Theologie und Normen im Wandel: Zur Islamisierung altarabischer Rechtsnormen 9783839455661

Nicht alles, was wir als religiös sehen oder verstehen, hat tatsächlich religiöse Anfänge. So wurden altarabische Normen

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Theologie und Normen im Wandel: Zur Islamisierung altarabischer Rechtsnormen
 9783839455661

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Bemerkungen
Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale
Frauen in Recht und Gesellschaft zwischen zwei Kulturen
Der Islam
Von der Tribalität in die Islamität
Schlusswort
Literaturverzeichnis

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Ahmed M. F. Abd-Elsalam Theologie und Normen im Wandel

Globaler lokaler Islam

Ahmed M. F. Abd-Elsalam (Dr. phil.), geb. 1969, promovierte im Fach Islamwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg und lehrt seit 2012 Geschichte der islamischen Theologie und Normenlehre am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Forschungsgebiet ist Theologie im Wandel – Theologie des Wandels.

Ahmed M. F. Abd-Elsalam

Theologie und Normen im Wandel Zur Islamisierung altarabischer Rechtsnormen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5566-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5566-1 https://doi.org/10.14361/9783839455661 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ............................................................................ 9 Einleitung .......................................................................... 11 Bemerkungen ...................................................................... 15 Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale ...................................... 17 Die ǧ āhilīya: Recht, Raum und Zeit .................................................. 17 Quellen altarabischer Rechtsnormen und -praktiken ................................. 21 Grundlagen beduinischer Rechtskultur.............................................. 24 Das Ḥaqq-Konzept ................................................................ 25 Die ʿaṣabīya ........................................................................ 34 Ressourcen – Vom kollektiven zum privaten Recht .................................. 35 Merkmale tribalen Zusammenlebens ............................................... 40 Frauen in Recht und Gesellschaft zwischen zwei Kulturen ......................... 45 Rechtsstellung der Frau in tribalen Gesellschaften .................................. 45 Frauen-, Ehe- und Familienrecht..................................................... 61 Altarabische Eheformen ............................................................ 68 Der Islam Theologie des Wandels – Theologie im Wandel ......................................107 Der Islam als Theologie des Wandels................................................107 Interaktion des altarabischen mit dem islamischen Recht ........................... 111 Historische und kulturelle Umstände einer Interaktion .............................. 115 Die Mekka-Mission: Die normative Ermahnung ...................................... 121 Die missionarische Wende und der Strafe-Buße-Diskurs............................ 124 Das altarabische Konzept für Vergehen und Strafe ................................ 129

Von der Tribalität in die Islamität................................................. 133 Die konzeptionelle Wandlung: Von der Tribalität in die Islamität .................... 133 Das Diya-qaud-Konzept von der Tribalität in die Islamkonformität ................... 141 Das ʿĀqila-System und die Wandlung alter Solidaritätsstrukturen .................... 151 Die Adoption altarabischer tribaler ʿĀqila-Systeme ................................. 153 Die islamische Neustrukturierung der ʿāqila ........................................ 163 Schlusswort ...................................................................... 169 Summa Summarum ............................................................... 173 Literaturverzeichnis...............................................................175

»Nicht alles, was im Koran steht, ist zur Zeit seiner Offenbarung eine Erneuerung gewesen« Maḥmūd Šaltūt (1893-1963)   Maḥmūd Šaltūt (1893-1963) war der Großscheich der größten theologischen Institution des sunnitischen Islam, Al-Azhar (1958-1963) und ein anerkannter Reformer, welcher für eine Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten predigte und für die Versöhnung mit der Moderne kämpfte. Seine oben zitierte Aussage war und ist die Motivation für diese Studie. Seiner Seele widme ich dieses Buch.

Vorwort »Nicht alles, was im Koran steht, ist zur Zeit seiner Offenbarung eine Erneuerung gewesen«1 Maḥmūd Šaltūt (1893-1963)

Nicht alles, was wir religiös nennen oder als solches betrachten, hat tatsächlich religiöse Wurzeln und Züge. Bei der Entstehung der islamischen Normenlehre wurden alle Rechtshandlungen des Propheten Muḥammad und Verse des Koran als normativ berücksichtigt, unabhängig davon, in welchem Kontext sie handelten und welche Normen sie anwandten. Das islamische Recht weist seit seiner Entstehung säkulare Aspekte auf, die es prägten. Dieses Buch befasst sich mit einer sehr frühen Entwicklungsphase des Islam und des islamischen Rechts, in der die Grenzen zwischen altarabischen vorislamischen tribalen Normen und neu entstehenden islamischen religiösen Normen noch nicht klar definiert waren. Es ist eine Perspektive, die uns erlaubt, die säkularen rationalen Urfundamente islamischer Normen erneut zu erkennen und sie in diesem Kontext zu lesen. An dieser Stelle möchte ich mich herzlichst bei meiner lieben Frau Alja für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts und bei meinem Freund und Kollegen Abualwafa Muhammed in Wien für seine hilfreichen und kritischen Bemerkungen und Vorschläge bedanken.

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Šaltūt, ʿAqīda wa-šarīʿa, 386.

Einleitung

Der Islam kam, um zu reformieren und nicht, um zu abrogieren. Der Koran zeigte den Weg und die Sunna (normative Handlungen und Aussagen) des Propheten Muḥammad (570-633) verkörperte die praktische modellhafte Umsetzung der Reformidee des Islam, der grundlegende Änderungen des gesellschaftlichen Systems strukturell, politisch, ökonomisch und ethisch religiös intendierte. Die Reformidee begründete und startete einen langen Prozess der Transformation, der Islamisierung, die mit dem Ableben des Propheten begann. Der Islam war eine neue Religion, welche im Umfeld von Muḥammad nicht wirklich vollständig innovativ und revolutionär war. In Mekka, seiner Heimatstadt, kannten seine Zeitgenossen »Allah«, die Göttlichkeit, für welche Muḥammad warb, wie viele Koranverse berichten. Die edlen moralischen Prinzipien, für die er predigte, erkannten sie als solche ebenfalls an. In seiner strengen monotheistischen Lehre und seinen ethischen Lehren der Gleichheit und Freiwilligkeit sahen sie jedoch eine Gefahr für ihre Gesellschaftsstruktur der Tribalität und für ihr wirtschaftliches Leben. Dies galt mindestens für die Stadt Mekka und ihre damaligen Bewohner aus dem Stamm Quraiš, dem Muḥammad angehörte. Daher wanderte er aus Mekka im Jahre 622 in die Oasenstadt Yaṯrib aus, die später als Stadt des Propheten Medina genannt wurde. Die Gesellschaft in Yaṯrib war anders als in Mekka. Sie war heterogen und interreligiös. Juden, Christen, Heiden und neue Muslime lebten in Yaṯrib zu dieser Zeit zusammen. Dort gründete Muḥammad die erste muslimische Gemeinde, die Umma, und führte seine gesellschaftlichen und rechtlichen Reformen fort. Altarabische Normen und Werte sowie die mit ihnen verbundenen Mechanismen und Praktiken waren unmittelbare Objekte seiner Reformen. Einige von ihnen adoptierte er in den Islam, wie sie waren. Andere modifizierte er, um sie den Prinzipen des Islam anzupassen. Was er weder adoptierte noch modifizier-

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Theologie und Normen im Wandel

te, tolerierte er implizit bzw. ersetzte oder unterband er explizit.1 Dies war der frühste theologische und normative Wandel des Islam. Damit wurde eine Epoche der arabischen Geschichte beendet und eine neue Ära begann. Mit dem Ableben des Propheten Muḥammad begann eine neue Phase des Wandels, in dem alle Handlungen islamisiert und dadurch legitimiert werden sollten. Dabei waren die Handlungen und Aussagen des Propheten, insbesondere seine Rechtspraxis sowie auch seine stille Billigung eine Grundlage des Islamisierungsprozesses. Dass Muḥammad in seiner Funktion als Richter und die von ihm und seinen Nachfolgern eingesetzten Richter sich in Manchem an vorislamischen Normen und Praktiken orientierten, wurde kaum unter den Rechtsgelehrten debattiert. Des Weiteren entstand in der HadithTradition ein Phänomen der Polyfonie, welches das Erkennen der originalen Aussagen oder Handlungen des Propheten sehr erschwert. So begleitete ein unbeabsichtigter Verdunklungsprozess den Prozess der Islamisierung von Normen und Praktiken bis zur Entstehung der islamischen Normenlehre (fiqh) als eine theologische Disziplin, die sich mit der Sammlung, Kategorisierung und Systematisierung der Normen beschäftigt. Mit der Entstehung der Normenlehre wurden die altarabischen Elemente in den Islam vollends integriert. Trotz ihres säkularen Charakters und Hintergrunds wurden sie weiter bis zur Gegenwart als religiös betrachtet und beachtet. Es ist anzunehmen, dass solche altarabischen Elemente in den ersten Jahrhunderten des Islam im arabischen Raum nicht auffällig waren. Denn sie gehörten auch zu den dortigen tribalen Gewohnheitsrechten. In den eroberten Gebieten wie Ägypten und Iran hatte man ein anderes Verständnis für Recht und Gerechtigkeit. Eine gewisse Anpassung war daher erforderlich. Dadurch gewann das islamische Recht eine gewisse Dynamik und Pluralitätsakzeptanz. Viele Gelehrte wussten und wissen über solche Entwicklungen Bescheid. Jedoch wurden solche Dynamiken und Elemente selten von muslimischen Gelehrten angesprochen oder debattiert, um eine grundlegende Reform des Islam und des religiösen Diskurses starten zu können oder um den Islam zumindest in seiner historischen Entwicklung aus der gesellschaftlichen Perspektive zu verstehen. So bleibt die frühislamische Epoche weiterhin eine graue Zone. Denn nur islamische konventionelle historiographische Quellen berichten über die frühislamische Geschichte und vermitteln damit ein unkritisches Bild der

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Ibid.

Einleitung

Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Islam in seinen ersten Jahrzehnten. Die historische kritische Analyse differenter islamischer Narrative ermöglicht es aber, einige Aspekte dieser frühen Phase zu beleuchten. Die Entstehungsgeschichte des islamischen Rechts wurde von vielen Islamwissenschaftlern behandelt. Die jüngste Studie von Lena Salaymeh erschien 2016 unter dem Titel The Beginnings of Islamic Law: Late Antique Islamicate Legal Traditions. Salaymeh vertritt ebenfalls die These, dass das islamische Recht aus einer andauernden Kombination von Innovation und Tradition entstand. Sie stellt die eingebetteten Annahmen in der konventionellen islamischen Rechtshistoriographie in Frage, indem sie einen kritischen Ansatz für die Untersuchung der islamischen und jüdischen Rechtsgeschichte entwickelt. Anhand von Fallstudien untersucht sie, wie sich muslimische Rechtsgelehrte von nahöstlichen Rechtstraditionen beeinflussen ließen und sie zu islamischen Normen transformierten.2 Die Einflüsse der Spätantike auf das islamische Recht während der Formungsphase wurden auch von Wael B. Hallaq3 in mehreren Werken thematisiert. Ich bin darüber hinaus der Ansicht, dass die Einflüsse der altarabischen Rechtskultur nicht ausgeblendet werden dürfen. Denn, wie der Islam als eine Religion der Spätantike zu betrachten ist, ist er auch eine Religion, die innerhalb der altarabischen Tribalität entsprang. Dies beeinflusste vor allem die islamische Normensystematik, die ich hier in diesem Buch anhand dreier Rechtskonzepte untersuche: Stellung und Recht der Frau, Strafe-BußeDiskurs und Diya-qaud-Konzept. Das Buch teilt sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel werden die Merkmale altarabischer tribaler Rechtskultur dargestellt und ihre Einwirkung auf die Bildung von islamischen Normen und Rechtsverständnissen sowie Konzepten diskutiert. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Stellung der Frau, den Eheformen und dem Eherecht in Arabien zur Zeit der Offenbarung und wie der Islam damit umging. Das dritte Kapitel behandelt den theologischen Wandel mit der Entstehung des Islam in Mekka. Das vierte Kapitel fokussiert auf die konzeptionelle Wandlung von der Tribalität in die Islamität.

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Salaymeh, Lena. 2016. The Beginnings of Islamic Law: Late Antique Islamicate Legal Traditions. Cambridge: Cambridge University Press. Hallaq, Wael. 2009. Sharīʿa: Theory, Practice, Transformations. Cambridge: Cambridge University Press.

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Bemerkungen

In der vorliegenden Arbeit wird bezüglich der Transkription arabischsprachiger Begriffe auf die Transkription der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) zurückgegriffen. Hinsichtlich arabisch-islamischer Begriffe, welche bereits Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben und in den DUDEN aufgenommen wurden, wurde deren Schreibweise verwendet, wie etwa bei Koran, Sunna, Umma usw. Für das Zitieren von Koranversen in deutscher Sprache wurde die Übersetzung von Hartmut Bobzin, 2. bearbeitete Auflage des C. H. Beck Verlags, München 2017 verwendet. Im Text wird nicht weiter darauf hingewiesen. Angaben von Kapitel- und Versnummern des Koran entsprechen dem autorisierten Nachdruck der amtlichen Ausgabe, Kairo 1924. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird nur die männliche Pluralform verwendet. Jedoch sind beide Geschlechter damit stets gemeint.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

Die ǧ āhilīya: Recht, Raum und Zeit Die normativen Quellen beduinischer Rechtskultur in der Neuzeit sind, wie Untersuchungen zeigen, die Rechtstraditionen der altarabischen Stämme vor und zur Offenbarungszeit. Es sind somit die Rechtstraditionen jener Zeitepoche gemeint, die in der islamischen Literatur als ǧāhilīya bezeichnet wird. Der Terminus ǧāhilīya bedeutet Zustand der Unwissenheit bzw. des Unverstands oder des Heidentums. Muslime verurteilen mit dieser Bezeichnung pauschal alle Sitten, Bräuche und Rechtsregeln der vorislamischen Zeit, welche vom Islam getilgt werden sollten. Im Koran heißt es: Begehren sie denn den Schiedsspruch der ›Zeit der Unwissenheit‹? Wer kann denn wohl besser als Gott richten, für Menschen, die Gewissheit haben? (Koran 5:50). Die Mehrheit der Muslime vertritt eine theologische Sichtweise, wonach der Beginn der Offenbarung das Ende der ǧāhilīya bedeutete. Andere sind der Meinung, dass erst mit der Eroberung von Mekka durch den Propheten Muḥammad im Jahre 8 der hiǧra (ca. 630 n. Chr.) das Ende der ǧāhilīya als Epoche zu erkennen sei.1 Der Rechtshistoriker Aḥmad al-Baġdādī datiert das Ende dieser Epoche genauer mit ʿām al-wufūd (9 h./631), als Muḥammad den arabischen Stämmen, deren Angehörige weder Muslime geworden waren noch Abkommen mit ihm hatten, die Pilgerfahrt nach Mekka untersagte. Er gab ihnen eine viermonatige Frist, um ihre Rechtslage mit ihm zu klären.2 In diesem Kontext spricht der Koran:

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Qurṭubī, Tafsīr al- Qurṭubī, 8:5261-5262. Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 5-6.

