sie maßgeblich geprägt haben. P

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In der B undeswehr ist die h istorische Bildung, wenn sie problemorientiert konzipiert wird, ein Transmissionsriemen der Militärgeschichte als Fachdisziplin. Sie vermittelt dann nicht nur Ergebnisse der militärgeschichtlichen Forschung, sondern auch deren Frag en und Debatten. Das Sp ezifikum des Angebots militärgeschichtlicher Orientierung liegt für die S oldaten nicht zuletzt darin, sich als solche in einer historischen Langzeitperspektive sehen und einordnen zu können. Das zumindest ist die Hoffnung der „historischen Bildner“ und didaktisch interessierten Militärhistoriker. Militärgeschichte hält keine Gebrauchsanweisung parat, sondern ähnelt vielmehr einem Kompass, der den ei nzelnen erst in die Lage versetzt, die seines Erachtens richtige Richtung zu wählen. Der Zweite Weltkrieg liefert hier mit der Rolle der Wehrmacht, dem Widerstand gegen Hitler, der Desertion reichlich Stoff für die Erörterung des Gehorsamsbegriffs in der Armee einer demokratischen Gesellschaft. Grundsätzlicher noch kann sie anhand der didaktisch zurecht geschnitzten Darstellung vergangener politisch-militärischer Konstellationen, ob du rch Lehrbücher oder Wanderausstellungen, für die Komplexität von Konfliktsituation und die mögliche Reichweite soldatischen Handelns sensibilisieren. Militärhistorische Bildung trägt insofern das ihre dazu bei, den Soldaten z um eigenständigen Urteil zu befähigen.102 P

Im Hinblick auf die B undeswehr selbst, die a m MGFA ihre mittlerweile 50jährige Geschichte erforschen lässt, kommt der auf die Bundeswehr bezogenen Militärgeschichte über die historische Aufarbeitung hinaus eine identitätsstiftende Funktion zu, die auf die Verbindung von Militär und Demokratie hinausläuft. Es sei eine Aufgabe der historisch-politischen Bildung, stellte der Generalinspekteur der B undeswehr, Wolfgang Schneiderhahn, vor kurzem fest, durch die G eschichte der En tstehung und Entwicklung der Bundeswehr „wesentlich“ zum Selbstverständnis der Streitkräfte beizutragen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Bundeswehr könne „eine Selbstbesinnung auf die Grundlagen soldatischen Dienens in einer Demokratie anstoßen und somit zur ___________ 101 So lautet d ie Prognose der NVA-Historiker d es MGFA: Heiner Bröckermann et al., Die Zukunft der DDR-Militärgeschichte, S. 76. 102 Vgl. Hans-Hubertus Mack, Historische Bildung in der Bundeswehr, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 2/2007, S. 4-7. Vgl. auch die Zentrale Dienstvorschrift ZDv 12/1: Politische Bildung in der Bundeswehr. Die Bedeutung der politischen Bildung für die Führungskultur der Bundeswehr unterstreicht die am 28.1.2008 neu erlassene ZDv 10/1 „Innere Führung“, S. 29-33.

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geistigen Orientierung im aktuellen Transformationsprozess beitragen.“ 103 Umgekehrt fördert die Beschäftigung mit der NVA-Geschichte die kritische Auseinandersetzung mit der SED -Diktatur und ihrem Militär und trägt so z u einem demokratischen Selbstverständnis der Soldaten bei. P

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Etwas anderes ist die Verwendung militärhistorischer Inhalte für die militärische Traditionsbildung, das heißt die normative Vergegenwärtigung als „traditionswürdig“ definierter Vergangenheiten des („deutschen“) Militärs. Die preußischen Heeresreformen, der militärische Widerstand gegen Hitler und die mittlerweile 50jährige Geschichte der Bundeswehr: auf diesen drei historischen Pfeilern ruht bislang das Traditionsverständnis der Bundeswehr; an einer neuen historischen Stütze, dem Bürgersoldaten von 1848, wird gearbeitet.104 Die militärgeschichtliche Forschung kann an dieser Traditionsbildung nur indirekt beteiligt sein: zum einen, indem sie den Wandlungsprozess der Traditionsstiftung von oben105 wie des T raditionsverständnisses unten in der T ruppe als eines Teils der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskultur kritisch begleitet, zum anderen, indem sie a uch diese ausgewählten Vergangenheiten kritisch erforscht. Stets wird zu k lären sein, inwiefern hier über das Militär g earbeitet oder ihm zugearbeitet wird.106 P

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Das betrifft nicht zuletzt die Geschichte der Bundeswehr selbst. Sie steht im Zentrum der neuen, bislang acht Bände umfassenden Reihe „Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland“.107 Auch hier zeigen sich die ___________ P

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103 Wolfgang Schneiderhahn, Geleitwort, in: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven, München 2007. 104 Vgl. zuletzt John Zimmermann, Vom Umgang mit der Vergangenheit. Zur historischen Bildung und Traditionspflege in der Bundeswehr, in: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr S. 115-129; vgl. die Beiträge von Matthias Nicklaus und Burckhard Köster in: Echternkamp / Schmidt / Vogel (Hrsg.); Perspektiven der Militärgeschichte (in Vorbereitung). 105 Vgl. dazu mit weiterführenden Literaturangaben Loretana de Libero, Tradition in Zeiten der Transformation. Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen 21. Jahrhundert, Paderborn 2006; vgl. auch Eberhard Birk, Militärische Tradition. Beiträge aus politikwissenschaftlicher und militärhistorischer Perspektive, Hamburg 2006. 106 Detlef Bald, Was kann Militärgeschichte für den Frieden leisten? Oder: W arum Frieden für die Militärgeschichte unerlässlich ist, in: Detlef Nakath / Lothar Schröter (Hrsg.), Militärgeschichte – Erfahrungen und N utzen, S. 159-168, S. 165, Schkeuditz 2005. 107 Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960, München 2006; mit organisationsgeschichtlichen Schwerpunkten die „TSK-Bände“ 3-4 zum 50jährigen Jahrestag der Bundeswehr: Bernd Lemke, Die Luftwaffe 1950 bis 1970: Konzeption, Aufbau, Integration, München 2006; Helmut R. Hammerich, Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung, München 2006; Berthold J. Sander-Nagashima, Die Bundesmarine 1950 bis 1972. Konzeption und Aufbau, München 2006; Rudolf J. Schlaffer, Der Wehrbeauftragte 1951 bis 1985:

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Vorzüge einer multiperspektivischen Betrachtung. Auf der einen Seite geht es institutionengeschichtlich um die internen Veränderungen der militärischen Organisation unter den wechselnden nationalen und internationalen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen. Auf der an deren Seite werden die Streitk räfte der Bundesrepublik und die nationale Sicherheitspolitik in ihrem Außenverhältnis gegenüber der NATO untersucht. Schließlich geht es immer wieder um das Binnenverhältnis gegenüber der westdeutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre – hier wird die Militärgeschichte die für die Zeitgeschichte typische Entwicklung nehmen und sich der Gegenwart weiter annähern. Die Neuorientierung der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges, als „Armee der Einheit“ und „Armee im Einsatz“, war daher neben der militärischen Sicherheitsvorsorge, ihrer Rolle in der medialen Öffentlichkeit, dem Schritthalten mit dem wehrtechnischen Fortschritt ein Thema auf einer facettenreichen Tagung zum 50jährigen Bestehen 2005. A uch hier war das Signal nicht zu überhören: Die S umme der Erg ebnisse unterschiedlicher Herangehensweise verspricht den größten Nutzen.108 P

Die Bundeswehrgeschichte wird auch von einem breiten g enerationengeschichtlichen Ansatz profitieren, der über erste Kurzbiographien einzelner militärischer Persönlichkeiten – der „Gründungsväter“ der Bundeswehr – hinausführt und Soldaten unterschiedlicher Ränge in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang generationellen Erfahrungen und Prägungen in den 1950er und 1960er Jahren einordnet.109 Drei Beispiele aus dem Bereich der Bundeswehrgeschichte belegen, welcher Erkenntnisgewinn darin lie gt, aus einem spezifisch militärgeschichtlichen Blickwinkel zur Erforschung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen und Probleme beizutragen und dabei immer wieder nach dem Ort von Streitkräften in einer demokratischen Ordnung zu fragen. So wurde die schwierige Entwicklung der Institution des Wehrbeauftragten in unterschiedli___________ P

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aus Sorge um den Soldaten, München 2006 (= Sicherheitspolitik und St reitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5); Wolfgang Schmidt, Integration und Wandel: die Infrastruktur der Streitkräfte als Faktor sozioökonomischer Modernisierung in der Bundesrepublik 1955-1975, München 2006 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6); zuletzt der Tagungsband: Frank Nägler, Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven, München 2007. 108 Vgl. den Tagungsband der 47. Internationalen Tagung für Militärgeschichte: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr. 109 Dazu demnächst Helmut R. Hammerich / Rudolf Schlaffer (Hrsg.), Die m ilitärische Gründergeneration der Bundeswehr 1950-1970. Ausgewählte Kurzbiographien (in Vorbereitung). Rudolf J. Schlaffer / Wolfgang Schmidt (Hrsg.), Wolf Graf von Baudissin 1907 – 1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung, München 2007; Karl Feldmeyer / Georg Meyer, Johann Adolf Graf von Kielmansegg 1906-2006. Deutscher Patriot, Europäer, Atlantiker, Hamburg 2007. Vgl. auch Klaus Naumann, Generale in der Demokratie. Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007.

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chen Politikfeldern untersucht und nicht zuletzt das mal mehr, mal weniger erfolgreiche Agieren im Spannungsfeld von Streitkräften, Politik und ziviler Öffentlichkeit als ein Gradmesser für die politisc he Entwicklung der B undesrepublik genutzt.110 Wie sich die Streitkräfte in die exi stierenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der B undesrepublik fügten und welche Rolle die Bundeswehrstandorte an den s ozioökonomischen Veränderungen der 1950er bis 1970er Jahre in W estdeutschland hatten, ist a nhand kommunaler Fallstudien im Zusammenspiel von Mikro- und Makroebene analysiert worden.111 Mit Methoden der Hi storischen Bildkunde geht eine Studie dem in der Frei willigenwerbung der Bu ndeswehr zwischen 1956 und 1989 entworfenen Soldatenbild nach, um Aufschluss über gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und das Verhältnis von Armee, Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg zu gewinnen.112 P

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Die Kriegs-Bilder, die während des Krieges und in der Nachkriegszeit entstanden sind, sind im doppelten Sinn des Wortes für die Militärgeschichte von Interesse. Das vor allem kulturgeschichtliche Interesse an der Konstruktion historischer Wirklichkeiten, an Deutungs- und Argumentationsmustern – den „Bildern im Kopf“ – trifft sich mit der Einsicht in die Bedeutung von Bildern als historischer Quellen; schon ist von einem visual turn in der Historiographie die Rede. Nicht mehr Texte allein, sondern auch Fotos, Zeichnungen, Plakate, Kunstwerke, Filme geben Aufschluss über die subjektive Wahrnehmung, über Formen und Inhalte der v isuellen Inszenierung des Krie ges, nicht zuletzt im Museum.113 Ob als Mittel der Kriegspropaganda oder Antikriegskampagne, als Medium der individuellen Verarbeitung, als Beleg für die Heldentat oder als Dokumentation der Verwüstungen: Bilder vom Krieg und vom Militär werden künftig eine größere Rolle s pielen.114 Für eine Militärgeschichte im Medien___________ P

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Rudolf J. Schlaffer, München 2006. Wolfgang Schmidt, München 2006. Einen generationengeschichtlichen Ansatz verfolgt Klaus Naumann, Generale in der Demokratie. Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007. 112 Thorsten Loch, Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr, München 2008 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8). Vgl. in Band 7 derselben Reihe den Überblick bei Frank Nägler (Hrsg.), München 2007. 113 Vgl. Christine Beil, Der ausgestellte Krieg. Präsentationen des Ersten Weltkrieges 1914-1939, Tübingen 2004. Vgl. Hans-Jörg Czech / Nikola Doll (Hrsg.), Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin, 26. Januar bis 29. April 2007, im Auftrag des Deutschen Historischen Museums Berlin, Dresden 2007. 114 Vgl. Annegret Jürgens-Kirchhoff, Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert, Berlin 1993; Matthias Rogg, Landsknechte und Reisläufer. Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn 2001; Der Krieg im Bild – Bilder vom Krieg. Hamburger Beiträge zur Historischen Bildforschung, hrsg. vom Ar111

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zeitalter liegt hier ein besonderer Reiz, n icht nur wegen der manipulativen Funktion, die Fer nsehbildern aus de n jüngsten Hightech-Kriegen zukommt, sondern auch wegen der Bedeutung der Bildsprachen für die multimediale Vergegenwärtigung der Kriege aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrer Tendenz zum historischen Infotainment. Das lenkt den Blick noch einmal zurück auf den Zweiten Weltkrieg als künftigen Gegenstand der deutschen Militärgeschichte. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Kriegsende 1945 hat in den letzten Jahren der Umgang mit dem Krieg und seinen Folgen in der Nachkriegszeit größere Aufmerksamkeit gefunden. Durch Impulse auch aus der angelsächsischen Forschung wurde der Weltkriegsforschung gleichsam eine weitere Untersuchungsebene eingezogen. Analog zur Geschichte der Geschichte des Nationalsozialismus nach 1945 zeichnet sich eine „zweite Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ ab. Weit davon entfernt, sich in metahistorischen Sphären zu verlieren, zielen erinnerungsgeschichtliche Ansätze auf die i n pluralistischen Gesellschaften zumeist konfliktträchtigen Auseinandersetzungen um den Stellenwert des Krieges und des kriegführenden Militärs in der Nachkriegsordnung. Denn Erinnerung ist stets gegenwartsbezogen. Ihre Formen und Inhalte spiegeln die gesellschaftlichen Selbstentwürfe, die politischen Ordnu ngsvorstellungen, die kollektiven Selbstbilder derer wider, die sich gemeinsam erinnern. Die Antwort auf die Frage, wie der Weltkrieg vergegenwärtigt wurde (und wird), zielt daher direk t auf die Werte, die in der Nachkriegsgesellschaft das Handeln geleitet haben. Erinnerungskonflikte, wie sie in der Ver gangenheitspolitik oder der sozialen P raxis des Totengedenkens aufbrachen, sind Indizien für das Ringen um die gültigen Normen. Die „zweite Geschichte“ des Zweiten Weltkriegs schlägt deshalb eine Brücke zwischen der historischen „Wirklichkeit“ der Jahre 1939 bis 1945 über die frühe Nachkriegszeit hinweg in die B undesrepublik und die DDR – nicht zuletzt in deren Militärgeschichte. Im deutschen Fall kam das Problem hinzu, den Krieg wie dem NS-Regime in die deutsche Gesch ichte einzuordnen und, mehr noch, dazu die bisherigen Prämissen der Geschichtswissenschaft zu überprüfen. Die Bilder, die bei öffentlichen Gedenkveranstaltungen, in der Presse der Veteranen- und Vertriebenenverbände, in den Illustrierten, der Literatur und im Kino entworfen wurden, prägten die er sten gesellschaftlichen und politischen ___________ beitskreis Historische Bildforschung, Frankfurt a.M. 2003; Bernhard Chiari / Matthias Rogg / Wolfgang Schmidt (Hrsg.), Krieg und Militär im Film des 20. J ahrhunderts, München 2003; Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg d er Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004; Veit Veltzke, Kunst und Propaganda in der Wehrmacht. Gemälde und G rafiken aus dem Russlandkrieg, Bielefeld 2005; Annegret Jürgens-Kirchhoff / Matthias Agnes (Hrsg.), Warshots. Krieg, Kunst & Medien, Weimar 2006; Ute Daniel (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006.

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Auseinandersetzungen der j ungen Bundesrepublik. Es ging um die soziale Integration von Millionen ehemaliger Soldaten, um die Konstruktion einer neuen kollektiven Identität, um Lastenausgleich, Pensionsansprüche und „Wiedergutmachung“ und – um die Wiederbewaffnung. Die Flüchtlinge und Vertriebenen, die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und die „Heimkehrer“ vergegenwärtigten auf ebenso eindringliche wie einseitige Weise die Vergangenheit des Krieges in den 1950er Jahren und darüber hinaus. 115 Als Indikator für die Stabilität der Nac hkriegsordnung ist auch die juristische Aufarbeitung etwa durch Kriegsverbrecherprozesse von großem Interesse, zumal diese „Abrechnungsprozesse“ mit ihren sozialen und politischen In- und Exklusionsmechanismen in die Grün dungsmythen der Nac hkriegsstaaten einflossen und die Konstruktion kollektiver Identitäten geprägt haben.116 Vom Wandel der politischen Bewertung des militärischen Widerstandes und des 8. Mai 1945 bis in die 1990er Jahre war bereits die Rede. Eine solche Militärgeschichte ist auch dann gefragt, wenn es um die Frage geht, ob militärische Orden und Ehrenzeichen über einen politischen Systemwechsel hinweg ihre symbolische Funktion behalten können oder dürfen oder ob Symbole durch die präsente Vergangenheit so „belastet“ sind, dass sich ihre Weiterverwendung oder Wiedereinführung verbietet. Die 2007 v orsichtig angelaufene Debatte um ein „Ehrenmal“ für deutsche Bundeswehrangehörige steht in diesem Kontext ebenso wie die j üngsten Vorschläge, Bundeswehrsoldaten für besondere Tapferkeit und Einzelleistungen im Einsatz mit einem Verdienstorden auszuzeichnen, der sich an dem 1813 gestifteten Eisernen Kreuz orientiert. Zwischen 1939 und 1945 wurde es i n einer Neuauflage, mit einem Hakenkreuz in der Mitte, Soldaten der W ehrmacht und der Waffen-SS verliehen. In stilisierter Form markiert es als Hoheitszeichen die S chiffe, Flug- und Fahrzeuge der Bun deswehr und ist ein Erkennungszeichen für deutsche Hilfe in Krisen - und Katastrophengebieten. „Geschichte kämpft mit“: als Zeichen der Courage im Dienst der Demokratie tauge ein Orden nicht, der mit Krone und Hakenkreuz drapiert war, argumentieren Kritiker.117

___________ 115 Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic o f Germany, Berkeley 2001; Frank Biess, Homecomings. Returning

POWs and the legacies of defeat in postwar Germany, Princeton 2007. 116 Kriegserfahrung und nationale Identität. Abrechnungsprozesse in Eur opa nach 1945, lautete das Thema einer Tagung des SFB 437, die vom 18. bis 20.04.2008 in Tübingen stattfand. 117 Vgl. den Artikel, Ehern tapfer. Die Stimmen für die Wiedereinführung des Eisernen Kreuzes mehren sich, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 7.3.2008, S. 4, dazu der Kommentar S. 8.

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VI. Die Auswirkungen des Krieges treffen immer noch – hier schließt sich der Kreis – die M ilitärgeschichtsschreibung selbst. Erst kürzlich wurde jedenfalls argumentiert, dass die g roße Zurückhaltung anderer (ziv iler) Historiker in Deutschland gegenüber dem „Kern des Krieges“, also auch des Zweiten Weltkriegs, in erster Linie auf dessen Spätfolgen zurückzuführen: Der Krieg mit seinen Verbrechen habe zu ei ner tief greifenden Ächtung des deutschen Militärs geführt, die wiederum den Stand der Militärgeschichte in der Geschichtswissenschaft bestimme. Aufgrund ihrer „Berührungsängste“ scheuten die meisten Historiker das Thema, so dass es sich empfehle, das „Ureigenste des Krieges“ den (militärischen und zivilen) Historikern des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes zu überlassen. Vielleicht, so die Hoffnung, könnte die deutsche Militärgeschichte dann zu den angelsächsischen „War Studies“ aufschließen, wie sie etwa am King’s College betrieben würden.118 Bis es soweit ist, sei daran erinnert, was der preußisc he Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke am 24. Juni 1869 seinen höheren Truppenführern über das „kriegerische Handeln“ ins Stammbuch geschrieben hat: Es kommt „weniger darauf an, was man tut, als darauf, wie man es tut“.119 Zwar ist es richtig, dass die Militärgeschichte wie jede Teildisziplin einen eigenen Gegenstands- und Themenbereich umreißen muss und dadurch einen spezifischen Zugewinn an Erkenntnis hervorbringen kann, der andernfalls nicht möglich gewesen wäre. Dass jedoch die Trennlinien der Teildisziplin verwischen, ist keine Besonderheit der Militärgeschichte. Auch in anderen Bereichen der „allgemeinen“ Geschichtswissenschaft ist es schwerer, wenn nicht unmöglich geworden, zweifelsfreie Zuordnungen zu treffen, die über die epochale Einordnung hinausreichen, von der Interdisziplinarität zu schweigen. Längst ist es angesichts der Grenzüberschreitungen zwischen den Teildisziplinen nicht mehr sinnvoll, Historikern Etiketten aufzukleben. Diese würden kaum die Vie lschichtigkeit verdecken, die e twa in den Arbeiten der letzten zehn Jahre zum Zweiten Weltkrieg und zur W ehrmacht zu T age getreten sind. Die DDR Militärgeschichte ist ein anderes Beispiel: Zu Recht warnen Historiker aufgrund des höchst unübersichtlichen Beziehungsgeflechts von Militär-, Sicherheits- und Herrschaftsstrukturen in der DD R vor einer zu engen Begrenzung des Forschungsfeldes.120

___________ 118

Frank Neitzel, S. 306 f. Moltkes Militärische Werke, hg. v. Großen Generalstabe, Kriegsgeschichtliche Abtheilung I, 13 Bde., Berlin 1892-1912. 120 Heiner Bröckermann et al., S. 84. 119

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Was also spricht eigentlich dagegen, je nach Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Vorliebe in dem einen Fall etwa weiter greifende politik-, sozial-, kultur- oder wirtschaftsgeschichtliche Studien durch eine auf den Krieg und Militär in Krieg und Frieden spezialisierte Forschung zu b ereichern, in einem anderen Fall politik-, sozial-, kultur- oder wirtschaftsgeschichtliche Ansätze für militärgeschichtliche Arbeiten fruchtbar zu machen? Die militärgeschichtliche Herangehensweise eröffnet wie andere Teildisziplinen einen originären Blick auf die Geschichte des sozialen Wandels. Umgekehrt liefert diese jener immer wieder neue Impulse. Ein solches wechselweises Vorgehen ist allemal reizvoller als die weitgehende Selbstbeschränkung auf die Ver laufsgeschichte der Schlachten und Feldzüge – die ihrerseits, unverzichtbar wie sie z weifellos ist, davon profitieren könnte. Unter diesen Umständen wird die Militärgeschichte kein Opfer ihres eigenen Erfolges. Vielmehr eröffnet erst der Methodenpluralismus die Möglichkeit, immer wieder neu zu entscheiden, welche Kombination von Ansätzen je nach Fragestellung, Zeithorizont und Komplexität des Themas den größten Erkenntnisgewinn verspricht, nicht zuletzt am Militärgeschichtlichen Forschungsamt.

Die Bundeswehr – Bündnisarmee in der Allianz / Nato und der EU Strategieentwicklung und Streitkräfteplanung Von Klaus Olshausen Eine Erörterung der Entstehung und Geschichte der Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland ist durch mehrere Eckpunkte gekennzeichnet: − Deutschland wurde nach der Kapitulation vollständig demilitarisiert. Danach gab es über mehrere Jahre keine Überlegungen, geschweige denn, erkennbare politische Aktivitäten, dies zu ändern. − Die Trennung zwischen der s owjetisch besetzten Zone und den Zonen der drei Westalliierten führte zu der Bildung zweier Staaten, zunächst ohne Streitkräfte. − Die Diskussion über die Bewaffnung in Ost und West war geprägt durch den Ost-West-Gegensatz und führte zu zwei sehr unterschiedlich aufgebauten und in der Gesellsc haft bzw. dem SED -Regime verankerten Armeen: der B undeswehr einerseits und der Nationalen Volksarmee andererseits. − Die Herstellung der s taatlichen Einheit Deutschlands auf der Grundlage des Zwei-plus-Vier-Abkommens und des Einigungsvertrags zwischen der Bu ndesregierung und der ersten freigewählten Regierung der DDR erforderte die Bildung einer Armee des Ge samtstaates. Dies v ollzog sich nach Auflösung der NVA durch den Aufbau der „Armee der Einheit“. Blickt man zurück, so hat diese gesamtstaatliche Bundeswehr inzwischen 17 Jahre des Aufbaus und Umbaus ebenso durchschritten wie die Transformation zur Bewältigung neuer, bis 1990 undenkbarer Einsatzaufgaben in der Kris enbewältigung noch in vollem Gange ist. Bei aller B eschäftigung mit den aktuellen strategischen, strukturellen und organisatorischen Herausforderungen ist ein Blick zurück auf die Anfänge der Allianz und die Überlegungen zur Bildung eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages sowie auf den Aufbau und die Ko nsolidierungsphase lohnend. Denn schon sehr früh wurde die Verknüpfung nationaler und multinationaler Elemente für die Streitkräfteentwicklung erkennbar und wirksam.

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Es gibt eine Vielzahl von Büchern und Einzelthemen zu diesen Anfängen und der Aufbauphase. Ich verweise auf die dreib ändige Geschichte des MGFA zu den Anfängen deutscher Sicherheitspolitik1. Erst kürzlich ist auch der erste B and herausgegeben worden zur NATO-Strategie und nationaler Verteidigungsplanung von 1952 bis 195 62. Auch die We rke, die s ich mit der G eschichte des deu tschen Heeres bis 1970 und der deutschen Bundesmarine bis 1972 3 beschäftigen, sind hier einschlägig. Wer sich knapp und sehr übersichtlich über die En twicklung der N uklearstrategie der Allianz und den Einfluss Deutschlands in den intensiven Diskussionen der 1950er und 1960er Jahr informieren will, sei auf die Beiträge von General a.D. W olfgang Altenburg und Prof. Dr. B eatrice Heuser im Band des MGFA zu 50 Jahren Bundeswehr4 verwiesen. Im Kontext dieser T agung kann nicht die Hi storie nachgezeichnet werden. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen stehen Eindrücke und Grundsätze. Dabei abstrahiere ich nicht von meiner eigenen Erfahrung in einer über 42-jährigen aktiven Dienstzeit. Beginnt man mit einem Blick auf die Ge genwart der deutschen B ündnisarmee, so lässt sich konstatieren, dass deutsche Soldaten heute in der N ATO mit 25 und in der Europäischen Union mit 26 nationalen Streitkräften zusammenwirken und zusammenwirken müssen, von der Zusammenarbeit mit Streitkräften der P artnerstaaten der A llianz und zahlreicher Kontingente von NichtNATO-Staaten in den Einsatzbebieten der NATO und der EU ganz zu schweigen. Für die S trategie- und Verteidigungsplanung in NATO und EU ist a uch bedeutsam und sollte von größerer kooperativer Wirkung sein, dass 21 Staaten beiden Organisationen angehören (Abbildung 1).

___________ 1

Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945 - 1956, Bd. 1, 1982; Bd. 2, 1990; Bd. 3, 1993, München. 2 Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie, München 2006. 3 Helmut R. Hammerich et al., Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung, München 2006; Johannes Berthold Sander-Nagashima, Die Bundesmarine 1950 bis 1972. Konzeption und Aufbau, München 2006. 4 Wolfgang Altenburg, Die Nuklearstrategie der Nordatlantischen Allianz: Vom Gegeneinander zum Miteinander im Ost-West Verhältnis; Beatrice Heuser, Die Strategie der NATO während des Kalten Krieges, beide in: Klaus-Jürgen Bremm (Hrsg.), Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr, 1955 - 2005, Freiburg i. Br. / Berlin 2005.

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Mitglieder in EU und NATO EU = 27 Mitgliedsstaaten NATO = 26 Mitgliedsstaaten AUT

BEL

LUX

FIN

DEU

NLD

IRL

DNK

PRT

SWE

The EU 4

ESP

ITA

FRA

GRC

GBR

The „2 without“

USA

ISL NOR TUR

CYP MLT

CAN

SVK

CZE

SVN

HUN

EST

POL

LTU BUL

LVA LVA

ROM

21 in EU + NATO Mitglieder in Nato und EU (Stand: 2007). Im Jahr 2009 wurden zusätzlich Albanien und Kroatien in die Allianz aufgenommen.

Abbildung 1

Hinsichtlich der Arbeitsweise der NA TO hat es natürlich in der f ast 60jährigen Geschichte mannigfache Veränderungen in Stil und Organisation gegeben. Aber das Grun dprinzip besteht fort. Die Allia nz handelt i m Konsens oder sie handelt nicht. Dieses Ringen um den Konsens in schwierigen Situationen war letztlich immer dann erfolgreich, wenn nicht allein gefragt wurde, was jeder Mitgliedstaat selbst durchsetzen wollte, sondern welche Konsequenzen für einen selbst und alle anderen eintreten können, wenn man keine gemeinsame Entscheidung als Basis für entschlossenes Handeln findet. Hauptsäulen der Struktur im NATO-Hauptquartier von der frühen Zeit in Washington, den Jahren in Paris bis 1967 u nd den nunmehr über 40 Jahren in Brüssel bleiben der Nordatlantikrat mit dem Generalsekretär und den Botschaftern als Ständigen Vertretern aller Mitgliedstaaten und der Militärausschuss mit dem von den Generalstabschefs gewählten Vorsitzenden und den Militärischen Vertretern, die die kontinuierliche Arbeit für ihre Generalstabchefs gewährleisten. Politische Vorgaben, Weisungen und Aufträge an den Militärausschuss erteilt der Nordatlantikrat. Militärische Empfehlungen erarbeitet der Militäraus schuss. Für diese Arbeit ist ein internationaler Militärstab eingerichtet, der sich aus Offizieren

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und Unteroffizieren der Streit kräfte aller inzwischen 26 Mi tgliedstaaten außer Island zusammensetzt. Viele Beiträge zu diese n Empfehlungen werden auch von den Kommandobehörden der NATO-Kommandostruktur erarbeitet, an der Spitze heute die Strateg ischen Kommandos für Operationen in Mons, Belgien (SHAPE) und für Transformation (SACT) in Norfolk, Virginia, in den USA. Mit Blick auf die fast 60-jährige Existenz der Allianz und ihrer Organisation lassen sich für die Strategieentwicklung eine Reihe von Phasen erkennen. Diese sind allerdings nicht strikt v oneinander zu trennen. Jede Strategie der Allia nz wurde in zum Teil jahrelangen Diskussionen erarbeitet u nd solange blieb die jeweils verabschiedete in Kraft. Die ersten strategischen Überlegungen für eine erfolgreiche Verteidigung gegen die politisch und militärisch expansive Sowjetunion waren geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Existenz der Nuklearwaffen. Zwischen 1949 bis etwa 1957 gab es eine Entwicklung von der Betonung konventioneller Abschreckung und Verteidigung mit einer ultimativen Abschreckung durch strategisch wirkende Nuklearwaffen zu einer Strategie der massiven (nuklearen) Vergeltung. Dabei blieb ungewiss, ob und welche konventionellen Angriffe diese nukleare Reaktion auslösen würden. Unter der Bedrohung sowjetischer Expansion und der ausgreifenden Ideologie des Kommunismus konkurrierte aber diese k onventionelle Verteidigungsfähigkeit mit den unverzichtbaren Maßnahmen für den Wiederaufbau in Europa und die wirtschaftliche Entwicklung aller Länder des Kontinents. Als deshalb schon 1950/51 erkennbar wurde, dass die ca. 96 g eforderten Heeresdivisionen und entsprechenden Seeund Luftstreitkräfte nicht verfügbar gemacht werden konnten, senkte sich die strategische Waagschale in Richtung einer verstärkten nuklearen Komponente. Da die USA zu diesem Zeitpunkt noch allein über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügten, schien diese P osition für eine wesentlich nukleare Abschreckung glaubwürdig. Dies ermöglichte den einzelnen Mitgliedsländern erheblich mehr Ressourcen für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg bereitzustellen als für umfangreich geforderte Streitkräfte und stärkte ihre innere Stabilität. Die Situation wurde erheblich komplexer, als die UdSSR ebenfalls über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügte. Noch war allerdings die strategisc he Bedrohung der USA auf ihrem eigenen Territorium nicht die vorrangige Überlegung. Vielmehr gab es eine Phase, in der tatsächlich versucht wurde, die konventionell nicht behebbare Begrenzung, ja Schwäche durch Abstützung auf taktische und operative Nuklearwaffen auszugleichen. Diese Entwicklung war aus deutscher Sicht von besonderer Problematik. Denn bei einem Versagen der Abschreckung hätte dies entlang der Frontlinien und damit v.a. auch in Deutschland beiderseits der innerdeutschen Grenze zu einer großen Zahl von Nuklearwaffeneinsätzen führen können. Diese Perspektive wurde in Deutschland auch öffentlich diskutiert, als die Manöver wie „Carte Blanche“ Mitte der 1950er

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Jahre ebenso kritisch debattiert wurden wie der sogenannte Bonin-Plan. Andererseits war die B undesrepublik für ihre weitere wirtschaftliche und politische Konsolidierung darauf angewiesen, die USA in den entscheidenden Fragen der nationalen Sicherheit an i hrer Seite zu wissen. Neben der B etroffenheit durch eine zu stark auf nukleare Gefechtsfeldwaffen abgestützte Abschreckungs- und Verteidigungsdoktrin gewann ein zusätzlicher Aspekt kritische Bedeutung, als die Bedrohung der USA selbst in ihrem Kerngebiet durch sowjetische Nuklearwaffen nicht mehr ausgeschlossen werden konnte: der sog enannte Abkopplungseffekt, wonach die USA gegebenenfalls für regionale Konflikte keine strategische Antwort erwägen würden. In dieser Zeit gegensätzlicher militärstrategischer Entscheidungen und kontroverser Diskussionen, intern in der Allianz und beginnend in der Ö ffentlichkeit, vollzog sich die Planung und Vorbereitung des Aufbaus westdeutscher Streitkräfte. Die Str ukturen der n euen Bundeswehr waren gleichermaßen geprägt von den operativen und taktischen Erfahrungen der Offiziere der ehemaligen Wehrmacht, die den N euaufbau im Amt Blank vorbereiteten, aus de n Schlachten im Osten gegen die Rote Armee von 1941 bis 1945, aber auch von den Anforderungen an eine Bündnisarmee im Konzert mit den dominierenden amerikanischen Streitkräften. Dies um so mehr, nachdem die Planungen für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft am Nein in der französischen Nationalversammlung 1954 endgültig gescheitert waren. Die ersten 12 Jahre des Aufbaus der Bundeswehr vollzogen sich parallel zu den strategischen Diskussionen über nukleare Teilhabe, eine europäische nukleare Fähigkeit und schließlich die B ildung einer nuklearen Planungsgruppe. Dies geschah aber erst n achdem Präsident de Gaulle für Frankreich einen besonderen Weg beschlossen hatte. Diese französische Entscheidung beruhte auf einer Vielzahl von nationalen und internationalen Gründen. Sie war aber auch Ausdruck eines französischen Misstrauens, ob in der Zeit heraufziehender und bestehender gegenseitiger nuklearer Abschreckung zwischen den USA und der UdSSR die nukleare Garantie der USA für das Europa der Allianz in jedem Fall wirksam sein würde. Das Verhalten der Allianz und insbesondere der USA bei den Ereignissen in der DDR im Juni 1953, in Polen und Ungarn im Herbst 1956, sowie in den Berlin-Krisen 1958 und dem Mauerbau 1961 war Ausdruck einer reinen Eindämmungspolitik. Jeder Gedanke an ein „roll back“ unter Nutzung militärischer Mittel war aufgegeben – wenn dies denn überhaupt je eine ernsthafte politische Überlegung in Washington gewesen war.

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Strukturen der Bundeswehr In den beiden neuen Bänden des MGFA (Das Heer 1950 bis 1970; Die Bundesmarine von 1950 bis 1972) wird detailliert nachvollziehbar, wo und inwieweit Struktur und Organisation der deutschen Streitkräfte von Konzeptionen der Allianz, insbesondere von SHAPE beeinflusst wurden und wo die deutschen Erfahrungen, besonders im Kampf gegen die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, und vor allem die besondere Lage der jungen Bundesrepublik im Zentrum der Konfrontation am Eisernen Vorhang eigenständige Elemente, ja Lösungen hervorbrachten. Allerdings spielte neben den Fragen atomarer und konventioneller Kriegführung und der Ko mposition der Kampfunterstützung und Logistik mechanisierter/motorisierter Truppen auf den verschiedenen Führungsebenen auch das enge Finanzkonzept von festgeschriebenen 9 Mrd. DM in Verbindung mit dem jährlichen Budget eine wesentliche Rolle – auch für m anche schnelle Kaufentscheidung (z.B. Schützenpanzer HS 3 0 im Heer). Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass die Grundorganisation für die Ausbildung, insbesondere des F ührungsnachwuchses bei deutlichem Mangel an geeigneten Bewerbern für den beginnenden Dienstbetrieb eine weitere schwierige Herausforderung darstellte. Zumindest die Erstausstattung mit Waffensystemen und Großgerät war eine Kauflösung bei B ündnispartnern oder eine Lizenzlösung. Während die Teilstreitkräfte von Heer, Luftwaffe und Marine mit einem klaren Schwerpunkt bei den Landstreitkräften, ihren Aufwuchs zur g eforderten Stärke in den 1950er und 1960er Jahren trotz aller Schwierigkeiten bewerkstelligten, hielt die strategische, operative, ja taktische Debatte über die Rolle u nd Bedeutung der Nu klearwaffen nicht nur als Teil der Abschreckung, sondern auch einer möglichen Verteidigung an. F ür das Heer wurde diese B ewegung von der Strateg ie der „massiven Vergeltung“ zu der 13 Jahre später verabschiedeten Militärstrategie der „Flexible Response“ auch an der „roten TF“ (Führungsvorschrift für die Truppenführung) und der H eeresdienstvorschrift 100/100 v on 1962 ables bar. Allerdings gab es in dieser Phase auch eine Konkurrenz, bei welcher Teilstreitkraft Trägersysteme für amerikanische Nuklearsprengköpfe eingeführt werden sollten und zu welchem taktischen und operativen Zweck. Trotz aller A nstrengungen im Bündnis und national, ein Konzept für eine Gesamtverteidigung zu ent wickeln und durchzusetzen, führte auch die B ündnisstruktur mit ihren Teilstreitkraftkommandos (in Europa Mitte: NORT HAG und CENTAG für die Landstreitkräfte und 2. und 4. ATAF für die Luftstreitkräfte) zu einer Betonung der jeweils besonderen Aufgaben und Schwerpunkte beim Kampf gegen die so wjetischen Streitkräfte und ihrer Satelliten. Die Marine unterstand im Bereich CNCNORTH dem Kommandobereich NAVBALTAP, was zu zusätzlichen Besonderheiten in der operativen Begründung von Rüstungserfordernissen und Strukturen führte.

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Mit dem Jahr 1967 k am die politische und militärstrategische Debatte im Bündnis zu einem gewissen Abschluss. Die quasi nukleare Parität zwischen den USA und der Sowjetunion führte in der theoretischen Diskussion eines strategischen nuklearen Schlagabtausches, insbesondere mit land- und seegestützten ballistischen Raketen strategischer Reichweite zu der lap idaren Erkenntnis: „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“. Das erforderte, dass einerseits der politische Dialog und das Konzept für eine „Entspannungspolitik“ entwickelt und mit Leben erfüllt werden musste und andererseits aber darauf zu achten war, dass die Kräf tebalance für eine glaubwürdige Abschreckung und, wenn erforderlich, erfolgreiche Verteidigung mit konventionellen und nuklearen Mitteln auf allen Ebenen möglicher militärischer Konfrontation erhalten blieb bzw. geschaffen wurde. Der „Harmel Bericht“ und die „MC 14/3“ (die Militärstrategie der flexiblen Antwort mit vorbedachter Eskalation) stehen für das Konzept, das ich als junger Leutnant im Studium und Hauptmann in der Truppe in vielfältigen militärischen Ausbildungen und Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgen vertreten habe: Verteidigung und Entspannung sind zwingend geboten zur Gewährleistung unserer Sicherheit oder in Kurzform: V + E = S.

Die 1970er und 1980er Jahre waren für die Streitk räfteplanung vor allem gekennzeichnet durch die ö ffentliche und interne Debatte um die nuk leare Komponente. Dabei wurde die militärische Forderung nach einer Verstärkung der konventionellen Streitkräfte laut. So sollte der k onventionellen Übermacht des Warschauer Paktes begegnet und eine Grundlage für die Red uzierung der nuklearen Komponente geschaffen werden. Trotz der Haushaltbegrenzungen Ende der 1960er Jahre und in Folge der e rsten Ölkrise ab 1973 g elang es, die Bundeswehr mit modernen Waffensystemen auszustatten, wobei der Leopard 1 und 2 als Panzer des Heeres, der MCR Tornado bei Luftwaffe und Marine und die Flugkörperfregatten der Bundesmarine nur besonders markante und bekannte Beispiele darstellen. Schon vor der Wende des Jahres 1989 war eine Entwicklung erkennbar, dass mit den Erfolgen bei der Nulllösung der nuklearen Mittelstreckenraketen SS 20 und Pershing II, den Fortschritten bei den „Verhandlungen über die gegenseitige Verminderung von Streitkräften“ (MBFR) und dem Vertrag über konventionelle Abrüstung die Mittel für die Bundeswehr insgesamt und die Streitkräfte im Besonderen reduziert werden würden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Entscheidung des Parla ments und der Regierung, die für 1989 per Gesetz vorgesehene Verlängerung des Wehrdienstes auf 18 Monate rückgängig zu machen und wenig später sogar von 15 auf 12 Monate zu verkürzen. Mit der Wende 1989 und der Herstellung der Deutschen Einheit 1990 wurde der Ruf nach einer „Friedensdividende“ und drastischen Reduzierung der

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Streitkräfte zum Leitmotiv vieler, wenn nicht aller Regierungen und Gesellschaften in der Nordatlantischen Allianz und darüber hinaus. Schlüsselbegriffe in der strategischen Diskussion in Brüssel unter dem damaligen deutschen Generalsekretär Manfred Wörner wurden Wachsamkeit und Kooperation. Dies folgte der „Charta von Paris“ beim Treffen der KSZE Staaten, in der eine Zone des Friedens und der F reiheit von Vancouver in Kanada über den amerikanischen und europäischen Kontinent bis nach Wladiwostok ausgerufen wurde. Die deutschen Streitkräfte mussten die drast ischen Reduzierungen, die s ich aus den deutsc h-sowjetischen Gesprächen im Rahmen der Zwei-plus-VierVerhandlungen mit 370.000 Soldaten (einschließlich Seestreitkräfte) ergeben hatten, zusätzlich mit der Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR und der Bildung einer „Armee der Einheit“ verknüpfen – eine Herkules-Aufgabe unter erheblichem Zeitdruck. Aber schon im Sommer 1990 hatte die Besetzung und Annexion von Kuwait durch Saddam Hussein gezeigt, dass eine friedliche Welt insgesamt nicht in Sicht war. Und ein Jahr später, noch vor dem NATO Gipfel in Rom im November kehrte der K rieg nach Europa zurück. Das in den 70er Jah ren in der Wissenschaft und in der Politik oft als Modell einer „Versöhnung“ von Sozialismus und Kapitalismus gepriesene Jugoslawien Titos explodierte im Krieg von 1991 und zeigte in den ethnischen Auseinandersetzung und Säuberungen, insbesondere der Serben, die grässliche Fratze des Krieges. Dies führte Mitte der 1990er Jahre zur Ergänzung des strategischen Konzeptes der Allianz. Zum einen wurde der Aspekt der Kooperation mit der Gesta ltung der „Partnerschaft für den Frieden“ ergänzt und ein Aktionsfeld für militärische Zusammenarbeit eröffnet und zugleich der Grundsatz der Of fenheit für neue Mitglieder hinzugefügt. Dies war zunächst gemünzt auf die neuen Demokratien der ehe maligen mittel- und osteuropäischen Warschauer-Pakt-Staaten. Zum anderen zeigte sich, dass die Allianz zur Friedenssicherung, ja Durchsetzung des Friedens über ein Konzept und Truppen für NATO-geführte Krisenreaktionsoperationen verfügen musste, um eine militärisch erforderliche Stabilisierung in Konfliktregionen durchführen zu können. In diese Phase fiel auch die Erkenntnis und die Entscheidung, dass europäische Nationen der Allianz und der W esteuropäischen Union gegebenenfalls größere eigenständige Beiträge würden leisten müssen, auch um die US A in Europa zu entlasten. Es war die Zeit der „Europäischen Verteidigungsidentität“ in der Allianz und der Vereinbarungen zwischen NATO und WEU, wonach für WEU geführte Einsätze Mittel der NATO verfügbar gemacht werden konnten (sog. „Berlin plus von 1996). Für die deutsche Streitkräfteplanung war dies die Zeit der Haupt verteidigungs-, Krisenreaktions-, Verstärkungs- und Aufwuchskräfte. Da der Ei nzelplan 14 des Ver teidigungsministers weiter

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schrumpfte, war es zwingend geboten, den Gesamtumfang von 395.000 Soldaten auf ca. 345.000 zu reduzieren, um nicht alle Modernisierungsmaßnahmen zu opfern. Die Umgestaltung gewann an Fahrt, nachdem 1994 das Bundesverfassungsgericht internationale Einsätze der B undeswehr im Rahmen von UN, NATO und EU für verfassungsmäßig erklärt, sie allerdings an die Zustimmung einer qualifizierten Parlamentsmehrheit gebunden hatte. Dieser Sachverhalt wird seither vielfach mit dem politikwissenschaftlich eher schiefen Begriff von der Bundeswehr als „Parlamentsarmee“ zum Ausdruck gebracht. Es war dann schon ein prekäres Zusammentreffen, dass der Gipfel zum 50jährigen Bestehen der Allianz für Frieden in Freiheit in Washington im April 1999 mitten in den ersten Kriegseinsatz gegen das Jugoslawien von Milosevic fiel, um mit dieser „humanitären Intervention“ Leben und Freiheit der KosovoAlbaner zu schützen. Das macht aber auch verständlich, dass die bereits am Horizont sichtbare und zum Teil schon eingetretene Wirklichkeit des trans nationalen, islamistisch geprägten Terrorismus nicht ins Zentrum des bei diese m Treffen verabschiedeten Strategischen Konzeptes rückte und auch die Frage eines interventionistischen Eingreifens außerhalb der P eripherie des B ündnisgebietes noch unbeantwortet blieb. Die Bundeswehr musste wenige Monate nach dem Luftkrieg und dem Beginn des KFOR-Einsatzes der NATO eine dramatische Mittelkürzung von über 18 Mrd. DM in fünf Jahren hinnehmen. Die rot-grüne Regierung hielt dies für unvermeidlich für einen Beginn der Sanierun g des Ge samthaushaltes und für hinnehmbar, da dra matische militärisch zu beherrschende Risiken und Bedrohungen der B undesrepublik nicht erkannt wurden. Dass damals trotz die ser Kürzungen an den Zielen von BM Scharping für eine Bundeswehr von nunmehr geplanten 295.000 Soldaten festgehalten wurde, führte zu weiteren drastischen Einschnitten bei der Modernisierung und auch im Betrieb, zumal die Einsätze auf dem Balkan auf hohem Niveau weiter gingen. Strategisch beschäftigten im Frühjahr 2001 mit dem Beginn der Präsidentschaft von George W. Bush die bundespolitische Debatte mehr dessen neue Ansätze zur Nuklearstrategie und vor allem seine Ankündigung, den ABM-Vertrag mit der UdSSR von 1972 zu kündigen. In diese diff use Diskussionslage, die noch angereichert war durch die B eschlüsse der EU, sich eine eigene militärische Kapazität für die Krisenreaktion unter dem Stichwort ESVP aufzubauen, platzten die terroristis chen Angriffe auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington. Dies führte nicht nur zur Auslösung der Bündnisverpflichtung nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages – ein Artikel, von dem alle glaubten, dass er eher zur Abwehr eines Angriffs in Europa angerufen werden würde – sondern auch zu einer grundsätzlichen strategischen Entscheidung. Zwar wollte keiner das

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Wort von der globalen NATO in den Mund nehmen. Aber dass Krisenreaktion und Verteidigung auch in entfernt liegenden Teilen der Welt durch die Allianz gegebenenfalls geleistet werden müsste, war offenkundig geworden. Mit der Formel des „where and as required“ umschrieb der Nordatlantikrat diesen Sachverhalt. Zugleich entwickelte sich eine intensive Diskussion über die Frage von Prävention und Präemption. Dies führte in der Übung „Crisex 2002“ im NATO HQ zu einer kontroversen Debatte. Denn da es sich bei der n euen Bedrohung nicht um den bevorstehenden Angriff der Armee eines Staates handelt, sondern um das Zuschlagen von nicht staatlich organisierten Terroristen, gab es keine klaren Kriterien. Andererseits war und ist die Frage zu beantworten, ob erkannte Ausbildungslager und Zentralen, z.B. von Al Qaid a, auch v or einem aktuellen Angriff mit offensiven Mitteln ausgeschaltet werden können. Dabei wurde von Rechtsberatern im NATO Hauptquartier der B egriff der „antizipatorischen Selbstverteidigung“ eingeführt. Monate vor der Veröffentlichung der „U.S National Security Strategy“ vom September 2002 war damit die Frage bereits im NATO Hauptquartier als Thema präsent. In der Sache einigten sich die Nat ionen schließlich im militärstrategischen Konzept zur Ve rteidigung gegen den internationalen Terrorismus auf die Formulierung: „It is preferable to deter terrorist attacks or to prevent their occurrence then deal with their consequences“. Beide Überlegungen waren dazu geeignet, die Stru kturen und die Ausstattung der Streitkräfte der Mitgliedsstaaten einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Sie waren auch wesentlicher Grund und Anlass – quasi gleichzeitig während des Prager Gipfels im November 2002 – den Auftrag zu erteilen, eine schnelle Eingreiftruppe (NATO Response Force) zu schaffen. In den vergangenen fünf Jahren hat auch die Bundeswehr noch einen weiteren Schub in Richtung Veränderung unternommen. Dabei geht es nicht nur um die Schaffung neu formulierter Streitkräftekategorien 5, einschließlich zweier zusätzlicher militärischer Organisationsbereiche (SKB, ZSAN), sondern – mit dem Aufgreifen des Begriffes der TRANSFORMATION aus d er Diskussion der Allianz über die neue NATO Kommandostruktur – auch um die Erkenntnis und Einsicht, dass die Anpassungen und Veränderungen durch vielfältige Faktoren sich künftig dynamisch und kontinuierlich vollziehen müssen und werden. Die er wartete sogenannte Planungssicherheit tritt damit in der konzeptionellen Arbeit ebenso in den Hintergrund wie in der Ein stellung der Soldaten

___________ 5 Eingreifkräfte, Stabilisierungskräfte, Unterstützungskräfte. Diese finden sich in allen fünf militärischen Organisationsbereichen (Heer, Luftwaffe, Marine, Streitkräftebasis und Zentraler Sanitätsdienst).

