Strafverfahrensrecht und demografischer Wandel: Ältere Beschuldigte im Ermittlungsverfahren [1 ed.] 9783428558711, 9783428158713

Die Untersuchung nimmt ein zunehmend an Bedeutung gewinnendes Phänomen in den Blick: Indem die gesellschaftliche Struktu

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Strafverfahrensrecht und demografischer Wandel: Ältere Beschuldigte im Ermittlungsverfahren [1 ed.]
 9783428558711, 9783428158713

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Schriften zum Prozessrecht Band 269

Strafverfahrensrecht und demografischer Wandel Ältere Beschuldigte im Ermittlungsverfahren

Von Sebastian Kretzschmann

Duncker & Humblot · Berlin

SEBASTIAN KRETZSCHMANN

Strafverfahrensrecht und demografischer Wandel

Schriften zum Prozessrecht Band 269

Strafverfahrensrecht und demografischer Wandel Ältere Beschuldigte im Ermittlungsverfahren

Von Sebastian Kretzschmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Hohe Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-15871-3 (Print) ISBN 978-3-428-55871-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern und Großeltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Sie befindet sich inhaltlich auf dem Stand der Einreichung im Frühjahr 2019. Später in Kraft getretene Gesetze, insbesondere die §§ 136 ff., 140 ff. StPO n. F. (in Kraft getreten im Dezember 2019 und Januar 2020), sowie veröffentlichte Literatur und Rechtsprechung konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Michael Kubiciel, gilt mein herzlicher Dank, insbesondere für die zu jeder Zeit hervorragende Betreuung und die Annahme der Arbeit als Dissertation. Durch ihn entstand die Grundidee für diese Arbeit. Dank gebührt darüber hinaus Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Martin Paul Waßmer für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz besonders danke ich auch Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Claus Kreß, LL.M. (Cambridge). Ich hatte seinerzeit das große Glück, Teil seiner beeindruckend sympathischen wissenschaftlichen Familie zu werden und an seiner fachlich wie menschlich außerordentlich gewinnbringenden Förderung teilhaben zu dürfen, die mich nachhaltig geprägt hat. Ich möchte zudem allen meinen Kolleginnen und Kollegen danken. Unsere Zusammenarbeit hat mich nicht nur wissenschaftlich, sondern in so mancherlei Hinsicht auch privat beeinflusst. Der größte Dank gilt meinen Eltern und Großeltern, denen diese Arbeit gewidmet ist. Sie alle haben oder hätten mich nicht nur während der Promotionszeit, sondern über meine gesamte Ausbildung hinweg in vielerlei Weisen fürsorglich und liebevoll unterstützt. Bergisch Gladbach, im Juli 2019

Sebastian Kretzschmann

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1

Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland und ihr Einfluss auf das Strafprozessrecht 

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A. Gesellschaftsbild und Rechtsentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Strukturelle Einflüsse des demografischen Wandels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 C. Gang und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 D. Bevölkerungsstruktur Deutschlands im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aktuelle Altersstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Künftige Altersstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Beispiele aus der Gerichtspraxis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fall 1: AG Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fall 2: LG Ellwangen, Beschl. v. 27.02.2014 – Az.: 1 Ks 9 Js 94162/12: NS-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 22 22 23 23 23 24

E. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Das Recht auf ein faires Verfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Rechtliche Garantien des Fair-Trial-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Die Anwendung des Fair-Trial-Grundsatzes auf ältere Beschuldigte  . 28 a) Die Entscheidungsmöglichkeiten über die Nichteröffnung des Hauptverfahrens bzw. die nachträgliche Verfahrenseinstellung . . . 28 b) Regelungen über die Anwesenheit des Beschuldigten im Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Altersauf materiell-strafrechtlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Akzessorische Verbindung zwischen materiellem und formellem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung auf der Strafbegründungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführungsmöglichkeit einer erweiterten strukturanalogen Schuldunfähigkeitsnorm nach § 19 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Inhaltsverzeichnis c) Strukturanaloge Norm zu § 19 StGB mit lediglich fakultativer Ausrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abkehr von der Unwiderleglichkeitsvermutung nach Beck . . . . . . e) § 20 StGB als mögliche Lösung für ältere Beschuldigte . . . . . . . . f) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung auf der Strafzumessungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „persönlichen Verhältnisse“ des Täters als möglicher ­Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafrechtstheoretische Betrachtung: Die Strafzwecke . . . . . . . . . . aa) Absolute Strafzwecktheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Relative Strafzwecktheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strafzwecktheorie: Positive Generalprävention . . . . . . . . . (2) Strafzwecktheorie: Negative Generalprävention . . . . . . . . (3) Strafzwecktheorie: Positive Spezialprävention . . . . . . . . . (4) Strafzwecktheorie: Negative Spezialprävention  . . . . . . . . c) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 34 34 35 35 36 37 37 37 38 39 40 41 41 41

Kapitel 2

Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter 

A. Grundzüge und allgemeine rechtliche Grundlagendes Rechts der Beschuldigtenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zweck und Zeitpunkt der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relevante Rechtsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 C. Die Anwendung kriminalistischer List im Lichte des § 136a StPO . . . . . . . . 46 I. Zum Begriff und Ziel der kriminalistischen List . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Kriminalistische List in Abgrenzung zur Täuschung nach § 136a Abs. 1 StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Begriff und rechtliche Einordnung der Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Abgrenzung zwischen kriminalistischer List und Täuschung . . . . . . . . 49 D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer Listzum Nachteil älterer ­Beschuldigter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Lösungsvorschläge auf der normativen Ebene . . . . . . . . . . a) Allgemein normunabhängiger Lösungsansatz: Grundsätzliches Ermittlungsverbot gegen ältere Beschuldigte . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis11 aa) Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 cc) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) Spezifisch normabhängige Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 aa) Einschränkung kriminalistischer List auf der Tatbestands­ ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 (1) Verortung in der Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (2) Verortung außerhalb der Strafprozessordnung . . . . . . . . . . 55 (3) Verortung in den Dienstvorschriften für polizeiliche Ermittlungstätigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (4) Verortung in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren für staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit (RiStBV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (5) Alternativ: Genereller Verzicht auf kriminalistische List . 61 (6) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. (Ergänzende) Ansätze auf der Rechtsfolgenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Absolutes Beweisverwertungsverbot nach § 136a Abs. 3 S. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 aa) Direkte Anwendung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 bb) Analoge Anwendung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 cc) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Beweisverwertungsverbot nach der Abwägungslehre . . . . . . . . . . . 65 aa) Allgemeine Grundlagen zur Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Abwägungsparameter für die Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Abwägungsparameter für den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 dd) Kritik an der Abwägungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 ee) Anwendbarkeit der Abwägungslehre auf ältere Beschuldigte . 67 c) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 E. Lösungsvorschlag: Erstreckung der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO auf das Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine rechtliche Grundsätze der notwendigen Verteidigung . . . . . . II. Struktureller Aufbau des § 140 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Notwendige Verteidigung für Beschuldigte höheren Lebensalters  . . . . . . 1. Materiell-rechtliche Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formell-rechtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Antragskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Aufwertung der bloßen Beiordnungsmöglichkeit zu einer ­Beiordnungspflicht im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Generelle Beiordnungspflicht unabhängig vom Lebensalter . . . . . . b) Generelle Beiordnungspflicht in Abhängigkeit vom Lebensalter . . c) Einzelfallbezogene Beiordnungspflicht bei konstitutioneller Schwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 Inhaltsverzeichnis 6. Verfahrensrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Sonderproblem: Eigenes Antragsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . IV. Europarechtliche Änderungstendenzen im Bereich der notwendigen Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Ergebnis zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Kapitel 3

Problematiken im Zusammenhang mit der Anordnung von Untersuchungshaft gegen ältere Beschuldigte 

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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Statistik und allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wirkungen der Untersuchungshaft und Bezug zum Untersuchungs­ gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO . . . I. Dringender Tatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Haftgrund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO: Flucht  . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO: Fluchtgefahr . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine (Kontra-)Indizien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertungskriterium: Gesundheitliche Verfassung und Lebens­ alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergänzendes Bewertungskriterium: Armutsrisiko . . . . . . . . . . . . . . f) Ergänzendes Bewertungskriterium: Rechtsfolgenerwartung . . . . . . g) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO: Verdunkelungsgefahr   . . . . 4. Haftgrund nach § 112 Abs. 3 StPO: Tatschwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragbarkeit ins Altersstrafrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Haftgrund nach § 112a StPO: Wiederholungsgefahr  . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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88 89 89 91 91 91 91 92 93 93 94 94 95 95 95 98

Inhaltsverzeichnis13 C. Möglichkeiten der Außervollzugsetzung von Haftbefehlen nach § 116 StPO . 99 I. Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II. § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 StPO: Meldeauflage und Aufenthalts­ beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StPO: Pflicht, die Wohnung nur unter Aufsicht zu verlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IV. § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StPO: Leistung einer angemessenen Sicherheit . . 102 V. Problem: Sicherheitsleistung in Fällen von Alterskriminalität . . . . . . . . . 104 VI. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 D. Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorüberlegung: Genereller Verzicht auf Untersuchungshaft bei älteren Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Honecker-Entscheidung des BerlVerfGH vom 12.01.1993 . . . . . . a) Absoluter Haftaufhebungsgrund bei Verstoß gegen die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrenshindernis wegen Alters und daraus resultierender begrenzter Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Partieller Verzicht auf Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundlagen zu § 72 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität der Unter­ suchungshaft im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundsatz der beschleunigten Verfahrensdurchführung . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Legislatorische Einschränkungen der Untersuchungshaft im Jugendstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Übertragbarkeit der Grundsätze auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . a) Grundsatz der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einführung einer strukturanalogen Altersgrenze . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsatz der beschleunigten Verfahrensdurchführung . . . . . . . . . 7. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Elektronische Aufenthaltsüberwachung als Gesamtmaßnahme . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderer Fall der elektronischen Aufenthaltsüberwachung: der elektronische Hausarrest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 107 107 109 112 112 114 114 115 115 117 120 120 122 122 124 125 126 127 127 128 129 129 132

14 Inhaltsverzeichnis Kapitel 4

Ergänzende prozessuale Erleichterungen 

A. Verfahrensrechtliches Potenzial de lege lata  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das beschleunigte Verfahren nach §§ 417 ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Strafbefehlsverfahren nach §§ 407 ff. StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 134 135 135 136 137 137 137 139 140

B. Verfahrensrechtliches Potenzial de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 I. Vorschlag: Einführung eines „modifizierten Seniorenstrafverfahrens“ . . . 141 1. Allgemeine Grundlagen zum „vereinfachten Jugendverfahren“ . . . . . . 141 2. Übertragbarkeit wesentlicher Grundgedanken auf die Alters­ kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Obligatorischer Übergang ins Strafbefehlsverfahren in Fällen der Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4. Novellierung von Diversions- oder diversionsähnlichen Tatbeständen . 145 a) Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Strukturanaloge Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität  . . . . . . 146 5. Errichtung besonderer Spruchkörper mit Alterskompetenz . . . . . . . . . 147 a) Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Übertragbarkeit auf die Alterskriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Befund zu Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kapitel 5

Schlussbetrachtung 

152

A. Zusammenfassung der zentralen Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 B. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Kapitel 1

Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland und ihr Einfluss auf das Strafprozessrecht A. Gesellschaftsbild und Rechtsentwicklungen „Die deutsche Sozialstruktur ist – wie alle modernen Sozialstrukturen – ein hoch dynamisches Gefüge, das von vielfältigen, zum Teil miteinander verflochtenen Veränderungstendenzen durchzogen ist“,1 stellte der Soziologe Rainer Geißler bereits um die Jahrtausendwende fest. Das ist heute aktueller denn je: Gesellschaften unterliegen kontinuierlichen Wandlungen, die multilateral von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Unsere Gesellschaft2 ist im Wandel. So einfach und geradezu banal diese These auf den ersten Blick erscheinen mag, als umso vielschichtiger und tiefgründiger erweist sie sich bei genauerer Betrachtung ihrer Bedeutungsebenen. Diese Ebenen werden individuell-perspektivisch in diversen Geistesund Sozialwissenschaften erforscht. Gesellschaftsstrukturelle Veränderungstendenzen möglichst frühzeitig und realitätsabbildend zu erkennen und zu analysieren, ist eine genuine Aufgabe der Sozialwissenschaften. Eine ihrer Unterdisziplinen, die gesellschaftsanalytische Demografie, befasst sich empirisch und theoretisch mit der Entwicklung von Bevölkerungen und ihren Strukturen. Demografisch beeinflusste Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft führen auf zahlreichen Ebenen mittel- bis langfristig zu vielschichtigen Veränderungsprozessen, die sich auf ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben auswirken und nicht selten auch tiefgreifende Anpassungen in verschiedenen Bereichen erforderlich machen.3

1  Geißler, in: Deutschland-TrendBuch, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel, S. 97. 2  Eine genaue Definition des Gesellschaftsbegriffs ist kaum möglich. Es existiert eine große Zahl gesellschaftlicher Theorieentwürfe, die sich im Laufe der Zeit spezifischen Eigenarten des sozialen Miteinanders anpassen, vgl. dazu Turek, in: Deutschland-TrendBuch, Technologiegesellschaft, S. 212. 3  Kluth, Der demographische Wandel als Herausforderung für das Recht, S. 19.

16

Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

Demografische Strukturverschiebungen haben nicht zuletzt auch maßgeblichen Einfluss auf das rechtliche Gefüge einer Gesellschaft4, sodass auch in der Rechtswissenschaft kontinuierlich und selbstkritisch zu reflektieren ist, ob das Recht in seiner jeweils aktuellen Gestalt den Anforderungen und Bedürfnissen „seiner“ Gesellschaft gerecht wird.5 Geltende Rechtsprinzipien angesichts des zugrunde liegenden Gesellschaftsgefüges ständig kritisch zu hinterfragen, ist weder ein formaljuristischer noch ein formalpolitischer Prozess, der regelmäßig von bestimmten staatlichen Organen initiiert oder vo­ rangetrieben wird. Derartige Kongruenzbewertungen erfolgen quasi indirekt und zeitgleich auf allen staatlichen Funktionsebenen: in der parlamentarischen Legislative primär durch Rechtsetzungstätigkeiten, in der Exekutive unter anderem durch den ergänzenden Erlass von Rechtsverordnungen und in der Judikative im Kern durch Rechtsprechung sowie richterliche Rechtsfortbildung. Dass etablierte gesellschaftliche Konventionen einem stetigen Wandlungsprozess unterliegen und unter bestehende normative Ordnungen zu fassen versucht werden, ist kein Novum einer modernen Gesellschaft, sondern reicht in den Ansätzen zurück bis zu den Anfängen des menschlichen Daseins. Dieser Wandlungsprozess wird richtungsweisend auch von demografischen Strukturveränderungen beeinflusst und ist Ursache und Folge zugleich, dass eine Gesellschaft in einem stetig fortschreitenden Entwicklungsprozess einer Werteordnung unterliegt, die mit ihren Wert-, Moral- und Normvorstellungen korreliert. Ergeben sich jedoch bei einem Abgleich zwischen Gesellschaftsstruktur und dem auf ihr basierenden Recht wesentliche Inkongruenzen, so ist kritisch zu reflektieren, ob und wie weit sich Recht und Gesetz dem fortschreitenden sozialen Gesellschaftswandel angleichen müssen. Doch wie lässt sich feststellen, in welche Richtung sich Werte- und Normvorstellungen in einer Gesellschaft verändern? Gesellschaftlich akzeptierte Werteordnungen entstehen durch die Lebensweisen jedes einzelnen Menschen als mikroskopisch kleiner Teil einer pluralen Gesellschaft mit seinen individuellen Wertvorstellungen. Diese führen in der Summe zu einer Werteordnung, die in einer vielschichtigen Gesellschaft von den meisten anerkannt und respektiert wird. Meulemann6 beschreibt Werte als „Vorstellungen des Wünschbaren“. Sie dienten einerseits der Integration in die Gesellschaft, zugleich trüge der Konsens der Mitglieder einer Gesellschaft über Werte zur Integration dieser Gesellschaft bei. Eigenschaften eines Kollektivs seien nur aus den Aussagen ihrer Mitglieder über die Charakterzüge des Kollektivs zu Der demographische Wandel als Herausforderung für das Recht, S. 5. Der demographische Wandel als Herausforderung für das Recht, S. 20. 6  Meulemann, in: Deutschland-TrendBuch, Identität, Werte und Kollektivorientierung, S. 184. 4  Kluth, 5  Kluth,



B. Strukturelle Einflüsse des demografischen Wandels17

gewinnen. Aggregiere man diese Aussagen, erhalte man Aufschluss über die im Kollektiv vorherrschenden Werte.7 Eine bedeutende Rolle bei der Ausprägung solcher Normenkontexte spielen diverse endo- wie exogene Faktoren. So haben (nur pars pro toto) endogene Faktoren wie soziokulturelle und soziogeografische, aber auch religiöse, technologische und wissenschaftstheoretische Gegebenheiten einen maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung eines gesamtgesellschaftlichen Kollektivwillens. Eine ebenso große Bedeutung kommt auch den exogenen Faktoren zu. Diese haben im positiven wie im negativen Sinn ebenfalls ein nicht unerhebliches Potenzial, werte- wie rechtsbildend in ein gesellschaftliches Wirkungsgefüge einzugreifen.8

B. Strukturelle Einflüsse des demografischen Wandels Maßgeblich prägend für das Phänomen des demografisch bedingten Strukturwandels einer Gesellschaft sind vorrangig die Faktoren Fertilität, Mortalität sowie migrationsbedingte Wanderungsbewegungen zu nennen. Die Errungenschaften der Medizintechnik9 begünstigen eine Verschiebung der Altersstruktur in einer Gesellschaft. Die Fortschritte in der Medizintechnik sorgen für ein durchschnittlich immer länger währendes Leben. Lag die durchschnittliche geschlechtsunabhängige Lebenserwartung eines Menschen im Jahr 1960 noch bei 69,3 Jahren, so beträgt diese im Jahr 2016 bereits 80,64 Jahre.10 Auf (migrations-)politischer Ebene werden national wie international vielfach Entscheidungen getroffen, die die Gesellschaftsstrukturen nicht nur landesbezogen, sondern auch im weltweiten Kontext erheblich beeinflussen. Beispiele der jüngeren Vergangenheit sind zum einen die stetige Erweiterung der Europäischen Union auf mittlerweile 28 Mitgliedstaaten und die damit einhergehende Binnenöffnung von Landesgrenzen aufgrund entsprechender Abkommen. Zudem können politische Grundsatzentscheidungen, wie sie seit 7  Meulemann, in: Deutschland-TrendBuch, Identität, Werte und Kollektivorientierung, S. 185. 8  Zu denken ist hier zum Beispiel an Naturkatastrophen, die bestimmte Regionen heimsuchen und durch ihr zerstörerisches Ausmaß die Wertvorstellungen einer Gesellschaft verschieben können. Insbesondere auch kriegerische Auseinandersetzungen haben einen massiven Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. 9  Nach Deutsch, in: Spickhoff, Medizinrecht, Einleitung Rn. 13, hat die Entwicklung der modernen Medizin derzeit eine Halbwertszeit von weniger als zehn Jahren mit abnehmender Tendenz. Das bedeutet, dass sich das medizinische Potenzial etwa alle zehn Jahre verdoppelt. 10  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/257403/umfrage/lebenserwartung-indeutschland-bei-der-geburt/ (zuletzt aufgerufen am 16.08.2018).

18

Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

dem Jahr 2015 aufgrund anhaltender Flüchtlingsströme11 getroffen wurden, Anreize für die Zu- und Abwanderung aus und in andere Länder begünstigen und somit langfristig massive Veränderungen in der Zusammensetzung einer gesamtgesellschaftlichen Struktur bewirken. In der Konsequenz führt all dies auch dazu, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen permanent sich ständig wandelnden Gegebenheiten anpassen müssen. Dabei lässt sich in modernen Gesellschaften ein wesentlicher Grundsatz erkennen: Das Recht reflektiert die Wirklichkeit.12 Denn Recht erhebt den Anspruch, gesellschaftliche Entwicklungen normativ zu steuern,13 der Gesellschaft Stabilität zu verleihen14 und ihre Werteordnung abzubilden. Die kulturelle und rechtliche Identität einer Gesellschaft wird multikausal von allen privaten und staatlichen Akteuren beeinflusst. Dies führt zu einem Wertekonglomerat mit in Kernbereichen zwar meist im Wesentlichen gleichen, in Randbereichen aber nicht selten divergierenden Normvorstellungen. Nach Korioth15 ist das Recht damit zugleich Instrument zur Schaffung und zur Bewahrung einheitlicher Grundlagen sowie zur normativen Fundierung der Gesellschaft. Zaczyk16 bezeichnet das Recht nicht als „formal-logisches Gefüge abstrakter Sollenssätze“, sondern vielmehr als „selbst begriffene vernünftige Praxis“. Ein derart geprägtes und sich ständig im Wandel befindendes Gesellschaftsgefüge steht damit vor immer neuen Herausforderungen, insbesondere rechtlicher Art. Die Rechtsordnung folgt diesem Wandel stets – mit einer unvermeidbaren zeitlichen Verzögerung – auf dem Fuße. Der Staat bediene sich insoweit der Regelkraft gesellschaftlicher Strukturen.17 Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive betrachtet ist die Anpassung des Rechts durch den Gesetzgeber regelmäßig dann erforderlich, wenn die beste11  Vgl. die im Jahr 2015 einsetzende und bislang anhaltende Migrations- und Flüchtlingsbewegung. In den Jahren 2015 bis 2017 sind insgesamt 1.444.877 Asyl­ anträge in Deutschland gestellt worden, siehe https://de.statista.com/statistik/daten/ studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/ (zuletzt aufgerufen am 11.09.2018). 12  Zustimmend u. a. Zaczyk, in: FS Dahs, S. 33 (S. 40 f.). 13  Becker, JZ 2004, 929 (930). Zweifel daran, ob das Recht heute überhaupt noch eine Steuerungsfunktion übernehmen kann, wurden in der Vergangenheit vielfach geäußert, vgl. exemplarisch nur Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 184 ff. Diese Problematik soll an dieser Stelle jedoch nicht vertieft werden. 14  Becker, JZ 2004, 929 (930). 15  Korioth, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStrRL 62, 117 (126). 16  Zaczyk, in: FS Dahs, S. 33 (S. 41). 17  Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 193 mit Verweis auf Schuppert, Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, S. 105 (S. 110).



B. Strukturelle Einflüsse des demografischen Wandels19

hende Rechtsordnung mit veränderten oder auch mit bisher noch nicht aufgetretenen Problemstellungen konfrontiert wird, die zumindest nicht dauerhaft interessengerecht durch richterliche Rechtsfortbildung jeweils im Einzelfall geklärt werden können. Die grundsätzliche Erkenntnis, dass sich neue Gegebenheiten auf der Grundlage des bekannten Alten nicht oder nur bedingt zufriedenstellend lösen lassen, ist rechtspraktisch im Grunde nichts anderes als der Ausgangspunkt neuer Überlegungen, wie diese Phänomene zukünftig praktikabel und zugleich rechtsdogmatisch überzeugend gehandhabt werden können. Eine andere Vorgehensweise als die Schaffung einer grundsätzlichen normbezogenen Lösung wäre auf Dauer nicht überzeugend begründbar und führt spätestens dann zu langfristig nicht hinnehmbaren Konflikten, wenn es sich bei den neuen Rechtsproblemen nicht mehr nur um Einzelfälle handelt. Änderungsbedarf zu erkennen und daran anknüpfend lösungsorientiert zu handeln ist der Grundstein jedes gesellschaftlichen und rechtlichen Fortschritts und essentiell dafür, ein kohärentes gesellschaftliches Miteinander zu gewährleisten und dieses in eine für alle rechtlich annehmbare Form zu ­gießen. Tatsächliche politische oder durch Akte der Judikative geschaffene Neuerungen ziehen im Idealfall staatliche Reaktionen nach sich, wobei grundsätzlich zwei verschiedene Ausprägungen zu beobachten sind: Einerseits kann einer neu aufgetretenen Problematik durch die Anpassung der Gesetzeslage von Seiten der dazu berufenen staatlichen Institution, beispielsweise durch die Schaffung neuer oder die Modifizierung bestehender Normen, und andererseits durch richterliche Rechtsfortbildung aufgrund bestehender Normen begegnet werden. Letztere erfolgt in aller Regel durch teleologische Erweiterungen, Verschiebungen oder Einengungen von Auslegungshorizonten im geltenden Recht oder durch die Bildung von Analogien. Die Divergenz zwischen diesen beiden – zwar staatlichen, aber staatsgewaltsdifferenten – Reaktionen liegt auf der Hand: Während ein parlamentarischer Ansatz neue Rechtsprobleme an der Wurzel packt und von Grund auf legislatorisch bindend fixiert, bedeutet richterliche Rechtsfortbildung hingegen häufig nicht mehr als ein bloßes „muddling through“, das versucht, auftretende Problemstellungen noch unter bestehendes Recht zu fassen. Dies gelingt – allein ergebnisbetrachtet – zumeist zwar in gewisser Harmonie mit dem durchschnittlichen kollektiven Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft, jedoch regelmäßig unter teils erheblicher Missachtung rechtsdogmatischer Strukturen. Ob sich eine Gesellschaft ein solches Vorgehen auf Dauer leisten kann, darf und möchte, ist in hohem Maße problematisch und im Einzelfall politisch zu entscheiden. Besondere Bedeutung wird dabei einer Häufigkeitsprognose darüber zukommen müssen, wie oft sich im Kern vergleichbare neue Problematiken in der Zukunft wiederholen.

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

C. Gang und Ziel der Untersuchung In dieser Dissertation soll näher untersucht werden, ob das aktuelle deutsche Strafprozessrecht den rechtlichen, kriminalpolitischen und praktischen Herausforderungen einer demografischen Strukturverschiebung in Deutschland auch in Zukunft in gleicher Weise wie bisher gerecht werden kann. Der Fokus der Analyse liegt dabei weniger auf den praktischen Aspekten des Strafvollzugs, sondern nimmt primär Probleme des materiellen Rechts unter Einschluss des Strafprozessrechts in den Blick, die bislang nur wenig erforscht und in Teilen noch nicht einmal erkannt worden sind. Ziel der Untersuchung ist zum einen die Identifikation strafverfahrensrechtlichen Optimierungspotenzials, zum anderen die Entwicklung möglicher gleichermaßen strafjustizpraktisch wie strafrechtsdogmatisch überzeugender Lösungen für diese Problembereiche. Der Untersuchungsgang orientiert sich im Wesentlichen an dem chronologischen Ablauf eines Strafverfahrens. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Schwerpunkt im Bereich des Ermittlungsverfahrens gesetzt. Dort werden verschiedene strafprozessrechtliche Komplexe herausgestellt, die im Zusammenhang mit einem älteren Straftäter zwar nicht zwangsläufig immer, aber doch mit einer gewissen Häufigkeit Probleme entstehen lassen, die sodann näher in den Blick genommen werden. Gegenstand der Betrachtung im Ermittlungsverfahren sind nach einem einführenden Überblick über die demografische Struktur Deutschlands zunächst ausgewählte strafprozessuale Ermittlungsinstrumente und sonstige Verfahrensinstitute, die – wie noch zu zeigen sein wird – auf einen älteren Verdächtigen stärkere Auswirkungen haben als auf einen Täter jüngeren Alters. So wird zum einen das Vernehmungsrecht (Kapitel 2) und zum anderen das Recht der Untersuchungshaft (Kapitel 3) einer Analyse unterzogen und durch Überlegungen zu sonstigen prozessualen Begleitmaßnahmen (Kapitel 4) abgerundet. Den Schlussteil dieser Dissertation bildet Kapitel 5 mit einer Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse und einem Ausblick. Der nachfolgend skizzierte demografische Gesellschaftswandel macht es erforderlich, dass sich auch die Strafrechtswissenschaft dieses Phänomens dauerhaft annimmt. Häußling18 betont zu Recht, dass das Hineinwachsen junger Menschen in die strafrechtliche Haftung in vielen Gesetzen geregelt

18  Häußling, Der junge und der alte Mensch im Recht, in: Alter und Geschlecht im Blickpunkt gerontologischer Forschung und Weiterbildung, S. 41; so auch Beck, in: HRRS – Onlinezeitschrift für höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, 2010, S. 156 (S. 157).