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Theologie und Normen im Wandel

1 Eine Aufkündigung Seiten Gottes und seines Gesandten an jene Beigeseller, mit denen ihr einen Bund geschlossen hattet. 2 Zieht frei im Land umher, vier Monate! Doch wisst, dass ihr Gottes Tun nicht vereiteln könnt und dass Gott die Ungläubigen erniedrigen wird. 3 Eine Ansage von Gott und seinem Gesandten an die Menschen am Tag der großen Wallfahrt: Gott und sein Gesandter haben sich von den Beigesellern losgesagt. Kehrt ihr um, dann ist es gut für euch. Doch wendet ihr euch ab, dann wisst, dass ihr Gottes Tun nicht vereiteln könnt. Verkünde denen, die ungläubig sind, schmerzhafte Strafe! 4 Mit Ausnahme der Beigeseller, mit denen ihr einen Bund geschlossen habt, die euch gegenüber daran nichts geschmälert und niemanden gegen euch unterstützt haben. Erfüllt also ihnen gegenüber ihren Bund bis zu ihrer Frist. 5 Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren, das Gebet verrichten und die Armensteuer geben, dann lasst sie laufen! Siehe, Gott ist bereit zu vergeben, barmherzig. (Koran 9:1-5) Der Untergang dieser Epoche bedeutet nicht das Erlöschen ihrer Praktiken und Bräuche. Erstens tilgte der Islam nicht die gesamte vorislamische Rechtstradition, er übernahm viele vorislamische Rechtspraktiken, -normen und -mechanismen sowie ethische Werte und moralische Vorstellungen. Dieses altarabische Erbe findet sich nicht nur in der Sunna des Propheten (Aussagen, Handlungen und Billigung), sondern auch in zahlreichen Versen des Koran. Dazu schreibt der ehemalige Großscheich der Al-Azhar, Maḥmūd Šaltūt (1893-1963), in seinem Werk al-Islām ʿaqīda wa-šarīʿa, dass der Koran versuchte, durch Selektivität den Diskurs der altarabischen angewandten Normen zu steuern.3 Darüber hinaus überliefert der Hadith-Gelehrte Muslim anNaisāburī in seinem Ṣaḥīḥ-Werk, der Gesandte Gottes habe die Durchführung des altarabischen Qasāma-Rechtsverfahrens4 , wie sie in der ǧāhilīya praktiziert wurde, gebilligt.5 Zweitens deuten zahlreiche historische Gegebenheiten auf die Koexistenz zweier Normensysteme im Sinne von Rechtspluralismus unter den Muslimen

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Maḥmūd Šaltūt, al-Islām ʿaqīda wa-šarīʿa, 386. Dieses ist ein altes tribales rechtliches Verfahren, welches die Schuld/Unschuld einer Haftgruppe oder individuellen Person an einem Strafdelikt und damit ihre Verantwortung für die Folgen durch das Schwören eines Eides anerkennen lässt. Muslim, Ṣaḥīḥ, 3:295.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

in weiten Gebieten wie Arabien, Nordafrika und Zentralasien seit der Offenbarungszeit bis zur Gegenwart hin. Eines ist das durch die Offenbarung neu ausgebildete islamische Normensystem. Islamrechtliche Normen beinhalten individuelle und kollektive Rechte und Pflichten, welche unmittelbar im Koran und den Hadithen (die Überlieferungen über die Aussagen, Taten und Billigung des Propheten Muḥammad) zu erkennen sind. Solche Normen sind als Grundnormen des islamischen Rechtssystems zu verstehen. In der islamischen Normenlehre (fiqh) werden diese Normen als Grundlage für die Ableitung weiterer Normen durch Analogie (qiyās)6 und eigenständige Urteilsfindung (iǧtihād) angewendet. Die Rechtsgelehrten legten die methodologischen Verfahren für das Ableiten von Rechtsnormen fest und nannten diese Fachdisziplin ʿilm uṣūl al-fiqh, also die Wissenschaft der Rechtsgrundlagen bzw. der Methodologie der Normenlehre. Das zweite Normensystem basiert auf Bräuchen, Sitten und Traditionen, die mündlich von Generation zu Generation überliefert wurden und deren Geltung als Rechtsquellen im Sinne von Gewohnheitsrecht sich durch ihre kohärente Praxis und nicht durch die Autorität ihrer mündlichen oder schriftlichen Überlieferung begründet. Aufgrund des tradierten Charakters dieses Systems lassen sich seine Rechtsregeln und Rechtspraktiken als ʿurf, also als gewohnheitsrechtliche Normen und Praktiken interpretieren. Die Anwendung von ʿurf wird von allen islamischen Rechtsschulen befürwortet.7 Die Berücksichtigung von lokalen Normen wird ausdrücklich verlangt und als verbindlich angesehen. Andererseits wird im Sinne der maṣāliḥ mursala, also der allgemeinen gesellschaftlichen Interessen, ʿurf neu erzeugt bzw. reproduziert. Darüber hinaus wird ʿurf bei der Beilegung von lokalen und translokalen Konflikten durch Mediation und Schlichtung unter dem Begriff ṣulḥ,8 also »Versöhnung«, bevorzugt.9 Bedeutsam ist zudem, dass der Islam einige der vorislamischen Normen, Traditionen und Praktiken übernahm. Sie wurden damit Teil des ʿurf der

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Zu qiyās und ʿillat al-qiyās siehe Zarkašī, al-Baḥr al-muḥīṭ 7:5f. Futūḥī, Šarḥ al-kawkab, 599f. Zum ṣulḥ im Islam siehe Zailaʿī, Naṣb ar-rāya 4:112. Das Konzept der Bevorzugung von Versöhnungsmechanismen ist im Koran 49:10 belegt und damit islamisch legalisiert; vgl. Othman, »Amicable settlement«, 64f; Gerber, »Rigidity versus openness«, 165.

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Theologie und Normen im Wandel

frühmuslimischen Gemeinde und später zu einer der islamischen legalen Quellen der Normfindung.10 Die Adoption von vorislamischen Traditionen wird in der islamischen Rechtslehre sunna taqrīrīya (nachahmenswerte Handlung durch prophetische Billigung) genannt. Sunna taqrīrīya bedeutet schlicht und einfach, dass bestimmte Altpraktiken zu Lebzeiten des Propheten weiter praktiziert wurden, ohne dass sie von ihm verboten oder geächtet wurden.11 Laut den Überlieferungen soll der Prophet sich selbst in einigen Fällen am ʿurf orientiert haben.12 Daher betrachten die islamischen Rechtsgelehrten ʿurf und ʿāda entsprechend dem Rechtsprinzip al-ʿāda muḥakkima im Allgemeinen als normativ.13 Dadurch gewannen solche Praktiken an Rechtsstatus und wurden als ʿurf šarʿī (islamisch anerkannte gewohnheitsrechtliche Praktiken gemäß der Scharia) bezeichnet und in der Rechtspraxis als verbindlich angesehen. Andererseits dienen der Begriff ǧāhilīya und das von ihm abgeleitete Adjektiv ǧāhilī als Differenzierung zwischen dem, was vom Islam erneuert oder übernommen/islamisiert wurde, also šarʿī (legal) ist, und dem, was vom Islam oder den Muslimen moralisch als profan abgelehnt bzw. als nichtislamisch verurteilt und untersagt wurde.14 Der gegenwärtige islamistische Diskurs gebraucht den Begriff ǧāhilī auch im Sinne von »profan«. Somit entstand eine neue Dimension für den Gebrauch des Begriffes. Er ist historisch nicht mehr auf die Bezeichnung der vorislamischen Epoche auf der arabischen Halbinsel und auf deren Gebräuche beschränkt, sondern erhält eine übergreifende Bedeutung, unabhängig davon, ob sie von Nomaden oder Sesshaften praktiziert wurden. Ǧāhilīya bezeichnet nun alles, was die strengen Muslime als nicht islamisch bezeichnen oder definieren wollen.15 Die demagogische Belastung des Begriffes erfordert eine Distanzierung von ihm und seiner Verwendung. So erklärt Ṣāfūrī (2000) z.B., dass er mit ǧāhilīya lediglich die altarabische Zeit vor dem Islam meine. Jedoch bezwecke er nicht irgendeine Verurteilung dieser Zeitepoche.16 Maḥmūd Zanātī bezeichnet in seinen späteren Werken ab

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Futūḥī, Šarḥ al-kawkab, 600. Siehe Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya, Iʿlām al-muwaqqiʿīn 2:279; vgl. Futūḥī, Šarḥ al-kawkab, 599. Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya, Iʿlām al-muwaqqiʿīn 2:279; vgl. Futūḥī, Šarḥ al-kawkab, 600. Siehe Suyūṭī, al-Ašbāh wa-n-naẓāʾir, 89f. Ṣāfūrī, aš-Šarāʾiʿ as-sāmīya, 9-12; Cinar, Islamische Überlieferungsliteratur, 21f. Cinar, Islamische Überlieferungsliteratur, 21f. Ṣāfūrī, aš-Šarāʾiʿ as-sāmīya, 9-12.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

1992 diese Epoche bewusst als »vor dem Islam« oder »die altarabische Zeit«. Er vermeidet die Verwendung des Begriffes ǧāhilīya, obwohl er auf diesen zuvor in verschiedenen Artikeln seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sorglos zurückgriff.17

Quellen altarabischer Rechtsnormen und -praktiken Die vorhandenen Quellen über die Altaraber und ihre Rechtspraxis vor dem Islam bestehen vorwiegend aus verstreut vorkommenden Überlieferungen. Sie finden sich zumeist in Form von Anekdoten in Werken verschiedener Genres wie Geschichte, Koranexegese, Hadith, Lyrik, Prosa etc. Jedoch stammen diese Werke überwiegend aus der Zeit der Abbasiden. Sie reflektieren eher die Sichtweise der Muslime, die vorwiegend gegen die vorislamischen Traditionen und deren Praxis gerichtet war, als jene der Altaraber. Die Authentizität solcher Überlieferungen zur vorislamischen Zeit ist obendrein nur mit großen Anstrengungen und für Einzelfälle nachprüfbar. Dennoch verleiht ihnen ihre Wiederholung in voneinander unabhängigen Werken eine Form der Beständigkeit. Spätere Berichte verschiedener Augenzeugen und Reisender zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert zu den Sitten und Bräuchen südarabischer Stämme bekräftigen überdies die Glaubwürdigkeit der frühen Überlieferungen und weisen auf eine gewisse Kohärenz dieser altarabischen tribalen Sitten und Bräuche bis zur Gegenwart hin. Auf die Frage, ob die vorhandenen Überlieferungen ausreichend sind, um das Leben und das »Rechtssystem« der Altaraber zu rekonstruieren, gehen die Verfasser dreier beachtenswerter Arbeiten ein. Sie versuchen, anhand dieser Überlieferungen die altarabische Rechtspraxis bzw. einige relevante Aspekte des vorislamischen Rechts zu rekonstruieren. Die erste Arbeit, welche in diesem Kontext zu nennen ist, ist Georg Jacobs Buch Das Altarabische Beduinenleben aus dem Jahr 1897. Er bemüht sich in seinem Werk, unter Verwendung klassischer Quellen wie Gedichten vorislamischer Dichter (šiʿr ǧāhilī) und Mythen der Altaraber (aiyām al-ʿarab) ein allgemeines Bild vom Leben der altarabischen Beduinen zu zeichnen. Außerdem bedient er sich der zu seiner Zeit veröffentlichten Reiseberichte und Forschungsergebnisse, so auch der Werke von Burckhardt18 zu den Beduinen der arabischen Halbinsel und 17 18

Zanātī (1991-1994). Burckhardt, Johann Ludwig. 1831. Bemerkungen zu Beduinen und Wahaby. Weimar.

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Theologie und Normen im Wandel

von Lane19 zu den Sitten und Gebräuchen der Ägypter. Jacob widmet dem Recht der altarabischen Beduinen eine kurze Abhandlung.20 Darin verweist er darauf, dass er in anderen Kapiteln des Buches einige rechtliche Aspekte in Bezug auf Ehe, Krieg, Blutrache und Sklaven behandelt und dass er beabsichtige, in einer Neubearbeitung des Buches alles Rechtliche in einem Kapitel zusammenzufassen.21 Die zweite Arbeit stammt von Robertson Smith aus dem Jahr 1903 und ist unter dem Titel Kinship and Marriage in Early Arabia erschienen. Smiths Werk ist eine unerlässliche Quelle für Eherecht und tribale Organisationen unter den Altarabern, auch wenn einige seiner sozialanthropologischen Ansichten bei modernen arabischen Forschern auf Widerstand stoßen. Die dritte Arbeit ist Maḥmūd Zanātīs Nuẓum al-ʿarab qabl al-islām, herausgegeben in Kairo im Jahre 1992. Das Buch besteht aus mehreren Artikeln, welche zwischen 1960 und 1990 veröffentlicht wurden. Im Gegensatz zu Jacob konzentriert sich Zanātī lediglich auf einige bestimmte Aspekte des altarabischen Rechts. Er versucht, diese systematisch aus der Perspektive eines Rechtshistorikers zu rekonstruieren. Daher lassen sich seine Werke – trotz ihrer späteren Entstehung – als Pionierarbeit betrachten, insbesondere was den arabischsprachigen Raum anbelangt. Zanātī behandelt in seinem Buch acht verschiedene Rechtsaspekte: Vaterschaft, Ehe und Eheschließung sowie Scheidung, Geschäftsfähigkeit der Frauen (ahlīyat al-marʾa al-mālīya), Frauen-Erbrecht, Gast- und Asylrecht (al-ǧiwār), Ehrendelikte (ǧarāʾim al-ʿirḍ) und Rechtsverfahren. Neben den gerade erwähnten Rechtsaspekten befasst sich Zanātī mit mehreren sozialen Phänomenen, welche nicht direkt als Fragen des Rechts anzusehen sind. Jedoch helfen sie dabei, die Logik der altarabischen Rechtspraktiken und die kulturellen Hintergründe zu verstehen. Er widmet diesem Thema das neunte Kapitel seines Buches: »Bemerkungen zu einigen altarabischen Bräuchen«.22 Alle drei Werke zeigen auf, dass es möglich ist, haltbare Aussagen über Aspekte des altarabischen Lebens, z.B. das Recht, anhand der vorhandenen Überlieferungen zu erreichen. Die vorliegenden Überlieferungen bieten Einsicht in einige Aspekte des altarabischen Rechts, erlauben jedoch nicht die Rekonstruktion eines voll-

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Lane, Manners and customs of the modern Egyptians. Siehe Jacob, Beduinenleben, 209-221. Jacob, Beduinenleben, 211. Zanātī, Nuẓum, 241f.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

ständigen »Rechtssystems«. Allerdings weisen die bisherigen Forschungsergebnisse von Zanātī auf die Existenz von systematischen Merkmalen im praktizierten altarabischen Recht hin. Zanātī selbst, der Jurist und Rechtshistoriker ist, behandelt jeden Aspekt als ein System. So spricht er vom Erbrechtssystem, vom Gast- und Asylrechtssystem etc. Dahingegen spricht Jacob eher von Rechten und Rechtspraxis als von Recht im Sinne von Gesetz und Gerichtsbarkeit. So erklärt er: Obwohl es unter den Beduinen Arabiens keine die Gerichtsbarkeit ausübende Gewalt gab, sind wir doch berechtigt, nicht nur von Herkommen, sondern auch von Recht unter ihnen zu sprechen. Das moralische Empfinden war bei den Arabern ungleich höher entwickelt als die Rechtsbethätigung in der Praxis.23 Er schreibt auch: Natürlich gab es vom altarabischen Rechte keine Kodifikation, zu denen das hebräische schon mehr als ein Jahrtausend früher gelangt war. Während wir dieses somit fast nur aus der Theorie kennen, können wir jenes fast nur aus der Praxis (nach den Aḫbār al-ʿArab) erschließen. Allerdings dürfte die Hadith-Literatur kritisch verarbeitet noch die Rekonstruction manches arabischen Gewohnheitsrechtes gestatten.24 Jacob nennt Aḫbār al-ʿArab (Die Geschichten der Araber)25 und die HadithLiteratur als Informationsquellen für die altarabische Rechtspraxis. Aḫbār al-ʿArab ist allerdings in jedem literarischen Genre zu finden, sogar in der Hadith-Literatur und der Koranexegese. Die Unterscheidung von religiösen und literarischen Quellen darf aber nicht außer Acht gelassen werden. Als religiöse Quellen sind die Hadith-Literatur, die Koranexegese, die Anlässe der Offenbarung (asbāb an-nuzūl), die Literatur zur Wissenschaft des Abrogierenden und des Abrogierten (ʿilm an-nāsiḫ wa-l-mansūḫ) und natürlich die Fiqh-Bücher (fiqh: Normenlehre) einzuordnen. Die literarischen Quellen umfassen u.a. die sogenannten muʿallaqāt, die berühmten altarabischen Gedichte, Gedichtsammlungen der frühislamischen Zeit im Allgemeinen, literarische lexikalische Werke wie al-Aġānī von al-Iṣfahānī, al-Amālī von

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Jacob, Beduinenleben, 209. Ibid., 210-211. Wahrscheinlich meint er damit aiyām al-ʿarab, literarische Erzählungen über die wichtigen Ereignisse – besonders das Schlachten – unter den Arabern vor dem Islam.

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Theologie und Normen im Wandel

al-Qālī, al-ʿIqd al-farīd von Ibn ʿAbd-Rabbih, an-Naqāʾiḍ von Abū ʿUbaida, Sprichwörtersammlungen wie Maǧmaʿ al-amṯāl von al-Maidānī und Kitāb al-Amṯāl von as-Sadūsī, Geschichtswerke, darunter auch die Sīra-Literatur und die Lokalgeschichte wie Tārīḫ Makka sowie genealogische Werke wie Ǧamharat ansāb Quraiš von Ibn Bakkār. Die genannten Quellen sind die am meisten zitierten Quellen in den Werken der Rechtshistoriker Zanātī, Baġdādī und Ṣāfūrī, welche sich thematisch mit der Rekonstruktion des Rechts der Altaraber und der arabischen Stämme im Allgemeinen anhand arabischer Quellen beschäftigen. Sie nennen auch die Berichte europäischer Reisender der Antike und die archäologischen Funde von Südarabien, Oman und Mesopotamien sowie das Alte Testament als potenzielle Quellen. Das gleiche gilt auch für den Koran und die Hadithe, welche ebenso als potenzielle Quellen für Überlieferungen zum Leben und zur Rechtspraxis der Altaraber vor und zur Zeit der Offenbarung herangezogen werden können, allerdings aus muslimischer Sicht. Die Authentizität der relevanten Aussagen kann anhand der glaubwürdigen Berichte zum Leben und Recht der arabischen Stämme in der Neuzeit bestätigt werden.