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und Mitarbeiter. Es gilt dieses dynamische Verständnis von Entwicklung zu erhalten, ohne den vollen Einsatz für die Umsetzung getroffener Entscheidungen mit dem innerlichen Vorbehalt zu bre msen, es werde ja sowieso bald wieder neue Entwicklungen geben.

Relevanzrahmen Streitkräfteplanung Intensität des Engagements/ Betroffenheit

Eintrittswahrscheinlichkeit

Ab ca. 1990/91

Bis ca. 1989 Abbildung 2

Blickt man auf die fast 60-jährige Geschichte der Allianz und ihrer Organisation in der NATO und die über 50-jährige Präsenz der Bundeswehr so lassen sich für die sehr unterschiedlichen Phasen strategischer Planungen und ihrer Umsetzung in der Streit kräfteplanung einige allgemeingültige Überlegungen festhalten, die ich mit drei Abbildungen veranschaulichen möchte. Bei jeder Analyse von Risiken ( R ) Gefahren ( G ) und Bedrohungen ( B ) für die Sich erheit eines Staates oder ein er Gruppe von Staaten weisen bereits die drei B egriffe daraufhin, dass versucht wird, diese mit unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten zu v erbinden. Zweierlei lässt das Sch aubild erkennen: 1. Das Ausmaß der B etroffenheit und das dann erforderliche Engagement zu seiner Abwehr und die Wahrscheinlichkeit des Eintretens solcher Ereignisse verlaufen keineswegs i mmer in paralleler oder grundsätzlich gegenläufiger Richtung.

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2. Diese Wahrscheinlichkeiten sind in beide Richtungen veränderbar, während es immer RGBs unterschiedlichen Betroffenseins und dagegen erforderlichen Engagements geben wird. Ohne die Aussage mathematisch zu verstehen, kann gesagt werden, dass die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung in Mitteleuropa bis 1989 größer war als nach 1991. Darau s hatte die Allia nz eben auch zur Eingrenzung dieser Mö glichkeit und Gefahr eine Strategie von konventioneller/nuklearer Verteidigung entworfen und mit hinreichenden Mitteln ausgestattet – jedenfalls kann dies nach dem Erfolg im Zuge der Wende festgestellt werden.

Relevanzrahmen Streitkräfteplanung Intensität des Engagements/ Betroffenheit

Eintrittswahrscheinlichkeit

Humanitäre/ Katastrophen Hilfe

Krisen vorbeugung

Krisen bewältigung

Konflikt bewältigung

Bündnis Vtg Bündnis Vtg begrenzt, begrenzt, außerhalb einschl. CR CR

Landes Verteidigung

Abbildung 3

Die Situation etwa seit 1990/91 mit der Zeit des ersten Golfkrieges und dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens wird mit dem nächsten Schaubild verdeutlicht. Wenn die Einschätzung grundsätzlich richtig ist, dass das Engagement eines Staates aufgrund der eig enen Betroffenheit mit den Einsätzen und Gefahren von links nach rechts i m Schaubild zunimmt, dann bedarf es ein er ebenso gründlichen und periodisch zu wiederholenden Prüfung der Eintrittswahr-

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scheinlichkeiten der ei nzelnen Fälle mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das eigene Handeln. Ein wichtiger Punkt der B etrachtung verläuft um den Schnittpunkt der ei ngeschätzten Wahrscheinlichkeit mit der Größe der Bedrohungen / des erforderlichen Engagements. Die wahrscheinlichen, aber eher mit geringer Intensität – aus der Sicht des eigenen Staates oder Bündnisses – angenommenen Gefahren werden weitgehend mit den Fähigkeiten zu meistern sein, die zur Ver hinderung oder Abwehr größerer Gefahren bereitgehalten werden. Die entscheidende Herausforderung für jeden Planer ist eine Antwort auf die Frage, in welchem Maße er den Bedrohungen höherer Intensität mit eigenen Vorkehrungen, sprich Fähigkeiten entgegenwirken will und kann. Dabei muss er sich klar werden, wo und wann die Ver schiebung der Ellipse ei gener Vorkehrungen gegen eher unwahrscheinliche Risiken hohen Betroffenseins die Kosten für die notwendigen Fähigkeiten exponentiell ansteigen lässt. An dieser Stelle macht das folg ende Schaubild exemplarisch deutlich, dass die Planung und Bereitstellung von Fähigkeiten der Streitkräfte – wie übrigens in anderen Politikfeldern auch – unterstützende Faktoren nutzen muss, so dass konkurrierende Vorhaben und Ziele anderer Bereiche, bei insgesamt endlichen Ressourcen, den Handlungsspielraum zur Entwicklung erforderlicher Fähigkeiten nicht zu stark eingrenzen.

Politischer Wille Entwicklung der Staatsfinanzen

Konkurrierende politische Ziele

Konkurrierende politische Ziele

Fähigkeiten Streitkräfte

Politi.

Wille

Abbildung 4

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Wichtig ist dabei, dass sowohl die Un terstützung für die Fähigkeiten der Streitkräfte zur Verhinderung bzw. Abwehr von Gefahren als auch die bei der Mittelzuweisung konkurrierend ins Feld geführten, politisch formulierten Ziele vom politischen Willen genährt werden – mehr oder weniger. Daraus folgt, dass die tatsäc hlich verfügbaren Fähigkeiten der St reitkräfte unterhalb des zweckmäßigsten Niveaus gegen alle Risiken, Gefahren und Bedrohungen bleiben werden. Was können wir [ (uns) leisten ] ? Was wollen wir [ (uns) leisten ] ? Was müssen wir [

leisten ] ?

Denn wenn es um die Verteilung der Ressourcen und insbesondere der verfügbaren Finanzmittel des St aates geht, sind nach eingehender Analyse und Bewertung möglicher Handlungsalternativen drei Fragen zu beantworten: Es ist bei der In teressenlage der Bundesrepublik und im Rahmen ihrer gestiegenen Verantwortung in der EU, NA TO und UN erkennbar, dass die dritte Frage die sac hlich entscheidende war, ist und bleibt. Aber die erste un d die zweite Frage haben in der Realität konkurrierender Aufgabenfelder zahlreicher Ressorts durchaus Einfluss darauf, ob bz w. inwieweit die Mittel, die sich aus der Antwort auf die dritte Frage ergeben, tatsächlich bereitgestellt werden. Während Menschen wie Gesellschaften für Ziele und Maßnahmen, die anerkannt sind, schnell eine Antwort im Sinne der ersten Frage geben, wird bei unliebsamen Aufgaben bzw. strittigen Zielen sogar die Frage drei eher umgedreht und gefragt: Müssen wir das (wirklich) leisten? In der politische n Wirklichkeit wird immer ausschlaggebend sein, dass der Mittelansatz sich ergibt aus der möglichst transparenten Auseinandersetzung, wie bzw. bis zu welchem Grade denn die unterschiedlichen Aufgaben bedient werden können und sollen. Das verlangte und verlangt für die h eute umfassende, ja vernetzte Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ein realistisches, plausibles und verständlich formuliertes Konzept und Programm im Einzelnen vorzuweisen, wenn vermieden werden soll, dass unsachgemäße Mittelreduzierungen oder Mittelverweigerungen geschehen. Keine Armee – dies galt und gilt auch für die Bundeswehr – wird je über alle Fähigkeiten nach Art und Umfang verfügen, die eine gründliche Analyse aller Risiken, Gefahren und Bedrohungen und ein ausgeprägter Sinn für und das Verlangen nach Risikovorsorge als Ergebnis vorschlagen. Aber es wird darauf

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ankommen, bei red uzierten Mitteln, einerseits zentrale Risiken (noch) beherrschbar zu halten und andererseits den Bürgern deutlich zu machen, dass die reduzierten Mittel und Fähigkeiten die Ver hinderung, Abschreckung und Abwehr von Gefahren einschränken und damit das eigene Risiko erhöhen, wenn die Gefahren akut werden. Dabei ist im Auge zu behalten, dass Struktur und Ausstattung von Streitkräften nicht aus dem Stand und in kurzer Zeit auf neuartige oder ak ut werdende Gefahren umgesteuert werden können, selbst wenn dann kurzfristig Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Dass in den Jahren seit der Herstellung der deutschen Ei nheit die Höhe der investiven Mittel im Verteidigungshalt deutlich, ja dramatisch unter der 30 Prozent Marge des Einzelplans 14 gelegen hat, macht auch klar, welche Bugwelle an Modernisierungsbedarf die Streitk räfte und die B undeswehr insgesamt vor sich her schieben. Jetzt wird bei jeder Erhöhung dieses Anteil darauf geachtet werden müssen, dass nicht eine fehlgeleitete Nachholung alter Planungen erfolgt, sondern die erforderlichen Fähigkeiten an den potenziellen Herausforderungen der nächsten 20 Jahre gemessen und dann beschafft werden. Um so wichtiger wird sein, dass sich die B undesrepublik im Allgemeinen und die Streitkräfte im Besonderen aktiv für die Entwicklung einer „Long Term Vision“ der EU und ein neues strategisches Konzept, einschließlich der daraus abzuleitenden Militärstrategie (als MC 400/3) ein setzen. Denn ohne abgestimmtes multinationales Vorgehen besteht für uns die Ge fahr, dass die alle rorts geforderte und gepriesene Interoperabilität nicht nur nicht erreicht, sondern teilweise verloren gehen wird. In einem von allen Nationen gebilligten Dokument der NA TO von 2002 heißt es sinngemäß, dass die Vorschläge für die Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus den langfristigen Interessen der Allianz am besten dienen werden, wenn sie eingefügt werden in eine internationale übergreifende Strategie für den Ka mpf gegen den T errorismus, die politische, militärische, ökonomische, rechtliche und soziale/gesellschaftliche Initiativen integriert. Solange dies nicht geschieht, werden viele sinnvolle Einzelaktivitäten gegen erkannte Gefahren möglich sein, aber ein durchgreifender Erfolg wird den Operateuren kurzfristig und den Planern neuer Fähigkeiten längerfristig versagt bleiben.

Seesicherheit – Abwehr des Terrorismus in nationalen Gewässern und auf hoher See Von Sigurd Hess Seit den Terrorangriffen am 11. September 2001 in New York und Washington und verstärkt nach dem Bombenterror des 11. März 2004 in Madrid und des 07. Juli 2005 in London wogt in Deutschland eine erregte Debatte über die Verschärfung von Maßnahmen zur inneren Sicherheit hin und her. Nach dem Scheitern des „Luftsicherheitsgesetzes“ vor dem Bundesverfassungsgericht am 15. Februar 2006 hat die öffentliche Debatte zwar an Schärfe gewonnen, nicht jedoch an Qualität und Ergebnisorientierung. Dabei fällt auf, dass das T hema „Seesicherheit“ nur selten gestreift wird. Deutschlands Wohl und Nutzen hängt ganz entscheidend von der See ab. Deutschland und seine exportorientierte Wirtschaft sind eng eingebunden in das Weltwirtschaftssystem und in dess en globalen Warenaustausch und Rohstoffverkehr. Freie Seewege sind die Lebensadern, auf die Deutschland wegen seiner geostrategischen Lage und s einer exportwirtschaftlichen Orientierung besonders angewiesen ist. Deutschland bereedert die drittgrößte Handelsflotte der Welt. Freier und sicherer Seeverkehr ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft erfolgreich entwickeln und im Weltwirtschaftssystem gegen scharfe Konkurrenz und im Wettbewerb bestehen können. Die Terrororganisation Al-Qaida hat deutlich gemacht, dass sie die B edeutung der Wirts chaft und deren kritischer Transportinfrastruktur versteht, von denen die Machtpositionen und Prosperität der westlichen Industriegesellschaften abhängig sind. In einer langen Videobotschaft hat Ayman al Zawahiri, der Stellvertreter Osama bin Ladens, erläutert, dass die Strate gie der Z erstörung sich gegen zentrale wirtschaftliche Ziele richtet. Dieser neuartige Dschihad „zielt auf die Sch wächung des Gegners, indem er dess en wirtschaftliche Schlagadern lahm legt, damit vielleicht eine Wirtschaftskrise herbeiführt ...“1

___________ 1

Rainer Hermann, Die Wirtschaft im Visier, FAZ vom 07. Juli 2007.

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Hierfür unterhält Al-Qaida eine eigene Schiffsflotte,2 allerdings bisher nur für den Transport von Sprengstoff, operativem Personal und Schmuggelgütern. Seit der Ver haftung und dem Verhör von Abdul Rahim Mohammed Abda al Nasheri im November 2002 is t die T aktik erkennbar geworden, die A l-Qaida für maritime Terroroperationen verfolgt. Sie soll aus vier Elementen bestehen: 1. Der Einsatz von Hochgeschwindigkeitsbooten, die m it Sprengstoff beladen als „schwimmende Bomben“ in Handels- und Kriegsschiffe gesteuert werden. 2. Die Nutzung von gekaperten Handelsschiffen, die in der Nähe von anderen Handels- und Passagierschiffen zur Explosion gebracht werden können. 3. Der Einsatz von sprengstoffbeladenen Flugzeugen als „Marschflugkörper“ gegen Passagierschiffe, Tanker und deren Abfertigungsbrücken. 4. Die Ausbildung von „Froschmännern“ für Unterwasserangriffe mit Sprengstoff und Minen gegen Seeschiffe. Obwohl bis heute noch kein groß angelegter Terrorangriff mit Schiffen oder mit Schiffscontainern stattgefunden hat, ist das R isiko für die Sch ifffahrt und deren Verkehrsinfrastruktur realistisch, bedrohlich und muss zu größter Wachsamkeit herausfordern. I. Die „Choke Points“ des Seeverkehrs Der Ferngütertransport im Welthandel wird zu 95 Prozent über den Schiffsverkehr abgewickelt3. Die Ölversorgung der W elt erfolgt zu 60 Prozent durch mehr als 3500 h ochseefähige Tankschiffe, seien es Riesentanker mit 300.000 t oder kleinere Zubringer-Tanker mit 20.000 t. Der deutsche Steink ohlebedarf wird zu 60 Prozent über See importiert.4 Diese und andere Handelsströme passieren durch acht enge Seegebiete, in denen sich fast der gesamte Weltseeverkehr bündelt. Sie sind als „choke points“ (Druckpunkte) so eng, dass sie durch einen Unfall blockiert oder durch einen Terrorangriff gesperrt werden können. Hierzu gehören:

___________ 2

Bin Laden’s Navy, CBS Nachrichten vom 31. Dezember 2002. Die Statistiken über den europäischen Außen- und Binne nhandel über See finden sich im Grünbuch über die zukünftige Meerespolitik der EU, Brüssel, 8. Mai 2006. 4 Siehe auch Flottenkommando, Jahresbericht 2007, Fakten und Zahlen zur maritimen Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland, abzurufen auf http://www.mari ne.de. 3

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− Die Ostseezugänge, das sind insbesondere der Nord-Ostsee-Kanal, der große Belt und der Sund, wobei der Nord-Ostsee-Kanal der am meisten befahrene Kanal der Welt ist. − Die Schifffahrtsstraßen im Englischen Kanal und in der Deutschen Bucht, unter anderem mit den Zugängen zu den größten europäischen Containerhäfen Rotterdam und Hamburg und dem größten deutschen Ölterminal Wilhelmshaven. − Die Straße von Gibraltar als Verbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer. − Der Bosporus als Verbindung zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer. − Der Suez-Kanal und die Bab el -Mandeb Passage als Verbindung zwischen Mittelmeer, Rotem Meer und dem Indischen Ozean. − Der Panama-Kanal als Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik. − Die Straße von Malakka und Singapur als kürzeste Verbindung zwischen dem Indischen Ozean und dem Pazifik. Die nationalen und völkerrechtlichen Zuständigkeiten für die Seegebiete leiten sich aus dem Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der U N von 1982 ab. D as Küstenmeer oder die Ho heitsgewässer jedes Staates reiche n von der „Basislinie“, landläufig als Küstenlinie bezeichnet, 12 sm (ca. 22 km ) seewärts (siehe gestrichelte Linie in der Karte). Das Küstenmeer ist Bestandteil des Hoheitsgebietes des Küstenstaates, in ihm gelten alle nationalen Gesetze (siehe ausgezogene Linie in der K arte). Vom Küstenmeer bis zu 200 s m seewärts erstreckt sich die Au sschließliche Wirtschaftszone (AWZ). Hier g elten die sou veränen Rechte und Hoheitsbefugnisse des Kü stenstaates nur eingeschränkt, während andere Staaten in dieser Zone bereits die Freiheit der hohen See genießen können. In Nord- und Ostsee besitzt die Bundesrepublik Deutschland eine Küstenlinie von nahezu 2.400 km. Pro Jah r bewegen sich ca. 400.000 S chiffe durch das deutsche Küstenmeer, ca. 150.000 Schiffe laufen deutsche Häfen an. Dieser Seeverkehr muss sicher durchgeleitet werden und hat Anspruch auf die Einhaltung aller seerec htlichen Konventionen. Die Freiheit der Meere k ann zwar durch zu restri ktive Sicherheitsmaßnahmen erstickt werden, allerdings gibt es ohne Sicherheit keine Freiheit der friedlichen Seepassage.

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Quelle: Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie.

Abbildung 1: Deutsches Küstenmeer und AWZ in der Nordsee

II. Schiffsüberfälle durch Piraten Gegenstand der öffentlichen Diskussion über Seesicherheit5 ist ihre Gefährdung durch Terroraktionen, Piraterie und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, sowie andere k riminelle Handlungen wie Waffen- und Drogenschmuggel oder Menschenhandel. Jährlich werden bei hoher Dunkelziffer etwa 300 Pirateriefälle mit einer Schadenssumme von ca. 15 M rd. US-Dollar registriert. 2006 wurden 29 deutsche Schiffe von Piraten angegriffen. Piraterie konzentriert sich auf Gebiete rund um den Äquator, wo Schlupfwinkel in Archipelen, enge, navigatorisch gefährliche Schifffahrtsstraßen und schwächliche, fehlende Regierungsgewalt der Küstenstaaten zusammentreffen. Sie ist in den letzten Jahren eher rückläufig, obwohl die P iraten mit militärischen Waffen und ___________ 5 Seesicherheit schließt andere Formen, wie z.B. die betriebliche Sicherheit mit ein. Betriebsschutz auf Seeschiffen und navigatorische und seemännische Sicherheit werden in dieser Abhandlung thematisch ausgeklammert.

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dem Einsatz modernster Technologie ihre Erfolgsaussichten verbessert haben. Die Beispiele für spektakuläre Fälle von Piraterie zeigen auch die Grenzlinien zwischen Piratenüberfällen zur eigenen Bereicherung und der eigentlichen Vorbereitung von Terrorangriffen auf: − „Panagia Tinou“, 15. - 18. Juni 2002. Der gekaperte Massengutfrachter wird von den somalischen Piraten freigekauft, nach Verlassen der som alischen Hoheitsgewässer wird sie von der Fregatte „Emden“ im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ gesichert. − „Dewi Madrim“, 26. März 2003. Der Chemietanker wird in der Straße von Malakka aufgebracht, danach führen die zehn Piraten navigatorische und seemännische Übungen durch und verschwinden nach einigen Stunden spurlos. Es bleibt un klar, ob der P iratenüberfall nicht in Wirklichkeit dem seemännischen Training von Terroristen diente. − 2003 wurden zehn Fälle von gestohlenen Schleppern in den südostasiatischen Gewässern gemeldet. Obwohl die Motivlage der Piraten unklar geblieben ist, wurde sorgenvoll vermutet, dass mit gestohlenen Schleppern große Seeschiffe und Riesentanker in Position gebracht werden können, um Hafeneinfahrten zu blockieren oder Ölverseuchung von Küsten zu verursachen. − „Le Ponant“, 04. April 2008. Der französische Kreuzfahrtsegler wird vor der Küste Somalias gekapert. Der französische Aviso „Le Commandant Bouant“ und Hubschrauber der kanadischen Fregatte „Charlottetown“, beides Schiffe der Operation „Enduring Freedom“ verfolgen und beobachten die Piraten. Die 30 Crewmitglieder kommen nach Lösegeldzahlung durch den Eigner frei. Danach verfolgt ein französisches Sonderkommando die Piraten , von denen sechs gefangen werden. Ein Teil des Lösegelds wird bei ihnen gefunden. Die Analyse der Überfälle zeigt jedoch, dass Piraten und Terroristen nur wenig gemeinsam haben. Piraten sind am laufenden Seeverkehr interessiert, um gute Beute machen zu können. Terroristen wollen größtmöglichen Schaden verursachen, um den Seeverkehr zumindest temporär zum Erliegen zu bringen. Nordeuropa ist von Piraten verschont geblieben, Klaus Störtebeker und Gödeke Michels haben keine modernen Nachfolger gefunden. III. Terrorangriffe auf Schiffe Terrorangriffe richten sich gegen große Schiffe mit gefährlicher Ladung (LNG-, Öl-, und LPG-Tanker,6 Gefahrgutladungen), gegen Fähren, Passagier___________ 6

LNG (Liquid Natural Gas, verflüssigtes Erdgas), LPG (Liquid Petroleum Gas, verflüssigtes Petroleumgas).

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und Kreuzfahrtschiffe mit vielen Menschen an Bord und gegen Kriegsschiffe wegen ihres politischen Status. Gleichermaßen gefährdet sind Bohrplattformen auf See, Fährterminals und Landungsbrücken in Häfen. Sie sind verletzlich durch von Selbstmordattentätern gelenkte oder f erngesteuerte Sprengboote, eingeschleuste Sprengsätze in Fahrzeugen und Containern, das W erfen von Minen, Hijacking7 und Sabotagehandlungen. Der Einsatz von „Schiffen als Waffe“, gerichtet gegen Menschenansammlungen, zum Herbeiführen einer Umweltkatastrophe oder um Schifffahrtsmärkte und Handel und Wandel zusammenbrechen zu lassen, ist zur Erpress ung von Staaten denkbar. Eindeutig belegt sind die folgenden größeren Terroranschläge auf See durch Al-QaidaTerroristen: − „USS The Sullivans“, Januar 2000. Der Sprengbootangriff auf den U SZerstörer im Hafen von Aden scheitert, weil das Boot mit Sprengstoff überladen ist und sinkt. − „USS Cole“, 12. Oktober 2000. Der US-Zerstörer wird auf Reede vor Aden liegend von Selbstmordattentätern mit einem sprengstoffbeladenen Schnellboot angegriffen. Dabei werden 17 Seeleute getötet und 39 verletzt. − „Limburg“, 06. Oktober 2002. Der Doppelhüllen-Öltanker wird vor der Küste des Jemen von einem Sprengboot (1200 kg TNT und C-4 Sprengstoff) schwer beschädigt, Dabei kommt ein Mensch ums Leben und 90.000 Barrel Öl laufen aus. Vermutlich war Al Nasheri, der Al-Qaida „Prince of the Sea“ für die P lanung der T erroranschläge auf die „Sullivans“, „Cole“ und „Limburg“ verantwortlich. − „Takasuza“, 24. April 2004. Am Basra Ölterminal scheitert der Anschlag mit einem Sprengboot auf den Tanker während der Beladung. Drei US-Soldaten sterben. − Am 10. August 2005 wird der Al-Qaida-Terrorist Louai Sakra von der türkischen Polizei verhaftet und damit der Spren gstoffanschlag auf israelische Kreuzfahrtschiffe im türkischen Antalya verhindert. Die tatsächlichen und gescheiterten Terrorangriffe konzentrieren sich bisher auf die Seegebiete am Horn von Afrika, das Mittelmeer, die Straße v on Hormuz und die P hilippinen-See. Das lie fert eine Begründung für die maritimen Anteile der Operation „Active Endeavour“ und „Enduring Freedom“ der NATO zur Überwachung der genannten Seegebiete sowie für die Stationierung von Flugzeugträger-Kampfgruppen der US-Marine im Persischen Golf. Schiffe und Flugzeuge der deutschen Marine haben sich bisher an den kollektiven ___________ 7

Hijacking (Kapern und Überwältigen von Schiff und Besatzung) leitet sich von dem Ausruf High, Jack!“ (Nimm die Arme hoch, Seemann!) ab. ”

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Überwachungen und Schutzoperationen in der Straße v on Gibraltar, im östlichen Mittelmeer, im Golf von Aden und in den Seegebieten am Horn von Afrika beteiligt. In der Nord- und Ostsee kam es bisher, außer bei einigen Terroralarmen für Fährschiffe, zu keinem Angriff. IV. Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Raketen Sollten Massenvernichtungswaffen in die Hände v on Terroristen gelangen, würde sich eine besonders katastrophale Gefährdung ergeben. Eine „schmutzige radiologische Bombe“ oder eine primitive Atombombe, versteckt in Containern an Bord eines Schiffes, stellt die größte anzunehmende Gefahr für Hafenstädte dar. Zwar waren es „nur“ Unglücksfälle, aber die Munitionsexplosionen in Halifax 1917 u nd die Explos ionen der F rachter „Grandcamp“ und „High Flyer“ im Hafen von Texas City am Golf von Mexiko am 16. und 17. April 1947 können Hinweise darauf geben, welche katastrophalen Verwüstungen bereits durch die konventionelle Explosion von je 2.300 t u nd 1.000 t Schwefel und Ammoniumnitrat im Hafen, im angrenzenden Industriegebiet und in den umliegenden Wohngebieten angerichtet werden können. Der Schmuggel von Waffen, seien es konventionelle oder Masse nvernichtungswaffen, Bauteile zu deren Her stellung oder T rägersysteme, wie Raketen, bildet die an dere Gefährdungskategorie. Am 09. D ezember 2002 wurde der Frachter „So San“ vor der Küste des Jemen von der spanischen Fregatte „Navarra“ gestoppt und untersucht.8 Unter einer Zementladung versteckt wurden Scud-B-Raketen gefunden, die der J emen in Nordkorea beschafft hatte. Es gab völkerrechtliche Verwicklungen und diplomatische Proteste. Nach den Seerechtsregeln war die Untersuchung rechtmäßig, da das Schiff durch mangelhafte Kennzeichnung und fehlende Beflaggung gegen diese Regeln verstoßen hatte. Die Ladung musste jedoch freigegeben werden, da der Handel mit Mittelstreckenraketen völkerrechtlich noch nicht verboten ist. Die Durchsuchung des deutschen Frachters „BBC China“ im Oktober 2003 in einem süditalienischen Hafen9 förderte Bauteile für Gaszentrifugen zur Urananreicherung für Libyen zu Tage. Die Durchsuchung im Hafen wurde durch die Kooperation der deutschen Reederei mit der italienischen Polizei und durch Hinweise der a merikanischen und britischen Geheimdienste ermöglicht. Auf hoher See wäre die Durchsuchung an den eng gefassten Bestimmungen des Art. 110 SRÜ gescheitert. ___________ 8

CNN News vom 12. Dezember 2002 (abzurufen über http://archives.CNN.com). Hans Leyendecker, Deutsches Schiff mit Atomfracht gestoppt, Süddeutsche Zeitung vom 01. Januar 2004. 9

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Am 22. Ju ni 2003 wurde das Frachtschiff „Baltic Sky“ von griechischen Kommandoeinheiten aufgebracht.10 Die Ladung bestand aus 680 t Sprengstoff und 8.000 Z ündern und wurde vom griechischen Schifffahrtsminister als „tickende Bombe“ charakterisiert. Schiff und Ladung wurden in einem abgelegenen Hafen einer griechischen Insel interniert, Kapitän und Besatzung wurden wegen illegalen Besitzes und Transport von Sprengstoff angeklagt. Der Zugriff war wiederum nur durch die enge Kooperation der griechischen Behörden mit den im Mittelmeer operierenden N ATO-Marinen und den Geheimdiensten erfolgreich. V. Zuständigkeiten für die Gefahrenabwehr auf See Die Terrorgefahr auf See ist spätestens seit 2001 ein Dauerzustand. Das Dilemma der o ffenen, demokratisch verfassten westlichen Gesellschaften ist offensichtlich. Der Terrorist muss nur einmal erfolgreich sein, um durch größtmöglichen Schaden Angst, Schrecken und Verunsicherung zu erzielen. Der liberale Staat muss jedoch ständig auf der Hut sein. Vorwarnzeiten sind – wenn überhaupt – nur durch Informationen der Gehei mdienste zu g ewinnen. Seeraumüberwachung und das Erstellen eines konsolidierten Lagebilds für alle an der Gefahrenabwehr beteiligten Akteure ist eine zwingende Voraussetzung für zielgerichtetes Handeln. Es wäre töricht, die relati v niedrige Gefährdung in Nord- und Ostsee als Begründung dafür zu nehmen, sich an den k ollektiven UN-, EU- und NATO-Operationen in entfernteren Seegebieten nicht mehr beteiligen zu wollen. Frei nach Bertolt Brecht und Peter Struck lässt sich sagen: Entweder werden die Gefahren dort bekämpft, wo sie entstehen oder sie kommen zu uns. Damit Deutschland nicht in Seenot gerät, ist die Beteiligung der deutschen Marine an UN- und NATO-Operationen im Mittelmeer und am Horn von Afrika weiterhin geboten. Für die Gef ahrenabwehr auf See i m deutschen Küstenmeer, in der A usschließlichen Wirtschaftszone der No rd- und Ostsee und weltweit auf hoher See stehen zivile, polizeiliche und militärische Kräfte der fünf deutschen Küstenländer und des Bundes, vertreten durch die Organisationsbereiche der sechs Bundesministerien für Verkehr, Inneres, Landwirtschaft, Umwelt, Finanzen und Verteidigung zur Verfügung. Das Grundgesetz verteilt die Zuständigkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Gef ahrenabwehr auf See i n einer sehr komplizierten Weise. Die Gesetzgebungskompetenzen sind zerfasert, die Zuständigkeiten für den Vollzug sind zersplittert. Selbst der B und hat seine Vollzugsaufgaben einer Vielzahl von Behörden zugewiesen. Diese k omplizierte ___________ 10

BBC News 24 vom 25. Juni 2003.

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Abgrenzung der Kompetenzen erschwert es, die Seesicherheit auf eine effektive und effiziente Art und Weise zu wahren. Aufgrund spektakulären Behördenversagens im Havariefall des Holzfrachters „Pallas“, der brennend am 29. Oktober 1998 vor Amrum strandete, aber auch durch die B ewusstseinsveränderungen, die du rch viele internationale Initiativen im Bereich der Seesich erheit herbeigeführt worden sind, hat sich im letzten Jahrzehnt vieles geändert und manches verbessert. Allerdings zielen die bish erigen Reformen vor allem auf eine verbesserte Koordination des Verwaltungshandelns ab. Man verkennt, dass mit dem Eintreten der großen Katastrophe die Stunde der Exekutive geschlagen hat und nur zielgerichtete und auftragsorientierte Führung der Einsatzkräfte dazu beitragen kann, den Terroranschlag zu verhindern oder die Folgen des Terroranschlags oder anderer Katastrophen zu überwinden. Für die vollzugspolizeilichen Aufgaben im Küstenmeer der fünf Bundesländer Niedersachsen, Bremen, Schleswig-Holstein, Hamburg und MecklenburgVorpommern stehen deren W asserschutzpolizeien zur V erfügung. Insgesamt werden 29 Kü stenstreifenboote mit beschränktem Fahrbereich eingesetzt. Die Wasserschutzpolizeien der Länder gehören jedoch nicht zum Koordinierungsverbund der Küstenwache.

VI. Die „Küstenwache“ Der grenzpolizeiliche Schutz im Küstenmeer wird von der B undespolizei und in eingeschränktem Maße vom Zoll gewährleistet. Außerhalb des Küsten-

Quelle: Bundespolizei.

Abbildung 2: Die „Eschwege“ (BP 26) der Bundespolizei mit der Kennzeichnung der „Küstenwache“

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meeres werden die schifffahrtspolizeilichen Aufgaben von der Bundespolizei und dem Zoll wahrgenommen. Zur Koordination aller Maßnahmen zur Sicherheit des Schiffsverkehrs, sowie weiterer Schutzaufgaben11 haben alle a uf See zuständigen „zivilen“ Bundesministerien am 01. Juli 1994 den Koordinierungsverbund der Vo llzugskräfte des Bundes als „Küstenwache“ gegründet. Zur „Küstenwache“ gehören sechs Schiffe der B undespolizei, zwölf Boote des Zolls, vier Schiffe der Was ser-und Schifffahrtsverwaltung und drei F ischereischutzschiffe. Diese Ei nheiten führen eine schwarz-rot-goldene Kennzeichnung, den Schriftzug „Küstenwache“ und an den Aufbauten ein hellblaues Wappenschild mit Anker und Bundesadler. Wie bei den Wasserschutzpolizeien der Küstenländer führen die Vollzugsbeamten der K üstenwache nur ihre polizeilichen Handwaffen. Die Kooperationspartner nehmen ihre originären gesetzlichen Aufgaben grundsätzlich selbst war, kooperieren aber zur schnellen Reaktion auf Gefahren und Störungen. Die Zusammenarbeit wird durch den „Gemeinsamen Ausschuss Küstenwache“ koordiniert. Die Einsätze werden seit dem 02. April 2004 zentral aus dem Küstenwachzentrum Nordsee in Cuxhaven geleitet. VII. Das Maritime Sicherheitszentrum in Cuxhaven Zur Verbesserung der Lageführung und Koordination der Einsatzkräfte haben sich Bund und Länder darauf verständigt, in Cuxhaven ein „Maritimes Sicherheitszentrum“ (MSZ) aufzubauen.12 Hier sollen die Küstenwache, das Havariekommando, der zen trale Meldekopf der Sch ifffahrt zur T errorabwehr („ISPS Point of Contact Maritime Security“)13 sowie das maritime Führungsund Lagezentrum zusammenarbeiten. Als Übergangslösung bis zum endgültigen Aufbau des MSZ hat am 01. Januar 2007 das „Gemeinsame Lagezentrum“ (GLZ) seine Arbeit in Cuxhaven aufgenommen. Wie beim Koordinierungsverbund Küstenwache ist auch bei der Verwaltungsvereinbarung MSZ das Verteidigungsministerium kein Vertragspartner. Vorgesehen ist lediglich die Ges tellung eines Verbindungsoffizier der Marine und „die Mitwirkung der Streitkräfte im Rahmen ihrer rechtlichen Möglichkeiten“. Damit ist die su bsidiäre Mit___________ 11

Diese weiteren Maßnahmen schließen den polizeilichen Grenzschutz, den maritimen Umweltschutz, den Zoll und den Fischereischutz ein. 12 Die Verwaltungsvereinbarung wurde am 06. Se ptember 2005 unterzeichnet und bezweckt die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen dem Bund, vertreten durch die Bundesministerien für Inneres, Verkehr, Finanzen, Landwirtschaft und Umwelt sowie den fünf Küstenländern auf der Nord- und Ostsee. 13 ISPS (International Ship and Port Facility Security Code, Internationaler Kode mit Schiffs- und Hafendaten).

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wirkung im Rahmen der Amtshilfe des Artikels 35 GG gemeint, die jedoch den Einsatz militärischer Mittel ausschließt. Die Vereinbarung wird als „das Funktionieren des Föderalismus“ gefeiert, die „die Militarisierung der inn eren Sicherheit“ verhindert. Jede an der asymmetrischen Bedrohung durch den internationalen Terror orientierte Analyse muss jedoch zu de m Schluss kommen, dass für die Ge währleistung der Seesicherheit die P olizeien die Zu ständigkeit besitzen, viele der zur Gef ahrenabwehr erforderlichen Mittel jedoch fehlen. Umgekehrt verfügt die deutsche Marine über viele der benötigten Fähigkeiten, hat aber keine Zuständigkeit. VIII. Das Havariekommando Nach der H avarie der „Pallas“ im Oktober 1998 w urde eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt, deren Auftrag lautete, die Havarie zu analysieren, das bisherige Notfallkonzept zu bewerten und Vorschläge zu dessen Weiterentwicklung zu unterbreiten. Als zentrale Empfehlung wurde der Aufbau eines „Havariekommandos“ als Einsatzleitung über alle Kräfte des Bundes und der Küstenländer, die bei schw eren Seeunfällen tätig werden, ausgesprochen. Das Havariekommando hat am 01. Jan uar 2003 in Cuxhaven seinen Dienst aufgenommen. Bei komplexen Schadenslagen14 wird ein Havariestab einberufen, der das ei nheitliche und koordinierte Vorgehen aller Einsatzkräfte ermöglicht. Eine Beteiligung der Bundeswehr ist nur bei der Logistik, bei Transporten über See zum Beispiel durch Helikopter sowie Zubringerdiensten an Land vorgesehen. Die Zuordnung des Havariekommandos zum MSZ ist vorgesehen, die bestehenden Zuständigkeiten der Fachbehörden bleiben jedoch unverändert. Es kommt also nicht zu einer Zusammenfassung der Dienste, die zur Gef ahrenabwehr eines Terrorangriffs gebraucht würden und das unter einheitlicher Führung, sondern nur zu ei ner räumlichen Zusammenlegung des MS Z als „Bürogemeinschaft“. Das GLZ führt das Ech tzeit-Lagebild (AIS-Küstennetz für die maritime Verkehrssicherung)15 und stellt es de m Havariekommando nur im Einsatzfall zur Verfügung. Das Havariekommando „lebt“ also normalerweise nicht in der L age. Eine technische Verbindung zum Marinehauptquartier des ___________ 14 § 1 Abs. 4 der Verordnung über das Havariekommando: Eine komplexe Schadenslage liegt vor, wenn eine Vielzahl von Menschenleben, Sachgüter von bedeutendem Wert, die Umwelt oder die Sicherheit und Leichtigkeit des Schiffsverkehrs gefährdet sind oder eine Störung dieser Schutzgüter bereits eingetreten ist und z ur Beseitigung dieser Gefahrenlage die Mittel und Kräfte des täglichen Dienstes nicht ausreichen oder eine einheitliche Führung mehrerer Aufgabenträger erforderlich ist. 15 AIS (Automatic Identification System, Automatisches Schiffsidentifizierungssystem).

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Flottenkommandos und der Lagebildaustausch mit dessen Marineführungs- und Informationssystems ist nicht vorgesehen. Es gibt eine Vielzahl von internationalen Vereinbarungen, die einen verantwortungsbewussten Schiffsbetrieb im Küstenmeer und auf hoher See rege ln und Gefahren erkennen, verhindern und bekämpfen helfen sollen. Zwischen völkerrechtlich-globalen, EU-regionalen und nationalen Regelungen besteht ein unübersehbarer Konflikt. Es darf keine Unsicherheit in Form von konkurrierenden Vorschriften zwischen Völkerrecht, EU-Recht und n ationalem Recht geben. Deutschland hat vielen internationalen Vereinbarungen im Rahmen von UN, NATO und EU zugestimmt, es jedoch häufig versäumt, die internationalen Regelungen in praktikables nationales Recht umzusetzen. IX. „Proliferation Security Initiative“ Als ein Beispiel sei die Ver hinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen genannt, für die in Deutschland und auf hoher See die Bundespolizei und der Zoll zuständig wären. Gemäß UN-Resolution Nr. 1540 vom 28. April 2004 s ind Massenvernichtungswaffen in nicht-staatlicher Hand unzulässig. Alle Staaten sollen sich der Unterstützung nicht-staatlicher Stellen bei der B eschaffung von Massenvernichtungswaffen enthalten und die n ationale Gesetzgebung zu diesem Ziel verschärfen und anwenden. Die R esolution enthält jedoch kein Transportverbot und keine neuen Kontrollrechte. Seit Herbs t 2003 verhandeln in P aris 15 Staate n, darunter Deutschland, die USA und Russland über neue Vorgehensweisen gegen die wachsende Gefahr von Massenvernichtungswaffen in der Hand v on Terrororganisationen oder Kriminellen. Diese „Proliferation Security Initiative“ (PSI), die für weitere Mitglieder offen steht, zielt auf die Ko ordinierung der Nachrichtendienste bei der Ver folgung und Durchsuchung von Transporten von Massenvernichtungswaffen – vorzugsweise per Sch iff, sowie auf die Ver stärkung der Z usammenarbeit untereinander und die Verschärfung der jeweiligen nationalen Gesetze. Mehrere Übungen der Seestreitkräfte und der hoheitlichen Dienste haben stattgefunden. Mehr als 60 Staaten haben Unterstützung zugesagt. Zur Schließung dieser Rechtslücken arbeiten PSI-Staaten an Gesetzesentwürfen, die i m Verdachtsfall eine Durchsuchung auf See gestatten würden. Die schon heute bestehenden Kontrollrechte bei Piraterie und Sklavenhandel, beim Drogenhandel und in der regionalen Fischereiaufsicht etwa innerhalb der EU sin d gewohnheitsrechtlich entstanden und können ein Vorbild liefern. Hier kann also neues Seerecht entstehen. Als Hemmschuh erweist sich häufig, dass die Marinen, wie in Deutschland so auch in den USA, keine Polizeiaufgaben auf See wahrnehmen dürfen. In den USA ist diese Lücke zunächst für die Bekämpfung des Drogenhandels, zuneh-

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mend aber auch für die Terrorabwehr dadurch geschlossen worden, dass sogenannte „Law Enforcement Detachments (LEDET)“ von acht bis zehn Personen der US-Küstenwache an Bord von Kriegsschiffen mitfahren. Kommt es zur Verfolgung und Untersuchung von verdächtigen Schiffen, so setzt das Kriegsschiff die Flagge der US Coast Guard und das LEDET-Personal wird tätig. Diese Modelllösung könnte auch für die de utsche Küstenwache und die Marin e übernommen und rechtlich verankert werden. Die komplizierte Kompetenzabgrenzung innerhalb der Bu ndesorgane und zwischen dem Bund und den Küstenländern erschwert die effektive und effiziente Gefahrenabwehr auf See. Das von den Verteidigern des „Verwaltungshandelns“ vorgebrachte Argument von den alleinigen „Kommunikationsschwierigkeiten“, die ü berwunden werden müssen, verdeckt die T atsache, dass in der Krise Führung gefordert ist und nicht nur Koordination der Z usammenarbeit. Das häufig benutzte Argument, man müsse zwischen äußerer und innerer Sicherheit unterscheiden, dass eine sei Bundes-, dass andere Länderangelegenheit bis hin zu der pole mischen Feststellung, dass „die Polizei nicht militarisiert“ werden dürfe, geht am Kern der Argumentation vorbei. Im Zeitalter der asymmetrischen terroristischen Bedrohung gibt es nur noch eine Sicherheit und die betroffene Bevölkerung hat keinerlei Verständnis für das Verschleppen der e rforderlichen Reformmaßnahmen. Vordringlichste Forderung ist daher die Schaffung einer einheitlichen „Deutschen Küstenwache“ mit zentraler Führung im Routinebetrieb und im Einsatz.16 Es geht um die rec htliche und organisatorische Zusammenfassung der v erschiedenen maritimen Hoheitsdienste von Bund und Küstenländern in einer „Deutschen Küstenwache“, die räumlich im Küstenmeer, in der Ausschließlichen Wirtschaftszone und auf hoher See z uständig ist für die allgemeine und besondere Gefahrenabwehr, polizeilichen Grenzschutz, die Fis chereiaufsicht und die Zollkontrolle auf See und die Verhinderung beziehungsweise Bekämpfung von Meeresverschmutzung. Viele dieser Aufgaben beruhen auf völkerrechtlichen Verpflichtungen, für deren Erfüllung die Bundesrepublik einstehen muss. Dazu zählen auch die Aufgaben der T errorabwehr, die auf See zu den Aufgaben einer Küstenwache gehören. Hierzu müssten entweder die B undesund Länderpolizeien eigene „militärische“ Einsatzmittel zur Terrorabwehr beschaffen, oder die Marin e müsste Vollzugsaufgaben erhalten. Noch bedenklicher ist, dass die politische Verantwortung im bisherigen zersplitterten System diffus bleibt. ___________ 16

Uwe Jenisch, Neue Maßnahmen für die maritime Sicherheit, abzurufen über www.dmkn.de. Prof. Dr. Jenisch hat eine Vielzahl von wichtigen Vorschlägen für eine bessere Seesicherheit gemacht, die hier weitgehend übernommen worden sind.