D. Bevölkerungsstruktur Deutschlands im Wandel21

ist, dass Schutzräume für alte Menschen in diesem Rechtsgebiet jedoch nur fragmentarisch zu erkennen sind.

D. Bevölkerungsstruktur Deutschlands im Wandel19 I. Aktuelle Altersstruktur Die Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland liegt aktuell bei knapp 82,2 Millionen Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2015).20 Waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bevölkerungsreichsten Jahrgänge noch in den unteren Bereichen der klassischen Alterspyramide zu finden, so sind diese heute in einem immer höheren Altersbereich anzutreffen. Im Jahr 1990 lag das durchschnittliche Lebensalter in Deutschland bei 39,3 Jahren, zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2010, bei 43,7 Jahren.21 Im Einzelnen besteht die deutsche Bevölkerungsstruktur22 heute zu 18 % aus Kindern und jungen Menschen unter 20 Jahren sowie zu 61 % aus 20- bis unter 65-Jährigen. Der Anteil der Generation 65+ beträgt im Jahr 2013 21 %, wird aber in den kommenden Jahrzehnten noch weiter steigen. Diese Gruppe umfasst 12,5 Millionen junge Senioren im Alter von 65 bis 79 Jahren und ca. 4,4 Millionen ältere Senioren ab 80 Jahren.

19  Das Ausmaß der strukturellen Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist in Zahlen jeweils nur in Abhängigkeit von soziografischen Schwerpunktsetzungen abbild- und kalkulierbar. Prozentuale Abweichungen zwischen verschiedenen Studien resultieren im Wesentlichen aus unterschiedlichen Untersuchungsmethoden und Gewichtungen der Einflussfaktoren. Der nachfolgenden Untersuchung werden ausschließlich die offiziellen Studienergebnisse des Statistischen Bundesamtes zugrunde gelegt. 20  Siehe Internetauftritt der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder: http:// www.statistikportal.de/Statistik-Portal/de_jb01_jahrtab1.asp (zuletzt aufgerufen am 16.02.2017). 21  Siehe Internetauftritt der ÄrzteZeitung: http://www.aerztezeitung.de/politik_ gesellschaft/article/819892/alterung-durchschnittsdeutsche-437-jahre.html?sh=25& h=-825835998 (zuletzt aufgerufen am 16.02.2017). 22  Die nachfolgend dargestellte demografische Entwicklung basiert auf folgenden vom Statistischen Bundesamt getroffenen Grundannahmen: Die Geburtenhäufigkeit bleibt weiterhin auf einem geringen Niveau (derzeit 1,4 Kinder je Frau), die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern und Frauen nimmt weiter zu, es besteht ein Nettowanderungssaldo von 100.000 bis 200.000 Personen pro Jahr ab 2014. Details zu den Grundannahmen sind nachzulesen bei: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung in Deutschland bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (2015), S.  6 f.

22

Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

II. Künftige Altersstruktur Im Jahr 2060 wird bereits jeder Dritte (ca. 32 bis 33 %) mindestens das 65. Lebensjahr durchlebt haben und es wird doppelt so viele 70-Jährige geben wie Kinder geboren werden.23 Es ist weiterhin davon auszugehen, dass im Jahr 2060 insgesamt ca. 9 Millionen Menschen in Deutschland 80 Jahre alt oder älter sein werden.24

III. Zwischenbefund Immer mehr Menschen werden immer älter, sodass auch die Zahl krimineller Seniorinnen und Senioren vermutlich steigen wird. Diese Entwicklungstendenz stellt die Strafrechtspflege bereits heute vor wachsende Pro­ bleme tatsächlicher und rechtlicher Art.  Dabei ist zunächst festzulegen, was überhaupt unter einem „älteren“ Beschuldigten zu verstehen ist. Eine klar definierte gesetzliche Altersgrenze25 fehlt und wird sich im Ergebnis kaum allgemeingültig ziehen lassen.26 Der Prozess des Alterns sei zwar eine unaufhaltsame naturwissenschaftliche Tatsache, jedoch keine mit naturgesetzlich abschließend messbarem Wert, sondern vielmehr auf ein gesellschaftliches Konstrukt zurückzuführen.27 Auch entsprechende Rechtsprechung zu dieser Frage existiert allenfalls vereinzelt. Teilweise wird ein Lebensalter von 64, 67 oder 69 Jahren als „hoch“ angesehen.28 Ergänzend dazu erwähnte der BGH29 in einer Entscheidung von 2001 nebenbei, dass ein Lebensalter von 50 Jahren noch nicht als hoch anzusehen sei. Im Ergebnis wird sich das Älterwerden nicht ausschließlich durch 23  Statistisches Bundesamt, Bevölkerung in Deutschland bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (2015), S. 6. 24  Statistisches Bundesamt, Bevölkerung in Deutschland bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (2015), S. 6. 25  Für den Bereich des Jugendstrafrechts gilt hingegen § 1 Abs. 2 JGG, sodass sich keinerlei Zweifel ergeben, welche Altersgruppe gemeint ist, wenn der Gesetzgeber oder die Rechtsprechung Begrifflichkeiten wie „Jugendliche“ oder „Heranwachsende“ verwenden, siehe dazu Lachmund, Der alte Straftäter – Die Bedeutung des Alters für Kriminalitätsentstehung und Strafverfolgung, S. 28. 26  Im kriminologischen Schrifttum versteht man unter „Alterskriminalität“ hauptsächlich Straftaten, die von Menschen ab 60 Jahren und älter begangen werden, s. dazu Detter, in: FS DAV, S. 275. 27  Lachmund, Der alte Straftäter – Die Bedeutung des Alters für Kriminalitätsentstehung und Strafverfolgung, S. 27 mit Verweis auf Schramke, Alte Menschen im Strafvollzug: Empirische Untersuchung und kriminalpolitische Überlegungen, S. 5. 28  OLG Hamm, Urt. v. 20.04.1967, Az.: 2 Ss 355/67; BGH, Beschl. v. 21.03.1990, Az.: 4 StR 25/90 (= StV 1990, 303). 29  BGH, Urt. v. 28.03.2001, Az.: 3 StR 463/00.



D. Bevölkerungsstruktur Deutschlands im Wandel23

schwindende körperliche Konstitution oder Vorliegen geistiger Mängel definieren lassen.30 Für die nachfolgende Analyse dürfte im Wesentlichen eine Altersuntergrenze von ca. 60 bis 65 Jahren zu ziehen sein.

IV. Beispiele aus der Gerichtspraxis Das Problem des gerichtlichen Umgangs mit älteren Beschuldigten sollen exemplarisch zwei medial teilweise viel beachtete Fälle veranschaulichen: 1. Fall 1: AG Hamburg Vor dem Amtsgericht Hamburg wurde im Jahr 2015 folgender Fall31 verhandelt: Ein 75-jähriger Mann steht vor Gericht, weiß jedoch nicht genau, warum. Der Elblotse soll ein Binnenschiff gegen eine Autobahnbrücke gesteuert und einen Millionenschaden verursacht haben. Doch er kann sich an den knapp ein Jahr zurückliegenden Vorfall kaum erinnern. Auf Nachfrage des Richters ist der Beschuldigte weder in der Lage, sein derzeitiges Alter zu nennen, noch auf Fragen zu seinem Personenstand zu antworten. Der Prozess wird unterbrochen und ein psychologisches Gutachten über den geistigen Zustand des Angeklagten eingeholt. Dieses ergibt seine Verhandlungsunfähigkeit. 2. Fall 2: LG Ellwangen, Beschl. v. 27.02.2014 – Az.: 1 Ks 9 Js 94162/12: NS-Verfahren Ein Fall32 aus dem Jahr 2014 veranschaulicht die Problematik der Anwendbarkeit verschiedener Ermittlungsinstrumentarien bei betagteren Tätern: Ein deutscher Staatsbürger litauischer Herkunft (L) ist 94 Jahre alt und Beschuldigter in einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren. Er ist dringend verdächtig, als Koch während des Zweiten Weltkriegs in den Jahren 1942/1943 Beihilfe zum Mord (§§ 211, 27 StGB) in zwölf rechtlich selbständigen Handlungen mit insgesamt über 10.000 Todesopfern geleistet zu haben, indem er im Konzentrationslager Auschwitz für die SS-Wachmannschaften 30  Lachmund, Der alte Straftäter – Die Bedeutung des Alters für Kriminalitätsentstehung und Strafverfolgung, S. 28. 31  Sachverhaltsdarstellung entnommen aus dem Artikel „Ältere Menschen kann man nicht erziehen“, erschienen in der Zeitung „Die Welt“, veröffentlicht am 31.12.2016 unter https://www.welt.de/vermischtes/article160741787/Aeltere-Menschenkann-man-nicht-erziehen.html (zuletzt aufgerufen am 16.02.2017). 32  LG Ellwangen, Beschl. v. 27.02.2014, Az.: 1 Ks 9 Js 94162/12.

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

gearbeitet hatte. L lebte bis zuletzt allein und war auf Pflege oder sonstige Versorgung nicht angewiesen. Die Staatsanwaltschaft beantragte gegen ihn, wie bei Tötungsdelikten üblich, die Anordnung von Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 1, 3 StPO. L fand sich in der neuen Umgebung der Untersuchungshaftanstalt jedoch nicht zurecht und geriet zunehmend in geistigen Verfall. Nach wenigen Wochen in Untersuchungshaft war sein körperlicher und geistiger Zustand so schlecht, dass die zur Entscheidung berufene Schwurgerichtskammer des Landgerichtes das weitere Verfahren nach § 204 StPO wegen Verhandlungsunfähigkeit einstellen musste, das Hauptverfahren somit nicht eröffnen konnte und den Beschuldigten schließlich für die Zeit der Untersuchungshaft entschädigen musste.33

V. Problemaufriss Beide Fälle zeigen, dass der altersgerechte Umgang mit älteren Menschen in der Strafjustiz bislang in die praktischen Arbeitsabläufe von Staatsanwaltschaften und Gerichten noch keinen oder nur geringen Eingang gefunden hat.34 Insbesondere am zweiten Fall wird ersichtlich, dass der routinemäßige und fast schon automatisierte Einsatz gewisser Ermittlungsinstrumentarien (hier die Anordnung der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO) Wirkungen tatsächlicher wie rechtlicher Art entfalten kann, die seitens der Ermittlungsbehörden nicht gewollt sein können. Dieser durch die fortschreitende demografische Entwicklung immer präsenter werdende Problemkomplex stellt nicht nur die an den Strafverfahren gegen ältere Beschuldigte Beteiligten, sondern auch die theoretische Strafund Strafverfahrensrechtswissenschaft als solche vor neue Herausforderungen. Denn die dargestellten Fälle, nur zwei unter vielen, die die Thematik um ältere Beschuldigte im Strafverfahren betreffen, geben begründeten Anlass zu der Frage, ob das heute geltende Strafprozessrecht einen rechtsstaatlich konformen sowie praktisch handhabbaren, aber zugleich auch einen menschlich verantwortungsvollen Umgang mit älteren Menschen in der Strafrechtspflege 33  Sachverhaltsdarstellung angelehnt an das Manuskript des Vortrags „Das Strafrecht einer gealterten Gesellschaft“ von Kubiciel im Rahmen der von der Universität zu Köln und der VHS Köln ausgerichteten Ringvorlesung „Gutes Leben in einer alternden Gesellschaft“. 34  Eine diesbezügliche Vorreiterstellung nimmt die Staatsanwaltschaft Aachen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln ein: Dort wurde auf Initiative der Generalstaatsanwaltschaft Köln seit 2014 ein eigenes Dezernat etabliert, das sich ausschließlich mit Strafverfahren befasst, die entweder von älteren Tätern begangen wurden oder sich gegen betagtere Geschädigte richten.



E. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates25

gewährleisten kann, wenn derartige Fälle aus demografischen Gründen künftig häufiger auftreten werden. Die rechtliche Konformität eines menschlich verantwortungsvollen Umgangs mit altersbedingt beeinträchtigten Beschuldigten35 ist keine genuine Frage des Strafprozessrechts, sondern im Kern allgemein verfassungsrechtlicher Natur. Die angemessene Behandlung von Beschuldigten aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation sei, so Möckel,36 im Spannungsfeld staatlicher Verpflichtung auf die Gleichbehandlung von Straftätern zu sehen.37 Sie sei nur dann von juristischer Relevanz, wenn man dem Staat eine verfassungsrechtliche Verantwortung dahingehend zuordnen könne, auf eine altersangemessene Behandlung mit älteren Beschuldigten in der Strafrechtspflege hinzuwirken und diese in der Justizpraxis zu gewährleisten. Dies ergebe sich bereits bei der grundrechtlichen Ausgestaltung des Rechts auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.38 Darüber hinaus bedarf es einer besonderen Legitimation, betagtere Beschuldigte in strafverfahrensrechtlicher Weise anders zu behandeln als einen Beschuldigten mit Durchschnittsbefindlichkeit. Von einer solchen Legitimation soll nach Meinung des Verfassers ausgegangen werden, wenn einerseits verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates gegenüber älteren Straf­tätern angenommen werden können und andererseits auch ein Bedürfnis in materiellstrafrechtlicher Hinsicht besteht, die Eigenschaft „Alter“ in besonderer Weise zu berücksichtigen. Dies wäre somit eine ausreichende Legitimation, um auch Änderungen strafverfahrensrechtlicher Art vornehmen zu können.

E. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit der deutsche Staat spezifisch grundrechtliche und strafverfahrensrechtlich geprägte Schutzpflichten gegenüber einer betagten Beschuldigtenklientel zu wahren hat.39 Denn nur dadurch 35  Anzumerken ist, dass etwaige konstitutionelle Einschränkungen betagterer Personen kein logisch zwingendes Resultat des (höheren) Alters sind, aber dennoch in Kombination mit der Eigenschaft „höheres Alter“ überverhältnismäßig häufig auftreten. Deshalb sei an dieser Stelle vom Verfasser darauf hingewiesen, um Missverständnisse zu vermeiden. 36  Möckel, DVBl 2003, 488 ff. 37  Zustimmend Beck, in HRRS 2010, 156 (157). 38  Siehe Beck, ebda. 39  Die Frage hinsichtlich grundrechtbasierter Schutzpflichten strafverfahrensrechtlicher Art soll getrennt von dem allgemeinen Schutzauftrag des deutschen Verfassungsstaates in Bezug auf die Würde jedes Menschen beleuchtet werden. Häberle konstatiert, die Menschenwürde nach Art. 1 GG als Verfassungsprinzip begründe das Zusammenleben im politischen Gemeinwesen für jeden Menschen unabhängig von

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

lässt sich die Verhängung einer staatlichen und in Grundrechte eingreifenden Strafe40 hinreichend verfassungsrechtlich legitimieren.

I. Das Recht auf ein faires Verfahren 1. Allgemeines Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist primär das Recht eines Beschuldigten auf ein faires Verfahren. Aus dem englischen Common Law stammend ist das Prinzip des Fair Trials durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 sowie durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg auch für den kontinentaleuropäischen Rechtskreis elementar geworden.41 Obwohl es sich bei diesem Institut um eines der wichtigsten Fundamentalprinzipien des deutschen Strafverfahrensrechts handelt, findet sich sowohl in der Verfassung als auch in der Strafprozessordnung zunächst keine ausdrückliche gesetzliche Verankerung. Explizit niedergelegt ist der Fair-Trial-Grundsatz jedoch in Art. 6 Abs. 1 der EMRK, der in der nationalen Normgeltungshierarchie nach herrschender Meinung42 der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt. Zwar ist die innerstaatliche Rechtsnatur der EMRK noch nicht eindeutig geklärt, doch besteht immerhin weitgehende Einigkeit darüber, dass der EMRK aufgrund ihrer Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten und des daraus folgenden Grundsatzes der konventionsfreundlichen Auslegung des deutschen Strafprozessrechts43 ein materiell höherwertiger Platz in der Rangfolge der Normen zukommen müsse, als ihr formeller Rang vorgebe.44 Auch ist unstreitig, dass die Regelungen der EMRK im deutschen Recht personenbedingten Charakteristika. Dem Staat sei der alte und junge Mensch gleich (viel) wert, der Verfassungsstaat müsse „Heimstatt aller Bürger“ sein (vgl. dazu Häberle, in: FS Lerche, S. 205). 40  Die Verhängung einer Freiheitsstrafe stellt einen Eingriff in die persönliche Freiheit dar, die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, einschränkbar durch ein einfaches Gesetz, grundgesetzlich gewährleistet ist. Die Geldstrafe stellt hingegen einen Eingriff in das Recht auf Eigentum nach Art. 14 GG dar. 41  Jugl, Fair trial als Grundlage der Beweiserhebung und Beweisverwertung im Strafverfahren, S. 22. 42  BVerfGE 111, 307 (317); Heun, in: Dreier, GG, Art. 59 Rn. 47. Die Minderansicht gesteht der EMRK hingegen einen umfassenden Verfassungsrang zu, vgl. dazu Zuleeg, EuGRZ 2005, 681 (682) m. w. N. insbesondere auf Echterhölter, JZ 1955, 689 (691), sowie Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (153). 43  BVerfGE 111, 307 (317); BGHSt 45, 321 (329). 44  Volkmann, JZ 2011, 835 f.



E. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates27

vollumfängliche Wirksamkeit entfalten und deshalb von deutschen Gerichten bei der Auslegung nationaler Vorschriften berücksichtigt werden müssen.45 Das Recht auf ein faires Verfahren gehört aber auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts46 und des Bundesgerichtshofes zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens und gewährleistet als allgemeines Prozessgrundrecht einen rechtsstaatskonformen Ablauf des Strafverfahrens. Seine Legitimation wird gemeinhin im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG gesehen,47 teilweise jedoch auch unter Rückgriff auf die Menschenwürde des Art. 1 GG und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG begründet. Auch wenn die genaue dogmatische Herleitung des Rechts auf ein faires Verfahren im Einzelnen nicht abschließend geklärt ist, fußt jedenfalls jeder Begründungsaspekt auf verfassungsrechtlichem Terrain. Allein daraus wird bereits ersichtlich, dass dem Fair-Trial-Grundsatz Bedeutung von Verfassungsrang zukommen muss.48 2. Rechtliche Garantien des Fair-Trial-Grundsatzes Zu den wesentlichen Garantien des Rechts auf ein faires Verfahren gehören insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör und materielle Beweisteilhabe sowie die Unabhängigkeit des Gerichts.49 Das Recht auf eine effektive Strafverteidigung, das die freie Wahl des eigenen Rechtsbeistandes mit einschließt, ist dadurch gleichermaßen umfasst wie der Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem. Zudem wird im Grundrecht auf ein faires Verfahren das ganz wesentliche Recht des Beschuldigten gesehen, nicht nur Objekt des eigenen Strafverfahrens zu sein.50 Ihm ist vielmehr in jeder Lage des Verfahrens eine Subjektstellung beizumessen, was die Möglichkeit einschließen muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen zu können.51

in: Meyer-Goßner, StPO, Vor Art. 1 EMRK, Rn. 4b. 26, 66 (71). 47  Siehe dazu nur BVerfGE 26, 66 (71), sowie zuletzt BVerfGE 46, 202 (210). 48  So auch Jugl, Fair trial als Grundlage der Beweiserhebung und Beweisverwertung im Strafverfahren, S. 32. 49  Sachs, in: GG, Art. 20 Rn. 163, mit weiteren Nachweisen u. a. auf BVerfGE 106, 28 (48) sowie BGHSt 49, 112 (118 ff.). 50  Rogall, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 133 ff. Rn. 59 m. w. N. 51  BVerfGE 26, 66 (71). 45  Schmitt,

46  BVerfGE

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

3. Die Anwendung des Fair-Trial-Grundsatzes auf ältere Beschuldigte Diesen Leitgedanken folgend hat der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass ein Beschuldigter im Strafverfahren stets eine Subjektstellung einnimmt und diese auch in eigener Verantwortung wahrnehmen kann. Zu einer Gefährdung dieser Subjektstellung kann es jedoch kommen, wenn altersbedingt die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Rechten nicht mehr sicher gewährleistet ist. Der Gesetzgeber trägt diesen Erwägungen Rechnung und hat teilweise vor- bzw. innerprozessuale Reaktionsmöglichkeiten statuiert, um besonderen, durch altersbedingte Umstände beeinflussten Prozesssituationen eine hinreichende Verfassungskonformität zu verleihen. Dies soll an dieser Stelle nur exemplarisch durch die Vorschriften zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens nach den §§ 199 ff. StPO sowie an denjenigen über die Hauptverhandlung in den §§ 226 ff. StPO verdeutlicht und belegt werden. a) Die Entscheidungsmöglichkeiten über die Nichteröffnung des Hauptverfahrens bzw. die nachträgliche Verfahrenseinstellung In den §§ 204 Abs. 1, 205 S. 1 und 206a Abs. 1 StPO52 hat die Legislative Möglichkeiten zur gerichtlichen Ablehnung der Verfahrenseröffnung sowie zur vorläufigen bzw. endgültigen Einstellung eines bereits eröffneten Hauptverfahrens bei Vorliegen eines tatsächlichen oder rechtlichen Verfahrens­ hindernisses geschaffen.53 In der Rechtsprechung54 und Literatur55 ist ganz überwiegend anerkannt, dass ein Verfahrenshindernis aus Rechtsgründen anzunehmen sei, wenn der Beschuldigte körperlich oder geistig nicht mehr in 52  Die vorgenannten Vorschriften haben den Zweck, eine beschlussförmige Einstellung des Verfahrens bei (nicht behebbaren) Verfahrenshindernissen zu ermög­ lichen, und dienen zum einen verfahrensökonomischen Gesichtspunkten, vgl. dazu BGH, NJW 1971, 2273. Zum anderen wird dadurch auch auf Belange des Beschuldigten Rücksicht genommen, dem die Belastungen einer Hauptverhandlung dadurch erspart werden, vgl. dazu Julius/Schmidt, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller-StPO, § 206a Rn. 1; Stuckenberg, in: LR-StPO, Band 5, § 206a Rn. 1. 53  Die gesetzestechnische Systematik der Verfahrenseinstellungen ist abhängig vom jeweiligen Verfahrensstadium, in dem die Einstellung erfolgen soll. Im Ermittlungsverfahren richtet sich die Einstellung nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO, im Zwischenverfahren nach § 204 I StPO, während der Hauptverhandlung nach § 260 Abs. 3 StPO und nach Eröffnung, aber außerhalb der Hauptverhandlung, nach § 206a StPO. 54  Kirchhof, in: AnwK-StPO, § 205 Rn. 2 mit Verweis auf BGHSt 41, 16 (18), BVerfGE 51, 324 (348), sowie BVerfG, NJW 1995, 1951. 55  Kirchhof, in: AnwK-StPO, § 205 Rn. 2 mit Verweis auf Rath, GA 1997, 214 (215), und Cabanis, StV 1984, 87.



E. Verfassungsrechtliche Schutzpflichten des Staates29

der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, sich sachgerecht zu verteidigen oder wirksame Prozesserklärungen abzugeben, demzufolge, wenn er nicht mitverfolgen kann oder nicht mehr richtig versteht, was mit ihm geschieht. Auch wenn beim Angeklagten die Gefahr schwerwiegender irreparabler gesundheitlicher Schäden aufgrund der Durchführung eines Strafverfahrens besteht, soll eine Verfahrensbeendigung durch Einstellung erfolgen können.56 b) Regelungen über die Anwesenheit des Beschuldigten im Hauptverfahren Aus den Regelungen über die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung nach den §§ 226 ff. StPO geht ebenfalls hervor, dass staatliche Schutzpflichten auf das Strafverfahrensrecht im weiteren Umfang Einfluss nehmen. Aus den Vorschriften der §§ 226 ff. StPO, insbesondere aus § 230 Abs. 1 StPO, ergibt sich der Grundsatz der Anwesenheitspflicht eines Angeklagten in der Hauptverhandlung, nötigenfalls auch unter Einsatz von Zwangsmitteln, § 230 Abs. 2 StPO.57 Die persönliche Anwesenheit des Angeklagten ist regelmäßig aus vielerlei Gründen erforderlich und wird zum Teil58 durch das Allgemeininteresse an der Vermeidung von Fehlurteilen, andererseits auch über die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, legitimiert.59 Von diesem Grundsatz werden jedoch Ausnahmen gemacht, wie an den zahlreichen Ausnahmetatbeständen dieses Normabschnitts deutlich wird.60 Eine zentrale Rolle nimmt in Fällen älterer Beschuldigter § 233 StPO ein, der einen Angeklagten auf seinen Antrag von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung durch Gerichtsbeschluss entbinden kann. Die Vorschrift eröffnet eine Abwägungsmöglichkeit zwischen dem bereits bezeichneten Allgemeininteresse an der Vermeidung von Fehlurteilen einerseits und den Individualinteressen des Angeklagten andererseits. Dabei können sowohl berufliche und sonstige private, insbesondere aber auch gesundheitliche Belange eine Rolle spielen.61

56  BVerfG,

NJW 2002, 51 (52). in: SK-StPO, Band IV, § 230 Rn. 1 m. w. N. 58  Deiters, in: SK-StPO, Band IV, § 230 Rn. 1g m. w. N., so z. B. Grünwald, JZ 1976, 767 (771); Baxhenrich, Die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, S. 180. Kritisch dazu u. a. Julius, GA 1992, 295 (299). 59  Hierzu allerdings ablehnend Kamp, in: FS Rudolphi, S. 661 (S. 663 f.). 60  Vgl. dazu nur exemplarisch die §§ 231a, 231b, 231c, 232 und 233 StPO. 61  Deiters, in: SK-StPO, Band IV, § 233 Rn. 10. 57  Deiters,

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

Auch wenn die Vorschrift ausweislich ihrer Formulierung nur in Fällen mit geringer Rechtsfolgenerwartung62 zur Anwendung kommt, gibt der Gesetzgeber dadurch dennoch grundsätzlich zu erkennen, dass es Fälle mit vorrangigen Individualinteressen des Angeklagten geben kann, hinter denen öffentliche Interessen im Einzelfall zurücktreten. 4. Zwischenbefund Mit derartigen, hier nur in ihren rudimentären Strukturen aufgezeigten Regelungen geben sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung zu erkennen, dass der Eigenschaft „Täteralter“ eine juristisch, insbesondere auch verfassungsrechtlich relevante Bedeutung beizumessen ist. Der Staat erkennt spezifische Schutzbedürfnisse älterer Menschen im Grundsatz an und verschafft entsprechenden Individualbelangen durch Einzelnormierungen hinreichende Geltung. Eine Missachtung dieser oder etwaiger anderer Schutzpflichten birgt das Potenzial, grundsätzlich rechtsstaatlich verlaufende Strafverfahren zu rechtsstaatswidrigen werden zu lassen, wenn jene Schutzpflichten nicht in ausreichendem Maße Berücksichtigung finden und deshalb Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens insgesamt bestehen. Als Zwischenbefund bleibt damit festzustellen, dass staatliche Schutzpflichten zur Berücksichtigung des Täteralters bereits auf der Verfassungsebene anzuerkennen sind und diese stellenweise auch bereits ins einfache Strafprozessrecht übernommen und normativ ausgestaltet worden sind.