Grundlagen beduinischer Rechtskultur Das konzeptuelle System und die Mechanismen des beduinischen Rechts, zu welchem die Rechtsnormen und -praktiken der altarabischen tribalen Gesellschaften vor dem Islam und zur Zeit der Offenbarung gehören, wurden in meinem Buch Das beduinische Rechtssystem: Konzepte – Modelle – Transformationen (2015) ausführlich behandelt. Darin wurde aufgezeigt, dass das beduinische Recht grundlegend bis Mitte des 20. Jahrhunderts dem Prinzip des subjektiven Rechts folgte, das innerhalb wechselnder Rechtsräume seine Geltung hatte und mittels tribaler struktureller Wechselwirkung seine Durchsetzungskraft gewann. Einer dieser Rechtsräume war der natürliche Rechtsraum. Er gewährte absolute und relative Rechte für die reinen Mitglieder einer Abstammungslinie (ṣuraḥāʾ). Absolute Rechte waren Grundrechte, die im Sinne des beduinischen Rechtsverständnisses als bevorzugte Rechte für freie kampffähige männliche Stammesmitglieder betrachtet wurden. Diese Rechte waren von der Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit [jeglicher Person] abhängig. Es ging dabei um das Recht auf die Unversehrtheit von Blut, Eigentum und Würde (addamm wa-l-māl wa-l-ʿirḍ). Relative Rechte waren Rechtsansprüche, welche

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durch die Verletzung bzw. die subjektive Wahrnehmung einer Verletzung eigener Grundrechte entstanden.26 Die Grundrechte waren eigentlich Naturrechte, über die alle Menschen verfügen sollten. Jedoch wurden nur kampffähige männliche ṣuraḥāʾ als rechtsfähig und handlungsfähig betrachtet, was die Grundrechte anderer als Stammesmitglieder Geborener (Frauen, Kinder, sehr alte Männer, Schwerbehinderte etc.) und vor allem der nicht als Stammesmitglieder Geborenen (Sklaven, Asylanten, Diener und andere Dienstleister wie Schmiede etc.) einschränkte. Mit den ethischen Prinzipien der neuentstehenden Religion – des Islam – im siebten Jahrhundert waren die Ungleichheit und Klassenhaftigkeit im altarabischen Rechtssystem nicht vereinbar. An dieser Stelle begann Muḥammad das Recht zu reformieren. Denn gemäß dem Islam sind alle Menschen gleich und haben ohne Einschränkungen Zugang zum Recht und zur Gerichtsbarkeit, und diese galten nicht wie zuvor als Privileg für männliche kampffähige reine Stammesmitglieder.

Das Ḥaqq-Konzept In der altarabischen Poesie sind viele Begriffe zu finden, die einige bedeutende Merkmale des altarabischen Rechtsverständnisses wiedergeben. Dazu gehören die Begriffe ḥaqq (Recht, Richtigkeit, rechtmäßig), birr (Pflichttreue), ʿadl (Gerechtigkeit, gerecht) und muqsiṭ (Gerechtigkeit ausübend). Jacob beschreibt diese als rechtlich-moralische Begriffe.27 Goldziher betrachtet sie als Tugenden und interpretiert sie im Sinne von Pflichterfüllung.28 Beide großen Orientalisten beschreiben damit die Rechtssubjektivität des altarabischen Rechts namens ḥaqq. Die Rechtssubjektivität zeigt sich ebenfalls bei den angewandten altarabischen Begriffen für Vergehen, wie ẓulm (Rechtsschädigung), ḏanb (Schuld) und ǧurm (Missachtung des Rechts anderer im Sinne eines Kapitaldeliktes), welche einen moralischen Defekt oder die Nicht-Erfüllung von Pflichten ausdrücken.29 Dieser Gebrauch des Begriffes ḥaqq wurde von den Beduinen im

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Abd-Elsalam, Das beduinische Rechtssystem, 168. Jacob, Beduinenleben, 209. Goldziher, Gesammelte Schriften IV, 470. Jacob, Beduinenleben, 209; Goldziher, Gesammelte Schriften IV, 470f.

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Kontext der Anwendung ihres Rechtssystems bis zur Gegenwart gepflegt und bewahrt.30 Im Rahmen der konzeptionellen Definierung von ḥaqq im Sinne von Recht bedeutet ein Vergehen nichts anderes als die Verletzung eines Rechts. Dieses besondere Verständnis für Recht und Vergehen prägte die altarabische Rechtspraxis, welche auf einem Konstrukt von mehrschichtigen Solidarund Haftgruppen basierte und dem Zusammenhalt des Stammesverbandes diente und dient, so Dostal und Baġdādī.31 Dadurch bildete sich eine markante Rechtskultur (alt)arabischer Stämme bzw. arabischer tribaler Gesellschaften. Goldziher erkennt die Existenz solcher Rechtskultur und beschreibt sie als uraltes Gewohnheitsgesetz: In dem Kreise, in dem diese Anschauungsweise einheimisch war, wurden Tugend (Pflichterfüllung) und Vergehen auf die mit dem Stammesverband zusammenhängenden Pflichten bezogen, die durch uraltes Gewohnheitsgesetz geheiligt waren.32 Die Verbreitung und Geltung bestimmter altarabischer Rechtspraktiken und Rechtsnormen regional und transregional bestätigen die Zugehörigkeit verschiedener tribaler Gemeinschaften zur selben Rechtskultur, und zwar in der Spätantike, der frühen Neuzeit und Neuzeit bis zur Gegenwart.33 Daher gelten das tribale Recht und seine Rechtspraktiken als identitätsstiftend für die Angehörigen tribaler Gesellschaften. Die gestiftete Identität gilt als eine Stammesverbandsidentität und gleichzeitig als Stammeskulturidentität. Die Stammesverbandsidentität gründet sich auf der Zugehörigkeit genealogischer Verbände und stiftet damit verschiedene tribale Identitäten als Mitglieder verschiedener Stämme. Die Stammeskulturidentität ist quasi die bis heute geltende arabisch-beduinische »kollektive Identität«, welche zur Zeit der Offenbarung im Sinne von aḥlāf (Bündnissen) und īlāf (Koalitionen) verstanden wurde und vom Propheten Muḥammad als Grundlage für die Bildung der muslimischen Gemeinde von Medina, genannt Umma, benutzt wurde, wie es in der sogenannten Verfassung von Medina geschildert ist. Im gegenwärtigen Kontext wird für diese kollektive Identität für die Bezeichnung von Beduinen im Allgemeinen die Bezeichnung ʿarab, badw oder

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Siehe Kressel, »Ḥaqq akhu manshad«, 17-31. Dostal, Egalität, 48 f; Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 30-31. Goldziher, Gesammelte Schriften IV, 470. Abd-Elsalam, Das beduinische Rechtssystem, 25-37.

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ʿašāʾir angewandt. Sie ist wesentlich innerhalb der tribalen Gesellschaften. Sie erzeugt ein soziales Netzwerk, in welchem die Angehörigen der verschiedenen stammesbezogenen Identitäten solidarisch verbunden werden. Dies sichert dem Stamm Zusammenhalt und den Stammesangehörigen Mobilität. Zudem garantiert es die Unversehrtheit von Individuen in den vertraglichen Rechtsräumen, also außerhalb der Territorien ihres Stammes. Denn der individuelle Beduine pendelte im Altertum genauso wie in der Moderne während seines gesamten Wanderlebens ständig zwischen seinem natürlichen Rechtsraum, dem Stamm seiner genealogischen Abstammung, und unterschiedlichen vertraglichen Rechtsräumen als Reisender, Gast, Gefangener, Alliierter, Schwager, Asylant, Dienstleister usw. Die Rechte dieses Beduinen variieren entsprechend. Gleichzeitig bleibt die Vorstellung der Beduinen von Recht/ḥaqq einheitlich und unveränderlich als individuelles subjektives Recht. In der Praxis erscheinen die individuellen Rechte eines Beduinen als individuell-subjektive Einschätzungen und Behauptungen, welche nur durch mediative Verhandlungen und richterliche Schlichtungen bestimmt bzw. bestätigt werden können.34 Bei den mediativen Verhandlungen wird über die Wahrhaftigkeit der behaupteten Rechtsverletzung sowie über das Maß der Verletzung und nicht über die Anerkennung oder Aberkennung von individuellen Rechten verhandelt. Dabei galten und gelten drei allgemein anerkannte Grundrechte: die Unversehrtheit des lebendigen Leibes (an-nafs/ad-damm), die Unversehrtheit des privaten Eigentums (al-māl) und die Unversehrtheit der Würde (al-ʿirḍ). Das Konzept der grundsätzlichen Unversehrtheit dieser drei Elemente wurde im Islam übernommen und adaptiert. Im Unterschied zum altarabischen Rechtsverständnis werden allen (muslimischen) Menschen diese Grundrechte zugesprochen. Im Ṣaḥīḥ al-Buḫārī wird folgender Hadith überliefert: ʿAbd ar-Raḥmān b. Abī Bakra berichtete von seinem Vater, wie er sich daran erinnerte, als der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, auf seinem Kamel saß, während ein anderer Mensch die Kamelzügel festhielt. Der Prophet fragte: Welcher Tag ist heute? Wir schwiegen, weil wir dachten, er würde dem Tag einen anderen Namen geben. Er sagte aber: Ist heute nicht der Tag des Opferfestes? Wir sagten: Doch! Dann sagte er: Welcher Monat ist dieser? Wir schwiegen, da wir dachten, er würde dem Monat einen anderen Namen

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Vgl. Kressel, »Ḥaqq akhu manshad«, 17-31.

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geben. Er sagte aber: Ist dieser nicht (der heilige Monat) Ḏū-al-Ḥiǧǧa? Wir sagten: Doch! Daraufhin sagte er: Wahrlich, euer Blut, eure Güter und eure Würde sind unter euch genauso heilig, wie es heute der Fall ist, an diesem eurem Tag, in diesem eurem Monat, in dieser eurer Ortschaft. Der Anwesende soll dem Abwesenden davon berichten, denn es mag sein, dass der Anwesende einem anderen berichtet, der dies mehr begreift als er selbst.35 Der Hadith bietet Raum für Interpretation; wen meint der Prophet? Nur Muslime? Oder alle Menschen? In einem anderen Hadith heißt es jedoch: Anas berichtete von dem Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, … und Maimūn b. Siyyāh fragte Anas b. Mālik, indem er sagte: »O Abū Ḥamza, wann wird die Verletzung des Bluts- und Eigentumsrechts eines Menschen verboten sein?« Anas antwortete: »Wer immer bezeugt, dass kein Gott da ist außer Allah, unsere Gebetsrichtung (qibla) einnimmt und betet, wie wir beten, und das Fleisch unserer Schlachttiere isst, der ist der Muslim: Ihm stehen alle Rechte eines Muslims zu, und ihm werden alle Pflichten auferlegt, die jedem Muslim auferlegt sind.36 Dieser Hadith überliefert eine spätere radikale Auslegung der Aussage des Propheten im ersten Hadith, welche die Grundrechte nur für die Muslime vorsieht. Beide Hadithe weisen dennoch darauf hin, dass das altarabische tribale Verständnis von natürlichen und vertraglichen Rechtsräumen durch die neu gegründete muslimische Gemeinde, die Umma, bei der Adoption der drei Rechtsgründe im Islam ersetzt wurde. Dabei ist zu beachten, dass die Umma als ein vertraglicher Rechtsraum in der Verfassung von Medina zu verstehen ist. Nach dem Ableben des Propheten und den Eroberungen erlebte der Islam eine Verschiebung mit der Erweiterung der islamischen Gemeinde, Umma, zu einer der Nation ähnlichen Körperschaft. Der entstandene Staat orientierte sich religiös und definierte die Bürgerschaftszugehörigkeit konfessionell. In diesem Kontext ist die radikale Ansicht im zweiten Hadith zu verstehen. Die Umma sollte aber nur für die Muslime der natürliche Rechtsraum sein, für alle anderen galt sie folglich als vertraglicher Rechtsraum. Der bisherige Verband der Genealogie mit seinem natürlichen Rechtsraum wurde damit islamisch rechtlich und theologisch aberkannt und nur im Kontext vom Gewohnheitsrecht behandelt und als solches im Hintergrund toleriert. Dadurch entstand

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Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:4. Ibid., 8:13.

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jedoch eine Rechtspluralität, welche eine Kohärenz und Kontinuität bis in die Gegenwart aufweist. Mit dem Ersetzen des altarabischen Rechtsraums durch die Umma wurde es erforderlich und gleichzeitig ermöglicht, die Rechtssubjektivität des Ḥaqq-Prinzips zu beenden. Die göttlichen Normen der Scharia sollten anstelle dessen im Rahmen eines langfristigen Islamisierungsprozesses etabliert werden. So spricht Gott im Koran: Wer nicht danach richtet, was Gott herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen. (Koran 5:44) Bei diesem Vers ging es um einen Rechtsstreit zwischen zwei jüdischen Stämmen in Medina, welche den Propheten Muḥammad aufgefordert hatten, zwischen ihnen zu schlichten. Es handelte sich dabei um ein Tötungsdelikt. Das Opfer war aus dem Stamm Banū an-Naḍīr, der Täter gehörte zu den Banū Quraiẓa. Die Banū an-Naḍīr verlangten die zweifache Entschädigung (diya) für ihr Opfer, wie es in Medina vor der Auswanderung von Muḥammad von Mekka nach Medina im Jahre 622 üblich war. Die Banū an-Naḍīr genossen einen besonderen Status in Medina vor dem Islam. Die Banū Quraiẓa lehnten es jedoch ab, die zweifache diya zu bezahlen. Ihre Begründung war, dass die beiden Stämme eine gemeinsame Abstammung, Religion und Wohnstätte hatten, weshalb zwischen ihnen Gleichwertigkeit gelten sollte.37 Dieser Streit war der Anlass für die Verse 43-45 der fünften Sure (»der Tisch«): 43 Doch wie sollten sie dich zum Schiedsrichter machen, wo sie doch haben das Gesetz, das Gottes Urteilsspruch enthält, und sie sich dann, nach diesem, abwenden? Das sind keine Gläubigen. 44 Siehe, wir haben das Gesetz herabgesandt, worin Rechtleitung ist und Licht. Danach richteten die Propheten, die sich ergeben hatten, für die Juden; und die Rabbinen und die Schriftgelehrten nach dem, was ihnen von Gottes Buch zum Bewahren anvertraut wurde. Dafür waren sie Zeugen. So fürchtet nicht die Menschen, sondern fürchtet mich! Verkauft nicht meine Zeichen um einen geringen Preis! Wer nicht danach richtet, was Gott herabgesandt hat, das sind die Ungläubigen. Wir schrieben ihnen darin vor: 45 Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn und auch für Verletzungen Wiedervergeltung. Wenn jemand dafür Almosen gibt, so gilt das für ihn als Sühne. Wer

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Ibn Kaṯīr, Tafsīr, 3:107.

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nicht danach richtet, was Gott herabgesandt hat, das sind die Frevler. (Koran 5:43-45) Gleichheit war gefordert, und zwar von Muslimen und Juden. Dies pflegten Al-Ḥasan al-Baṣrī, Ibn Ǧarīr und aš-Šaʿbīy zu betonen, wenn sie die Verse 5:43-45 auslegten.38 Für den Islam und seine Normenlehre bedeutete dies das Hervorheben des Gleichheitsprinzips bei der Betrachtung und Umsetzung der Grundrechte, die seitdem maqāṣid aš-šarīʿa, also Maxime der islamischen Normenlehre heißen. Damit sollte sich der Islam theologisch gegen die altarabischen Rechtsnormen und Praktiken positionieren, die Ungleichheiten bei der Wahrnehmung und Einsetzung der Grundrechte hinnahmen.39 Gleichzeitig erlebten die Grundrechte selbst eine Wende. Sie wurden nicht mehr als Naturrecht betrachtet, sondern als religiös ethische Obligation – entsprechend der Forderung des Propheten Muḥammad während seiner Abschiedspredigt: »Wahrlich, euer Blut, eure Güter und eure Würde sind unter euch genauso heilig«40 . In der Praxis entwickelte sich die islamische Normenlehre jedoch anders. Die Rechtsgelehrten teilten die Rechtsräume in dār as-silm bzw. al-islām (Territorien des Friedens bzw. Islam) und dār al-ḥarb oder al-ʿahd (Territorien des Kriegs oder des Abkommens), wobei dār as-silm der natürliche Rechtsraum und dār al-ḥarb oder al-ʿahd der vertragliche Rechtsraum für die Muslime sein sollten. Für Nicht-Muslime in muslimischen Territorien galt dār al- islām als vertraglicher Raum, in dem sie als ḏimmī, d.h. als Schutzbefohlene oder einfach als unter Vertrag Stehende betrachtet wurden. Natürlich galt dies nur für Autochthone, ansonsten wurden sie als muʿāhid bezeichnet, wenn sie aus einem Land stammten, welches Friedensabkommen mit den Muslimen hatte. Die Parallelitäten der muslimischen Vorstellung von natürlichen und vertraglichen Rechtsräumen zu den altarabischen Rechtsräumen sind klar und deutlich. In der altarabischen Rechtspraxis verfügten nur die reinen freien männlichen Stammesmitglieder, ṣuraḥāʾ, über vollständige Rechtsfähigkeit und Rechtszugänglichkeit innerhalb ihrer Stammesterritorien bzw. ihres natürlichen Rechtsraums.41 Sklaven wurden als Eigentum betrachtet. Ihr Schicksal

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Ibn Kaṯīr, Tafsīr, 3:108; Ṭabarī, Tafsīr, 5:596-597. Vgl. Baġdādī,at-Taṭauwur al-qānūnī, 201-206. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:4. Baġdādī,at-Taṭauwur al-qānūnī, 201-206.