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Bei der Diskussion wird häufig unterschätzt, dass ständige Präsenz, laufende Überwachung des Seeraums und sofortige Interventionsfähigkeit im Bedarfsfall gegenüber fremden Schiffen zu jeder Tageszeit erforderlich sind, um Schiffssicherheit und Unfallmanagement zu gewährleisten. Im Ernstfall müssen alle Optionen zur Verfügung stehen und sofort abrufbar sein. Die Maßnahmen der ersten Stunde entscheiden häufig über Erfolg oder Miss erfolg. Sie müssen mit großer Verantwortung und Erfahrung auf der Grundlage weniger Informationen sofort getroffen werden, um Gefahren für Leben, Umwelt und Gesellschaft abzuwehren oder zu m indern. Deshalb ist la ngjährig gewachsene Autorität und Kompetenz in der Füh rungsebene, verbunden mit klaren Unterstellungs- und Weisungsrechten erforderlich. Gefahren- und Unfallmanagement zur See kann nur von polizeilichen und militärischen Experten bewältigt werden, nicht jedoch durch Politiker, die mit dem Mikrofon vor der Fernsehkamera führen wollen. Gleichwohl muss hinter einer Küstenwache eine klare politische Verantwortung stehen. Ein weiteres Argument für die zentrale Küstenwache ergibt sich daraus, dass man für die laufende Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten und eventuell mit einer europäischen Küstenwache einen zentralen Ansprechpartner braucht – oder soll eine zukünftige EU-Küstenwache mit etwa 15 deutschen Diensten zusammenarbeiten? Darüber hinaus hat eine wirkungsvolle „Küstenwache“ auch eine

Quelle: Presse- und Informationszentrum der Marine.

Abbildung 3: 20mm Schnellfeuerkanone auf einer Fregatte

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abschreckende Wirkung. Terroristen greifen unvorbereitete Gegner an un d scheuen die Konfrontation mit einer gut organisierten „Küstenwache“. Die „Deutsche Küstenwache“ kann auf dem bereits eingeschlagenen Weg schrittweise verwirklicht werden. Nachdem das Ha variekommando in der Z uständigkeit des Bundesverkehrsministers erfolgreich aufgebaut wurde, könnte es Bestandteil eines „Oberkommandos der Küstenwache“ sein. Als erster Schritt ist eine Zusammenfassung der maritimen Bundesdienste denkbar, was keine Grundgesetzänderung, sondern nur die Änderung einiger Bundesgesetze wie zum Beispiel des Seeaufgabengesetzes und die Kabinettsentscheidung über die Ressortzuständigkeit für eine deutsche Küstenwache erfordern würde. Für die Einbindung der Wass erschutzpolizei in eine zentrale Küstenwache wird man um eine Grundgesetzänderung wohl nicht herumkommen. Soweit gegen Terrorangriffe und organisierte Kriminalität die Mi ttel der Kü stenwache nicht ausreichen, bedarf es einer Rechtsgrundlage für den Einsatz der deutschen Marine, denn die Bekämpfung von massiven Terrorangriffen im deutschen Küstenvorfeld wie auch auf hoher See du rch die Marine ist nach gegenwärtiger Rechtslage unzulässig. Die Marine besitzt viele für die Terroristenentdeckung, abwehr und -bekämpfung benötigte Einsatzkräfte. Dazu zählen ABCAbwehrkräfte, der San itätsdienst, die Lu ft- und Seerettungskräfte, die B oardingteams mit Helikoptern und Booten, die Minensuche und -abwehr, die Luftabwehr und generell alle schwimmenden und fliegenden Kampf- und Unterstützungseinheiten mit schweren Waffen für den sprichwörtlichen „Schuss vor den Bug“. Einzig die Marine ist bei verschärfter Bedrohungslage rund um die Uhr, langandauernd, weiträumig und bei jedem Wetter in der Lage die betro ffenen Seegebiete aufzuklären und zu ü berwachen. Die Marine muss zum Schutz der Bevölkerung und des Küstenmeers, aber auch auf hoher See gegen Piraten, Terrorakte und organisierte Seekriminalität handlungsfähig sein. Dabei geht es nicht darum, der Marine Aufgaben des polizeilichen Tagesgeschäfts zu übertragen, sondern einzig um die Fähigkeit des B undes in Extremsituationen handeln zu können. X. Politisches Handeln ist dringlich Politisches Handeln ist dringlich, um die „Sicherheit im Seeraum“ besser als bisher zu regeln. Gerade wegen der komplexen Verquickung von Bundes-, Landes- und Völkerrecht und den zerf aserten nationalen Zuständigkeiten von fünf Küstenländern, fünf Bundesministerien und fünf (oder sind es inzwischen mehr?) „koordinierenden“ Behörden sollte ein „Seesicherheitsgesetz“ noch in dieser Legislaturperiode formuliert und verabschiedet werden. Es wäre ein trauriger Beweis politischer Handlungsunfähigkeit, wenn erst ein großangelegter Terroranschlag auf See oder im Hafen – die größtmögliche Katastrophe – das

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öffentliche Bewusstsein aufschrecken müsste. Diese streitige Diskussion muss ausgetragen werden, im Koalitionsvertrag von 2005, i m Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und im Entwurf des CDU-Parteiprogramms 2007 werden alle B ürger dazu aufgefordert. Am Ende muss ein Ergebnis stehen, das die Hei matverteidigung im Küstenmeer und die Wahrung deutscher Sicherheitsinteressen auf hoher See besser ermöglicht.

Rückbesinnung auf den verfassungsrechtlichen Auftrag und die internationale Verantwortung Deutschlands 9T

Von Eckart von Klaeden Folgt man den jüngsten Zahlen, ist die Bundeswehr nach wie vor ein fester Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaft. 86 Prozent der Bevölkerung haben ihr gegenüber eine positive Einstellung, so viele wie nie zuvor seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Für die Deb atte über Bundeswehreinsätze im Ausland gelten allerdings andere Zahlen. Die Deutschen verstehen die B undeswehr weiterhin als trad itionelle Verteidigungsarmee.1 Nur 37 P rozent der Bevölkerung befürworten den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Diese Skepsis, die sich auch in der parla mentarischen und politischen Diskussion widerspiegelt, steht im Gegensatz zur Realität. Seit ihrem ersten Auslandseinsatz im Rahmen der Mission UNAMIC in Kambodscha im Jahr 1992 hat sich die Bundeswehr an zahlreichen internationalen Missionen beteiligt und bisher rund 240.000 ih rer Soldaten im Ausland eingesetzt. Derzeit sind 6.837 Soldaten im Kosovo, Afghanistan, im Sudan, vor dem Horn von Afrika und in weiteren Ländern auf verschiedenen Kontinenten im Einsatz. Die Bundeswehr ist zu einer Armee im Einsatz geworden. Ein Grund für das verstärkte Engagement in internationalen Missionen sind nicht zuletzt die veränderten sicherheitspolitischen Bedingungen; vor allem die neuartigen und unberechenbaren Bedrohungen des transnationalen Terrorismus. Zudem bestimmen die Ver breitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte und globale Ungleichgewichte unsere Sic herheitsagenda. Das Überleben eines Staates kann heute von Entwicklungen abhängen, die vollständig außerhalb seiner eigenen Grenzen stattfinden. Erfolgreich können wir dieser Situation einzig durch eine globale Friedenssicherung begegnen. Vor alle m kol___________

Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der „29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD)“ am 2.3.2007 in Berlin. Der Text wurde für die Veröffentlichung aktualisiert und enthält daher auch Hinweise auf Ereignisse, die erst nach der Tagung stattfanden. 1 BMVg - Bevölkerungsbefragung 2006 (Durchführung TNS Emnid, Auswertung AkBwInfoKom) Sicherheitspolitische Lage 2006.

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lektive Sicherheitsbündnisse und Verteidigungsallianzen wie die Vereinten Nationen (VN), die N ATO, die OSZE, aber auch ein Staatenverbund wie die E uropäische Union spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Mit ihrem Einsatz in internationalen Verbänden trägt die B undeswehr zur internationalen Sicherheitsvorsorge bei und damit auch zur globalen Stabilität. Konzeptionell hat die Bundesregierung auf die veränderten Bedingungen reagiert. Zuletzt hat sie sich mit dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der B undeswehr 2 ausdrücklich zu den in ternationalen Verpflichtungen Deutschlands bekannt und eine auf diese ausgerichtete Transformation der deutsc hen Streitkräfte eingeleitet. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht der Begriff der „vernetzten Sicherheit“. Sicherheit kann danach weder rein militärisch noch allein national gewährleistet werden. Damit erhöht sich einerseits die Bedeutung eines umfassenden Ansatzes, der neben militärischen auch gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und k ulturelle Bedingungen einbezieht, andererseits wird die B edeutung internationaler und supranationaler Organisationen bzw. die Ko härenz und Handlungsfähigkeit der i nternationalen Staatengemeinschaft im militärischen und zivil-militärischen Bereich betont. Parallel zu der politischen De batte läuft die öffentliche, die geprägt ist von einer grundsätzlichen Ablehnung von Militäreinsätzen im Ausland. Ein großer Kritikpunkt in der politischen Debatte ist immer wieder die angeblich unzureichende Beteiligung des Parlaments an der En tscheidung über die Einsätze und ihre Ausgestaltung sowie an der vermeintlich mangelhaften Unterrichtung des Parlaments durch die Regierung während der Einsätze. Seit dem sogenannten Streitkräfteurteil des B undesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 19943 ist der v erfassungsrechtliche Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr weitgehend unumstritten.4 In der aktuellen Diskussion über den Umfang der parlamentarischen Beteiligung an Entscheidungen bezüglich deutscher Auslandseinsätze sind drei Aspekte des Urteils von besonderer Bedeutung.

___________ 2

Im Internet unter www.weissbuch.de abrufbar. BVerfGE 90, 286. 4 Dies b ezieht sich allerdings nur auf Einsätze der Bundeswehr im Rahmen eines UN-Mandats. Einsätze ohne UN-Mandat (wie im Kosovo) waren bisher noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es ist daher weiterhin strittig, ob ein Einsatz ohne ein solches Mandat nach Art. 24 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich zulässig ist. Die Möglichkeit der humanitären Intervention ist nicht von der Mehrheit der Staaten anerkannt und damit kein Völkergewohnheitsrecht. 3

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Zunächst ist es die Feststel lung, dass Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz (GG) die verfassungsrechtliche Grundlage für Einsätze deutscher Streitkräfte im Ausland ist, soweit diese im Rahmen eines „Systems kollektiver Sicherheit“5 stattfinden.6 Laut BVerfG fällt unter die „typischerweise mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System verbundenen Aufgaben [...] eine Verwendung der Bu ndeswehr zu Einsätze n, die im Rahmen und nach den Re geln dieses Systems stattfinden“.7 Hiernach gehören Auslandseinsätze der Bundeswehr zu den charakteristischen Aufgaben, die sich aus der Mitgliedschaft in „Systemen kollektiver Sicherheit“ ergeben. Geht man also davon aus, dass die sicherheitspolitische Bedeutung dieser Systeme aufgrund der genannten neuartigen globalen sicherheitspolitischen Herausforderungen wächst, vergrößert sich auc h dieser Aufgaben- und Verantwortungsbereich der n ationalen Streitkräfte und die Pflichten, die sich aus einer Mitgliedschaft ergeben. Eine weitere bedeutsame, aber selten beachtete Passage des Urteils is t die verfassungsrechtliche Beurteilung der Ex ekutivgewalt im Rahmen von Auslandseinsätzen. Laut BVerfG wird „der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit“ durch die Beteiligung und die Befugnisse des Parlaments nicht berührt. Zudem ist die Bundesregierung laut BVerfG „hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Ein sätze, die notwendige Koordination in und mit den Organen internationaler Organisationen“ in besonderem Maße zuständig.8 Hieraus ergibt sich ein hohes Maß an eigenverantwortlicher Handlungsbefugnis der Regierung, der das P arlament durch seine Entscheidung über den j eweiligen Einsatz z ugestimmt hat. Dieser Handlungsspielraum bezieht sich insbesondere auf operative Fragen, aber auch Dauer und Umfang eines Einsatzes sowie die Ausgestaltung und Koordination der Zusammenarbeit auf multilateraler und supranationaler Ebene. Mith in fallen diese Aufgaben in den Zuständigkeitsbereich der Exekutive. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland ergibt sich laut BVerfG aus dem verfassungsrechtlichen Wesent___________ 5

Als System kollektiver Sicherheit im verfassungsrechtlichen Sinn sind Systeme einzustufen, in denen die Mitglieder sich gegenseitig Sicherheit sowie Hilfe im Fall eines Angriffs durch einen Mitgliedstaat leisten (z.B. NAT O als klassisches Verteidigungsbündnis). Entsprechend der Funktion des Art. 24 Abs. 2 G G und a bweichend vom überwiegenden völkerrechtlichen Sprachgebrauch fallen hierunter aber auch Bündnisse zum Schutz gegen Angriffe durch Dritte; vgl. BVerfGE 90, 286 (349ff). 6 BVerfGE 90, 286 (345 ff.). 7 BVerfGE 90, 286. 8 BVerfGE 90, 286 (389).

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lichkeitsgrundsatz und den Grundsätzen und Traditionen der Wehrverfassung.9 In der politischen Diskussion spiegelt sich diese konstitutive Rolle des Bundestags im Begriff des „Parlamentsheeres“, eine Bezeichnung, die allzu häufig missverstanden wird. Denn das Ger icht stellt ebenfalls fest, dass der P arlamentsvorbehalt die „militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen“ dürfe. Die Bundeswehr ist nicht einzig dem Willen der Legislative unterstellt. Der Vorbehalt ist g erade nicht allumfassend. Vielmehr ist es im Wesentlichen die Entscheidung über das „Ob“, welche dem Parlament obliegt. Die Ausgestaltung des „Wie“ des jeweiligen Einsatzes fällt in den sogenannten „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis“. Die Beteiligung des Parlaments kann zudem je nach Inhalt abgestufter Intensität sein. Dies verdeutlicht das BVerfG mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, „Form und Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten“ und hier „je nach Anlass und Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte“ unterschiedliche Formen der Mitwirkung zu schaffen. Mithin ist eine Differenzierung der parlamentarischen Beteiligung gemessen an den Rahmenbedingungen des j eweiligen Einsatzes gewollt (z.B. Geheimhaltung oder operative Maßnahmen). Das Prinzip der f ormellen parlamentarischen Beteiligung muss zwar in jedem Fall gewährleistet sein, „Zeitpunkt und Intensität der Kontrolle des Parlaments“10 können aber je nach Dringlichkeit, Bedeutsamkeit des Einsatzes oder mit dem Einsatz verbundenen völkerrechtlichen Verpflichtungen unterschiedlich sein. Aufgabe des Gesetzgebers ist, die parlamentarische Mitwirkung so auszugestalten, dass sowohl der exeku tive Verantwortungsbereich als auch die Handlungsfähigkeit der Streitkräfte im Einzelfall gewahrt bleiben. Ein erster Ver such, diesem höchstgerichtlichen Auftrag nachzukommen, ist das Parlamentsbeteiligungsgesetz (PBG),11 welches seit 2004 in Kraft ist. Entsprechend der genannten Vorgaben des BVerfG enthält das Gesetz drei Formen der parlamentarischen Beteiligung. Das grundsätzliche Verfahren (§ 3 PBG) setzt ein en weitgehend konkretisierten Antrag der B undesregierung an den B undestag voraus. Darin müssen Angaben zu Einsatza uftrag, -gebiet, rechtlichen Grundlagen des Einsatzes, Höchstzahl der ein zusetzenden Soldaten, Fähigkeiten der ein zusetzenden ___________ 9

Der Vorbehalt bezieht sich auf alle Formen der Einsätze außer bei der Verwendung von Bundeswehrpersonal für Hilfsdienste und Hi lfeleistungen im A usland, sofern die Soldaten dabei nicht in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. 10 BVerfGE 90, 286 (389). 11 Abrufbar unter http://bundesrecht.juris.de/parlbg/BJNR077500005.html.

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Streitkräfte, der geplanten Dauer des Einsatzes und den voraussichtlichen Kosten gemacht werden. Durch diese Konkretisierungen wird die parlamentarische Beteiligung in besonderem Maß gestärkt. Für Einsätze geringerer Intensität enthält das PBG ein „Vereinfachtes Zustimmungsverfahren“. Wird also nur eine geringe Zahl von Soldaten außerhalb eines Krieges eingesetzt und sind die äußeren Umstände erkennbar von geringer Bedeutung (§ 4 Abs. 2), kann eine Zustimmung bereits durch die Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden, der Vorsitzenden des Auswärtigen, des Verteidigungsausschusses und der Obleute der F raktionen zustande kommen, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen nach Verteilung der Drucksache an alle Mit glieder des B undestags eine Befassung des B undestags durch eine Fraktion oder in Fraktionsstärke verlangt wird. Ebenfalls als Fälle geringerer Intensität werden Einsätze in Erkundungskommandos oder Einsätze einzelner Soldaten in verbündeten Streitkräften oder integrierten Verbänden der NATO, EU oder VN exemplarisch bezeichnet (§ 4 Abs. 3). Dieses Verfahren kann auch für die Verlängerung eines bereits bestehenden Mandats angewandt werden (§ 7). Entsprechend dem Urteil von 1994 bezieht das PBG die Möglichkeit der Gefahr im Verzug ein, um in diesen Fällen die Handlungsfähigkeit der Regierung sicherzustellen. Das PBG ermöglicht in § 5 den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland ohne die vorherige Zustimmung des Parlaments bei Gefahr im Verzug und dann, wenn eine besondere Gefahrenlage für Menschenleben eine Befassung des P arlaments vor dem Ei nsatz nicht zulässt. Dessen Zustimmung ist „unverzüglich“ nachzuholen.12 Das Initiativrecht liegt in jedem Fall bei der Exekutive. Zudem kann das Parlament dem jeweiligen Antrag lediglich zustimmen oder ihn ablehnen, ihn aber nicht modifizieren. Zudem hat der B undestag ein jederzeitiges Rückholrecht (§ 8) und ist während der Ei nsätze über deren Verlauf und ü ber die En twicklung im Einsatzgebiet zu unterrichten (§ 6). Gegenwärtig werden die Ob leute der Fraktionen sowie die Vo rsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden im Auswärtigen und Verteidigungsausschuss turnusmäßig und bei besonderen Anlässen unterrichtet. Zudem erfolgt durch die „Unterrichtung des Parlaments“ (UdP) eine schriftliche Unterrichtung des Bundesverteidigungsministeriums. Das PBG gewährleistet also in einfachgesetzlicher Form die Rechte des Parlaments und die Kontrolle der Exekutive im Rahmen von Bundeswehreinsätzen im Ausland. Bei seiner Anwendung gilt es jedoch, die Grenzen zwischen ver___________ 12 „Unverzüglich“ kann in diesem Fall nach umstrittener Ansicht sowohl „ohne schuldhaftes Zögern“ als auch „nach Wegfall der Gefahr“ bedeuten. Je nach Auslegung ergeben sich neue Anwendungsbereiche für den Einsatz deutscher Soldaten mit nachträglicher Zustimmung des Parlaments.

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fassungsrechtlich gewollter konstitutiver Parlamentsbeteiligung und exekutiver Eigenverantwortung nicht zu verwischen. Dies ist in der parla mentarischen Praxis bisher allerdings nicht gelungen. Insbesondere die Möglichkeit zur abgestuften Beteiligung des Parlaments wurde bisher nicht ausgeschöpft. Die politisc hen Umstände, vor allem die ablehnende Haltung gegenüber Bundeswehreinsätzen in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Opposition erfordern immer wieder eine ausführliche parlamentarische Befassung und eine breite öf fentliche Debatte. Es w ird regelmäßig das ausführliche Verfahren mit Antrag, mehreren Lesungen und parlamentarischer Abstimmung durchgeführt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das im März 2007 beschlossene Mandat zur Entsendung von 6 Recce-Tornados zur Unterstützung der ISAF-Truppen in Südafghanistan. Nach Ansicht vieler Fachleute wäre dies auch im Rahmen des z u diesem Zeitpunkt bereits besteh enden ISAF-Mandats möglich gewesen; politisch war es hingegen schließlich unmöglich, die Entsendung ohne ausführliche Befassung des Bundestags und ohne ein eigenes Mandat vorzunehmen. Das Mandat wurde zudem auf sechs Monate befristet. Erst mit der Abstimmung vom 12. Oktober 2007 wurden das T ornado- und das ISAF-Mandat zusammengelegt und in dieser For m verlängert. 13 Auch dies erfolgte in einem ausgiebigen Verfahren und nach einer umfassenden politischen Auseinandersetzung.14 Insgesamt nimmt das P arlament bei de n Entscheidungen über die En tsendung deutscher Soldaten i ns Ausland also ein e herausragende Rolle ein . Dies gilt nicht nur für die Entscheidung über die Entsendung, sondern – entgegen der eigentlichen Zuständigkeitsverteilung – auch für die Ausgestaltung der einzelnen Mandate. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet di e Exekutive selbst, indem sie bereits in ihren Anträgen die einzelnen Einsatzmodalitäten, wie Dauer des Einsatzes, Anzahl der Soldaten, Einsatzgebiete und Koordination im engen Rahmen vorgibt. Das Parlament kontrolliert nicht mehr nur, sondern anti___________ 13

Plenarprotokoll 16/119. So konnte man im Kölner-Stadt-Anzeiger vom 13.10.2007 lesen: „Der Bundestag hat das Volk überstimmt. Während in einer vom Kölner-Stadt-Anzeiger in Auftrag gegebenen Umfrage 61 Prozent der Menschen eine Fortsetzung des deutschen Afghanistan-Einsatzes abgelehnt haben, stimmten 78 Prozent der anwesenden Abgeordneten des Bundestages nun dafür. Dürfen die das? Ja, sie dürfen. Abgeordnete sind laut Verfassung nur ihrem Gewissen verpflichtet. Zudem hat ein Parlamentsvotum Folgen, ist also mit Verantwortung verbunden – in diesem Fall für Deutschlands Sicherheit, für die Afghanen, für das westliche Bündnis. Freilich war das gestrige Ja des Parlaments ein „Ja, aber“. Denn im Bundestag glaubt niemand mehr, dass es in Afghanistan irgendwie schon gutgehen werde. Vielmehr herrscht die Übe rzeugung vor, eigentlich noch mehr tun zu müssen. Dass dieser Überzeugung vorerst keine weiteren Taten folgen, hat wiederum mit den berechtigten Zweifeln der Menschen an dem Einsatz zu tun. Das Parlament sollte diesen Zweifeln nicht nachgeben, sondern die Mittel dem Ziel anpassen.“ 14

Verfassungsrechtlicher Auftrag

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zipiert die exeku tive Sorgfalt. Mit der Detailliertheit ihrer Anträge will die Exekutive einer Ablehnung im Parlament vorbeugen und dem Vorwurf entgehen, man wolle sich der parl amentarischen Kontrolle entziehen. Sie e ntledigt sich aber auch eines Teils ihrer Verantwortung für den ihr „gewährten Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis“. Diese Schieflage in den Zuständigkeitsbereichen von Exekutive und Legislative ist weniger auf die Vorgaben des PBG zurückzuführen als auf das S elbstverständnis der Verfassungsorgane. Der parlamentarischen Beteiligung wird zum Teil reflexartig der Vo rrang gegenüber den exekutiven Handlungsbefugnissen eingeräumt. Häufig erfolgt dies in der falschen Annahme, das Parlament müsse detaillierte Entscheidungen treffen, um eine ausreichende Legitimation militärischer Maßnahmen zu schaffen. Dies entspricht aber weder dem verfassungsrechtlichen Auftrag, noch verfügt der B undestag über die erf orderlichen Kenntnisse und Ressourcen. Der Bundestag muss sich auf seinen Verfassungsauftrag und damit auf das Wesentliche konzentrieren, das heißt den Rahmen für das Exekutivhandeln setzen, seine Einhaltung und das Handeln der Exekutive selbst kontrollieren. Ein erster Schritt zur Ver deutlichung der Aufgabenverteilung ist eine Reform des P BG. Das Gesetz l ässt in seiner jetzigen Fassung einen zu großen Interpretations- und Diskussionsraum über die Aufgaben des Parlaments und über den U mfang seiner Beteiligung. Zudem sind darin weder die besonderen Umstände der Entse ndung deutscher Soldaten im Rahmen von integrierten Verbänden noch operative Notwendigkeiten wie Geheimhaltung und Planung in ausreichender Form berücksichtigt. Eine Beteiligung an der NATO Response Force sowie an EU B attlegroups erfordert aber die Handlu ngsfähigkeit der Bundeswehr, damit erstere ihrem Charakter als schnelle Eingreiftruppe gerecht werden. Ist diese nicht in ausreichender Form gewährleistet, büßt Deutschland seine bündnispolitische Handlungsfähigkeit, Kompetenz und das Ver trauen seiner Bündnispartner ein und kann den sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht werden. 15 Institutionelle Reformen des Parlaments sind dagegen nicht erforderlich. Die jüngeren Vorschläge zur Einrichtung eines „Einsatzausschusses“, der die Kompetenzen des Parlaments bzw. der jeweils beteiligten Ressortausschüsse bei der Entsendung deutscher Soldaten ins Ausland bei sich bündelt und so eine effek___________ 15 Ein Ausgleich zwischen der erforderlichen parlamentarischen Beteiligung und der Gewährleistung der Erfüllung unserer Bündnisverpflichtungen könnte eine dauerhafte Bereitstellung von besonderen Bundeswehreinheiten für multinationale Eingreifverbände sein, über deren Aktivitäten der Bundestag regelmäßig zu informieren wäre. Damit wären Handlungsfähigkeit und Bündnisfähigkeit genauso gewahrt wie die verfassungsrechtlichen Erfordernisse der parlamentarischen Beteiligung.

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tive Kontrolle der Bundeswehr ermöglichen soll,16 ist jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder notwendig noch praktikabel. Erst als Reaktion auf und in Anpassung an die Einrichtung einer zentralen ressortübergreifenden Stelle a uf Seiten der Exekutive, z.B. durch die Installation eines Nationalen Sicherheitsberaters, wäre hieran auf parlamentarischer Seite zu den ken. Im Übrigen erscheint eine solche Maßnahme als eine bloße Verlagerung der Zuständigkeiten der Kontrollbefugnisse, die sich auch aufgrund des Selbstverständnisses der betroffenen Ausschüsse nicht umsetzen ließe. Eine solche Einrichtung verspricht im Vergleich zur heutigen Situation demnach keinen tatsächlichen Fortschritt. Das ursprüngliche Dilemma zwischen langwierigen parlamentarischen und politischen Entscheidungsprozessen und effektiver Einsatzfähigkeit wäre nicht gelöst. Denn dies beruh t weniger auf institutionellen Schwächen als auf einem Selbstverständnis Deutschlands in der A ußen- und Sicherheitspolitik, das die wesentlichen politischen Veränderungen der vergangenen Jahre noch nicht ausreichend einbezieht. Wir sind neuartigen Bedrohungen ausgesetzt, in Deutschland stehen sich keine Blöcke mehr gegenüber und Deutschland steht nicht mehr automatisch im Mittelpunkt der internationalen Politik. Deutschland wird von seinen Partnern und Verbündeten seit der Überwindung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und dem Ende der j ahrzehntelangen Teilung des Landes als verlässliche Demokratie anerkannt. Daran knüpft sich die E rwartung, dass Deutschland einen Beitrag in der internationalen (Sicherheitspolitik-)politik leistet, der seiner Größe und Wirtschaftskraft entspricht. Unseren Einfluss können wir hier nur wahren, wenn wir einen adäquaten Beitrag leisten und eine aktive Rolle ü bernehmen. Der enge Zusammenhang zwischen Einfluss, Gestaltungswillen und Einsatzbereitschaft wird in der breiten Öffentlichkeit noch nicht ausreichend gesehen. Eine Auswirkung davon ist die Diskussion über die v ermeintlich unzureichende Beteiligung des P arlaments an der En tscheidung über Auslandseinsätze. Das auf diese Weise offenbarte Selbstverständnis der Akteure wird weder den Notwendigkeiten einer modernen Außenund Sicherheitspolitik oder denen eines integrativen und effektiven Multilateralismus gerecht, noch entspricht es dem verfassungsrechtlichen Auftrag.

___________ 16

Timo Noetzel / Benjamin Schreer, Spezialkräfte der Bundeswehr. Strukturerfordernisse für den Auslandseinsatz, Berlin 2007, S. 20/21.

Das feldgraue Erbe Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär Von Daniel Niemetz Der folgende Beitrag basiert auf den Erkenntnissen der Dissertation des Autors, die 2006 unter dem Titel „Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachteinflüsse im Militär der SBZ/DDR“ erschienen ist.1 In nicht wenigen der hierzu erschienen Rezensionen und Medienbeiträge hat der Originaltitel allerdings dahingehend eine Änderung erfahren, dass der Kernbegriff „Wehrmachteinflüsse“ unter Hinzuziehung eines grammatikalisch unbegründeten Gentiv-S zu „Wehrmachtseinflüsse“ mutierte. Genauso wurden aus „Wehrmachtoffizieren“ kurzerhand „Wehrmachtsoffiziere“. Nun soll es im Folgenden nicht darum gehen, den betreffenden Redakteuren und Rezensenten eine mangelnde Kenntnis in der Anwendung des Ge nitivs unterstellen zu wollen. Schließlich würde wohl niemand von diesen ernsthaft von „Einflüssen“ oder „Offizieren der Wehrmachts“ sprechen. Genauso käme wohl keiner von ihnen auf die Idee, Bundeswehrsoffiziere oder Reichs wehrsoffiziere zu sagen. Wieso dann ab er Wehrmachtsoffiziere? Ganz einfach: Weil sich diese Variante in der Umgangssprache durchgesetzt hat und v on einer großen Mehrheit auch als richtige Schreibweise angesehen wird. Die grammatikalisch einwandfreie und fachsprachig korrekte Form ohne „Genitiv-S“ hat es gegen eine solche weitverbreitete Auffassung äußerst schwer. Ähnlich verhält es sich mit den Vo rstellungen, die bis heute über die Ei nflüsse der Wehrmacht im Militär der SBZ/DDR existieren. Vor allem das preußisch-deutsche Erscheinungsbild der Natio nalen Volksarmee in Uniform und Zeremoniell gilt vielen Menschen bis heute als sichtbarster Beweis für eine vermeintliche Kontinuität von NS-Wehrmacht und DDR-Volksarmee sowie von Drittem Reich und SED-Staat. Aber auch die Tatsache, dass ehemalige Offiziere und Generale der Deut schen Wehrmacht Einfluss auf Aufbau und Konsolidierung der D DR-Streitkräfte nahmen, hat dem SED-Staat beizeiten den Vorwurf eingebracht, ein Hort des „roten Militarismus“ zu sein, in dem sich gewissermaßen militaristische Erscheinungsformen der Vergangenheit mit ___________ 1

Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe. Die W ehrmachteinflüsse im Militär d er SBZ/DDR, Berlin 2006.

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kommunistischem Gedankengut der Gege nwart zu ein er unheilvollen Allianz vereinigten.2 Der restriktive öffentliche Umgang der SED mit dem „feldgrauen Erbe“ hat diesen Vorwurf nicht gerade entkräftet. Vor allem die ehemaligen Wehrmachtoffiziere in den Streitkräften waren für die öffentliche Diskussion in der DDR kein Thema. Denn selbstverständlich passte es nicht zum Anspruch einer sozialistischen Armee der „Arbeiter und Bauern“, dass ehemalige „Hitler-Offiziere“ und „Hitler-Generale“ bei deren Geburt eine maßgebliche Rolle gespielt haben sollen. Und was die unleugbaren Ähnlichkeiten von NVA und Wehrmacht im äußeren Erscheinungsbild anbelangte, so wurde dies mit dem Verweis auf die „progressiven Traditionen der deutschen Militärgeschichte“ abgetan.3 Auch d iese Geschichtsklitterung hatte zur Folge, dass sich bis heute Gerüchte und Phantasien über die Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär halten konnten, die mit den tatsächlichen Realitäten oft wenig zu tun haben. Denn feststeht: Die NVA war keine Neuauflage der Wehrmacht! Feststeht aber genauso: Die NVA war auch kein vollkommener Neuanfang ohne Anleihen an deutsche Militärtraditionen! Im Folgenden soll geklärt werden, wo und in welcher Form sich Einflüsse aus der Wehrmacht in den militärischen Formationen der SBZ/DDR – angefangen bei der Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA, 1949-1952),4 über die Kasernierte Volkspolizei (KVP, 1952-1956),5 bis hin zur NVA (1956-1990)6 – ___________ 2 Vgl. hierzu u.a. Bertram Otto, Hitler marschiert in der Sowjetzone, Bonn 1961; Thomas Falk, Ost-Berlin - Zentrum des Militarismus, Bonn / Celle 1961; Rudolph Kabel, Die Militarisierung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Bonn 1966; W. Grieneisen, Die sow jetdeutsche Nationalarmee. Aufbau und Entwicklung von 19481952, Berlin 1952; Vorstand der SPD (Hrsg.),Von der NS-Wehrmacht zur Nationalen Volksarmee. (Tatsachen und B erichte aus der Sowjetzone, Nr. 10); Olaf Kappelt, Braunbuch DDR. Nazis in der DDR, Berlin 1981; ders., Die Entnazifizierung in der SBZ, Hamburg 1997. 3 Vgl. v.a. die berühmte Rede des designierten Ministers für Nationale Verteidigung Willi Stoph am 18. J anuar 1956 vor der Volkskammer, in: Neues Deutschland, 19.1.1956. Vgl. hierzu auch die interne Argumentation der KVP-Führung in: BA-MA, DVH 3/2055, Protokoll Nr. 8 über die Sitzung des Kollegiums der KVP vom 19.12.1955. 4 Zur Geschichte der HVA und ihrer Vorläufer vgl. Bruno Thoß, Volksarmee schaffen - ohne Geschrei!, München 1994; Hans Ehlert, Die Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA) 1949-1952 in: Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 2 53280; Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee, Berlin 2001, S. 13-96. 5 Zur Geschichte der KVP vgl. ausführlich Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, ebd. 6 Zur Geschichte der NVA vgl. u.a. Rüdiger Wenzke, Die Na tionale Volksarmee (1956 - 1990), in: Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Im Dienste der Partei, Berlin 1998.

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bemerkbar gemacht haben; aber auch, wie die SED und die so wjetische Führungsmacht mit diesem ungeliebten wie zugleich unverzichtbaren „Erbe“ umgegangen sind. Dabei sollen ehemalige Wehrmachtangehörige sowohl als O bjekte als auch als Subjekte der Macht im Zentrum der Betrachtung stehen. Natürlich war die SED im Zuge des seit 1948/49 laufenden Aufbaus militärischer Formationen bestrebt, ein Offizierkorps zu schaffen, welches ihren sozialpolitischen Idealvorstellungen entsprach. Nach dem Motto „Waffen in Arbeiterhand!“ galt es die traditionelle Vormachtstellung des adligen bzw. bürgerlichen Elements im deutschen Offizierkorps 7 zu beseitigen. Ein Ansinnen, welches im Wesentlichen auch umgesetzt wurde.8 Jedoch ließ sich ein funktionierendes militärisches Machtorgan nicht ohne die Mithilfe erfahrener Spezialisten aufbauen. Die wenigen ehemaligen Spanienkämpfer, die es g ab, konnten diese Rolle aufgrund mangelnder Befähigung nicht übernehmen, auch wenn einige von ihnen – wie etwa der spätere Verteidigungsminister Heinz Hoffmann9 – von Beginn an maßgebliche KommandoFunktionen übernahmen.10 So war es unvermeidlich, dass ehemalige Wehrmachtangehörige von Beginn an am militärischen „Wiederaufbau“ in der SBZ/DDR beteiligt waren. Und zu diesen gehörten auch ehemalige Offiziere und Generale der d eutschen Wehrmacht. Dies geschah keineswegs ohne das Ei nverständnis der so wjetischen Führungsmacht. Ganz im Gegenteil! Wie in allen wesentlichen Fragen der Auf___________ 7

Zu den sogenannten „erwünschten Kreisen“ im deutschen Offizierkorps vgl. Detlef Bald, Sozialgeschichte der Rekrutierung des deutschen Offizierkorps von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, in: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Berichte, Heft 3, 1977, S. 15-47. 8 Im Juni 1951 be trug der Arbeiteranteil (soziale Herkunft) am Offizierkorps der HVA 91,5 Prozent. Zur selben Zeit waren 58,5 Prozent der Offiziere Mitglieder und Kandidaten der SED. Ausgezählt und errechnet nach: BA-MA, DVH 3/3878, Bl. 71-74, Struktur des Offiziersbestandes im Dienstbereich der HVA, 21.6.1951. Vgl. hierzu auch Rüdiger Wenzke, Auf dem Wege zur Kaderarmee. Aspekte der Rekrutierung, Sozialstruktur und personellen Entwicklung des entstehenden Militärs in der SBZ / DDR bis 1952/53, in: Bruno Thoß (Hrsg.), S. 205 – 272, S. 239-240; Stephan Fingerle, Waffen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offizierskorps der Nationalen Volksarmee und i hrer Vorläufer, Berlin 2001, S. 91-96. 9 Zum Werdegang Hoffmanns vgl. Paul Heider, Heinz Hoffmann - Parteifunktionär, Armeegeneral und Verteidigungsminister, in: Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse General! Die Militärelite der DDR in biografischen Skizzen, Berlin 2003, S. 241278; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA. Ein biographisches Handbuch, Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Berlin 2000, S. 113. 10 Einer namentlichen Aufstellung vom August 1950 zufolge befanden sich zu diesem Zeitpunkt mindestens 15 ehemalige deutsche Interbrigadisten im Dienstbereich der HVA. Vgl. BA-MA, DVH 3/3878, Bl. 50, Aufstellung über die im Dienstbereich der Hauptverwaltung für Ausbildung befindlichen ehem. Spanienkämpfer, 22.8.1950.

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rüstung und Militarisierung der SBZ/DDR nahmen die „Freunde“ auch in diesem Punkt entscheidenden Einfluss. So entließ die Sow jetunion im September 1948 in einer Sonderaktion 100 kriegsgefangene Offiziere und fünf Generale der ehemaligen Wehrmacht. Diese sollten in leitenden Funktionen den Aufbau kasernierter Polizeiverbände in der SBZ unterstützen und damit den Gru ndstock für ein künftiges Militär in Ostdeutschland schaffen.11 Außerdem stellte die SU im gleichen Zeitraum 5.000 ehemalige Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht für diesen Zweck zur Verfügung.12 In den f olgenden Jahren nahmen sowjetische Dienststellen in Deutschland, namentlich die SMAD bzw. deren Nachfolgerin SKK, entscheidenden Einfluss auf die Auswahl ehemaliger Wehrmachtangehöriger, insbesondere ehemaliger Offiziere, die für den Dienst in militärischen Formationen vorgesehen waren.13 Den Höhepunkt dieser Vorgänge bildete die von führenden SKK-Vertretern initiierte Anwerbung ehemaliger Wehrmacht-Generale und -Oberste mit NKFDVergangenheit für leitende Dienststellungen im Bereich der 1952 entstehenden NVA-Vorläuferin KVP.14 Aber auch auf materiellem und taktisch-operativem Gebiet nahmen die Sowjets von Anfang an entscheidenden Einfluss. Dazu gehörte auch die Ausstattung der kasernierten Volkspolizei-Formationen mit Waffenbeständen15 und Liegenschaften16 der ehe maligen Wehrmacht. Als langfristig noch bedeutender sind die 1953 für die künftigen Dienstvorschriften der „Nationalen Streitkräfte“ postulierte Devise „sozialistischer Inhalt, nationaler Charakter“ 17 sowie die Forderung der Sowjets nach Einführung einer „deutschen Uniform“ 18 im Zuge der ___________ 11

Vgl. Rüdiger Wenzke, Auf dem Wege zur Kaderarmee, S. 218, S. 224; Torsten Diedrich, Das Jahr der Rückkehr - ein Jahr der Aufrüstung, in: Anette Kaminsky (Hrsg.), Heimkehr 1948. Geschichte und Schicksale deutscher Kriegsgefangener, München 1998, S. 244; Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 53-56. 12 Vgl. BA-MA, Pt 7187, Bl. 84-88, Abschlußbericht über die Heimkehrertransporte, 7.10.1948. 13 Vgl. Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 59-62. 14 Vgl. ebd., S. 89-90. 15 Vgl. BA-MA, DVH 3/2073, Bl. 36-38, Bericht über Entstehung und Entwicklung der Kasernierten Volkspolizei, 16.12.1953. 16 Vgl. BA-MA, DVH 1/681, Bl. 42-46, Aufstellung über ehemalige wehrmachtfiskalische Liegenschaften, 10.7.1950. 17 Vgl. Klaus Ebel, Mein militärischer Weg in der DDR 1949 bis 1958. Unveröffentlichtes Manuskript, Potsdam, S. 5. 18 Vgl. Heinz Hoffmann, Moskau – Berlin. Erinnerungen an Freunde, Kampfgenossen und Zeitumstände, Berlin 1989, S. 309; Heinz Keßler, Zur Sache und zur Person, Berlin 1996, S. 234.

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NVA-Gründung 1956 zu werten. In beiden Fällen dürften jeweils deutschlandpolitische Interessen der sowjetischen Führung ausschlaggebend gewesen sein. Außerdem wurde die östl iche Siegermacht vermutlich auch von den eigenen positiven Erfahrungen bei der Einbindung nationaler Werte und Traditionen im Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges geleitet.19 So vertrat etwa der ehemalige Generalmajor der NVA und Major im Kessel von Stalingrad, Bernhard Bechler, der als Stellvertretender Chef des Stabes der KVP zwar selbst nicht unmittelbar an der Einführung der neuen „alten“ Uniform mitwirkte, jedoch zweifelsohne einen großen Einblick in die In terna der damaligen militärischen Spitze hatte, stets die Meinung: „Das äußere Bild sollte stärker die nationale Frage herausstellen. Und das war vielleicht für uns deutsche Menschen hier insgesamt ein stärkerer Magnet, als wenn wir uns hier rein nach sowjetischem Vorbild gerichtet hätten. [...] Und da standen natürlich auch die sowjetischen Genossen dahinter. Denn die betonten das ja immer wieder - die na tionale Frage mit Schwarz-Weiß-Rot im NKFD und a ll dem ganzen Quatsch. Das ist alles von der russischen Seite gekommen.“20

Andererseits achteten die „Freunde“ von Beginn an aber auch penibel darauf, dass ihre taktischen und operativen Grundsätze in den aufzubauenden ostdeutschen Koalitionsstreitkräften maßgeblich wurden. Nur dort, w o es der Kompatibilität der DDR -Armee im Felde keinen Abbruch tat, war man bereit, auf bestimmte deutsche Charakteristika einzugehen, so z. B. in Innendienst-, Standortdienst- und Wachfragen.21 In taktisch-operativer Hinsicht war die sowjetische Seite z u derartigen Kompromissen nicht bereit. Hier beharrte sie mit Siegerarroganz auf ihren Weltkriegserfahrungen. Dadurch waren Konflikte mit ehemaligen Wehrmachtoffizieren, die auf diesem Gebiet einen Rückschritt gegenüber dem deutschen Heer erkannten, unausweichlich.22 Zu den maßgeblichen Kritikern gehörte auch der Chef des Stabes der KVP (1952-56) bzw. erste Chef des Hau ptstabes der NV A (bis 1958) Generalleutnant Vincenz Müller,23 der vor allem gegen eine vorbehaltlose Übernahme sowjetischer Vorschriften und Gepflogenheiten intervenierte. Wie viele andere altgediente Wehrmachtoffiziere, weigerte sich auch der e hemalige Korpskom___________ 19

Vgl. Peter Gosztony, Die Rote Armee. Geschichte und Aufbau der sowjetischen Streitkräfte seit 1917, Wien / München / Zürich / New York 1983, S. 237-239. 20 Gesprächsprotokoll Bernhard Bechler, 20.1.1998. 21 Vgl. Klaus Ebel, S. 5; Heinz Hoffmann, S. 307-308. 22 Vgl. hierzu u.a. die entsprechenden Kontroversen beim KVP-Aufbau in: Daniel Niemetz, S. 112-114, S. 121-123. 23 Zur Person Müllers vgl. Torsten Diedrich, Vincenz Müller – Patriot im Zwiespalt, in: Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse General, S. 125-158; Peter Joachim Lapp, General bei Hitler und Ulbricht. Vincenz Müller – eine deutsche Karriere, Berlin 2003; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 146-147.