F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters auf materiell-strafrechtlicher Ebene Das Strafprozessrecht bildet den formalen Rahmen, in dem eine Straftat­ bestandsverletzung in einem justizförmigen Verfahren geahndet wird. Eine Relevanz der Alterseigenschaft eines Beschuldigten im Strafprozessrecht mit der Konsequenz, bereits Ermittlungsinstrumentarien der Strafprozessordnung bei der Verfolgung älterer Beschuldigter restriktiver einzusetzen oder gar gänzlich von ihrem Einsatz abzusehen, sollte nach hier vertretener Auffassung allerdings nur dann legitimierbar sein, wenn auch materiell-strafrechtlich ein Bedürfnis besteht, die Eigenschaft „höheres Alter“ strafbegründend oder zumindest strafmodifizierend zu berücksichtigen. Insofern wird in dieser 62  Als geringe Rechtsfolgenerwartung wird im Fall des § 233 Abs. 1 StPO neben einer Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten und Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Einziehung, Vernichtung sowie die Unbrauchbarmachung verstanden.



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters31

Untersuchung zur Legitimation potenzieller strafverfahrensrechtlicher Res­ triktionen bei der Anwendung von Zwangsmitteln und Zwangsmaßnahmen zum Nachteil älterer Beschuldigter eine grundsätzliche Akzessorietät zum materiellen Strafrecht befürwortet.

I. Akzessorische Verbindung zwischen materiellem und formellem Strafrecht Der Gedanke der akzessorischen Verknüpfung der materiell-strafrechtlichen Bedeutung des Alters einerseits mit der formell-strafprozessrechtlichen andererseits fußt im Kern auf der Annahme, dass der Einsatz strafprozessualer Zwangsmaßnahmen und sonstiger Ermittlungsinstrumente in der Praxis dem Ermittlungserfolg in aller Regel vorausgeht. Erst ihre Anwendung führt im Idealfall zur gerichtsfesten Nachweisbarkeit strafbaren Verhaltens und somit zum Rechtsfolgenausspruch selbst. Ein solches Bedürfnis, ein höheres Beschuldigtenalter materiell-strafrechtlich zu berücksichtigen, könnte einerseits schon auf der Strafbegründungsebene, möglicherweise aber auch erst im Wege einer Strafmodifizierung bestehen. 1. Bedeutung auf der Strafbegründungsebene a) Einführungsmöglichkeit einer erweiterten strukturanalogen Schuldunfähigkeitsnorm nach § 19 StGB In strafbegründender Hinsicht könnte beispielsweise über die Schaffung einer strukturanalogen Norm zu § 19 StGB nachgedacht werden. § 19 StGB statuiert die unwiderlegbare Vermutung der Strafunmündigkeit (und nach h. M. damit Schuldlosigkeit) von Kindern eines Alters unter 14 Jahren. Normzweck ist eine generalisiert altersbezogene Strafunmündigkeitsregelung, um aufwendige und problemanfällige Einzelbegutachtungen zur Feststellung der die Schuldfähigkeit konstituierenden Fähigkeiten zur Unrechts­ einsicht und zur entsprechenden Handlungssteuerung zu vermeiden.63 Eine solche Norm könnte in strukturanaloger Weise festlegen, dass Personen gehobenen Alters ebenso obligatorisch als nicht mehr strafmündig anzusehen sind, die eine gewisse Lebensaltersgrenze überschritten haben. Auch bei dieser Personengruppe ist zumindest vom Grundsatz her die Fähigkeit 63  Streng, in: MüKo-StGB, Band 1, § 19 Rn. 1 mit Verweis auf Bohnert, NStZ 1988, 249 (250 ff.); Schütze, DVJJ-Journal 1997, 366 (367 f.); Streng, DVJJ-Journal 1997, 379 (381 f.); Hefendehl, JZ 2000, 600 (605); Schild, in: NK-StGB, § 19 Rn. 2.

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

zur Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit nicht von vornherein gänzlich ausgeschlossen. Als Begründungsansatz dafür ließe sich anführen, dass die Erkenntnis als biologisch und sozialpsychologisch gesichert gilt, dass die kognitive und mentale Leistungsfähigkeit einer Person mit zunehmendem Lebensalter im Normalfall zunächst stetig zunimmt, ab einem gewissen Alter jedoch wieder abnimmt.64 So berichtet Mezger,65 dass sich die kognitive Leistungsfähigkeit einer 70-jährigen Person auf 40 % reduziert hat. Zudem leiden statistisch betrachtet fast 15 % der 80-Jährigen und rund ein Drittel aller 90-Jährigen an einer Demenzerkrankung.66 b) Zwischenbefund Aus dem Fair-Trial-Gebot resultiert daher eine besondere Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personengruppen. Der Strafrechtsgesetzgeber trägt diesen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen bislang in Grundzügen Rechnung. Mit § 19 StGB kennt das materielle Strafrecht eine unwiderlegliche Vermutung, dass Tätern, die zum relevanten Tathandlungszeitpunkt67 unter 14 Jahre68 alt sind, die nötige Unrechtseinsicht fehlt und sie daher als straf­ unmündig gelten. Infolgedessen ergibt sich nach allgemeiner Dogmatik ein 64  Hervorgehoben sei an dieser Stelle, dass eine möglicherweise erhöhte strafverfahrensrechtliche Schutzbedürftigkeit von Personen mit eingeschränkter Geistestätigkeit nicht allein aufgrund eines höheren Lebensalters anzunehmen ist. Kognitive Dysfunktionen können selbstverständlich auch Ausprägung einer bestehenden Erkrankung unabhängig vom Alter sein. Die angesprochene Problematik ist somit kein genuines Problem des Lebensalters einer Person, aber dennoch eines, das überpropor­ tional häufig mit einem höheren Lebensalter korreliert. Aus diesem Grund wird die Analyse des Problems auf den Umstand des Lebensalters beschränkt. 65  Mezger, Geistige Funktionen im Alter, http://home.allgaeu.org/gmezger/pers/ gf.html (zuletzt aufgerufen am 17.11.2017). 66  Demenz-Report – Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können (Hrsg. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung), S. 20. 67  Auf den Zeitpunkt des Eintritts des Taterfolgs kommt es nicht an, siehe § 8 S. 2 StGB. Vgl. dazu auch Rogall, in: SK-StGB, Band 1, § 19 Rn. 8; Streng, in: MüKoStGB, Band 1, § 19 Rn. 7; Schöch, in: LK-StGB, Band 1, § 19 Rn. 9. 68  Seit einigen Jahren gibt es in der rechtswissenschaftlichen Diskussion Bestrebungen, die Altersgrenze von 14 auf 12 Jahre abzusenken (so u. a. Wolfslast, Strafrecht für Kinder?, in: FS Bemmann S. 274 (S. 275); Schoene, DRiZ 1999, 321). Dies sei „unter Würdigung des durchschnittlichen Entwicklungsstandes und des in der Regel vorhandenen Unrechtsbewusstseins“ grundsätzlich zu vertreten; allenfalls in Einzelfällen solle bis zum 14. Lebensjahr auf die Anwendung des JGG verzichtet werden können, siehe dazu DVJJ-Journal 1996, 316.



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters33

materieller Schuldausschluss und in der Konsequenz ein verfahrensrecht­ liches Prozesshindernis,69 sodass Kinderdelinquenz nach derzeit geltendem Recht zumindest nicht mit Mitteln des Strafrechts ahndungsfähig ist.70 Eine vergleichbar standardisierte gesetzliche Regelung zum Lebensende einer Person, die auf das Erreichen oder Überschreiten einer spezifischen Altersgrenze abstellt, ab wann eine Person nicht mehr als einsichts- und damit schuldunfähig anzusehen ist, fehlt.71 Richtigerweise ist die Existenz einer derartigen strukturanalogen Norm für Bereiche am Lebensende jedoch abzulehnen. Es lässt sich vernünftigerweise kein Lebensalter festlegen, bei dessen Überschreitung einem Beschuldigten regelmäßig eine fehlende oder beeinträchtigte Steuerungs- bzw. Unrechtseinsicht zu attestieren wäre. Eine solche starre Grenze würde in der gericht­ lichen Anwendungspraxis nicht selten zu eklatant unbilligen und in der Folge als ungerecht wahrgenommenen Ergebnissen führen.72 c) Strukturanaloge Norm zu § 19 StGB mit lediglich fakultativer Ausrichtung Der Idee der Einführung einer vergleichbaren Norm, die aufgrund des Lebensalters nicht zu einer obligatorischen, sondern lediglich zu einer fakultativen Strafunmündigkeit respektive Schuldlosigkeit führt, soll aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken, insbesondere hinsichtlich eines Verstoßes gegen das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip (hier: Unterfall des Bestimmtheitsgebots), nicht weiter nachgegangen werden. d) Abkehr von der Unwiderleglichkeitsvermutung nach Beck Ein weiterer Ansatz wurde von Beck73 entwickelt. Sie schlägt vor, das Vorhandensein bestimmter kognitiver Einschränkungen ab einem besonders hohen Lebensalter nicht unwiderleglich, sondern nur widerleglich zu vermuten.

69  Streng, in: MüKo-StGB, Band 1, § 19 Rn. 11; Rogall, in: SK-StGB, Band 1, § 19 Rn. 11. 70  Davon unbeeinflusst bleiben außerstrafrechtliche Maßnahmen, z.  B. nach §§ 1631 Abs. 3, 1666 BGB oder dem SGB VIII. 71  Zustimmend auch Beck, Alter schützt vor Strafe nicht?, HRRS 2010, 156 (158). 72  Siehe exemplarisch die vergleichbare Problematik und Diskussion um die Einführung einer festen Altersgrenze im Fahrerlaubnisrecht. 73  Beck, Alter schützt vor Strafe nicht?, HRRS 2010, 156 (158).

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

Diese Idee ist im Grundsatz interessant, jedoch unter dem Gesichtspunkt der Unwiderlegbarkeit der altersbedingten Strafunmündigkeit von Kindern nach § 19 StGB strafrechtsdogmatisch nicht vollkommen überzeugend. Es ist kein sachlich-plausibler Grund ersichtlich, weshalb Kinder, die einen gewissen geistigen Reifegrad noch nicht erreicht haben, hinsichtlich der Unwiderlegbarkeit ihrer Strafunmündigkeit dogmatisch anders behandelt werden sollten als ältere Menschen, die ihre (bereits erlangte) geistige Befähigung unter Umständen teilweise wieder eingebüßt haben. Der Gesetzgeber gibt durch die Systematik der §§ 19, 20 StGB klar zu erkennen, dass nach Erreichen eines bestimmten Reifegrades, der in legitimer Weise an das Erreichen eines bestimmten Lebensalters geknüpft wird, im Grundsatz von einer vollen Steuerungs- bzw. Unrechtseinsicht ausgegangen werden soll. Nur in Fällen krankheitsbedingter Art, die ausnahmsweise Anlass zu der Annahme einer bestehenden Schuldunfähigkeit geben, soll ein obligatorischer Schuldausschluss nach § 20 StGB in Betracht kommen. e) § 20 StGB als mögliche Lösung für ältere Beschuldigte Neben § 19 StGB existiert wie soeben angedeutet mit § 20 StGB eine weitere materiell-rechtliche Regelung zum Schuldausschluss, deren spezifische Anwendbarkeit für die Fälle älterer Beschuldigter nachfolgend kurz beleuchtet werden soll. Zentraler Normkern ist im Gegensatz zu § 19 StGB keine strikte Anlehnung an das Alter des Täters zur Zeit der Tat, sondern eine altersunabhängige Bewertung des Täters im Hinblick auf das Vorliegen etwaiger seelischer Störungen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen zur Annahme seelischer Störungen gelten nach gefestigter Auffassung als hoch, sodass ganz überwiegend ein manifester Krankheitswert von erheblichem Ausmaß vorliegen muss, um in den Anwendungsbereich der Norm zu gelangen. Ein zu § 19 StGB äquivalenter Automatismus, der für die Beurteilung des Vorliegens einer seelischen Störung einer Person lediglich das Lebensalter der betreffenden Person berücksichtigt, ist in § 20 StGB nicht zu erblicken. f) Zwischenbefund Die Verortung der Lösung des Problems „älterer Beschuldigter“ bereits auf der Ebene der Strafbegründung erscheint unzweckmäßig. Möglicherweise mehr dogmatisches Potenzial für die Berücksichtigung der Alterseigenschaft hält die Rechtsfolgenseite bereit.



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters35

2. Bedeutung auf der Strafzumessungsebene Als dogmatischer Hauptanknüpfungspunkt auf der Rechtsfolgenseite kommt insbesondere das Strafzumessungsrecht in Betracht. Normativer Ausgangspunkt ist § 46 StGB, der die Grundsätze der Straf­ zumessung regelt. Nach dem in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB niedergelegten Schuldprinzip ist die Schuld des Täters Grundlage jeder Strafzumessung. Dabei sind nach S. 2 der Vorschrift die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. Darunter werden gemeinhin die Strafzwecke verstanden, die oberste Richtschnur jeder Strafzumessung sein müssen.74 § 46 Abs. 2 StGB beschreibt hingegen einen beispielhaften und damit nicht abschließenden Katalog von Strafzumessungstatsachen, die für den konkreten Bewertungsakt der Strafzumessung die faktische Grundlage bilden.75 Namentlich benannt sind neben den Beweggründen und den Zielen des Täters auch seine Gesinnung, die aus der Tat spricht, der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen um Schadenswiedergutmachung und darum, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, § 46 Abs. 2 S. 2 StGB. Alle benannten Strafzumessungstatsachen sind grundsätzlich gleichrangig76 und vom Gericht gegeneinander abzuwägen.77 a) Die „persönlichen Verhältnisse“ des Täters als möglicher Anknüpfungspunkt Besonderes Augenmerk verdient die Strafzumessungstatsache mit Blick auf die persönlichen Verhältnisse des Täters, die für die Problematik eines betagten Beschuldigten fruchtbar gemacht werden können. Hierunter werden gemeinhin alle die Person und ihre Lebensumstände prägenden Umstände

in: Schönke/Schröder, StGB, § 46 Rn. 3. StGB, § 46 Rn. 21. 76  Von einer Gleichrangigkeit sei u. a. deshalb auszugehen, da § 46 StGB nicht entnommen werden könne, welches Gewicht den einzelnen strafzumessungserheb­ lichen Tatsachen im Einzelfall zukommen soll. Vgl. dazu auch Miebach/Maier, in: MüKo-StGB, Band 2, § 46 Rn. 174, mit Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber einem System gesetzlicher Fixierung von Strafzumessungsrichtlinien eine Absage erteilt hat. 77  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB, Band 2, § 46 Rn. 174. 74  Kinzig,

75  Fischer,

36

Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

verstanden.78 Diese umfassen in der Folge auch das Lebensalter79 und den Gesundheitszustand80 des Täters, die bei der Prognosebeurteilung der von der Strafe ausgehenden Wirkungen zu berücksichtigen sind. Zu betonen ist jedoch, dass sich allein aus statistischen Erkenntnissen zur Lebenserwartung, auch im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, keine besondere Strafobergrenze ergibt.81 So hat bereits der BGH82 im Jahr 2006 seine ablehnende Haltung bezüglich einer pauschalen Besserstellung eines Angeklagten allein aufgrund seines (höheren) Alters judiziert.83 Es sei vielmehr erforderlich, das Alter des Beschuldigten sowie die Wirkungen der ausgeurteilten Strafen auf sein zukünftiges Leben unter Strafzumessungsgesichtspunkten angemessen zu würdigen. Dabei solle unter Zugrundelegung strafvollstreckungsrechtlicher Leitprinzipien eine zwar tat- und schuldangemessene Strafe ausgesprochen werden, die eine Entlassung aus dem Strafvollzug zu Lebzeiten aber dennoch nicht gänzlich aussichtlos macht.84 b) Strafrechtstheoretische Betrachtung: Die Strafzwecke Besonders in den Blick zu nehmen sind insbesondere auch die Strafzwecke, die jedem Strafzumessungsakt als strafrechtstheoretischem Leitkriterium zugrunde liegen. Wie zu zeigen sein wird, ist es unter dem Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs nicht unproblematisch, eine Kriminalstrafe gegen betagte Täter zu legitimieren. Die verschiedenen Strafzwecke unterteilen sich nach der klassischen Lehre in die absoluten und die relativen Strafzwecktheorien. Während die absoluten Strafzwecktheorien dem Schuldausgleich und der Wiederherstellung der Gerechtigkeit dienen, zielen die relativen Strafzwecktheorien präventiv auf die Verhinderung künftiger Straftaten ab und weisen sowohl general- als auch spezialpräventive Facetten auf. StGB, § 46 Rn. 42 mit Verweis auf BGH, NStZ 1981, 299. in: FS DAV, S. 275 (S. 281). 80  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB, Band 2, § 46 Rn. 240. 81  Fischer, StGB, § 46 Rn. 42 mit Verweis auf BGH, NJW 2006, 2129. 82  BGH, Urt. v. 27.04.2006, Az.: 4 StR 572/05, S. 13. 83  In der Strafrechtspflege, insbesondere bei der Staatsanwaltschaft, lässt sich jedoch eine zunehmende Tendenz feststellen, Strafverfahren primär aus Altersgründen des Täters nach § 153 StPO wegen Geringfügigkeit einzustellen. 84  BGH, Urt. v. 27.04.2006, Az.: 4 StR 572/05, mit Bezugnahme auf die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe mit dem Grundgesetz vom 21.06.1977 – BVerfGE 45, 187. Aus jüngerer Zeit diese aufgreifend und bestätigend BVerfG, Beschl. v. 22.05.1995, Az.: 2 BvR 671/95. 78  Fischer, 79  Detter,



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters37

aa) Absolute Strafzwecktheorien Die absoluten Theorien sind von gesellschaftlichen Auswirkungen der Strafe weitgehend losgelöst und rekurrieren im Wesentlichen auf ein metaphysisches Prinzip von Gerechtigkeit. Sie untergliedern sich in die Vergeltungstheorie einerseits und die Sühnetheorie andererseits. Bekannte Vertreter der absoluten Strafzwecktheorien sind Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant. Letzterer ist Verfechter des Tallionsprinzips, nach dem die Strafe „Auge um Auge“ dem verwirklichten Tat­ unrecht entsprechen soll. Hegel hingegen ist Anhänger der Restaurierung von begangenem Unrecht durch eine Negation der Negation85 und verlangt eine Wertgleichheit zwischen Tat und Strafe. Die absoluten Ansätze eignen sich vorliegend nicht zur Lösung des untersuchten Problems und sollen für die weitere Betrachtung unberücksichtigt bleiben. bb) Relative Strafzwecktheorien Die allgemein bekannten Schwächen der rein absoluten Strafzwecktheorien aufdeckend verfolgen die relativen Strafzwecktheorien im Kern präventive Aspekte. Sie zeichnen sich überwiegend dadurch aus, dass sie die Strafe durch zukünftige Zwecke legitimieren wollen.86 Sie sollen nachfolgend in der an dieser Stelle gebotenen Knappheit im Hinblick auf die Belange älterer Beschuldigter untersucht und kritisch hinterfragt werden. (1) Strafzwecktheorie: Positive Generalprävention (aa) Allgemeines Der Leitgedanke der Theorie über die positive Generalprävention ist im Wesentlichen ein Appell an die Bürger, in die Legitimität der verletzten Rechtsnorm zu vertrauen.87 Die Durchsetzung der Rechtsordnung bei einem Normverstoß soll die Mitglieder einer Gesellschaft darin bestärken, in die Autorität und Stabilität der Rechtsordnung insgesamt zu vertrauen.88 Sie diene allgemein der Einübung von Rechtstreue und beinhaltet neben dem 85  Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 99. 86  Prömper, Hemmschwellentheorie und Einzelfallgerechtigkeit, S. 100. 87  Baurmann, GA 1994, 368 (376). 88  Baurmann, GA 1994, 368 (376).

38

Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

dargelegten Vertrauens-89 auch einen gewissen Befriedigungseffekt.90 Dieser besteht hauptsächlich darin, dass sich das allgemeine Rechtsbewusstsein der Gesellschaft aufgrund der verhängten Sanktion beruhigt und der Rechtsbruch durch die Verhängung einer Strafe als erledigt angesehen wird. (bb) Anwendbarkeit auf ältere Beschuldigte In Fällen von Seniorenkriminalität steht die Legitimation einer staatlichen Kriminalstrafe aus positiv-generalpräventiven Aspekten vor nicht unerheblichen Begründungsschwierigkeiten. Ältere Menschen sind aufgrund ihres hohen Lebensalters oft nicht mehr erziehbar, sodass es an einem Einübungsbedürfnis von Rechtstreue häufig mangelt. Zur Rechtfertigung einer Kriminalstrafe bliebe allein der Aspekt der normstabilisierenden Wirkung durch Vergeltung aufgrund der Strafverhängung. Diesbezüglich kann jedoch die Frage gestellt werden, inwiefern das Vertrauen der Gesellschaft in das Bestehen der Rechtsordnung noch gestärkt werden muss, wenn ältere Täter aufgrund lange zurückliegender Taten noch verfolgt und bestraft werden.91 Diese Problematik ergibt sich freilich nicht bei Taten, die vom Täter in jüngerer Vergangenheit begangen worden sind. (2) Strafzwecktheorie: Negative Generalprävention (aa) Allgemeines Die negative Generalprävention, von dem als Begründer der modernen deutschen Strafrechtslehre geltenden Paul Johann Anselm von Feuerbach vertreten, setzt im Kern bei der Abschreckung der Gesellschaft von der Begehung ähnlicher Taten an, wodurch Rechtsgüterschutz zu bewirken sei.92 Durch die Androhung von Strafe, die dann aber auch laut Frisch93 der Vollstreckung bedürfe, soll der Bevölkerung ins Bewusstsein gerufen werden, welche Strafen auf konkrete Rechtsbrüche folgen können.

Strafrecht AT, Band I, § 3 A Rn. 27. in: FS: Jescheck, S. 813 (S. 817 f.) sowie Moos, in: FS Pallin, S. 283 (S. 300). 91  Eine Ausnahme in diesem Bereich ist bei betagten Tätern zu machen, die sich einer Beteiligung an nationalsozialistischem Unrecht schuldig gemacht haben. An der Aufarbeitung derartiger Fälle, auch wenn sie teils mehrere Jahrzehnte zurückliegen, besteht ein historisch bedingtes Aufklärungsinteresse. 92  Frisch, in: Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, S. 191 (S. 194). 93  Frisch, in: FS Schünemann, S. 55 (S. 57). 89  Roxin,

90  Müller-Dietz,



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters39

(bb) Anwendbarkeit auf ältere Beschuldigte Kritisch zu hinterfragen ist jedoch auch an dieser Stelle, ob tatsächlich eine Abschreckungswirkung für die Allgemeinheit eintritt, wenn hochbetagte und häufig gesundheitlich beeinträchtigte Beschuldigte noch einer staatlichen Strafe zugeführt werden.94 Strafzweckaspekte dieses Ansatzes werden bereits schon durch die neuerliche Leittendenz der Rechtsprechung konterkariert, die zwar keine altersbedingten Strafobergrenzen anerkennen will95, jedoch einem Beschuldigten die grundsätzliche Entlassungsmöglichkeit aus dem Strafvollzug zu Lebzeiten nicht von vornherein unmöglich machen möchte.96 Im Ergebnis können allein negativ generalpräventive Faktoren nicht ausreichen, um eine Strafsanktion gegen ältere Beschuldigte zu legitimieren. (3) Strafzwecktheorie: Positive Spezialprävention (aa) Allgemeines Die (positive) Spezialprävention, von Franz von Liszt im Jahr 188397 begründet, hat als Grundgedanke die Besserung des Täters sowie dessen Resozialisierung98 im Blick und orientiert sich am Rechtsgüterschutz99. Dieser Besserungsgedanke dominiert bis heute maßgeblich den Ablauf des deutschen Strafvollzugs und findet sich zudem bereits auf der Sanktionsebene im Jugendgerichtsgesetz wieder, das maßgeblich vom Erziehungsgedanken beherrscht wird.100 (bb) Anwendbarkeit auf ältere Beschuldigte An dieser Stelle kann auf bereits Gesagtes rekurriert werden: Ältere Menschen sind zumeist nicht nachhaltig erziehbar bzw. teilweise bereits voll resozialisiert und in die Gesellschaft eingebunden.101 Eine Strafbegründung al94  So

zustimmend auch Beck, in: HRRS 2010, 156 (159). Urt. v. 27.04.2006, Az.: 4 StR 572/05, Rn. 13. 96  BGH, Urt. v. 27.04.2006, Az.: 4 StR 572/05, Rn. 13. 97  Maßgebend dazu von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), S.  1 ff. 98  Diesem Ziel kommt ausweislich BVerfGE 116, 69 (85) sogar Verfassungsrang zu. 99  von Liszt, in: Moderne deutsche Strafrechtsdenker, S. 215 ff. 100  Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, Rn. 258. 101  Zu denken ist hier an vor vielen Jahrzehnten begangenes NS-Unrecht. Aufgrund des langen Zeitraums zwischen der Begehung von oder der Beteiligung an NS-Ver95  BGH,

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

lein aus positiv-spezialpräventiven Gesichtspunkten erscheint daher nur wenig überzeugend. (4) Strafzwecktheorie: Negative Spezialprävention (aa) Allgemeines Das zentrale Kernelement der negativen Spezialprävention besteht maßgeblich in der Sicherung der Allgemeinheit vor dem Täter und in der Einwirkung auf den Täter, keine weitere Straftat zu begehen. In diesem Zusammenhang wird häufig von der „Unschädlichmachung“ des Täters gesprochen.102 (bb) Anwendbarkeit auf ältere Beschuldigte Auch dieser negative Aspekt der zwecktheoretischen Spezialprävention erweist sich in Fällen von Seniorenkriminalität als äußerst schwierig begründbar. Diese Begründungsschwierigkeit wird offenbar, wenn die beiden klassischen Einwirkungsinstrumente des Strafrechts in den Blick genommen werden. Das Strafrecht kennt als sog. Hauptstrafen lediglich die Freiheits(§§ 38 f. StGB) und die Geldstrafe (§§ 40 ff. StGB). Einerseits erscheint die Verhängung einer Freiheitsstrafe oft unangemessen, da die Auswirkungen eines Freiheitsentzugs auf ältere Beschuldigte aufgrund ihrer erhöhten altersbedingten Haftempfindlichkeit deutlich einschneidendere Wirkung entfalten.103 Andererseits können Geldstrafen aufgrund nicht selten bestehender Altersarmut104 teilweise nicht beglichen werden, sofern man Ratenzahlungsmöglichkeiten außer Betracht lässt. Die daher zu erwartende Umwandlung einer Geldstrafe in eine wenn auch vergleichsweise kurze Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 StGB begegnet neben den klassischen wirtschaftlichen und resozialisierungsfeindlichen Bedenken den gleichen kritischen Einwänden wie die Verhängung der Freiheitsstrafe selbst. brechen einerseits und der Strafverfolgung der damaligen, heute hochbetagten Täter andererseits liegen mehrere Jahrzehnte, in denen die Täter zumeist rechtstreu und gesellschaftlich integriert und (re-)sozialisiert gelebt haben. 102  Joecks, in: MüKo-StGB, Band 1, Einl. Rn. 63. 103  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB, Band 2, § 46 Rn. 242. 104  Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind aktuell hierzulande 16 Mil­ lionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. In dieser Erhebung wird der Armutsbegriff bereits weit verstanden: Als armutsgefährdet gilt, wer lediglich weniger als 60 % des mittleren Einkommens pro Monat zur Verfügung hat. Dieses liegt aktuell bei 1064 Euro für Alleinstehende und bei 2234 Euro für eine vierköpfige Familie, siehe https://www.welt.de/wirtschaft/article170450792/Rueckkehrder-Altersarmut.html (zuletzt aufgerufen am 11.11.2018).