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hing von den Entscheidungen ihrer Halter ab. Sklaven besaßen keine persönlichen Rechte, außer jene, die ihnen vertraglich eingeräumt wurden.42 Dafür mussten ihre Halter für sie haften sowie im Fall der Verletzung ihrer natürlichen Grundrechte durch Fremde nach ihrem ḥaqq verlangen und wenn nötig dafür kämpfen. Das Gleiche galt auch für Gäste, Asylsuchende sowie allgemein für stammesexterne Schutzpersonen wie Ehefrauen, Adoptierte, mawālī und alle nicht genealogisch zum Stamm zugehörenden Personen (ḫulaṭāʾ). Ihre Rechte wurden erst nach Abschluss eines Vertrags wie Schutzabkommen mit Asylsuchenden (ǧiwār), inter- und transtribalen Bünden (ḥilf ), einer exogamen Ehe (nikāḥ) oder einer transtribalen Adoptionserklärung anerkannt.43 Die Unversehrtheit der Grundrechte aller genannten Kategorien wurde durch den Schutzgeber gewährt und geschützt. Im Falle ihrer Verletzung durch Dritte vertrat der Schutzgeber diese Rechte, klagte sie im Sinne des subjektiven Rechts ein und forderte Entschädigung. Andererseits genossen Frauen und Kinder innerhalb ihres natürlichen Rechtsraums, des Abstammungsstammes, den Schutz und die Gewährleistung ihrer Grundrechte und ihrer Unversehrtheit. Trotzdem waren ihre Rechtsfähigkeit und Handelsfähigkeit aufgrund ihrer Kampfunfähigkeit eingeschränkt. Ihr Vormund, genannt waliy al-amr oder waliy ad-damm, haftete mit seinem Haushalt (bait) gegenüber Dritten für sie und vertrat sie vor der Justiz. Diese Verhältnisse dauerten bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Kinder und Frauen hatten in den tribalen Gesellschaften einfach keinen Zugang zur Justiz. Der Vormund war der nächste männliche Blutsverwandte. Der Ehemann durfte weder als Vormund für seine Ehefrau auftreten noch für sie haften. Die Familie ihrer Abstammung haftete für sie. Sie war für sie die ʿuṣba. Die ʿuṣba als kleinste agierende Solidar- und Haftgruppe der Stammesstrukturen bestand in der Regel aus sehr engen Verwandten. Dann kamen die ʿāqila und die ḫamsa. Beide Solidar- und Haftgruppen bestanden aus Verwandten in mehreren Generationen. Die ʿuṣba und ʿāqila hafteten für alle Handlungen ihrer Mitglieder. Sie übernahmen eine Art kollektive Verantwortung für alle ihre Mitglieder und bewahrten damit die Stabilität des Stammes bei intratribalen und transtribalen Konflikten. Die kollektive Haftung und die Solidarität erwiesen sich als geeignete und einsichtsvolle Mechanismen für die Sicherung von individuellen Rechten einzelner Stammesmitglieder und die Wahrung des tribalen Zusammenhalts. Die Dynamik dieser beiden 42 43

Siehe ʿAlī, Tārīḫ al-ʿarab 5:486f. Ibid., 5:487f.

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Mechanismen wurde als ʿaṣabīya bezeichnet.44 Ibn Ḫaldūn sah in der ʿaṣabīya den Schlüssel zur Herrschaft und den Antrieb für die Unterstützung einer Person, Gruppe oder Partei bei ihrem Kampf um die Macht.45 An der ʿaṣabīya konnte die Macht und Autorität von Personen, Haushalten, Sippen und Stämmen innerhalb und außerhalb des beduinischen Lebens gemessen werden. Ein interessantes Beispiel für ʿaṣabīya erwähnt Maidānī in seinem Buch al-Amṯāl. Nufail, Großvater des Kalifen ʿUmar I., war der Schiedsrichter zwischen ʿAbd-al-Muṭṭalib, dem Großvater von Muḥammad und Ḥarb b. Umayya, dem Urgroßvater der Kalifen der Umayyaden-Dynastie, bei ihrer munāfara.46 Dies geschah wahrscheinlich vor der Geburt von Muḥammad. ʿAbd-al-Muṭṭalib erbte die Herrschaft über Mekka. Er hatte jedoch keine ʿaṣabīya. Er hatte nur wenige Kinder und war nicht so reich wie Ḥarb b. Umayya und seine Kinder. Ḥarb forderte ʿAbd-al-Muṭṭalib heraus und wollte der Herr des Stammes Quraiš werden. Nufail sollte als Schiedsrichter in einem Verfahren namens munāfara darüber entscheiden, welcher der beiden den höheren Rang hatte. Er entschied für ʿAbd-al-Muṭṭalib, obwohl dieser nicht über genug ʿaṣabīya verfügte. Später bekam ʿAbd-al-Muṭṭalib zehn Söhne, darunter ʿAbdullāh, der Vater von Muḥammad.47 Mit dem Islam und der Auswanderung Muḥammads nach Medina wurde klar, dass die Erhaltung der Stammesstrukturen und ihrer Zusammenhaltsmechanismen notwendig für die Verwaltung der entstehenden Gemeinde und bald auch der entstandenen Metropole war. Nur die Stammes-ʿAṣabīya sollte durch individuelle Integrität und Verantwortung gegenüber der Umma ersetzt werden. So berichtet Abū Dāwūd as-Sāǧistānī in seinem Sunan-Werk: Ǧubair b. Muṭʿim berichtete, dass der Gesandte Gottes, Gottes Segen und Frieden auf ihm, sagte: »Keiner von uns ist der, der für ʿaṣabīya aufruft; keiner von uns ist der, der aufgrund von ʿaṣabīya kämpft und keiner von uns ist der, der stirbt, wobei er an ʿaṣabīya glaubt.«48 Ibn Ḫaldūn ist aber der Meinung, der Islam sei nach dem Ableben des Propheten und der vier rechtgeleiteten Kalifen zu einer Art der Herrschaftslegi-

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Ibn Ḫaldūn, Muqaddima, 223-228. Ibid. Maidānī, Amṯāl 1:176. Ibid. Abū Dāwūd, Sunan, 4:332.

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timation und der ʿaṣabīya geworden, worauf er seine Herrschaftstheorie begründet.49 In der Abwesenheit eines Rechtspflege-Apparates in der tribalen Gesellschaft war die kollektive Haftung und Solidarität ein plausibler Zwangsmechanismus. Die Mitglieder eines Stammes waren in strukturierte Solidar- und Haftgruppen aufgegliedert. Sie hafteten gegenseitig füreinander und waren in ihrer Kollektivität für jede individuelle Handlung verantwortlich. Wie die Solidar- und Haftgruppen für das Vergehen ihrer Mitglieder zur Verantwortung gezogen werden konnten, waren sie auch für die Wiederherstellung verletzter Rechte ihrer Mitglieder verantwortlich gewesen, egal, ob das durch Mediation und Beanspruchung von Entschädigung oder durch Vergeltung möglich war. Dieser wechselseitige verantwortungsvolle Bezug der einzelnen Mitglieder der Solidar- und Haftgruppen zu den anderen Mitgliedern ihres Verbands und den anderen Solidar- und Haftgruppen ihres Stammes erweckte, stärkte und bewahrte den Geist des tribalen Zusammenhalts, also die ʿaṣabīya. Die Bereitschaft der Solidar- und Haftgruppen zum kollektiven Handeln, um die Unversehrtheit der Grundrechte individueller Stammesmitglieder auch mittels Gewalt zu gewähren, zu bewahren, zu verteidigen und im Falle ihrer Verletzung wiederherzustellen oder zu entschädigen, war das Rückgrat der altarabischen Rechtskultur und eine Festung für die gesamte beduinische Kultur und Gesellschaft. Dies nannten die Altaraber al-manʿati fī al-qaum, was etwa Schutz durch die Gemeinschaftlichkeit bedeutet. Aus der Dynamik kollektiver Handlungen entwickelte sich eine Art des gemeinschaftlichen bzw. öffentlichen Rechts im Sinne von Radcliffe-Browns »law of public delicts«.50 Bei der Verletzung der Rechte eines tribalen Verbands betrachtete seine Solidar- und Haftgruppe es als Verletzung ihrer gemeinschaftlichen Rechte. Sie hatten in diesem Fall den Anspruch, kollektiv zu handeln und die Männer und Allianzen des Stammesverbands oder sogar des gesamten Stammes zu mobilisieren.51 So wurde das ʿAṣabīya-Prinzip umgesetzt. Hierbei zeigt sich, dass ʿaṣabīya nicht nur Rettung und Schutz bedeutete, sondern immer auch mit der Gefahr der Eskalation behaftet war. Das Recht, eine Angelegenheit als privat oder öffentlich zu deklarieren, hatte jedoch ausschließlich die

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Ibn Ḫaldūn, Muqaddima, 260. Vgl. Radcliffe-Brown, Structure and function, 212f. Baġdādī, at-Taṭauwur al-Qānūnī, 92.

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betroffene Gruppe oder Person.52 So konnten Eskalationen und Gewalt in vielen Fällen verhindert und dem friedlichen Zusammenleben verschiedener Stämme und Gruppierungen eine Chance gegeben werden. Verständlich wird auch, weshalb Muḥammad und der Islam ʿaṣabīya als eine unheilvolle Tugend und ein gefährliches Prinzip ansahen. Dies wirft die Frage auf, wie die ʿaṣabīya in der Wirklichkeit funktionierte.

Die ʿaṣabīya Tribales Leben basiert auf gegenseitiger Solidarität innerhalb der Stammesgruppen und zwischen den verschiedenen Stammesgruppen. Ressourcen wie Wasser und Weiden müssen gemeinschaftlich verwaltet werden und möglichst für alle zugänglich bleiben, um Ressourcenkämpfe zu vermeiden und Überlebenschancen in den Wüsten und anderen Lebensräumen zu erhöhen. Die altarabische Solidarität fußte auf gemeinsamen, meist lokalen Interessen.53 Im tribalen Leben waren die Stammesstrukturen von den wirtschaftlichen Aktivitäten und der Zahl der Stammesmitglieder abhängig. Der Haushalt bildete die kleinste tribale Einheit eines Stammes. Ein Haushalt bestand aus mehreren engverwandten Familien verschiedener Generationen, üblicherweise einem Vater und seinen unverheirateten Kindern sowie verheirateten Söhnen mit ihren Kindern. Sie mussten nicht unter einem Dach leben, verwalteten aber Eigentum und Reichtum kollektiv. Sie nahmen an den Aktivitäten des Stammes als eine Einheit teil. Sammelte der Stamm Gelder für die Grabung neuer Brunnen, so bezahlten sie nur einen Anteil. Verteilte der Stamm Gelder, so erhielten sie nur einen Anteil. Denn es wurde nach Haushalten eingeteilt und nicht nach Personen. Gruppen von Haushalten schlossen sich als eine Solidar- und Haftgruppe zusammen. Dies geschah gewöhnlich, jedoch nicht immer, entsprechend genealogischen Abstammungsstrukturen (nasab). Daneben war die Zugehörigkeit zu einem Haushalt, einer Solidar- und Haftgruppe oder einer ʿaṣabīya durch Adoption (tabannī), volle Integration bzw. vollintegrierende Adoption fremder Zusammengeschlossener (intisāb), die Verschwägerung (muṣāhara), die moralische Adoption (walāʾ) und die vertragliche Einigung (ḥilf ) mög-

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Abd-Elsalam, Das Beduinische Rechtssystem, 37-39. Siehe Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 127; ibid., at-Taṭauwur al-Qānūnī, 91-93 und 207.

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lich.54 Ella Landau-Tasseron bezeichnet diese Formen der Zugehörigkeit durch intisāb als »hosting alliances« und betrachtet es daher als eine Form des Alliierens (ḥilf ): It was small groups that were accepted as allies by larger, presumably stronger ones. More often than not, these smaller groups came to live with their allies, and also added the latter’s nisba to their own. I therefore call this kind of attachment »hosting alliances«, the smaller groups that joined larger ones »guest allies«, and the absorbing groups »host allies«.55 Dessen ungeachtet war meiner Ansicht nach der intisāb, ob als nisba (Übernahme einer dritten genealogischen Abstammung) oder idiʿāʾ (Behauptung einer genealogischen Zugehörigkeit), nichts anderes als eine Legitimationsstrategie für die Behauptung der Zugehörigkeit zu einer ʿaṣabīya und keine ʿuṣba.56 Die ʿuṣba bildete eine soziale, politische und wirtschaftliche Körperschaft. Die ʿaṣabīya war aber ein sozialer Mechanismus für den Zusammenhalt einer Interessengemeinschaft in Krisenzeiten. Sie trat nur temporär ein, und zwar in Phasen der Verwirklichung gemeinsamer Interessen der ʿAṣabīya-Allianz, wie die Sicherung des Zusammenhalts der Stammesgesellschaft oder die Förderung der Vorherrschaft eines Stammes lokal oder regional. Für den Stamm sollte das ʿAṣabīya-Prinzip immer intakt und jederzeit verfügbar für eine Mobilisierung bewahrt werden, und das auf allen strukturellen Ebenen des Stammes, vom Haushalt bis zur obersten Stammesebene (al-qabīla).

Ressourcen – Vom kollektiven zum privaten Recht Weidegebiete und Wasserquellen gehörten zum kollektiven Eigentum (mašāʿ) aller Stammesmitglieder innerhalb des Stammesterritoriums. Die Gewährung freien Zugangs zu und fairer Verteilung von Wasser, wenn dieses knapp war oder während des Wanderns verkörpert meiner Ansicht nach das Gleichberechtigungsprinzip der Altaraber. Al-Ǧāḥiẓ beschreibt, dass die Altbedui-

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Ibn Ḫaldūn, al-Muqaddima, 223-230; vgl. Conte, »Agnatic illusions«, 15ff. Landau-Tasseron, »Status of Allies«, 6f. Vgl. ibid., 12f.

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nen ihren Führern in Bezug auf Wasser und Weide kein Privileg einräumten.57 Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Altaraber, besonders in den Gebieten von Sesshaften, das Privateigentum von Land und Wasserquellen kannten. Privatgrundbesitz bezeichneten sie als ḥimā (Schutzgebiet/e). Mit dem gleichen Begriff bezeichneten die Altaraber auch das Stammesterritorium. Die Besitzer solcher ḥimā waren sowohl Privatpersonen als auch Gemeinschaften. Daher kann auch von einer individuellen Landnutzung unter den Altarabern gesprochen werden. Es handelte sich dabei meistens um Gärten, die in den Überlieferungen unter den Bezeichnungen ḥāʾiṭ und ḥadīqa angeführt werden. Yaʿqūbī erwähnt: ʿAbd-al-Muṭṭalib, der Großvater des Propheten, grub einen Wasserbrunnen in al-Ṭāʾif namens Ḏū-al-Harams58 , nachdem er in Mekka den Wasserbrunnen Zamzam gegraben hatte. Er besuchte ihn ab und zu und ließ sich daneben nieder. Eines Tages ging er hin. Da fand er, dass zwei Gruppen des Stammes Qais-ʿAilān, die Sippe von Kilāb und die Sippe von ar-Rabāb, sich an seinem Wasser niederließen. ʿAbd-al-Muṭṭalib sagte: es ist mein Wasser; ich habe das Recht darauf. Die Qaisīs sagten: es ist unser Wasser; wir haben das Recht darauf. Er sagte: ich fordere euch auf, mit mir zu dem Richter, den ihr auswählt, zu gehen. Sie nannten Saṭīḥ al-Ġassānī.59 Die Überlieferung erzählt, dass ʿAbd-al-Muṭṭalib eine Wasserquelle in at-Ṭāʾif außerhalb seiner Stadt Mekka und weit vom Territorium seines Stammes Quraiš besaß. Da ʿAbd-al-Muṭṭalib dort oft Tage verbrachte, ist es nicht auszuschließen, dass er über Grundbesitz oder Gartenland (ḥāʾiṭ/bustān) in dieser Gegend verfügte. Die Überlieferung erwähnt außerdem an einer anderen Stelle, dass ʿAbd-al-Muṭṭalib von zehn seiner Stammesgefährten zum Schiedsrichter begleitet wurde. Ob seine Begleiter als Zeugen fungieren sollten oder ob sie auch Teilhaber des Wasserbrunnens waren, verriet Yaʿqūbī nicht. Einige Hadithe weisen auch darauf hin, dass Wasserbrunnen im Privatbesitz oft sowohl für die private als auch für die allgemeine Nutzung dienten. ʿUṯmān b. ʿAffān erzählte:

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Ǧāḥiẓ, al-Buhalāʾ, 2:189-190. Auch als Ḏū-al-Hirm überliefert. Siehe Zanātī, Nuẓum, 218-219; vgl. Yaʿqūbī, Tārīḫ, 1:288-290.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

Der Gesandte Gottes, Segen und Friede auf ihm, sagte: Wer kauft den Brunnen Rūma60 , damit er seinen Schöpfeimer in ihn genauso hinablässt, wie die anderen Muslime es tun werden! Folgendermaßen kaufte ʿUṯmān diesen Brunnen.61 In dem Hadith fragte der Prophet, ob einer der Muslime den Brunnen namens Rūma unter der Bedingung kaufen könne, diesen Brunnen den Muslimen für die allgemeine Nutzung zu stiften. Der Kauf des Brunnens bedeutete, dass er bis dahin ein unzugänglicher Privatbesitz war. Ibn Hišām stellt in seinem Sīra-Werk eine Liste mit Namen von Wasserbrunnen auf, die es in Mekka vor der Grabung des Brunnens Zamzam gab. Er erwähnt ebenfalls die Namen ihrer Besitzer.62 So erzählt er zum Beispiel, dass ʿAbd-Šams b. ʿAbd-Manāf den Brunnen aṭ-Ṭuwā grub, welcher zur Zeit von Ibn Hišām dem Haus von Muḥammad b. Yūsuf at-Ṯaqafī angehörte. Hāšim, der Bruder ʿAbd-Šams, grub auch zwei Brunnen, Badar und Saǧla. Hāšim stellte Badar als gemeinnützigen Brunnen zur Verfügung. Saǧla kam später in den Besitz des Hauses Banū Naufal b. ʿAbd-Manāf. Umayya b. ʿAbd-Šams grub aber auch für seinen eigenen Bedarf einen Brunnen. Die Nutzung der Brunnen der Banū Asad und Banū ʿAbd-ad-Dār war auf die Angehörigen ihrer Haushalte beschränkt. Banū Ǧamʿ gruben auch einen Brunnen namens asSunbula, welchen sie den Pilgern zur Verfügung stellten.63 Dieser Brunnen wurde zur Zeit von Ibn Hišām zum Privatbesitz von Ḫalaf b. Wahb. Dass der Besitz von Brunnen nicht vom eigenen Landbesitz abhängig war, erläutert eine andere Überlieferung aus dem Ṣaḥīḥ al-Buḫārī: Al-Ašʿaṯ erzählte, dass er einen Brunnen im Lande des Sohnes seines Onkels besaß: (Kānat lī biʾrun fī arḍi ibni ʿammin lī). Jedoch leugnete sein Vetter alAšʿaṯs die Rechte hierauf zu haben und fragte ihn, ob er Zeugen für seine Behauptung hätte. So zogen sie vor den Propheten. Der Prophet verlangte von ihm, einen Eid für seine Behauptung abzulegen. Beide legten einen Eid ab.64 Entsprechend dem Hadith besaß al-Ašʿaṯ den Brunnen, jedoch nicht das Grundstück, auf dem er ihn grub. Da derjenige, der einen Brunnen grub, 60 61 62 63 64

Ein Brunnen in Medina. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:109 Siehe Ibn Hišām, Sīra, 1:91-93. Vgl. Yāqūt, Muʿǧam al-buldān, 3:261. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:110.