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mandeur der Wehrmacht, den Sieg der Sowjetarmee als das Res ultat einer generellen Überlegenheit der „Russen“, also auch auf taktisch-operativem Gebiet, anzuerkennen. So soll er sich diesbezüglich im September 1952 gegenüber seinem Stellvertreter Bechler geäußert haben: „Wir haben im Jahre 1941, als der Krieg gegen die Russen begann, gesehen, dass die Russen große Verluste und Schwächen gehabt haben. Das ist ein Resultat ihrer schlechten Taktik. Später haben sie einiges von uns übernommen, und seither wurde es besser. Ich kenne die russische Taktik nicht genau, es ist ab er so ein Mittelding zwischen der französischen und der alten preußischen Taktik. Sie haben sich hier und dort etwas weggenommen und das ist ihre Taktik.“ 24

An dieser S telle ist es nicht uninteressant, darauf h inzuweisen, dass vieles von dem, was die so wjetische Seite in taktischer Hinsicht in das f rühe DDRMilitär einzuführen gedachte bzw. einführte, in den 1920er Jahren - also in der Phase der erfolgreichen Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee 25 preußisch-deutschen Vorschriften entlehnt worden war. Diese Ding e kehrten jetzt gewissermaßen als „Nemesis“ an ihren Ursprungsort zurück. 26 Tat sich - unbeachtet einiger fachlicher Diskrepanzen - die sowjetische Führung aus pragmatischen Gründen zunächst einigermaßen leicht, ehe malige Wehrmachtangehörige samt deren Erfahrungen in die militärische Aufbauarbeit zu integrieren, so stell te dies für die SED ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Diese sah sich schließlich in die heikle Situation versetzt, einen Spagat zwischen der Bekämpfung des „Militarismus“ einerseits und der Einbindung von Personen und Erscheinungsformen, die in der Vergangenheit genau diesen „Militarismus“ repräsentiert hatten, andererseits zu vollziehen. Vor allem gegenüber den ehemaligen Offizieren der Wehrmacht betrieb die SED deshalb von Beginn an eine Politik zwischen Pragmatismus und ideologischem Dogmatismus. Einerseits war die P arteiführung im Zuge ihrer Aufrüstungsaktivitäten seit 1948/49 auf die Mithilfe der altgedienten Militärspezialis-

___________ 24 BStU, MfS, AGI 167/51 Bd. 1, Bl. 43, Aktennotiz der HA I, VP-Chefinspekteur Gronau, betr. Mitteilung Chefinspekteur Bechlers über Unterredung mit Stabschef Müller im Krankenhaus Karlshorst, 17.9.1952. 25 Zur Zusammenarbeit von Reichswehr und R oter Armee vgl. Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920 – 1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993; ders., Das Bild der Wehrmacht von Rußland und der Roten Armee zwischen 1933 und 1939, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Das Ru ßlandbild im Dritten Reich, Köln / Weimar / Wien 1994, S. 105-123. 26 Ein treffendes Beispiel hierfür ist der von sowjetischer Seite unternommene Versuch, den infanterietaktischen Begriff der „Feuerlinie“ in die HVA einzuführen. Vgl. Daniel Niemetz, S. 74-78.

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ten angewiesen. Andererseits galten die Ehemaligen ob ihrer Vergangenheiten in ideologischer Hinsicht als nicht unbedenklich. 27 Dieser Dualismus aus fachlicher Notwendigkeit und sozialpolitischem Anspruch spiegelte sich auch in den f ür diese Her kunftsgruppe geltenden Auswahlprinzipien wider. Zwar war man um die Einbindung möglichst vieler ehemaliger NKFD-Angehöriger, Absolventen der sowjetischen Antifa-Schulen und SED-Mitglieder bemüht, ließ ab er fachliche Auswahlkriterien keineswegs unberücksichtigt.28 Die Kateg orien der f ür die Kad erauswahl herangezogenen Fragebögen der Vo lkspolizei, die u .a. auch Angaben zu Spezialausbildungen, Militärschulen und Kriegsauszeichnungen der W ehrmacht einforderten, sind dafür Beweis; genauso wie die Tatsache, dass die Gru ppe der ehem aligen Wehrmachtoffiziere in den D DR-Streitkräften verhältnismäßig viele einstmals hochdekorierte Männer umfasste. Nach den P ersonalunterlagen ehemaliger Wehrmachtoffiziere in den DDR-Streitkräften, die de m Autor zur Ver fügung standen (207), befanden sich unter diesen Offizieren u.a. sechs Inhaber des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes, darunter ein Eichenlaub-Träger. Immerhin 96 Offiziere waren Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse, was etwa der Hälfte a ller Wehrmachtoffiziere im DDR-Militär (46,4 Prozent) entsprach.29 Die Motive der ehe maligen Wehrmachtoffiziere, allen ursprünglichen Vorsätzen zum Trotz, wenige Jahre nach Kriegsende erneut eine Waffe in die Hand zu nehmen, waren durchaus vielschichtig. Sie reichte n von beruflichem Fortkommensdenken, über Anwerbung unter Sanktionsandrohung bis hin zu politischer Überzeugung und der Ein sicht in einen als notwendig erachteten friedenssichernden Wehrbeitrag. Vor allem letzteres Moment darf keinesfalls unterschätzt werden. Die eigenen Kriegserlebnisse spielten dabei eine maßgebliche Rolle, was vor allem im Falle jener Offiziere deutlich wird, die der bei Stalingrad vernichteten 6. Armee angehört hatten. Die Eindrücke der Apokalypse an der W olga gipfelten für nicht wenige Offiziere im Beitritt z u den 1943 g egründeten Gefangenenorganisationen Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (NKFD) und Bund Deutscher Offiziere (BDO)30 und nicht selten sogar in der Ern euerung ihres Weltbildes.31 Jedoch ___________ 27

Vgl. u.a. BA-MA, DVH 1/34, Bl. 9, Jahresbericht über die Durchführung und den Stand der Ausbildung der HVA 1951, 29.12.1951. 28 Vgl. Daniel Niemetz, S. 60-64. 29 Ermittelt auf der Grundlage von 470 MfS-Erfassungen, die im Archiv der BStU zu insgesamt 335 ehemaligen Wehrmacht- und späteren NVA-Offizieren eingesehen werden konnten. Bei 207 Offizieren waren entsprechende Angaben zu Kriegsauszeichnungen vorhanden. 30 Zur Geschichte von NKFD und BDO vgl. u.a. Bodo Scheurig, Verräter oder Patrioten. Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943 - 1945, Berlin / Frankfurt a.M. 1996. Mit Blick auf das Institut 99

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wurden die Betreffenden keineswegs von heute auf morgen zu glühenden Anhängern des Marxismus-Leninismus, wie das Beispiel des einstigen Majors i.G. der Luftwaffe, Schülers der Zentralen Antifa-Schule Krasnogorsk und späteren Generalmajors der Luftstreitkräfte der NVA, Heinz Bernhard Zorn, 32 zeigt, der im Jahre 1987 über seine einstige politische Wandlung schrieb: „In dieser ganzen Zeit als Kursant und Assistent, ja auch noch nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, mußte ich durch Schule, Jugendbewegung, Elternhaus und nicht zu vergessen den Beruf, eingeimpfte, ja liebgewordene Anschauungen über Bord werfen. Viele Haltungen und Einstellungen hatte ich von neuen Aspekten her kritisch zu werten. Letztlich war das die Umwertung eines ganzen Menschen. Bis dahin war meine ‚Weltanschauung‘ ein Sammelsurium von ungeordneten und falschen Anschauungen. Es gab da nichts Geschlossenes. All das brach Stück für Stück auseinander von dem Neuen, was mir Stunde für Stunde zufloß. Dieses Umwerten dauerte oft lange und tat recht weh. Es war begleitet von Zweifeln und inneren Kämpfen. Die Lesenden sollen nicht glauben, dass das theoretisch gelehrte und auch gelernte sogleich in Denken, Fühlen und Tun umgesetzt wurde. Das war und ist ein Prozeß, der lange währte und noch währt.“33

Obwohl überwiegend dem politischen System in der DDR loyal ergeben und ursprünglich hart umworben, sahen sich die ehemaligen Wehrmachtoffiziere im DDR-Militär jedoch schon bald mit der Tatsache konfrontiert, zwar fachlich ausgenutzt, nicht jedoch wirklich beliebt zu sein. Für die Partei- und Politorgane galten die E hemaligen mehrheitlich als rückwärtsgewandte Nur-Fachleute, denen es am nötigen Klassenbewusstsein mangelte. Das MfS sah in ihnen vor allem ein Sicherheitsrisiko, das es du rch dezidierte Absicherungsmaßnahmen zu kontrollieren galt.34 Und das Verhalten der Kaderorgane war eine Mischung aus militärfachlichem Bedarfsdenken und ideologisch motivierter Vorgabeerfüllung. Zwar wurden ehemalige Wehrmachtoffiziere und Generale wie Vincenz Müller oder der ehe malige Kommandeur der 24. P anzerdivision der 6. ___________ vgl. Jörg Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943 – 1946, München 2001. 31 Zum Problem des politischen Wandlungsprozesses ehemaliger Wehrmacht- und späterer NVA-Offiziere in sowjetischer Gefangenschaft vgl. Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 17-36. 32 Zum Werdegang von Heinz Bernhard Zorn vgl. Heinz Bernhard Zorn, Zur Person - zum Werdegang, Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1988; Daniel Niemetz, Heinz Bernhard Zorn - Luftwaffenoffizier unter Göring und Ulbricht, in: Hans Ehlert / Armin Wagner, Genosse General, S.159-187; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 211. 33 Heinz Bernhard Zorn, Zur Person - zum Werdegang, S. 167-168. 34 So existieren allein zu jenen 452 ehemaligen Wehrmachtoffizieren, die sich Anfang 1957 noch im Dienstbereich der NVA befanden, 470 Erfassungen zu 335 Personen, wie eine bei der BStU ausgelöste Personenrecherche ergab.

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Armee und spätere Chef der Panzertruppen der NVA, Arno von Lenski, 35 - um nur zwei zu nennen - im Zuge des propagierten „Streitkräfteaufbaus“ 1952/53 verstärkt für militärische Spitzenpositionen angeworben und besetzten bis zu m Ende der 1950er Jahre überproportional viele Leitungsfunktionen, den klassenideologischen Leitgedanken - „Waffen in Arbeiterhand“ - gab die SED d ennoch nie auf. Trotzdem scheint eine vorzeitige Entfernung der ehemaligen Wehrmachtoffiziere ursprünglich nicht geplant gewesen zu sein. Der Mangel an geeigneten Nachfolgern machte einen Ersatz der überwiegend in hohen Kommando-, Stabs- und Lehrfunktionen eingesetzten Ehemaligen zunächst fast unmöglich. 36 Zwar dienten im NVA-Gründungsjahr 1956 nicht mehr als etwa 500 ehemalige Wehrmachtoffiziere in den Streitkräften (knapp 3 Prozent des G esamtOffizierkorps),37 doch stellte n diese Ehemaligen zu diesem Zeitpunkt immerhin: − 5 der 16 leitenden Generale des MfNV (rund 30 Prozent), − 25 Prozent der Obersten am MfNV (10 von 40), − 60 Prozent der Offiziere in der Verwaltung Ausbildung, − 28 Prozent der leitenden Offiziere an den Schulen, − 30 Prozent der Leitungsoffiziere in den Kommandos der Militärbezirke sowie − 57 Prozent (4 von 7) der Divisionskommandeure der NVA. 38 Erst außenpolitische Ereignisse wie vor allem der Un garn-Aufstand39 des Jahres 1956, an dem auch ehemalige Honvéd-Offiziere40 beteiligt waren, sowie ___________ 35 Zur Person Arno von Lenskis vgl. Rüdiger Wenzke, Arno von Lenski. NVAPanzergeneral mit preußischen Wurzeln, in: Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse General, S. 159-187; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 133-134; sowie die zeitgenössische Biographie von Helmut Welz, In letzter Stunde. Die Entscheidung des Generals Arno von Lenski, Berlin 1980. 36 Zur Ersatzproblematik vgl. u.a. BA-MA, DVW 1/2365, Bl. 6-12, Analyse des Offiziersbestandes der NVA, 15.1.1957. 37 Laut einer Personalstatistik der NVA-Kaderverwaltung sollen sich am 1. Januar 1957 genau 511 ehemalige Wehrmachtoffiziere in de n Streitkräften befunden haben. Vgl. BA-MA, DVW 1/22361, Bd. 1 , Personalstatistik über die Zusammensetzung des Offiziersbestandes der NVA. 38 Vgl. BStU, MfS, SdM 1201, Bl. 255-270, Einschätzung der Lage in der NVA, November 1956. 39 Zum Ungarnaufstand vgl. Géza Alföldy, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution, Freiheitskampf, Heidelberg 1997; György Litván, Die u ngarische Revolution 1956, in: Winfried Heinemann / Norb ert Wiggershaus (Hrsg.), Das internationale Krisenjahr 1956. Polen, Ungarn, Suez, München 1999, S. 148-161. Zur Darstellung der militärischen Ereignisse vgl. insbes. Alexandr Kyrow / Béla Zselicky, Ungarnkrise 1956. Lage-

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die angespannte innenpolitische Situation in der DDR 41 führten dazu, dass das Politbüro des ZK der SED am 15. Februar 1957 die sukzessive Entfernung aller ehemaligen Wehrmachtoffiziere aus der NVA beschloss. 42 Auch wenn Ersatzprobleme dafür sorgten, dass dieser B eschluss zunächst sehr schleppend umgesetzt wurde, kann die Ära der ehemaligen Wehrmachtoffiziere in den DDR-Streitkräften seit Ende 1959 als abg eschlossen betrachtet werden.43 Letzte sogenannte „Konzentrationen“ bestanden vor allem im Bereich der Militär wissenschaft sowie der Lehre.44 Die SED -Führung, die ei nst hartnäckig um die Mitwirkung der Ehemaligen am Streitkräfteaufbau geworben hatte, war am Ende ihrer stalinistischen Grunddogmatik gefolgt und hatte sich der alten Militärspezialisten, die einst den Offiziersrock der Wehrmacht getragen hatten, entledigt. Das Ausscheiden des Gros der ehem aligen Wehrmachtoffiziere bis En de 1959 bedeutete jedoch keineswegs das Ende des Einflusses ehemaliger Wehrmachtangehöriger auf die Geschicke der NVA insgesamt. Mit dem Abstieg der Ehemaligen ging der Aufstieg zweier ganz anderer Gruppen wehrmachtgedienter NVA-Offiziere einher, deren Marsch in die Führungsebenen der Streitkräfte zwar schon vor Jahren begonnen hatte, deren Ein bruch in die ein stmals von Ehemaligen gehaltenen Spitzenstellungen nun jedoch endgültig Realität wurde. Die Rede ist von den ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgraden der Wehrmacht. ___________ beurteilung und Vorgehen der sowjetischen Führung und A rmee, in: W infried Heinemann / Norbert Wiggershaus (Hrsg.), S. 95-133; Miklos Horváth, Militärgeschichtliche Aspekte der ungarischen Revolution und des Freiheitskampfes von 1956, in: Winfried Heinemann / Norb ert Wiggershaus (Hrsg.), S. 135-148; Peter Gosztony, Die Rote A rmee. Geschichte und Aufbau der sowjetischen Streitkräfte seit 1917, S. 334-339. 40 Zur Beteiligung ehemaliger Honvéd-Offiziere am Ungarn-Aufstand vgl. Béla K. Király, Die ungarischen Streitkräfte 1944-1956. Phasen der Umgestaltung, Wien 1990, S. 37; Géza Alföldy, Ungarn 1956, S. 22. 41 Vgl. Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, Mit „Zuckerbrot und Peitsche“ gegen das Volk. Die DDR u nd ihre bewaffneten Kräfte im Krisenjahr 1956, in: Winfried Heinemann / No rbert Wiggershaus (Hrsg.), Das internationale Krisenjahr 1956, S. 439-468; Dietrich Staritz, Geschichte der DDR, Frankfurt a.M. 1996, S. 151-169; Hermann Weber, Die DDR 1945-1990, München 1993, S. 45-52; Armin Mitter / Stefan Wolle, Untergang auf Raten: unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 252-260. 42 Vgl. SAPMO-BA, DY 30/J IV 2/2/528, Bl. 10-12, Anlage Nr. 2 zum Beschlußprotokoll Nr. 8/57 vom 15.02.1957. Vgl. auch die interne Beurteilung der damaligen Gegebenheiten in: Siegfried Otto, Über die Rolle des Zentralkomitees, S. 29-31. 43 Vgl. BA-MA, DVW 1/39568, Bl. 49-53, Bericht über die Durchführung des Beschlusses vom 15.2.1957, 3.8.1959. 44 Vgl. hierzu das entsprechende Kapitel in: Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 228-254.

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Auf die Gesa mtzahl aller ehe maligen Wehrmachtangehörigen in den DD RStreitkräften bezogen machten diese z weifelsohne die steileren und nachhaltigeren Karrieren.45 Als hundertprozentige „Arbeiter- und Bauernsöhne“ ohne „faschistische Offiziersvergangenheit“ brachten die einstigen Subalternen nach den Vorstellungen der SED die besseren sozialpolitischen Anlagen mit. Dies sowie ein in der Regel unbefangeneres Auftreten gegenüber den bestimmenden taktischen und operativen Grundsätzen des sowjetischen Waffenbruders waren letztlich ausschlaggebend dafür, dass den ehe maligen Subalternen und nicht den ehemaligen Offizieren die Zukunft gehörte. So entstammten gut 32 Prozent des Leitungsoffizierkorps der NVA (Nomenklaturkader) im Jahre 1960 dem Unterführerkorps der Wehrmacht (bei 8 Prozent Anteil am Gesamtoffizierkorps). Bei ehemaligen Mannschaften waren es 26 P rozent (bei 13 P rozent Anteil am Gesamtoffizierkorps).46 Seit 1972 standen zudem alle drei T eilstreitkräfte der NVA unter dem Ko mmando ehemaliger Wehrmacht-Unterführer: − Generalleutnant (seit 1976 Gen eraloberst) Horst Stechbarth (Wehrmachtdienstgrad: Unteroffizier), bis 1989 Chef der Landstreitkräfte;47 − Generalmajor (1974 Generalleutnant, 1979 Gen eraloberst) Wolfgang Reinhold (Wehrmachtdienstgrad: Feldwebel), bis 1989 Chef der Luftstreitkräfte / Luftverteidigung;48 − Vizeadmiral (1977 A dmiral) Wilhelm Ehm (Wehrmachtdienstgrad: Oberfunkmeister), bis 1987 Chef der Volksmarine. 49 ___________ 45 Von den insgesamt 377 zwischen 1952/56 und 1989 zu Generalen und Admiralen ernannten Angehörigen der KVP/NVA hatten 36 (9,5 Prozent) als Offiziere, 46 ( 12,2 Prozent) als Unteroffiziere und 57 (1 5,1, Prozent) als Mannschaftsdienstgrade in de r Wehrmacht gedient. Die Mehrzahl der zwischen 1952 und 1956 zu Generalen bzw. Admiralen ernannten ehemaligen Wehrmachtoffiziere schied allerdings bis 1959 aus dem aktiven Dienst aus, während 39 der 46 ehemaligen Unteroffiziere und 55 der 57 ehemaligen Mannschaftsdienstgrade zwischen 1960 und 1989 ihre Aufnahme in die höchste Dienstgradgruppe der DDR-Streitkräfte erfuhren. Ausgezählt und errechnet nach: Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 298-310. 46 Ausgezählt und errechnet nach: BA-MA, DVW 1/5496, Bl. 63 u. 73, Sozialpolitische Zusammensetzung der Leitungen vom Regiment an aufwärts, 1.1.1959 u. 1.1.1960. 47 Vgl. Klaus Froh, Horst Stechbart; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 182-183. 48 Vgl. Jürgen Willisch / Wolfgang Reinhold, Drei Jahrzehnte als General bei den DDR-Luftstreitkräften, in: Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse General!, S. 503-528; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und A dmirale der NVA, S. 162-163. 49 Vgl. Walter Jablonsky / Wilhelm Ehm, Vom Heeresfunker der Wehrmacht zum Chef der DDR-Volksmarine, in: Hans Ehlert / Armin Wagner (Hrsg.), Genosse Gene-

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Wenn man so will, führte die SED m it ihrer gezielten Förderung einstiger Subaltern-Grade unbewusst eine Kaderpolitik fort, die aus pragmatischen und ideologischen Gründen bereits in der Wehrmacht ihren Anfang genommen hatte (Stichwort: Förderung von Führerpersönlichkeiten aus dem Mannschaftsstand).50 Die damit einhergehende „Subalternisierung“ des Offizierkorps und der Generalität sollte den DDR-Streitkräften nicht guttun. Denn die meisten der ehemaligen Unteroffiziere und Feldwebel erwarben sich zwar auf sowjetischen Militärakademien das nötige fachliche Rüstzeug, um ihren höheren Aufgaben gerecht zu werden, ihre kommissigen Umgangsformen und ihr Barras-Gehabe legten viele von ihnen jedoch nicht mehr ab. Dienstgradniedere Offiziere oder Unteroffiziere in Gegenwart ihrer Untergebenen „rundzumachen“, somit auch deren Autorität zu untergraben, war zwar alles andere als ein Ideal „sozialistischer Umgangsformen“, jedoch in den DDR-Streitkräften durchaus keine Seltenheit. Und das ehe malige Subalterne der W ehrmacht dabei oft genug mit schlechtem Beispiel vorangingen, lässt sich an e iner Überzahl von Beispielen belegen. So wie die Betreffenden in früheren Tagen mit Rekruten umgesprungen waren, so verfuhren sie jetzt mit untergebenen Stabsoffizieren oder gar Generalen.51 Zusammenfassung Stellt man schließlich die Frage, welche Wehrmachteinflüsse in den DDRStreitkräften insgesamt zum Tragen gekommen sind und welche Rolle ehemalige Wehrmachtangehörige als Subjekte der Macht gespielt haben, lässt sich folgendes Fazit ziehen: Ihrer äußeren Form nach war die NVA die wehrmachtähnlichere der beiden deutschen Nachkriegsarmeen. Dieses Ersc heinungsbild war von der so wjetischen Führungsmacht eingefordert worden, die sic h davon eine Erhöhung der ___________ ral!, S. 363-385; Klaus Froh / Rüdiger Wenzke, Die Generale und Admirale der NVA, S. 89-90. 50 Zur sozialen Öffnung des deutschen Offizierkorps im Zweiten Weltkrieg vgl. Rudolf Absolon, Das Offizierkorps des Deutschen Heeres 1935-1945, in: Hanns Hubert Hofmann (Hrsg.), Das deutsche Offizierkorps 1860-1960, Boppard am Rhein 1980, S. 247-268; Detlef Bald, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr. Sozialstruktur des Militärs: Politik der Rekrutierung von Offizieren und Unteroffizieren, Frankfurt a.M. / Bern 1981, S. 70-71; sowie insbes. Bernhard R. Kroener, Auf dem Weg zu einer „nationalsozialistischen Volksarmee“. Die soziale Öffnung des Offizierkorps im Zweiten Weltkrieg, in: Martin Broszat (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, S. 651-682. 51 Zum Problem der ehemaligen Subalterngrade der Wehrmacht im Leitungsoffizierkorps der DDR-Streitkräfte vgl. Daniel Niemetz, Das feldgraue Erbe, S. 272-287.

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Attraktivität der „Deutschen Nationalarmee“ in Ost und West sowie möglicherweise auch eine Erhöhung ihrer eigenen deutschlandpolitischen Glaubwürdigkeit versprach. In ihrer taktisch-operativen Ausrichtung konnte es für die DDR-Streitkräfte keine Alternative zum sowjetischen Koalitionspartner geben. Während sich in der HVA, bedingt u.a. durch das Feh len einheitlicher Vorschriften, Wehrmachterfahrungen zunächst hatten durchsetzen können, wurde mit dem Aufbau der KVP das sowjetische Vorbild in alle n Fragen der Gliederung, der Ausbildung und des Einsatzes der Einheiten, Truppenteile und Verbände verbindlich. In Standort-, Dienst- und Wachfragen sowie in Fragen des Innendienstes entsprach man - mit sowjetischem Wohlwollen - weitgehend den deutschen Traditionen. Der subjektive Einfluss ehemaliger Wehrmachtangehöriger auf die Prägung des ostdeutschen Militärs war höher als es deren vergleichsweise geringe prozentuale Beteiligung suggeriert. Dabei sind drei Phasen zu unterscheiden: In der ersten Phase des militärischen Aufbaus von 1948/49 bis 1952 (HA GP/B und HVA) war der individuelle Einfluss einstiger Wehrmachtangehöriger am größten. Das Fehlen verbindlicher Vorschriften und ein ziemliches Kompetenzchaos zwischen den verschiedenen Handlungsebenen (Zentrale, SKK, sowjetische Berater in den Einheiten) boten den Offizieren der Schulen und Bereitschaften relative Freiräume. Als Lehr- und Ausbildungskräfte prägten ehemalige Offiziere und Unterführer mit ihren Erfahrungen nachhaltig die jüngeren Offiziersgenerationen. Bereits in dieser P hase hielten Formen der Men schenführung Einzug in die Truppe, die als „Barras-Methoden“ kritisiert wurden und die maßgeblich auf das Ko nto der ehe maligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht gehen. Die zweite Phase ging mit der Ver pflichtung hochrangiger ehemaliger Wehrmachtoffiziere (Generale und Oberste) durch die sow jetische Führungsmacht im Zuge des KVP-Aufbaus 1952 einher. Diese Ehemaligen waren mehrheitlich Traditionalisten, die das Wehrmachtvorbild auch in taktisch-operativen Fragen zum Leitbild machen wollten. Sie scheiterten am Veto der Sowjets und am Widerstand der Konformisten in der Generalität (u.a. auch ehemalige Offiziere), die aus prag matischen Gründen der so wjetischen Militärdoktrin anhingen. Trotzdem prägten beide Gruppen durch ihre Erfahrungen, ihr Auftreten und ihre Stabsarbeit die DDR-Streitkräfte nachhaltig. Zudem wurden in dieser Phase auch j ene Haupt-Dienstvorschriftarten unter der Leitung ehemaliger Wehrmachtoffiziere erarbeitet, die im Wesentlichen bis z um Ende der NVA Gültigkeit behalten sollten. Die dritte Phase schließlich war vor allem durch den Aufstieg der ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der W ehrmacht seit Mitte der

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1950er Jahre gekennzeichnet. Damit hielten auch Umgangsformen in das höhere Offizierkorps und die Gen eralität Einzug, die t ypisch für den Su balternbereich der W ehrmacht gewesen waren. Die nach den Säuberungsaktionen der Jahre 1957/59 im aktiven Dienst der NV A verbliebenen wenigen ehemaligen Wehrmachtoffiziere konzentrierten sich seither auf die B ereiche Ausbildung, Militärwissenschaft und Militärmedizin. Vor allem an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden hatten ehemalige Wehrmachtoffiziere als langjährige Fakultäts- und Lehrstuhlleiter einen prägenden Einfluss auf künftige Kommandeursgenerationen. Was die in der T ruppe vorhandenen militaristischen Erscheinungsformen angeht, so g ilt es festzuhalten, dass weder der militärischen, noch der polit ischen Führung in der DDR an ein er bewussten Inanspruchnahme derartiger Tendenzen gelegen war. Ganz im Gegenteil, denn über deren negative Auswirkungen auf die „sozialistische Soldatenpersönlichkeit“ war man sich sehr wohl im Klaren. Der Kampf gegen diese W erthaltungen musste jedoch erfolglos bleiben, da er zun ächst schwerpunktmäßig gerade gegen jene geführt wurde, die schon allein ob i hrer geringen Zahl hierfür nicht hauptverantwortlich gemacht werden konnten - die ehemaligen Offiziere der Wehrmacht. Gleichzeitig verlor man jedoch genau jene aus den Augen, die, wenn man so will, den „Militarismus des kleinen Mannes“ repräsentierten - nämlich die ehemaligen Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade der W ehrmacht. Zwar blieb auch deren zuweilen allzu offen zur Schau getragenes Barras-Gehabe keineswegs unbeanstandet, doch tat man sich sowohl von Seiten der Parteiorgane als auch des MfS alles andere als leicht, dagegen vorzugehen. Zu offensichtlich waren die Ähnlichkeiten zum Gesellschaftsgebaren der neuen, übergroßen, Vorbilder - den ehemaligen Spanienkämpfern und sowjetischen „Freunden“. Die negativen Folgen dieser Tendenzen und ihre Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Umgangsformen in den DD R-Streitkräften insgesamt sind nicht zu unterschätzen, trugen sie doch sehr wahrscheinlich das Ihrige dazu bei, viele junge Menschen, die in den DDR-Streitkräften ihren Wehrdienst versahen (immerhin 2,5 Millionen) zu desillusionieren und dem System endgültig zu entfremden.

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Der Auftrag der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik Von Marco Metzler I. Einleitung 1. Problemstellung Im Anspruchsspektrum von Staaten gehört die Unterhaltung von Streitkräften gewöhnlich zu den fundamentalen Vollwertigkeitskriterien. Im bürgerlichwestlichen Denken unterstützen sie al s elementares Instrument die Sich erheit und Handlungsfähigkeit des Landes, in erster Linie gegenüber anderen Mächten. Nur wenige Staaten erlauben es sich, wie etwa das vor allem aufgrund seiner geographischen Lage sicherheitspolitisch besonders gestellte Island, 1 keinen militärischen Arm zu führen. Der von den Sich erheits- und Handlungsfähigkeitsansprüchen abgeleitete allgemeine Auftrag der Streitkräfte bildet dabei ein unterschiedlich breites, gewöhnlich in mehrere Aufgaben teilbares Spektrum.2 Die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED), die von der „Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ (KPdSU) in der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) machtpolitisch privilegierte Partei, drängte frühzeitig infolge des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) auf eigene, deutsche bewaffnete Organe auf dem Territorium dieses Konstrukts. Nach einem längeren Prozess, in dem sie mit unterschiedlichen paramilitärischen Formationen, an deren Spitze die „Kasernierte Volkspolizei“ (KVP) stand, dahingehenden Ansprüchen zu genügen gedachte, verkündete Ostberlin im Januar 1956 per Ge setz die Sc haffung einer „Nationalen Volksarmee“ (NVA).3 Die marxistisch-leninistische SED, die die Abgrenzung von „reaktionären“ bürgerlichen bzw. „bourgeoisen“ Werten, einschließlich dem Sinn und Zweck des Militärs, suchte und deren höchste ide___________ 1

Der isländische Staat unterhält seit 1869 keine regulären Streitkräfte mehr. Beispielsweise ergibt sich der allgemeine Auftrag der Bundeswehr basierend auf dem Grundgesetz (GG) aus Landes- und Bü ndnisverteidigung (Art. 87a Abs. 1 und 3 GG), dem Einsatz im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme (Art. 24 Abs. 2 GG), dem Aufgebot im Falle des inneren Notstands (Art. 87a Abs. 4 GG), der Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG) und dem Schutz in Katastrophenlagen (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG). 3 Vgl. Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 18. Januar 1956, in: Die Na tionale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, Ostberlin 1961, S. 28. 2

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ologische Zielsetzung die Errichtung der klassenlosen, „wahrhaft friedlichen“ Gesellschaft, national wie global, war, stieß sich damit endgültig die T ür hin zur Verfügungsgewalt über eine alsbald vollwertige Armee auf. Das Augenmerk der f olgenden Seiten gilt dem Auftrag der Streitk räfte des sozialistischen deutschen Staates. Sie betr achten die Natio nale Volksarmee in der Epoche des deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“. Die Zeit nach der „Friedlichen Revolution“ in der DDR im Herbst 1989 bleibt ausgeklammert. Angesprochen werden die wichtigsten Aufgaben, zu deren W ahrnehmung die NVA für das sozialistische Land bereitstand. Welche sind zu identifizieren und was verbarg sich hinter ihnen? 2. Aufbau Der Abriss setzt mit einem Verweis auf die wichtigsten Institutionen zur Bestimmung des Streitkräfteauftrags innerhalb der DDR ein. Wert wird vor allem auf die Position der regierenden Partei gelegt. Es folgt die Dar stellung der Hauptaufgabe der NV A, des militärischen Schutzes von Land und Verbündeten, einschließlich und unter den P rämissen der von den Mächtigen dieser Sphäre vorangetragenen, regelmäßig mit der Losung „Frieden und Sozialismus“ propagierten Werte. Der dazugehörige dritte Gliederungspunkt ist der Schw erpunkt der Übers icht. Darin wird nach einem Rückblick auf die Kasernierte Volkspolizei sowie Angaben zu Ansprüchen der Mächtigen der Ostberliner Republik im Umfeld der offiziellen NVA-Gründung das primäre Aufgabenfeld der Armee anhand von Verfassung und Fahneneid identifiziert. Auf einen Abschnitt zur Symbiose von Landes- und Bündnisverteidigung folgt eine Analyse des Sozialismusschutzes. Die Erörterung der Friedenssicherung schließt sich an. Der Gliederungspunkt endet mit einem Verweis auf das Wechselverhältnis zwischen dem Auftrag der DDR-Streitkräfte und den Interessen der östlichen Führungsmacht. Der nachfolgende Part, der vierte Gliederungspunkt, gehört den vergleichsweise nachgeordneten Aufgaben der NVA. Während zuvörderst mit dem Dienst zur Etablierung im Kreise der Verbündeten und zur Untermauerung der staatlichen Souveränität solche Funktionen dargestellt werden, die die A rmee primär auf internationales Terrain führten, folgen mit dem Schutz der i nnerstaatlichen Ordnung, dem Beitrag zur politischen Erziehung und Integration der Bürger der R epublik, der Beg egnung ökonomischer Herausforderungen und dem Schutz gegen Katastrophen, diejenigen, mit denen sie vornehmlich innerhalb der DDR Wirkung entfalten sollte. Der Überblick arbeitet stark mit der of fiziösen Sprache des sozialis tischen Staates. Diese Vorgehensweise soll vor allem die Theorien hinter dem Denken

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der Mächtigen und den auf diese projizierten Stellenwert unterstreichen. Die Ausführungen basieren auf offiziellen Artikulationen der „Arbeiter- und Bauernmacht“ sowie seiner höchsten Repräsentanten. Dazu tritt zeitgenössische Literatur der DDR, die aufgrund der Strukturen des Staates weitgehend im Sinne wie mit der Sprach e der Her rschenden auffällt. Hilfreich sind darüber hinaus während des Ost-West-Konflikts in der Bundesrepublik verfasste und mehr noch nach der politischen Wende in der DDR im deutschsprachigen Raum entstandene Darstellungen. Zugleich werden insbesondere über das Bundesarchiv, vor allem über dessen Abteilungen in Freiburg i.Br. und in Berlin-Lichterfelde, zugängliche Dokumente der Arbeit sicherheits- bzw. militärpolitisch relevanter Organe der Ostberliner Republik einbezogen. II. Institutionen der Auftragsdefinition Unterschiedliche Institutionen des deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“ und unzählige Statements seiner Repräsentanten künden im Lebenszyklus der NVA vom Auftrag der Streitkräfte oder einzelnen Aspekten desselbigen. Innerhalb der DDR al s grundsätzlich für dessen Feststellung treten die In teressen und die Politik der SED auf. Gestützt von der KPdSU, der „führenden“ Partei der östlichen Hegemonialmacht, in gehobene Position gelangt und in steter Verpflichtung dieser gegenüber, lenkte sie die DD R basierend auf einem Anspruch, der für sie aus ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie abgeleitete gesellschaftspolitische Norm war. Nach intensiven Bemühungen der SED f undierten die „Wahrheiten“ dieser Weltanschauung die Ordnung des Landes im Anschluss an eine bis in die Frühzeit der 1960er Jah re währende Aufbauphase nahezu umfassend. Sie bestimmten analog dem sowjetischen Vorbild die sozialistische Partei, ausgestattet mit weitreichender ideologischer Deutungshoheit gegenüber dem Weltgeschehen und entsprechenden diktatorischen Handlungsvollmachten an dessen Spitze. In der dergestalt von ihr „geführten“ Gesellschaft offenbarte sie die fü r den A rmeeauftrag relevanten Momente zugleich über ihre Gremien und Politiker wie über staatliche Instanzen. Wichtige Feststellungen zum Auftrag der Streitkräfte treten aus Äußerungen und Entscheidungen der Partei, insbesondere ihrer höchsten Organe, 4 aus der ___________ 4 Vgl. aus der Reihe der Programme der SED statt vieler: Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, angenommen auf dem IX. Parteitag der SED in Berlin, Mai 1976, Ostberlin 1976, S. 81-90. Vgl. unter Parteitagsbeschlüssen statt v ieler: Beschluss des V. Parteitages der SED über den Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat, Ostberlin 1958. Vgl. statt v ieler unter Beschlüssen des Politbüros des ZK der SED: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 30/J IV 2/2/511, Bl. 8-16, Protokoll der Polit-

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Verfassung des Staates, dem Fahneneid der Soldaten und aus Gesetzen militärrechtlicher Natur, wie dem Gesetz zur Schaffung der Streitkräfte von 1956, den Verteidigungsgesetzen vom 20. September 1961 u nd vom 13. Ok tober 1978, dem „Gesetz über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht“ vom 24. Januar 1962 sowie dem Wehrdienstgesetz vom 25. März 198 2, hervor. Dazu widerspiegeln ihn Äußerungen der obersten staatlichen Sicherheits- bzw. militärischen Organe, darunter insbesondere Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrates der DDR (NV R) oder Beschlüsse, Befehle, Direktiven und Anordnungen des Ministers für Nationale Verteidigung. III. Hauptaufgabe: Militärischer Schutz von Land und Verbündeten, von Frieden und Sozialismus Für die Kasernierte Volkspolizei als dem „[…] bewaffnete(n) Organ der Diktatur des Proletariats […] in der Zeit der Festigung der Staatsmacht der Arbeiter und Bauern […]“ identifiziert offizielle DDR-Literatur die Ha uptaufgabe, „[…] die DDR vor reaktionären Anschlägen zu sichern, die von den noch nicht in das i mperialistische Kriegspaktsystem einbezogenen westdeutschen Imperialisten und Militaristen von ihrem Territorium und von Westberlin […] organisiert wurden, um die revolu tionären Errungenschaften der W erktätigen der DDR zu v ernichten, ein konterrevolutionäres Regime zu errich ten und einen neuen Kriegsherd zu schaffen. […] Ihr wurde nicht die Aufgabe gestellt, gegen eine imperialistische Aggression unter den Bedingungen eines modernen Krieges zu handeln. […]“5 Beim Eintritt in die KVP leistete der ang ehende „Polizist“ keinen Eid, jedoch unterzeichnete er ein e Verpflichtungserklärung. Darin ließ er sich auf den Di enst in einem, speziell für Polizisten, ungewöhnlich breiten Aufgabenfeld ein. Er gelobte: „[…] die DDR gegen alle inneren und äußeren Feinde unter Einsatz […] seines […] Lebens zu schützen und […] seinen […] Dienst treu, ehrlich und gewissenhaft überall dort zu versehen, wo es die Partei der Arbeiterklasse und die Regierung der DDR verlang(t)en. […]“ 6 Auffallend an der weit gefassten Formel ist die Bereitschaft zum Dienst selbst jenseits der DDR- Grenzen. Eine Einschränkung auf das St aatsgebiet der Os tberliner Republik erfolgt nicht. So tritt bereit s aus der Verpflichtungserklärung ___________ bürositzung vom 8. November 1956, Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen. 5 Günther Glaser, Die G ründung der Na tionalen Volksarmee der DDR - unerläßliches nationales Gebot, in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 1964, Heft 1, S. 5-20, hier S. 17. 6 Verpflichtungserklärung der Kasernierten Volkspolizei, zit. nach: Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Bremen 2002, S. 147.

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der gegenüber einer traditionellen Polizeitruppe abseitige Charakter der paramilitärischen KVP hervor. Der Zustand der Kasernierten Volkspolizei erlaubte es ihr allein tatsächlich nicht, aus dem Spektrum etwaiger äußerer Bedrohungen der DDR mehr als das Wirken gegen „reaktionäre Anschläge“ der noch nicht in den Nordatlantikpakt einbezogenen Bundesrepublik ernsthaft anzunehmen. Personell wie materiell mangelte es an entsprechendem Potential. So erreichte die KVP , inklusive der See- und Lufteinheiten, zwar bereits im Jahre 1952 einen ansehnlichen Bestand von rund 90.000 M ann, das Ausbildungsniveau der „Polizisten“ war jedoch vergleichsweise niedrig. Regelmäßig blieb es hinter den von der P artei- und Staatsführung auf sie projizierten Ansprüchen zurück. Dazu wirkten allgemein schlechte moralische Zustände negativ auf die Ei nsatzbereitschaft. Vor allem begrenzte die bis z um Ende ihrer Geschichte knapp bemessene Rüstung mit modernem militärischen Großgerät die Leistungsfähigkeit. 7 Praktisch war es der KVP in erster Linie vorbehalten, sich als Fundament eines über polizeiliche Aufgaben hinausgehenden Militärapparates zu organisieren. Der Auftrag der i m Zuge des Eintritts Westdeutschlands in die NATO und der Gründung der Bundeswehr errichteten regulären Streitkräfte sollte entsprechend der n euen sicherheitspolitischen Situation gegenüber demjenigen der „Polizeitruppe“ von gesteigerter Qualität sein. Mit dem „Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ bestimmte die Volkskammer am 18. Januar 1956, den regulären militärischen Arm der DDR „[…] zur Erhöhung der Ver teidigungsfähigkeit und der Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik […]“8 aufzubauen. Bereits wenige Tage vorher, am 13. Januar 1956, h atte das P olitbüro dem zwischen SED- und KPdSU-Spitze abgesprochenen Gesetzentwurf zugestimmt. 9 Das Zentrum des Auftrags der Armee formulierte Ostberlin, wobei die SED g erade in der Sich erheits-10 bzw. Militärpolitik stets den Anspruch ernst nahm, die ___________ 7 Vgl. zur personellen Entwicklung der KVP: Torsten Diedrich, Die Ka sernierte Volkspolizei (1952-1956), in: Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rü diger Wenzke, (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, B erlin 1998, S. 339-369, hier S. 342f. und 359. Vgl. zum Ausbildungsstand und zu den moralischen Verhältnissen: Ebd., S. 349-351 und S. 361f. Vgl. zur materiellen Ausstattung: Ebd., S. 343f. und S. 359-361. 8 Präambel des Gesetzes über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 18. Januar 1956, in: Die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, S. 28. 9 Vgl. SAPMO-BArch, DY/J IV 2/2 A/456, Bl. 1f. und 5, Protokoll der Politbürositzung vom 13. Januar 1956. 10 Zum Begriff „Sicherheitspolitik“ ist bemerkenswert, dass er in der DDR nicht gleich seiner westlichen Definition, d.h. zur Bezeichnung der gesellschaftlichen Bestrebungen zur Herbeiführung, Wahrung und Mehrung der äußeren Sicherheit eines Ge-

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„führende Rolle“ im Lande auszuüben, bereits im Vor- und Umfeld der Gesetzesverabschiedung derart, dass sie zugleich nationalen Interessen der DDR wie deren internationalen Verpflichtungen entsprach. Grundsätzlich beanspruchte die SED bereits frühzeitig, als sich der Abschluss des multilateralen östlichen Militärbündnisses, des Warschauer Paktes, und die Errichtung regulärer Streitkräfte der DDR 1954/55 abzeichneten, unter strikter Betonung der „Friedfertigkeit“ ihrer Politik eine konsequent an die „Partei der Arbeiterklasse“ gebundene, dem militärischen Schutz des Landes, der Verbündeten und der „Errungenschaften der Werktätigen“ dienende „Volksarmee“.11 Für den Auftrag einer Armee grundsätzlich sind gewöhnlich die v erfassungsmäßigen Bestimmungen und der v on den Soldaten zu leistende Fahneneid. Die Verfassung der DDR regelt ihn in der ab 1968 g ültigen Form genauer. Dort heißt es: „[…] Die Nationale Volksarmee und die anderen Organe der Landesverteidigung schützen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen. […]“12 Bereits im April 1956 wurde für die Angehörigen der Streit kräfte ein Eid eingeführt.13 Mit dem Übergang von der Freiwilligen- zur Wehrpflichtarmee im Jahre 1962 löste diesen eine überarbeitete, sich stark am sowjetischen Vorbild orientierende Fassung ab. 14 Mit dieser schworen die Rekruten u.a., der „[…] Deutschen Demokratischen Republik […] allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern___________ meinwesens, verwendet wurde. Einen gewissen analogen, mit ideologischen Bezügen unterfütterten Rang nahm der Terminus „Militärpolitik“ ein. Vgl. zur Ostberliner Lesart von Militärpolitik: Erich Bauer, Militärlexikon, Ostberlin 1971, s.v. Militärpolitik, S. 256f. 11 Zeitnah zur Einsetzung der regulären Armee formulierten die Gremien wie die Politiker der SED vielfältig deren Auftrag. Vgl. statt vieler: Beschluss der 25. Tagung des ZK der SED vom 27. Oktober 1955, in: Militärgeschichtliches Institut der DDR (Hrsg.), Die Militär- und Sicherheitspolitik der SED, Ostberlin 1988, S. 165f., hier S. 166. Vgl. zur offiziellen Rechtfertigung der Schaffung der NVA: Begründung des Gesetzentwurfs über die Schaffung einer Nationalen Volksarmee und eines Ministeriums für Nationale Verteidigung durch W. Stoph vom 18. Januar 1956, in: Die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, S. 30-46. 12 Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974, Ostberlin 1974. 13 Der 1956 eingeführte feierliche Schwur lautet: „[…] Ich schwöre: Meinem Vaterland, der Deutschen Demokratischen Republik, allzeit treu zu dienen, sie auf Befehl der Arbeiter- und Bauern-Regierung unter Einsatz meines Lebens gegen jeden Feind zu schützen; den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten; immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren. […].“ In: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/471, Bl. 25, Protokoll der Politbürositzung vom 10. April 1956, Anlage 4. 14 Vgl. den ab 1960 gültigen Fahneneid der Sowjetarmee: Sven Lange, S. 155.

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Regierung gegen jeden Feind zu schützen. […]“15 Beiderseits, in der Ver fassung wie im Eid, wird die Armee somit zum Schutz des Landes respektive seiner Bevölkerung unter den Vorzeichen der soziali stischen Gesellschaftsordnung aufgerufen. In beide Institutionen wob Ostberlin ebenfalls Bindungen und Verpflichtungen der NV A als der Armee eines Mitglieds der sozialist ischen Staatengemeinschaft bzw. des f ür diese L ändergruppe selbsternannten politisch-militärischen Hauptvertretungsorgans, des Warschauer Pakts, ein. 16 Diese stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem im Mai 1955 von der DDR unterzeichneten multilateralen Vertragswerk, insbesondere zum Artikel 4 W V und der dari n festgeschriebenen Beistandsklausel. So schworen die NVAAngehörigen ab 1962: „[…] An der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Nationalen Volksarmee jederzeit bereit zu sei n, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen […]“17. Die Ver fassung hält im Verbund zu den i nternationalen Verpflichtungen zudem die B etonung der f riedensorientierten Politik der DDR u nd ihrer Partner für nötig. Wörtlich pflegten die DDR-Streitkräfte: „[…] im Interesse der Wahrung des Frieden s und der Sicherung des s ozialistischen Staates e nge Waffenbrüderschaft mit den Armeen der So wjetunion und anderer sozialist ischer Staaten. […]“18 Das zu Beginn der NVA-Geschichte in Ostberlin kursie___________ 15

Im Ganzen lautet der Fahneneid der Wehrpflichtarmee: „[…] Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre: An der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Nationalen Volksarmee jederzeit bereit zu sein, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren. Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren. Sollte ich je mals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die Verachtung des werktätigen Volkes treffen. […]“ In: Günther Glaser (Hrsg.), Die NVA in der sozialistischen Verteidigungskoalition, Ostberlin 1982, S. 103. 16 Vgl. zur Aufnahme der Waffenbrüderschaft mit den „sozialistischen Bruderarmeen“ in den Fahneneid: L. Glaß, Der Fahneneid der Nationalen Volksarmee und di e Erziehung aller Armeeangehörigen zur sozialistischen Waffenbrüderschaft, in: Hermann Müller / Dieter Groll / Karli Arnold. (Hrsg.), Seite an Seite. Protokoll eines Kolloquiums zu Fragen der sozialistischen Waffenbrüderschaft, Ostberlin 1964, S. 86-96. 17 Fahneneid der Angehörigen der Nationalen Volksarmee vom 24. Januar 1962, in: Die NVA in der sozialistischen Verteidigungskoalition, S. 103. 18 Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974.