F. Bedürfnis zur Berücksichtigung des Alters41

Zu konstatieren ist, dass das Sanktionsspektrum des aktuell geltenden Strafrechts auf die Bedürfnisse und die besondere Situation straffälliger Senioren nicht überzeugend anwendbar ist, sodass auch negativ-spezialpräventive Überlegungen im Ergebnis nicht durchgreifen. c) Zwischenbefund Es ist festzustellen, dass die klassischen Strafzwecklehren kein profundes Instrument bereithalten, das allgemein und passgenau auf die Handhabung von Seniorenkriminalität anwendbar wäre. Keine der Lehren allein oder in Kombination105 kann einen hinreichend plausiblen Begründungsansatz liefern, unter welchen rechtlichen Gesichtspunkten eine Bestrafung älterer Beschuldigter im rechtstechnischen Sinne legitimierbar wäre.

II. Ergebnis Der Eigenschaft des Täteralters kommt im Recht allgemein und im Strafrecht im Besonderen eine nicht unbedeutende Rolle zu. Bereits auf der Verfassungsebene ergeben sich aus dem Fair-Trial-Grundsatz grundrechtliche Schutzpflichten. Auch in materiell-strafrechtlicher Hinsicht besteht, wie an § 46 StGB dargelegt wurde, ein Bedürfnis zur Modifizierung einer Strafe für Täter im Seniorenalter. Damit lässt sich, bezugnehmend auf den hier befürworteten Akzessorietätsgedanken, zwischen materiell-strafrechtlichen Aspekten einerseits und formell-prozessrechtlichen Belangen andererseits eine Legitimation ableiten, auch strafverfahrensrechtliche Maßnahmen und Institute auf ihren Gehalt dahingehend zu überprüfen, ob Änderungen in Fällen älterer Beschuldigter nicht nur in rechtlicher, sondern auch in praktischer Hinsicht notwendig oder gar unausweichlich sind.

III. Weiterer Gang der Untersuchung Die oben skizzierten Problembereiche und ihre Begründungsschwierigkeiten im materiellen Strafrecht geben Anlass, auch strafverfahrensrechtliche Konsequenzen im Zusammenhang mit Seniorenkriminalität einer genaueren forensischen Betrachtung zu unterziehen. Im Zentrum der weiteren Untersuchung soll deshalb im Wesentlichen die rechtliche Zulässigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen sowie sonstiger Ermittlungsinstrumentarien stehen, 105  Siehe zu den Vereinigungstheorien Joecks, in: MüKo-StGB, Band 1, Einleitung Rn.  75 ff.

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Kap. 1: Die aktuelle demografische Struktur in Deutschland

mit denen Täter gemeinhin in Kontakt kommen. Analytische Schwerpunkte werden vor allem auf solche Institute der StPO gelegt, die entweder eine vergleichsweise hohe Anwendungsinzidenz in der Praxis aufweisen oder deren Durchführung mit einer besonderen Grundrechtsintensivität für die Betroffenen einhergeht. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Identifizierung möglicherweise bestehender Unzulänglichkeiten bei einzelnen Rechtsinstituten unter gleichzeitiger Erarbeitung von Lösungsvorschlägen, die gleichermaßen rechtlich vertretbar, in besonderem Maße aber auch im Justizalltag praktikabel sein sollen.

Kapitel 2

Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter A. Grundzüge und allgemeine rechtliche Grundlagen des Rechts der Beschuldigtenvernehmung Im Rahmen rechtsstaatlicher Ermittlungs- und Strafverfahren sind Befragungen von Personen zur Aufklärung etwaigen strafbaren Verhaltens unerlässlich. Dies geschieht in aller Regel in Vernehmungen1 durch staatliche Justizbehörden wie die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht.

I. Begriff Der Begriff „Vernehmung“ ist in der strafprozessrechtlichen Literatur nicht unumstritten. Nach wohl herrschender Auffassung2 ist unter einer Ver­nehmung „jede innerprozessuale Veranlassung einer Person zur Abgabe sach- oder prozessrelevanter Informationen seitens eines amtlich tätigen Strafverfolgungs­ organs“ zu verstehen (sog. formeller Vernehmungsbegriff)3. Vernommen werden können Personen einerseits als Zeugen, andererseits als Beschuldigte. Dieser Statusunterschied ist für alle an der Vernehmung Beteiligten von erheblicher Relevanz, da sich hieraus unterschiedlich stark ausgeprägte Rechte und Pflichten insbesondere für den zu Vernehmenden ergeben.4 1  Zum unterschiedlichen Verständnis des Begriffs der „Vernehmung“ siehe u. a. BGH, NJW 2018, 1986 (1989); Schuhr, in: MüKo-StPO, Band 1, Vor §§ 133 ff. Rn. 36. 2  BGHSt 40, 211 (213); BGH (GS) 42, 139 (145). Kritisch dazu Popp, NStZ 1998, 95 f. 3  Zum Streitstand in der Literatur, ob nicht richtigerweise ein materieller Vernehmungsbegriff, der im Gegensatz zum formellen Vernehmungsbegriff jede dem Staat zurechenbare Veranlassung zur Wissenspreisgabe und somit jede in kommunikativer Weise erfolgende Abschöpfung von Wissen, auch wenn sie sich verdeckt vollzieht, als Vernehmung oder zumindest als „vernehmungsähnliche Situation“ einstuft, vgl. exemplarisch nur Roxin, NStZ 1997, 18 f.; Bernsmann, StV 1997, 116 (117 f.). 4  Für die unterschiedlichen Belehrungspflichten der Vernehmungsperson gegenüber einem Beschuldigten und einem Zeugen siehe Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136 Rn. 34 ff., bzw. Schmuck/Gorius, NJOZ 2011, 833.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

II. Zweck und Zeitpunkt der Vernehmung Der Zweck einer Beschuldigtenvernehmung ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt.5 Nach vorherrschender Auffassung besteht der Vernehmungszweck auf staatlicher Seite primär sowohl in der Gewinnung und Sicherung ermittlungsrelevanter Informationen zu Beweiszwecken als auch in der Sicherung des verfassungsrechtlichen Anspruchs des Beschuldigten auf Gewährung rechtlichen Gehörs6 nach Art. 103 I GG. Der Vernehmung wohnt folglich ein Doppelcharakter inne, der sich aus der statusbedingt ambivalenten Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren ergibt. Darüber hinaus dient sie dessen Verteidigungszwecken.7 Ein expliziter Zeitpunkt der ersten Vernehmung wird ebenfalls durch das Gesetz nicht näher präzisiert.8 Einzig § 163a Abs. 1 S. 1 StPO bestimmt, dass ein Beschuldigter vorbehaltlich der Ausnahmeregelungen in § 163a Abs. 1 S. 1 a. E. und 3 StPO spätestens vor Abschluss der Ermittlungen zu vernehmen ist. In der Praxis dürfte es sich in Fällen mit fehlender Erforderlichkeit heimlicher Ermittlungstätigkeiten jedoch regelmäßig bewähren, bereits in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens von Vernehmungsmaßnahmen, die entgegen der gesetzgeberischen Intention zumeist von der Polizei als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden9, Gebrauch zu machen. Insbesondere einer frühzeitigen Vernehmung kommt nicht selten eine Weichenstellungsfunktion10 zu, die sich auf den weiteren Verfahrensablauf maßgeblich auswirkt und ggf. weitere Ermittlungsmaßnahmen zur Folge hat.

III. Relevante Rechtsvorschriften Die entsprechenden strafprozessualen Kernvorschriften zum Recht der Beschuldigtenvernehmung finden sich in den §§ 133 bis 136a StPO. Herzstück dieses Abschnitts ist § 136 StPO, der in den Absätzen 1 und 2 den Ablauf, Inhalt und Gegenstand der ersten richterlichen Vernehmung des Bein: SK-StPO, Band II, § 136 Rn. 18. 25, 325 (332). 7  Diemer, in: KK-StPO, § 136 Rn. 1. Zum Streitstand, welchem einzelnen Vernehmungszweck nach herrschender Meinung der Vorzug gebührt, vgl. exemplarisch nur Wessels, JuS 1966, 169 (170 f.), sowie BGH, JZ 1993, 425. 8  Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136 Rn. 19. 9  Schuhr, in: MüKo-StPO, Band 1, Vor § 133 ff. Rn. 44. 10  Wohlers, StV 2007, 376; Fezer, in: GS Schröder, S. 407 (S. 412 f.). 5  Rogall,

6  BGHSt



B. Problemaufriss45

schuldigten regelt. Flankiert wird diese Vorschrift durch § 136a StPO, der zahlreiche verbotene Vernehmungsmethoden benennt und damit Beweismethodenverbote kodifiziert. Die durch Verstöße gegen ein Beweismethodenverbot – und damit rechtswidrig – erlangten Beweismittel führen unwiderlegbar zu einem gesetzlichen Beweisverwertungsverbot, das sich unmittelbar aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO ergibt.11 Der hohe Stellenwert dieser Vorschrift erschließt sich unzweifelhaft aus der fortbestehenden Unverwertbarkeit auch im Falle der Einwilligung des Beschuldigten in eine Verwertung der (rechtswidrig) erhobenen Beweise, § 136a Abs. 3 S. 2 StPO a. E. § 136 StPO gilt ausweislich seines systematischen Standorts in direkter Anwendung für jede richterliche Vernehmung vor und außerhalb der Hauptverhandlung12 sowie über die Verweisung des § 163a Abs. 3 S. 2 StPO entsprechend für Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft.13 Anforderungen an Vernehmungen, die von der Polizei durchgeführt werden, sind in § 163a Abs. 4 S. 1 StPO spezialgesetzlich geregelt und ersetzen insoweit § 136 Abs. 1 S. 1 StPO. Im Übrigen ordnet § 163a Abs. 4 S. 2 StPO eine entsprechende Geltung der § 136 Abs. 1 S. 2 bis 6, Abs. 2, 3 und § 136a StPO an.

B. Problemaufriss Das gesamte Strafverfahren steht wie dargelegt in besonderem Maße unter dem Einfluss des Fair-Trial-Grundsatzes des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Es bildet den formalen Rahmen, an dessen Ende auf der Basis rechtsstaatlicher Grundsätze und strafprozessualer Vorschriften eine Kriminalsanktion für schuldhaft begangenes Unrecht verhängt werden kann. Aus diesem Grund ist – schon von Verfassungs wegen – in jedem Verfahrensstadium unablässig darauf zu achten, dass ein Beschuldigter nicht zum Objekt seines eigenen Verfahrens degradiert wird, sondern stets den Status eines Prozesssubjekts behält.14 Einschränkungen dieser Subjektqualität im Strafverfahren erfährt ein Beschuldigter jedoch regelmäßig dann, wenn er aufgrund individueller Defizite nicht oder nicht mehr vollumfänglich in der Lage ist, eigene Rechte in ange11  Zur Problematik der Fernwirkung eines Beweisverwertungsverbots siehe u. a. Neuhaus, NJW 1990, 1221 m. w. N. 12  Gleß, in: LR-StPO, Band 4, § 136 Rn. 1; Rogall, in: SK-StPO, Band II, Vor § 133 Rn. 1. 13  Ein derartiger Verweis ist u. a. deshalb erforderlich, da die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens ist. 14  Ahlbrecht, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller-StPO, § 136 Rn. 1.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

messener Art und Weise wahrzunehmen oder den Prozessverlauf zu über­ blicken. Die Bandbreite derartiger Defizite ist vielfältiger Natur. Sie können in- und extrinsische Ursachen haben und sowohl zu Beginn des Lebens als auch an dessen Ende auftreten. Gegenstand der weiteren Betrachtung soll im Folgenden der ältere Mensch als vernommener Beschuldigter sein. Die aufgezeigte Problematik soll exemplarisch am Beispiel der sog. kriminalistischen List verdeutlicht werden.

C. Die Anwendung kriminalistischer List im Lichte des § 136a StPO I. Zum Begriff und Ziel der kriminalistischen List 1. Begriff Unter kriminalistischer List, die in der Strafprozessordnung weder ausdrücklich gesetzlich geregelt noch legaldefiniert15 ist, wird gemeinhin das Stellen von Fangfragen oder die Äußerung doppeldeutiger Erklärungen seitens einer Vernehmungsperson verstanden, die geeignet sind, beim Vernommenen verzerrte oder unvollständige Vorstellungen vom Kenntnisstand der Ermittlungsbehörde hervorzurufen, ohne dabei jedoch die Grenze zur absichtlichen Irreführung zu überschreiten. Die ursprüngliche etymologische Bedeutung des Begriffs „List“ begreift Köbler16 als „geflissentliches und schlaues Verbergen der verfolgten Absichten“. Sie steht dabei regelmäßig in einem rechtlichen Spannungsfeld zum Beweismethodenverbot der Täuschung des § 136a Abs. 1 StPO, der kriminalistische List ebenfalls nicht explizit erfasst.17 2. Ziel Zentrales Ziel der Anwendung kriminalistischer List durch Strafverfolgungsbehörden ist das Ausnutzen eigener Schlussfolgerungen des Vernommenen durch strategisch geschicktes Vernehmungsverhalten, ohne dass diese 15  Der Begriff „List“ ist materiell-rechtlich objektiver Bestandteil zahlreicher Strafvorschriften zum Schutz der persönlichen Freiheit des 18. Abschnitts des StGB: § 232 Abs. 2 Nr. 1 (Menschenhandel), § 232a Abs. 3 (Zwangsprostitution), § 232b Abs. 3 (Zwangsarbeit), § 234 Abs. 1 (Menschenraub), § 234a Abs. 1 (Verschleppung), § 235 Abs. 1 Nr. 1 (Entziehung Minderjähriger), § 237 Abs. 2 (Zwangsheirat). 16  Köbler, Deutsches Etymologisches Wörterbuch, S. 254. 17  So auch Kleinknecht, JZ 1953, 531 (534).



C. Die Anwendung kriminalistischer List im Lichte des § 136a StPO 47

jedoch seitens der Vernehmungsperson konkret und ausdrücklich bewirkt worden sind. Wesentliches Merkmal ist die Verleitung des Vernommenen zur eigenständigen Kombination von Informationen oder Informationsfragmenten, sodass der Beschuldigte selbst aus eigenem Antrieb zu gewissen (unvollständigen) Vorstellungsbildern gelangt und infolgedessen zu Äußerungen motiviert wird, die für die Ermittlungsbehörde wertvolle neue Ermittlungserkenntnisse erbringen. Bestimmte Fragetechniken18 seien ebenso zulässig19 wie ein besonderes vernehmungspsychologisches Geschick20 des Vernehmungsbeamten, sofern dadurch nicht auf die Freiheit zur Aussageentschließung beim Vernommenen eingewirkt wird.21 Maßgeblicher Kritikpunkt am grundsätzlichen Einsatz kriminalistischer List ist gerade nicht das im Einzelfall „listige“ Vorgehen der Behörden an sich. Denn gerade durch geschickte Vernehmungsstrategien, die lediglich die Äußerungsmotive22 eines Beschuldigten beeinflussen sollen, darf dem Staat die Möglichkeit zur effektiven Strafverfolgung nicht von vornherein verwehrt werden. Kritikanfällig wird der Einsatz kriminalistischer List hingegen dann, wenn entsprechende Maßnahmen den Anwendungsbereich des § 136a Abs. 1 StPO tangieren.

II. Kriminalistische List in Abgrenzung zur Täuschung nach § 136a Abs. 1 StPO 1. Begriff und rechtliche Einordnung der Täuschung Nach wohl überwiegender,23 an den allgemeinen Sprachgebrauch angelehnter Auffassung beinhaltet die Annahme einer Täuschung eine bewusste Irreführung des Vernommenen. Mit der Zielrichtung einer bewussten Entstel18  Rechtlich nicht unproblematisch sei jedoch das Stellen von Suggestivfragen, wenn dadurch eine Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit zu befürchten ist, siehe dazu Hilland, Das Beweisgewinnungsverbot des Paragraphen 136a StPO, S.  122 ff. m. w. N. 19  Diemer, in: KK-StPO, § 136a Rn. 20. 20  OLG Köln, GA 1973, 119 (120). 21  Zum vernehmungspsychologischen Vorgehen vgl. die übersichtliche Darstellung bei Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136 Rn. 31 ff. Im Wesentlichen wird eine optimale Gesprächsführung angestrebt, in der befragten Personen ein gutes Gesprächsklima als auch angemessene Rahmenbedingungen garantiert werden (dazu Milne/Bull, Psychologie der Vernehmung, S. 75 (S. 80). 22  Siehe dazu auch Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136a Rn. 65. 23  Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136a Rn. 58, mit Verweis u. a. auf BGHSt 31, 395 (400). Insbesondere soll der strafprozessrechtliche Täuschungsbegriff nicht dem

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

lung der Wahrheit komme der Täuschung ein gewisses finales Element zu,24 sodass jedenfalls die unvorsätzliche Erregung von Irrtümern keine Täuschung im Sinne des § 136a StPO darstellen soll. Unumstritten ist deshalb, dass absichtliche Irreführungen stets25 eine Täuschung im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 1 StPO begründen und unmittelbar26 durch sie erlangte Aussagen vor Gericht als Beweismittel unverwertbar sind.27 Ebenso ist in der Judikatur28 anerkannt, dass unbeabsichtigte Irreführungen nicht dem Anwendungsbereich des § 136a StPO unterfallen sollen. Das Täuschungsverbot stellt das wohl schwierigste Beweismethodenverbot des § 136a StPO dar29 und ist in seinen genauen Umrissen und Abgrenzungen besonders umstritten. Nach Gleß30 liege dies u. a. daran, dass eine Täuschung durch Staatsorgane zwar rechtsstaatlich bedenklich sei, diese aber nicht ohne Weiteres die Menschenwürde nach Art. 1 GG verletze. In dogmatischer Hinsicht steht das Merkmal der Täuschung als bloße verbale bzw. nonverbale Einwirkung auf die Willensentschließungs- und Willensbetätigungsfreiheit durch Verortung in S. 1 der Vorschrift gleichrangig neben anderen verbotenen Vernehmungsmethoden wie z. B. der Misshandlung, Ermüdung oder Quälerei. Daraus ergibt sich ein Kontrast zu solchen verbotenen Vernehmungsmethoden, die in besonders hohem Maße physisch auf den Vernommenen einwirken und regelmäßig die Schwelle zur strafbaren Körperverletzung nach den §§ 223 ff. StGB überschreiten dürften. Da der Gesetzgeber an jede der insgesamt zehn verbotenen Vernehmungsmethoden des Abs. 1 dieselbe in § 136a Abs. 3 S. 2 StPO bezeichnete Rechtsfolge – ein zwingendes Beweisverwertungsverbot ohne Heilungsmöglichkeit – knüpft, kann in Fällen der Täuschung im Ausgangspunkt richtigerweise31 ein vergleichbar intensives Einwirken auf den Vernommenen angedes materiellen Strafrechts in § 263 Abs. 1 StGB angelehnt werden, vgl. dazu Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a StPO Rn. 33. 24  BGHSt 31, 395 (399 f.); Jahn, JuS 2005, (1057) 1060. 25  Differenzierend Puppe, GA 1978, 289 ff., die Täuschungen ausnehmen möchte, die den Beschuldigten einer Lüge überführen. 26  Zur Frage der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots siehe Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136a Rn. 66. 27  BGHSt 37, 48 (53); OLG Köln, MDR 1972, 965 (966). 28  BGHSt 31, 395 (400); BGHSt 35, 328 (329). 29  Gleß, in: LR-StPO, Band 4, § 136a Rn. 39. 30  Gleß, in: LR-StPO, Band 4, § 136a Rn. 39. 31  So auch Puppe, die aufgrund eines Vergleichs mit den anderen verbotenen Vernehmungsmethoden der Vorschrift eine Täuschung nur bei Vorliegen einer psychischen Zwangslage annehmen möchte, die auf den Vernommenen ebenso wie die übrigen Beweismethodenverbote des § 136a StPO eine Zwangswirkung ausübt, siehe dazu Puppe, GA 1978, 289 (305).



C. Die Anwendung kriminalistischer List im Lichte des § 136a StPO 49

nommen werden. Daher sei nach allgemeiner Meinung32 das Merkmal der Täuschung zu weit gefasst und deshalb restriktiv zu verstehen, sodass nicht jede Fehlinformation durch Strafverfolgungsorgane per se ein absolutes Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen dürfe.33 2. Abgrenzung zwischen kriminalistischer List und Täuschung Die Konturierung und präzise Abgrenzung zwischen kriminalistischer List und (rechtswidriger) Täuschung im Sinne des § 136a Abs. 1 StPO erweist sich regelmäßig als höchst unscharf,34 ist seit jeher umstritten und wird in der Literatur teils als Kunstgriff35 abgetan. Dennoch soll nach verbreiteter Meinung36 zwischen (noch) erlaubter List und verbotener Lüge zu unterscheiden sein, um nicht jedwedes polizeiliches Vernehmungsgeschick dem strengen Beweisverwertungsverbot des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO zu unterwerfen.37 Das Verbot der Täuschung durch Justizbehörden steht in besonderem Maße im Spannungsfeld zwischen dem Gebot und der Pflicht zur effektiven Strafverfolgung einerseits sowie dem Fair-Trial-Grundsatz und dem Rechtsstaatsprinzip andererseits. Das Strafverfahrensrecht, das schon aus historischen Gründen in besonderer Weise grundsätzlich38 dem Kampf mit offenem Visier verpflichtet ist, habe den Grundsatz der Waffengleichheit auch in ­Bezug auf den Ermittlungsstand zu wahren, wozu auch eine Kenntnisgleichheit von Ermittlungsergebnissen gehöre. Dies sei jedoch nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass die tatsächliche Beweislage immer zu offenbaren sei.39

32  So BGHSt 42, 139 (149) m. w. N.; Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 136a Rn.  12 m. w. N. Andere Ansicht hingegen Degener, GA 1992, 443 (464). 33  So auch Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136a Rn. 59, der ein striktes Verwertungsverbot in derartigen Fällen als unangemessen empfindet. Anders aber Achenbach, StV 1989, 515 (517 f.). 34  Beulke, StV 1990, 180 (182); Degener, GA 1992, 443 (446 f.); Joerden, JuS 1993, 927 (929 f.). 35  Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136a Rn. 56. 36  Rogall, in: SK-StPO, Band II, § 136a Rn. 56 m. w. N. 37  Begründet wird dies im Kern mit dem Argument, dass anderenfalls die Effektivität der Strafrechtspflege zu sehr eingeschränkt würde, siehe dazu Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 136 Rn. 129. 38  Eine Ausnahme hiervon bilden diverse heimliche und verdeckte strafprozes­suale Ermittlungsmöglichkeiten, sowie den Ermittlungsbehörden teilweise eingeräumte Ermessensspielräume (exemplarisch nur § 163a Abs. 1 S. 1 StPO). 39  BGHSt 37, 48 (53).

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

Trotz des allgemein geltenden Grundsatzes der Waffengleichheit kennt das Strafverfahrensrecht auch Ermittlungsmaßnahmen, bei denen der Staat einem Tatverdächtigen gerade nicht mit offenem Visier gegenübertreten möchte, sondern der potenzielle Ermittlungserfolg gerade in der Heimlichkeit der durchgeführten Ermittlungsmaßnahme erblickt wird.40

D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List zum Nachteil älterer Beschuldigter I. Problemaufriss Virulent wird die Frage des rechtlich zulässigen Anwendungsbereichs kriminalistischer List insbesondere in Fällen, in denen sich Ermittlungsbehörden in der zu vernehmenden Person begründet liegende Defizite zum Vorteil machen möchten oder diese zur Informationsgewinnung sogar bewusst ausnutzen. Nicht zwingend immer, aber gewiss mit einer gehäuften Inzidenz betroffen sind regelmäßig Beschuldigte höheren Lebensalters aufgrund ihrer nicht selten schwächeren mentalen Verfassung im Vergleich zu Personen im Durchschnittsalter und einer daraus resultierenden höheren kognitiven Leistungsfähigkeit. Es stellt sich deshalb angesichts des verfassungsrechtlichen Fairnessgebots die Frage, ob nicht bereits die Anwendung des „üblichen“ Maßes an kriminalistischer List auf einen älteren Beschuldigten schon täuschungsgleich wirken kann. Nähme man eine derartige täuschungsgleiche Wirkung an, schließt sich daran die Frage nach möglichen rechtlichen Konsequenzen an. Geht man im Grundsatz bei der Eigenschaft des Täteralters von einem daraus resultierenden erhöhten Schutzbedürfnis zugunsten betagterer Beschuldigter aus, so ist darüber hinaus zu analysieren, wie dieser Schutz im Einzelnen konkret ausgestaltet werden kann.

40  Zu nennen sind an dieser Stelle exemplarisch der Einsatz verdeckter Ermittler nach § 110a StPO, die Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO sowie die akustische Wohnraumüberwachung nach § 100c StPO. Allen heimlichen Ermittlungsmaßnahmen ist jedoch gemein, dass sie lediglich dann durchgeführt werden können, wenn sie (besonders) schwere Straftaten von erheblicher Bedeutung betreffen und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Alle heimlichen Ermittlungsmaßnahmen unterliegen somit einer strengen und durch einen Richtervorbehalt abgesicherten Subsidiaritätsklausel im Verhältnis zu nicht heimlich durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen sowie einer gewissen Schwellengrenze, die katalogartige Ausgestaltungen in den jeweiligen Rechtsgrundlagen gefunden hat, vgl. nur § 100a Abs. 2, § 100c Abs. 2 und § 110a Abs. 1 StPO.