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diesen auch besaß, erhielt er aber das Recht auf eine Nutzungsreichweite um den Brunnen herum. Abū-Ḥanīfa, der Gründer der ḥanafītischen Rechtsschule, sprach später den Brunneninhabern einen Radius von 50 Ellen als Nutzungsfläche pro Brunnen zu.65 Diese Nutzungsfläche wurde als ḥaram (Heiligtum) bezeichnet und soll als ḥimā (Schutzgebiet) betrachtet worden sein.66 Im islamischen Recht wird diese aber unter arfāq (jur. mod. arab. irtifāq, deutsch: Grunddienstbarkeit) behandelt. Arfāq bezieht sich grundsätzlich auf die Nutzbarkeit des Grundbesitzes anderer Personen oder öffentlicher Institutionen, z.B. als Zugang zum Privatbesitz des Nutzers, ohne ihm die zum Nutzen angerechnete Grundfläche zuzueignen.67 Folglich kann also das Recht des arfāq nicht dem Recht des ḥimā gleichgestellt werden. Die ḥimā waren für die Altaraber genauso wichtig wie Heiligtümer. In einem Hadith des Propheten heißt es: Jeder König hat sein ḥimā und das ḥimā Gottes sind seine Heiligtümer (maḥārim: wörtlich: was von ihm verboten ist).68 Mehrere Überlieferungen erzählen, wie Kulaib Wāʾil, der berühmte Führer des Stammes Taġlib, mehrere Weidegebiete zu Schutzgebieten erklärte, indem er einen Hund auf einen Hügel stellte und ihn zum Bellen brachte. Das gesamte Land, in dem das Bellen des Hundes zu hören war, wurde so zum deklarierten Schutzgebiet.69 Das übertriebene Bestreben, weite Weidegebiete als ḥimā zu erklären, führte zu mehreren Kriegen. Schutzgebiete waren meistens Täler, die von den Stammesführern als solche deklariert wurden, oder unkultivierte Gebiete (al-arḍ al-mawāt), welche mit der Absicht, sie zu kultivieren, zum Privatgrundbesitz erklärt wurden. Daher waren sie nicht für alle Stammesmitglieder zugänglich. Ein Schutzgebiet hatte seine bekannten Grenzen. Diese wurden durch das Bellen eines Hundes, den Schuss eines Pfeils oder den freien Lauf eines Pferdes festgelegt.70 Diese Grenzen sollten in aller Öffentlichkeit bekanntgegeben werden, denn die Missachtung dieser wurde in der Regel nicht toleriert. Es gibt jedoch Gründe anzunehmen, dass mit ḥimā eigentlich ein kollektiver größerer

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Abū Yūsuf, al-Ḫarāǧ, 64. Siehe Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 43. Vgl. Māwardī, al-Aḥkām, 181f. Muslim, Ṣaḥīḥ, 3:219. Ǧawād ʿAlī betrachtet dieses Verfahren als Mythos; siehe ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:269. Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 37; vgl. ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:268-269.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

Landbesitz gemeint war. In dem zuvor angeführten Hadith wird behauptet, dass jeder König ein ḥimā besitzt. Also stellt der Hadith eine Beziehung zwischen dem Besitz von ḥimā und der führenden Rolle eines Königs her. Die Altaraber haben unter einem König den autoritativen Führer einer Stammeskonföderation verstanden.71 Daraus kann meines Erachtens geschlossen werden, dass das ḥimā eines Königs in diesem historischen Kontext eine Form des gemeinschaftlichen Besitzes vor der Entstehung des »Staates« darstellte. Māwardī zufolge erklärte der Prophet die Senke von al-Baqīʿ72 bei Medina zum ḥimā für die Kampfpferde der Muslime.73 Buḫārī berichtet außerdem, dass der Prophet die Region Baqīʿ zum ḥimā erklärte, während der zweite Kalif ʿUmar d. I. die Gegend von as-Sarf und ar-Rabada zum ḥimā erklärte.74 Māwardī fügt hinzu, dass die ḥimā der beiden ersten Kalifen Abū Bakr und ʿUmar als Platz für die als Steuer eingezogenen Kamele (ibil aṣ-ṣadaqa) gedacht waren.75 Jedoch überliefert Buḫārī sich auf Ibn ʿAbbās berufend, dass aṣ-Ṣaʿb b. Ǧattām sagte, dass der Gesandte Gottes sprach: »Es gibt kein ḥimā außer dem ḥimā Gottes und seines Gesandten.«76 Diese Überlieferungen sprechen dafür, dass das ḥimā bis zu dieser Zeit als gemeinschaftlicher Besitz betrachtet wurde. Die Tilgung von ḥimā durch den Propheten bezieht sich auf die vor der Eroberung Mekkas deklarierten ḥimā, welche Stämmen und Stammesgruppen zur Verfügung standen. Das Recht auf die Gründung von neuen ḥimā blieb dennoch in der Praxis erhalten, wurde aber auf die Herrscher beschränkt. Der Prophet und seine Nachfolger gründeten neue ḥimā. Diese waren aber nicht mehr Gemeinbesitz von Stämmen oder Stammesgruppen, sondern bildeten quasistaatliche Institutionen im Rahmen der Neustrukturierung der Gesellschaft nach den islamischen Vorstellungen. Im Laufe der islamischen Geschichte wurde die altarabische Vorstellung von ḥimā durch iqṭāʿ, also Lehn, ersetzt.

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Siehe Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 93f. Die Senke von al-Baqīʿ, auch der Garten von al-Baqīʿ genannt, wurde später zum ersten islamischen Friedhof in Medina deklariert. Sie ist damit der älteste Friedhof im Islam. Viele Gefährten des Propheten wurden dort begraben. Der alte Friedhof wurde 1926 durch die Wahhabiten zerstört. Māwardī, Aḥkām, 189. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:113. Māwardī, Aḥkām, 189. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 3:113.

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Ǧawād ʿAlī unterscheidet zwischen zwei Ḥimā-Formen, welche beide auf Anbau- und Weidegebiete zu beziehen sind.77 Die erste Form von ḥimā waren langfristige fruchtbare Schutzgebiete, welche meistens von Königen und Stammesoberhäuptern in Anspruch genommen und manchmal als Privatbesitz betrachtet wurden. Zur zweiten Form gehörten Weidegebiete, die nur kurzfristig als geschützt betrachtet wurden, und zwar solange sie weidetauglich waren.78 Die Altaraber kannten noch eine weitere Form von ḥimā. Sie erklärten oft die Grabstätten ihrer legendären Führer dazu. Diese wurden bewacht und vor Schändung geschützt.79 Es war nicht erlaubt, ihre Umgebung zu durchqueren oder das Vieh dort weiden zu lassen. Einige stellten über dem Grab ein Zelt oder eine Kuppel auf. Manchmal wurden auch Säulen um das Grab gestellt, um sein Schutzgebiet festzulegen. Es wird überliefert, dass die Sippe von Banū ʿĀmir b. aṭ-Ṭufail um sein Grab Ehrenmale (nuṣb) aufstellte. Sie erklärten jedem Asylrecht, der sich an das Grab begab und Asyl suchte.80 Die Umgebung von Heiligenstätten, wie die Kaʿba in Mekka, verfügte ebenfalls über Ḥimā-Status und gewährleistete Asyl für die dort Eintretenden, egal, ob Mensch oder Tier.

Merkmale tribalen Zusammenlebens Die erste muslimische Gemeinde in Medina (ab 622) war eine heterogene Metropole ihrer Zeit. Muslime, Christen und Juden aus verschiedenen Stämmen und mit unterschiedlichen Migrationshintergründen lebten in Medina zusammen, in Mekka wahrscheinlich ebenso. Diese Lage änderte sich nach der Eroberung von Mekka im Jahre 630. Der Islam sollte in der gesamten Region politisch dominieren. Er war und ist kein Gegner der Heterogenität gewesen, sondern vertrat nur ein anderes Konzept der Integrität. Die altarabischen Ungleichheiten sollten abgeschafft werden. Denn nach der islamischen Vorstellung sind alle Menschen gleich, ebenso Mann und Frau. So ist im Koran in Sure 49 (»die Gemächer«), Vers 13 zu lesen:

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ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:268. Siehe ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:268. Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 38. Zanātī, Nuẓum, 127; ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 4:363.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

Ihr Menschen! Siehe, wir erschufen euch als Mann und Frau und machten euch zu Völkern und zu Stämmen, damit ihr einander kennenlernt. Siehe, der gilt bei Gott als edelster von euch, der Gott am meisten fürchtet. Siehe, Gott ist wissend, kundig. (Koran 49:13) Beim Lesen dieses Verses ist auch der Vers 4:1 zu berücksichtigen, um das Konzept der Gleichheit und Gleichwertigkeit zu verstehen: Ihr Menschen! Fürchtet euren Herrn, der euch aus einem Wesen schuf und der daraus sein Gegenüber schuf und der aus beiden viele Männer und Frauen entstehen ließ! Fürchtet Gott, in dessen Namen ihr einander bittet, und die Verwandten! Siehe, Gott gibt auf euch acht. (Koran 4:1) Obwohl das Konzept der Gleichheit aller Menschen im Koran belegt ist, haben die muslimischen Gelehrten die altarabische Vorstellung von zwei Rechtsräumen übernommen und islamisch modifiziert. An dieser Stelle ist es angebracht, die Situation der Ungleichheit und Rechtsklassenhaftigkeit unter den Altarabern und ihre Bezüge zu den strukturellen Anschließungsformen von Individuen und Gruppierungen an bereits existierende Stämme zu beleuchten. Die Rechtsklassenhaftigkeit des beduinischen bzw. altarabischen Rechtssystems steht im Gegensatz zum islamischen Gleichheitsgebot. Die Durchgängigkeit dieses Phänomens, welches von der islamischen Rechtsauffassung unberührt blieb, zeigt die Kohärenz der Rechtskultur der arabischen Stämme inklusive der Rechtspraktiken und Rechtstraditionen der Altaraber vor dem Islam und in der Neuzeit. Die Interaktion mit dem islamischen Rechtsverständnis ergibt sich daher, dass die altarabische klassenhafte Rechtsvorstellung Spuren im Koran und den Hadithen hinterließ. Daraus lässt sich schließen, dass sie bei der Gestaltung des islamischen Rechts eine wichtige Rolle als Gegenkonzept spielte. Die altarabische Stammesgesellschaft war kein geschlossener Verband einer Blutsverwandtschaft und nicht alle Stammesgenossen standen auf gleicher Augenhöhe. Sklaven, Schutzgenossen, mawālī, Alliierte und matrilineare Verwandtschaften lebten gemeinsam mit den sogenannten »wahren Söhnen des Stammes« (ṣuraḥāʾ). Als ṣuraḥāʾ galten ausschließlich die anerkannten Kinder freier Männer des Stammes von freien Frauen. Die anderen wurden oft als ḫulaṭāʾ (Fremde/Mischlinge) bezeichnet. Auch der Sohn eines freien Mannes und seiner Sklavin wurde nicht als einer der ṣuraḥāʾ angesehen, obwohl er nach der Anerkennung der Vaterschaft als freier Mann betrachtet werden sollte. Nicht einmal die Sklaven untereinander waren gleichwertig. Die

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Altaraber unterschieden zwischen ursprünglich freien und dann versklavten Personen (ʿabd mamlaka) und geborenen Sklaven (qinn).81 Die Nicht-Ṣuraḥāʾ waren verpflichtet, absolute Loyalität zu ihren Herren/Schutzgebern und zu ihren Stämmen zu wahren und ihre Dankbarkeit für deren Großzügigkeit zu beweisen. Sie zogen mit in die Kriege, ohne Anteil an der Beute zu beanspruchen. Währenddessen war die Achtung ihrer Grundrechte vom Willen ihres Schutzgebers abhängig. Er konnte jederzeit seinen Schutzschirm von ihnen nehmen.82 Die gleichberechtigten ṣuraḥāʾ eines Stammes hatten das Recht auf siyāda (eine herrschaftliche Rolle) innerhalb ihres Stammes.83 Jeder saiyid verwaltete die Angelegenheiten seiner Gruppe und vertrat ihr Interesse gegenüber den anderen Stammesgruppen innerhalb des Oberstamms bzw. der Konföderation. Daher war es nicht ausreichend, die Führungsstelle durch Erbschaft zu übertragen. Abgesehen von der unerlässlichen reinen Abstammung waren Charisma, Weisheit und ʿaṣabīya sowie Kampfesmut und Reichtum erforderlich.84 Saiyid zu sein lag in der Anerkennung und Zustimmung der Stammesmitglieder.85 Eine Ernennung kam selten vor und wenn, dann nur auf der Ebene des Oberstammes bzw. der Stammeskonföderation in den Städten wie u.a. in Medina. Mekka besaß in seiner uns bekannten Geschichte keine Form der Ernennung von Herrschern. Quṣay (ca. 400-480) und seine Söhne, quasi die Gründer des Stammes Quraiš, waren anerkannte Autoritäten in Mekka, jedoch keine Herrscher. Ein saiyid der Quraiš erhielt seine Anerkennung, indem ihm erlaubt wurde, an den Versammlungen der Stammesoberhäupter in Dār-an-Nadwa teilzunehmen. Wie es unter den Altbeduinen führende Personen gab, gab es auch Häuser, die nach mehr Ansehen und nach einer größeren Rolle innerhalb des Stammes strebten. Sie setzten sich durch Einfluss, Bündnisse und wenn nötig mit Hilfe von Gewalt durch. Einflussreiche Häuser hatten nicht unbedingt eine reine genealogische Abstammung im zugehörigen Stamm. Einige Personen wurden durch Adoption, Bruderschaft oder Walāʾ-Verhältnisse in einen

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ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 4:566. Vgl. Baġdādī, Taṭauwur as-sulṭa, 124f. Hier werden die Stadtstaaten und Fürstentümer von Süd- und Nordarabien außer Betracht gelassen, da ihre Machtverhältnisse anders strukturiert waren. ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 4:566, 5:201f. Ibid., 5:201f.

Altarabische Rechtskultur und ihre Merkmale

fremden Stamm so integriert, dass die später durch sie entstandenen Häuser vom Stamm voll adoptiert wurden. Sie trugen in einigen Fällen sogar den Namen des Stammes oder der Stammesgruppe, in den oder die bzw. von dem oder der sie integriert worden waren. Sie wurden dank ihrer Vielzahl und ihres Reichtums für ihren adoptierenden Stamm unentbehrlich. Sie gewannen Einfluss und Anerkennung. Diese Verhältnisse werden intisāb genannt, was bereits als vollintegrierende Adoption erwähnt wurde. Yaʿqūbī überliefert in seinem Tārīḫ einige Beispiele für solche Verhältnisse. So schreibt er: Aber was al-Ḥakam b. al-Haun b. Ḫuzaima betrifft. Er ging nach Jemen und ließ sich im Lande [des Stammes] Mudḥaǧ nieder. Dort bekam er [seine] Söhne und starb. Seine Söhne schlossen sich Ḥakam b. Saʿd al-ʿAšīra an.86 Er erwähnt auch, dass nur die Nachkommen von an-Naḍr b. Kināna als Quraiš zu bezeichnen waren. Jedoch wurden die Nachkommen von aṣ-Ṣalt b. an-Naḍr in den Stamm Ḫuzāʿa integriert.87 Nicht immer konnten sich die in einen fremden Stamm Integrierten mit ihrer aktuellen Zugehörigkeit abfinden, und zwar, wenn ihr Herkunftsstamm an Ruhm und Macht gewann, oder wenn sie ihre Stellung in ihrem AdoptivStamm nicht als befriedigend empfanden. Sie drückten in ihren Gedichten ihren Stolz auf ihre wahre Abstammung aus, wie Kuṯair b. ʿAbd-ar-Raḥmān b. aṣ-Ṣalt, welcher sich in einem Gedicht von seinem Adoptiv-Stamm Ḫuzāʿa distanzierte und sich zu dem Stamm der Quraiš bekannte, nachdem Quṣai b. Kilāb und seine Söhne die Macht über Mekka gewannen.88

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Yaʿqubī, Tārīḫ, 1:266. Ibid. Ibid.