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rende Spektrum an Ansprüchen, eine Armee zum Schutze des Landes, der Verbündeten sowie der von ihnen präferierten, sozialistischen Werte zu sc haffen, setzten die Mäch tigen der Republik in Verfassung und Fahneneid konsequent um. Um militärisch ernsthaft zugleich zum Schutz des sozialistischen wie „friedliebenden“ Landes und der Verbündeten beitragen zu können, waren schon vor 1956 in der KVP nicht nur Grundlagen zur raschen Errichtung einer regulären nationalen Armee geschaffen, sondern darüber hinaus aktiv an der Bündnisfähigkeit der g eplanten Streitkräfte gearbeitet worden. So g ehörte es bereits zu den primären Zielen der „getarnten Armee“, 19 den funktionalen Abstand zu den Streitkräften der Partner zu verringern und Kompatibilität zu diesen herzustellen. Speziell im Anschluss an die „Moskauer Konferenz europäischer Länder“ vom 29. November bis 2. Dezember 1954, auf der die Teilnehmer ein multilaterales politisch-militärisches Bündnis sozialistischer Staaten bei Ratifizierung der Pariser Verträge ankündigten, 20 gewannen derartige Bemühungen an Fahrt. Die KVP passte sich an die potentiellen Verbündeten vor allem durch Orientierung an der So wjetarmee, dem Vorbild aller Streitk räfte der ostm itteleuropäischen volksdemokratischen Sphäre, an. So konstruierte sie die Divisionen ihrer „Landstreitkräfte“ genauso nach sowjetischem Muster wie sie sich in den Prämissen der Ausbildung ihrer Angehörigen am Militär bzw. der „Kriegskunst“ der östlichen Hegemonialmacht ausrichtete.21 Die NVA setzte die ein geschlagene Richtung stetig fort.22 In den militärpolitischen Vorstellungen Ostberlins galt für die Natio nale Volksarmee von deren Begründung an, dass sie im Falle eines Krieges mit der „imperialistischen Welt“ die DDR gemeinsam mit den Verbündeten, insbesondere mit den i m Lande stationierten sowjetischen Streitkräften, verteidigen würde. Die politisc h-militärische Elite erach tete speziell i n den j ungen Jahren ___________ 19 Vgl. Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee, Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952-1956, Berlin 2001. 20 Vgl. Deklaration der Moskauer Konferenz europäischer Länder zur Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit in Europa vom 2. D ezember 1954, in: Von der Moskauer Konferenz europäischer Länder bis zum Warschauer Vertrag, Ostberlin 1955, S. 9. 21 Vgl. Torsten Diedrich, Die K asernierte Volkspolizei (1952-1956), in: Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee, Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952-1956, Berlin 2001, S. 340f. 22 Planerisch wie praktisch war, ungeachtet dessen, dass der Kurs des Vorbilds auch unter den deutschen Militärs freilich nie gänzlich ungeteilte Zustimmung auf sich vereinte, die Orientierung an der „ruhmreichen Sowjetarmee“ stets höchst bedeutsam. Vgl. statt vieler zum Vorbildcharakter: Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), DVW 1/39520, Bl. 78-90, Protokoll der 59. Sitzung des NVR vom 23. November 1979, Die Entwicklung der NVA der DDR im Zeitraum von 1981 bis 1985.

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der NVA bis zu ein em gewissen Grade zudem Landesverteidigung abseits der Partner als realis tisch.23 Ihr schien ein militärischer, anfänglich stark bürgerkriegsähnlicher Konflikt zwischen beiden deutschen Staaten ohne direktes Eingreifen der Streitkräfte der jeweiligen Koalierten nicht ausgeschlossen. Vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre beschäftigten sie derartige Szenarien. Diskussionen in NATO und Bundesrepublik über die Möglichkeiten von nach Teilnehmern, Territorium und/oder Waffeneinsatz „begrenzten Kriegen“ verfehlten ihre Wirkung nicht. Abhängig von der politisc hen Situation befand die politisch-militärische Führung der DDR den alleinigen Kampf der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe der Republik gegen den Aggressor zumindest über eine kurze Zeitspanne hinweg für möglich. 24 Ein rasches Zerschlagen begrenzter Handlungen des Gegners, insbesondere der Bundesrepublik, aus eigener Kraft sol lte vor allem Raum zur Verhinderung eines „großen Krieges“ schaffen. 25 In dem Wunsch, allein erfolgreich einen westdeutschen Vorstoß abwehren zu können, mag anfänglich wohl auch ein gewisses Misstrauen gegenüber dem östlic hen Hegemon aufgrund seines langjährigen Gebrauchs der SBZ/DD R als latentes Handelsobjekt zwischen Ost und West nachgewirkt haben.26 Trotz der zu Beginn der 196 0er Jahre realisierten verstärkten Grenzsicherung, die begrenzte Eingriffe von bundesdeutschem Ge___________ 23 Die Möglichkeit, mit den bewaffneten Organen der DDR eigenständig aktiven militärischen Handlungen Westdeutschlands entgegnen zu müssen, tritt in der Arbeit der höchsten Sicherheitsorgane des „Arbeiter- und Bauernstaates“, wenn auch mit unterschiedlicher Deutlichkeit, mehrfach hervor. Vgl. BA-MA, DVW 1/1835, Bl. 9 0, Beschluss über Prinzipien für die Perspektivplanung 1961-1965 der Sicherheitskommission vom 15. A pril 1957; BA-MA, DVW 1/39561, Bl. 6, Protokoll der 19. Si tzung der Sicherheitskommission des ZK der SED vom 9. Januar 1958, Beschluss über die Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der DDR; SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/12/21, Bl. 56, Konzeption zur Auswertung des Brigadeeinsatzes im Ministeriums für Nationale Verteidigung von 1959. 24 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/12/38, Bl. 32, Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der Nationalen Volksarmee, Vorlage an die Sicherheitskommission vom 29. Juli 1959. Obwohl vor allem aufgrund des massiven fremdländischen Truppenaufgebots beiderseits der innerdeutschen Demarkationslinie ein solches Szenario praktisch schwierig war, erschien es f ür die politisch-militärische Elite Ostb erlins realistisch. Die Be istandsregelungen des NATO- als auch des Warschauer Vertrags erlaubten die Möglichkeit eines Krieges zwischen beiden deutschen Staaten ohne aktives Eingreifen der Koalierten allemal. Vgl. Art. 4 des Warschauer Vertrags, in: Boris Meissner, Das OstpaktSystem, Frankfurt a.M. / Westberlin 1955, S. 205. Vgl. Art. 5 des Nordatlantikvertrags, in: NATO Information Service (Hrsg.), Das Atlantische Bündnis. Tatsachen und Dokumente, Brüssel 1990, S. 405. 25 Vgl. BA-MA, DVW 1/39561, Bl. 3, Protokoll der 19. Sitzung der Sicherheitskommission des ZK der SED vom 9. Januar 1958, Beschluss über die Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der DDR. 26 Vgl. Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, München 1994.

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biet aus erschwerten, fühlte sich Ostberlin weiterhin, intensiver ab 1963 , von etwaigen, mit dem Kräfteeinsatz unterhalb der Sch welle zu einem konventionellen Krieg rangierenden Aktionen der Bundeswehr bedroht. Das Konzept des „verdeckten Kampfes“ der westdeutschen Streitkräfte weckte nunmehr entsprechende Ängste.27 Der Entwurf sah vor, mittels eingeschleuster Kleingruppen im Hinterland des Geg ners aus der dortigen Bevölkerung Banden zu rekr utieren, auszubilden und zum Aufruhr zu führen. Das Militär der Sowjetunion schätzte diese Vorhaben allerdings als wenig realistisch ein. 28 Es sic herte der DDR jedoch Beistand gegen derartige Feindseligkeiten zu. 29 In der Militärpolitik Ostberlins blieben „verdeckter Kampf“, vom Westen gesteuerte „Konterrevolution“ im eigenen Lande, militärische Konflikte lokalen Charakters wie räumlich oder in der Wahl der Mittel begrenzte Kriege, sowohl in Form gesonderter Aktionen der Bundesrepublik gegen die DDR als auc h als Vor- bzw. erste Stufe zu ei nem regulären Krieg zwischen den Militärblöcken, aktuell.30 Aufschwung nahmen entsprechende Szenarien durch den o ffiziellen Strategiewechsel der NATO im Mai 1967 von der „Massiven Vergeltung“ zur „Flexiblen Reaktion“. So wusste Verteidigungsminister Heinz Hoffmann wenige Monate nach diesem Akt dem NVR u.a. zu berichten, die „Flexible Reaktion“ räume „[…] territorial wie hinsichtlich der Waffenanwendung begrenzter Kriege größeren Raum ein; sie verbreitert insgesamt die S kala der Mittel un d Methoden der imperialistischen Aggression. […]“31 Die Bundeswehr sah er in Vorbereitung auf die neuen, breiteren Möglichkeiten. Auch wenn, so der Minister sinngemäß, das globale wie europäische Kräfteverhältnis die „westdeutschen Imperialisten“ von militärischen Provokationen größeren Ausmaßes abhalte, mit Aktionen unterhalb der Schw elle eines Kernwaffeneinsatzes müsse bei „etwaiger Instabilität“ jedoch gerechnet werden. Vor allem kontinuierliche Erhöhung der Gefechts- und Einsatzbereitschaft der NVA waren seine Schlussfolgerungen.32 Lebendig befasste sich die Militärpolitik der DDR mit der „Fle___________ 27

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1/319, Bl. 176f., 7. Tagung des ZK der SED vom 2. bis 5. Dezember 1964. 28 Vgl. BA-MA, AZN 28039, Bl. 1f., Andrej Gretschko (1903-1976), Oberkommandierender der Vereinten Streitkräfte (VSK) des Warschauer Pakts, an Heinz Hoffmann (1910-1985), Minister für Nationale Verteidigung der DDR, vom 12. Januar 1965. 29 Vgl. ebd.; BA-MA, DVW 1/39482, Bl. 2f., Protokoll der 25. Sitzung des NVR vom 26. Januar 1966. 30 Vgl. statt vieler: BA-MA, DVW 1/39485, Bl. 8, Protokoll der 28. Sitzung des NVR vom 26. Januar 1967, Grundsätze des Führungssystems im Verteidigungszustand. 31 Vgl. BA-MA, DVW 1/39486, Bl. 39 und 54, Protokoll der 29. Sitzung des NVR vom 1. Se ptember 1967, Die militärische Konzeption der Bonner Regierung und i hre Maßnahmen zur Erhöhung der Angriffskraft der Bundeswehr, Bericht des Ministers für Nationale Verteidigung. 32 Vgl. ebd., Bl. 43f. und 54-58.

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xibilität“, die die NATO mit der neuen Strategie ins Feld führte und mit welcher der „Kriegsblock“ nicht zwingend die Eskalation zu einem globalen thermonuklearen Krieg in einer militärisch „heißen“ Blockkonfrontation propagierte bzw. mit der er anderen „Aggressionsarten“ mehr Raum zugestand. Allein wider aktive Handlungen des Gegners zu stehen, trat für die Führer des „deutschen Arbeiter- und Bauernstaates“ zurück. Intensiv galt das Augenmerk allerdings Aktivitäten des W estens, die in der W ahl der Mittel un terhalb der Schwelle zu einem regulären Krieg lagen und als etwaige Vorstufe eines solchen festgestellt werden konnten. Bestätigung der breiten Mö glichkeiten der „Flexiblen Reaktion“ fand die politisch-militärische Elite der Ostberliner Republik bis zu r politischen Wende 1989 zu hauf. Regelmäßig identifizierte sie unterschiedliche Aggressionsformen in Plänen und Handlungen, speziell in militärischen Übungen, des Ge gners. Sie sah N ATO und Bundeswehr in deren „Aggressivität“ genauso auf „Diversion“, „Subversion“,33 psychologische Kriegführung und „verdeckten Kampf“ setzen, wie sich auf begrenzten konventionellen bis allgemeinen Kernwaffenkrieg vorbereiten.34 In der ers ten Hälfte der 196 0er Jahre, in der de r Warschauer Pakt zunehmend mit Leben gefüllt wurde, trat di e NVA indes in die „Erste Strategische Staffel“ der „Vereinten Streitkräfte“ (VSK) ein und etablierte sich als vollwertige Koalitionsarmee.35 Im Rahmen der Bündnisverteidigung oblag es ihr in ers___________ 33 Als Diversion wurde jede Art illegaler Störungen durch „imperialistische Agenten“ oder demoralisierte Elemente im Inneren eines Landes definiert, die die bestehende sozialistische oder „fortschrittliche demokratische“ Staats- und Gesellschaftsform zu schädigen oder zu stürzen versucht. Sie galt als Bestandteil der Subversion, d.h. offener oder versteckter konterrevolutionärer Tätigkeiten des „Imperialismus“ wie der „Reaktion“, um das internationale Kräftegleichgewicht zu ihren Gunsten zu verändern. Zur Subversion gehörten Planung, Organisation und Durchführung unterschiedlicher Maßnahmen und Aktionen zur Untergrabung der politischen, ökonomischen und militärischen Grundlagen der sozialistischen bzw. „fortschrittlichen“ Staaten. 34 Vgl. statt vieler: BA-MA, DVW 1/39492, Bl. 13-26, Protokoll der 35. Sitzung des NVR vom 12. N ovember 1968, Bericht des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR über die NATO-Kommandostabsübung „FALLEX 68“; BA-MA, DVW 1/39506, Bl. 52-62, insb. Bl. 56 und 58f., Protokoll der 47. Sitzung des NVR vom 3. Juli 1975, Bericht des Stellvertreters des Ministers für Nationale Verteidigung, Die wichtigsten Ergebnisse der strategischen Kommandostabsübung der NATO „WINTEX 75“; BA-MA, DVW 1/39531, Bl. 57 und 60, Protokoll der 70. Sitzung des NVR vom 31. Mai 1985, Bericht des Chefs Aufklärung des MfNV, Information über die Einschätzung der strategischen Kommandostabsübung „WINTEX/CIMEX 85“. 35 Vgl. zur frühen Geschichte des Warschauer Pakts: Vojtech Mastny, The Warsaw Pact as History, in: Vojtech Mastny, / M. Byrne,. (Hrsg.), A Cardboard Castle? An inside History of the Warsaw Pact. 1955-1991, Budapest; New York 2005, 1-74, hier S. 128. Vgl. zur Etablierung der NVA als Koalitionsarmee: Rüdiger Wenzke, Die Nationale Volksarmee (1956-1990), in: Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke, (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 423535, hier S. 442, S. 448-451.

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ter Linie, sollte das Handeln des Gegners, d.h. primär dasjenige der NATO, einen regulären Krieg provozieren, gemäß den strategischen Planungen des Warschauer Pakts bzw. seiner Führungsmacht mit nunmehr ernsthaftem Beitrag vor allem gemeinsam mit der Sowjetarmee in Europa sofort zum (Gegen-)Angriff überzugehen. Es hieß, den Krieg auf das Territorium des Gegners zu tragen, ihn dort zu führen und zu gewinnen. Im Westen mussten diese militärdoktrinären Vorstellungen freilich aggressiv wahrgenommen werden. Erst in der Mitte der 1980er Jahre begannen die sowjetischen Strategen der defensiven Kriegführung vergleichsweise mehr Bedeutung einzuräumen, was mit der im Mai 1987 v om „Politischen Beratenden Ausschuss“ (PBA), dem höchsten politischen Gremium des östlichen Bündnisses, offiziell eingesetzten „Verteidigungsdoktrin“ seinen sichtbarsten Ausdruck fand.36 Mit der Entspannung des Ost-West-Konflikts sowie der v oranschreitenden Krise der Warschauer Paktgemeinschaft in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und in rasanten Schritten schließlich mit den Revolutionen im ostmitteleuropäischen Raum am Ende dieses Jahrzehnts sollten die Bindungen zwischen den Ostblockstaaten, um die die SED stets eine der härtesten Kämpferinnen war, nachhaltig aufweichen. Mit der Aufhebung der Gültigkeit des multilateralen Bündnisses von Warschau für die DDR am 24. September 1990 v erabschiedete sich der Staat wie dessen Armee formal endgültig von den Verpflichtungen des östlichen Bündnisses. 37 Die in der Verfassung wie im Fahneneid zur Auftragsbeschreibung der NVA verwendete Sprache vermittelt durch die Termini „schützen“ und „verteidigen“ einen defensiv-begrenzten Eindruck. In beiden Instanzen tritt die Streit macht als Antwort auf eine Bedrohung des Landes und seiner Verbündeten mitsamt der von ihnen favorisierten Gesellschaftsordnung auf. In Wechselwirkung zu den steten Hinweisen der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die Errichtung der Armee sei in direkter Reaktion auf die „aggressive“ Politik der Bundesrepublik geschehen, war dies nur folgerichtig.38 Der die Armee an die Ideologie der sozialistischen Partei bindende Kontext, in den die B egrifflichkeiten eingebettet sind, gestattete es allerdi ngs, ein ungewöhnlich breites Spektrum an „Schutz“ als auftragslegitim anzuerkennen. So empfand sich trotz der in Eid und Verfassung verwendeten Sprache sowie der umfassenden Möglichkeiten der Mächti___________ 36

Vojtech Mastny, S. 61. Vgl. zum Zerfall d es Warschauer Pakts: Frank Umbach, Das rote Bündnis, Entwicklung und Zerfall des Warschauer Paktes 1955-1991, Berlin 2005, S. 321-573. 38 Vgl. zur Schaffung der NVA in Reaktion auf die Politik von Bundesrepublik und NATO statt vieler: Militärgeschichtliches Institut der DDR (Hrsg.), Die Militär- und Sicherheitspolitik der SED 1945 bis 1988, S. 172; Reinhard Brühl (Hrsg.), Armee für Frieden und Sozialismus. Geschichte der Nationalen Volksarmee, Ostberlin 1985, S. 78f. 37

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gen in Ostberlin, den Auftrag grundsätzlich defensiv zu verstehen, speziell die kapitalistische Welt einer vergleichsweise offensiven Armee gegenüber. Eindrucksvoll widerspiegeln die Verfassung der Republik und der Fahneneid der Streitkräfte die herausragende Stellung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung wie den Führungsanspruch der sozialistischen Partei. Beide Institutionen treten sprachlich und inhaltlich als Ergebnis des ideologischen Denkens der SED auf und übertragen dessen Maßgaben als verpflichtend auf die Gesellschaft bzw. den Soldaten. Namentlich den Führungsanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ stellt die Verfassung von 1968 bereits in ihrem ersten Artikel explizit fest.39 Im Eid der Wehrpflichtarmee, wie in demjenigen der Streitkräfte unter dem Freiwilligenprinzip und in der Verpflichtungserklärung der KVP, erscheinen SED und staatliche Führung als Ei nheit.40 Eine Regierung ohne die sozialistische Partei sowie eine DDR abseits ihrer Anleitung tritt in Verfassung und Fahneneid als nicht möglich auf. Der eidesstattlichen und verfassungsmäßigen Verpflichtung, den Soz ialismus respektive dessen Errungenschaften zu schützen, wohnt die maßgebende Position der Ideologie einschließlich des Führungsanspruches der sozialistischen Partei über Gesellschaft wie Armee zudem grundsätzlich inne. Mit der Ideo logie der SED trat das, in sbesondere dem weltpolitisch westlichen Block gegenüber, offensive Moment in den Streitkräfteauftrag. 41 Fundamentaler Bestandteil der W eltanschauung der P artei war die materialistische Geschichtsphilosophie nach Karl Marx (1818-1883). Diese versteht die G eschichte als ei ne Entwicklung der m enschlichen Gesellschaft vom Niederen zum Höheren. Klassenkampf treibt diesen Prozess voran. Die Geschichte setzt mit der ersten Klassengesellschaft, der Sk lavenhaltergesellschaft, ein und ergießt sich nach den aufeinanderfolgenden Zeitaltern des Feudalismus und Kapitalismus im Sozialismus / Ko mmunismus bzw. der klass enlosen Gesellschaft. Marx stellt diesen Werdegang als Gesetzmäßigkeit von globaler Tragweite fest. Mit der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, so glaubten die marxistisch-leninistischen Parteien der Welt, sei die Menschheit in der „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ angekommen. Nun würde in einem revolutionären, von der A rbeiterklasse zu erfechtenden Übergang die „fortschrittliche“ sozialistische die „rückständige“ kapitalistische Gesell___________ 39 Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. 40 Sven Lange, S. 147f. und S. 154f. 41 Im Verbund mit den speziell bis 1987 dominierenden militärstrategischen Vorstellungen des Warschauer Pakts bzw. der östlichen Hegemonialmacht mit dem besonderen Stellenwert des Angriffs und der Prämisse, einen Krieg auf dem Territorium des Gegners auszutragen, nahm der Westen den Ostblock umso aggressiver wahr.

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schaftsordnung im Weltmaßstab ablösen. Das Militär konnte im Ringen der antagonistischen Gesellschaftsordnungen bzw. ihrer Träger nicht abseits stehen. Wie in der SED -Ideologie jede Armee als Machtinstrument zur Durchsetzung und Wahrung von Klasseninteressen galt, hatten die Streitkräf te von durch Arbeiter beherrschten Staaten deren Ansprüchen und geschichtlichen Gebundenheiten zu entsprechen. Die Armee des P roletariats musste militärisch den „Klassenauftrag“ ihrer sozialen Schicht annehmen. So bedeutete die Verpflichtung auf SED wie Sozialismus und die dem innewohnende Bindung an den Marxismus-Leninismus für die N VA nicht nur defensiven Schutz des die sozialistische Gesellschaftsordnung erreichten und diese i ntern weiter aufbauenden Landes sowie der einen ähnlichen Status erklommenen Verbündeten, es schloss die „Verteidigung“ des globalen historisch-gesellschaftlichen Fortschritts, mitsamt seines offensiv voranschreitenden Charakters, ein. Eidesstattlich „[…] den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen […]“42, hieß für die NVA-Angehörigen somit auch, die Durchsetzung des Sozialismus/Kommunismus im weltumspannenden Maßstab zu unterstützen. Verfassungsmäßig bereit zu sein, „[…] die sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen […]“43 zu schü tzen, bedeutete ebenso die An erkennung des Offensivmoments. Die sprachlichen Einengungen des Verfassungsartikels wirken in marxistisch-leninistischer Lesart keineswegs beschränkend. Da ein erseits die Arbeiterklasse, einschließlich der Bauern die Masse eines jeden „Volkes“, als internationale Gemeinschaft mit weltweit identischen sozialen Interessen galt, kam die Gefährdung der „sozialistischen Errungenschaften“ eines Volkes einer Bedrohung derjenigen der anderen Völker gleich. Das ebenfalls in die Verfassung eingebettete Moment des proletarischen Internationalismus mahnte hierbei zu Solidarität mit den Bedrückten.44 Andererseits konnte unter den ideologisch festgestellten Bedingungen des weltumspannenden Klassenkampfes zwischen „Imperialismus“ und Sozialismus ein „Angriff“ auf den voranschreitenden „gesellschaftlichen Fortschritt“ stets großzügig anerkannt werden. Selbst eindämmende Maßnahmen oder ein Sich-wehren gegen den „Fortschritt“ waren dazu prädestiniert. Der darüber hinaus verfassungsmäßige räumliche Hinweis auf den Schutz vor einem „äußeren“ Angriff wirkt wider die offensive Konnotation grundsätzlich nicht beschränkend. Gebunden an die Ide ologie, verpflichteten also nicht zuletzt auch Fahneneid und Verfassung die ___________ 42 Fahneneid der Angehörigen der Nationalen Volksarmee vom 24. Januar 1962, in: Günther Glaser (Hrsg.), Die NVA in der sozialistischen Verteidigungskoalition, Ostberlin 1982, S. 103. 43 Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. 44 Vgl. Art. 6 Abs. 2 und 3 de r Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974.

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NVA, den Bestand und den Aufbau des Sozialismus militärisch national, bündnisweit und letztlich global „zu schützen“. Abseits von Eid und Verfassung treten in Verlautbarungen der „führenden“ Partei und deren Repräsentanten sowie in offiziöser militärischer Literatur die ideologischen Ansprüche wie das offensive Moment im Auftrag der Armee häufig deutlicher zutage.45 Offener gilt sie dort als Streitmacht in weltrevolutionären Diensten.46 Die marxistisch-leninistische Weltanschauung integrierte in den Auftrag der NVA nicht nur das westlicherseits als o ffensiv wahrgenommene Moment. Sie bzw. die sich in entsprechender Interpretationshoheit wähnenden Politiker der sozialistischen Partei projizierten zugleich auf den speziell in der Ver fassung vorgegebenen räumlichen Bezug, gegen „Angriffe von außen“ zu schützen, ein besonderes Verständnis. So w ollten die Protagonisten des sozialistischen Regimes glauben, dass es aufgrund der „Fortschrittlichkeit“ der DDR-Gesellschaft innerhalb des deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“ keine Feinde der „sozialistischen Errungenschaften“ geben könne. Insbesondere im Zuge des offiziellen Abschlusses der „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus“ nach dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ in der Ostberliner Republik zu Beg inn der 1960 er Jahre setzte sich diese S ichtweise durch. Die DDR, die entwickelten Mitglieder der sozialistischen Staatengemeinschaft wie der „gesellschaftliche Fortschritt“ insgesamt vermochten nunmehr nach offiziellem SED-Verständnis, wenn nicht direkt dann zumindest indirekt, nur von außerhalb dieser Ländergruppe bedroht oder angegriffen werden. 47 ___________ 45

Vgl. statt vieler: Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, angenommen auf dem IX. Parteitag der SED in Berlin, Mai 1 976, S. 93-109; Heinz Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit. Festv ortrag zur Ehrenpromotion an der Parteihochschule „Karl Marx“ beim ZK der SED am 1. Dezember 1975, in: ders., Sozialistische Landesverteidigung. Aus Reden und Aufsätzen. 1974-1978, Ostberlin 1979, S. 217-234, hier S. 230f.; Wissensspeicher Wehrausbildung. Das Wichtigste in Stichworten und Übersichten, Ostberlin 1977, S. 47f. 46 Vgl. zur Rolle des sozialistischen Militärs, hier speziell des sowjetischen, im weltrevolutionärem Prozess aus westlicher Perspektive: BMVG (Hrsg.), Die Armee der Weltrevolution, Boppard am Rhein 1960. Zu beachten ist der Ursprung dieser Schrift in einer der „Hochphasen“ des Kalten Krieges. 47 Vgl. Armin Wagner, Der Nationale Verteidigungsrat der DDR als sicherheitspolitisches Exekutivorgan der SED, in : Siegfried Suckut / Wa lter Süß (Hrsg.), Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS, Berlin 1997, S. 169-198, hier S. 178. Bereits den ungarischen Volksaufstand, weithin aber auch die Geschehnisse vom 17. Juni 1953, interpretierte die DDR offiziell als äußeren Eingriff der NATO. Vgl. statt vieler: K.H.E., Hintergründe, Niederlage und Lehren des NATO-Putsches in Ungarn, in: Militärwesen, 1957, Heft 1, S. 100-129; M.W. und K.L., Der verbrecherische Charakter der „psychologischen Kriegführung“ der NATO, in: Monopole – Militarismus – Massenmord. Eine Auswahl an Beiträgen über die Militarisierung der Westzonen, Ostberlin 1959, S. 161-171, hier S. 163.

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Die Ansprüche der Ideologie bzw. die von ihr eröffnete besondere Breite des Streitkräfteauftrags waren keineswegs bloße Theorie. Was als möglich erachtet wurde, zeigen u.a. die P läne Ostberlins während der Krisen in der T schechoslowakei 1968 und in der VR Polen 1981. Als Reform- bzw. Oppositionskräfte die innere Ordnung in den Nachbarstaaten der DD R in eine der SE D-Spitze nicht genehme Richtung zu verändern suchten, drängte diese n icht nur auf Intervention der Verbündeten, sie machte die NVA als Bestandteil eines Aufgebots zur Stabilis ierung der Ver hältnisse und zur politische n Kurskorrektur in den jeweiligen Ländern verfügbar. 48 Dass deut sche Soldaten im praktischen „Überwinden“ der Krisen nahezu keine Rolle spielten, ist weniger den Mächtigen in Ostberlin als vielmehr denjenigen in Moskau bzw. den sowjetischen Militärs zu verdanken. Bedenken, die geplanten NVA-Einsätze könnten aggressive Akte sein und/oder außerhalb des Streitkräfteauftrags stehen, sah die SEDFührungsriege nicht. Unter Bemühung der marxistisch-leninistischen Ideologie verstand sie die vorbereiteten eigenen Aktionen wie die tatsächlichen Eingriffe der Verbündeten, insbesondere ab der Etablierung der Breschnew-Doktrin, keineswegs als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der „Bruderländer“ oder als Angriff auf deren Souveränität. 49 Die In tervention des Bündnisses in der ČSSR galt ihr weder als gegen das Land noch dessen Bevölkerung gerichtet. Im Gegenteil, Ostberlin begriff bzw. propagierte den E inmarsch als Handlung gemäß den „wahren“ Interessen der Völker der Tschechoslowakei gegen die äußeren Widersacher der sozialistischen Staatengemeinschaft. 50 Schließlich konnten sich nur diese hinter der „konterrevolutionären“ Politik der DubčekRegierung verbergen. Dazu, so die KP dSU-treuen Kommunisten in der DD R wie im Ostblock insgesamt, vermochte aufgrund des Potentials und der Aggressivität des Feindes kein sozialistisches Land eine erfolgreiche Verteidigung gegen den „Imperialismus“ allein zu gewährleisten. 51 So zur Un terstützungsleis___________ 48 Vgl. R. Gutsche, Nur ein Erfüllungsgehilfe? In: Klaus Schröder, (Hrsg.), Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und A nalysen, Berlin 1994, S. 166179, hier S. 171f.; Lutz Prieß / Václav Kural / Manfred Wilke, Die SED und der „Prager Frühling“ 1968. Politik gegen einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, Berlin 1996, S. 236-247. 49 Vgl. zu propagandistischen Maßnahmen der SED im Umfeld des „Prager Frühlings“: Frank Hagemann, Parteiherrschaft in der NVA. Zur Rolle der SED bei der inneren Entwicklung der DDR-Streitkräfte (1956-1971), Berlin 2002, S. 218. 50 Vgl. zur sozialistischen Interpretation der Maßnahmen des Warschauer Pakts 1968 gegen die Dubček-Regierung sowie zur Breschnew-Doktrin: J. Köpfer, Vertragliche Grundlagen und St rukturen des westlichen und ös tlichen Bündnisses, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Nordatlantikpakt – Warschauer Pakt. Ein Vergleich zweier Bündnisse, München 1984, S. 99-148, hier S. 136; Boris Meissner, Die „Breschnew-Doktrin“, Köln 1969. 51 Vgl. Heinz Keßler, Der Warschauer Vertrag und die Nationale Volksarmee der DDR, in: Zeitschrift für Militärgeschichte, 1969, Nr. 3, S. 261-272, hier S. 261-263.

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tung an den „sozialistischen Errungenschaften“ eines Mitglieds des Warschauer Pakts vor der vom „internationalen Klassenfeind“ von außen gesteuerten „Konterrevolution“ stilisiert, entsprachen die Pläne eines Interventionsbeitrages der NVA für die SED-Elite nicht nur den Verpflichtungen gegenüber dem verbündeten sozialistischen Land, sondern verhielten sich ganz und gar konform zu den im Artikel 7 der DDR-Verfassung festgelegten grundlegenden Auftragsmomenten der Armee. Dergestalt gedeutet verstießen sie auch keineswegs gegen den Artikel 8, demgemäß die Republik niemals „[…] ihre Streitkräfte gegen die Freiheit eines anderen Volkes einsetzen […]“52 würde. Die innerhalb des W arschauer Pakts vergleichsweise harte Position Ostberlins gegenüber Reformbewegungen in anderen Mit gliedstaaten kam nicht von ungefähr. Mehr als das Schicksal der Nachbarstaaten selbst motivierte die Stellung der Spitze von Partei und Staat i m eigenen Lande, sich vehement gegen die Entwicklung in den Bruderländern zu stellen. Ein erfolgreiches Ausscheren der ČSSR und mehr noch eines der VR Polen aus der O stblockgemeinschaft hätte den strategischen Wert der DDR für die Ud SSR geschmälert. Auf einen sinkenden Rückhalt aus Moskau wäre unweigerlich der außen- und innenpolitischer Machtverlust der SED-Regierung gefolgt. Unter Umständen konnte, dessen musste sich die Partei- und Staatsführung bewusst sein, eine derartige Entwicklung den deutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“ existentiell bedrohen. Dass das Vo rbild eines weitgehenden politischen Richtungswechsels in einem der „Bruderländer“ und ein lediglich geringer Gegendruck des Hegemons die Opposition in dem mit erheblichem Destabilisierungspotential ausgestatteten Staatswesen beleben und aus der Deckung locken würde, war keineswegs realitätsfern. Dazu konnte schwindendes Interesse des Kremls an seinem deutschen Satteliten die „westdeutsche Bourgeoisie“ in Plänen und Bemühungen zu einem vereinten Deutschland bestärken. Zusammen waren die äußeren und „extern gelenkten“ Feinde der „Macht der Werktätigen“ durchaus in der Lage, die „Konterrevolution“ zum Erfolg zu führen. Die Ereignisse von 1953 u nd 1989 sprechen eine deutliche Sprache. Die SED musste also mit den Geschehnissen in den Nachbarländern ihr „Aufbauwerk“ und ihre Autorität unmittelbar und weitreichender als andere Sta atsparteien im Ostblock gefährdet sehen.53 Folglich war das harte Auftreten der SED-Führer machtpolitisch bzw. herrschaftserhaltend konsequent. Die Ideologie bot sich zur offiziellen Legitimation derart motivierter Vorhaben und Handlungen überaus dienstbar an. ___________ 52 Art. 8 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. Gemäß der marxistisch-leninistischen Theorie führte ein sozialistischer, „wahrhaft friedlicher“ Staat grundsätzlich keine Kriege gegen die Freiheit anderer Völker. 53 Vgl. zu Interessen und Befürchtungen der SED-Spitze gegenüber der Krise in der VR Polen 1980/81: R. Gutsche, Nur ein Erfüllungsgehilfe?, S. 170-179.

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Die Absichten Ostberlins, die NVA in der ČSSR und der VR Polen einzusetzen, können als „Verteidigung“ der „sozialistischen Errungenschaften“ in Ländern eingeordnet werden, die zur „sozialistischen Staatengemeinschaft“ im weiteren und zum Warschauer Pakt im engeren Sinne gehörten. Mit dem in Fahneneid und Verfassung festgelegten Auftrag konnte die SED, wie erwähnt, jedoch selbst globales Wirken, d.h. militärische Einsätze für den „gesellschaftlichen Fortschritt“ jenseits dieser „Gemeinschaften“, als legitim betrachten. Durch die ideologische Brille gesehen und entsprechend gedeutet, ermöglichten beide Instanzen den „Schutz“ des Sozialismus in Ländern, in denen die „Errungenschaften“ dieser Gesellschaftsordnung vergleichsweise gering entwickelt waren. In diesem Sinne heißt es z.B. in einem von Heinz Hoffmann 1975 gehaltenen, viel beachteten und mehrfach publizierten Vortrag: „[…] Der Auftrag sozialistischer Streitkräfte geht heute weit über die Grenzen des einzelnen sozialistischen Landes hinaus. […] Er erfordert die kollektiv bekundete Bereitschaft und Fähigkeit aller sozialistischen Bruderarmeen, für die gesamte sozialistische Gemeinschaft mit der Waffe einzustehen wie für das eigene Volk. Er verlangt, im Falle eines Krieges an der Seite der W affenbrüder für den Sozialismus und Kommunismus zu kämpfen, das eigene Leben für den Sieg einzusetzen. […]“54 Der damalige Minister für Nationale Verteidigung sprach b ewusst nicht von der „sozialistischen Staatengemeinschaft“, sondern von der breiteren „sozialistischen Gemeinschaft“. In der Realität erfüllte die NVA den Auftrag nicht in der Hoffmann hier legitim erscheinenden Breite. Insbesondere war sie nicht aktiv an „out of area“Kampfeinsätzen beteiligt. Dennoch füllte die Armee die ideo logischtheoretischen Möglichkeiten des Auftrags, im Dienste des „gesellschaftlichen Fortschritts“ global zu agieren, praktisch aus. Unter steter Betonung dieses Zweckes unterstützte sie ab seits der sozialistisc hen Staatengemeinschaft stehende Länder und Organisationen.55 Militärhilfe für Staaten wie Tansania, den Jemen oder Mocambique und für sogenannte „progressive Befreiungsorganisationen“ wie die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) oder die „Volksorganisation von Südwestafrika“ (SWAPO) sind belegt. Die Nationale ___________ 54 Heinz Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit, S. 230f. (Hervorhebung durch den Autor). 55 Bereits bevor die DDR bzw. die NVA selbst aktiv Militärhilfe für Entwicklungsländer und „Befreiungsorganisationen“ leistete, sprach sich deren politische Führung im Einvernehmen mit Moskau für die praktische Notwendigkeit derartigen Agierens auch seitens der Warschauer Vertragsstaaten abseits der Sowjetunion aus. Vgl. SAPMOBArch, DY 30/3386, Bl. 188f. und 192, Briefwechsel zwischen dem Sekretär des ZK der Bulgarischen Kommunistischen Partei, Todor Shiwkow (1911-1998), und dem 1. Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht (1893-1973), über die Unterstützung der Algerischen Volksbefreiungsarmee vom April 1961.

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Volksarmee half mit Material und Know-how.56 Als Spieler auf dieser Bühne nahmen die in ihrem Potential begrenzte DDR bzw. ihre Streitkräfte, obwohl sie bisweilen energisch und einfallsreich auftraten, 57 insgesamt allerdings eine vergleichsweise untergeordnete Position ein. Wie bei der An alyse von Fahneneid und Verfassung angedeutet und durch das obige Zitat des Verteidigungsministers untermauert, konnten neben defensiven militärischen Landes- und Bündnisschutz mehr noch als ostblockinterne Militäreinsätze gegen „äußere“ Widersacher oder indirekte militärische Unterstützung des „gesellschaftlichen Fortschritts“ im Weltmaßstab als Schutz des Sozialismus für die NVA als auftragskonform gelten. Welches Ausmaß akzeptabel war, dazu finden sich bei den Repräsentanten der „Arbeiter- und Bauernmacht“, aber auch unter Vertretern des Hegemons, unterschiedliche Statements. Zeitlich wie personell variiert die Ag gressivität. Ideologisch-theoretisch zu rechtfertigen war jedoch selbst die wagemutigste Vorstellung, d.h., die „gesetzmäßige“ gesellschaftliche Fortentwicklung gegen seine generell „aggressiven“ Feinde auf der Erde geradewegs gewaltsam, d.h. selbst in einem vom Feind als Angriffskrieg empfundenen Vorgehen, zu unterstützen. Die Stellung des Proletariats zur Gewalt, Notwendigkeit und Legitimität ihrer Anwendung sowie Chancen und Risiken wurden zahlreich diskutiert.58 Grundlegend für diese Debatte war die im Ostblock anerkannte, hier in Worten aus dem bereits zitierten Hoffmannschen Aufsatz wiedergegebene Feststellung, dass „[…] die Geschichte […] keinen Fall, in dem die sozialistische Revolution zum Siege geführt worden wäre, ohne daß die Kanonen ihr Machtwort gesprochen hätten oder ohne daß sie mindestens gerichtet und geladen geworden waren […]“ 59, kannte. Hoffmann stellt in dem Dokument Vorteile des fried lichen Nebeneinanders von kapitalistischer und sozialistischer Welt für die weitere Ausbreitung der „fortschrittlicheren“ Gesellschaftsordnung fest, 60 dennoch will er die ___________ 56 Vgl. H. Engelhardt, Unterstützung befreundeter Staaten und progressiver nationaler Befreiungsbewegungen durch die NVA, in: Klaus Naumann (Hrsg.), NVA. Anspruch und Wirklichkeit nach ausgewählten Dokumenten, Berlin / Bonn / Herford 1993, S. 317-329. 57 Vgl. Walter Jablonsky, Zur Stellung der DDR u nd ihrer Streitkräfte in der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) und in deren Vereinten Streitkräften (VSK) 1989, in: Walter Jablonsky / Wolfgang Wünsche (Hrsg.), Im Gleichschritt? Zur Geschichte der NVA, S. 68-89, hier S. 83. 58 Vgl. statt vieler: Heinz Hoffmann, Das Militärprogramm der Sozialistischen Revolution, Ostberlin 1962; W. Chalipow, Gerechte Kriege in unserer Epoche, in: Militärwesen, 1978, Heft 9, S. 17-23. 59 Heinz Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit, S. 226. 60 Seit Mitte der 1950er Jahre galt gegenüber den westlichen Ländern die „Friedliche Koexistenz“ offiziell als außenpolitisches Prinzip der Sowjetunion bzw. des Ostblocks. Sie betonte einerseits den ideologischen Antagonismus zwischen Sozialismus und Kapitalismus, andererseits die Koexistenz, insbesondere die Vermeidung eines Krieges mit

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Notwendigkeiten und Möglichkeiten zur globalen militärischen Sicherung des „Fortschritts“ in all i hren Variationen nicht vergessen wissen. Er lässt k einen Zweifel daran, dass er entsprechende Einsätze auch für die NVA als auftragskonform betrachtet. Dazu war Hoffmann einer der härtesten Propagandisten der These, dass selbst angesichts von Raketenkernwaffen ein Krieg seitens des „sozialistischen Friedenslagers“ gegen den „imperialistischen Kriegsblock“ sowohl führbar, als auch zu gewinnen wäre.61 Dass kriegerische Gewalt in letzter Konsequenz nicht durch den Sozialismus, sondern aufgrund der „Aggressivität“ des Kapitalismus heraufbeschworen werden würde, war Hoffmann mittels des marxistisch-leninistischen Gedankenguts zweifellos klar. Grundsätzlich wusste er zudem, dass die T atsache, wer einen Krieg beginnt, noch nichts über den Charakter des Waffenganges, d.h. von welcher Seite aus er „gerecht“ oder „ungerecht“ sei, aussage. Galt es doch immer zu beachten, wer als Träger des „gesellschaftlichen Fortschritts“ zu identifizieren war. 62 Letztlich begriff der sozialistische Osten dabei selbst einen Waffengang, den der „reaktionäre“, kapitalistische Westen als v om Ostblock geführten Angriffskrieg erfahren würde, seinerseits prinzipiell als Verteidigungskrieg. 63 Insgesamt war ein Griff zu den Waffen wider den der Ausbreitung des „gesellschaftlichen Fortschritts“ hinderlich gegenüberstehenden „Imperialismus“ mit marxistisch-leninistischer Dialektik somit nicht nur für den Verteidigungsminister der DDR stets „gerecht“ wie breit zu legitimieren. Deutlich tritt aus der Konzeption von „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen wiederum die Attraktivität der Ideologie für die „Führer“ zur Rechtfertigung etwaiger, ja breiter machtpolitischer Handlungen hervor. Zur Einordnung der Person Hoffmann ist zu bemerken, dass er innerhalb der politisch-militärischen Elite der Ostbe rliner Republik zu den „Falken“ gehörte. Trotz der mittels der marxistisch-leninistischen Ideologie legitimierbaren breiten Möglichkeiten, den „gesellschaftlichen Fortschritt“ wider die diesen bedrohende „Reaktion“ „zu schützen“, propagierten Partei und Staat den Dienst in der Nationalen Volksarmee konsequent als Ver teidigung des Friedens. Neb en der angeführten Passage des Artikels 7 der V erfassung von 1968 g ing dieses ___________ unkalkulierbaren Zerstörungsrisiken, von Ost und West. Vgl. statt vieler: C. Royen, Die sowjetische Koexistenzpolitik gegenüber Westeuropa. Voraussetzungen, Ziele und Dilemmata, Baden-Baden 1978. 61 Vgl. Heinz Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit, S. 220f. Dass ein massiver Einsatz von Raketenkernwaffen bereits frühzeitig im Entwicklungsstadium dieser Waffen zu Zerstörungen geführt hätte, die einen Sieg im klassischen Sinne ausschlossen, erkannte die politisch-militärische Elite der DDR erst in den fortgeschrittenen 1980er Jahren an. 62 Vgl. ebd., S. 219-221. 63 Vgl. zu den Grundlagen der Lehre von „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen: Militärlexikon, s.v. Krieg, S. 194-202.

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Moment umfangreich in Auftragsbeschreibungen ein. 64 Noch in der „Nachwendezeit“ betonten und betonen ehemalige Angehörige der politisch-militärischen Elite der DDR, aber auch ihnen nahestehende Wissenschaftler, Politiker und Journalisten den f riedensorientierten Charakter der NVA. 65 Im real exi stierenden Sozialismus war der „Friedensauftrag“ in erster Linie ein Produkt der marxistisch-leninistischen Ideologie. Frieden un d Sozialismus galten nicht nur als untrennbar miteinander verbunden, sie firmierten auch als Identität. Mit der Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der damit einhergehenden Spaltung der Gesel lschaft in antagonistische Klassen, beseitige der Sozialismus jene Bedingungen, die i mmer wieder zum Kriege führten. Dienst in den Streit kräften eines sozialistischen Staates kam schon aufgrund dessen dem Dienst für den Frieden gleich.66 Noch verhindere allerdings die Aggressivität und das Potential der kapitalistischen Hemisphäre, dass die für den Krieg verantwortlichen Ursachen weltweit ausgemerzt werden könnten. Zugleich versuche im Rahmen des weltumspannenden Klassenkampfes der Kap italismus, das an den Soziali smus verlorene Terrain zurückzugewinnen.67 Unter Beachtung der g lobalen militärischen Realitäten galt die ab den 195 0er Jahren im sowjetisch geführten Block etablierte Meinung, den „gesellschaftlichen Fortschritt“ in „friedlicher Koexistenz“ mit dem kapitalistischen Westen primär auf anderen Wegen als direkt du rch die Macht der Streitk räfte voranzubringen, etwa durch wissenschaftliche, politische un d ökonomische Tätigkeiten. Zwingende Vorraussetzung dessen war, das bis her Erreichte vor Vernichtung zu sichern. Als wirkungsvollstes Mittel erschien, durch eigene Stärke die „natürliche Aggressivität“ des „imperialistischen“ Gegners einzudämmen. Dazu gehörte an erster Stelle wiederum militärische Potenz. Nur durch eine entsprechende Abschreckung, so glaubten die Herrschenden im Ostblock, könnten die Feinde von kriegerischen Handlungen gegen die sozialistische Welt abgehalten werden. 68 ___________ 64 Vgl. statt v ieler: Präambel des Gesetzes über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. Mä rz 1982, in: Gesetzblatt (GBl.) de r DDR, 1982, Teil I, S. 221. 65 Vgl. statt vieler: Peter Rau, Kampfauftrag: Kein Krieg, in: Beilage der Tageszeitung junge Welt, 1. März 2006, S. 1.; K. Schirmer, Auftrag und Legitimation der Nationalen Volksarmee, in: Wolfgang Wünsche (Hrsg.), Rührt euch! Zur Geschichte der Nationalen Volksarmee der DDR, Berlin 1998, S. 75-99. 66 Ohne die Existenz der kapitalistischen Hemisphäre waren Streitkräfte in sozialistischen Staaten ideologiegemäß sinnlos. Um Ansprüche zwischen den „friedlichen“, den sozialistischen Ländern zu unterstreichen, bedurfte es i m Rahmen dieses Gedankengebildes keiner Streitkräfte. 67 Vgl. Heinz Hoffmann, Das Militärprogramm der Sozialistischen Revolution, S. 510. 68 Paten dieses Denkens waren vor allem die sowjetischen Erfahrungen und Ableitungen aus dem Bürger- und Interventionskrieg sowie dem Zweiten Weltkrieg.