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List51

II. Lösungsmöglichkeiten Die nachfolgende Untersuchung nimmt zunächst das rechtliche Potenzial in den Blick und beleuchtet eingangs Regelungsmöglichkeiten normativer Art auf der Tatbestandsebene. Erörtert werden in diesem Zusammenhang insbesondere verschiedene Varianten, wie bereits auf der Voraussetzungsseite Raum für die vorbezeichnete Problematik geschaffen oder genutzt werden kann. Unterschieden werden in diesem Zusammenhang diverse Lösungsvorschläge genereller wie normspezifischer Natur. Sodann widmet sich die Untersuchung ergänzenden Ideen auf der Rechtsfolgenseite und mündet schließlich in einen konkreten Lösungsvorschlag, der rechtliche Aspekte mit praktischen Bedürfnissen verbindet. Der Vorschlag erhebt den Anspruch, gleichermaßen rechtlich konsistent wie praktisch handhabbar zu sein. 1. Rechtliche Lösungsvorschläge auf der normativen Ebene Prinzipiell denkbar und zumindest diskussionswürdig ist zunächst die Einführung eines generellen Verbots von Ermittlungsmaßnahmen zum Nachteil älterer Beschuldigter, die unmittelbar an die persönliche Konstitution des Betroffenen anknüpfen. Ohne die generelle Zulässigkeit aller oder einzelner Ermittlungsinstrumente hingegen nicht grundsätzlich in Frage zu stellen, ist spezifisch normbasiertes Änderungspotenzial, beispielsweise Restriktionsmöglichkeiten, alternativ entweder auf der Tatbestands- oder der Rechtsfolgenseite einzelner besonders betroffener Ermittlungsinstrumente in den Blick zu nehmen. a) Allgemein normunabhängiger Lösungsansatz: Grundsätzliches Ermittlungsverbot gegen ältere Beschuldigte aa) Vorschlag Zunächst sollte ein Blick auf die Möglichkeit eines grundsätzlichen Anwendungsverbots der problembetroffenen Ermittlungsmaßnahme geworfen werden. Im Extremfall bestünde zumindest die theoretische Möglichkeit, Ermittlungen gegen ältere Beschuldigte grundsätzlich zu verbieten. Dieser Ansatz ist der in zeitlicher Hinsicht frühestmögliche Zeitpunkt, Beschuldigte mit mentalen Defiziten vor staatlicher Ermittlungstätigkeit zu bewahren. Dies würde jedoch den denkbar drastischsten Einschnitt in die Ermittlungsrechte der Justiz bedeuten.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

Regelungstechnisch ließe sich ein etwaiges Verbot entweder in der jeweiligen Rechtsgrundlage für die betroffene einzelne Ermittlungsmaßnahme ­direkt verankern oder alternativ als ein systematisch vor die Klammer gezogenes Gesetz im Ersten Buch der StPO über die Allgemeinen Vorschriften verorten. bb) Bewertung Bereits bei oberflächlicher Betrachtung ergeben sich gravierende Bedenken, Personen allein aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters von vornherein aus dem staatlichen Ermittlungsfokus herauszuhalten. Als Begründung können auch an dieser Stelle strukturell ähnliche Überlegungen herangezogen werden wie jene, die bereits zur altersbedingten Schuldunfähigkeit nach § 19 StGB in Kapitel 1 skizziert wurden. Es lässt sich insgesamt keine sachlich begründete Erwägung finden, weshalb die Überschreitung eines fixen Lebensalters zu einem generellen Ermittlungsverbot oder zumindest zu einer zwingenden Beschränkung auf andere Ermittlungsmaßnahmen führen sollte. Eine grundsätzliche Festlegung auf die Überschreitung eines starren Lebensalters und eine damit verbundene „Blanko­privilegierung“ produziert – wie schon im Zusammenhang mit § 19 StGB diskutiert – keine sachgerechten Resultate, sondern führt in nicht wenigen Fällen zu Ergebnissen grob unbilliger und ungerechter Art. Beschuldigte, die in ihrer bisherigen Entwicklung konstitutionell die volle geistige Verstandes- und Verantwortungsreife erlangt haben, von vornherein allein aufgrund ihres gehobenen Lebensalters von der Subjektfähigkeit im Strafverfahren auszunehmen, kann unabhängig von einer etwaigen Verfassungswidrigkeit einer solchen Norm ersichtlich nicht der Wille des Gesetzgebers sein. Deutlich wird diese gesetzgeberische Intention exemplarisch durch die Existenz und Verortung des § 19 StGB im materiellen Strafrecht. Mit der legislatorischen Verankerung eines Schuldausschlusses wegen Alters im materiellen Strafrecht bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, lediglich ein schuldunfähigkeitsbedingtes Bestrafungsverbot für die betroffene Personengruppe statuieren zu wollen. Hätte der Gesetzgeber statt eines Bestrafungsverbots hingegen bereits ein absolut wirkendes (vorgelagertes) Ermittlungsverbot intendiert, so wäre eine solche Vorschrift nicht bloß materiell-rechtlich ausgestaltet, sondern zumindest auch an geeigneter Stelle ins Strafverfahrensrecht implementiert worden. Ein entsprechendes formell-rechtliches Ermittlungsverbot hätte als Fernwirkung in der Konsequenz ebenfalls eine (materiell-rechtliche) Nichtbestrafung des Täters zur Folge.



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List53

Des Weiteren ergibt sich aus der Bipolarität des deutschen Sanktionssystems, respektive aus den Vorschriften der §§ 413 ff. StPO über das isolierte Sicherungsverfahren, dass auch schuldunfähige Täter dem hoheitlichen Zugriff durch den Staat nicht absolut entzogen sind, sondern zumindest der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung unterliegen. Darüber hinaus ist im Übrigen kein vernünftiger Grund ersichtlich, weshalb das staatliche Strafverfolgungsmonopol und das damit verbundene Interesse an einer effektiven Strafverfolgung gänzlich hinter die Interessen des Beschuldigten an der absoluten Wahrung seiner Rechte zurücktreten sollten. Beide im Ausgangspunkt legitimen Interessen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das analog zum vorherrschenden Verfassungsinterpretationsprinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen ist. In Widerstreit stehende Rechtsgüter sind einander daher so zuzuordnen, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt,41 ohne dass wechselseitig betroffene Rechtsgüter und sonstige Interessen auf Kosten der jeweils anderen gänzlich in den Hintergrund treten müssen. In der Sache gestützt wird diese rechts- und verfassungstheoretische Sicht durch eine Entscheidung des BGH42 aus dem Jahr 1994. Der BGH war seinerzeit mit einer den Problemkern betreffenden, strukturell vergleichbaren Vernehmungsproblematik befasst und judizierte, dass eine Vernehmung einer Person selbst dann stattfinden könne, wenn diese die Belehrung über ihre Rechte aufgrund ihrer geistig-seelischen Verfassung nicht verstanden habe. Der BGH macht sich in seiner Entscheidung die in einem früheren Beschluss43 aufgestellten Grundsätze zur (Un-)Verwertbarkeit einer Aussage, die unter Verstoß gegen die Hinweispflichten nach §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO zustande gekommen ist, zunutze und transferiert diese in entsprechender Anwendung auf Beschuldigte mit mentalen Defiziten.44 41  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 2 Rn. 72. Zur Idee eines „angemessenen Ausgleichs“ siehe auch Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. 42  BGHSt 39, 349 ff. 43  BGHSt 38, 214. 44  Argument dafür sei, eine bestehende Belehrungspflicht schließe allein ein bloßes Wissensdefizit über die Rechte beim Beschuldigten (vgl. dazu auch BGHSt 39, 349 (351)). Damit korrespondierend geht der BGH in BGHSt 38, 214 (221) von der gesetzgeberischen Vorstellung aus, das grundsätzliche Schweigerecht eines Beschuldigten sei diesem nicht notwendigerweise bekannt, weshalb es eines entsprechenden belehrenden Hinweises bedürfe. Wenn gegen diese Pflicht zwar staatlicherseits nicht verstoßen wurde, allerdings aus anderen Gründen klar sei, dass der Beschuldigte eine (erfolgte) Belehrung aufgrund mentaler Defizite nicht verstanden hat, so sei seine Aussage zumindest so lange verwertbar, bis die Verteidigung des Beschuldigten der Verwertung der Aussage bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt in der Hauptverhandlung widersprochen hat.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

Somit ergibt sich nicht allein unmittelbar aus der legislativen Perspektive, sondern mittelbar zudem auch von der rechtsprechenden Warte, dass Beschuldigten mit mentalen Einschränkungen die generelle Fähigkeit nicht abgesprochen wird, Subjekt eines Ermittlungsverfahrens zu sein. cc) Zwischenbefund Es bleibt festzuhalten, dass sich mangels eines durchgreifenden Sachgrundes kein Bedürfnis ergibt, generell auf Ermittlungen gegen Beschuldigte eines gewissen Lebensalters zu verzichten und eine entsprechende Verbotsnorm zu schaffen. b) Spezifisch normabhängige Lösungsansätze Nachdem die Einführung eines generellen Ermittlungsverbots gegen Beschuldigte höheren Alters unzweckmäßig erscheint und seitens der Rechtsprechung auch ein pauschales Vernehmungsverbot für die entsprechende Personengruppe nicht geboten ist, kommen im Weiteren normspezifische Anknüpfungspunkte für den Umgang mit kriminalistischer List zu Lasten älterer Beschuldigter in Betracht. Ansatzpunkte für etwaige Restriktionen im Vernehmungsrecht bietet zum einen die Tatbestandsebene der Norm selbst. Eine solche kann einerseits durch eine Verengung des tatbestandlichen Anwendungsbereichs sowie andererseits über einen generellen Verzicht auf die in Rede stehende Vernehmungsmaßnahme erreicht werden. Weitere Einschränkungsmöglichkeiten bestehen hinsichtlich möglicher Rechtsfolgen, insbesondere bei der Frage der Beweisverwertung. aa) Einschränkung kriminalistischer List auf der Tatbestandsebene Generelle (einschränkende) Anwendungsvoraussetzungen kriminalistischer List ließen sich, sofern überhaupt ein legislatorisches Interesse an einer gesetzlichen Erfassung existiert, ohne größere Schwierigkeiten schon auf der Voraussetzungsseite fixieren. Hinsichtlich der konkreten Position einer normativen Verortung im Recht bestehen im Grundsatz diverse Möglichkeiten sowohl inner- wie außerprozessrechtlicher Art. So kommen zunächst Änderungen unmittelbar in der Strafprozessordnung in Betracht. Weitere Möglichkeiten eröffnen sich im außerprozessrechtlichen Bereich zum Beispiel in den Dienstvorschriften für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit (im Folgenden: PDV) und in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren für staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit (im Folgenden: RiStBV).



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List55

(1) Verortung in der Strafprozessordnung Die Problematik um die grundsätzliche Zulässigkeit kriminalistischer List als ein Minus zur ausdrücklich geregelten Täuschung entsteht im Dunstkreis des § 136a StPO, sodass in erster Linie an einen Lösungsansatz „an der Quelle“ zu denken ist. Dafür kommt folglich zunächst eine Modifizierung der Strafprozessordnung, namentlich des § 136a StPO, für jene Fälle in Betracht, in denen kriminalistische List gegen ältere Beschuldigte angewendet werden soll. Eine Änderung des § 136a StPO dahingehend, dass eine besondere Regelung speziell für Beschuldigte mit altersbedingt herabgesetzter Geistes- und Verstandesbefähigung aufgenommen wird, ist aus dogmatischer Sicht ebenso denkbar wie die Schaffung einer für alle Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen gleichermaßen allgemeingültigen Norm zum Umgang mit entsprechend betroffenen Beschuldigten. Letzteres wäre in den Allgemeinen Vorschriften des Ersten Buches, vorzugsweise vorangestellt im achten Abschnitt über die Ermittlungsmaßnahmen, vorzunehmen. (2) Verortung außerhalb der Strafprozessordnung Zwingend erforderlich ist der Guss einer Restriktion in formelle Gesetzesform indes nicht, obwohl der Gesetzgeber mittelbar zu erkennen gibt, grundsätzlich einer legislativen Lösung nicht abgeneigt zu sein.45 Die strafverfahrensrechtliche Praxis kennt mit den Dienstvorschriften für polizeiliche Ermittlungstätigkeit46 sowie den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren für staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit47 45  Vgl. strukturell dazu nur § 241a StPO als Vorschrift für die Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren in der Hauptverhandlung, die durch Art. 1 Nr. 11 des 1. StVRErgG vom 20.12.1974 nachträglich in die Strafprozessordnung eingefügt wurde, um möglichen schädlichen Einflüssen eines Strafverfahrens auf kindliche und jugendliche Zeugen wirksam zu begegnen. Siehe dazu Frister, in: SK-StPO, Band IV, § 241a Rn. 1. 46  Die Polizeidienstvorschriften werden vom Arbeitskreis II der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder erarbeitet und herausgegeben. Sie richten sich – schon ihrem Namen nach – in erster Linie an polizeiliche Ermittlungsbeamte. 47  Die RiStBV sind Richtlinien, die primär an die Beamten der Staatsanwaltschaft gerichtet sind, aber teilweise auch von Richterinnen und Richtern adaptiert werden können. Sie geben lediglich eine Anleitung für den Regelfall, ohne absoluten Geltungsvorrang für sich zu beanspruchen. Dementsprechend kann bei Besonderheiten im jeweiligen Einzelfall von den Richtlinien nach pflichtgemäßem Ermessen der sachbearbeitenden Staatsanwaltschaft abgewichen werden, siehe auch die Einführung zu den RiStBV.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

zwei Regelungswerke, die vergleichsweise einfach, ohne ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren durchlaufen zu müssen, um eine solche Regelung ergänzt werden können. Obwohl beiden Regelungseinheiten keine förmliche Gesetzeskraft zukommt, entfalten ihre Vorschriften dennoch eine gewisse Praxiswirksamkeit von einiger Verbindlichkeit und somit eine faktische Geltungsintensität wie ein förmliches Gesetz. (3) Verortung in den Dienstvorschriften für polizeiliche Ermittlungstätigkeit Dienstvorschriften für polizeiliche Ermittlungstätigkeit existieren für diverse Aufgabenbereiche der Polizeibehörden, sind zu einem Großteil jedoch als Verschlusssache eingestuft und damit teilweise nicht öffentlich zugänglich.48 Entsprechenden Dienstvorschriften kommt die Rechtsnatur einer im Innenverhältnis verbindlichen allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu, sie dienen der Auslegung und Konkretisierung von Rechtsnormen, ohne selbst welche zu sein. Eine Polizeidienstvorschrift, die konkret den polizeilichen Umgang mit älteren Beschuldigten in den Blick nimmt, existiert bislang jedoch nicht. Eine solche zu schaffen, böte einen ersten Anknüpfungspunkt, um unter anderem das Phänomen kriminalistischer List zu erfassen. Eine Analyse bereits bestehender Polizeidienstvorschriften für problemverwandte Anwendungsgebiete auf strukturanaloges Potenzial kann dabei lohnend sein. An dieser Stelle lassen sich Parallelen zu polizeilichen Vorgehensweisen zur Aufklärung von Kinder- und Jugendkriminalität ziehen. Legitim ist eine solche Betrachtung auf Strukturparallelität deshalb, weil es sich auch bei dieser Personengruppe um einen besonders schützenswerten Teil der Gesellschaft handelt, der eine besondere Form des Umgangs und der Behandlung geboten erscheinen lässt. (aa) Regelungsbereich der Polizeidienstvorschrift Nr. 382 Mit PDV 382 in der Fassung von 1995 verfügt die öffentliche Polizeiverwaltung über Dienstvorschriften hinsichtlich des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen im Ermittlungsverfahren. Die darin niedergelegten polizeilichen Vorgehensweisen orientieren sich im Wesentlichen an zentralen Leitgedanken des Jugendrechts.49 48  Wesentlicher Grund ist ihr teilweise vertraulicher Inhalt, u. a. auch hinsichtlich taktischer Vorgehensweisen der Polizei.



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List57

Wesentliche Vorgehensweisen für polizeiliche Vernehmungen von Kindern und Jugendlichen, nachfolgend in ihren Grundzügen skizziert, werden insbesondere in Punkt 3.6. der Dienstvorschrift ausdifferenziert: So haben Erziehungsberechtigte und sonstige gesetzliche Vertreter im Einklang mit § 67 Abs. 1 JGG ein Recht auf Anwesenheit und Mitwirkung schon bei der polizeilichen Vernehmung, zudem sind möglichst kurze Wartezeiten bis zum Beginn der Vernehmung sowie angemessene Pausenzeiten während der Vernehmung einzuhalten. Weiterhin ist auf die sozialen Belange betroffener Kinder und Jugendlicher ausreichend Rücksicht zu nehmen. So dürfen Vernehmungen einerseits nicht zur Nachtzeit und andererseits nicht ohne Grund an beliebigen Orten durchgeführt werden. Vernehmungen von Kindern und Jugendlichen an Schulen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen sind nur in gut zu begründenden Ausnahmefällen zulässig, sodass etwaige Beeinträchtigungen von Interessen und sozialen Strukturen der Minderjährigen vermieden oder zumindest möglichst geringgehalten werden. Hervorzuheben ist der Unterpunkt 3.6.8 PDV 382, wonach Vernehmungen von Kindern und Jugendlichen in einer „vertrauensvollen Atmosphäre“ durchzuführen sind. Als gesonderter Unterpunkt steht dieser gleichrangig neben den konkretisierten Anforderungen der bereits erläuterten Unterpunkte 3.6.4 und 3.6.5 PDV 382. (bb) Strukturelle Übertragbarkeit auf Beschuldigte höheren Alters Zentrale Leitgedanken der in PDV 382 für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen genannten Vorgehensweisen lassen sich unschwer auf die Seniorengeneration übertragen. Beschuldigte im letzten Lebensabschnitt haben ebenfalls ein Recht auf die Achtung ihrer sozialen Strukturen und sonstigen Interessen, die zumindest auch am Maßstab ihrer geistigen Verfassung zu messen sind. So sollte insbesondere auch ein Beschuldigter in fortgeschrittenem Lebensalter in die Lage versetzt werden, eine Vertrauensperson als Beistand zu einer polizeilichen Vernehmung hinzuziehen zu können. Die Forderung nach einem Rechtsbeistand ist für den Gesetzgeber prinzipiell kein absolutes Novum: Mit § 149 StPO kennt das Strafverfahrensrecht 49  Leitgedanke bei der Verurteilung eines Jugendlichen oder Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht ist nicht primär die Bestrafung wegen begangenen Unrechts, sondern die Erziehung des Betroffenen, künftig rechtstreu zu leben, vgl. zum Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts auch Streng, Jugendstrafrecht, Rn. 15, mit Verweis u. a. auf BGHSt 36, 37 (42); BGHSt 39, 92 (95).

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bereits eine Norm, die eine mögliche Unterstützung des Beschuldigten durch einen Beistand erfasst. Die Vorschrift hat allerdings das Ermittlungsverfahren betreffend einen engen Anwendungsbereich. Einerseits beschränkt sich die Zulassungsmöglichkeit als Beistand nur auf den Ehegatten, Lebenspartner oder den gesetz­ lichen Vertreter des Beschuldigten, § 149 Abs. 1 und 2 StPO. Andererseits kommt der Zulassung von Beiständen ausweislich des insofern eindeutigen Wortlautes des § 149 Abs. 3 StPO im Ermittlungsverfahren keine Anspruchsqualität zu, sondern ist – im Gegensatz zum Pendant des § 67 JGG im Jugendrecht – von einer Ermessensentscheidung des Gerichts abhängig. Eine solche besteht nach § 149 Abs. 1 StPO aufgrund der für geringer erachteten Verdunkelungsgefahr durch Angehörige nach Abschluss der Ermittlungen50 lediglich im Stadium der Hauptverhandlung. Verschärft wird die Situation zusätzlich dadurch, dass der Beschuldigte nach verbreiteter Auffassung kein eigenes Antragsrecht hat.51 Die Antragsberechtigung liegt bei der in Betracht kommenden Beistandsperson allein.52 (cc) Zwischenbefund Der Anwendungsbereich der Beistandsmöglichkeit für betagtere Beschuldigte ist eng: Nicht wenige Senioren höheren Alters leben aufgrund von Todesfällen im nahen familiären Umfeld allein bzw. weitgehend bindungslos und stehen teilweise nicht unter rechtlicher Betreuung,53 sodass der Anwendungsbereich der Norm hinsichtlich des Kreises beistandsberechtigter Personen hier zu kurz greift. Der Zweck des § 149 StPO, als Beistand des Beschuldigten und als dessen Fürsprecher diesen zu entlasten und psychisch zu stabilisieren,54 kann in Fällen fehlender Verdunkelungsgefahr ebenso gut von einem langjährigen Wegbegleiter erfüllt werden, der in keinem in der Norm genannten personenoder familienrechtlichen Fürsorgeverhältnis zum Beschuldigten stehen muss. Insbesondere (hoch-)betagten Senioren haben häufig keine nahen Angehörigen oder sonstigen Bezugspersonen, sodass eine entsprechende Erweiterung 50  Siehe

dazu Lüderssen/Jahn, in: LR-StPO, Band 4, § 149 Rn. 10. Düsseldorf, NJW 1979, 938. 52  Julius/Schiemann, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller-StPO, § 149 Rn. 4; zögerlich: Lüderssen/Jahn, in: LR-StPO, Band 4, § 149 Rn. 17. 53  Durch die Einführung des Betreuungsrechts im Jahr 1992 hat sich die Betreuungssituation im Alter etwas entspannt, dennoch bestehen weiterhin Betreuungsdefizite, die es zu schließen gilt. 54  Lüderssen/Jahn, in: LR-StPO, Band 4, § 149 Rn. 3; Wollweber, NJW 1999, 620. 51  OLG



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List59

des Kreises beistandsfähiger Personen an dieser Stelle nicht grundsätzlich verfehlt und eine ergänzende Verankerung in den Polizeidienstvorschriften angezeigt ist. (dd) Unzulässigkeit bestimmter Fragetechniken Weitere Regelungsgegenstände einer Polizeidienstvorschrift für Beschuldigte gehobenen Alters sollten neben dem entsprechend anzupassenden formalen äußeren Rahmen der Vernehmung55 insbesondere auch Aspekte materiell-inhaltlicher Art sein. Zu denken ist in besonderer Weise an den konkreten Umgang mit bestimmten Fragetechniken, namentlich Wiederholungs-, Suggestiv- und Fangfragen durch die Vernehmungsperson. Wesen dieser besonderen Fragetechniken ist die Vorprägung der erwarteten Antwort durch eine bereits zielgerichtet formulierte Frage. Eine offene Antwortmöglichkeit des Vernommenen wird dadurch in unterschiedlichem Stärkegrad erschwert. Wiederholungs- und Suggestivfragen, wobei Letztere dem Befragten bereits in der Fragestellung enthaltene Vorgaben in den Mund legen, sind grundsätzlich zur Wahrheitserforschung ungeeignet, § 241 StPO. Fangfragen seien jedoch zumindest so lange nicht generell unzulässig, wie sie nicht da­ rauf angelegt sind, den Befragten durch unklare oder missverständliche Formulierungen zu verwirren, um daraus Einwände gegen die Aussage ableiten zu können.56 Ein Problem für das Ermittlungsverfahren manifestiert sich allerdings dahingehend, dass sich die gesetzlichen Regelungen der §§ 240, 241 StPO aufgrund ihrer systematischen Stellung in der Strafprozessordnung lediglich auf das Verfahrensstadium des Hauptverfahrens beziehen. Lediglich in diesem werden die benannten Fragearten als für die Wahrheitsfindung ungeeignet deklariert. Eine Sperrwirkung für das vorgelagerte Ermittlungsverfahren sei dadurch jedoch nicht anzunehmen.57 Derartige Vernehmungstechniken erscheinen insbesondere vor dem Hintergrund des Fair-Trial-Grundsatzes gegenüber älteren Beschuldigten nicht unproblematisch. Denn zumindest Fang- und Suggestivfragen erlangen mangels einer ausdrücklichen Verbotsnorm im Ermittlungsverfahren eine besondere Bedeutung. Etwa, sobald eine Person vernommen wird, die aufgrund ihrer geistig-mentalen Defizite nicht in der Lage ist, durchschnittlich adäquat auf 55  Hier kann exemplarisch an eine Vernehmung in geeigneten Alterseinrichtungen und nur zu bestimmten Tageszeiten gedacht werden. 56  Frister, in: SK-StPO, Band IV, § 241 Rn. 16 m. w. N. 57  Artkämper/Schilling, Vernehmungen, S. 147.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

derart gestellte Fragen zu reagieren, und daher für diese Art der Fragetechnik besonders empfänglich ist. Zweifelsohne ist der Beweiswert der auf diese Weise erlangten Aussage im späteren Verlauf in besonderem Maße kritisch zu würdigen.58 (ee) Plädoyer für eine Aufnahme in PDV Die nicht grundsätzliche Unzulässigkeit solcher Fragearten im Ermittlungsverfahren schließt es weder aus rechtlichen noch tatsächlichen Gründen aus, eine entsprechend seniorengerechte Kodifizierung in Polizeidienstvorschriften in Betracht zu ziehen. Dies erscheint jedoch nur dann sinnvoll, wenn eine solche Kodifizierung auch ein gewisses Maß an rechtlicher Verbindlichkeit begründet. Die rechtliche Verbindlichkeit einer Polizeidienstvorschrift ergibt sich für das polizeiliche Innenverhältnis unmittelbar aus ihrer Natur als Verwaltungsvorschrift. In dogmatischer Hinsicht kann eine solche Dienstvorschrift als Konkretisierung des Vernehmungsbegriffs des § 136 StPO eingeordnet werden und damit rechtliche Geltungskraft im Außenverhältnis entfalten sowie eine gerichtlich überprüfbare59 Kontrolle ermöglichen. (ff) Zwischenbefund Eine näherungsweise strukturanalog zu Leitgedanken des Jugendrechts ausgestaltete Polizeidienstvorschrift, die den Umgang mit älteren Beschuldigten in den Blick nimmt, existiert bislang nicht. Sie böte jedoch wie aufgezeigt weitreichendes, insbesondere auch gewichtiges praktisches Potenzial, da die deutliche Mehrzahl aller Vernehmungen in der Ermittlungspraxis von der Polizei durchgeführt wird. Unabweisbarer Nachteil einer alleinigen Verortung in Polizeidienstvorschriften ist jedoch, dass sich die Regelungen lediglich auf den Ermittlungsbereich der Polizei beschränken. Vernehmungen durch andere Organe werden dadurch zunächst nicht erfasst. Vernehmungen, S. 147. haben im Gegensatz zu Rechtsnormen grundsätzlich keine unmittelbare Außenwirkung, sondern richten sich im Sinne einer Selbstbindung der Verwaltung lediglich an den Amtswalter mit dem Ziel, eine zweckmäßige und einheitliche Auslegung und Handhabung gesetzlicher Vorschriften zu gewährleisten. Verwaltungsvorschriften kommt nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG jedoch eine mittelbare Außenwirkung zu, sofern diese Auslegungs- oder Konkretisierungshilfen für Tatbestände oder sonstige Rechtsnormen beinhalten, vgl. BVerwGE 34, 278 (280). 58  Artkämper/Schilling,