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Rechtsstellung der Frau in tribalen Gesellschaften Die Meinung, die beduinische Gesellschaft basiere auf einem patrilinearen System, ist weit verbreitet. Der Grund dafür liegt vermutlich in den überlieferten Darstellungen von Genealogien in Form einer Väterkette. Solche Darstellungen entstanden jedoch im zweiten islamischen Jahrhundert.1 Sie vermitteln daher eine Vorstellung der Muslime entsprechend den sozialen und politischen Verhältnissen ihrer Zeit darüber, wie die Genealogie der altarabischen Stämme vor dem Islam gestaltet war.2 Viele der vorhandenen Genealogiedarstellungen verbergen politische Manipulationen einzelner Personen, Familien und politischer Gruppierungen. Andere entstanden im Schatten des Machtkampfes zwischen den süd- und nordarabischen Stämmen zur Zeit der Umayyaden-Dynastie.3 Viele der Genealogen ignorierten, dass mehrere Stämme weibliche Namen trugen. Manche rechtfertigten die Existenz solcher Namen mit der Behauptung, dass solche Namen mit weiblichen Endungen Attribute für das Wort qabīla seien, was arabisch für Stamm und feminin ist. Oder sie behaupteten, wenn ein Stammesvater zwei Söhne von zwei verschiedenen Frauen hatte und beide Söhne den gleichen Vornamen trugen, seien die Clans, welche von diesen gleichnamigen Söhnen abstammten, nach deren Müttern benannt worden, um zwischen den Nachkommen der beiden zu unterscheiden. Wilken (1884) berichtet:

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Siehe Smith, Kinship, 145f. Caskel, Bedeutung der Beduinen, 13f. Alʿaliy, Tārīḫ al-ʿarab, 167.

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Doch gibt es Beispiele, dass die Kinder nach dem Namen ihrer Mutter unterschieden werden. Nöldeke weist darauf hin, dass dies u.a. zuweilen wohl bei Fürsten geschah. Von grösserer Bedeutung ist die Thatsache, dass es Stämme gab, die nicht nach einem Stammvater, sondern nach einer Stammutter benannt waren. So u.a. war dies bei den Banu Chindif der Fall. Diese waren die Nachkommen von Iljas, dessen Frau Chindif hiess. »Alle Kinder von Iljas«, so lesen wir in Abulfeda’s vorislamitischer Geschichte, »sind aus der genannten Chindif entsprossen. Und nach ihr sind sie genannt, mit Übergehung ihres Vaters. Sie heissen Banu Chindif, während der Name Iljas nicht erwähnt wird. Auf dieselbe Weise waren die Banu Mozaina nicht nach ihrem Vater ʿAmr, sondern nach ihrer Mutter Mozaina genannt. Ein anderes Beispiel dieser Art finden wir in der Abhandlung von Al-Maqrizi über die in Egypten ansässigen arabischen Stamme. Unter diesen werden auch die Banu ʿAmr, die Nachkommen von ʿAmr b. Sinbis, erwähnt, die sich nach ihrer Stammmutter ʿOqda auch Banu ʿOqda nannten.4 Ein Beispiel aus der Moderne widerspricht solchen Theorien. In der libyschen Wüste wurden die Stämme der Awlād ʿAlī (die Söhne ʿAlī) in Awlād ʿAlī lAbyaḍ (die weißen Söhne) und Awlād ʿAlī l-Aḥmar (die roten Söhne) geteilt. Der Grund dafür wird durch eine Legende erklärt, welche besagt, dass beide ʿAlīs Halbbrüder des gleichen Vaters waren. Jedoch wurden beide Stämme ebenfalls als Awlād as-Saʿādī in den alten schriftlichen Quellen der dirba benannt. Dafür bieten die Stämme eine neue Erklärung an, die ebenfalls eine Legende ist. Demnach war Saʿda die Großmutter der Stämme Awlād ʿAlī lAbyaḍ, Awlād ʿAlī l-Aḥmar und as-Sanana. In der Genealogiedarstellung der Awlād ʿAlī as-Saʿādī verbindet Saʿda nicht nur die drei größten Konföderationen der libyschen Wüste Ägyptens, sondern die meisten Stämme der Banū Hilāl und Banū Salīm von Alexandria bis Tunis.5 Daher gehe ich davon aus, dass Saʿda eine fiktive Figur ist. Nach der legendären Geschichte von Banū Hilāl und Banū Salīm war Saʿda die Tochter des Königs Abū Zaid al-Hilālī Salāma, welche ad-Dīb Abū l-Lail, den Held der Banū Salīm, heiratete. Somit war Saʿda eine Integrationsfigur der Banū Hilāl im Einflussgebiet der Banū Salīm. Diese Geschichte lässt es erahnen, dass die weiblichen Bezeichnungen von Stammesnamen meist mehr auf eine Stammeskonföderation oder Verbrüde-

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Wilken, Das Matriarchat, 40. Vgl. Tāyib,al-Qabāʾil al-miṣrīya, 145f.

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rungsversuche zwischen benachbarten Stämmen als auf Spuren vergessener Matrilinearität hinweisen. Dennoch behält Zanātī Recht mit seiner Behauptung, dass viele Überlieferungen deutlich darauf hinwiesen, der ḫāl, der Onkel mütterlicherseits, habe in einigen altarabischen Stammesgesellschaften eine besondere Position eingenommen. Auch ist nicht auszuschließen, dass es unter bestimmten Stämmen im Erbrecht tatsächlich eine matrilineare Praxis gab. Der Bericht, dass Taʾbbaṭa Šarra für seinen getöteten ḫāl Rache übte und, wie er in einem Gedicht beschreibt, dass er seinen Onkel beerbte und der Sohn seiner Schwester ihn beerben werde, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass in seinem Stammesverband eine Form der Matrilinearität praktiziert wurde.6 Wilken schreibt: Unter dem Matriarchat geht die Nachlassenschaft nicht auf die männliche, sondern ausschliesslich auf die weibliche Linie über; Erben des Mannes sind nicht seine eigenen Kinder, sondern Schwesterkinder. Selbst da, wo dieses Verwandtschaftssystem nicht mehr vorkommt, sehen wir oft, als ein Überbleibsel davon, dass der Mann den Schwesterkindern vor seinen eigenen den Vorrang gibt.7 Ibn Bakkār berichtet ebenfalls, dass al-Ḥāriṯ b. Sufyān aṣ-Ṣāridī sich der Entrichtung der diya von eintausend Kamelen für den getöteten Sohn von an-Nuʿmān b. al-Munḏir, dessen Tod durch den Sohn der Schwester von al-Ḥāriṯ verursacht wurde, verpflichtete. Er berichtet auch, dass al-Ḥāriṯ, als er starb, an-Nuʿmān immer noch einhundert Kamele schuldig war. Diese wurden dann vom Halbbruder al-Ḥāriṯs, as-Saiyār b. ʿAmrū al-Fazārī, bei an-Nuʿmān beglichen.8 Zanātī zog aus diesem Bericht die Schlussfolgerung, dass al-Ḥāriṯ und sein Halbbruder zu einem matrilinear geprägten Stammesverband gehörten.

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Ṣafadī behauptet in seinem al-Wāfī bil-Wafiyāt, dass die gemeinten Verse von Ḫalaf al-Aḥmar erfunden waren und dass er sie dem vorislamischen Dichter Ṭaʾabbaṭa Šarran zuschrieb, wie er auch dem berühmten vorislamischen Dichter aš-Šanfara qaṣīdat Lāmīyat al-ʿArab zugeschrieben hatte. Allerdings weist auch dieses aš-Šanfara zugeschriebene Gedicht explizit auf matrilineare Verhältnisse hin. Wilken, Das Matriarchat, 42. Ibn Bakkār, Nasab Quraiš, 12.

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Auch die bekannten guten Verhältnisse der Mekkaner zu den Familien ihrer Mütter in Medina interpretiert Zanātī als Hinweise auf matrilineare Bezüge.9 Jedoch bieten diese Beispiele keine unumstrittenen Beweise für die Existenz matrilinearer Stammesstrukturen.10 Denn Taʾabbaṭa Šarran gehörte den hulaʿāʾ (Verstoßenen) an, welche von ihren Stämmen ausgestoßen wurden. Es ist möglich, dass er im Schutz seines Onkels und seiner Familie lebte und daher verpflichtet war, die Tötung seines Onkels zu rächen. Der Bericht von al-Ḥāriṯ b. Sufyān aṣ-Ṣāridī erzählt zwar, dass er sich verpflichtete, die diya für seinen Neffen zu übernehmen, allerdings verrät der Bericht nicht, wie al-Ḥāriṯ 900 Kamele zusammenbrachte. War es die Familie der Mutter der Mörder oder seine Vaterfamilie, die diese Kamele stellte? Zahlte der Halbbruder die übrigen 100 Kamele, damit die Ehre von al-Ḥāriṯ b. Sufyān aṣ-Ṣāridī bewahrt blieb? Es galt als eine große Ehre unter den Altarabern, zu den ašnāq11 zu gehören. Strebten beide Brüder danach, auf diese Weise soziales Ansehen zu gewinnen? War as-Saiyār b. ʿAmrū al-Fazārī womöglich moralisch dazu verpflichtet, das Werk seines Bruders zu vervollständigen, jedoch nicht für diese diya verantwortlich? In der Legende von Quṣai und seinem Kampf um die Macht über Mekka und die Heiligtümer bat Quṣai seinen Halbruder und seinen Stamm um Hilfe gegen Ḫuzāʿa und Banū Bakr. Dennoch gab es keinen Grund, zu behaupten, dass Quṣai einer matrilinearen Stammesgruppe angehörte. Es sind auch keine Berichte darüber bekannt, dass ein Mitglied der Banū Hāšim etwas von seiner mütterlichen Verwandtschaft in Medina erbte. Es ist wahrscheinlich, dass die Frau in einem matrilinearen System eine deutlich gehobene soziale Position innehatte. Die altarabische Gesellschaft war jedoch in ihren Stammesstrukturen patriarchalisch und nicht matriarchalisch aufgebaut, was nicht ausschließt, dass einige altarabische Stämme matriarchalische kulturelle Züge bewahrt haben. Dies zeigt sich deutlich bei den verschiedenen Formen der Ehe unter den altarabischen Stämmen. Leila Ahmed ist der Meinung:

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Zanātī, Nuẓum, 241f. Vgl. Alʿaliy, Tārīḫ al-ʿarab, 176. Als ašnāq wurden die Edelmütigen bezeichnet, welche sich freiwillig zur Entrichtung einer diya verpflichten, um große Racheaktionen zu verhindern. Es war nicht verbindlich, dass sie die verlangte diya aus ihrem Eigentum zahlen. Es reichte aus, dass sie die Aufgabe des Kollektors übernahmen; siehe ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:600.

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Neither the diversity of marriage practices in pre-Islamic Arabia nor the presence of matrilineal customs, including the association of children with the mother’s tribe, necessarily connotes women’s having greater power in society or greater access to economic resources. Nor do these practices correlate with an absence of misogyny; indeed, there is clear evidence to the contrary. The practice of infanticide, apparently confined to girls, suggests a belief that females were flawed, expendable. The Quranic verses condemning infanticide capture the shame and negativity that Jahilia Arabs associated with the sex.12 Die Rechts- und Geschäftsfähigkeit der altarabischen Frau vor dem Islam ist ebenfalls ein diskutables Thema. Denn es ist eine weitverbreitete Meinung unter den Muslimen, dass der Islam die Stellung der Frau rechtlich und gesellschaftlich verbesserte. Der Islam sprach ihr Rechts- und Geschäftsfähigkeit zu, die ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung und Rolle entsprachen. Die neue Position sollte der Frau eine gesellschaftliche Gleichstellung und die juristische Gleichberechtigung garantieren. Diese Vorstellung reflektiert die Bemühungen des Islam in seiner Entstehungsphase und den Willen des Propheten Muḥammad, die Rechte der Frau zu stärken, indem ihr uneingeschränkte Handlungsfähigkeit und Rechtsfähigkeit zugeschrieben wurde. Das frühislamische Konzept für die Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der Frau entwickelte sich nach dem Ableben des Propheten dichotom. Einerseits sprachen die Muslime dogmatisch von der Errettung der Frau durch den Islam und seine Lehren. Andererseits fixierte die Normenlehre die gesellschaftliche Rolle der Frau entsprechend einer stereo-typischen Rollenverteilung, welche mit dem islamischen Prinzip der Gleichheit und Gleichberechtigung nicht zu vereinbaren ist, sondern mehr an die vorislamischen Klassenhaftigkeit erinnert. Demgemäß sollte der Mann in der muslimischen Familie und Gesellschaft die Aufgaben des Hausherrn, des Versorgenden und Beschützers für seine Familie und Gesellschaft erfüllen, während die Frau die Aufgaben der Umsorgenden für ihren Mann, ihre Kinder und ihre Gesellschaft übernimmt. Wie bereits erwähnt, war die Rechts- und Geschäftsfähigkeit einer Person in der altarabischen Gesellschaft von ihrer Kampffähigkeit und ihrem Status als wahres freies Stammesmitglied bzw. ṣarīḥ abhängig. Daher war

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Ahmed, Women and Gender, 41f.

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eine »absolute« Rechts- und Geschäftsfähigkeit der altarabischen Frau theoretisch ausgeschlossen. Sie galten wie Kinder und alte, schwache Männer als nicht kampffähig und waren in ihrer Rechts- und Geschäftsfähigkeit eingeschränkt. Jedoch gibt es Berichte, die anderes erzählen, zum Beispiel, dass die altarabische Frau vor dem Islam über eigenes Kapital verfügte und dass sie in Bezug auf ihr Eigentum geschäftsfähig war.13 Aufgrund solcher Berichte entwickelten Smith und Zanātī zwei Thesen. Zanātī ist der Meinung, dass die altarabische Frau mit ihrer Volljährigkeit geschäftsfähig wurde.14 Das Volljährigkeitsalter für beide Geschlechter, so seine Meinung, wurde mit dem Beginn der Geschlechtsreife erreicht.15 Dazu zitiert Zanātī folgende Überlieferungen: dass Ġanīya bint ʿAfīf, die Mutter von Ḥātim aṭ-Ṭāʾī, reich und freigebig war und dass sie nicht davon abzuhalten war, ihr Eigentum an Fremde zu spenden. So entschieden ihre Brüder, sie zu entmündigen. Sie bekam keinen Zugang mehr zu ihrem Eigentum.16 Er zitiert auch, dass die Frau von Ḥātim aṭ-Ṭāʾī ihn für seine hemmungslose Großzügigkeit tadelte. Da erwiderte ihr Mann: Lass mich und mein Eigentum in Frieden! Dein Besitz ist reichlich […] und jeder Mensch pflegt sich zu benehmen, wie er daran gewöhnt ist.17 Ein drittes Zitat erwähnt, dass Saffāna, die Tochter von Ḥātim aṭ-Ṭāʾī, auch verschwenderisch freigebig war. Sobald sie von ihrem Vater etwas erhielt, gab sie es sofort großzügig aus. So sagte ihr Vater zu ihr: Wenn zwei Personen den gleichen freigebigen Charakter besitzen und über denselben Besitz handhaben, kommt ihr Reichtum zu Schaden. Er sprach: Entweder gebe ich und du hältst dich zurück! Oder halte ich mich davon ab, so dass du gibst! Sie antwortete: Bei Allah werde ich mich niemals davon abhalten! Ihr Vater sagte: Und bei Allah werde ich mich niemals davon abhalten. Sie erwiderte ihm: Dann bleiben wir

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Siehe Zanātī, Nuẓum, 65 f; vgl. Smith, Kinship, 115f. Siehe Zanātī, Nuẓum, 65f. Ibid., 70. Ibid., 65-66; Iṣfahānī, Aġānī, 16:189. Zanātī, Nuẓum, 66.