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Militärische Rüstung, Kriegsbereitschaft und -fähigkeit sowie stete Wachsamkeit wurden zu Mitteln, den Weltfrieden zu sichern. Der Stellenwert von abschreckungstheoretischen Momenten bzw. „bewaffneter Friedenssicherung“ war für die politisch-militärische Elite wie für die Streitkräfte der DDR stets außerordentlich. Dies gilt speziell mit Blick auf die unter den Feinden der Nationalen Volksarmee an der Spitze rangierenden westlichen Staaten und deren Armeen.69 Im Glauben an die Ideologie des Klassenkampfes musste sich ein Staat der „Proletarier“ von der „Bourgeoisie“ grundsätzlich angefeindet fühlen. Selbst vergleichsweise versöhnliches Agieren der bürgerlich-kapitalistischen Sphäre, wie etwa die „Neue Ostpolitik“ der Bundesrepublik, konnten letztlich nur Variationen in der Strategie des „Imperialismus“ sein, den „Fortschritt“ aufzuhalten und der „Reaktion“ zu Raumgewinn zu verhelfen.70 Die DDR empfand sich vom „imperialistischen“ Gegner allerdings besonders bedroht, lag sie doch geographisch an der Grenze zwischen Ost und West, in direktem Kontakt zum vom Klassenfeind dominierten Territorium. Verstärkend wirkte, dass die benachbarte BR Deutschland, zumindest in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz, mit der oft erhobenen Forderung nach Revision der inf olge des Zweiten Weltkriegs festgelegten Grenzen, der Hall steinDoktrin, aber auch mit dem Durchspielen von Szenarien „begrenzter Kriege“, einen relativ kompromisslosen Kurs gegenüber dem anderen deutschen Staat fuhr. Eine gewisse Furcht, die Bundesrepublik könne allein oder m ithilfe der NATO bei entsprech ender politischer Lage die deutsc he Frage gewaltsam zu lösen versuchen, bestand in der Ostberliner Machtelite immer.71 In Anbetracht der gesonderten Situation ihres Staatswesens ließ sie sich in besonderem Maße auf die Gedanken der Abschreckung feindlicher Aggressionen mittels militärischer Rüstung und zur Schau gestellter Kriegsbereitschaft ein. Durch entsprechende Wehrhaftigkeit sollte der Gegner von einem zu hohen, ja einem „tödlichen“ Risiko etwaiger Kriegspläne überzeugt werden. Neben den im Lande stationierten sowjetischen Truppen hatten die NVA und die anderen bewaffneten Organe der DDR einen wirksamen Beitrag dazu zu leisten. Praktisch sollte mit im Zeitverlauf zunehmender Bedeutung dabei, trotz der hochgesteckten ideolo___________ 69

Vgl. zu Definition und Arten der Abschreckung in der Sicherheitspolitik: Ortwin Buchbender / Hartmut Brühl / Harald Kujat, Wörterbuch zur Sicherheitspolitik, Herford; Bonn 1992, s.v. Abschreckung, S. 14f. 70 Vgl. statt v ieler: BA-MA, DVW 1/39486, Bl. 39, Protokoll der 29. Sitzung des NVR vom 1. September 1967, Bericht des Ministers für Nationale Verteidigung, Die militärische Konzeption der Bonner Regierung und ihre Maßnahmen zur Erhöhung der Angriffskraft der Bundeswehr. 71 Vgl. zur Furcht vor einer „imperialistischen Aggression“: K. Schirmer, Auftrag und Legitimation der Nationalen Volksarmee, S. 84-91; Frank Hagemann, Parteiherrschaft in der NVA, S. 61f.

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gischen Ziele, der breiten th eoretischen Möglichkeiten des Auftrags und allem Säbelrasseln à la Hoffmann, eine militärisch „heiße“ Blockkonfrontation möglichst verhindert werden. Das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West und das Zerstörungspotential moderner Massenvernichtungswaffen, insbesondere das der nuklearen, machten das Interesse an einer globalen Eskalation zwischen den weltpolitisch gegenüberstehenden Blöcken zweifelhaft. Die Folgen eines derartigen Konflikts wären vor allem für die i m Herzen Europas, dem potentiellen Hauptkriegsschauplatz, gelegene DDR außerordentlich und für das Territorium bereits nach wenigen Tagen weit gewaltiger als diejenigen des gesamten Zweiten Weltkriegs gewesen.72 Die politischen Führer in Ostberlin sprachen diesen Umstand frühzeitig an.73 Gerade für die DDR musste unter den Verbündeten im Ostblock angesichts der Ver nichtungskraft der bereitsteh enden Waffen praktisch die „Verteidigung des Friedens“ gegenüber dem „imperialistischen“ westlichen Block ein besonderes Gut sein. Der in Verfassung und Fahneneid festgelegte Auftrag der Nationalen Volksarmee musste den Ansprüchen des Warschauer Pakts entsprechen. Die von Heinz Keßler (geb. 1920), seinerzeit Chef des Hauptstabes der NVA, in einem Aufsatz nur wenige Monate nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ festgestellten Primäraufgaben des B ündnisses, „[…] militärisch den gesellschaftlichen Fortschritt, den Sieg des Sozialismus und Kommunismus […]“ zu sichern und „[…] die Grenzen der sozialistischen Staatengemeinschaft, die Errungenschaften des Soziali smus sowie die Souv eränität und Unabhängigkeit der Bruderländer […]“74 zu schützen, gehen folglich mit den zentralen Momenten im NVA-Auftrag konform. Dabei stellte Ostberlin regelmäßig fest, dass die eigene Streitmacht aufgrund der direkten geographischen Frontstellung zu einem der „aggressivsten imperialistischen Staaten“, der BR Deutschland, mehr noch als diej enigen der übrigen Paktmitglieder den B ündnisaufgaben genügen müsse.75 In Anbetracht der so wjetischen Dominanz über seinen deutschen Satelliten im engeren wie innerhalb der Warschauer Paktorganisation im weiteren Sinne sowie dem direkt oder über das Bündnis ausgeübten Einfluss auf das „Gesicht“ der Armee der Ostberliner Republik verbargen sich hinter den Kernelementen des NV A-Auftrags letztlich die I nteressen der ö stlichen Führungsmacht. Wie die Allianz insgesamt, hatten sich die i n sie eingebrachten Streitkräfte gemäß den Ansprüchen der KPdSU, die sich , vor allem vom deutschen ___________ 72

Vgl. K. Schirmer, S. 84-91. Vgl. statt vieler: Referat des Ersten Sekretärs der SED W. Ulbricht auf der 25. Tagung des ZK der SED vom Oktober 1955, in: Militärgeschichtliches Institut der DDR (Hrsg.), Die Militär- und Sicherheitspolitik der SED, S. 163. 74 Vgl. Heinz Keßler, S. 263. 75 Vgl. ebd. 73

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Verbündeten nie bezweifelt, als höchste Instanz der ideologischen Deutungshoheit über das gesetzmäßige Wirken des Weltgeschehens positionierte, auszurichten.76 So tritt hinter den Ambitionen, „die Grenzen der sozialistischen Staatengemeinschaft, die Errungenschaften des Sozialismus sowie die Souveränität und Unabhängigkeit der Bruderländer“77 zu v erteidigen, nicht zuletzt die B estandssicherung des sowjetischen Selbstschutz- und Hegemonialbereiches hervor.78 Der Wille, „militärisch den gesellschaftlichen Fortschritt, den Sieg des Sozialismus und Kommunismus“79 zu sichern, bedeutete Hilfe zur Ausbreitung des Sowjetkommunismus, ideologisch wie machtpolitisch. Aufgrund der Ab hängigkeit der SED-Herrschaft in dem fragilen deutschen Teilstaat von der Autorität und der Un terstützung Moskaus waren die Interess en der KP dSU- und der SED-Spitze tatsächlich allerdings überwiegend identisch. Gewichtung, Interpretation und Details des Hauptaufgabenfelds der Nationalen Volksarmee waren keineswegs konstant. Für deren Fe ststellung relevante Instanzen traten im Zeitverlauf unterschiedlich auf. Dies ist wiederum in Wechselwirkung zu de n Entwicklungsetappen der NVA, deren Einbindung in die Vereinten Streitkräfte, dem Verlauf des Ka lten Krieges, in Abhängigkeit von Variationen in den Vorstellungen moderner Kriegskunst, in der Strategie wie in der Militärdoktrin des Warschauer Pakts bzw. in Ansichten über die „zeitgemäßen“ Mittel des „weltrevolutionären Kampfes“, aber auch im jeweiligen Stand von Ausrüstung und Bewaffnung der S treitkräfte begründet. Im Kern hieß es aber immer, das Land und die Verbündeten einschließlich sowie basierend auf den „friedvollen“, sozialistischen Werten militärisch vor äußeren Bedrohungen zu schützen.

___________ 76

Vgl. zur Dominanz der UdSSR im Warschauer Pakt: Manfred Backerra, Der Warschauer Pakt, Organisation und Funktion. Ein Instrument der sowjetischen Herrschaft, in: Europäische Wehrkunde. Wehrwissenschaftliche Rundschau, 1989, Nr. 6, S. 348356; Anatoli I. Gribkow, Der Warschauer Pakt. Geschichte und Hintergründe des östlichen Militärbündnisses, Berlin 1995; Walter Jablonsky, Zur Stellung der DDR und ihrer Streitkräfte in der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) und in deren Vereinten Streitkräften (VSK) 1989, S. 68-73. 77 Heinz Keßler, S. 263. 78 Vgl. statt vieler zur Herausbildung des sowjetischen Selbstschutz und Hegemonialbereiches: Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 19411955, München 2002. 79 Heinz Keßler, S. 263.

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IV. Nachgeordnete Aufgaben 1. Etablierung der DDR im Kreise der Verbündeten Für einen loyalen Partner innerhalb der sozialist ischen Militärkoalition mussten die Hauptanliegen des Bündnisses, der „Schutz der Bruderländer“ und die militärische Sicherung des „gesellschaftlichen Fortschritts“ auf der Welt, die wichtigsten Aufgaben der in die Vereinten Streitkräfte eingebrachten Truppenkontingente sein. Mit der T eilnahme an de n VSK nahm die N VA für die Führung der DDR allerdings noch andere Funktionen wahr. 80 In den Vo rstellungen der politisc hen Elite in Ostberlin steigerte die ak tive Mitwirkung auf militärischer Ebene des B ündnisses die Verpflichtungen der übrigen Alliierten gegenüber dem sich vom „bürgerlich-imperialistischen Lager“ besonders bedroht fühlenden sozialistischen Land. 81 Das Engagement der Nationalen Volksarmee sollte somit zusätzlich zu den vertraglichen Bindungen die militärische Unterstützung seitens der Verbündeten in Notlagen garantieren. In dem der Ko alition zur V erfügung gestellten Militär sah die SED -Spitze überdies Chancen, Anerkennung und Aufwertung ihres Staatswesens im Ostblock zu f ördern. Hervorgegangen aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich, das Sla wentum, dem sich die meisten der i m Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Nationen verpflichtet fühlten, und Kommunismus feindlich gegenüberstand, war die DDR unter den Bündnismitgliedern herausragend dazu angehalten, durch einen ernstzunehmenden Militärbeitrag die Loyalität zu se inen Partnern zu untermauern. Vor allem an die Hegemonialmacht sollte Zuverlässigkeit und Wert des kleinen Landes glaubwürdig herangetragen werden. Unter den Verbündeten als vertrauenswürdig anerkannt, hatte die NV A sich selbst, wie der DDR insgesamt, den Zugang zum materiellen und immateriellen militärischen Know-how der „Bruderländer“, insbesondere der Sowjetunion, zu sichern.82

___________ 80 Für die BR De utschland war der Aufbau ihrer Armee zur Etablierung im Kre ise der Verbündeten und zur Untermauerung ihrer „Souveränität“ in ähnlicher Art und Weise relevant. 81 Jede Äußerung der „Bruderländer“ zur besonderen Gefährdung der DDR und Hinweise auf eine entsprechend enge Verbundenheit mit dem „Frontstaat“, wie sie etwa Nikita Chruschtschow (1894-1971) auf der Tagung der kommunistischen Parteien 1958 in Moskau kundtat, nahm die politische Führung des sozialistischen deutschen Staates in höchster Dankbarkeit auf. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PAAA), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA), A 15316, Bl. 2, Informationen des Botschafters der DDR in der Ungarischen VR über die Moskauer Tagung der kommunistischen Parteien 1958 vom 29. Mai 1958. 82 Vgl. statt vieler: Heinz Keßler.

150

Marco Metzler 2. Ausdruck staatlicher Souveränität der DDR

Vor allem zeitnah zur Gründung der Nationalen Volksarmee wirkte das B estehen von Streitkräften im Lande für die Machthaber der lange Zeit als Handelsobjekt benutzten DDR als Schritt zur Etablierung der n ach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen und Einflusssphären in Europa und damit zur Existenzsicherung sowie Aufwertung des jungen Staatswesens. Bereits mit der KVP verband die Partei- und Staatsführung Dahingehendes. Die Schaffung regulärer Streitkräfte wurde schließlich unmittelbar mit dem Souveränitätsstatus des Landes in Ver bindung gebracht.83 Es entspricht „dem elementaren Recht, das jedem souveränen, unabhängigen Staat zusteht“, so Stoph am 18. Januar 1956 vor der Volkskammer, „eine Nationale Volksarmee in unserer Republik zu schaffen.“84 Im Vorfeld der u nd nicht zuletzt mit Blick auf die Erric htung der NVA hatte Moskau 1954/55 Ostberlin tatsächlich schrittweise Hoheitsrechte zuerkannt. Synthetisch, d.h. als Nebenprodukt im Wechselspiel zwischen antagonistischen Großmächten, entstanden, ohne Gnade und U nterstützung des Hegemons nur schwerlich überlebensfähig und mit der „Alleinvertretungspolitik“ der BR Deutschland konfrontiert, war es dann dem SED-Staat immer wichtig, seinen „unabhängigen“ und „souveränen“ Status festzustellen. 85 Das Unterhalten eines eigenen Militärapparates nahm in der dazugehörigen Argumentation stets einen der wichtigsten Plätze ein.86 Konsequent wurde er vor der nationalen und internationalen Öffentlichkeit, etwa bei Empfängen oder Paraden, zur Schau gestellt. 3. Schutz der innerstaatlichen Ordnung

Gemäß der Ver pflichtungserklärung der Kasernierten Volkspolizei gehörte es zu den Aufgaben der „Polizisten“, die DDR, wenn erforderlich, überall, auch ___________ 83 Vgl. Werner Hübner, Zur Rolle der Partei in der Nationalen Volksarmee, in: Wolfgang Wünsche (Hrsg.), Rührt euch! Zur Geschichte der NVA, Berlin 1998, S. 412-431, hier S. 412. 84 Begründung des Gesetzentwurfs über die Schaffung einer Nationalen Volksarmee und eines Ministeriums für Nationale Verteidigung durch Stoph vom 18. Januar 1956, in: Gerhard Schwenke (Hrsg.), Die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1961, S. 42. 85 Bezeichnend im Rahmen entsprechender Bemühungen ist ein Gutachten des Prof. Dr. Roger Pinto (Sorbonne), das in steter Wechselwirkung mit dem MfAA bzw. unter detaillierten Hinweisen und A nmahnungen des Ministeriums entstand. Vgl. PAAA, MfAA, A 18289, Gutachten von Prof. Dr. Pinto über den internationalen Status der DDR 1956-1958. 86 Vgl. A. Ross Johnson / Robert W. Dean / Alexander Alexiev, Die Streitkräfte des Warschauer Pakts in Mitteleuropa: DDR, P olen und ČSSR, Stuttgart-Degerloch 1982, S. 96.

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gegen Feinde im Inneren, zu schützen.87 Dennoch war auf dem für reguläre Polizeitruppen typischen innerstaatlichen sicherheitspolitischen Terrain die Ei nsatzbereitschaft der KVP , vor allem in deren Frühphase, eng begrenzt. Selbst angesichts des „konterrevolutionären“ Juniaufstandes 1953 haderte die „Partei der Arbeiterklasse“, mehr noch aber der Hegemon, mit dem Einsatz der „Polizisten“. Punktuell und zögerlich setzten SED und „Sowjetische Kontrollkommission für Deutschland“ (SKK) auf ein Aufgebot der KVP. Schließlich erst nachdem die sowjetischen Streitkräfte die Lage unter Kontrolle gebracht hatten, sollte sie umfassender eingebunden werden. Zurückzuführen ist das Zögern u.a. auf die bis dahin kaum auf den Kampf gegen „Störer von Ruhe und Ordnung“ im innerstaatlichen Bereich ausgerichtete Ausbildung der „getarnten Armee“. 88 Praktisch arbeitete die Kasernierte Volkspolizei in erster Linie an den Grundlagen eines über polizeiliche Aufgaben hinausgehenden Militärapparates. Im Anschluss an den Aufstand von 1953 richtete die Partei- und Staatsführung die KVP schließlich stärker auf die inn erstaatliche Funktion aus. Laut Befehl des Ministers des Innern vom 7. Juli 1953 hatte sie sich auf etwaige neuerliche Einsätze im Inneren in festgelegten räumlichen Abschnitten (Schwerin, Klietz, Leipzig, Erfurt, Dresden, Berlin, Pasewalk, Rügen, Stralsund und Cottbus) vorzubereiten.89 In Auftragsbeschreibungen der Natio nalen Volksarmee betonte die Regierung in Ostberlin regelmäßig, dass sie den sozialistischen deutschen Staat wider Aggressionen von außen zu schützen habe. Eine Feststellung, die im „real existierenden Sozialismus“, wie bereits erwähnt, ihre ganz eigene Bedeutung hatte. Vor allem in den fortgeschrittenen Stadien der Streitkräftegeschichte, insbesondere nach dem Mauerbau und dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ in der DDR zu Beginn der 1960er Jahre, gehörte dieser ausdrückliche Verweis zur Regel. In der Frühzeit der NVA planten die Herrschenden allerdings aktiv, in Notlagen das Militär innerstaatlich gegen „Störer von Ruhe und Ordnung“ heranzuziehen. Ein solches Amt ist für Streitkräfte keineswegs außergewöhnlich. Auch in westlichen Demokratien ist es gebräuchlich, die Armee unter bestimmten Voraussetzungen in Innern aufzubieten. So ist dies nach dem Grundgesetz z.B. der Regierung der BR Deutschland „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die f reiheitlich demokratische Grundordnung des Bu ndes oder eines Landes“ durchführbar. Ein innerstaatliches Aufgebot der Bundeswehr ist damit einerseits im Spannungs- und Vertei___________ 87 Vgl. Verpflichtungserklärung der Kasernierten Volkspolizei, in: Sven Lange, S. 147. 88 Vgl. Torsten Diedrich / Rüdiger Wenzke, S. 315-352. 89 Vgl. BA-MA, DVH 3/2205, Bl. 1-6, Befehl 123/53 des Ministers des Innern der Regierung der DDR vom 7. Juli 1953, Bildung von Abschnitten in der Deutschen Demokratischen Republik im Falle eines polizeilichen Einsatzes.

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digungsfall, andererseits aber auch „zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der B ekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ 90 möglich. Speziell die Ver fassungen der DDR sprechen eine Option zum Einsatz Armeeangehöriger im Falle innerer Unruhen nicht explizit an. Diejenige von 1968 will die Streitkräfte in der sich zu dieser Zeit etablierten Art wörtlich nur gegen „[…] Angriffe von außen […]“91 herangezogen wissen. Dass ein solches Aufgebot in den frühen Jahren der NVA für die Partei- und Staatsführung als Alternative bestand, wurde von ihr wie von offiziösen Publikationen der Öffentlichkeit, zumindest mit einem gewissen zeitlichen Abstand, tatsächlich nicht verschwiegen.92 Grundlegend für einen derartigen Einsatz waren die auf Geheiß der Sicherheitskommission unter Federführung von Willi Stoph (1914-1999) erarbeiteten und vom Politbüro des Z K der SED am 8. November 1956 b eschlossenen „Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen“.93 Die Entscheidung, die Armee auf diese Aufgabe festzulegen, erfolgte vor allem angesichts einer von den Regierenden als akut wahrgenommenen Bedrohungssituation. Grundsätzliches Misstrauen gegenüber der inneren Situation, verbunden mit nach dem Aufstand vom Juni 1953 in den Jahren 1955/56 neuerlich anwachsendem Unmut in der DDR-Bevölkerung und sicherheitspolitische Herausforderungen für die kommunistische Macht in ostmitteleuropäischen Volksdemokratien drängten die SED-Spitze, ihre Armee nicht allein wider äußere Gegner der „Arbeiter- und Bauernmacht“ bzw. dieser auf direktem Wege von extern entgegentretende Feindschaft aufzustellen. Die 1955/56 s teigende und zunehmend offen artikulierte Unzufriedenheit von DDR-Bürgern entsprang vor allem einer verschlechterten Versorgungslage. Unter den Geschehnissen in Ostmitteleuropa mahnten die die VR P olen und mehr noch die die Ungarische VR erschütternden inneren Unruhen, wachsam und auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Dabei registrierte die SED das innere Konfliktpotential, das in der DDR wie dasjenige in den anderen e uropäischen sozialistischen Ländern, nicht nur als Folge der Politik der jeweils „führenden“ Parteien oder deren Distanz zum Volkswillen bzw. der Unwissenheit der Bürger über ihre „wahren“ Interessen, vielmehr wollte sie dieses nicht zuletzt als Ergebnis gezielter westli___________ 90

Art. 87a Abs. 4 GG. Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. 92 Vgl. zum inneren Auftrag der NVA aus DDR-Literatur: Armee für Frieden und Sozialismus, S. 105f. 93 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/511, Bl. 8-16, Protokoll der Politbürositzung vom 8. November 1956, Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen. 91

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cher, insbesondere bundesrepublikanischer, Diversion erkennen.94 Schließlich erschien der Partei- und Staatsführung 1956 eine Wiederholung der Ereignisse vom Juni 1953 du rchaus realistisch. Entsprechend heißt es im DDRStandardwerk zur NVA-Geschichte zur Begründung der ordn ungspolitischen Aufgabe der Armee im Inneren des j ungen sozialistischen deutschen Staates: „[…] Es gab noch unverbesserliche Reaktionäre, Feinde einer sozialistischen Entwicklung. Sie waren bereit, wie die P raxis zeigte, in ihrem Kampf gegen den gesellschaftlichen Fortschritt auch zu n ichtfriedlichen Mitteln zu greifen. […]“95 Die vom Politbüro des Z K der SED im November 1956 beschlossenen „Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Unruhen“ gingen von einem von außen gelenkten inneren Feindpotential aus. Eine Feststellung, der nicht zuletzt ein psychologisches Moment innewohnte. So vermochte die Betonung eines auswärtigen Hintergrundes ein Aufgebot des Militärs gegen die e igene Bevölkerung in seiner Brisanz zu mildern. Empfand die Spitze von Partei und Staat die inn ere Ruhe und Ordnung durch „konterrevolutionäre Aktionen“ gestört, konnte sie gemäß dem Dokument die politische und operative Führung im Lande der Sicherheitskommission, d.h. dem Vorgängergremium des NVR, bzw. einer Kommission, die personell mit dieser identisch war, übertragen. Die zentral getroffenen Entscheidungen waren dann von den E insatzleitungen, die auf Ebene der Bezirke und größerer Städte zu bilden waren, durchzusetzen. Das Papier sah den Einsatz von Sicherheitsorganen in drei Etappen vor. Für den Anfang legte es die Au fbietung der bewaffneten Kräfte von Volkspolizei, Kampfgruppen und Staatssicherheit fest. Nur in Einzelfällen war Unterstützung durch die Armee vorgesehen. Dem Minister fü r Staatssicherheit fiel die B efehlsgewalt zu. Den Störungen sollte in erster Linie mit polizeilichen Mitteln (Absperrungen, Wasserwerfer usw.) entgegengetreten werden. Schusswaffengebrauch blieb vom besonderen Beschluss der Ko mmission abhängig. Nur als Notwehr im Falle von Angriffen auf Personen und Gebäude war er erlaubt. Wäre diesem Aufgebot kein Erfolg beschieden, beabsichtigten die Machthaber in der zweiten Etappe, die NV A einzuschalten. Die in der erste n Phase bereits aufgebotenen Sicherheitskräfte mussten sich jetzt der Armee unterordnen. Die Befehlsgewalt lag nunmehr beim Minister für Nationale Verteidigung. Die Regelungen zum Schusswaffengebrauch entsprachen denjenigen der ersten Etappe. Art und Um___________ 94 Eindrucksvoll spricht ein e solche Sichtweise des Aufstands vom 17. J uni 1953 auch aus Protesten aus den „Bruderländern“ gegenüber den „Unruhestiftern“. Vgl. PAAA, MfAA, A 4770, Protesttelegramme bulgarischer Arbeiter an die Werktätigen der DDR anlässlich des 17. Juni 1953. Vgl. statt vieler zur aus Sicht der DDR vom „Imperialismus“ gegenüber der Ungarischen VR geleisteter Aggression: K.H.E., Hintergründe, Niederlage und Lehren des NATO-Putsches in Ungarn, S. 100-129. 95 Vgl. Reinhard Brühl (Hrsg.), Armee für Frieden und Sozialismus, S. 105f.

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fang des Mili täreinsatzes wurde durch das Do kument grundsätzlich nicht beschränkt. Sie sollten letztlich im Ermessen der Kommission liegen. Für den Fall, dass die ergriffenen Maßnahmen die „Konterrevolution“ noch immer nicht aufzuhalten vermochten, wurde als dritte Stufe der Einsatz der „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ (GSSD) erwogen. Diesem wäre ein entsprechendes Hilfegesuch vorausgegangen. In dem Dokument beschloss das Politbüro zudem, dass unter Federführung des Ministers für Nationale Verteidigung für die be waffneten Kräfte der D DR entsprechend den vorgesehenen Aufgaben Einsatzpläne auszuarbeiten seien.96 In den Folgejahren war das Vorgehen der NVA wider „konterrevolutionäre Aktionen“ mehrfach Bestandteil von Befehlen und Direktiven des Verteidigungsministers.97 Dazu blieben Pläne und Szenarien für ein innerstaatliches Militäraufgebot für die Sicherheitskommission auf der Tagesordnung. Im „Beschluss über die Maßnahmen zur Steigerung der Verteidigungsbereitschaft der DDR“ vom 9. Januar 1958 legte sie die NVA neuerlich auf die „[…] Zerschlagung innerer Unruheherde […]“98 fest. Ferner rief die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen zur Verbesserung entsprechender Fähigkeiten in den Streitkräften auf.99 Hinweise auf vom Westen, speziell von der Bundesrepublik, betriebene „Aufweichungs-“, Aufruhr- und Bürgerkriegsbemühungen gegenüber der DDR waren dabei regelmäßig. In der z weiten Hälfte der 195 0er Jahre beschäftigten sich die Mächtigen in der DDR also a ngespannt mit Bedingungen und Details eines innerstaatlichen Streitkräfteeinsatzes gegen „Ruhestörer“. Bemerkenswert ist dabei, dass sie die Praktiken eines solches Aufgebots fernab von dessen Legitimierung durch staatliche Organe diskutierten bzw. festlegten. D.h., weder die Vo lkskammer noch die Regierung spielten gemäß den Dokumenten im Entscheidungsprozess, wann die innenpolitische Lage eine Entgegnung mittels des Militärs rechtfertige, eine Rolle. Dies behielt sich die SED-Spitze, ideologiegemäß ohnehin zur Führung des Staates verpflichtet, selbst vor.100 ___________ 96

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/511, Bl. 8-16, Protokoll der Politbürositzung vom 8. November 1956, Maßnahmen zur Unterdrückung konterrevolutionärer Aktionen. 97 Vgl. BA-MA, DVW 1/1835, Bl. 80-86, Direktive 5/1957 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 30. April 1957, Prinzipien für die Perspektivplanung 1961-1965. 98 BA-MA, DVW 1/39561, Bl. 4, Protokoll der 19. Sitzung der Sicherheitskommission des ZK der SED vom 9. Januar 1958, Beschluss über die Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft der DDR. 99 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/12/38, Bl. 32, Vorlage an die Sicherheitskommission vom 29. Juli 1959, Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der NVA. 100 Vgl. Daniel Giese, Die SED und i hre Armee, Die NVA zwischen Politisierung und Professionalismus 1956-1965, München 2002, S. 61. Mit der Umwandlung der Sicherheitskommission in den Nationalen Verteidigungsrat zu Beginn des Jahres 1960

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Die Machthaber in Ostberlin fuhren die Planungen, die Na tionale Volksarmee gegen innere Unruhen aufzubieten, alsbald zurück. Frühzeitig in der G eschichte der DDR wie parallel zur Aufstellung der NVA hatten sie daran gearbeitet, andere bewaffnete Organe zu befähigen, in vollem Umfang die Sicherheit im Inneren zu gewährleisten.101 Am 6. April 1962 entschied das mittlerweile oberste staatliche Sicherheitsorgan, der Natio nale Verteidigungsrat, die B edeutung der A rmee bei der Bekämpfung innerstaatlicher Unruhen zu se nken. Der NVR beto nt in dem Dokument die Zuständigkeit der bewaffneten Kräfte des Ministeriums des Innern sowie der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“. 102 Der Befehl 65/62 ist schließlich der letzte identifizierbare, in dem sich der Verteidigungsminister planerisch ausdrücklich mit dem „Einsatz von Kräften der NVA im Innern der DDR“ befasst. 103 Unterschiedliches dürfte die Partei- und Staatsführung bewogen haben, den Stellenwert dieser Art von Einsatz im Aufgabenkatalog der NV A zurückzufahren. So war mit der G renzschließung von 1961 westliche Einflussnahme, der entscheidende, immer wieder betonte Faktor für diese Aufgabe der Armee im Inneren, stark eingeschränkt worden. Mit der Relativierung dieser Funktion konnte Wirkung und Notwendigkeit der verstärkten Abschottung der DDR nach Westen, nicht zuletzt für sich selbst, unterstrichen werden. Die anderen bewaffneten Organe waren mittlerweile in einem schlagkräftigen Zustand. Die NVA hatte sich als moderne Armee nunmehr verstärkt auf die Ver pflichtungen im Bündnis, dessen militärische Ebene zu B eginn der 1960er Jahre eine Aufwertung erfuhr und innerhalb derer sie Bestandteil der „Ersten Strategischen Staffel“ wurde, zu konzentrieren. Eine praktisch übermäßige Ausrichtung auf die ordnungspolitische Aufgabe im Innern steigerte die Gef ahr, Potenzial zu b inden, das für eine effektive Wahrnehmung der Pflichten als B estandteil der VS K notwendig war. Zudem mussten die Her r-

___________ avancierte das oberste sicherheitspolitische Gremium in der Ostberliner Republik formal von einem Partei- zu einem Staatsorgan. Die Mitgliedschaft blieb allerdings stets hohen SED-Kadern, nahezu komplett Politbüro-Mitgliedern, vorbehalten. Vgl. Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrats der Deutschen Demokratischen Republik vom 10. Februar 1960, in: GBl. der DDR, Teil I, 1960, Nr. 8, S. 89. 101 Vgl. BA-MA, DVW 1/1835, Bl. 96, Beschluss über Prinzipien für die Perspektivplanung 1961-1965 vom 15. April 1957. 102 Vgl. BA-MA, DVW 1/39467, Bl. 5, Protokoll der 10. Sitzung des NVR der DDR vom 6. April 1962. 103 Vgl. BA-MA, DVW 1/8742, Bl. 185-196, Befehl 65/1962 des Ministers vom 3. Juli 1962, Einsatz von Kräften der NVA im Innern der DDR; J. Hohwieler, NVA und innere Sicherheit. Der Einsatz der Armee im eigenen Land, in: Detlev Bald / Reinhardt Brühl / Andreas Prüfert (Hrsg.), Nationale Volksarmee – Armee für den Frieden. Beiträge zu Selbstverständnis und Geschichte des deutschen Militärs 1945-1990, BadenBaden 1995, S. 75-90, hier S. 84.

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schenden den Einsatz einer nunmehr Wehrpflichtarmee gegen das Volk als r isikoreich bzw. unberechenbar einschätzen. 104 Die Entscheidung des Vertei digungsrats vom April 1962 bedeu tete allerdings nicht, dass die NV A von etwaigen Einsätzen zum Schutz der i nneren Ordnung befreit war. Schon das Dokument selbst versteht sich nicht als gänzliche Absage an diese Streitkräftefunktion. So heißt es in ihm, die Nat ionale Volksarmee habe „bereit zu sein, auf besonderen Befehl kurzfristig Aufgaben im Innern der Deutschen Demokratischen Republik zu erfüllen.“ 105 Für Selbiges sprach sich der Minister für Nationale Verteidigung in seinem Befehl 65/62 vom 3. Juli 1962, also nahezu drei Monate nach der „Absage“ des NVR an die innere Aufgabe, aus. Detailliert regelte er den Einsatz der NVA, insbesondere der Landstreitkräfte, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Falle „konterrevolutionärer Aktionen“106. Auf seiner Sitzung vom 14. S eptember 1962 erkannte der NVR neuerlich die Relevanz der Streitkräfte im Inneren an. In den „Grundsätzen der Zusammenarbeit zwischen Dienststellen und Einrichtungen des MfNV mit den bewaffneten Kräften des MdI“ regelte er deren Verhältnis „zur Gewährleistung der Handlungen und der Bewegung der Vereinten Streitkräfte sowie der inneren Sicherheit“107 in der DDR. Dabei ermahnte er die NVA für die „Zusammenarbeit zur Gewährleistung der inneren Sicherheit in Friedenszeit“ wiederum zur kurzfristigen Bereitschaft, Aufgaben im Inneren des Landes zu übernehmen. Der Verteidigungsrat legte fest, dass ein entsprechender Armeeeinsatz nur auf Befehl seines Vorsitzenden erfolgen könne. In diesem Falle sollten operative Gruppen aufgeboten werden.108 Tatsächlich spielte die politis ch-militärische Elite des „Arbeiter- und Bauernstaates“ in sensiblen oder Bedrohungssituationen hin und wieder mit Möglichkeiten, die NVA notfalls bzw. „kurzfristig“ innerstaatlich aufzubieten. Etwa befürchtete die P artei- und Staatsführung Störungen der 1973 s tattfindenden „X. Weltfestspiele“109. Ca. 8 Millionen Menschen kamen in deren Verlauf in der Hauptstadt der DDR zusa mmen. Vordergründig fühlte sie sich durch den Terror während der Olympischen Spiele i n München 1972 zu erhöhter Wachsamkeit berufen. Aktivitäten der Organisation „Schwarzer September“, aber ___________ 104

Vgl. J. Hohwieler, S. 85. BA-MA, DVW 1/39467, Bl. 4, Protokoll der 10. Sitzung des NVR der DDR vom 6. April 1962. 106 Vgl. BA-MA, DVW 1/8742, Bl. 185-196, Befehl 65/62 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 3. Juli 1962, Einsatz von Kräften der NVA im Innern der DDR. 107 BA-MA, DVW 1/39469, Bl. 31, Protokoll der 12. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 14. September 1962. 108 Vgl. ebd., Bl. 31f. 109 Die Veranstaltung fand vom 28. Juli bis 5. August 1973 unter dem Motto „Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft“ statt. 105

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auch anderer, „bestimmter radikaler Gruppen“, waren festgestellt. Um wider „alle Möglichkeiten des Gegners bzw. bestimmter radikaler Gruppen“ gewappnet zu sein, erwog der N VR u.a., „Truppenteile der Nationalen Volksarmee […] übungsmäßig in die Nähe von Berlin [zu] verlegen und sie dort in Einsatzbereitschaft für alle Fälle zu halten.“110 Bis Mitte Juni sollte dem Ersten Sekretär des Z K der SED un d Vorsitzenden des Natio nalen Verteidigungsrates ein entsprechender Maßnahmenplan zur Gewährleistung der Si cherheit der Spiele vorgelegt werden. Grundsätzlich bot das für die Nationale Volksarmee unablässig geltende Kernelement des Auftrags, die sozialistische DDR vor äußeren Bedrohungen zu schützen, immer die Möglichkeit, einen Einsatz bei inneren Unruhen zu rechtfertigen. Es bedurfte lediglich einfacher Ableitung und der Weg, ein derartiges Aufgebot in einem legitimen, auftrags- bzw. verfassungskonformen Licht erscheinen zu lassen, stand offen. Gemäß dem marxistisch-leninistischen Weltbild der SED waren die Streit kräfte des deutschen „Arbeiter- und Bauernstaates“ unentbehrliches Element des proletarischen Klassenkampfes mit der „Bourgeoisie“. Auf dieser Basis hatten sie, wie die Verfassung von 1968 betont, „die sozialistischen Errungenschaften des Volkes“111 zu schützen. Was nicht zuletzt Herrschaftssicherung der sozialis tischen Partei bzw. der die B efehlsgewalt über die Streitkräfte beanspruchenden „Arbeiter- und Bauernregierung“112 bedeutete. Der Zusatz im Artikel 7 der Verfassung, „gegen alle Angriffe von außen“, vermochte einen innerstaatlichen Militäreinsatz zu begründen, wenn für die entsprechende Bedrohung der „sozialistischen Errungenschaften“113, ähnlich wie im Zusammenhang mit dem Aufstand vom Juni 1953, eine „Steuerung“ von außerhalb der DDR erkannt wurde. Handelte es sich um einen derartigen Fall, konnte ein Aufgebot bewaffneter Kräfte im Lande als Verteidigung desselben vor externen Feinden definiert werden. Unter diesen Voraussetzungen bestand auch mit Blick auf die Verfassung stets die Möglichkeit, einen Einsatz der A rmee, die ideo logiegemäß ohnehin nur aufgrund der Gefahr durch die „kriegslüsternen“, kapitalistischen Länder existierte,114 bei inneren Unruhen „legal“ durchzuführen. Den Bezirkseinsatzleitungen (BEL), den vom 1. Sek retär der B ezirksleitung der SE D geführten Organen zur P lanung, ___________ 110 BA-MA, DVW 1/39500, Bl. 33, Protokoll der 43. Sitzung des NVR vom 17. Mai 1973, Information über die Gewährleistung der Sicherheit der X. Weltfestspiele. 111 Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. 112 Fahneneid der Angehörigen der Nationalen Volksarmee vom 24. Januar 1962, in: Die NVA in der sozialistischen Verteidigungskoalition, S. 103. 113 Art.7 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974. 114 Vgl. den Abschnitt zur militärischen Friedenssicherung im Gliederungspunkt C.

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Koordinierung und Durchsetzung von Maßnahmen der Landesverteidigung auf dem Territorium der jeweiligen Verwaltungseinheiten, war es im „Verteidigungsfall“ schließlich möglich, auf in Art und Zahl nicht konkret festgeschriebenes, letztlich unbegrenztes Potential aus de m Reservoir der bewaffneten Kräfte der DDR zurü ckzugreifen. Nicht z uletzt gehörte die Ver nichtung von „Diversionsgruppen des Gegners“ in ihren Zuständigkeitsbereich. Statutsgemäß konnten sie im Ernstfall den Vorsitzenden des NVR anrufen, um sich von ihm über die bewaffneten Kräfte der Bezirke hinaus für notwendig erachtetes Potential wider die feindlichen Kräfte zu erbeten.115 Die Konstruktion eines auswärtigen Hintergrundes von Unmutsäußerungen war jederzeit möglich. In den Vorstellungen der SED du rfte Opposition gegen die „fortgeschrittenste Form der Gesellschaftsentwicklung“ ab einem bestimmten Grad ihrer Durchsetzung ihren Ursprung, wie mehrfach angesprochen, ohnehin nur außerhalb, d.h. im „bürgerlich-imperialistischen Lager“, haben. Dass die Feststellung einer Aggression von außen im Ostblock ein beliebtes Mittel zur Rechtfertigung fragwürdiger Armeeeinsätze war, zeigten die Ausführungen zu Militäraktionen des W arschauer Pakts bzw. seiner Führungsmacht gegen Entwicklungen in einzelnen Mitgliedsstaaten. Zudem erkannten die Mac hthaber in Ostberlin in Plänen und Handlungen von NATO und Bundeswehr, speziell in militärischen Übungen, vielfältig Vorbereitungen auf „subversive“ Aktivitäten. Je enger z.B. entsprechende Manöver zeitlich mit ostblockinternen Krisen zusammenfielen, desto mehr dienten sie als Bestätigung eines auswärtigen Hintergrundes innerer Krisen des soziali stischen Lagers. 116 Schuldlos waren NATO und Bundeswehr hinsichtlich der Furcht vor extern gesteuerten Unruhen in Ostberlin dabei nicht. Politisch-militärische Diskussionen, Planungen oder Übungen, beispielsweise um die Konzeption des „verdeckten Kampfes“, mussten den Glauben an ein solches Szenario fördern wie Ostberlin in der Argumentation um von außen gesteuerte „Konterrevolution“ bzw. interne Instabilität als von extern geleitete Vorstufe oder Anfangsphase eines regulären Krieges in die Hände spielen.117 ___________ 115

Vgl. BA-MA, DVW 1/39525, Bl. 127, Protokoll der 64. Sitzung des NVR vom 2. Oktober 1981, Statut der Einsatzleitungen, Anlage 1. 116 Vgl. BA-MA, DVW 1/39539, Bl. 48 und 51, Protokoll der 78. Sitzung des NVR vom 16. J uni 1989, Hauptergebnisse der strategischen militärisch-zivilen NATOKommandostabsübung WINTEX/CIMEX 89. 117 Vgl. zu „verdecktem Kampf“ und „begrenztem Krieg“ den Gliederungspunkt C des Aufsatzes. Mit seiner Attraktivität, insbesondere mit seinem vergleichsweise hohem materiellen Wohlstand, wirkte der Westen, allen voran die Bundesrepublik, in der trotz aller Mühen nicht gänzlich abzuschottenden DDR zu einem gewissen Grade tatsächlich immer unruhestiftend.

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Im Zusammenhang mit einem Einsatz der NVA gegen innere Opposition – wie bei der Betrachtung aller Auftragsmomente – ist der Verweis auf den diktatorischen Charakter der DDR unerlässlich. In demokratischen Herrschaftssystemen existieren vielfältige Kontrollinstanzen, die einen voreiligen und auftragsfernen Einsatz der Streitkräfte erschweren. Diktaturen kennen solche Institutionen nicht bzw. nur eingeschränkt. 118 Dazu richtete der „real existierende Sozialismus“ mit der die Deutungshoheit über das W eltgeschehen beanspruchenden sozialistischen Partei an der Spitze all seine Bestrebungen, zumindest theoretisch, auf die zu sc haffende klassenlose Gesellschaft aus. Die bestehende Ordnung galt als vorübergehend und alle Normen waren dem fernen Ziel untergeordnet. Auch die Ver fassung durfte dem Erreichen des Endzwecks nicht im Wege stehen.119 Welcher Weg zur sozialen irdischen Glückseligkeit dabei der richtige war, das wusste nur die stets „recht habende“ Partei. So vermochten die Machthaber in Ostberlin bei Streitkräfteeinsätzen insgesamt auf einen höheren Ermessensspielraum zurückzugreifen, als es in demokratisch legitimierten Staaten regelmäßig ist. Jeweils verstärkt beschäftigte sich die politi sch-militärische Elite der D DR mit einem inneren Aufgebot der Streitkräfte in Situationen, in denen sie die „Arbeiter- und Bauernmacht“ auf dieser Ebene als besonders bedroht empfand. Wie relevant diese Aufgabe für die NVA war, diskutierten die obersten Repräsentanten des Systems abhängig von der empfundenen Gefahr. Pläne und Anordnungen zur Unterdrückung des Au fbegehrens breiter Sch ichten der B evölkerung im Jahre 1989, das sich überwiegend friedlich und weit entfernt von einem bewaffneten Aufstand äußerte, verdeutlichen schließlich, dass in den Reihen der Her rschenden ein Aufgebot der NVA bei in nerstaatlichen Unruhen selbst in der Spätzeit der SED-Diktatur keine völlig abwegige Option war.120 So gab es Überleg ungen einzelner Politiker, wobei Erich Honecker (1912-1994) herausragte,121 der Opposition mit der Macht der Streitkräfte entgegenzutreten. Der NVR und der Verteidigungsminister fällten Entscheidungen, die im Notfall eine Aufstellung von NVA-Einheiten zur Unterstützung der Polizei erlau bten. Derartige Formationen (Einsatz-Hundertschaften) bestanden im Oktober und November 1989 und kamen in einzelnen Großstädten, insbesondere in Dresden, Leipzig und Berlin, zu begrenzten Einsätzen. Bei den Maßnahmen trugen sie als Bewaffnung i.d.R. Schlagstöcke. Lediglich die in Dresden eingesetzten Ar___________ 118

Vgl. J. Hohwieler, S. 76. Vgl. Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Köln / Opladen 1963, S. 24-29. 120 Vgl. Uta Stolle, Der Aufstand der Bürger. Wie 1989 di e Nachkriegszeit in Deutschland zu Ende ging, Baden-Baden 2001, S. 130-146. 121 Vgl. Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996, S. 117-132. 119

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meeangehörigen führten am 5. Oktober 1989 Handfeuerwaffen mit sich, allerdings ohne dass ihnen der Gebrauch erlaubt war. Während der Aktionen kamen die Soldaten in den Städten aber kaum mit Zivilisten in Berührung. 122 Gegen eine Demonstration am 16. Oktober 1989 in Leipzig hegte Honecker zudem Pläne, zur A bschreckung der Protestierenden ein Panzerregiment durch die Stadt fahren zu lassen. Andere SED-Funktionäre wendeten dies j edoch ab.123 Gesondert aufgestellte NVA-Formationen wurden im Raum Berlin am 10. November 1989 in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt. Der Beschluss währte allerdings nur einen Tag. Dass die NVA im Herbst 1989 nicht in umfassenderem Maße in einer Unterdrückung der Op positionsbewegung zum Einsatz kam, hatte mehrere Gründe. Zum einen überrollten die Ereignisse die politische Führung der DD R. Es herrschte Unklarheit, wie mit dem Protest umzugehen sei. Dass die geschwächte und sich zurückziehende Hegemonialmacht keine Unterstützung für ein härteres Vorgehen wider die „Konterrevolution“ erkennen ließ, steigerte Ratlosigkeit und Lähmungserscheinungen der P arteielite. Zum anderen war ungewiss, wie sich die in der Beilegung innerer Unruhen nicht ausgebildeten Soldaten bei einem entsprechenden Befehl schlagen bzw. wie Wehrpflichtige auf einen solchen reagieren würden.124 Es gab an der Spitze v on SED und Militär aber auch Männer, denen eine Lösung der Krise m it Waffengewalt mehr widerstrebte als anderen. So trugen u.a. Egon Krenz (geb. 1937), Sekretär und ab 18. Oktober 1989 Generalssekretär des ZK der SED, und Fritz Streletz (geb. 1926), Sekretär des NVR, wie eine Reihe höherer Offiziere, teilweise machtpolitisch, teilweise moralisch begründet, dazu bei, dass im Herbst 1989 ein voreiliger Griff nach Gewalt und Militär gegen das Aufbegehren der Bürger ausblieb.125 Tatsächlich betonten ehemalige Angehörige der politisch-militärischen Elite Ostberlins in der „Nachwendezeit“, dass ein Einsatz der NVA gegen die Opposition 1989 vor allem deshalb nicht stattgefunden hätte, weil die Verfassung einen solchen innerstaatlichen Militäreinsatz durch die B estimmung, die Strei tkräfte hätten die DDR vor Angriffen von „außen“ zu schützen, nicht erlaubte. 126 Überlegungen und Ansätze zur gewaltsamen Niederschlagung der Unruhen gab es aber sehr wohl und dies nicht völlig fern der Option eines Armeeeinsatzes. ___________ 122 Vgl. Dale Roy Herspring, Requiem für eine Armee, Das Ende der Nationalen Volksarmee der DDR, Baden-Baden 2000, S. 31-53. 123 Vgl. Hans-Hermann Hertle, S. 130. 124 Vgl. Hans Ehlert, Von der „Wende“ zur Einheit – Ein sicherheitspolitischer Rückblick auf das letzte Jahr der Nationalen Volksarmee, in: ders. (Hrsg.), Armee ohne Zukunft. Das Ende der NVA und die de utsche Einheit. Zeitzeugenberichte und Dokumente, Berlin 2002, S. 1-73, hier S. 10f. 125 Vgl. Dale Roy Herspring, S. 49f.; Uta Stolle, S. 139f. 126 Vgl. Hans Ehlert, S. 9f.