59  Verwaltungsvorschriften



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List61

(4) V  erortung in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren für staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit (RiStBV) Aufgrund ihres eigenen Vernehmungsrechts nach § 161a Abs. 1 StPO ergibt sich im Ausgangspunkt ein vergleichbares Kodifizierungsbedürfnis mit strukturell ähnlichen Überlegungen auch für die selbst ermittelnde Staatsanwaltschaft. Einzig die formale Verortung im Normgefüge ist naturgemäß eine andere, da etwaige Polizeidienstvorschriften keine unmittelbare Geltungskraft für die Staatsanwaltschaft entfalten. Für diese bestünde eine Normierungsmöglichkeit in der Änderung bzw. Ergänzung der Richtlinien zum Recht der Beschuldigtenvernehmung. Mit den Nummern 44 und 45 RiStBV existieren lediglich rudimentäre Vorgaben bezüglich der Ladung und Aussagegenehmigung von Beschuldigten bzw. zur Form der Vernehmung und ihrer Niederschrift. Nr. 19 RiStBV enthält PDV Nr. 382 vergleichbare Regelungen im Hinblick auf die Vernehmung Jugend­ licher. In Teilbereichen ergänzt werden diese durch Nr. 21 RiStBV zum Umgang mit behinderten Menschen. Eine Kodifizierung inhaltsgleicher Regelungen zum Umgang mit älteren Beschuldigten in den RiStBV wäre somit auch für die ermittlungsleitende Staatsanwaltschaft eine zielführende und praktisch-anwendungsorientierte Lösung und könnte eine solche in Polizeidienstvorschriften angemessen flankieren. Über eine Erweiterung der Richtlinien zu befinden hätte dann das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit den Justizverwaltungen der Länder. (5) Alternativ: Genereller Verzicht auf kriminalistische List Hält man aufgrund der zuvor aufgezeigten Gründe nicht nur eine bloße Einschränkung von kriminalistischer List zum Nachteil von Beschuldigten mit mentalen Defiziten für erforderlich, sondern auch ihre generelle Anwendung grundsätzlich für einen rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen den FairTrial-Grundsatz und damit eine rechtswidrige Beweiserhebung, dann ist als weiterer Lösungsansatz über einen generellen Verzicht auf kriminalistische List nachzudenken. Dadurch würden zunächst sämtliche Rechts- und Verfassungspositionen eines Beschuldigten vollumfänglich geschützt und mithin ein Maximalmaß von Fairness ihm gegenüber gewährleistet. Jedoch würden der staatliche Auftrag zur effektiven Strafverfolgung als elementare Grundrechtsverpflichtung sowie die ebenfalls grundrechtlich verankerten Schutzpflichten gegenüber Dritten nahezu ganz in den Hintergrund gedrängt. Es entstünde folglich ein vergleichbares Spannungsverhältnis zweier oder mehrerer kollidierender verfassungsrechtlicher Fundamentalprinzipien. Dass

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

dem einen nicht gänzlich auf Kosten des anderen der Vorzug gegeben werden kann, liegt auf der Hand. Vielmehr ist im Wege einer praktischen Konkordanz oder eines angemessenen Ausgleichs zwischen den gegenläufigen Verfassungsprinzipien eine Interessenparität herzustellen. Auf die verfassungstheoretischen Ausführungen dazu an anderer Stelle in diesem Kapitel sei verwiesen. (6) Zwischenbefund Ein genereller Verzicht auf kriminalistische List bei der Vernehmung älterer Beschuldigter erscheint aufgrund des dadurch in seiner Effektivität zu sehr beschränkten Strafverfolgungsmonopols des Staates unangemessen weitgehend. Vielmehr spricht einiges für die Annahme einer lediglich eingeschränkten Zulässigkeit kriminalistischer List. Ein dogmatischer Ansatz auf der Tatbestandsseite erscheint insbesondere auch in praktischer Hinsicht als ein gut gangbarer Weg mit deutlichen Vor­ zügen. Eine bloße Verbotsnormierung allein wäre in der Sache jedoch zu kurz gegriffen, wenn keine adäquate Rechtsfolge existiert, die einen etwaigen Verstoß sanktioniert. Deshalb soll nachfolgend auf ergänzende Begleitmaßnahmen auf der Rechtsfolgenseite eingegangen werden. 2. (Ergänzende) Ansätze auf der Rechtsfolgenseite Unabhängig davon, ob eine einschränkende Anwendung kriminalistischer List befürwortet oder ein genereller Verzicht darauf für erforderlich oder gar unabdingbar gehalten wird, stellt sich jedenfalls im Falle eines Verstoßes gegen diese Art der Beweiserhebung auch die Frage nach der daraus resultierenden Rechtsfolge. Als einzig adäquate verfahrensrechtliche Reaktion kommt allein ein Beweisverwertungsverbot für die in rechtswidriger Weise erlangte Aussage in Betracht. Als mögliche rechtsdogmatische Quellen eines solchen Verwertungsverbots kommen im Kern zwei strafverfahrensrechtliche Institute in Betracht, die nachfolgend eingehender beleuchtet werden sollen. a) Absolutes Beweisverwertungsverbot nach § 136a Abs. 3 S. 2 StPO Mit § 136a Abs. 3 S. 2 StPO kodifiziert der Gesetzgeber ein geschriebenes absolutes Beweisverwertungsverbot für jeden Verstoß gegen eines der in Abs. 1 der Vorschrift genannten Beweismethodenverbote, die einhellig60 als 60  BVerfG,

NStZ 1984, 82; BGHSt 5, 332 (333 f.).



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List63

Konkretisierung der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG verstanden werden. Die Annahme eines solchen Verwertungsverbots hält der Gesetzgeber für derart elementar, dass selbst die Einwilligung des Beschuldigten in die Verwertung der rechtswidrig erhobenen Beweismittel für die Frage der Verwertbarkeit an sich keine andere Bewertung rechtfertigt. § 136a StPO gilt als die „Magna Charta“ des Verbrechers und bildet einen wesentlichen prozessualen Kern des Strafverfahrens. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Verstöße gegen § 136a StPO durch Vernehmungspersonen von Strafvorschriften mit Verbrechenscharakter flankiert werden.61 aa) Direkte Anwendung der Norm Zu beleuchten ist zunächst, ob die Annahme eines Beweisverwertungsverbots bei einer Überschreitung des zulässigen Maßes an kriminalistischer List unmittelbar aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO legitimierbar ist. Entscheidende Bedeutung kommt hierbei Wertungsaspekten einer teleologischen Differenzierung zwischen einer Täuschung nach § 136a Abs. 1 StPO und bloßer kriminalistischer List zu. Dabei kommt man nicht umhin, kriminalistische List als ein Vorgehen von geringerer Eingriffsintensität im Vergleich zur ausdrücklich geregelten Täuschung zu klassifizieren. Schon deshalb ist – um den vergleichbar erforderlichen Schweregrad anderer (auch physisch wirkender) Beweismethodenverbote des § 136a StPO nicht zu unterlaufen – ein sich unmittelbar aus Abs. 3 S. 2 StPO ergebendes Beweisverwertungsverbot schon aus gesetzessystematischen Erwägungen abzulehnen. bb) Analoge Anwendung der Norm Dogmatisch überlegenswert ist jedoch, das geschriebene Beweisverwertungsverbot des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO auf Fälle (übermäßiger) kriminalistischer List zum Nachteil von Seniorinnen und Senioren analog zur Anwendung kommen zu lassen. Grundvoraussetzung für die analoge Anwendung einer Rechtsnorm ist zunächst das Vorliegen einer planwidrigen gesetzlichen Regelungslücke sowie das Bestehen einer vergleichbaren Interessenlage. Kriminalistische List ist weder als Beweismethodenverbot von § 136a Abs. 1 StPO noch anderswo tatbestandlich erfasst, noch sind Rechtsfolgen bei etwaiger Überschreitung 61  Siehe nur § 339 StGB (Rechtsbeugung), § 343 StGB (Aussageerpressung) sowie § 344 StGB (Verfolgung Unschuldiger). In schweren Fällen drohen darüber ­hinaus beamtenrechtliche Konsequenzen bis hin zum Verlust des Beamtenstatus.

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

oder Missbrauch geregelt. Von einer gesetzlichen Regelungslücke kann demnach zunächst ausgegangen werden. Die Frage der Planwidrigkeit der Regelungslücke, die dann vorläge, wenn der Gesetzgeber die Möglichkeit einer Anwendung kriminalistischer List nicht in hinreichendem Maß erkannt und infolgedessen auf eine gesetzliche Regelung verzichtet hätte, kann jedenfalls dann offenbleiben, wenn es zumindest an einer vergleichbaren Interessenlage fehlt. Eine solche wird sich auch in Fällen der Benachteiligung älterer Beschuldigter kaum bejahen lassen. Auch wenn kriminalistische List ein Minus zur Täuschung darstellt und deshalb nur in abgeschwächter Form in willensbildende Freiheiten eines Beschuldigten eingreift, erscheint ein Verstoß gegen das Fairnessgebot des Art. 6 EMRK nicht von Anfang an ausgeschlossen. Dennoch spricht die generelle Leittendenz der Strafprozessordnung, Beweisverwertungsverbote nur in besonderen und eng begrenzten Ausnahmefällen zuzulassen, ganz entscheidend gegen eine analoge Anwendung der Norm. Zentrale Aufgabe des Strafverfahrensrechts ist die Findung und Feststellung materieller Wahrheit.62 Seit einer Grundsatzentscheidung des BGH63 aus dem Jahr 1960 ist zwar weithin anerkannt, dass es im Strafverfahren keine Wahrheitserforschung um jeden Preis geben dürfe,64 dennoch bestehen in der Gerichtspraxis weitgehende Tendenzen, im Grundsatz von einer Verwertbarkeit erlangter Beweismittel65 auszugehen. Die Annahme weiterer Beweisverwertungsverbote, die über die nur zurückhaltend spärlich kodifizierten des § 136a Abs. 1 StPO hinausgehen, stellen sowohl nach der Rechtsprechung des BGH66 als auch des BVerfG67 eine besonders begründungs­ bedürftige Ausnahme dar,68 von der nur restriktiv Gebrauch zu machen sei. Die Funktionsfähigkeit und Effektivität der deutschen Strafrechtspflege kennt, anders als in anderen Rechtsordnungen, keinen zwingenden Automatismus, jeden Verstoß gegen ein Beweisverbot strikt mit einem Verwertungsverbot zu ahnden.69 62  Siehe

dazu Pfeiffer, Grundzüge des Strafverfahrensrechts, Rn. 117. 14, 358 (365). 64  Jahn, JuS 2012, 85 (86). 65  Jahn, JuS 2012, 85 (86). 66  BGHSt 44, 243 (249). 67  BVerfG, NJW 2011, 2417 (2419). 68  Jahn, JuS 2012, 85 (86); kritisch dazu Wolter, in: Festgabe 50 Jahre BGH IV, S. 963 ff. (S. 988 f.) mit Verweis auf BGHSt 40, 211 (217). 69  Anders sehen es die Befürworter einer Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten mit Sperrcharakter, die auf die überwiegend im anglo-amerikanischen Raum geltende „Fruit-of-the-poisonous-tree“-Doktrin zurückgeht. Früchte des vergifteten Baumes, also Beweismittel, die ausschließlich aufgrund zuvor rechtswidrig erlangter Beweismittel aufgefunden wurden, sollen in der Folge ebenfalls als Beweismittel ei63  BGHSt



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List65

Zweifelhaft erscheint darüber hinaus, ob ein absolut wirkendes Beweisverwertungsverbot in Fällen älterer Beschuldigter überhaupt ein probates Mittel ist, der Verwertung rechtswidrig erhobener Beweise Rechnung zu tragen. Dies begegnet insbesondere im Hinblick auf eine fehlende Dynamik erheb­ lichen Bedenken. Es bestünden keinerlei Möglichkeiten, auf Aspekte des Einzelfalls einzugehen. cc) Zwischenbefund Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Annahme eines absoluten Beweisverwertungsverbots sowohl in unmittelbarer als auch in analoger Anwendung des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO aus den aufgezeigten Gründen insgesamt unangemessen erscheint. b) Beweisverwertungsverbot nach der Abwägungslehre aa) Allgemeine Grundlagen zur Abwägungslehre Einen weiteren Ansatz zum Umgang mit staatlicherseits rechtswidrig erlangten Beweismitteln hat die Rechtsprechung in richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt. Die in ständiger Rechtsprechung vom BGH70 vertretene, vom BVerfG71 bislang gebilligte und in der Literatur72 weitgehend anerkannte sog. Abwägungslehre bietet im Gegensatz zur starren Vorschrift des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO ausreichend Potenzial und Flexibilität, die Entscheidung für oder gegen ein Beweisverwertungsverbot in aller Regel aufgrund einer umfassenden Güterabwägung im Einzelfall vorzunehmen. Berücksichtigungsfähige Belange des Betroffenen werden gegen die der Strafverfolgungsbehörden abgewogen und dadurch ermittelt, ob ein Beweisverwertungsverbot im konkreten Fall anzunehmen ist, wobei im Grundsatz jedoch von der Verwertbarkeit eines erlangten Beweismittels ausgegangen wird.73

nem erweiterten Verwertungsverbot unterliegen. Dieser Ansatz beruht im Wesent­ lichen auf den Erziehungs- und Disziplinierungsgedanken für Strafverfolgungsbehörden, Beweise nur in prozessordnungsgemäßer Weise zu erlangen, da diese anderenfalls einem erweiterten Verwertungsverbot unterliegen und als solche nicht in einem Strafprozess verwertbar seien. 70  Pars pro toto: BGHSt 37, 30 (32). 71  BVerfGE 34, 238 (247). 72  Pars pro toto: Bader, in: KK-StPO, Vor § 48 Rn. 27 m. w. N. 73  Jahn, JuS 2012, 85 (86).

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

bb) Abwägungsparameter für die Betroffenen Abwägungsparameter,74 welche die Rechtsprechung für die Betroffenen regelmäßig berücksichtigt, sind namentlich das objektive Gewicht des Verstoßes gegen die Beweiserhebungsvorschrift, insbesondere bei Eingriffen ohne oder mit unvertretbar bejahter Rechtsgrundlage, bei objektiver Um­ gehung von Zuständigkeitsvorschriften sowie bei bewusstem oder willkür­ lichem Missbrauch von Amtsbefugnissen. Darüber hinaus sind der Schutzzweck der verletzten Verfahrensvorschrift, die Beeinträchtigung des Beweiswertes durch die rechtswidrige Beweiserhebung sowie das Schutzbedürfnis der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu beachten. cc) Abwägungsparameter für den Staat Auf Seiten der Strafrechtspflege fallen maßgeblich ihre Funktionstüchtigkeit sowie die Möglichkeit, das Beweisergebnis auch auf gesetzmäßigem Weg zu erlangen (sog. hypothetisch rechtmäßiger Ermittlungsverlauf), ins Gewicht. Zur Bewertung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sind insbesondere das staatliche Interesse an der Aufklärung der Straftat, die Art und die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des durch den Beschuldigten begangenen Rechtsverstoßes sowie ein möglicher Ansehensverlust des rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahrens infolge schwindenden Vertrauens in die Lauterkeit der Ermittlungsorgane heranzuziehen. dd) Kritik an der Abwägungslehre Ganz ohne Kritik bleibt auch die Abwägungslehre nicht. So wird mancherorts75 nicht zu Unrecht eingewandt, eine Abwägung, ob im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist, sei stets geprägt von subjektiven Sichtweisen und Wertungen des abwägenden Spruchkörpers. Eine objektive Abwägung könne naturgemäß nicht stattfinden, wenn Menschen mit individuell geprägten Anschauungen diesen Vorgang durchführen. In der Literatur besteht jedoch Einigkeit, dass einer deshalb nicht gänzlich zu vermeidenden verbleibenden Rechtsunsicherheit mit einem Maximalmaß an möglicher Objektivierung zu begegnen ist. Daher hat sich über lange Jahre in der Rechtsprechung und im Schrifttum eine zwar nicht abschließende, aber dennoch hinreichend konturierte Kasuistik76 herausgebildet, in 74  Nachfolgend genannte Abwägungsparameter sind der tabellarischen Darstellung in Jahn, JuS 2010, 653 (654) entnommen. 75  Hartmann/Schmidt, Strafprozessrecht, Rn. 1075. 76  Krekeler/Löffelmann, in: AnwK-StPO, Einleitung, Rn. 141.



D. Die Zulässigkeit von kriminalistischer List67

welchen Fällen ein Verwertungsverbot nach der Abwägungslehre anzunehmen sei und in welchen nicht. ee) Anwendbarkeit der Abwägungslehre auf ältere Beschuldigte Für die hier zu untersuchende Fragestellung kann die Abwägungslehre primär unter dem Wertungsgesichtspunkt der Schutzwürdigkeit der verfahrensrechtlichen Stellung des betagteren Beschuldigten fruchtbar gemacht werden. Diese wird aufgrund des gehobenen Alters des Betroffenen regelmäßig als hoch und deshalb zu dessen Gunsten zu berücksichtigen sein. Wie bereits an anderer Stelle dargestellt wurde, müssen Beschuldigte in jedem Stadium des Strafverfahrens generell einen Subjektstatus innehaben und dürfen in dessen Verlauf nicht in die Objektlage gelangen.77 Die permanente Subjektstellung eines Beschuldigten wird aber u. a. dann gefährdet, wenn Vernehmungsmethoden wie eine unverhältnismäßig stark ausgeprägte kriminalistische List zur Anwendung kommen. Eine solche Statusgefährdung besteht für betagtere Beschuldigte in umso höherem Maße, da sie selbst aufgrund mental-konstitutioneller Defizite regelmäßig weniger effektiv in der Lage sind, selbst Sorge für ihre zwar rechtlich garantierte, aber auch faktisch einzuhaltende Verfahrensstellung zu tragen. Darüber hinaus bietet eine faktordynamisch geprägte Abwägungslehre aufgrund ihrer deutlich höheren Flexibilität weitere Vorzüge: So besteht auch für die Strafverfolgungsbehörden eine wesentlich geringere Rechts- und Prognoseunsicherheit, ob eine unter Anwendung von (möglicherweise überschrittener) kriminalistischer List erlangte Aussage gerichtsfest verwertbar ist. Gerichtliche Wertungsspielräume, wie sie diese Lehre im Gegensatz zu anderen starren Regelungen ihrer Natur nach zulässt, bieten ausreichend Raum, um auch das im Einzelfall konkret angewendete Maß kriminalistischer List in Relation zum in Rede stehenden Tatvorwurf angemessen zu würdigen. c) Zwischenbefund Auf der Rechtsfolgenseite ist die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes für übermäßige kriminalistische List unumgänglich. Es bestehen diverse Vorteile, dieses im Einzelfall über die richterrechtliche Abwägungslehre zu begründen.

77  BVerfGE

26, 66 (71); BVerfG, NJW 1969, 1423 (1424).

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

E. Lösungsvorschlag: Erstreckung der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO auf das Ermittlungsverfahren Um auch einem Beschuldigten höheren Alters stets eine durch kriminalistische List unbeeinträchtigte Subjektqualität im gesamten Verfahren möglichst umfassend zu garantieren, bedarf es einer gleichermaßen rechtlich konsistenten als auch in der Justizpraxis handhabbaren Lösung. Diese kann im Rechtsinstitut der notwendigen Verteidigung erblickt werden.

I. Allgemeine rechtliche Grundsätze der notwendigen Verteidigung Gesetzliche Regelungen zur notwendigen Verteidigung enthält das Prozessrecht im Kern in den §§ 140 ff. StPO. Daneben existieren diverse weitere (sich dezentral über die StPO erstreckende) Vorschriften, die eine notwendige Verteidigung in speziellen Fällen anordnen, z. B. §§ 118a Abs. 2, 231a Abs. 4, 364a, 364b, 408b und 418 Abs. 4 StPO. Die Vorschriften werden gemeinhin als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und des daraus folgenden Gebots eines fairen Verfahrens verstanden.78 Sie bezwecken primär die Sicherung eines rechtsstaatskonform ablaufenden Strafverfahrens, an dessen Ende möglicherweise eine derart gewichtige Sanktion steht, dass dem Betroffenen zwingend ein professioneller Rechtsbeistand zur Seite gestellt werden soll. Die grundsätzliche Hinzuziehung eines Verteidigers ist nach § 137 Abs. 1 S. 1 StPO in Form einer sog. (freiwilligen) Wahlverteidigung in jeder Lage des Verfahrens zulässig. Nur in besonders geregelten Ausnahmefällen erachtet das Gesetz die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig und infolgedessen zwingend. Ein Verzicht auf einen Verteidiger seitens des Beschuldigten ist dann nicht möglich.

II. Struktureller Aufbau des § 140 StPO Aus § 140 StPO ergeben sich unmittelbar Konstellationen, welche die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren nach dem Willen des Gesetzgebers notwendig machen. Die Norm selbst ist in insgesamt drei Absätze untergliedert. 78  Joecks, StPO, § 140 Rn. 1 mit weiteren Nachweisen u. a. auf BVerfGE 63, 380 (390).



E. Lösungsvorschlag69

§ 140 Abs. 1 StPO beschreibt katalogartig neun spezielle Konstellationen, in denen eine gerichtliche Verteidigerbestellung unablässig ist.79 § 140 Abs. 2 StPO ist als Auffangtatbestand nach überwiegender Auffassung eine allgemeine Generalklausel für Konstellationen, die nicht schon über § 140 Abs. 1 StPO erfasst sind. Sie hat in der Vergangenheit eine immer größere Bedeutung erlangt, wobei ihr Anwendungsbereich stetig weiter gefasst wurde.80 Nach dieser Vorschrift kann eine Verteidigung auch dann notwendig sein, wenn wegen bestehender Tatschwere81 oder wegen Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage82 ein Verteidiger am Verfahren mitwirken muss. Darüber hinaus umfasst die Generalklausel ebenfalls die ausdrückliche Möglichkeit einer notwendigen Verteidigung bei jenen, die sich ersichtlich nicht selbst verteidigen können (§ 140 Abs. 2 S. 1 StPO). Die Regelung bezweckt im Wesentlichen die Herstellung und Garantie prozessualer Waffengleichheit. § 140 Abs. 3 StPO beinhaltet hingegen lediglich Sonderregelungen richterlicher Aufhebungsmöglichkeiten einer Verteidigerbestellung für Fälle des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO.

79  Nr. 1: bei Hauptverhandlungen im ersten Rechtszug vor einem Land- oder Oberlandesgericht; Nr. 2: wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; Nr. 3: wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann, Nr. 4: wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder 275a Abs. 6 vollstreckt wird; Nr. 5: wenn der Beschuldigte sich mindestens drei Monate aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird; Nr. 6: wenn zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 StPO in Frage kommt; Nr. 7: wenn ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird; Nr. 8: wenn der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist; Nr. 9: wenn dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. 80  So auch Mehle, NJW 2007, 969. 81  Zum Anwendungsbereich der Tatschwere siehe Mehle, NJW 2007, 969. 82  Zum Anwendungsbereich der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage siehe Mehle, NJW 2007, 969 (970).

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

III. Notwendige Verteidigung für Beschuldigte höheren Lebensalters 1. Materiell-rechtliche Möglichkeiten Von besonderem Interesse für betagtere Beschuldigte ist die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO, da keine der spezielleren Regelungen des § 140 Abs. 1 StPO originär allein aufgrund des Alters auf den hier untersuchten Personenkreis Anwendung finden. Für die Beurteilung der Fähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, ist nach gefestigter Auffassung83 allein auf dessen persönliche Fähigkeiten abzustellen, und zwar unabhängig davon, ob die Sach- und Rechtslage gleichzeitig als schwierig einzuschätzen ist. Eine Unfähigkeit des Beschuldigten, der Hauptverhandlung zu folgen, dort seine Interessen zu vertreten und sachgerechte Verteidigungshandlungen vorzunehmen,84 kann sich vor allem aus Umständen ergeben, die in der Person des Beschuldigten, insbesondere in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Konstitution, begründet liegen.85 Auch andere, darüber hinausgehende Faktoren können grundsätzlich eine persönliche Verteidigungsunfähigkeit des Beschuldigten begründen.86 Die Voraussetzungen einer fehlenden eigenen Verteidigungs­ fähigkeit liegen jedenfalls dann vor, wenn der Beschuldigte generell außerstande ist, seine eigenen Interessen zu wahren,87 oder zumindest nicht von der Hand zu weisende Zweifel88 daran bestehen.89 2. Formell-rechtliche Situation In formell-rechtlicher Hinsicht ergibt sich gem. § 141 Abs. 1 StPO bei Vorliegen eines Falles des § 140 Abs. 190 oder Abs. 2 eine obligatorische Pflichtverteidigerbestellung durch den Vorsitzenden des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist (§ 141 Abs. 4 StPO), sobald die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage erhoben hat und das Verfahren damit in das Stadium des Zwischenverfahrens eintritt. 83  Vgl.

Lüderssen/Jahn, in: LR-StPO, Band 4, § 140 Rn. 96. Willnow, in: KK-StPO, § 140 Rn. 24. 85  OLG Hamm, StV 2000, 92 zur erforderlichen Schwere des Einzelfalls. 86  OLG Düsseldorf, NJW 1964, 877. 87  OLG Hamm, StraFo 2000, 32. 88  Anerkannt worden sind Fälle von Analphabetismus, unterdurchschnittlicher Intelligenz und Drogenabhängigkeit, vgl. dazu OLG Celle, StV 1994, 8; LG Berlin, StV 1983, 99; OLG Düsseldorf, StV 2002, 236; OLG Frankfurt, StV 1984, 370. 89  OLG Frankfurt, StV 1984, 370. 90  Erfasst sind ausdrücklich nur § 140 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3, 5 bis 9 StPO. 84  Vgl.



E. Lösungsvorschlag71

§ 141 Abs. 3 S. 1 StPO sieht hingegen bloß eine fakultative Möglichkeit der Pflichtverteidigerbestellung für das Ermittlungsverfahren vor. Ein entsprechender Beiordnungsantrag ergeht durch die ermittelnde Staatsanwaltschaft, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder 2 StPO notwendig sein wird, § 141 Abs. 3 S. 2 StPO. Daraus resultiert folgendes praxisbedingte Problem: Die Staatsanwaltschaft übt als Herrin des Ermittlungsverfahrens seit der Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung durch das 1. StVRG eine ermittlungsleitende Tätigkeit im Vorverfahren aus und ist im Rahmen dieser Sachleitungsbefugnis nach § 161 StPO auskunftsberechtigt und gegenüber ihren Ermittlungspersonen91 weisungsbefugt.92 Die § 161 StPO zugrunde liegende Leitidee sieht vor, dass die initiale Ermittlungstätigkeit zunächst von der Staatsanwaltschaft ausgeht bzw. von dieser unter Zuhilfenahme ihrer Ermittlungspersonen koordiniert wird. Ein selbständiges polizeiliches Ermittlungsverfahren ist der StPO fremd.93 Selbständig handelt die Polizei bei ihrer repressiven Tätigkeit lediglich dann, wenn ihr durch das Gesetz94 entsprechende Befugnisse eingeräumt werden.95 Die Praxis zeichnet in aller Regel jedoch ein umgekehrtes Bild: Nicht selten, insbesondere im Bereich der Kleinkriminalität, erfolgt sämtliche ini­ tiale Ermittlungsarbeit ohne Beteiligung der zuständigen Staatsanwaltschaft zunächst durch die Polizeibehörden. Der Staatsanwaltschaft als der sach­ leitungsbefugten Behörde im Ermittlungsverfahren wird regelmäßig erst nach Abschluss aller wesentlichen Ermittlungsmaßnahmen eine nahezu ausermittelte Akte von der Polizei zur abschließenden Entscheidung vorgelegt. Durch diese Handhabung in der Praxis erlangt sie häufig erst gegen Ende des Ermittlungsverfahrens konkrete Kenntnis von der Existenz des Strafverfahrens, sodass eine Entscheidung über eine mögliche Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO für den jeweiligen Beschuldigten in aller Regel zu spät kommt. 91  Zum Begriff der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft und dem davon umfassten Personenkreis siehe Wohlers, in: SK-StPO, Band IX, § 152 GVG Rn. 6. 92  Die Leitungs- und Weisungsbefugnis der Staatsanwaltschaft beschränkt sich im Grundsatz auf repressive Tätigkeiten der Polizei zur Erforschung und Aufklärung begangener Straftaten. Polizeiliche Präventivtätigkeiten zur Verhütung von Straftaten erfolgen ohne eine entsprechende Weisungsbefugnis der Staatsanwaltschaft, siehe dazu Kubica/Leineweber, NJW 1984, 2068 (2069). 93  Schaefer, StraFo 2002, 118 (119). 94  Gesetzliche Befugnisse bestehen zum Beispiel im Recht des ersten Zugriffs, vgl. § 163 Abs. 1 S. 1 StPO. 95  Wohlers, in: SK-StPO, Band IX, § 152 GVG Rn. 3, mit Verweis u. a. auf Bindel, DRiZ 1994, 165 (166).