Frauen in Recht und Gesellschaft zwischen zwei Kulturen

beide nicht am gleichen Ort. Die Überlieferung erklärt, dass er sein Hab mit ihr teilte und dass sie seitdem weit voneinander lebten.18 Die drei von Zanātī zitierten Berichte haben fiktiven Charakter. Alle drei Frauen aus den genannten Überlieferungen hatten Bezug zum legendären großzügigen Stammesführer des Stammes Ṭaiʾ, Ḥātim aṭ-Ṭāʾī. Die Namen der Mutter und der Tochter haben metaphorische Bedeutungen, welche auf ihre Eigenschaften anspielen. Die Mutter hieß Ġanīya, was »reiche Frau« bedeutet und die Tochter trug den beispiellosen Namen Saffāna, er bedeutet so viel wie »diejenige, die die Wogen glättet«. Abgesehen von ihrem fiktiven Charakter weisen die drei Berichte darauf hin, dass Frauen – aus dem Stamm Ṭaiʾ – über eigenes Kapital verfügten und dass sie davon großzügig gespendet haben. Über ihr Alter und ob sie verheiratet, geschieden oder verwitwet waren, liefern die Berichte keine deutlichen Aussagen, außer im Falle des zweiten Berichts, der Frau von Ḥātim aṭ-Ṭāʾī. Der erste und der dritte Bericht stellen die Geschäftsfähigkeit der Frau nicht in Frage, sie kritisieren jedoch ihren Umgang mit Eigentum. Prinzipiell weisen die drei Berichte darauf hin, dass Frauen Recht auf Eigentum hatten. Gleichzeitig zeigen zwei der drei Berichte, dass die männlichen Verwandten der Frau in der Lage waren, die Rechte der Frau über ihr Eigentum einzuschränken bzw. zu entziehen. Für Enteignung sind mir bisher keine Beispiele bekannt. Robertson Smith äußerte sich ebenfalls zu den Berichten über das Eigentum der Frauen aus dem Stamm Taiʾ. Er erwähnt zusätzlich die Berichte über Māwīya, mit der sich Ḥātim aṭ-Ṭāʾī in ihrem Zelt verheiratete und die, den Darstellungen nach, eine sehr reiche Frau war.19 Er zitiert ebenfalls aus al-Aġānī, dass Zaid-al-Ḫail aus dem gleichen Stamm Taiʿ zur Lebzeit seines Vaters al-Muhalhil die Viehherde seiner Schwester betreute.20 Smith wirft die Frage auf, ob das Recht auf Eigentum für Frauen von einem matrilinearen Verwandtschaftssystem abhängig gewesen sein könne, oder ob die Verbreitung des Christentums unter den Stammesmitgliedern eine Rolle bei der Entwicklung des Eigentumsrechts der Frau spielte.21 Er vergleicht die Frau aus dem Stamm Ṭaiʾ mit der Frau in Medina, wo diese selbst als Eigentum ihres Mannes betrachtet wurde.

18 19 20 21

Ibid., 70; Iṣfahānī, Aġānī, 16:190. Smith, Kinship, 116. Ibid., Iṣfahānī, Aġānī, 15:51. Smith, Kinship, 116.

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Smith schreibt über Medina: »marriage by purchase and male kinship were the rule«.22 So lag das Schicksal einer Witwe in den Händen der männlichen Erben ihres Mannes.23 Wenn eine Frau als vererbbares Kapital behandelt wurde, ist es unwahrscheinlich, dass sie als geschäftsfähig betrachtet wurde oder dass sie reales Eigentum besaß. Mit seinem Vergleich zwischen der Frau in Medina und im Stamm Ṭaiʾ stellt Smith die These vor, dass die Rechts- und Geschäftsfähigkeit einer altarabischen Frau vom Abstammungs- und Erbsystem innerhalb ihres Stammes abhängig war. Smith autorisiert diese Vorstellung durch eine Aussage des Korankommentators Qurṭubī zum Vers 4:22: 22 Heiratet nicht Frauen, die euer Vater geheiratet hat, abgesehen von dem, was schon geschehen ist. Das ist Schandtat und Abscheulichkeit, ein schlechter Weg! (Koran 4:22) Qurṭubī schreibt in seiner Exegese, dass die Vererbung einer Witwe ein verbindliches Recht unter der Bevölkerung von Medina war: Es gab unter den Arabern Stämme, welche den Brauch hatten, dass der Sohn eines verstorbenen Mannes die von seinem Vater hinterlassene Frau als Ehefrau nahm. Diese Praxis war unter den Anṣār verbindlich und im Stamm Quraiš erlaubt, wenn [beide Parteien] damit einverstanden waren. Hast du nicht bemerkt, dass Abū ʿAmr, der Sohn von Umayya24 , die Frau seines Vaters nach dem Tod seines Vaters zu sich nahm? Sie gebar ihm Musāfir und Abū Muʿaiṭ, wobei sie von Umaiya Abū al-Ḥaiṣ und andere Kinder hatte. So wurden die Söhne von Umaiya Brüder und gleichzeitig Onkel für Musāfir und Abū Muʿaiṭ, so Qurṭubī.25 Im Arabischen verwendete Qurṭubī das Wort lāzim für »verbindlich« und mubāḥ für »erlaubt«. Beide Begriffe sind juristischer Natur und passen zum zeitgemäßen Wortschatz der Rechtsgelehrten in Qurṭubīs Zeit. Damit meine ich, dass die Aussage Qurṭubīs nur eine eigene Vorstellung ist, die uns eigentlich keine Informationen über einen juridischen Status der Handlung zur Ausübungszeit geben kann. Diese Aussage gilt vielmehr als ein Versuch, einen Offenbarungsgrund für einen Vers im Koran zu liefern, ohne die Mekkaner

22 23 24 25

Ibid., 117. Ibid. Aus dem Stamm Quraiš. Qurṭubī, Tafsīr al- Qurṭubī, 5:104.

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seiner Zeit zu verletzen. So relativiert er die Verhältnisse, indem er behauptet, dass diese Praxis in Medina gewohnheitsrechtlich verbindlich gewesen sei, während sie in Mekka ab und zu ausgeübt wurde – natürlich mit dem Einverständnis der Witwe. Worauf Qurṭubī diese Gewissheit gründet, bleibt jedoch sein Geheimnis. Fakt ist, dass wir bis heute äußerst wenige Informationen über die Verschwägerungsverhältnisse der Altaraber vor dem Islam haben. Die vorhandenen Berichte beziehen sich hauptsächlich auf prominente Personen, deren Nachkommen zur islamischen Zeit ebenfalls prominent waren oder eine gewichtige politische oder soziale Rolle spielten. Über die Verhältnisse unter den durchschnittlichen Zeitgenossen und die Häufigkeit einer Handlung wurde nicht berichtet, sodass nicht anhand statistischer Angaben eingeschätzt werden kann, inwieweit diese oder jene Handlung erlaubt, verboten oder toleriert worden war. Berichte weisen lediglich darauf hin, dass eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Gesellschaft praktiziert wurde oder nicht. Jedoch spricht der Korankommentator von Stämmen und ihren Gewohnheiten, welche stammesspezifisch unterschiedliche juristische Gültigkeiten besaßen und nicht örtlich verbindlich waren. Eine schwerverdauliche Vorstellung, denn weder die Quraiš noch die Stämme von Medina hatten nur reine Endogamie praktiziert. Es sind mehrere Namen von Mekkanern bekannt, die mit Frauen aus Medina verheiratet waren. Welche Regel war dann für die Witwe gültig, die ihres Stammes oder die des Stammes ihres Mannes? Die Äußerungen Qurṭubīs stehen im Kontext der Exegese des folgenden Koranverses: O ihr, die ihr glaubt! Es ist euch nicht erlaubt, dass ihr Frauen gegen deren Willen erbt. Und bedrängt sie nicht, dass ihr etwas von dem wegnehmt, was ihr ihnen gabt, es sei denn, sie betrieben offenkundig Unzucht. Lebt mit ihnen auf rechtliche Weise! Und wenn ihr Abscheu gegen sie empfindet, dann ist es vielleicht so, dass ihr etwas verabscheut, in das Gott jedoch viel Gutes legte. (Koran 4:19) Die Koranverse wurden in Medina offenbart. Zur Zeit der Offenbarung lebten in Medina Muslime aus verschiedenen Stämmen, darunter die Auswanderer aus dem mekkanischen Stamm Quraiš. Die Verse sind demnach an alle Gläubigen adressiert und nicht nur an die beiden großen Stammeskonföderationen von Medina. Das heißt, dass die Verse allgemeingültig waren. Sie bestätigen deutlich, dass diese Praxis zur Zeit der Offenbarung bekannt war und ein Problem darstellte, weil sie den im Islam geltenden Rechtsnormen widerspricht. Dieser Hinweis auf die Verletzung von Normen ermöglicht, sich

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eine Vorstellung von den vorher geltenden Rechtsnormen zu machen. Die genannten Ansichten von Smith kann ich daher nicht teilen. Sie sind spekulativ und ohne jegliche faktische Grundlage. Es gibt weder einen Beweis dafür, dass in Medina matrilineare Verhältnisse herrschten, noch dafür, dass die Praxis des Vererbens von Witwen in Medina gewohnheitsrechtlich verbindlicher als in Mekka war. Laut dem zitierten Koranvers war die Vererbung von Frauen nach dem Tode ihres Mannes wider ihren Willen und nicht das Vererben an sich ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Normen. Dass die Männer die ehemaligen Ehefrauen ihrer Väter nicht heiraten dürfen, wurde separat im folgenden Vers offenbart. Der Koran ging also in dem Kontext mit diesem sozialen Problem sehr äußerst differenziert um. Witwen mussten versorgt werden. Daher war es notwendig für die Frau – besonders, wenn sie aus einem fremden Stamm kam und minderjährige Kinder hatte –, einen neuen Ehemann aus dem Kreis des verstorbenen Mannes zu finden, der für sie und ihre Kinder sorgen sollte sowie das Erbe des verstorbenen Mannes verwaltete. Denn wie bereits erwähnt wurde, hatte die altarabische Frau zwar das Recht auf Eigentum, es gibt jedoch keinen Beweis dafür oder Hinweis darauf, dass die Frau ihr Eigentum selbst verwaltete – mit der Ausnahme des Falls von Khadija (Ḫadiǧa), welche die erste Ehefrau von Muḥammad war und ihr Erbe im Handel investiert hatte. Eine Frau geriet an Eigentum, wenn sie von ihrem Vater oder ihrem Mann etwas erhielt oder erbte. Ihr Recht auf einen Anteil an der Erbschaft war umstritten. Zanātī erwähnt, dass die Altaraber vor dem Islam Frauen und Töchtern sowie kleinen Jungen einen Anteil aus dem Erbe ihres Verstorbenen verweigerten, mit der Begründung, dass diejenigen, die weder auf dem Rücken eines Pferdes kämpften noch Beute brachten, kein Recht zu erben hätten.26 Naisābūrī bestätigt diese Auffassung und liefert in seinem exegetischen Werk einen Hadith, in dem Ibn ʿAbbās berichtete, dass Aus b. Ṯābit al-Anṣārī eine Witwe namens Umm Kaḥḥa und drei Töchter hinterließ, als er starb. Zwei seiner Vettern namens Suwaid und ʿArfaǧa, die auch seine Erben waren, kamen und nahmen sein Eigentum, ohne dass sie der Witwe und ihren Töchtern etwas davon gaben. Es war ihr Brauch in der ǧāhilīya, dass weder Frauen noch Kinder, auch wenn sie männlich waren, erbten. Es erbten nur erwachsene Männer. Sie sagten, nur wer reiten und für unsere Territorien kämpft, darf bei uns erben. Die Witwe Umm Kaḥḥa ging

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Zanātī, Nuẓum, 79.

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zum Propheten und beschwerte sich bei ihm. Sie sagte: O Gesandter Gottes, mein Mann, Aus b. Ṯābit, war wohlhabend gewesen. Er starb und hinterließ mir drei Töchter. Er hatte viel Geld, was nun bei Suwaid und ʿArfaǧa ist und sie gaben mir und seinen Töchtern nichts davon, womit sie sich versorgen können. Der Prophet bestellte die beiden Männer und fragte sie nach ihrem Verhalten. Sie erklärten, dass die Kinder dieser Witwe weder fähig waren, ein Pferd zu reiten, noch als Hirten zu weiden, noch einen Feind zu bekämpfen. Der Gesandte Gottes sagte Ihnen: geht jetzt. Wir warten darauf, was Gott darüber entscheiden würde! Sie gingen und Gott offenbarte den Vers 4:7: [7 Den Männern steht ein Anteil zu von dem, was Eltern und Verwandte hinterlassen, und den Frauen steht ein Anteil zu von dem, was Eltern und Verwandte hinterlassen, sei es weniger oder mehr von ihm als pflichtgemäßer Anteil.] So schickte ihnen der Prophet die Nachricht: berührt das Geld von Aus nicht. [Gott] hat ihnen (den Frauen) einen Pflichtanteil zugesprochen und ER hat noch nicht geklärt, welchen Anteil. So wartet, bis es geklärt wird. Es wurden dann die Verse 7:11-12 überliefert: [11 Gott schreibt euch für eure Kinder vor: Für das männliche ist der gleiche Anteil wie für zwei weibliche bestimmt. Und wenn es Frauen sind – mehr als zwei, dann sind für sie zwei Drittel dessen, was er hinterließ, bestimmt. Und wenn es eine ist, dann ist die Hälfte für sie bestimmt. Und für seine Eltern, und zwar für beide von ihnen, ist ein Sechstel dessen, was er hinterließ, bestimmt, sofern er Kinder hatte. Wenn er aber keine Kinder hatte und ihn seine Eltern beerben, dann ist für seine Mutter ein Drittel bestimmt. Wenn er jedoch Brüder hat, dann ist für seine Mutter ein Sechstel bestimmt, nach einer von ihm getroffenen Verfügung oder einer Schuld. Eure Väter und eure Söhne – ihr wisst nicht, wer von ihnen euch an Nutzen nähersteht, als Verpflichtung von Seiten Gottes. Siehe, Gott ist wissend, weise. 12 Und für euch ist die Hälfte dessen bestimmt, was eure Frauen hinterließen, wenn sie keine Kinder haben. Wenn sie aber Kinder haben, dann ist für euch ein Viertel dessen, was sie hinterließen, bestimmt, nach einer von ihnen getroffenen Verfügung oder einer Schuld. Und für sie ist ein Viertel dessen, was ihr hinterlasst, bestimmt, wenn ihr keine Kinder habt. Wenn ihr aber Kinder habt, dann ist für sie ein Achtel dessen, was ihr hinterlasst, bestimmt, nach einer von ihnen getroffenen Verfügung oder einer Schuld. Und wenn es ein Mann ist, der beerbt wird aus einer Nebenlinie, oder eine Frau, und er Bruder oder Schwester hat, so ist für jeden von ihnen ein Sechstel bestimmt. Sind es aber mehrere Geschwister, so teilen sie ein Drittel, nach einer von ihnen getrof-

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fenen Verfügung oder einer Schuld, ohne dass Schaden zugefügt wird – als ein Gebot von Gott. Gott ist wissend, milde.] Der Prophet gab Umm Kaḥḥa ein Achtel und den Töchtern zwei Drittel des Erbes. Den Rest bekamen die beiden Vettern.27 Eine Witwe mit Kindern brauchte auch im Islam einen Mann, welcher für sie sorgt. Deshalb sprach der Koran im zitierten Vers 4:19 nicht allgemein gegen das Vererben von Witwen, sondern dagegen, dass es wider ihren Willen geschieht. In den Versen 4:7 und 4:11-12 regelte der Koran dann die Erbfrage und legte die verschiedenen Pflichtanteile fest. Der Koran sicherte damit das Erbrecht der Frau und ihrer minderjährigen Kinder, welche bisher als kampfunfähige Personen betrachtet wurden und in ihrer Geschäftsfähigkeit und Rechtsfähigkeit eingeschränkt waren. Zugleich legte Muḥammad die klare Bejahung der Frau als eine verbindliche Bedingung für die Gültigkeit jedes Ehevertrages fest. Darin sind Indizien für frühe islamische Reformen der Frauenrechte zu erkennen. Die Rechte der Frau sollten gestärkt und der Wille der Frau befreit werden. Frauen sollten zu starken, unabhängigen Muslimas nach dem Vorbild der ersten Frau des Propheten, Ḫadiǧa, emanzipiert werden. Dennoch fixierten die muslimischen Rechtsgelehrten nach dem Ableben von Muḥammad die Rechte der Frau unter dem von Muḥammad erreichten Limit. Viele altarabische Einschränkungen wurden behalten und sogar als islamisch adoptiert. Diese Einschränkungen zeigen sich in mehreren Aspekten. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist die Vormundschaft über die Frau durch den Vater oder den nächsten männlichen Verwandten. Die Altaraber stellten die Genehmigung des Vormunds der Frau als Bedingung für eine gültige Eheschließung – besonders, wenn die Braut noch Jungfrau war. Die Berichte über die Frauen aus dem Stamm Ṭaiʾ zeigen, dass Frauen entmündigt werden konnten, wenn sie mit ihrem Reichtum nicht im Sinne ihrer nächsten männlichen Verwandten umgingen. Nicht nur das Entmündigen von Frauen war bei den Altarabern vor dem Islam erlaubt. Die Tötung von eigenen weiblichen Neugeborenen (waʾd) war eine Praxis unter den altarabischen Beduinen. Eine Geschichte in Kitāb alAġānī des Iṣfahānī schildert, dass die Tradition des waʾd vor dem Islam in Banū Tamīm entstand, als an-Nuʿmān b. al-Munḏir einen Beutezug gegen die Banū Tamīm führte und mehrere ihrer Frauen raubte. Der Legende nach

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Nīsābūrī, Ġarāʾib al-Qurʾān, 2:355.