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Zumindest einigen Politikern der Ostberlin er Republik erschien ein derartiges Aufgebot legitim. Doch selbst wenn es zweifelhaft ist, dass die Nat ionale Volksarmee den Umsturz in der DDR in erster Linie mit Blick auf den Wortlaut der Verfassung nicht gewaltsam zu verhindern suchte bzw. die wankenden Machthaber aufgrund dessen von einem Streitkräfteeinsatz absahen, lässt sich eine solche Darstellung nicht gänzlich widerlegen. Letztlich ist es Tatsache, dass der DDR 1989 eine „chinesische Lösung“ erspart blieb.

4. Erziehung und politische Integration

Neben der latent vorhandenen Aufgabe, gegen „Störer von Ruhe und Ordnung“ vorzugehen, übernahm die NVA innerstaatlich ein breites Funktionsfeld. Eng an den Schutz der inneren Ordnung, einschließlich und vor allem der b estehenden Herrschaftsverhältnisse, gekoppelt war die Ver wendung der A rmee als Erziehungsinstrument. Eine Aufgabe, der die Mäc htigen in der D DR stets außerordentliche Bedeutung beimaßen. Diese Handhabe führte dazu, dass der Militärapparat der Ostberliner Republik nicht weit entfernt von der wilhelminischen Definition bisweilen als „Schule der Nation“ bezeichnet wurde, in seinem Fall freilich unter sozialistischen bzw. Parteivorzeichen.127 Die Identifikation mit den Vo rstellungen der Füh rer eines Landes war und ist ein entscheidender Faktor für die Bereitschaft des Soldaten zur Verteidigung der Autorität der Her rschenden. Im Bewusstsein dessen sollte der NVA Angehörige nicht nur militärisch, sondern im Sinne der SED auch gezielt politisch-weltanschaulich gebildet werden. „Durch die politische Ausbildung soll(t)en die Soldaten, Matrosen, Unteroffiziere, Maate und Offiziere zu grenzenloser Ergebenheit gegenüber der Arbeiter-und-Bauernmacht […], zur festen Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion und den Streitkräften des sozialistischen Lagers, zu Haß gegen die I mperialisten und im Geiste entschlossener Kampf- und Einsatzbereitschaft gegenüber einem starken, technisch gut ausgerüsteten Aggressor erzogen werden.“128 Für die hohen, auf dem Fundament der marxistisch-leninistischen Ideologie wandelnden Herren der „führenden“ Partei resultierte gar die „Überlegenheit der sozialistischen Armeen vor allem aus dem“ mittels entsprechender Schulung zu fördernden „Bewußtsein ihrer Kämpfer für die gerechteste Sache, für den Sozialismus ihr Leben einzusetzen.“ 129 ___________ 127 Vgl. BMVG (Hrsg.), Die NVA – Parteischule der Nation, I. Teil: Charakter und Wesenszüge der NVA, Limburg 1969, S. 43-45. 128 BA-MA, DVW 1/2010, BL. 96, Direktive 6/56 des Ministers für Nationale Verteidigung vom September 1956, Die politische Ausbildung der Angehörigen der Nationalen Volksarmee in der Deutschen Demokratischen Republik. 129 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/576, Bl. 217, Über die Rolle der Partei in der Nationalen Volksarmee, Beschluss des Politbüros vom 14. Januar 1958.

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Die mit der politischen Ausbildung erhoffte Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit für den Schutz der „sozialistischen Errungenschaften“ zielte allerdings nicht nur auf den Soldatendienst, zugleich versprachen sich die v erantwortlichen Sicherheits- bzw. Militärpolitiker, dass der Armeeangehörige abseits des Dienstlebens wie der Garnisonen und in Folge des Wehrdienstes im Sinne des Vermittelten auftrat. In Loyalität zur SED und ihrer politischen Vorstellungen wie als dere n Mittler sollte der durch den Militärapparat Geformte in der G esellschaft wirken. Erschien es den Herrschenden im deutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“ bereits während der P hase der Rekrutierung der Soldate n gemäß dem Freiwilligenprinzip, also in einer Periode als dem Großteil der Die nsttuenden eine gewisse Bereitschaft zur Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“ unterstellt werden könnte,130 wichtig, „die Armeeangehörigen ständig zu einem hohen sozialistischen Bewußtsein zu erziehen“,131 musste dies für die ab dem Jahre 1962 unfreiwillig, d.h. auf der Basis der Wehrpflicht, zum „Friedensdienst“ eingezogenen jungen Männer umso mehr gelten. In diesem Sinne durchzogen ideologische und politische V orstellungen der P artei frühzeitig den Militära pparat und nahmen bereits kurz nach der „Geburt“ der NVA umfassende Formen an. In den 1960ern wurde dies perfektioniert und erfuhr durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eine Bedeutungsaufwertung. 132 Speziell in der Ausbildung der Rekruten nahm die Ve rmittlung entsprechenden Wissens von Beginn an ei nen herausragenden Rang ein, ja konkurrierte bisweilen mit der Schulung in direkten militärischen Kenntnissen.133 Jedoch auch auf anderen Ebenen des Die nstlebens vermochte der Soldat der In doktrination durch die ___________ 130 Unter Berücksichtigung der rigiden Werbemethoden kann bereits vor Umwandlung der NVA in eine Wehrpflichtarmee nur eingeschränkt von der Freiwilligkeit des Militärdienstes gesprochen werden. Vgl. Rüdiger Wenzke, Die Fahnenflucht in den Streitkräften der DDR, in: Ulrich Bröckling / Michael Sikora (Hrsg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 252-287, hier S. 259. 131 Erich Honecker, Die Verantwortung der Arbeiterklasse für die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik, Ausschnitt aus einem Artikel vom Mai 1957, in: ders., Zuverlässiger Schutz des Sozialismus, S. 9-16, hier S. 14. 132 Vgl. zur Stellung der Partei in der NVA und zur politischen Schulung: Frank Hagemann, Parteiherrschaft in der NVA.; G. Waldhausen, Nationale Volksarmee als Parteischule, Pfaffenhofen / Ilm o. J. 133 Vgl. BA-MA, DVW 1/2010, Bl. 1 02-106, Lehrpläne für die marxistischleninistische Schulung und den Politunterricht im Ausbildungsjahr 1956/57; BA-MA, DVW 1/2010, Bl. 106-109, Lehrpläne für die Parteischulen der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik im Ausbildungsjahr 1956/57. Bereits ein Blick in die Grundlagenliteratur der NVA-Ausbilder oder in die schriftlichen Hilfsmittel der Rekruten offenbart den herausgehobenen Stellenwert der politischen Erziehung. Vgl. statt vieler: MfNV (Hrsg.), Handbuch Militärisches Grundwissen.

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SED kaum auszuweichen. Nicht zuletzt infiltrierte der P arteiapparat selbst, ausgestattet mit weitreichenden Kompetenzen und u.a in erzieherischer Mission, den militärischen Sektor bis hinab in unterste Gliederungsebenen. 134 Mit der weithin in der Ver antwortung der NVA liegenden vormilitärischen Bildung von Kindern und Jugendlichen, vor allem mittels der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST),135 wirkte sie schon im Vorfeld des Eintritts der jungen Männer in die Streitkräfte militärisch wie politisch in erzieherischer Form. Die NVA tangierte aber auch nach dem Ausscheiden der Soldaten aus der A rmee den W erdegang eines Großteils ih rer ehemaligen Angehörigen. Das Ve rmittelte sollte zugleich wachgehalten wie ausgebaut werden. Insbesondere das vergleichsweise ausgiebig genutzte Instrument des Reservewehrdienstes sowie die der NVA verwandten und von ihr personell, materiell und/oder koordinierend beeinflussten paramilitärischen Organisationen, z.B. die Kampfgruppen, standen hierzu bereit.136 Unter dem in den militärischen Strukturen geformten Personal kam den Offizieren nach Beendigung des Armeedienstes ebenfalls ein besonderer Stellenwert zu. Ideologisch gefestigt und in technischen, pädagogischen sowie administrativen Fähigkeiten geschult, gingen sie bisweilen als zuverlässige und regierungs- bzw. parteitreue Verwaltungsfachleute in andere Gesellschaftsbereiche über. Mit dem ideologischen Part in Schulung und Ausbildung diente die Armee der politischen I ntegration der Bevölkerung bzw. der Erg ebenheit zur Parteiund Staatsführung auf direktem Wege. Mit der außerordent lichen Präsenz des Militärischen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ stützte sie diese zudem indirekt. Demgemäß zielte die im Umfang selbst im Ostblock ihresgleichen suchende militärische Durchdringung der Gesellschaft, mit all den dazu praktizierten Elementen, von der un persönlichen Präsenz der S treitkräfte und ihrer Anschlussorganisationen in den Medien über das fü r jeden unmittelbar spürbare Wirken in den Städten, Dörfern, Betrieben, Schulen oder W ohnungen, in h ohem Maße auf die Identifikation der Bürger mit dem Militär und der Vermittlung der Notwendigkeit einer schlagkräftigen Verteidigung der „sozialistischen Errungenschaften“. Jeder Einzelne sollte vom Beitrag der Soldaten für den Schutz seines von einem „zum Äußersten entschlossenen imperialistischen Feind“ bedrohten Daseins überzeugt und zur Anerkennung der „Friedenspoli___________ 134

Vgl. Rüdiger Wenzke, Die Nationale Volksarmee, S. 438f. und S. 455f. Vgl. zu Arbeit und Auftrag der GST: Ulrich Berger (Hrsg.), Frust und Freude. Die zwei Gesichter der Gesellschaft. Schkeuditz 2002. 136 Vgl. zu den Funktionen des Reservedienstes: W. Effenberger, Die Reservisten ein bedeutender Faktor bei der Entwicklung der sozialistischen Wehrmoral, in: Militärwesen, 1966, Heft 6, S. 778-788. 135

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tik“ der SED gebracht oder bess er noch zur B eteiligung an dieser mobilisiert werden. 5. Begegnung ökonomischer Herausforderungen

Über die gesamte Spanne der Existenz der Nationalen Volksarmee setzte die politisch-militärische Führung des „Arbeiter- und Bauernstaates“ Streitkräfteangehörige in der ziv ilen Wirtschaft ein. Vornehmlich standen ökonomische Prämissen hinter dieser P raxis.137 Bereits in den ersten Jahren nach der NV AGründung halfen Soldaten und Offiziere bei Er nteeinsätzen oder unterstützten Aufbauprojekte, wie den Bau von Häfen und Bahnstrecken. 138 Obwohl im Interesse militärischer Schlagkraft zu einer derartigen Handhabe stets erst übergegangen werden sollte, wenn alle anderen Mö glichkeiten ausgereizt wären, 139 ließen wiederkehrende wirtschaftliche Probleme Einsätze von Soldaten in der „Produktion“ normal werden. Vor allem in den 1980er Jahren nahm eine solche Verwendung von Armeeangehörigen stark zu. Nun halfen bisweilen ca. 55.000 Soldaten in Industrie und Landwirtschaft.140 Es erscheint abnorm, Streitkräfte zur Bewältigung ökonomischer Herausforderungen heranzuziehen, insbesondere unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten. In sozialis tischen Staaten war dies nichts Außergewöhnliches, obgleich dieses Vorgehen als „letztes Mittel“ wider die Notlage firmierte. Die Situation der „Produktionsmittel“, die im Sozialismus bekanntermaßen nicht als „Kapital“ in privaten Händen lagen, sondern als „gesellschaftliches Eigentum“ fungierten, begünstigte und vereinfachte diese Handhabe. Dass zum wirtschaft___________ 137 In der Frühzeit der NVA gab es zudem das vornehmlich aus der VR China entlehnte Experiment, vor allem Angehörige des Offiziersstandes, die über keine Erfahrung als „Werktätige“ verfügten, zur Steigerung ihres „sozialistischen Bewusstseins“ in die „Produktion“ zu delegieren. Vgl. Klaus P. Storkmann, Das chinesische Prinzip in der NVA. Vom Umgang der SED mit den Generalen und Offizieren in der frühen NVA. Eine Dokumentation, Berlin 2001. 138 Bereits für das Geburtsjahr der NVA konnte etwa der Chronist des Militärbezirks V für die 1. motorisierte Schützendivision (MSD) 77.319 Arbeitsstunden zur Einbringung der Ernte konstatieren. Wobei in dieser Zeit täglich 550-600 Angehörige des Verbands im Einsatz waren. Vgl. BA-MA, DVH 17/28570, Bl. 26, Chronik des MB V, Einbringung der Ernte durch Angehörige der 1. MSD; Vgl. zudem: Zeittafel zur Militärgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1949-1984, Ostberlin 1985, S. 178 und S. 191. 139 Vgl. BA-MA, DVW 1/8747, Bl. 17-23, Anordnung 37/61 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 28. Juli 1961, Einsatz von Kräften und Mitteln der NVA zur Bekämpfung von Katastrophen und Notständen sowie zur Erfüllung volkswirtschaftlicher Aufgaben. 140 Vgl. Jörg Schönbohm, Zwei Armeen und ein Vaterland. Das Ende der Nationalen Volksarmee, Berlin 1992, S. 44.

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lichen Wohl des Volkes Angehörige der „Volksarmee“141 in die dem Volke eigenen Betriebe delegiert wurden, war letztlich nur konsequent. Die Verantwortlichen rückten die Einsätze der Soldaten in „Produktion“ und „Ernte“ einerseits in die Nähe der Bekämpfung von Katastrophen und Notständen.142 Andererseits legitimierten sie diese mit deren Nutzen für die sozialistische Gesellschaft, besonders für deren Verteidigungsfähigkeit. Demgemäß unterstützten die NVA-Zugehörigen mit dieser Arbeit den weiteren Aufbau der sozialistischen Ordnung und stärkten die ökonomische Basis der Widerstandskraft des Landes gegen die „imperialistische Bedrohung“. Als Beitrag zu Aufbau, Sicherheit und Attraktivität des Sozialismus bedeutete diese P raxis letztlich wiederum die Unterstützung des revolutionären Weltprozesses. Neben der Bekämpfung ökonomischer Herausforderungen sollten die Einsätze zudem zur Stärkung der Verbundenheit zwischen Armee und Zivilbevölkerung beitragen. Diese Intention spielte vor allem in der Frühzeit der Streitkräfte eine große Rolle.143 6. Katastrophenschutz

Ähnlich der Streitkräfte anderer Länder, so z.B. der Bundeswehr auf der Basis von Artikel 35 Absatz 2 und 3 GG, stand die Nationale Volksarmee zur Bekämpfung von Katastrophen und deren Folgen bereit. Als ein eigenes Aufgebot wider derartige Notlagen schuf die R egierung der DDR 1967 das System der Zivilverteidigung (ZV) unter der Führung des Innenministers. Dieses war von Anfang an stark militärisch, insbesondere auf den Sc hutz des Hinterlandes und der Bevölkerung vor gegnerischer Waffenwirkung, ausgerichtet. Die ZV wechselte am 1. Juni 1976 offiziell in die Zuständigkeit des Verteidigungsministers.

___________ 141

Nach dem ersten Minister für Nationale Verteidigung, W. Stoph, sagt der „Begriff „Volksarmee“ aus, dass es „[…] (in) der Armee […] vom Soldaten bis zum General keine Klassengegensätze […]“ gebe „[…], da alle Angehörigen der Volksarmee die Interessen der Arbeiter und Bauern vertreten […]“ In: BA-MA, DVH 3/2055, Bl. 7, Protokoll der Kollegiumssitzung der KVP vom 17. Januar 1956. 142 Vgl. statt vieler: BA-MA, DVW 1/6090, Bl. 1-9, Anordnung 26/60 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 19. Mai 1960, Regelung des Einsatzes von Kräften und Mitteln der Nationalen Volksarmee zur Bekämpfung von Katastrophen sowie zur Unterstützung bei der Erfüllung volkswirtschaftlicher Aufgaben. 143 Vgl. BA-MA, DVW 1/2002, Bl. 44, Anordnung 38/56 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 1. August 1956, Ei nsatz von Kräften und M itteln der Nationalen Volksarmee zur Unterstützung der Landbevölkerung bei der verlustlosen Einbringung der Ernte.

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Formal gehörte sie ab er nicht zur NVA. Der Minister führte sie über den ihm unterstellten „Leiter Zivilverteidigung der DDR“.144 Die rechtlichen Grundlagen zur Bekämpfung von Katastrophen fasste der Ministerrat der DDR in speziellen Verordnungen zusammen. 145 Diese Dokumente ordnen unter den Begriff Katastrophe „[…] folgenschwere Naturereignisse einschließlich extremer Wettererscheinungen und andere Schadens- oder Unglücksfälle großen und in der Regel überörtlichen Ausmaßes […]“146 Sie schließen Havarien, definitionsgemäß technische Störungen im Verantwortungsbereich von Betrieben, die Gefährdungen für Gesundheit und Leben von Menschen und für materielle Werte nach sich ziehen, aus ihrem Geltungsbereich aus. Deren Bekämpfung sollte nach eigens dafür geschaffenen Rechtsvorschriften erfolgen. In diesen Fällen war weitgehend der b etroffene bzw. verantwortliche Betrieb geboten.147 Unter Umständen konnte sich eine Havarie zu einer überörtlichen Katastrophe entwickeln. Entsprechend sollten wiederum die dafür erlassenen Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen. 148 Schien es das Ausmaß der Bedroh ung bzw. der K atastrophe notwendig zu machen, konnten die zu dere n Bekämpfung eingesetzten Katastrophenkommissionen oder später die Zivilverteidigung gemäß den Ver ordnungen Kräfte und Mittel der Natio nalen Volksarmee anfordern. Ähnlich der Unterstützung volkswirtschaftlicher Aufgaben, sollte das P otential des Militärapparates nur aufgeboten werden, wenn alle anderen örtlichen Möglichkeiten ausgenutzt waren bzw. ihr Aufgebot nicht den notwendigen Erfolg versprach. 149 Eingesetzt wurde das Streitkräftepotential dann entsprechend der vom Minister für Nationale Verteidigung erlassenen Befehlen und Bestimmungen.150 Er selbst behielt ___________ 144 Vgl. W. Jahn, Der Luftschutz und die Zivilverteidigung der DDR, in : Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 551-576, hier S. 559-569. 145 In den letzten Jahren der DDR galt die Verordnung über den Katastrophenschutz vom 15. Mai 1981, in: GBl. der DDR, Teil I, 1981, Nr. 20, S. 257-260. Frühere Verordnungen stammen aus den Jahren 1959, 1963 und 1971. 146 Art. 2 der Verordnung über den Katastrophenschutz vom 15. Mai 1981, in: GBl. der DDR, Teil I, 1981, Nr. 20, S. 257. 147 Vgl. Verordnung über den Havarieschutz vom 13. A ugust 1981, in: GBl. der DDR, Teil I, 1981, Nr. 27, S. 329-331. 148 Vgl. Art. 7 der Verordnung zur Bekämpfung von Wasserschadstoffhavarien in der Ostsee vom 11. März 1982, in: GBl. der DDR, Teil I, 1982, Nr. 21, S. 406. 149 Vgl. statt vieler: BA-MA, DVW 1/6090, Bl. 1, Anordnung 26/60 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 19. Mai 1960, Regelung des Einsatzes von Kräften und Mitteln der Nationalen Volksarmee zu Bekämpfung von Katastrophen sowie zur Unterstützung bei der Erfüllung volkswirtschaftlicher Aufgaben. 150 Vgl. Art. 9 Abs. 2 d er Verordnung über den Katastrophenschutz vom 15. Ma i 1981, in: GBl. der DDR, Teil I, 1981, Nr. 20, S. 259.

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sich dabei, wie im Falle der Unterstützung volkswirtschaftlicher Aufgaben, weitgehende Entscheidungsbefugnisse vor.151 In ihrer Geschichte hatte die Armee der Ostberliner Republik häufig derartige Hilfe zu leisten. Der größte dieser Einsätze fand zum Jahreswechsel 1978/79 statt. Eine plötzlich eingetretene, für den geographischen Raum ungewöhnliche Witterungskatastrophe lähmte mit strengem Frost, Schneeverwehungen und Eisglätte weite Teile des Landes. Die NVA und die anderen bewaffneten Organe der DDR boten mehr als 50.000 Mann zur Katastrophenhilfe auf. Zudem unterstützte die GSSD mit Mensch und Material.152 V. Schlussbetrachtung Frühzeitig war sich die sozialistische Partei im jungen deutschen „Arbeiterund Bauernstaat“ der 1950er Jahre bewusst, welchem primären Aufgabenfeld die regulären Streitkräfte der DDR dienen sollten. Konsequent und eifersüchtigen Blickes auf ihre Führungsposition bestimmte sie sie zum militärischen Schutz des Landes, der V erbündeten und des sozialistischen, „wahrhaft friedfertigen“ Gesellschaftsmodells. Bereits vor der gesetzlichen Schaffung der Nationalen Volksarmee visierten die politisc h-militärischen Führer in den best ehenden paramilitärischen Strukturen Fähigkeiten an, die den regulären Streit kräften rasch ein ernsthaftes (Mit-)Arbeiten in der Landes- und Bündnisverteidigung ermöglichen sollten. Die Ged ankenspiele der po litisch-militärischen Elite der DDR, die NVA allein gegen einen begrenzten Angriff seitens der Bundesrepublik aufzubieten, erübrigten sich in den 1960er Jahren zusehends. Verfassung und Fahneneid traten zur Auftragsbeschreibung der Armee in defensiv-begrenzender Sprache auf. Die mit der Anbindung an die sozialistische Gesellschaftsordnung einhergehende Verpflichtung auf die m arxistischleninistische Ideologie ermöglichte tatsächlich allerdings ein breites Fe ld an „Schutz“ als für die Nationale Volksarmee auftragsinhärent zu betrachten. Die Konstellation einer diktatorisch herrschenden, Deutungsrechte über Ideologie wie Weltgeschehen beanspruchenden sozialistischen Partei verschärfte diesen Zustand. Diesem Geflecht entsprungene Möglichkeiten blieben nicht auf die Theorie beschränkt. Pläne, die NVA wider der SED u nangenehme Richtungswechsel in der tschec hoslowakischen und polnischen Politik einzusetzen, und das tatsächliche Aufgebot der Verbündeten, speziell in der ČSSR, mitsamt den ___________ 151 Vgl. BA-MA, DVW 1/8747, Bl. 18 und 20, Anordnung 37/61 des Ministers für Nationale Verteidigung vom 28. J uli 1961, Einsatz von Kräften und Mitteln der NVA zur Bekämpfung von Katastrophen und Notständen sowie zur Erfüllung volkswirtschaftlicher Aufgaben. 152 Vgl. Reinhard Brühl (Hrsg.), Armee für Frieden und Sozialismus, S. 588-596.

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dazugehörigen offiziellen Rechtfertigungen sprechen eine deutliche Sprache. Dazu trat die von der DDR und ihrer Armee geleistete internationale Militärhilfe. Theoretisch auftragskonform und im ideologischen Maßstab prinzipiell gerecht konnte gar erscheinen, das sozialistische Gesellschaftsmodell wider deren „aggressiven“ Feinden geradewegs gewaltsam, d.h. selbst in einer vom kapitalistischen Gegner als Angriffskrieg empfundenen Aktion, zu weiterer Ausbreitung auf dem Planeten zu verhelfen. Trotz alledem galt der Dienst in der NVA offiziell als „Friedensdienst“. Einerseits leitete sich dies theoretisch von der Ideologie ab und gehörte für eine sozialistische Armee zum grundsätzlichen Wesen. Andererseits bedingte praktisch das Zerstörungspotential moderner Waffen die h erausgehobene Position des Friedens. Das Zu sammentreffen der ungezügelten militärischen Gewalt der weltpolitisch konkurrierenden Blöcke in Mitteleuropa war gerade für die DDR prekär. Vor entsprechenden Absichten von Bundesrepublik und NATO, seitens der SED basierend auf ihrer Klassenkampfideologie generell befürchtet, galt es, durch militärisches Potential die naturgemäß „kriegslüsternen“ Feinde abzuschrecken und die eigene Sphäre zu schützen. Dies hieß nicht, die Unterstützung der globalen Ausbreitung des „gesellschaftlichen Fortschritts“ aufzugeben. Die Sicherung des Friedens, die Verhinderung verheerender Zerstörungen auf dem Globus, sollte anderen Instrumenten dahingehendes Wirken ermöglichen. Die NVA stand konsequent in Diensten des Warschauer Pakts. Das Kernstück des Auftrags der Armee wie die Hauptaufgaben des Bündnisses zielten entsprechend weitgehend in die gleiche Richtung, wobei hinter diesem Geflecht letztlich die I nteressen der östlich en Hegemonialmacht zu Buche schlugen. Abseits des Hauptaufgabenfeldes hieß es für die Streitkräfte der DDR, vielfältig auf zu diesen mehr oder weniger stark in Wechselwirkung stehenden Sektoren zu agiere n. So kam Ostberlin durch das Erbe des n ationalsozialistischen Deutschen Reiches nicht umhin, mittels der NVA größte Anstrengungen zu unternehmen, um als loyaler und unterstützenswerter Verbündeter im Warschauer Pakt wahrgenommen zu werden. Die im globalen Maßstab geringe Anerkennung des kleinen Landes, der konstruierte Charakter des Staatswesens sowie die außergewöhnliche Anbindung an die östliche Hegemonialmacht trieben zudem das überdurchschnittliche Bemühen an, mittels Streitkräften den souveränen Status des Landes zu unterstreichen. So schlagkräftig und vorbildlich sich die politisch-militärische Elite der Ostbe rliner Republik die Nationale Volksarmee wünschte, so wertvoll als Paktmitglied und so souverän als Staat sollte die DDR i nternational erscheinen. Im Inneren des deutschen „Arbeiter- und Bauernstaats“ war das Aufgabenfeld der NVA breit. Während der Sicherheitsapparat der DDR in den frühen Jahren der regulären Armee aktiv an der Option eines etwaigen NVA-Einsatzes gegen „Störer von Ruhe und Ordnung“ im Lande arbeitete, fu hr er diese Bemühungen 1962 zu rück. Unmöglich wurde ein derartiges Aufgebot aber keineswegs. Der entsprechende Beschluss selbst, wie

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spätere Äußerungen der politisch-militärischen Elite, erkennen es weiterhin als möglich an. In sicherheitspolitisch sensiblen Situationen gewann es zudem an Aktualität. Da im Deutungshorizont der Partei- und Staatsführung Unruhestifter bzw. die „Konterrevolution“ im entwickelten sozialistischen Staat ihren Ursprung letztlich außerhalb der D DR haben mussten, konnte ein Einsatz g egen inneren Aufruhr als Verteidigung des Landes wider äußere Bedrohungen verstanden werden und somit grundsätzlich zum Auftrag der NVA, auch unter Beachtung der Verfassungsbestimmungen, gehören. Angesichts des „Ernstfalls“ im Jahre 1989 e rschien dann i mmerhin einigen an der Spitze v on Partei und Staat der Rückgriff auf die Streitkräfte vorstellbar. Als Instrument zu Erziehung und politischer Integration wirkten sie indirekt auf gleichem Terrain. In diesem Funktionsfeld galt es, die Identifikation mit den sozialistischen Werten, inklusive der Führung durch die sozialistische Partei, und die Bereitschaft zu deren Anerkennung und Verteidigung bei den Die nsttuenden wie abseits der Strei tkräfte zu steigern. Die Armee darüber hinaus gegen ökonomische Herausforderungen aufzubieten, ist vor allem aus privatwirtschaftlicher Perspektive befremdlich. Um Bestand und Aufbau sowie die Verteidigungsfähigkeit des Sozialismus zu gewährleisten, war solcherlei Vorgehen für den deutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“ legitim. Für Streitkräfte regelmäßig ist dagegen die Bekämpfung von Katastrophen und deren Folgen. Die NVA nahm sich davon nicht aus. Aufs Ganze gesehen tritt der Au ftrag der Nationalen Volksarmee mit außergewöhnlicher Breite auf. Vielfältig sollten die Streitkräfte zur Sicherheit und Handlungsfähigkeit des deutschen „Arbeiter und Bauernstaates“ und der sozialistischen „friedliebenden“ Welt insgesamt beitragen. Die SED und über ihr die KPdSU sahen sich dabei in umfassend deutender wie führender Position. Von ihnen angewendet und interpretiert machte die marxistisch-leninistische Ideologie die Klassenarmee des Proletariats für die „Arbeiter- und Bauernmacht“ theoretisch nahezu grenzenlosem Einsatz verfügbar. Gemessen an den von der „wissenden“ Partei definierten Ansprüchen dieses Welterklärungsmodells, zu denen nicht zuletzt ihre führende Rolle bzw. ihre Herrschaft gehörte, stand die Armee gegen Bedrohungen von außerhalb und Herausforderungen im Inneren der schutzbefohlenen Sphäre umfassend bereit.

Von der NVA zur Bundeswehr – Herbst 1989 bis 2. Oktober 1990 Von Werner E. Ablaß Vor 17 Jahren fanden in der damaligen DDR die ersten freien Wahlen mit einem Ergebnis statt, welches wir, 14 Tage vorher, so nicht erwartet hatten. Die Allianz für Deutschland war der eindeutige Wahlsieger, bildete aber eine Koalitionsregierung mit der SP D und den Liberalen, um in der Volkskammer eine stabile Mehrheit zu haben. Parlament und Regierung arbeiteten mit aller Kraft an der v on der B evölkerung gewünschten schnellen Vereinigung beider deutscher Staaten, aber nicht alle Wünsche gingen in Erfüllung. Erfolge, die es zweifellos gegeben hat, haben wir so nicht erhofft, Probleme, die immer noch bestehen, so nicht befürchtet. Was waren die wichtigsten Aufgaben ab 12. April, als diese Regierung ihr Amt antrat? 1. Rückgabe von Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten an die Ko mmunen. 2. Wiedereinführung der Länder, Rückgabe der landesbezogenen Identität. 3. Erarbeitung des Vertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ab 01. Juli 1990 (1. Staatsvertrag). 4. Erarbeitung des 2. Staatsvertrages (Vertrag über die Herstellung der Ei nheit Deutschlands). 5. Verhandlung und Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages. 6. Austritt aus der WVO. Nach wie vor gibt es zu die sen Themen Ratschläge und Kritik von Zeitgenossen, deren Rat ich mir damals gewünscht hätte und immer noch urteilen viele über Dinge, die im Zuge der Vereinigung geschahen und von denen sie nicht sonderlich viel verstehen. Dieses Parlament und die Regierung haben in 173 Tagen 759 Vorlagen erarbeitet, 143 Veror dnungen erlassen, 96 Gesetze besc hlossen, 3 In ternationale Staatsverträge erfolgreich verhandelt und den Austritt aus der WVO mit Zustimmung aller Partner erreicht. Ich weiß, dass beide deutsche Regierungen unter enormem Zeitdruck standen und die DDR o hne die Ein führung der D -Mark finanziell vor dem Ruin

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stand – alles andere ist Legende. Ein Hinauszögern der Verhandlungen über die deutsche Einheit hätte zu keinem besseren Ergebnis geführt und wäre außenpolitisch vielleicht nicht mehr in dieser Form möglich gewesen. Kritikern sage ich immer wieder deutlich, es war ein freiwilliger Beitritt, getragen von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung und keine feindliche Übernahme. Lassen Sie mich jetzt anhand einiger Ereignisse dieser Zeit die Situation in der DDR aus meiner Sicht darstellen und auf die Sich erheitspolitik und die NVA eingehen. In der Zeit vom 09. bis zum 02. Oktober 1990 waren es zwei Ereignisse, die das Leben in der DDR grundlegend veränderten: 1. Die friedliche Revolution im Herbst 1989, verbunden mit dem Rücktritt von Erich Honecker und dem Machtverlust der SED. 2. Die erste freie und geheime Wahl am 18. März 1990. Die NVA und ihre Führung akzeptierten das W ahlergebnis und bereiteten die Übergabe der Amtgeschäfte an den vom Ministerpräsidenten zu berufenden Minister vor. Ich selbst wurde bereits am 10. April von Ministerpräsident de Maizière mit meiner Aufgabe als Staatssekretär im ab 18.04. umbenannten Ministerium für Abrüstung und Verteidigung betraut. Die Vereidigung der Regierung erfolgte am 12. April in der Volkskammer und der Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, trat sein Amt am 18. April in Strausberg an. Bereits in der Woche vor Eintreffen des Ministers gab es zwischen mir und der Führung der NVA eine konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Am 18. April wurde der bisherig e Minister, Admiral Theodor Hoffmann, auf Wunsch des Ministerpräsidenten, zum Chef der NVA berufen. Der Zeitpunkt des B eitritts der DDR stand im April 1990 noch nicht fest. Aufgrund der g erade erst begonnenen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und der relativ unsicheren Situation in der Sowjetunion haben wir im April / Mai n och mit den Jahren 1993 / 1994 gerechnet. Ministerpräsident de Maizière nannte in seiner Regierungserklärung vom 19. April als Nahziel eine gemeinsame Mannschaft bei den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona. Sie sehen also, dass der 03. Oktober 1990 zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Rolle in unseren Überlegungen spielte. Die DDR war zu diesem Zeitpunkt noch fester Bestandteil des Warschauer Vertrages und voll in das System dieses Paktes eingebunden. Nach den Unruhen, besonders bei den Wehrpflichtigen, im Januar 1990 stabilisierte sich die Lage nach Amtsantritt des neuen Ministers und seiner Zusagen während der ersten großen Kommandeurtagung am 02. Mai sichtbar. Zu dieser Zeit hatte die NVA noch ca. 102.000 Sold aten, ferner gab es ca. 28.000 Mann bei den Grenztr uppen und rund 52.500 Zivilbeschäftigte, außerdem waren in der Rüstungsindustrie der DDR rund 100.000 Menschen beschäftigt. Bei

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Hinzurechnung der Fa milienangehörigen ergeben sich ca. 1 Mio . Menschen, für deren soziale Absicherung wir auch die Verantwortung trugen. Entsprechend der W eisung des Ministerpräsidenten nahmen alle DD RMinisterien, so auc h wir, direkte Ver bindungen mit unseren Partnern in Bonn auf, die Herstellung der Einheit war eine Gesamtaufgabe und wir mussten frühzeitig gemeinsame Abstimmungen treffen. Die erste Begegnung mit dem Bundesminister für Verteidigung und seinen Staatssekretären fand am 27. April in Bonn statt. Dieses Treffen ging über ein vorsichtiges Abtasten und Bekanntmachen nicht hinaus. Ich führte meinen ersten offiziellen Besuch in Bonn am 04. Mai du rch, um mit dem beamteten Staatssekretär informelle Gespräche zu führen und im technischen Bereich, z.B. Büroausstattung, um Unterstützung zu bitten. Dieses Gespräch fand bereits in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre statt. Insgesamt habe ich meine Bonner Kollegen bis zum Beitritt der DDR am 03. Oktober 16 Mal g etroffen und mit ihnen verhandelt. Im Sommer standen die Fragen der Rüstungsbeschaffung und die angestrebte Kündigung der Verträge, besonders mit der Sowjetunion, sowie Personalfragen im Vordergrund. Die Richtlinien-Kompetenz in der Deutschlandpolitik hat sich der Ministerpräsident bereits in den Koalitionsverhandlungen ausdrücklich vorbehalten und festgeschrieben. Es galt für uns in erster Linie, die Sorgen unserer Partner in den WV-Staaten zu zerstreuen. Hierzu tr ugen die Rei sen in die So wjetunion, nach Polen, Ungarn und in die Tschechoslowakei bei. Wir stellten besonders in Polen Irritationen fest, die s ich erst le gten, als beid e deutsche Parlamente die Anerkennung der Ostgrenze beschlossen. Der NATO–Zugehörigkeit des vereinten Deutschland standen unsere osteuropäischen Verbündeten durchaus positiv gegenüber, da ih nen ein neutrales Deutschland als nicht wünschenswert erschien. Während unseres Besuches in Moskau vom 07. bis zum 09. Mai und während der tu rnusmäßigen Tagung der Ver teidigungsminister des Warschauer Vertrages vom 13. bis zu m 15. Juni in Strausberg, stellten wir allerdings eine geringe Bereitschaft und teilweise Ablehnung der So wjetunion fest, sich außenpolitisch gegenüber Deutschland zu bewegen. Dieses dokumentierte sich in immer neuen Forderungen während der Zwei-plus-Vier-Gespräche und bei bilateralen Verhandlungen. In der DDR sta nden zu die sem Zeitpunkt noch rund 380.000 sowjetische Soldaten und ca. 200.000 zivile Mitarbeiter und Familienangehörige. Auf die Empfindlichkeiten dieser Gruppierung galt es Rücksicht zu nehmen.

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Die DDR war zu diesem Zeitpunkt nicht souverän, sondern immer noch fest in das östliche Paktsystem integriert. Ich will versuchen, dies an drei Beispielen deutlich zu machen. Ende August habe ich Armeegeneral Schuraljow, den Ve rbindungsoffizier des Oberkommandos der WVO, mit seinen Unterstellten zurück nach Moskau verabschiedet. Bis zu diesem Zeitpunkt erfuhr der Ob erkommandierende des WV, Armeegeneral Luschew, vermutlich alles, was wir planten und im Zuge der Vereinigung vorbereiteten. Bereits Anfang Juli hatte die Sowjetunion der DDR für drei Tage die Öllieferungen gesperrt, erst nach Intervention und Drohung durch Ministerpräsident de Maizière wurden diese wieder aufgenommen. Zum Schluss ist der B esuch des Chefs des Stabes der Ver einten Streitkräfte, Armeegeneral Lobow, am 19. J uli 1990 zu n ennen. Zwei Tage nach dem Durchbruch im Kaukasus habe ich als amtierender Minister eine für August geplante Übung von NVA, WGT und Polnischer Armee abgesagt. Armeegeneral Lobow machte mir sehr scharfe Vorhaltungen und erklärte: „Die Offiziere der NVA müssten in ihrer professionellen Ausbildung trainiert werden, was gerade in der gegenwärtigen Periode der Instabilität der politischen Lage im Lande von Bedeutung sei.“ Dem Protokoll entnehme ich, dass ich es bei diesem Gespräch zu keinem Eklat kommen ließ, sondern ausführte, dass meine Entscheidung von politischer Verantwortung getragen sei. Wissend, dass die NVA in ihrer Gesamtheit nicht in die B undeswehr überführt werden konnte, bemühten wir uns ein Konversionsprogramm aufzulegen und denjenigen, die keine Chance hatten weiter zu dienen, die soziale Absicherung zu ermöglichen. Erschwert wurde uns dieses durch die katastrophale Haushaltslage. Das hieß im Bereich Abrüstung und Verteidigung konkret, dass mir bei den Haushaltsberatungen im Juli 640 Mio. DM gestrichen und 1,8 Mrd. DM bis 15.09. gesperrt wurden. Anschließend wollte das Parlament die Sperre bei Bedarf aufheben. Durch diese Situation waren wir kaum in der L age, die Forderung der Wehrpflichtigen zu erfüllen, die ab August den gleichen Wehrsold wie die Bundeswehrangehörigen forderten. Nur durch einen Kunstgriff gelang es uns, diesen Forderungen nachzukommen und damit Proteste und öffentliche Demonstrationen zu verhindern. Bereits ab Mai fü hrten wir mit unseren Partnern intensive Gespräche vorwiegend in Moskau, um bestehende Rüstungsverträge zu stornieren und die zu zahlenden Vertragsstrafen so g ering wie möglich zu halten. Insgesamt gelang es uns, in Verhandlungen mit der S U für rund 2,2 M rd. Mark der D DR / 1,1 Mrd. DM Verträge zu stornieren. Nach dem Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Bush und Gorbatschow und der Aussage Gorbatschows am 31. Mai in Washington, dass jedes Land seine Bündniszugehörigkeit frei wählen könne, nahmen die Verhandlungen im Juni an Intensität zu. Die Bedingungen, die Außenminister Schewardnadse während der Zw ei-plus-Vier-Verhandlungen am

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22. Juni im Schloss Niederschönhausen in Berlin stellte (z.B. Doppelmitgliedschaft in beiden Paktsystemen für fünf Jahre), ließen Bewegung erkennen und hatten eindeutig das Ziel, die sowjetische Öffentlichkeit zu beruhigen, denn Gorbatschow musste sich auf dem vom 02. bis 11. Juli stattfindenden Parteitag der KPdSU der Wiederwahl stellen. Bereits während des T reffens der St aatsund Parteichefs des WVO am 05. und 06. Juni in Moskau hat der so wjetische Außenminister zu Ministerpräsident de Maizière folgenden bemerkenswerten Satz gesagt: „Herr Ministerpräsident, versuchen Sie, die deutsche Einheit in den nächsten fünf bis sechs Monaten zu erreichen, ich weiß nicht, ob i ch danach innenpolitisch noch durchsetzen kann, was ich außenpolitisch verspreche.“

Als erster Generalsekretär erhielt Gorbatschow auf dem Parteitag bei seiner Wiederwahl 1.300 Geg enstimmen. Bereits nach der Geg endemonstration anlässlich der K undgebung zum 01. Mai in Moskau hatte ich persönlich, auch aufgrund der mir vorliegenden Informationen der dort für uns tätigen Offiziere, mit Schwächung seiner Stellung und Unruhen gerechnet. Vom 06. Juli bis 06. August amtierte ich für Rainer Eppelmann als Minister und führte in dieser Eigenschaft am 12. Juli in Bonn Gespräche über die Zweiplus-Vier-Verhandlungen. Zu diesem Zeitpunkt erwartete keiner meiner Gesprächspartner, dass Gorbatschow bei den Ka ukasusgesprächen der N ATOMitgliedschaft Deutschlands endgültig zustimmen würde. Mein für die Rüstung zuständiger Kollege und ich haben an diesem Tag über Ausrüstungsplanung der NVA für das J ahr 1991 u nd eventuellen Re-Import in die WVO-Staaten gesprochen. Auf der a m Morgen nach dem Treffen Kohl/Gorbatschow stattfindenden Sondersitzung des Kab inetts benannte uns der Mini sterpräsident die Sc hwerpunkte für die Verhandlungen zum zweiten Staatsvertrag (Einigungsvertrag). Das hieß, alle so nstigen Aufgaben traten zurück, um bei dieser günstigen Ausgangslage für die Herstellung der äußeren Aspekte der Einheit diesen zweiten Staatsvertrag zu behandeln und wenn möglich, noch vor U nterzeichnung des Zwei-plus-Vier- Vertrages zu verabschieden. In diesem Zusammenhang erinnerte er die von ihm eingesetzten Verhandlungsführer der einzelnen Ressorts, dass der z weite Staatsvertrag in beiden Parlamenten eine Zweidrittelmehrheit brauchte. Strittige Fragen, die sich bei den Verhandlungen ergaben, sollten ab Mitte August besprochen werden. Ferner wies er darauf hin, dass nicht Parteien, sondern die Regierung die Verhandlungen führte. Er untersagte öffentliche Äußerungen und betonte noch einmal seine Richtlinienkompetenz. Der MP sprach sich für eine Rechtsangleichung soweit wie möglich, aber nicht auf Kosten des soziale n Friedens aus und nannte einige Forderungen seinerseits, die aber im Verlauf der Verhandlungen nicht alle durchsetzbar waren.