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

Nicht selten wird einem Beschuldigten dadurch die Möglichkeit genommen, eine Pflichtverteidigerbestellung bereits zu Beginn des Ermittlungsverfahrens zu erwirken. Dies ist insbesondere deshalb für den Beschuldigten misslich, da dem Ermittlungsverfahren ganz überwiegend eine erhebliche Weichenstellungsfunktion zukommt.96 Zusätzliche Brisanz erlangt dieser Umstand dadurch, dass eine Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich nur ex nunc, nicht aber mit Ex-tunc-Wirkung97 in Betracht kommt.98 3. Zwischenbefund Die faktische Ermittlungspraxis konterkariert die gesetzliche Leitidee einer notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren. 4. Antragskompetenz Verschärft wird dieser Umstand noch durch die Verteilung der rechtlichen Antragskompetenz für die Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren. Nach aktueller Gesetzeslage liegt die Antragskompetenz nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO bei der Staatsanwaltschaft. Erfährt diese jedoch erst nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlung von der Existenz des Strafverfahrens, läuft die Möglichkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren faktisch ganz überwiegend leer. Das eigentliche Problem ist somit weniger die gesetzliche Regelung des § 141 Abs. 3 S. 2 StPO an sich, sondern vielmehr die Vorgehensweise in der Ermittlungspraxis.99 Dieser Umstand soll jedoch nicht davon abhalten, für die vorliegende Untersuchung alternative Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. 5. Aufwertung der bloßen Beiordnungsmöglichkeit zu einer Beiordnungspflicht im Ermittlungsverfahren Eine erste Lösung kann darin gesehen werden, die bislang nur fakultativ bestehende Beiordnungsmöglichkeit im Ermittlungsverfahren zu einer obligatorischen Beiordnungspflicht gesetzlich aufzuwerten. Dies führt, ginge StV 2007, 376; Fezer, in: GS Schröder, S. 407 (S. 412 f.). Streitstand, ob ausnahmsweise auch eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers mit Ex-tunc-Wirkung in Betracht kommt, vgl. Wohlers, StV 2007, 376. Bejahend u. a. LG Berlin, StV 2005, 83 f., LG Frankfurt, StV 1992, 315, ablehnend BGH, StV 1989, 378, BGH, StV 1997, 238. 98  Wohlers, StV 2007, 376. 99  Wohlers, StV 2007, 376. 96  Wohlers, 97  Zum



E. Lösungsvorschlag73

man diesen Weg, zunächst zur Wiederherstellung der gesetzgeberischen Grundvorstellung des § 161 StPO in Form einer Beteiligung der Staatsanwaltschaft am Ermittlungsverfahren direkt von Beginn an. In diesem Fall wäre es unschädlich, dass die alleinige Antragskompetenz zur obligatorischen Pflichtverteidigerbeiordnung ausschließlich bei ihr liegt. Auf das Problemfeld der betagteren Beschuldigten übertragen stellt sich die Anschlussfrage, ob von einer generellen Beiordnungspflicht ab der Überschreitung eines gewissen Lebensalters oder vielmehr einer einzelfallbezogenen Entscheidung über die Notwendigkeit eines Pflichtverteidigers in Abhängigkeit von der konstitutionellen Verfassung des betroffenen älteren Beschuldigten auszugehen ist. a) Generelle Beiordnungspflicht unabhängig vom Lebensalter Kriminalpolitisch wird eine generelle Beiordnungspflicht weder gewollt noch praktisch umsetzbar sein. Eine grundsätzliche Regelung für einen verpflichtenden Rechtsbeistand stünde nicht selten in keinem angemessenen (wirtschaftlichen) Verhältnis zur Bedeutung der Sache, insbesondere in Fällen von Klein- oder Kleinstkriminalität. Der 3. Strafsenat100 des Kammergerichts Berlin betont zwar stets, dass die Bestellung eines Verteidigers nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder seines Verteidigers dient, sondern ihr Zweck ausschließlich darin besteht, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Dennoch würde dieser Umstand die Leitidee des Rechtsinstituts der notwendigen Verteidigung, die gerade erst dann auf den Plan treten soll, wenn nicht mehr im Bereich geringfügiger Kriminalität prozessiert wird, konterkarieren. Diese liefe durch die Annahme einer grundsätzlichen Verteidigungspflicht inhaltlich leer. b) Generelle Beiordnungspflicht in Abhängigkeit vom Lebensalter Näher läge es hingegen, eine verpflichtende Beiordnung eines Rechtsbeistandes erst ab der Überschreitung einer gewissen (pauschal festzulegenden) Altersgrenze anzunehmen. Durchgreifende Bedenken, wie sie im Zusammenhang mit der an anderer Stelle aufgeworfenen Idee einer altersbedingten Schuldunfähigkeitsgrenze des § 19 StGB diskutiert wurden, bestünden an dieser Stelle nicht. Es würde dadurch keine starre Strafunmündigkeit (und in der Folge Straflosigkeit) angenommen, sondern lediglich das Risiko eines 100  KG,

Beschl. v. 27.02.2006, Az.: 1 AR 1471/05 sowie 3 Ws 624/05.

74

Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

nicht sachgerechten Umgangs mit älteren Beschuldigten durch die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Verteidigung minimiert. c) Einzelfallbezogene Beiordnungspflicht bei konstitutioneller Schwäche Ein weiterer Denkansatz verneint das Erfordernis einer generellen Bestellungspflicht, sondern trifft mit Blick auf den individuell-konkret betroffenen Beschuldigten eine Beiordnungsentscheidung im Einzelfall. Ist eine altersbedingte konstitutionelle Schwäche schon zu Beginn der Ermittlungen erkennbar oder zumindest nicht von vornherein auszuschließen, gebietet es der Fair-Trial-Grundsatz, die Pflicht zur Pflichtverteidigerbestellung vom Geisteszustand des jeweiligen Betroffenen abhängig zu machen. In der Konsequenz wäre eine (kostenintensive und zeitaufwendige) psychologische Begutachtung des Betroffenen erforderlich. d) Bewertung Schon aus Gründen des dadurch erheblich gesteigerten Verwaltungs- und Kostenaufwandes sowie nicht unerheblicher zeitlicher Verzögerungen wird auch dieses Verständnis von Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren kriminalpolitisch allenfalls nur geringe Aussicht auf praktische Umsetzung haben, obgleich von einem Rechtsstaat im Ausgangspunkt erwartet werden darf, keine starre und einseitig ablehnende Abwägung zwischen der Wahrung und Wahrnehmung von Verfahrensrechten mit andererseits entstehendem Verwaltungsaufwand vorzunehmen. Das zuvor angeführte Grundverständnis des 3. Strafsenats des Kammergerichts Berlin101 von §§ 140 ff. StPO wird durch den 5. Strafsenat102 desselben Gerichts nur wenig später dahingehend gestützt, dass auch dieser die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung als im Vordergrund stehend betrachtet. Dennoch kann eine vorsichtige Prognose dergestalt gewagt werden, dass auch dieser Ansatz in der Praxis aus vorbezeichneten Gründen keine Umsetzung finden wird.

101  KG, 102  KG,

Beschl. v. 27.02.2006, Az.: 1 AR 1471/05, sowie 3 Ws 624/05. Beschl. v. 09.03.2006, Az.: 1 AR 1407/05.



E. Lösungsvorschlag75

6. Verfahrensrechtlicher Ansatz Ein weiterer diskutabler Lösungsansatz zielt nicht auf eine materiell-­ inhaltliche Änderung des Instituts der notwendigen Verteidigung, sondern ausschließlich auf eine Modifikation der formalen Antragsberechtigung ab. Aus praktischer Sicht zweckmäßig wäre sicherlich, die Antragsberechtigung für eine Pflichtverteidigerbeiordnung von der Staatsanwaltschaft entweder in Gänze auf die Polizei zu übertragen oder den Kreis der Antragsberechtigten zumindest auf diese zu erweitern. Eine solche Kompetenzerweiterung auf die Polizei hätte einerseits eine Steigerung der Ermittlungseffektivität und eine Schonung von Verwaltungsressourcen zur Folge. Andererseits widerspricht dies jedoch der vorherrschenden strafverfahrensrechtlichen Trennung von Ermittlungsverfahren und Hauptverfahren. Im Ermittlungsverfahren ist einzig die Staatsanwaltschaft ermittlungsleitendes Organ, im Hauptverfahren jedoch das Gericht selbst. Weiterhin ist es auch unter dem Aspekt von Effektivitätsgründen nicht zu befürworten, Polizeibehörden ein entsprechendes eigenes Antragsrecht zuzubilligen. Auch wenn derartige Kompetenzverlagerungen in anderen strafprozessualen Bereichen in jüngerer Vergangenheit umgesetzt wurden,103 ist dies zumindest in Fällen notwendiger Verteidigung nicht angezeigt. Grund dafür wäre eine mittelbare Vorabentscheidung über den künftigen Gerichtsstand durch die den Beiordnungsantrag stellende Polizei. Nach § 141 Abs. 4 StPO entscheidet über den Beiordnungsantrag grundsätzlich der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist. Bei nicht selten mehreren nebeneinander eröffneten Gerichtsständen nach den §§ 7 ff. StPO würde eine örtliche Vorfestlegung durch die Polizei ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft getroffen, der jedoch die alleinige Hoheit über die Erhebung der öffentlichen Klage obliegt, § 152 Abs. 1 StPO. Diese umfasst nach überwiegender Auffassung104 auch das Recht zur pflichtgemäßen105 Auswahl eines unter mehreren eröffneten Gerichtsständen. 103  Vgl. nur die Kompetenzerweiterung bei körperlichen Untersuchungen des Beschuldigten nach § 81a StPO durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017 (BGBl. I, S. 3202). Im Zuge der Gesetzesnovelle wurde die bislang zwingende Anordnungszuständigkeit des Richters (bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch die der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen) für einige Delikte des Straßenverkehrsrechts gelockert, sodass nunmehr auch die Polizei anordnungsbefugt ist. 104  Grundlegend BGHSt 10, 391 (392), zuletzt BGH, NJW 2015, 3383 (3384). Siehe dazu auch Arnold, ZIS 2008, 92 (93 ff.). 105  Die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser beweglichen Zuständigkeitsregelung der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die grundrechtliche Gewährleistung des

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Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

7. Zwischenbefund Der Gesetzgeber hat sich bislang lediglich dafür entschieden, die Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 1 und 3 StPO in die (polizeiliche) Belehrungspflicht nach § 163a Abs. 4 S. 2 i. V. m. § 136 Abs. 1 StPO aufzunehmen. Eine Kompetenzübertragung ist damit nicht erfolgt und auch insgesamt aus vorbezeichneten Gründen nicht erforderlich. 8. Sonderproblem: Eigenes Antragsrecht des Beschuldigten Umstritten ist zudem, ob ein Beschuldigter die Stellung eines Beiordnungsantrags durch die Staatsanwaltschaft erzwingen und diesen im Falle der Weigerung durch einen eigenen Antrag ersetzen kann.106 Teilweise wird dies generell verneint,107 durch die Rechtsprechung108 jedoch nicht unerheblich aufgeweicht. Nach Auffassung des BGH steht der Staatsanwaltschaft grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu, ob und wann sie einen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers stellt.109 In Einzelfällen könne sich dieser Beurteilungsspielraum jedoch auf eine pflichtgemäße Entscheidung beschränken,110 mithin eine Ermessensreduzierung auf null darstellen. Durch diese Beschränkung auf die Ausübung eines pflichtgemäßen Ermessens könne das Rechtsinstitut der notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren praktische Bedeutung erlangen.111 Über den Verweis in § 136 Abs. 1 StPO erhält ein Betroffener somit nach überwiegender Meinung112 kein eigenes Antragsrecht auf Beiordnung eines Rechts auf den gesetzlichen Richter blieb zumindest in Bezug auf das örtlich zuständige Gericht weitgehend aus, vgl. hierzu nur Heghmanns, StV 2000, 277; vorreitend allenfalls Oehler, ZStW 64 (1952), 292 (303 f.). Die herrschende Meinung beschränkt sich lediglich auf den Hinweis, die Staatsanwaltschaft dürfe ihre Auswahlentscheidung nicht anhand sachfremder Erwägungen treffen, vgl. Weßlau/Weißer, in: SKStPO, Band I, Vor §§ 7–21, Rn. 9, mit Verweis auf BGHSt 9, 367 (368 f.); BVerfGE 20, 336 (346); Trüg, NZWiSt 2014, 109 (111 f.). 106  Pars pro toto: Klemke, StV 2003, 413 ff.; Neuhaus, JuS 2002, 18 (20). 107  OLG Karlsruhe, NStZ 1998, 315 (316), mit Anmerkung Beckemper, NStZ 1999, 221 ff. 108  BGHSt 46, 93 (98 f.), mit Anmerkung Kunert, NStZ 2001, 212 ff.; Fezer, JZ 2001, 359 ff. 109  Wohlers, in: SK-StPO, Band III, § 141 Rn. 6 m. w. N. 110  BGHSt 47, 172 (176). 111  Hamm, in: FS Lüderssen, S. 717 (S. 724 ff.); Wohlers, in: FS Rudolphi, S. 713 (S. 720). 112  Sowada, NStZ 2005, 1, mit weiteren Nachweisen u. a. auf Schmitt, in: MeyerGoßner, StPO, § 141 Rn. 5. Andere Ansicht: LG Bremen, StV 1999, 532, sowie Beckemper, NStZ 1999, 221 (225 f.).



E. Lösungsvorschlag77

Pflichtverteidigers, sondern allenfalls ein an die Staatsanwaltschaft gerichtetes Anregungsrecht, ihrerseits einen entsprechenden Antrag bei Gericht zu stellen. Begründet wird dies im Wesentlichen mit der Stellung der Staatsanwaltschaft als sachleitungsbefugte Behörde im Ermittlungsverfahren. Nichts anderes sollte auch nach gesetzgeberischer Intention nach der Gesetzes­ novelle zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017 gelten (vgl. nur den Wortlaut in § 136 Abs. 1 S. 5 StPO: „beanspruchen“).113 Andere Teile des Schrifttums114 gehen jedoch von einem dem Gericht zuzubilligenden autonomen Entscheidungsspielraum ohne zwingendes Antragserfordernis durch die Staatsanwaltschaft aus. Abzuleiten sei dies neben dem Gebot auf ein faires Verfahren aus dem Grundsatz der Waffengleichheit. Letzteres Argument der Waffenparität im Strafverfahren wurzelt primär in der verfahrensrechtlich wie -praktisch stärker ausgeprägten Stellung eines nebenklageberechtigten Verletzten einer Straftat, dem ausweislich des eindeutigen Wortlauts des § 397a Abs. 1 StPO schon ab dem Beginn des Ermittlungsverfahrens ein Recht mit Anspruchsqualität auf die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Wege der Prozesskostenhilfe zusteht.115 Losgelöst von der bisweilen umstrittenen Frage nach der eigenen Antragsberechtigung eines (älteren) Beschuldigten ist zu hinterfragen, ob die aktuelle gesetzliche Ausgestaltung für Fälle dieser Art noch sinnvoll begründbar ist. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund der vertretenen Folgen eines Verstoßes gegen die vorgenannte Belehrungspflicht über die Beiordnungsmöglichkeit eines Verteidigers. Unterbleibt eine entsprechende Belehrung dahingehend, dass auf die Beiordnungsmöglichkeit eines Pflichtverteidigers nicht hingewiesen wird, dann wird auch für derartige Fälle die Annahme eines Beweisverwertungsverbots diskutiert.116 Dies lässt angesichts der besonderen Schutzbedürftigkeit von Personen mit geistig-konstitutioneller Benachteiligung die Frage aufkommen, weshalb nicht von Beginn an eine uneingeschränkte Verteidigungspflicht befürwortet werden sollte. An dieser Stelle bleibt zu hoffen, dass künftige Gesetzesvorhaben für entsprechende Abhilfe sorgen.

113  Vgl.

BT-Drs 796/16, S. 27–28. in: LR-StPO, Band 4, § 141 Rn. 24; Stalinski, StV 2008,

114  Lüderssen/Jahn,

500 ff.

115  Sowada, NStZ 2005, 1 (2). Ausführlicher dazu Weider, StV 1987, 317 (318 f.), sowie Schünemann, ZStW 114 (2002), 1 (50). 116  Bejahend z. B. Klemke, StV 2003, 413 (415), und Schlothauer/Weider, StV 2004, 504 (515).

78

Kap. 2: Zur Problematik der Vernehmung älterer Beschuldigter

IV. Europarechtliche Änderungstendenzen im Bereich der notwendigen Verteidigung Mit Spannung erwartet werden darf die Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/1919 des Europäischen Parlamentes und des Rates über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.117 Die Richtlinie sieht in nicht unerheblichem Umfang eine Modernisierung des Rechts auf notwendige Verteidigung vor. Bei dieser Richtlinie handelt es sich um den ergänzenden zweiten Teil der sog. „Measure C“ des „Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren“118 und ergänzt die bereits geltende Richtlinie 2013/48/EU zum „Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren“. Ziel beider Richtlinien ist im Wesentlichen die Implementierung europaweiter Mindeststandards betreffend die Stärkung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand auch bei eingeschränkter finanzieller Leistungsfähigkeit des Betroffenen. Die Bundesrepublik Deutschland ist bis Mai 2019 ­europarechtlich gehalten, diese sog. PKH-Richtlinie in nationales Recht zu transferieren und u. a. erforderliche Änderungen im Recht der notwendigen Verteidigung zu übernehmen. Nach der Umsetzung der Richtlinie wird jeder Beschuldigte einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers stellen können, sobald er vorläufig festgenommen wurde. Über diesen Antrag ist unverzüglich, d. h. noch vor der ersten polizeilichen Vernehmung, zu entscheiden. Aus der Richtlinie ergibt sich, dass die Entscheidung über den Antrag anhand von Bedürftigkeitskriterien oder sonstigen materiellen Faktoren wie der Schwere der Tat, der Komplexität des Falles oder des Umfangs der zu erwartenden Strafe zu treffen ist. Demzufolge wird es künftig zumindest im Bereich der Schwerkriminalität einen Anspruch des Beschuldigten auf Pflichtverteidigung ab Beginn des Ermittlungsverfahrens geben.119

F. Ergebnis zu Kapitel 2 Es spricht einiges für eine nur eingeschränkte Anwendbarkeit kriminalistischer List im Ermittlungsverfahren zulasten Beschuldigter höheren Lebens­ alters. Normative Kodifizierungsmöglichkeiten ergeben sich im Hinblick auf 117  Amtsblatt

der Europäischen Union L 297/1 vom 04. November 2016. der Europäischen Union C 295/1 vom 04. Dezember 2009. 119  Vgl. dazu Brodowski, StV 2017, Heft 8, Editorial. 118  Amtsblatt



F. Ergebnis zu Kapitel 279

tatbestandliche Lösungen prinzipiell in Form der Einführung neuer bzw. der Änderung bestehender formeller Gesetze oder sonstiger Verwaltungsvorschriften wie der RiStBV oder PDV. Auf der Rechtsfolgenseite erscheint eine grundsätzliche Ahndung als Beweisverwertungsverbot bei Überschreitung des anzunehmenden rechtsstaatlich zulässigen Maßes an kriminalistischer List naheliegend. Dogmatische Vorzüge ergeben sich insgesamt nicht aus § 136a Abs. 3 S. 2 StPO, sondern in erster Linie über eine entsprechende Anwendung der Abwägungslehre. Eine zur Vermeidung etwaiger Maßüberschreitungen in der Ermittlungspraxis denkbare Möglichkeit besteht in der Ausweitung des Anwendungs­ bereichs der notwendigen Verteidigung. Unter Abwägung des rechtlich Erforderlichen mit dem wirtschaftlich Vertretbaren, insbesondere vor dem auf­ gezeigten verfassungsrechtlichen Hintergrund, erscheint der Weg über eine generelle Beiordnungspflicht ab der Überschreitung eines gewissen Lebensalters als vorzugswürdigste Variante. Zur Sicherung eines unionsweiten Mindeststandards steht das Institut der notwendigen Verteidigung zwar auch in einem europarechtlich geprägten Fokus, dieser berührt die zentralen Kernaspekte des hiesigen Untersuchungsgegenstandes jedoch allenfalls peripher, weshalb nur der Vollständigkeit halber in diesem Kapitel auf die Richtlinie hingewiesen sei.

Kapitel 3

Problematiken im Zusammenhang mit der Anordnung von Untersuchungshaft gegen ältere Beschuldigte A. Einleitung Das folgende Kapitel widmet sich dem prozessualen Feld der Untersuchungshaft. Dabei sollen sowohl rechtliche als auch tatsächliche Problematiken identifiziert werden, die bei der Anordnung von Untersuchungshaft für ältere Beschuldigte auftreten können. Das Ziel besteht auch darin, alternative, ebenso geeignete prozessrecht­ liche Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten unter Berücksichtigung ihrer faktischen Auswirkungen auf ältere Beschuldigte zu beleuchten.

I. Statistik und allgemeine Grundlagen Die Anzahl sich in Haft befindlicher älterer Personen steigt. Lag im Jahr 1996 die Rate der inhaftierten älteren Tatverdächtigen noch bei 1,6 %, so sind es rund 20 Jahre später, im März 2016, bereits ca. 4,4 %.1 Die absoluten Zahlen liegen im Jahr 2017 bei 7.641 Gefangenen mit einem Alter über 50 Jahren;2 die relative Rate hat sich jedoch innerhalb von zwei Jahrzehnten fast verdreifacht. Unter Zugrundelegung aktueller demografischer Prognosen ist zu erwarten, dass die Zahl der (untersuchungshaft-)relevanten Fälle von Alterskriminalität auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterhin zunehmen wird. Die Untersuchungshaft ist – neben der einstweiligen Unterbringung3 nach § 126a StPO und der eingriffsschwächeren vorläufigen Festnahme4 gemäß 1  https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.deutschlands-einziges-seniorenge faengnis-rentner-im-knast.001c9be6-0983-4cb4-82cb-12590f0ccd6f.html (zuletzt aufgerufen am 31.01.2019). 2  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/546432/umfrage/anzahl-der-strafge fangenen-in-deutschland-nach-alter/ (zuletzt aufgerufen am 07.02.2019). 3  Die einstweilige Unterbringung eines Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt ist eine vorläufige Maßregel der Besse-



A. Einleitung81

§ 127 StPO5 – eine der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen mit den gravierendsten Auswirkungen auf die Lebensführung eines Betroffenen.6 Sie wird auch aufgrund der mit ihr einhergehenden weiteren Beschränkungen regelmäßig als belastender empfunden als die eigentliche Strafhaft selbst.7 Die Untersuchungshaft ist ohne Vorliegen eines rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteils ein grundsätzlich zulässiges Instrument und steht deshalb regelmäßig in einem besonderen Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie zu dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2. S. 2 GG.8 Hassemer9 formulierte bereits 1984, Untersuchungshaft sei „Freiheitsberaubung an einem Unschuldigen“. Angesichts der konventionsrechtlichen Unschuldsvermutung, nach der ein Verdächtiger bis zum rechtskräftigen Beweis des Gegenteils als unschuldig gilt, ist diese Ansicht nicht von der Hand zu weisen, obwohl die Formulierung „Freiheitsberaubung“ nicht ganz treffend erscheint. Denn Freiheitsberaubung, so Paeffgen, insinuiere Rechtswidrigkeit, auch wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft erfüllt sind.10 Obwohl in der einschlägigen verfahrensrechtlichen Literatur nie völlig unbestritten, wird die Untersuchungshaft dennoch sowohl von der Gesetzgebung als auch in der Rechtspraxis als ein gemeinhin unverzichtbares Instrument zur Effektuierung der Strafverfolgung angesehen.11 Der elementare Zweck der Untersuchungshaft besteht nach ganz überwiegender Auffassung12 in der Verwahrung eines Beschuldigten zur Sicherung

rung und Sicherung ohne verfahrenssichernden Charakter und insoweit eine Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit, siehe dazu Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 112 ff. Rn. 5 f. 4  Die Zwangsmaßnahme der vorläufigen Festnahme beschreibt eine vorübergehende Freiheitsentziehung ohne richterlichen Haftbefehl zur Sicherung der Strafverfolgung, siehe dazu Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 112 ff. Rn. 5 f. 5  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 112 ff. Rn. 1. 6  Lammer, in: AnwK-StPO, § 112 Rn. 3; so auch Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S.  3 m. w. N. 7  Lammer, in: AnwK-StPO, § 112 Rn. 3. Der maßgebliche Grund dafür liegt in weitüberwiegend versagten Privilegien während der U-Haft im Vergleich zur normalen Strafhaft. 8  Anders BerlVerfGH, NJW 1993, 515 (516), der kein Spannungsverhältnis zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, sondern einen Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde nach Art. 1 GG annimmt. Dazu Näheres in Kapitel 3. 9  Hassemer, StV 1984, 38 (40). 10  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 112 ff. Rn. 9. 11  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor §§ 112 ff. Rn. 2. 12  BVerfGE 19, 342 (349).

82

Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

eines geordneten Strafverfahrens. Zum Teil13 wird der Zweck noch etwas weitergehender verstanden, sodass auch die Sicherung des sich gegebenenfalls anschließenden Vollstreckungsverfahrens einer freiheitsentziehenden gerichtlichen Anordnung vom Gesamtzweck der Untersuchungshaft mitumfasst ist.14 Die Untersuchungshaft dient damit insgesamt der Sicherung einer ordnungsgemäßen Verfahrensdurchführung, indem sie aufgrund bestehender Indizien im Einzelfall der Gefahr einer potenziellen Verfahrenssabotage, z. B. durch Entziehung oder Verdunkelung, vorbeugen soll.15 Gerade wegen dieser Zwecksetzung geht die an der Unschuldsvermutung ansetzende Kritiklinie fehl.

II. Historische Entwicklung Das Recht der Untersuchungshaft ist seit dem Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 1.1.201016 in den §§ 112 bis 130 StPO normiert. Bis dato war das Recht der Untersuchungshaft seit Inkrafttreten der RStPO im Jahr 1877 weitgehend unverändert geblieben.17 Auch nach der Föderalismusreform von 2006 obliegt dem Bundesgesetzgeber weiterhin die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für grundsätzliche Fragen der Anordnung von Untersuchungshaft gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Lediglich die legislatorische Zuständigkeit für Fragen des Vollzugs der Untersuchungshaft ist seither trotz zahlreicher Kritik18 in die abschließende Kompetenz der einzelnen Länder übergegangen, sodass mittlerweile eine Vielfalt unterschiedlicher Untersuchungshaftvollzugsgesetze in den einzelnen Ländern besteht.19

13  BVerfGE 32, 87 (93); so u.  a. auch Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 10 Rn. 6. 14  Die Einbeziehung dieses erweiterten Zwecks dient vor allem der Legitimation der Erlassmöglichkeiten hinsichtlich eines Vollstreckungshaftbefehls nach § 457 StPO und eines Sicherungshaftbefehls nach § 453c StPO. 15  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, Vor § 112 ff. Rn. 11. 16  Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 22.07.2009, BGBl. I, S.  2274 ff. 17  Lammer, in: AnwK-StPO, § 112 Rn. 1. 18  Pars pro toto: Paeffgen, StV 2009, 46; Paeffgen, GA 2009, 450. 19  Als erstes Bundesland erließ Niedersachsen mit dem Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz vom 14.12.2007 eine entsprechende Landesregelung. Nordrhein-Westfalen folgte mit dem Gesetz zur Regelung des Vollzuges der Untersuchungshaft (UVollzG NRW) am 01.03.2010, Bayern zog mit seinem Pendant am 01.01.2012 nach. Mittlerweile gibt es in fast allen Ländern eigenständige Gesetze zum Vollzug der Untersuchungshaft. Für einen Überblick über aktuell bestehende Landesregelungen siehe Wiesneth, Die Untersuchungshaft, Rn. 279 ff.



A. Einleitung83

III. Wirkungen der Untersuchungshaft und Bezug zum Untersuchungsgegenstand Unzweifelhaft ist die Inhaftierung eines Beschuldigten (auch zu bloßen Untersuchungszwecken) ein erheblicher Eingriff in grundsätzlich gewährte und durch die Verfassung und die europäische Menschenrechtskonvention geschützte Rechtspositionen eines Beschuldigten. Dies gilt umso mehr, wenn Personen betroffen sind, die aufgrund ihrer konstitutionellen Verfassung gesteigerte physische wie psychische Empfindlichkeiten aufweisen. Auf der Ebene der deutschen Verfassung zu nennen sind in diesem Kontext nicht nur Beschränkungen der körperlichen Fortbewegungs- und der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG, sondern darüber hinaus auch Beeinträchtigungen sozialer Beziehungs-,20 Geltungs- und Ehransprüche. Insbesondere für Erstbetroffene und sonstige haftunerfahrene Personen ist die Untersuchungshaftsituation regelmäßig durch ein erhebliches Maß an Ungewissheit und Unkalkulierbarkeit gekennzeichnet.21 Des Weiteren führe die Untersuchungshaft nachweislich – unter anderem auch aufgrund der eingeschränkten und bisweilen fehlenden Kalkulierbarkeit der gesamten Haftsituation – zu einem erhöhten Geständnisdruck unter Einschluss des Ablegens falscher Geständnisse.22 In der Konsequenz sind latent gesteigerte Suizidalitätsraten zu verzeichnen.23 Welche faktischen Wirkungen vor diesem allgemein beschriebenen Hintergrund eine zu Untersuchungszwecken erfolgende Inhaftierung von Hochbetagten haben kann, ist unschwer vorstellbar. Konkret wird dies an dem im ersten Kapitel skizzierten Fall 2 deutlich, der vor dem Landgericht Ellwangen24 verhandelt wurde: Gegen eine Person im Alter von weit über 90 Jahren wurde von der Staatsanwaltschaft aufgrund des Verdachts der Beihilfe zu mehrfachtausenden Morden in der NS-Zeit routinemäßig der Erlass eines Untersuchungshaftbefehls erwirkt. Der zuvor nicht pflegebedürftige oder auf Hilfe durch Dritte im Alltag angewiesene Beschuldigte wurde daraufhin inhaftiert. Er geriet in seiner neuen, ungewohnten und von schädlichen Einflüssen dominierten Um20  Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an eine Schutzbereichsverkürzung des Grundrechts auf Ehe und Familie nach Art. 6 GG. 21  Siehe auch Müller-Dietz, in: FS Dünnebier, S. 75 (S. 91), der den Ausgleich negativer Wirkungen des Freiheitsentzugs bei Untersuchungshaftgefangenen im Vergleich zu Strafgefangenen als noch defizitärer konturiert. 22  Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 69 f., S. 189; Dauner, in: FS Stutte, S. 3. 23  Seebode, Der Vollzug der Untersuchungshaft, S. 39 ff. 24  LG Ellwangen, Beschl. v. 27.02.2014 – Az.: 1 Ks 9 Js 94162/12.

84

Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

gebung zunehmend schnell in geistigen Verfall, sodass das Verfahren gegen ihn schließlich aufgrund seiner mittlerweile bestehenden Verhandlungsun­ fähigkeit eingestellt werden musste. Dieser Fall verdeutlicht, dass standardisierte ermittlungstaktische Vorgehensweisen gesteigerte Risiken verfahrensrechtlich relevanter Art bergen können und dadurch einer effektiven staatlichen Strafverfolgung im Einzelfall entgegenstehen können. Angesichts der Effektivität einer solchen Strafverfolgung ist daher vor allem zu fragen, ob und wo Optimierungspotenzial besteht. Denn routinemäßige Handlungsabläufe von Gericht, Staatsanwaltschaft und Polizei, die nach aktueller Rechtslage in Abhängigkeit von der Schwere des Tatvorwurfs teilweise unumgänglich sind, können mitunter Konsequenzen haben, die nicht im Interesse einer aktiven und verantwortungsvoll agierenden staatlichen Strafrechtspflege stehen können. Im weiteren Verlauf der Analyse werden deshalb in einem ersten Schritt de lege lata bereits vorhandene Anknüpfungspunkte im Strafprozessrecht zum Untersuchungsgegenstand herausgearbeitet. Dabei werden zunächst Fragen zu den Anordnungsvoraussetzungen von Untersuchungshaft sowie im Weiteren bestehende Möglichkeiten etwaiger Haftverschonung für Personen höheren Lebensalters betrachtet. Im Anschluss daran stehen alternative Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda im Fokus der Analyse.

B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO Gemäß § 112 Abs. 1 S. 1 StPO setzt die Anordnung von Untersuchungshaft neben der Annahme eines dringenden Tatverdachts das Bestehen mindestens eines der in §§ 112 Abs. 2 und 3, 112a StPO besonders benannten Haftgrundes voraus. Zudem darf die Maßnahme nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung stehen, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO.

I. Dringender Tatverdacht Erforderlich ist daher zunächst ein dringender Tatverdacht. Eine Legaldefinition des dringenden Tatverdachts enthält das Gesetz nicht. Ein solcher liegt jedoch nach allgemeiner Meinung25 vor, wenn nach dem derzeitigen Ermittlungsergebnis eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der 25  BVerfG,

NJW 1996, 1049 (1050); BGH, JZ 1992, 976.



B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO85

Beschuldigte an einer Straftat rechtswidrig und schuldhaft handelnd beteiligt war und deshalb verurteilt werden wird. Die Annahme eines dringenden Tatverdachts ist somit dichotom determiniert: Zum einen muss retrospektiv der Verdacht der Tatbeteiligung naheliegen und zum anderen eine daraus prognostisch abgeleitete Verurteilungswahrscheinlichkeit resultieren.26 Die erste Komponente des Tatverdachts muss sich auf prozessual verfolgbares, tatbestandsmäßiges, rechtswidrig und schuldhaft verwirklichtes Verhalten beziehen.27 Für die prognostisch absehbare Verurteilungswahrscheinlichkeit ist hingegen auf den jeweiligen Beurteilungszeitpunkt mit Blick in die Zukunft abzustellen. Liegen beispielsweise Strafaufhebungsgründe vor oder fehlt es an nicht erbringbaren Strafverfolgungsvoraussetzungen28, so verhindert dies mangels Verurteilungswahrscheinlichkeit die Annahme eines dringenden Tatverdachts. Gleiches gilt, wenn Verfahrenshindernisse vorliegen, die nicht in absehbarer Zeit behebbar sind.29 Bereits an dieser Stelle ergibt sich ein erster dogmatischer Anknüpfungspunkt: Ein Beschuldigter, dessen konstitutionelle Verfassung nicht mit annähernder Gewissheit so stabil ist, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls eine Verurteilung in der Hauptsache erwartet werden kann, ist auch nicht im Sinne des § 112 Abs. 1 S. 1 StPO dringend tatverdächtig. Es mangelt in derartigen Fällen an der prognostischen Teilkomponente des Verdachtsgrades. Daher ist zunächst eine Akzessorietät zwischen dem prognostizierbaren Verfahrensausgang und der Anordnung der Untersuchungshaft festzustellen.

II. Zwischenbefund Schon auf der Ebene des erforderlichen (dringenden) Tatverdachtsgrads birgt das geltende Recht dogmatisches Potenzial, um die Belange eines betagten Beschuldigten, insbesondere gesundheitlicher Art, zu berücksichtigen.

III. Haftgrund Darüber hinaus ist neben einem dringenden Tatverdacht das Vorliegen mindestens eines Haftgrundes erforderlich. Einen Katalog der wesentlichen Haftgründe enthält § 112 Abs. 2 StPO. Dessen Nr. 1 beinhaltet den Haftgrund der Flucht, Nr. 2 die Fluchtgefahr und Nr. 3 die Verdunkelungsgefahr. Erin: Viertes deutsch-polnisches Kolloquium, S. 113 (S. 115). in: SK-StPO, Band II, § 112 Rn. 5. 28  Vgl. OLG München, StV 1998, 270. 29  OLG Dresden, StV 2001, 519. 26  Paeffgen, 27  Paeffgen,

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Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

gänzt wird diese enumerative Aufzählung um § 112 Abs. 3 StPO, der den Haftgrund der Tatschwere enthält. Komplettiert werden die gesetzlichen Untersuchungshaftgründe durch § 112a StPO, der die Wiederholungsgefahr nor­ miert. 1. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO: Flucht Der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO besteht nach gefestigter Auffassung dann, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen festgestellt wird, dass der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Eine klare Trennung beider Modalitäten aus der Ex-ante-Perspektive fällt regelmäßig schwer, sei im Wesentlichen aber auch entbehrlich.30 Flüchtig ist, wer sich von seinem bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt absetzt, um in einem gegen ihn anhängigen Strafverfahren unerreichbar zu sein und dem Behördenzugriff zu entgehen.31 Für den Haftgrund der Flucht ergeben sich für Beschuldigte höheren Lebensalters keine nennenswerten Besonderheiten. 2. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO: Fluchtgefahr Ein besonderes Augenmerk verdient der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Diesem kommt schon aus rein rechtstatsächlicher Sicht eine enorme praktische Bedeutung zu: Rund 69,6 %32 aller Haftbefehle sind allein auf Fluchtgefahr gestützt, in Kombination mit anderen Haftgründen sind es sogar 81,9 %33. Fluchtgefahr liegt nach überwiegender Auffassung34 vor, wenn bestimmte Tatsachen unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls zu der Einschätzung zwingen, der Beschuldigte werde sich mit größerer Wahrscheinlichkeit dem Verfahren entziehen als am Verfahren teilnehmen. Maßgeblich sei eine Würdigung aller Umstände im Einzelfall, insbesondere der persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten. Schon allein aufgrund der Intensität des Eingriffs verbiete sich jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe.

in: KK-StPO, § 112 Rn. 10. u. a. OLG Düsseldorf, NJW 1986, 2204 (2205). 32  Jabel, Rechtswirklichkeit, S. 127. 33  Gebauer, Rechtswirklichkeit, S. 232. 34  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, § 112 Rn. 24 mit Verweis u. a. auf OLG Ko­ blenz, StV 2002, 313 (314 f.) sowie OLG Köln, NJW 1959, 544. 30  Graf,

31  Siehe



B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO87

a) Allgemeine (Kontra-)Indizien Trotz des grundsätzlichen Verbots schematischer Beurteilungen haben sich im Laufe der Jahre im einschlägigen Schrifttum und in der Judikatur klassische Indizien herausgebildet, die regelmäßig im Zusammenhang mit der Prüfung der Frage einer etwaig bestehenden Fluchtgefahr eine besondere Bedeutung erlangen. Dies sind namentlich das Bestehen oder Nichtbestehen familiärer und persönlicher Bindungen35, Ortsverbundenheit36, ein fester Wohnsitz37, ein kontinuierlich bestehendes Arbeitsverhältnis38, bestehende oder mangelnde konkrete Fluchtperspektiven wie im Ausland befindliches Vermögen oder gute Fremdsprachenkenntnisse39, Selbststellung oder Verbleiben trotz Fluchtmöglichkeit40, gesundheitliche Verfassung41 sowie das hohe Alter des Betroffenen42. b) Übertragung auf die Alterskriminalität Bei der Anwendung dieser allgemeinen Leitkriterien auf eine betroffene ältere Person oder Personengruppe lässt sich regelmäßig Folgendes konstatieren: Familiäre und persönliche Bindungen sind in Generationen höheren Lebensalters in immer geringerem Maße vorhanden. Häufig fehlen nahe Angehörige.43 Auch bestehende Freund- und Bekanntschaften im vergleichbaren Lebensalter sind aufgrund des natürlichen Verscheidens immer seltener. Darüber hinaus dürfte aufgrund des Erreichens der rentenrechtlichen Regel­ altersgrenze in den allermeisten Fällen kein festes Arbeitsverhältnis oder zumindest keines von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung mehr bestehen. 35  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 21, mit Verweis auf OLG Hamm, StV 2003, 509 (510). 36  Herrmann, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier-StPO, § 112 Rn. 42. 37  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 21. 38  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 20. 39  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 20. 40  OLG München, StraFo 2013, 114 f. 41  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 21. 42  Schmitt, in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 21. 43  Bei den jüngeren Senioren (im Alter zwischen 65 und 79 Jahren) lebten im Jahr 2013 rund 64 % in einem Paarhaushalt. Bei den über 80-Jährigen liegt dieser Anteil nur noch bei ca. 46 %. Entsprechend steigt der Anteil der Alleinlebenden von 30 % der 65- bis 79-Jährigen auf 44 % der älteren Senioren, vgl. dazu Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Lebenslagen und Einkommenssituation älterer Menschen, S. 40.

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Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

c) Zwischenbefund Die unreflektierte Übertragung einiger wesentlicher oben genannter unspezifischer Fluchtgefahrindizien ergibt zunächst folgenden allgemeinen Befund: Zentrale Leitkriterien weisen in ihrer Gesamtbetrachtung allein aufgrund der nicht selten anzutreffenden Lebenssituation eines älteren Beschuldigten prinzipiell auf die Annahme einer Fluchtgefahr hin. An diesem grundlegenden Befund dürfte sich aufgrund der vergleichsweise hohen Zahl ähnlich gelagerter Lebenssituationen im Seniorenalter auch durch eine entsprechende Einzelfallbetrachtung nichts ändern. Umso bedeutender ist daher die Berücksichtigung weiterer Kriterien, die insbesondere spezifische Belange älterer Tatverdächtiger in den Blick nehmen. So dürfte es Menschen in vorgerücktem Alter beispielsweise aufgrund ihrer regelmäßig abnehmenden geistigen und emotionalen Flexibilität zunehmend schwerer fallen, ihr möglicherweise langjährig vertrautes Wohnumfeld aufzugeben und an einen anderen Ort zu fliehen, an dem sie sich eine komplett neue Alltagsstruktur aufbauen müssen. Zentrale Bedeutung bekommen bei betagten Beschuldigten deshalb zentrale, spezifisch altersbezogene Kriterien. d) Bewertungskriterium: Gesundheitliche Verfassung und Lebensalter Belastungsfaktoren im Alter sind vielfältiger Natur. Dabei spielen insbesondere gesundheitliche Einschränkungen und Behinderungen, deren Prävalenz vorwiegend im höheren Lebensalter stark ansteigt, eine nicht zu unterschätzende Rolle, die auch bei der rechtlichen Würdigung nicht außer Acht bleiben dürfen. Nicht selten verschlimmern sich bereits vorhandene Grund­ erkrankungen in der Haft absehbar mit einer deutlich gravierenderen Symptomatik.44 Liegt eine konkrete Gefahr schwerwiegender Gesundheitsschäden für den Beschuldigten vor, so kann dies indiziell eine fluchthindernde Wirkung entfalten und muss entsprechend berücksichtigt werden. Eine krankheitsbedingt notwendige Therapie oder eine regelmäßige medikamentöse Behandlung sind weitere Aspekte, die in die Gesamtbeurteilung des jeweiligen Einzelfalls, ob Fluchtgefahr besteht, mit einbezogen werden müssen. Darüber hinaus führen gesundheitliche Beeinträchtigungen nicht selten zu Mobilitätseinschränkungen größeren Ausmaßes.

44  Sommer,

Effektive Strafverteidigung, Kapitel 3 Rn. 706.



B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO89

e) Ergänzendes Bewertungskriterium: Armutsrisiko Neben gesundheitlichen Aspekten sollten bei der Prüfung etwaig bestehender Fluchtgefahr auch sozioökonomische Einflussfaktoren in die Bewertung mit einbezogen werden. So entschieden bereits die Oberlandesgerichte Köln45 und Hamm46 Mitte bzw. Ende der 1990er Jahre, dass das Fehlen finanzieller Mittel ein dauerhaftes Absetzen ins Ausland erschwere und deshalb in der Gesamtabwägung aller Einzelumstände zu berücksichtigen sei. Der Faktor „Armutsrisiko“ hat in der heutigen Zeit mehr Geltung denn je. Nach aktuellen statistischen Erhebungen weisen insgesamt 12,7 Millionen Personen (und damit 15,7 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands) ein erhöhtes Armutsrisiko auf. Auf die Altersgruppe der über 65-Jährigen entfallen davon 2,3 Millionen Personen mit einem Anteil von 14,5 % der älteren Bevölkerung.47 f) Ergänzendes Bewertungskriterium: Rechtsfolgenerwartung Darüber hinaus ist das Kriterium der Rechtsfolgenerwartung seit jeher a­ltersunabhängig bei Beurteilungsfragen zu bestehender Fluchtgefahr sehr wichtig. Die Höhe der prognostizierbar48 zu verhängenden Sanktion findet bei der Abwägung aller Indizien trotz nicht geringer Bedenken verfassungsrechtlicher Art49 nach gefestigter Auffassung50 grundsätzlich Berücksichtigung. Eine hohe Straferwartung allein vermag die Fluchtgefahr zwar nicht zu begründen,51 durchaus aber in Kombination mit anderen Umständen.52 Je45  OLG

Köln, Beschl. v. 12.05.1995, Az.: 2 Ws 174/95. Hamm, StV 1999, 215 (216). 47  Lebenslagen und Einkommenssituation älterer Menschen, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, S. 42. 48  Hinsichtlich der Straferwartungsprognose sei von der Sicht des Haftrichters auszugehen, wobei der Erwartungshorizont des Beschuldigten einzubeziehen sei. Kritisch dazu Münchhalffen, StraFo 1999, 332 (334), die ausschließt, dass Haftrichter in der Lage seien, den Straferwartungshorizont des Beschuldigten zu beurteilen. 49  Nicht unerhebliche Kritik gegen die Berücksichtigung von Rechtsfolgenerwartungen bei Untersuchungshaftentscheidungen resultiert aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK: So berge jede konkretisierte Prognose über den Verfahrensausgang einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, nämlich eine Schuldantizipation, siehe dazu Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, § 112 Rn. 18a. 50  Vgl. Krauß, in: Graf, Strafprozessordnung, § 112 Rn. 27. 51  Vgl. OLG Karlsruhe, Besch. v. 26.06.2009, Az.: 2 Ws 229/09 – BeckRS 2009, 24254; OLG Brandenburg, StV 2002, 147; OLG Koblenz, StV 2004, 491; OLG Köln, StV 1997, 642; OLG Hamburg, NStZ 2004, 77. 52  Paeffgen, in: SK-StPO, Band II, § 112 Rn. 25 mit Verweis auf KG, NJW 1965, 1390, sowie OLG Frankfurt, NJW 1965, 1342. 46  OLG

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Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

doch verringern sich die Anforderungen an die zusätzlichen Umstände, desto höher die Straferwartung ausfällt.53 Bei der mutmaßlichen Höhe der drohenden Rechtsfolgenerwartung sei zudem stets von der sogenannten NettoStraferwartung54 auszugehen.55 Der Aspekt der drohenden Straferwartung, der bereits in Kapitel 2 mit strafzumessungsrechtlichem Fokus diskutiert wurde, ist für ältere Beschuldigte aus vergleichbaren Erwägungen auch untersuchungshaftrechtlich von besonderem Interesse: Ist wie festgestellt bereits eine besondere Beachtung der Eigenschaft „Alter“ unter materiell-strafzumessungsrechtlichen Aspekten geboten, so muss dies in der Konsequenz auch zu Folgeauswirkungen formell-rechtlicher Art führen. Daher ist auch auf der prozessualen Ebene die Bewertung des Fluchtverdachtsgrades entsprechend anzupassen und moderat zu würdigen. Ein wie vorbezeichnet materiell-rechtlich bedingter Durchgriff auf prozessuale Instrumentarien ist dem Strafverfahrensrecht auch in anderen Regelungsbereichen seit Längerem nicht (mehr) fremd. Seit einiger Zeit etabliert sich zunehmend die standardisierte Praxis einer zumindest faktischen Gewährung prozessualer Privilegien. Nicht selten wird allein aufgrund des höheren Lebensalters des Beschuldigten pauschal ein Strafrabatt gewährt. Dies ist insbesondere bei den Verfahrenseinstellungen aus Opportunitätsgründen nach den §§ 153, 153a StPO durch die jeweils sachbearbeitenden Staatsanwaltschaften zu beobachten.56 Dies kann einerseits die antizipierte Folge einer herabgesetzten Rechtsfolgenerwartung, jedoch nicht ausschließbar auch auf unzureichende Erfahrungswerte beim praktischen Umgang mit älteren Beschuldigten in der Strafrechtspflege zurückzuführen sein. Zwar kann diese Praxis der Verfahrenseinstellung an sich auch nicht vollends überzeugen, jedoch beweist dies einmal mehr die Existenz der (justiz-)praktischen Probleme im Umgang mit älteren Beschuldigten.

53  OLG Karlsruhe, NJW 1978, 333; Graf, in: KK-StPO, § 112 Rn. 19. Kritisch dazu Hilger, in: LR-StPO, Band 4, § 112 Rn. 39. 54  Für die Bemessung der faktisch zu erwartenden Strafhöhe sind zu erwartende Strafaussetzungen zur Bewährung (§ 56 StGB), Strafrestaussetzungen zur Bewährung (§ 57 StGB) sowie die Anrechnung von Zeiten in der Untersuchungshaft zu berücksichtigen (§ 51 StGB). 55  BVerfG, StV 2008, 421. 56  So auch Lachmund, in: Straffälligkeit älterer Menschen, S. 101.



B. Anordnungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft nach §§ 112 ff. StPO91

g) Zwischenbefund Bei der Beurteilung des Grades einer möglicherweise bestehenden Fluchtgefahr ergeben sich insbesondere dogmatische Korrektive für die gesundheitliche Verfassung und das Lebensalter der maßnahmenbetroffenen Person sowie für die daraus resultierende Rechtsfolgenerwartung, um den Belangen eines Beschuldigten höheren Alters gerecht zu werden. Ihre Berücksichtigung erscheint indes auch dringend geboten, um andere klassische auf Fluchtgefahr hindeutende Kriterien, die ihren Ursprung allein in der objektiv begründeten Lebenssituation haben, in einem angemessenen Umfang konterkarieren zu können. 3. Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO: Verdunkelungsgefahr Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr liegt nach gefestigter Meinung57 vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde zur Beweisvereitelung die in § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO abschließend aufgeführten Handlungen vornehmen, um die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren. Auch wenn eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Modalitäten der Ziffern 3a bis 3c nicht abschließend getroffen werden muss,58 ergeben sich an dieser Stelle keine diskussionswürdigen Besonderheiten, die für den hiesigen Untersuchungsgegenstand zu berücksichtigen wären. 4. Haftgrund nach § 112 Abs. 3 StPO: Tatschwere a) Allgemeine Grundlagen Der Katalog der klassischen Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO findet eine Ergänzung um denjenigen der sog. Tatschwere in § 112 Abs. 3 StPO. Dem Haftgrund der Schwere der Tat kommt eine rechtstatsächlich nur geringe Bedeutung59 zu. In den dort benannten Fällen der Schwerkriminalität eröffnet § 112 Abs. 3 StPO zumindest seinem Wortlaut60 nach die Möglichkeit 57  OLG

Köln, StV 1997, 27; OLG München, NStZ 1996, 403 (404). in: Meyer-Goßner, StPO, § 112 Rn. 31. 59  Lediglich 1  % aller Haftbefehle ist auf den Haftgrund der Tatschwere nach § 112 Abs. 3 StPO gestützt, vgl. Jabel, Rechtswirklichkeit, S. 127, sowie Schöch, in: FS Lackner, S. 991 (S. 1007). 60  Dieser Interpretation ist jedoch das Bundesverfassungsgericht entgegengetreten. Demnach müssten in verfassungskonformer Auslegung konkrete Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne die Festnahme des Beschuldigten eine 58  Schmitt,

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Kap. 3: Problematiken bei der Anordnung von Untersuchungshaft

einer Inhaftierung allein aufgrund der Schwere der Tat und ihrer zu erwartenden Rechtsfolgen, ohne dass es weiterer Haftgründe bedürfe.61 b) Übertragbarkeit ins Altersstrafrecht Die altersklassenunabhängig ohnehin geringe praktische Bedeutung des Haftgrundes nach § 112 Abs. 3 StPO erfährt in der Altersgruppe der 60- bis über 80-jährigen Tatverdächtigen einen weiteren Bedeutungsverlust: Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2017 beträgt der relative Anteil der Tatverdächtigen im Alter von 60 Jahren und höher an der Gesamtzahl aller Tatverdächtigen lediglich 7,25 %62. Dabei dominieren in dieser Altersklasse als erfasste Straftaten im Wesentlichen einfache Körperverletzungsdelikte, Diebstahl und Betrug ohne erschwerende Umstände sowie Beleidigungsdelikte.63 Für ausgewählte Straftatgruppen ergibt sich folgendes Bild: In der Altersklasse der 60- bis unter 70-Jährigen liegt der Schwerpunkt mit 11,1 % bei Straftaten gegen die Umwelt sowie mit 10,9 % bei Veruntreuungen. In der Altersgruppe der 70- und 80-Jährigen dominieren zudem mit 5,0 % Straftaten der Brandstiftung und des Herbeiführens einer Brandgefahr.64 Im Bereich der über 80-Jährigen liegt die höchste relative Auffälligkeit bei Straftaten gegen das Sprengstoff-, das Waffen- und das Kriegswaffenkontrollgesetz mit 2,8 % vor.65 Festzuhalten ist, dass keines der in der Polizeilichen Kriminalstatistik besonders prominent vertretenen Delikte oder Deliktsgruppen eine Straftat mit besonderem Schweregehalt darstellt. Dies führt in der Folge dazu, dass in der baldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte, BVerfGE 19, 342 (350 f.). Ausreichend sei der zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Einzelfalls nicht auszuschließende Verdacht der Flucht oder Verdunkelung oder Wiederholung, siehe dazu auch Krauß, in: Graf, StPO, § 112 Rn. 40. 61  Sommer, Effektive Strafverteidigung, Kapitel 3 Rn. 705. 62  Errechnet aus der Gesamtzahl aller Straftaten (absolut: 2.112.715) geteilt durch die Summe der Straftaten der Altersgruppen 60