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Zu diesem Zeitpunkt glaubten wir, noch einen Zeitrahmen bis ca. Früh jahr 1991 zu haben. Die wirtschaftliche Lage wurde aber nach der Einführung der DM am 01. Juli immer kritischer, dieses merkten natürlich auch die Angehörigen der NVA, wie die gesamte Bevölkerung. Ich bin auch h eute noch der Meinung, dass wir politisch f ast alles richtig gemacht haben, wirtschaftlich fast alles falsch. Als Beispiel führe ich eine Aussage des da maligen Parlamentarischen Staatssekretärs Günter Krause a uf der Sondersitzung der Volkskammer am 21. Mai an: „Ich glaube, mit 5,8 Mrd. DM 1990 und 9,8 Mrd. DM 1991 kommen wir doch in Gang, erst einmal vorwärts.“

Bis Ende 2006 betrugen die Kosten der Einheit umgerechnet rund 1.500 Mrd. DM. Für die Menschen kam nur noch ei n schneller Beitritt in Frage, das wurde auch ständig an un s herangetragen. Der Einigungsvertrag, der mit allen Anlagen rund 1.300 Seiten umfasst, entstand in der kurzen Zeit von ca. sec hs Wochen. Unser Bestreben war es, zu Beginn der Verhandlungen ein eigenes Kapitel NVA aufzunehmen. Sehr früh musste ich allerdings feststellen, dass die Bereitschaft meiner westdeutschen Verhandlungspartner, und hier auch der beteiligten Bundesländer und der Landesbeauftragten der noch zu bildenden Länder der DDR, dieses z u akzeptieren, äußerst gering war. Nach intensiven Beratungen entschieden wir uns also für die Gleic hbehandlung mit dem gesamten öffentlichen Dienst der DDR, erleichtert du rch die Schließung der Sonderversorgungssysteme zum 01. Juli 1990. Aufgrund der Medienberichte nach dem Kaukasus-Gipfel, und dieses ist anhand der tä glichen Lageberichte zu belegen, entstand verstärkt Unruhe in der Truppe. Es gab teilweise Protestschreiben gegen die Politik der Regierung, gegen die Volkskammer, wobei wir uns bemühten, nur geprüfte Informationen an die Truppe zu g eben, was aber aufgrund der teil weise reißerischen Berichterstattung nicht immer möglich war. Schwer zu begreifen war für die Angehörigen der NVA, dass sie seit Herbst 1989 in der eigenen Bevölkerung keine Lobby mehr hatten und kaum Unterstützung bei ihren Problemen erhielten. Trotz der zun ehmenden Unruhe entschlossen wir uns, bei dem bereits Anfang Mai geplanten Vorsatz zu bleiben und die NVA am 20. Juli 1990 neu zu vereidigen. Für dieses Unternehmen erfuhren wir sehr viel Kritik, weniger aus der DDR, ab er massiv aus der Bundesrepublik. Die Krit iker haben bis heute nicht begriffen, dass es keine Entscheidung der politisc hen Führung unseres Hauses war, sondern dass uns die Volkskammer bereits am 26. April nach Beschluss des neuen Fahneneides aufgegeben hatte, einen geeigneten Termin zu finden und die Neuvereidigung durchzuführen.

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Am Nachmittag des gleiche n Tages fand in Strausberg die erste of fizielle Gedenkveranstaltung für die Frauen und Männer des militärischen Widerstandes gegen Hitler statt. In Anwesenheit des Staatsoberhauptes wurden zwei Häuser unseres Ministeriums in „Stauffenberg –“ und „Tresckow-Haus“ umbenannt. Entgegen aller Voraussagen konnten wir an diesem Abend die meisten noch lebenden Familienangehörigen aus diesem Anlass begrüßen. Im normalen Alltag bestanden die Un sicherheiten in der NV A weiter und nahmen immer stärker zu, es gab ständig neue Forderungen. Ich habe mich bemüht, diese Dinge während der intensiven Verhandlungen zum Einigungsvertrag vom 01. bis 31 . August einzubringen, fand aber mit Ausnahme des Innenministers keine Unterstützung selbst bei den eigenen Kollegen. Es ging zum Schluss nur noch um die Zahl der von der Bundeswehr am 03. Oktober zu übernehmenden ehemaligen Soldaten und Zivilisten. Während der deutsch-deutschen Verhandlungen fanden auch die intensivsten Gespräche im Rahmen von Zwei-plus-Vier statt, wobei wir feststellen konnten, dass die Sowjetunion vorwiegend an der Höhe der finanziellen Unterstützung, auch beim Abzug ihrer Truppen, durch die Bundesrepublik interessiert war. Mit der Un terzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages war der außenpolit ische Weg zur Deutschen Einheit geebnet. Volkskammer und Bundestag stimmten beide mit großer Mehrheit diesem Vertrag zu, ebenso dem Einigungsvertrag. Unsere wichtigste außenpolitische Aufgabe im September war die Herauslösung aus dem Warschauer Pakt, möglichst unter Zustimmung aller P artner und hier besonders der Sowjetunion. Der Austritt der DDR wurde am 24. September in einer kurzen Zeremonie vollzogen. Nachdem feststand, dass keine Generale und Admirale der NVA in die Bundeswehr übernommen werden, habe ich am 28. September die letzten 24 Herren entlassen. Die Führung und die Soldaten der NV A, einschließlich der Zivilbeschäftigten, bemühten sich, auch in den letzte n Wochen, intensiv die Sic herheit von Waffen und Munition zu gewährleisten und eine geordnete Übergabe vorzunehmen. Das war schwierig, da i m September ca. 4.000 Be rufssoldaten die Armee verließen, weil sie keine Chance für sich persönlich sahen. Trotz aller Probleme, die in den letzten vierzehn Tagen auftraten, hörte die NVA, als ich sie am 02. Oktober um 13.30 Uhr verabschiedete, friedlich auf zu bestehen. Dieses sollte bei aller, teilweise berechtigter Kritik, nicht vergessen werden. Ich weiß, dass die Ergebnisse der Verhandlungen zum Einigungsvertrag bis heute nicht alle zufrieden stellen, aber mehr war in dieser kurzen Zeit in einer äußerst schwierigen Situation nicht möglich. Mit Einführung der D -Mark am 01. Juli verlor die DDR fast die g esamte außenpolitische Souveränität, dazu kamen der millionenfache Ruf nach schneller Vereinigung aus der eigenen Be-

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völkerung und eine unberechenbare Sowjetunion mit eigenen, gewaltigen Problemen. Als damaliger Verhandlungsführer der D DR-Regierung für das Verteidigungsressort bedauere ich heute noch, dass es nicht möglich war, Versprechen, die von der politische n Seite – auch von mir – gemacht wurden, einzuhalten. Die immer noch ungleiche Besoldung und die Nichta nerkennung der Vo rdienstzeiten sind zwei Beispiele dafür. Es steht außer Frage, dass die NVA bis Herbst 1989 eine Parteiarmee war. Sie hat einen schmerzhaften Wandlungsprozess durchlaufen und versucht, im Zuge einer Militärreform selbst einen Wandel herbeizuführen. Eines ist für mich wichtig: Diese Armee und ihre Führung haben der ersten frei gewählten Regierung loyal gedient und ich habe mich immer auf das verlassen, was mir Admiral Hoffmann bei unserer ersten Begegnung am 10. April 1990 zugesagt hat. Die Soldaten und zivilen Mitarbeiter sind durch ein Wechselbad der Gef ühle gegangen, wie die 16 Mill ionen anderen DDR-Bürger auch. Aber die NVA hat den neuen Fahneneid erfüllt und ist am 02. Oktober mit der Übergabe der Verantwortung friedlich abgetreten. Dafür bin ich heute noch dankbar, es hätte auch anders kommen können, wie General von Kirchbach einmal sagte. Ich erlebe weltweit auch heute noch Anerkennung für das loyale Verhalten der NV A und für die Leistungen beider deutscher Armeen, die i m Vereinigungsprozess erbracht wurden. Das sind die Erfolge, die niemand klein reden kann. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Soldaten der ehemaligen NVA und die Soldaten der Bundeswehr ab 03.Oktober 1990 ihr Bestes gegeben haben und weiter sind als ande re Bereiche. Gemeinsam wurde ein Ergebnis erzielt, um das uns viele beneiden. Wir werden uns dennoch weiterhin intensiv mit der Vergangenheit beschäftigen müssen, Schuld ist zu benennen, Lebensleistungen sind zu würdigen und ich zitiere einen Satz des ehemaligen Generalinspekteurs, General Klaus Naumann, vom 09. Juni 1994: „Ein Teil der früheren Offiziere der NVA stand sicher der SED – über die Mitgliedschaft hinaus – besonders zu Diensten und hat damit das damalige System bewusst und offensiv gestützt. Alle früheren NVA-Angehörigen gleich zu beurteilen, wäre äußerst ungerecht, insbesondere gegenüber denen, die sich in DDR – Zeiten stets untadelig verhalten haben.“

Berufs(un)zufriedenheit in den Streitkräften Zusammenfassung und Bewertung der wesentlichen Ergebnisse der Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands1 Von Gerd Strohmeier I. Einleitung Unter dem Motto „Jetzt reden Sie“ waren die Mitglieder des Deutschen BundeswehrVerbands vom 10.12.2006 bis 28.02.2007 dazu aufgerufen, sich über einen (unter www.jetzt-reden-sie.de verfügbaren oder postalisch erhältlichen) Fragebogen zur Berufszufriedenheit in den Streitkräften zu äußern. Eine sehr große, keineswegs zu erw artende Zahl von 45.040 Mitg liedern, darunter 24.375 aktive Soldatinnen/Soldaten2 – 13.935 Berufssoldaten (BS), 9.342 Zeitsoldaten (SaZ), 1.098 Grundwehrdienstleistende (GWDL) sowie Freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistende (FWDL) – und 12.335 Teilnehmer an Auslandseinsätzen (TAE), hat „geredet“ und sich detailliert sowie differenziert zu allgemeinen und speziellen Themen der Streitkräfte geäußert. Dabei zeigt sich in zentralen Bereichen eine sehr große Unzufriedenheit, deren Ursachen und Folgen die – konsequente und zufriedenstellende – Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr massiv beeinträchtigen und in Zukunft sogar unmöglich machen könnten. Die Ergebnisse der Mitg liederbefragung des Deutsc hen BundeswehrVerbands, die un abhängig sowie gemäß sozialwissenschaftlicher Standards erhoben und ausgewertet wurden, zeigen grundsätzlich ein äußerst differenziertes Meinungsbild hinsichtlich der Berufszufriedenheit in den Streitkräften. So re ichen die Bewertungen von – wenigen – (überwiegend) positiven Einschätzungen über – zahlreiche – gemischte Reaktionen bis hin zu – diversen – (überwiegend) negativen Einschätzungen. Dabei fällt auf, dass die (überwiegend) nega___________ 1 Der vorliegende Text wurde in leicht veränderter Form auf der Bundespressekonferenz des DeutschenBundeswehrVerbands am 26.04.2007 in Berlin vorgelegt. Die unter wissenschaftlicher Leitung des Autors an der Universität Passau durchgeführte Mitgliederbefragung wurde vom Deutschen BundeswehrVerband in Auftrag gegeben und vollständig finanziert. 2 Im Folgenden wird – zur besseren Lesbarkeit – nur noch die männliche Form benutzt.

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tiven Einschätzungen bei zen tralen Fragen bzw. in zentralen Bereichen das Meinungsbild bestimmen. Auffallend ist auch, dass die Meinungsbilder der BS und der SaZ im Vergleich zum Gesamtbild meist deutlich negativer ausfallen. An dieser Stelle ist zu beto nen, dass den Einschätzungen der B S und der SaZ eine besondere Bedeutung beigemessen werden muss: Zum einen handelt es sich dabei um die Meinungsbilder derer, die sich (langfristig) für den Soldatenberuf entschieden haben und diesen gegenwärtig aktiv ausüben 3; zum anderen entfalten die in den Meinungsbildern der BS und der SaZ abgebildeten Trends aufgrund der hohen Beteiligung und der jeweiligen statistischen Zusammensetzung einen repräsentativen Charakter (für alle in der B undeswehr tätigen BS bzw. SaZ). Eine große Aussagekraft ist aufgrund der h ohen Beteiligung auch den Einschätzungen der TAE zu attestieren, die in zentralen Bereichen ebenfalls (überwiegend) negativ ausfallen. Im Folgenden werden Aussagen bzw. Einschätzungen der Mitglieder des Deutschen BundeswehrVerbands – zum Großteil au fgeschlüsselt sowie unter besonderer Berücksichtigung der aktiven Soldaten und der TAE – wiedergegeben, die zentrale Bereiche berühren sowie für die Entwicklung der Streitkräfte und die Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr von wesentlicher Bedeutung sind. II. Informationen zur Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands Die Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands, die in der Zeit vom 10.12.2006 bis zu m 28.02.2007 stattfand, erfolgte (aus Gründen der Effizienz und Benutzerfreundlichkeit) als internetgestützte sowie – alternativ – als postalische Befragung. Auf diese Weise sollte es al len Mitgliedern des Deutschen BundeswehrVerbands ermöglicht werden, ihre Meinung zu äußern. Nachdem im Verbandsmagazin „Die Bundeswehr“ bereits seit September 2006 auf die Mitg liederbefragung hingewiesen worden war, erfolgte der k onkrete Aufruf zur T eilnahme in einem Brief des B undesvorsitzenden Oberst Bernhard Gertz, der Anfang Dezember 2006 an alle 21 0.222 Mitglieder des Deutschen BundeswehrVerbands versandt wurde. Jedes Mitglied wurde darin aufgefordert, sich – über das Internet oder per Post – an der Befragung zu beteiligen. Zudem wurden genauere Informationen bezüglich der Teilnahme mitgeteilt. Für die Mitg lieder, die postalisch a n der B efragung teilnehmen wollten, lag eine Postkarte bei, mit Hilfe derer kostenfrei ein Fragebogen bei der U ni___________ 3

Die GWDL und FWDL sind zwar aktive Soldaten, gehen aber keiner längerfristig orientierten Betätigung zum Erwerb des Lebensunterhalts nach.

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versität Passau angefordert werden konnte. Zur Erhöhung des Rücklaufs wurde explizit auf die Bedeutung der Teilnahme jedes einzelnen Mitglieds hingewiesen und die Verlosung von fünf Preisen unter den Teilnehmern der Befragung angekündigt. Zudem wurde in jeder Ausgabe des Verbandsmagazins innerhalb des Befragungszeitraums auf die Mitgliederbefragung verwiesen und die Mitglieder zur T eilnahme aufgefordert. Anfang Februar wurde an den Sc hwarzen Brettern der Bu ndeswehrstandorte eine Wandzeitung angebracht, in der ebe nfalls zur T eilnahme aufgefordert wurde. Zeitgleich wurde ein Brief an die Funktionsträger des BundeswehrVerbands versandt, in dem darum gebeten wurde, Werbung für die Aktion zu machen. Der Fragebogen wurde mit größter Sorgfalt gemäß sozialwissenschaftlicher Standards konstruiert. Insgesamt bestand der Fragebogen aus vier T eilen. Alle Teilnehmer beantworteten zunächst 23 allg emeine Fragen zum Dienst in den Streitkräften. Im Anschluss daran folgten 14 spezielle Fra gen für die T AE sowie spezielle Fragen für die jeweiligen Dienstverhältnisse (fünf Fragen für BS, sechs Fragen für SaZ, vier Fragen für GWDL, fünf Fragen für FWDL, sechs Fragen für ehemalige Bundeswehrsoldaten, drei Fragen für ehemalige Angehörige der NVA sowie vier Fragen für Reservisten). Im letzten, aus ac ht Fragen bestehenden Teil wurde nach demographischen sowie nach berufsbezogenen Merkmalen gefragt. Ferner wurden alle Teilnehmer auf die Möglichkeit hingewiesen, zusätzliche Kommentare sowie auch Anregungen und Kritik per E Mail direkt an die Universität Passau schicken zu können. Mitglieder, die dieses Angebot beanspruchten, haben häufig dazu beigetragen, die in den Ergebnissen der Mitg liederbefragung abgebildeten Einschätzungen durch die Sch ilderung persönlicher Erlebnisse zu illustrieren. Da die Teilnehmer nicht zu einer – möglicherweise verzerrenden – Antwort gezwungen werden sollten, wurde eine explizite „Keine Antwort“-Kategorie bei j eder Frage eingeführt und alle Teilnehmer darauf hingewiesen, dass die Wahl dieser Kate gorie völlig legitim sei. Ebenso wurde auf eine balancierte Formulierung der Frag en geachtet. So enthielten diese mögliche positive wie negative Antwortkriterien, um die Gleichwertigkeit der Antwortmöglichkeiten zu v erdeutlichen. (Beispiel: „Fühlen Sie sich als Soldatin/als Soldat von der Politik unterstützt oder nicht unterstützt?“) Die Internetbefragung wurde mittels einer projektspezifisch entwickelten, WEB-Server basierten Software durchgeführt. Dazu wurde die W ebseite www.jetzt-reden-sie.de für die Dauer der Befragung angemietet. Bei Aufruf der Seite konnten sich die Teilnehmer mit ihrer Mitgliedsnummer und ihrem Nachnamen in das System einloggen. Dabei wurden sie darauf hingewiesen, dass bei einer Teilnahme an der Befragung ihre Anonymität gewahrt wird. Um sicherzustellen, dass jede Person den Fragebogen nur einmal ausfüllen kann, wurde nach einmaliger Nutzung die jeweilige Kennung gesperrt. Nach erfolgreichem

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Login erschien die erste Seite der Befragung. Dort wurde den Teilnehmern die durchführende Organisation der B efragung, das Z iel der Bef ragung sowie die Bedeutung der Beteiligung erläutert. Auch Hinweise zum Ausfüllen des Fragebogens wurden angezeigt, um ein transparentes Verfahren sowie ein komplettes Ausfüllen des Frag ebogens zu ermöglichen. So wurden die Mitg lieder des BundeswehrVerbands zum Beispiel darüber aufgeklärt, dass ihnen auf den nächsten Seiten jeweils eine Frage gestellt würde, bei der eine der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten (inklusive der „Keine Antwort“-Kategorie) auszuwählen und anschließend auf „Weiter“ zu klicken sei. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass die Fragen in der v orgegebenen Reihenfolge zu beantworten seien, ein Springen zwischen den Fragen folglich unmöglich wäre, und dass bei einer zwischenzeitlichen Abmeldung aus dem System die B efragung beim nächsten Login an der letzten n ichtbeantworteten Frage fortgesetzt würde. Natürlich enthielt der In ternetauftritt neben dem Impressum auch alle relevanten Kontaktdaten. Zu Beginn des Fragebogens wurden zwei Filterfragen gestellt: Zunächst wurden der Status bz w. das Dienstverhältnis abgefragt, im Anschluss daran, ob bzw. wie oft eine Teilnahme an Auslandseinsätzen erfolgte. Davon ausgehend wurde für jeden Teilnehmer der jeweils relevante Fragebogen ermittelt. Somit konnte sichergestellt werden, dass alle Befragten nur die Fragen gestellt bekamen, die ihrem Dienstverhältnis bzw. ihrer Verwendung im Auslandseinsatz entsprachen. Nach Beantwortung der letzten Frage erfolgte der Hinweis, dass die Daten anonymisiert und gespeichert werden und nur eine einmalige Teilnahme möglich sei. Die Kennung wurde anschließend gesperrt. Beim versuchten Login mit einer bereits verwendeten Kennung wurde der Zugang zum System mit einem entsprechenden Hinweis verwehrt. 33.911 Mitglieder des Deutsc hen BundeswehrVerbands beendeten die in ternetgestützte Befragung, 1.124 Mitg lieder haben die Be fragung vorzeitig abgebrochen und nicht wieder aufgenommen. Die Daten der Abbrecher gingen nicht in die Auswertung ein. Um die inh altliche Verständlichkeit des Frag ebogens sowie die technische Durchführbarkeit der Befragung sicherzustellen bzw. die Stabilitä t des Systems zu testen, wurde – neben verschiedenen universitätsinternen Tests – in der Zeit vom 16.11.2006 bis zu m 24.11.2006 ein Pretest mit 45 exter nen Probanden durchgeführt. Das System verursachte während der gesamten Testphase keinerlei Probleme. Der Pretest zeigte ferner, dass der Fragebogen vollkommen verständlich war. Nach Abschluss des P retests und vor Beginn der Mitgliederbefragung wurden die Daten der Probanden aus der Daten bank gelöscht. Bei der schriftlichen Befragung wurden die Fragebögen postalisch an diejenigen versandt, die zuvor kostenfrei per Postkarte einen solchen Fragebogen bei der Universität Passau angefordert hatten. Das angewandte Verfahren der schriftlichen Befragung entsprach den B riefwahlmodalitäten bei der Bundes-

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tagswahl. Der von der Un iversität Passau verschickte Umschlag enthielt fünf Elemente: ein Anschreiben, eine orange Karte, auf der d ie Mitglieder ihren Nachnamen und ihre Mitgliedsnummer eintragen mussten, eine blaue Version des Fragebogens, einen blauen Umschlag für den ausgefüllten Fragebogen sowie einen grauen Rückumschlag an die Un iversität Passau, in dem der blau e Umschlag mit dem blauen Fragebogen sowie die oran ge Karte kostenfrei zurück an die Un iversität Passau gesendet werden konnten. Im Anschreiben wurde das Z iel der B efragung vorgestellt und die B edeutung einer zahlreichen Teilnahme betont. Außerdem wurden – ähnlich wie bei der in ternetgestützten Befragung – alle wesentlichen Hinweise zur Befragung gegeben. So wurde auch darauf hingewiesen, dass nach Eingang des Fragebogens an der Universität Passau die Karte mit der Mitgliedsnummer vom Fragebogen getrennt würde, um eine Verknüpfung zwischen persönlichen Daten und Antworten unmöglich zu machen und die Anonymität der T eilnehmer zu s ichern. Natürlich wurde auch das Verfahren zum Verschicken des Bogens detailliert erklärt. Die ersten beiden Fragen des internetgestützten Fragebogens (nach dem Status bzw. Dienstverhältnis sowie nach der Häufigkeit der Auslandseinsätze) entfielen bei der schriftlichen Befragung, da diese beiden Variablen bereits auf der Postkarte mit der Bitte um Zusendung eines Fragebogens abgefragt worden waren. Auf diese Weise konnte jedem Mitglied der passende Fragebogen zugeschickt werden. Auf der beilieg enden orangen Karte mussten die Mitg lieder ihre Mitgliedsnummer sowie ihren Nachnamen angeben. Dadurch konnte die mehrmalige Teilnahme eines Mitglieds ausgeschlossen werden. Darüber hinaus wurden die Mitglieder darauf hingewiesen, dass die orange Karte nicht mit dem Fragebogen zusammen in den blauen Umschlag, sondern beides gesondert in den grauen Rückumschlag an die Universität Passau zu legen ist. Da die oran ge Karte nach Eingang der Rückantwort an der Universität Passau vom Fragebogen getrennt wurde, war die Anonymität der Teilnehmer zu jeder Zeit gewährleistet. 14.298 Mitglieder des Deutschen BundeswehrVerbands forderten bei der Universität Passau einen Fragebogen an. 11.129 R ückantworten wurden rechtzeitig und vollständig zurückgeschickt und infolgedessen bei der Auswertung berücksichtigt. Die Eingabe der per Post zurückgesandten Fragebögen in die Datenbank erfolgte mittels einer Eingabemaske, die dem i nternetgestützten Fragebogen nachempfunden war. Nach Öffnung der Rücksendungen wurde zunächst mit Hilfe der oran gen Karten sichergestellt, dass kein Mitglied schon über das I nternet an der B efragung teilgenommen hatte. Im Anschluss daran wurde die orange Karte vom noch ungeöffneten blauen Umschlag mit dem Fragebogen getrennt. Erst dann wurden der blaue Umschlag mit dem Fragebogen geöffnet und die Daten eingegeben.

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Der Gesamtdatensatz, der der s tatistischen Analyse zugrunde liegt, enthält die Daten von 45.040 Teilnehmern. Davon haben 33.911 Teilnehmer den Fragebogen im Internet und 11.129 den Fragebogen per Post beantwortet. III. Aussagen bzw. Einschätzungen zu allgemeinen Fragen der Streitkräfte Die Ergebnisse bei den allg emeinen Fragen zum Dienst in den Streitkräften weisen eindeutig darauf hin, dass sich die Soldaten von der Politik sprichwörtlich im Stich gelassen fühlen: Nur 3,9 Prozent der in der B efragung repräsentierten Mitglieder (1,8 Prozent der BS; 2,9 Prozent der SaZ) 4 fühlen bzw. fühlten sich als Soldat von der Politik unterstützt; 63,6 Prozent der Mitglieder (73,1 Prozent der BS; 63,7 Prozent der SaZ) tun bzw. taten dies nicht; 28,2 Prozent der Mitglieder (24,5 Prozent der BS; 31,1 Prozent der SaZ) tun bzw. taten dies nur zum Teil. Nur 6,2 Prozent der Mitglieder (4,4 Prozent der BS; 10,8 Prozent der SaZ) wird bzw. wurde von den po litisch Verantwortlichen der Sinn und Zweck von Auslandseinsätzen ausreichend vermittelt; bei 64 Prozent der Mitglieder (70,6 Prozent der BS; 56,8 Prozent der SaZ) ist bzw. war dies nicht der Fall; bei 23, 9 Prozent der Mitglieder (23,8 Prozent der BS; 29,9 Prozent der SaZ) ist bzw. war dies nur zum Teil der Fall. Doch offensichtlich wird der Sinn und Zweck von Auslandseinsätzen nicht nur den Soldaten, sondern auch der restlichen Gesellschaft schlecht vermittelt. So sind nur 9,8 Prozent der Mitglieder (11,2 Prozent der BS; 9 Prozent der SaZ) der Meinung, dass die Gesellschaft voll hinter den Auslandseinsätzen der Bundeswehr steht. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die ideelle Unterstützung durch Politik und Gesellschaft neben der materiellen Ausstattung – wie u.a. auch Bundespräsident Köhler mehrfach betont hat5 – von fundamentaler Bedeutung für die Berufszufriedenheit der Soldaten un d die Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr ist. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für Auslandseinsätze. Dabei ist zu betonen, dass eine nachvollziehbare politische un d militärische Begründung einer Auslandsmission nicht nur einen wichtigen Faktor der In neren Führung, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur (intrinsischen) Motivation der Soldaten bildet. Die Ergebnisse bei den allg emeinen Fragen zum Dienst in den Streitkräften deuten auch klar darauf hin, dass die Bundeswehr in Zukunft massive Entwick___________ 4 Die Grundgesamtheit bilden im Folgenden stets nur die in der Befragung repräsentierten Mitglieder, BS, SaZ etc. Da rauf wird jedoch – zur besseren Lesbarkeit – nicht permanent hingewiesen. 5 Vgl. z.B. die Rede bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10.10.2005 in Bonn.

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lungsprobleme bekommen wird, die dere n Aufgabenerfüllung gravierend beeinträchtigen könnten: Nur 18,4 Prozent der Mitglieder (9,7 Prozent der BS; 16,5 Prozent der SaZ) sind der Meinung, dass es der Bundeswehr zukünftig gelingen wird, den qualifizierten Nachwuchs im notwendigen Umfang zu gewinnen; 75,9 Prozen t der M itglieder (88 Pr ozent der BS ; 80,3 Prozen t der S aZ) sind der Meinung, dass dies nicht gelingen wird. Nur 34,2 Prozent der Mitglieder (19,8 Prozent der BS; 34,9 Prozent der SaZ) würden den ihnen nahe stehenden Personen (z.B. ihren Kindern) den Dienst in den Streitkräften empfehlen; 58,6 P rozent der Mitg lieder (73,7 Prozent der B S; 55,8 Prozent der SaZ) würden dies nicht tun. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass qualifiziertes Personal – wie auch der Generali nspekteur der B undeswehr deutlich gemacht hat – „eine herausragende Bedeutung für die Einsatzfähigkeit der Armee hat“6 – und dass die Ei nsatzfähigkeit der Armee aufgrund des W andels der Bundeswehr von einer Armee der (ausschließlichen) Landes- und Bündnisverteidigung zu einer Armee im Einsatz eine herausragende Bedeutung für die Politik hat.7 Wenn es der Bundeswehr – wie auf dieser Grundlage anzunehmen – zukünftig nämlich nicht gelingen wird, den qu alifizierten Nachwuchs im notwendigen Umfang zu gewinnen, werden die Streit kräfte ihrem (neuen) Profil und den damit verbundenen Aufgaben nicht gerecht werden können. Wenn die Bundeswehr zukünftig massive Probleme haben wird, qualifizierten Nachwuchs zu rekr utieren, dürfte dies n icht zuletzt daran l iegen, dass die aktiv en und ehemaligen Soldaten nicht für die Ergreifung des Sol datenberufs werben oder sogar von der Ergreifung des Soldatenberufs abraten. Dabei ist zu betonen, dass der Rat aktiver und ehemaliger Soldaten als fachlich kompetente „Opinion Leader“ bzw. „Insider“ sowie persönlich Vertraute im privaten Umfeld einen äußerst großen – positiven oder negativen – Einfluss auf die Wahrnehmung des Berufsbilds „Soldat“ haben kann. IV. Aussagen bzw. Einschätzungen zu spezifischen Fragen an BS und SaZ Die Ergebnisse bei den spezifischen Fragen an BS sowie SaZ weisen eindeutig auf eine große Unzufriedenheit in den beiden Statusgruppen und eine mangelnde Attraktivität des Sold atenberufs hin: Nur 43,6 P rozent der B S würden sich heute noch einmal für den Dienst als Berufssoldat in der Bundeswehr entscheiden; 48,7 P rozent würden dies nicht mehr tun. Nur 58 Prozent der SaZ ___________ 6

Bundeswehrplan 2008 des Generalinspekteurs der Bundeswehr, zit. in : Die W elt vom 12.04.2007. 7 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr.

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würden sich heute noch einmal für den Dienst als Zeitsoldat in der Bundeswehr entscheiden; 36,2 Prozent würden dies nicht mehr tun. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, dass nur 56,4 Prozent der SaZ an einer Übernahme in das Dienstverhältnis eines Berufssoldaten interessiert sind (und 39 P rozent nicht daran interessiert sind). Auch wenn sich ein großer Anteil der BS und eine Mehrheit der SaZ erneut für ihre eingeschlagene Laufbahn entscheiden würden, lässt die T atsache, dass sich knapp die Hälf te der BS u nd mehr als ei n Drittel der SaZ heute dagegen entscheiden würden, auf eine große Unzufriedenheit bzw. Frustration in weiten Teilen der BS und SaZ und diese wiederum auf eine mangelnde Attraktivität des Soldatenberufs schließen. Dabei wird deutlich, dass die Re krutierung geeigneter Soldaten (insbesondere für Führungsaufgaben) nicht nur – wie der W ehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 2006 festgestellt hat – „angesichts der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung und der damit einhergehenden Veränderung des Arbeitsmarktes“8, sondern insbesondere auch angesichts der Entwicklung der Streitkräfte und des damit einhergehenden Attraktivitätsverlusts des Soldatenberufs ein sehr großes Problem darstellen wird. V. Aussagen bzw. Einschätzungen zu spezifischen Fragen an TAE Die Ergebnisse bei den spezifischen Fragen an TAE weisen eindeutig darauf hin, dass bei der A usrüstung und Ausstattung der Soldaten im Auslandseinsatz gravierende Mängel bestehen: Die persönliche Ausrüstung für Auslandseinsätze wird von 22,5 Prozent der TAE als schlecht bzw. sehr schlecht und von 44,9 Prozent nur als mittelmäßig bewertet. Die materielle Ausstattung im Auslandseinsatz wird von 26,5 Prozent der TAE als schlecht bzw. sehr schlecht und von 45,2 Prozent nur als mittelmäßig bewertet. Wichtig ist an dieser Stelle, dass die negativen Bewertungen nicht durch (mehrheitlich) positive Bewertungen „kompensiert“ oder „aufgehoben“ werden können und mittelmäßige Bewertungen nicht als „mittlere“ oder „neutrale“, sondern als negative Reaktionen betrachtet werden müssen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Soldaten im Auslandseinsatz ihr Leben riskieren, dürfen elementare Dinge wie die Ausrüstung und die Ausstattung im Auslandseinsatz – aufgrund ihrer (lebens-) wichtigen Bedeutung – grundsätzlich nicht, d.h. nicht einmal in wenigen Einzelfällen, schlecht oder auch nur mittelmäßig sein. Mängel bei der A usrüstung und Ausstattung im Auslandseinsatz bedeuten eine Verletzung der Fü rsorgepflicht durch den Dien stherrn und bewirken einen erheblichen Vertrauensver___________ 8

Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten, Jahresbericht 2006, Drucksache 16/4700, S. 12.

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lust der Soldaten, der sich äußerst negativ auf die Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr und die Attraktivität des Soldatenberufs auswirken könnte. Die Ergebnisse bei den spezifischen Fragen an TAE deuten auch klar darauf hin, dass bei der Vorbereitung der Soldaten auf Auslandseinsätze deutliche Mängel bestehen: 38,7 Prozent der TAE geben an, dass die in Vorbereitung ihres Auslandseinsatzes durchgeführte Schulung über die la ndeskundlichen Gegebenheiten im Einsatzland nicht ausreichend war. 22,1 Prozent der TAE geben an, dass die Vorbereitung auf ihren Auslandseinsatz durch die einsatzbezogene Ausbildung nicht ausreichend war. Wichtig ist an dieser Stelle wieder, dass die negativen Bewertungen nicht durch (mehrheitlich) positive Bewertungen „kompensiert“ oder „aufgehoben“ werden können (vgl. oben). Schließlich ist die Ausbildung – ähnlich wie die Ausstattung – für den Schutz und die Sicherheit der Soldaten von fundamentaler Bedeutung. Die Ergebnisse bei den spezifischen Fragen an TAE weisen überdies eindeutig darauf hin, dass die Belastung der Soldaten durch Auslandseinsätze äußerst hoch bzw. – auf Dauer – zu hoch ist: Nur 18,3 Prozent der TAE halten die Häufigkeit der A uslandseinsätze sowie die ein satzfreien Zeiten für angemessen; 46,1 Prozent tun dies nicht; 31,2 Prozent tun dies nur zum Teil. Diese Bewertung stützt die Feststellung des Wehrbeauftragten im Jahresbericht 2006, dass die Soldaten „unter einer schon chronisch zu nennenden, überproportionalen Einsatzbelastung“9 leiden. Dabei ist u.a. auch zu bedenken, dass eine „chronische überproportionale Einsatzbelastung“ langfristig – angesichts der a nspruchsvollen Aufgaben und des psychischen Drucks im Auslandseinsatz – zu schwerwiegenden Fehlleistungen führen kann. VI. Weitere Ergebnisse Auch die Ergebnisse bei den spezifischen Fragen an ehemalige Bundeswehrsoldaten weisen auf eine große Unzufriedenheit und eine mangelnde Attraktivität des Soldatenberufs hin: Nur 30,8 Prozent der ehemaligen Bundeswehrsoldaten fühlen sich in ihrer Identität als Ruhestandssoldat durch die B undeswehr generell angemessen gewürdigt; 63,1 Prozent tun dies nicht. Diese Bewertung (die durch verschiedene weitere Aussagen bzw. Einschätzungen der ehemaligen Bundeswehrsoldaten untermauert wird) zeigt ei ne große Unzufriedenheit der ehemaligen Bundeswehrsoldaten, die sich – v.a. in persönlichen Gesprächen im privaten Umfeld – äußerst negativ auf das Erscheinungsbild des Soldatenberufs auswirken könnte. ___________ 9

Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten, Jahresbericht 2006, Drucksache 16/4700, S. 12.

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Die obigen Ausführungen enthalten die wichtigsten Ergebnisse der Mitgliederbefragung des Deutschen BundeswehrVerbands und somit Aussagen bzw. Einschätzungen, die zen trale Bereiche berühren, welche die Entwicklung der Streitkräfte sowie die Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr nachhaltig beeinflussen – und die a kuten politischen Handlungsbedarf signalisieren. Die Mitgliederbefragung hat jedoch noch weitere Ergebnisse hervorgebracht: weitere (überwiegend) negative Einschätzungen, aber auch – zahlreiche – gemischte Reaktionen und – wenige – (überwiegend) positive Einschätzungen. Ein Beleg dafür, dass keineswegs nur kritische Ansichten geäußert bzw. Forderungen erhoben wurden, ist, dass 59,3 Prozent der TAE die Gewährung von Erholungsurlaub während des A uslandseinsatzes bei 4 -monatiger Einsatzdauer für nicht notwendig halten. Dabei wird deutlich, dass die Mitg liederbefragung nicht als Plattform für unüberlegten Protest, sondern als Möglichkeit einer sachlichen und differenzierten Situationsbeschreibung und somit als Plattform für notwendige Kritik und mögliche Zustimmung genutzt wurde. VII. Aussagekraft der Ergebnisse Der Deutsche BundeswehrVerband hat sich für eine Gesamtbefragung seiner Mitglieder entschieden, um ein äußerst breites sowie differenziertes Meinungsbild einzuholen und gleichzeitig allen seinen Mitgliedern und damit allen i m Verband organisierten aktiven Soldaten (deutlich über 50 Prozent), die M öglichkeit zu geben, sich detailliert zur Berufszufriedenheit in den Streitkräften zu äußern. Eine sehr große, keineswegs zu erwartende Zahl der Mitglieder hat diese Möglichkeit genutzt und damit dazu beigetragen, ein aussagekräftiges Meinungsbild zu zeichnen: Wenn s ich 45.040 Mitg lieder des Deu tschen BundeswehrVerbands, darunter 24.375 ak tive Soldaten bzw. 12.335 TAE, detailliert sowie differenziert zur Berufszufriedenheit in den Streitkräften äußern, ist dies eine kritische Masse, deren Einschätzungen als wesentlicher Indikator bzw. aussagekräftiges Stimmungsbarometer gewertet werden müssen. Eine positive Bewertung der Beteiligung an der Mit gliederbefragung des DeutschenBundeswehrVerbands ergibt sich nicht nur bei d er Betrachtung der absoluten Zahlen, sondern auch mit Blick auf die Beteiligungsquote(n): Die Beteiligung von 21,4 Prozent aller Mitg lieder des Deutsc hen BundeswehrVerbands bzw. von rund 10 Prozent aller aktiven Soldaten der Bundeswehr ist im Kontrast zu anderen ( vergleichbaren) Mitgliederbefragungen sowie vor dem Hintergrund der V erbandsgröße und des Beantwortungsaufwands absolut zufriedenstellend. Dabei ist zu betonen, dass die B eteiligungsquote bei Mitg liederbefragungen mit zunehmender Verbandsgröße und zunehmendem Beantwortungsaufwand naturgemäß abnimmt und sich infolgedessen sowohl die Größe des Deutschen BundeswehrVerbands (210.222 Mitglieder) als auch der

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Beantwortungsaufwand bei dessen Mitgliederbefragung negativ auf die Beteiligungsquote ausgewirkt haben. Der Beantwortungsaufwand lässt sich im Vergleich zu anderen B efragungen sogar als außerordentlich groß bezeichnen. Schließlich mussten sich die Mitglieder u.a. mit 33 bis 53 zu m Teil äußerst detaillierten Fragen befassen, sich ins Internet einloggen oder den Fragebogen per Post bestellen un d wieder abschicken sowie sich ausführlich über die spezi fischen Modalitäten der i nternetgestützten oder der postali schen Befragung informieren. Ein Beleg dafür, dass sich der B eantwortungsaufwand negativ auf die Beteiligungsquote ausgewirkt hat, ist, dass 1.124 Mitglieder das Ausfüllen des Fragebogens im Internet abgebrochen haben und 3.090 Mitglieder den Fragebogen schriftlich angefordert, jedoch nicht ausgefüllt zurückgeschickt haben. Besonders groß ist die Aussagekraft der – aus diesem Grunde gesondert ausgewiesenen – Meinungsbilder der BS und der SaZ. Schließlich handelt es sich dabei um die Meinungsbilder derer, die sich (langfristig) für den Soldatenberuf entschieden haben und diesen gegenwärtig aktiv ausüben. Deshalb haben die beiden Meinungsbilder eine besondere Relevanz für die Ei nschätzung der Berufszufriedenheit in den Streitkräften. Außerdem entfalten die in den beiden Meinungsbildern abgebildeten Trends einen repräsentativen Charakter (für alle in der B undeswehr tätigen BS bzw. SaZ). Zwar gingen in die Erg ebnisse der Mitgliederbefragung nur die Einschätzungen derer ein, die im Deutschen BundeswehrVerband organisiert sind und sich aktiv an der B efragung beteiligt haben, doch gewinnen die Einschätzungen der BS und der SaZ aufgrund der hohen Beteiligung und der j eweiligen statistischen Zusammensetzung eine weitreichende(re) Aussagekraft. Zum einen haben sich mit 7,1 Prozent aller SaZ und sogar 24 Prozent aller BS der Bundeswehr eine kritische Masse der j eweiligen Statusträger an der B efragung beteiligt (die auc h bei den SaZ weit über der Zahl liegt, die z.B . bei repräsentativen Stichprobenziehungen erhoben wird). Zum anderen stimmen die in der Befragung repräsentierten BS bzw. SaZ hinsichtlich der für die Einschätzung der Berufszufriedenheit – potenziell – relevanten Merkmale (Geschlecht, Dienstgradgruppe, Uniformträgerbereich, Teilstreitkraft bzw. Organisationsbereich) sehr gut mit der Gesa mtheit der in den Streitkräften tätigen BS bzw. SaZ überein. Größere Abweichungen sind nur bei den Dienst gradgruppen der SaZ festzustellen. So si nd dort die Mannschaftsdienstgrade im Vergleich zu den Offiziers- und Unteroffiziersdienstgraden deutlich unterrepräsentiert. Allerdings ist davon auszugehen, dass – sofern die Dienstgradgruppe einen signifikanten Einfluss auf die Einschätzung der Berufszufriedenheit hat – die Off iziers- und Unteroffiziersdienstgrade als En tscheidungsträger über eine größere Einschätzungskompetenz verfügen als die Mannschaftsdienstgrade. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Üb errepräsentation der O ffiziers- und Unteroffiziersdienstgrade sogar als eine gewünschte natürliche Gewichtung werten. Aus den o.g. Gründen konnte auf eine „künstli-

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che“ Gewichtung bzw. Selektion (in Form eines „quota sample“) verzichtet werden. Eine ähnlich große Aussagekraft wie den Meinungsbildern der BS und der SaZ ist dem Meinungsbild der T AE zu attes tieren. Zwar ist es aufgrund der mittlerweile vielfältigen und wechselnden Auslandseinsätze mit höchst unterschiedlichen militärischen Zielen und Erfordernissen weder möglich noch sinnvoll, die in der Befragung repräsentierten TAE hinsichtlich ihrer statistischen Zusammensetzung zu untersuchen und abzugleichen. Jedoch ist davo n auszugehen, dass 12.335 TAE – und damit mehr Soldaten als sic h je gleichzeitig im Auslandseinsatz befunden haben10 – eine kritische Masse darstellen, deren Einschätzungen ein aussagekräftiges Meinungsbild zeichnen. VIII. Fazit Die Ergebnisse der Mitg liederbefragung des Deutsc hen BundeswehrVerbands zeigen in zentralen Bereichen eine sehr g roße Unzufriedenheit in den Streitkräften, deren Ursachen und Folgen die – konsequente und zufriedenstellende – Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr massiv beeinträchtigen und in Zukunft sogar unmöglich machen könnten. Besonders stark ausgeprägt ist die Unzufriedenheit in den – für die Einschätzung der gegenwärtigen Berufszufriedenheit in den Streitkräften wesentlichen und zugleich besonders aussagekräftigen – Meinungsbildern der (13.93 5) BS und der (9.342) S aZ sowie auch im Meinungsbild der (12.335) TAE: Nur knapp 2 Prozent der BS bzw. knapp 3 Prozent der SaZ fühlen sich von der Politik unterstützt. Nur knapp 10 Prozent der B S bzw. 16,5 P rozent der SaZ sind der Meinung, dass es der Bundeswehr zukünftig gelingen wird, den qualifizierten Nachwuchs im notwendigen Umfang zu g ewinnen. Knapp die Hälf te der BS und mehr als ein Drittel der SaZ würden sich heute nicht noch einmal für ihre eingeschlagene Laufbahn entscheiden. Nur knapp ein Viertel der TAE bewertet die materielle Ausstattung im Auslandseinsatz als gut bzw. sehr gut. Knapp 40 Prozent der TAE geben an, dass die in Vorbereitung ihres Auslandseinsatzes durchgeführte Schulung über die landeskundlichen Gegebenheiten im Einsatzland nicht ausreichend war. Dabei ist zu betonen, dass die in den Me inungsbildern abgebildeten Trends – wie oben ausführlich dargelegt – einen repräsentativen Charakter bzw. eine große Aussagekraft entfalten. Von größter Bedeutung ist, dass die festgestellten Mängel die – konsequente und zufriedenstellende – Aufgabenerfüllung durch die Bundeswehr massiv be___________ 10 Vgl. z.B. Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten, Jahresbericht 2006, Drucksache 16/4700, S. 12.

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einträchtigen und in Zukunft – ohne signifikante Korrekturen durch die Politik – unmöglich machen könnten: weil den Soldaten die notwendige materielle Ausstattung, personelle Ausbildung und ideelle Un terstützung fehlt; weil (dadurch) den Soldaten die n otwendige (intrinsische) Motivation fehlt; weil (dadurch) dem Soldatenberuf die notwendige Attraktivität und in der Folg e der Bundeswehr das notwendige Personal fehlt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Aufgaben der Bundeswehr (Beteiligung an internationalen Einsätzen zur Konfliktprävention und Krisenbewältigung, humanitäre Hilfsaktionen und Maßnahmen des Katastrophenschutzes) lässt sich eine zunehmende Schere zwischen den Aufgaben der Bundeswehr als Armee im Einsatz und den – materiellen und personellen – Ressourcen zur Bewältigung dieser Aufgaben konstatieren. Dabei dürfte der Punkt relativ schnell erreicht sein, an dem eine – konsequente und zufriedenstellende – Erfüllung der an die Bundeswehr übertragenen Aufgaben nicht mehr möglich ist. Zu ähnlichen Einschätzungen sind auch der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags Reinhold Robbe11 und der Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan12 gelangt. Mit dieser Studie werden die Befunde des Wehrbeauftragen und de s Generalinspekteurs auf einer äußerst breiten Basis – der unmittelbar Betroffenen – empirisch bestätigt, die jeweiligen Problemaufrisse erheblich vertieft und erweitert – sowie akuter politischer Handlungsbedarf signalisiert.

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Vgl. Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten, Jahresbericht 2006, Drucksache 16/4700. 12 Vgl. Bundeswehrplan 2008 des Generalinspekteurs der Bundeswehr, zit. in : Die Welt vom 12.04.2007.

Verfasser und Herausgeber Werner E. Ablaß Beauftragter für Sonderaufgaben im Bereich d er Bundeswehr in d en neuen Ländern, Prötzeler Chaussee 20, 15344 Strausberg Hans-Jörg Bücking, Prof. Dr. Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Standort Bielefeld, Kurt-SchumacherStraße 6, 33615 Bielefeld Jörg Echternkamp, Dr. Militärgeschichtliches Forschungsamt, Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam Sigurd Hess, Dr., Konteradmiral a.D. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrts- und Ma rinegeschichte, 2008 ‒ 2009 Berater der EU-Kommission für Seesicherheit, Mathildestraße 9, 53359 Rheinbach Günther Heydemann, Prof. Dr. Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig; Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden, Helmholtzstraße 6, 01069 Dresden Eckart von Klaeden MdB und Staatsminister im Bundeskanzleramt, Bahnhofsallee 28, 31134 Hildesheim Marco Metzler Goethestraße 18, 09569 Oederan Daniel Niemetz, Dr. Straße des 18. Oktober 33, 04103 Leipzig Klaus Olshausen, Dr., Generalleutnant a.D. Präsident der Clausewitz Gesellschaft, Geschäftsstelle der Clausewitz-Gesellschaft, Manteuffelstraße 20, 22587 Hamburg Gerd Stohmeier, Prof. Dr. Technische Universität Chemnitz, Philosophische Fakultät, Thüringer Weg 9, 09126 Chemnitz