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wollten die Banū Tamīm ihre Frauen von ihm zurückkaufen. Jedoch lehnte es die Tochter des Stammesführers der Banū Tamīm, Qais b. ʿĀṣim, ab, zu ihrer Familie zurückzukehren. Sie bevorzugte es, bei dem Mann, der sie geraubt hatte, zu bleiben. Demzufolge entschied Qais b. ʿĀṣim mit seinem Stamm, alle neugeborenen Mädchen zu töten.28 Alʿaliy ist der Meinung, dass die Tradition des waʾd unter allen arabischen Stämmen bekannt war, die Häufigkeit dieser Praxis von Stamm zu Stamm jedoch variierte. Daher könne man nicht die Banū Tamīm für ihre Entstehung verantwortlich machen, nur, weil sie diejenigen waren, welche zur Offenbarungszeit häufiger den waʾd praktizierten, so Alʿaliy.29 Iṣfahānī berichtet jedoch, dass der Großvater des berühmten Dichters al-Farazdaq – auch von den Banū Tamīm – dieser Tradition entgegenwirkte, indem er die neugeborenen Mädchen, deren Eltern ihre Tötung planten, kaufte.30 Anscheinend wurde diese Praxis moralisch verurteilt und dennoch toleriert. Der Koran verurteilt diese Tradition ebenfalls und widmet ihr mehrere Verse in verschiedenen Suren: 8 wenn die lebendig Begrabene wird gefragt, 9 um welcher Schuld sie ward umgebracht. (Koran 81:8-9) und: 58 Wenn einem von ihnen ein Mädchen angekündigt wird, bleibt seine Miene finster, und er ist voller Gram und Groll. 59 Er zieht sich vor den Menschen zurück, des Schlimmen wegen, was ihm da angekündigt wurde. Soll er an ihm festhalten, trotz der Schande, oder soll er es im Staube vergraben? Ist es nicht schlimm, wie sie urteilen? (Koran 16:58-59) sowie: 17 Und wenn einem von ihnen angekündigt wird, was er als gleichwertig mit dem Erbarmer ansieht, dann bleibt seine Miene finster, und er ist voller Gram und Groll. (Koran 43:17) Dies weist darauf hin, dass die Waʾd-Tradition in al-Ḥiǧāz doch ein ernsthaftes Problem war. Der Korankommentator Qurṭubī erwähnt, dass der waʾd in den Stämmen der Ḫuzāʿa und Muḍar praktiziert wurde.31 Beide Stämme

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Iṣfahānī, al-Aġānī, 12:144. Alʿaliy, Tārīḫ al-ʿarab, 172-173. IṣfahānīI, al-Aġānī, 19:2-5. Qurṭubī, Tafsīr al- Qurṭubī, 81:8-9.

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bewohnten Mekka und Umgebung. Alʿaliy ist der Meinung, dass die Tradition des waʾd religiöse Hintergründe hatte, da das Menschenopfer unter den semitischen Völkern bekannt gewesen sei.32 In einem Kommentar über surat al-anʿām berichtet Ṭabarī in Berufung auf ʿIkrima, dass der Mann in der ǧāhilīya von seiner Frau verlangte, jedes zweite von ihr geborene Mädchen zu vergraben. Dabei habe er seiner Frau gedroht, sie zu verstoßen, falls sie es nicht tat. An jenem Tag, an welchem vorgesehen war, das Leben eines Mädchens zu beenden, verließ der Ehemann sein Zuhause, nachdem er seiner Frau sagte: Möge es so sein, dass du mir verboten wirst, wie der Rücken meiner Mutter mir verboten ist, wenn ich zurückkomme, und du sie noch nicht zum waʾd gebracht hast.33 In diesem Bericht sind keine religiösen Hintergründe für den waʾd erkennbar. Dagegen scheint es, dass der waʾd ökonomische Gründe hatte und für die Familienplanung instrumentalisiert wurde. Besonders in der bādīya galten die Frauen als eine Last; sie waren weniger produktiv als die Männer und benötigten auf Dauer den Schutz der Männer vor Überfällen anderer Stämme. Neugeborene Mädchen wurden oft direkt nach der Geburt oder kurz darauf lebendig begraben – aus Angst, dass sie in Zukunft in Gefangenschaft fallen und Schande über ihre Familien bringen könnten. Eine Schande kam dann zustande, wenn die Beschützer der Frauen weder ihre Entführung verhindern noch sie aus der Gefangenschaft befreien oder mit Geldern freikaufen konnten. Die Schande war die Schande des Mannes. Die Frau blieb davon verschont. Nach der Befreiung kehrten entführte Frauen in der Regel ohne Hindernisse in ihr Alltagsleben zurück. Dies galt auch in der Moderne.34 Die Waʾd-Praxis ist daher nicht mit dem Ehrenmord zu verwechseln. Darüber hinaus ist bekannt, dass die altarabischen Frauen für sexuelle Delikte wie zinā (Ehebruch) und sifāḥ (außereheliche Beziehung) nicht bestraft wurden. Es wurden lediglich die Männer bestraft, mit denen sie den Ehebruch ausübten. Denn die Straffähigkeit einer Person war von ihrer individuellen Schuldfähigkeit abhängig. Die Schuldfähigkeit war mit der Geschäftsund Rechtsfähigkeit jener Person verbunden, die ihrerseits von ihrer Kampffähigkeit abhängig war. Dies galt auch unter vielen arabischen Stämmen in

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Alʿaliy, Tārīḫ al-ʿarab, 173. Ṭabarī, Tafsīr, 81:8-9. Ṣabrī Bāšā, Mirʾāt al-ḥaramain, 2:376.

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der Moderne bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Allerdings zeigen die Berichte aus der Neuzeit in Bezug auf die Stellung der Frau in der beduinischen Gesellschaft meiner Ansicht nach Widersprüchlichkeiten.35 Sie berichten von einem liberalen Umgang zwischen den Geschlechtern und gleichzeitig von Ehrenmorden sowie von der Unantastbarkeit der Frauen, speziell während der intertribalen Überfälle und Beutezüge, und von Raub- und Entführungsehen. Sie sprechen vom Recht des Vetters und Zwangsehen sowie vom Zustimmungsrecht der Frau bei der Eheschließung und vom Scheidungsrecht. Dies weist darauf hin, dass die tribalen Rechtsnormen in Bezug auf die Stellung und die Rechte der Frau in der Neuzeit alte vorislamische Verhältnisse widerspiegeln. Die Normen selbst wurden meistens unter islamischem Einfluss oder aufgrund von Interaktionen zwischen Stammesgruppierungen unterschiedlicher Herkunft in einem engen Raum oder infolge intensiver Kontakte mit der sesshaften Gesellschaft transformiert. Die Berichte über die Probeehepraxis unter den Beduinen von Maryūṭ bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind das beste Beispiel dafür. Die Probeehe wurde nach außen bzw. gegenüber Fremden nicht als eine Ehe bezeichnet, sondern als eine Art des erlaubten Umgangs zwischen verlobten Personen dargestellt.36 Die sexuelle Natur der Beziehung wird in den Berichten ausgeblendet.37 Erst die Fragestellung um die Folge während dieser Beziehung entstandenen Schwangerschaft rückt das wahre Bild der Praxis wieder ins Licht.38 In dem Bericht von ʿIṭīwa, welcher zu den führenden Kräften und politischen Repräsentanten der ägyptisch-libyschen Wüstenbeduinen zwischen den 60er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu rechnen ist, wird das gesamte Bild romantisiert und der zeitgemäßen Vorstellung von Sittlichkeit angepasst. Er beschreibt in seinem Buch Riḥlat al-alf ʿām die Geschichte der Awlād ʿAlī und ihrer Region unter dem Motto: »Es gibt in unserer Geschichte nichts, wofür wir uns schämen.« Das Buch erschien 1982; seitdem ist ein Exemplar oder ein kopiertes Exemplar davon in jedem Haushalt der Region zu finden. Ein neues kollektives Gedächtnis schuf ʿIṭīwa mit seinem Buch für die Region.

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Vergleiche dazu die verschiedenen Berichte in Zanātīs Darstellung des Eherechts in demselben, Nuẓum al-ʿarab I, 15-160. Siehe Rifʿat Bāša, Mirʾāt al-ḥaramain, 1:348. Vgl. ʿIṭīwa, Riḥlat, 405. Siehe Rifʿat Bāša, Mirʾāt al-ḥaramain, 1:348.

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Der Bericht von ʿIṭīwa bestätigt, dass im Laufe der vergangenen 50 Jahre eine Normenänderung in der Region durchgeführt wurde. Er schreibt: Früher, das heißt, vor mehr als 50 Jahren, fand das Treffen meistens im Hause des Mädchens statt. Die Eltern des Mädchens verließen gewöhnlich das Haus, damit es seinen Jungen bzw. seinen Gast empfangen konnte. Dies geschah dann in der Anwesenheit anderer Mädchen und Jungen. Es war auch möglich, dass sie sich allein trafen.39 ʿIṭīwa relativiert in seiner Schilderung die Verhältnisse. An einer anderen Stelle seines Berichts erwähnt er, dass die Eltern manchmal zuhause blieben und mit einem Tuch einen Teil des Innenhofs für ein ungestörtes Treffen der beiden Verlobten abtrennten.40 Dazu muss angemerkt werden, dass ʿIṭīwa in seinem Bericht verallgemeinert. Er unterscheidet nicht zwischen der Tradition der Stämme von Maryūṭ und der von Awlād ʿAlī. ʿArab Maryūṭ gehören nicht zur Awlād-ʿAlī-Konföderation. Nach Maḥǧūb gehörten die ʿArab Maryūṭ kulturell zu den östlichen Stämmen. Sie siedelten später als die Awlād ʿAlī in dieser Region und wurden noch später in die Awlād ʿAlī integriert. ʿTīwa vervollständigt in seinem Bericht das unrealistische romantische Bild, welches er mittels seines Buches über die Awlād ʿAlī vermitteln möchte. Er schreibt auch: […] Das Treffen zwischen den beiden konnte sich wiederholen, bis es zu einem Ergebnis führte. Das Ergebnis konnte positiv sein. Sie lieferten ihrer Gesellschaft eine schöne Liebesgeschichte, die alle Menschen weitererzählten. Solche Liebesgeschichten endeten dann mit einer Heirat. Kam es aber zu einem negativen Ergebnis, gingen sie friedlich auseinander.41 Der Bericht von Rifʿat Bāšā (1925) schildert es anders. Demnach hatte eine friedliche Trennung meistens ihren Preis. Er beschreibt, wie junge Männer, die sich verheiraten wollten, zu den Wasserbrunnen gingen. Der junge Mann konnte sich aus den dort versammelten Mädchen seine künftige Frau aussuchen. Nachdem er sich nach der Frau und ihrer Familie erkundigt hatte, konnte er ihren Vater besuchen und um ihre Hand anhalten. Im Falle seiner Zustimmung zur Verlobung habe der Familienvater mit dem Rest seiner Familie das Zelt für die Verlobten verlassen und der junge Mann hätte sein Ge39 40 41

ʿIṭīwa, Riḥlat, 405. Ibid. Ibid.

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wehr am Zelteingang abgestellt. Erst, wenn er das Zelt verließ, so Rifʿat Bāšā, durfte die Familie es wieder betreten. Sie wiederholten ihre Treffen, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten. Erst dann habe er sie geheiratet, auch wenn er sie bereits geschwängert hatte. Falls er sie aber nicht mehr mochte, habe er sich ein Jahr lang von ihrer Familie fernhalten müssen. Nach dem Ablauf des Jahres sollte er den Schutz eines großen Mannes suchen. Danach wurde ihm die Entrichtung einer diya auferlegt, weigerte er sich, diese zu zahlen, wurde er getötet, so Rifʿat Bāšā.42 Das romantisierte Bild in ʿIṭīwas Texten reflektiert – meiner Ansicht nach – eine Ablehnung bestimmter alter Sitten und Bräuche, welche aufgrund der derzeitigen gesellschaftlichen Vorstellung von Ehre und Sittlichkeit nicht mehr vertretbar sind. Eine Form der Probeehe und außerehelicher Verkehr sind bei den Beduinen seit längerem nicht akzeptabel, auch nicht mehr als Teil ihrer Geschichte. Denn Geschichte ist sawālif und sawālif kann als normstiftend im Sinne eines Präzedenzfalls angewendet werden. Dies bezieht sich nicht nur auf sensible Fragen wie Ehe und Ehre. Die Unvereinbarkeit alter Bräuche, Normen und Sitten mit der šarīʿa oder sogar mit den verbreiteten Normen moderner heterogener Gesellschaften war oft ein Grund für die Geheimhaltung, Leugnung oder Ablehnung der alten Bräuche. Das ist meiner Ansicht nach ein großer Verlust. Denn solche Geschichten sind oft eine Reflektion von Sitten und Bräuchen, welche sehr alt sind. Mit ihrem Vergessen verliert die arabische Kultur Teile ihrer Geschichte und die arabischen Stämme verlieren nach und nach Teile ihrer kulturellen Identität.

Frauen-, Ehe- und Familienrecht Ibn al-Miǧāwir (vor 1225), Burchardt (1829, 1831), Jaussen (1908, 1920), Šuqair (1916), Seabrook (1927), Grankvist (1935), Rafīʿ (1954),ʿAzzāwī (1956), Marx (1967), Ǧauharī (1937, 1961), Salim (1962), Chelhod (1971), ʿAbbādī (1976) berichten neben anderen von diversen Formen ehelicher Beziehungen, welche von den Beduinen in den verschiedenen Regionen der arabischen Welt zur Zeit ihrer Forschung praktiziert wurden und welche zum großen Teil unvereinbar mit islamischen Rechtsnormen sind.43 Diese Eheformen waren auch unter 42 43

Rifʿat Bāša, Mirʾāt al-ḥaramain, 1:348. Abd-Elsalam, Das beduinische Rechtssystem, 43; vgl. Motzki, »Marriage and divorce« in Encyclopaedia of Quran, 3:276-280.

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den altarabischen Stämmen zur Zeit der Offenbarung bekannt und üblich. Zahlreiche Hadithe und Koranverse belegen dies und ebenfalls, wie die neu entstehende Religion sich dazu positionierte und damit umging. Es waren Eheformen, die nicht von allen damaligen Stämmen gleichermaßen anerkannt oder geschätzt wurden. Ihre Vielfalt ist der beste Beweis für die Heterogenität der tribalen Kultur. Die Mehrheit dieser Eheformen sind bestätigt und dokumentiert. Dazu gehören: Polygamie mit mehr als vier Frauen (der Islam toleriert Polygamie bis vier Ehefrauen), befristete Ehen wie die Zeitehe oder Genussehe, Mitsarrib-Ehe (eine vertragliche Ehe mit Verrichtung einer Brautgabe (ṣadāq) und der Pflicht, ein getrenntes Leben ohne weitere finanzielle Verpflichtung für die Lebensunterhaltung zu führen), Austausch-Ehe (ohne Benennung oder Abgabe von ṣadāq), Dienstehe (bei dieser Form des Ehevertrags wurden anstelle der Zahlung einer ṣadāq für die Braut körperliche oder handwerkliche bzw. berufliche Dienstleistungen zugunsten ihrer Familie betrieben), ĠurraEhe (eine Form der Leihehe im Rahmen der Verrichtung einer diya), Entführungsehe (ḫaṭf /iḫtiṭāf ),44 Gefangenschafts-Ehe, Unterwerfungsehe (hiba), Ehe auf Probe, der Genuss mit Sklavinnen (tasarrī) und die Miḫlaf -Ehe (eine Form der Polyandrie und gleichzeitig der befristeten Ehe, in der sich eine vertraglich verheiratete Frau während einer langen Abwesenheit ihres Mannes finanziell und körperlich wie eine Ehefrau an einen anderen Mann wandte, mit der Rückkehr des ersten Ehemannes wurde die zweite Ehe automatisch beendet).45 Die Mutʿa- und die Miḫlaf -Ehe weisen auf Polyandrie als ein kulturelles Erbe uralter matrilinearer Verhältnisse hin.46 Dazu zählt auch die sogenannte Rahṭ-Ehe, die nur als Polyandrie übersetzt werden kann. Die Eheform, welche in der soeben erfolgten Auflistung nicht erwähnt wurde, ist die sogenannte Ṣadāq-Ehe oder auch Baʿūla-Ehe. Die vorislamische Ṣadāq-Ehe war die Eheform, die unter den Altarabern und insbesondere 44

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Definition nach dem Interaktiven Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie: Mit Zustimmung der Frau durchgeführte Entführung, entweder um einer arrangierten Heirat zuvorzukommen oder um die Zahlung einer Mitgift oder eines Brautpreises zu umgehen und trotzdem eine rechtmäßige eheliche Verbindung zu erzwingen. (www.univie.ac.at/Voelkerkunde/cometh/glossar/heirat/ip.htm; Stand: 18.08.2020); vgl. Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 50-58. Auch dabei muss zwischen Entführungsehen und Scheinentführungsehen unterschieden werden; siehe dazu: Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 50-58. Siehe Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 15-70. Ibid., Nuẓum, 23-37.

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den Mekkanern als die würdigste Eheform für die Frau und ihre Familie betrachtet wurde. Denn nur eine vertragliche Eheschließung (ʿaqd nikāḥ) mit Brautgabe (ṣadāq/mahr) konnte einer Frau ein Minimum an Kapital und Sicherheit garantieren, insbesondere im Falle einer Scheidung. Die Frau durfte die von ihrem Mann oder dessen Familie gezahlte Brautgabe (muʾaḫḫar) behalten, falls sie ohne ihren Willen von ihrem Mann verstoßen wurde. Erfolgte jedoch die Scheidung auf Wunsch der Frau oder wurde diese von ihr verursacht, musste sie bzw. ihre Familie die Brautgabe zurückgeben. Die Brautgabe wurde üblicherweise vom Vater für sich als Entschädigung (ḥulwān/nāfiǧa) und für die Aussteuer der Braut beansprucht. Sie wurde in Form von Kamelen, Silber oder Gold bezahlt. Es gibt Hinweise darauf, dass die Brautgabe in den Oasenstädten auch in Form eines Gartens oder einer Farm entrichtet wurde. Die Höhe einer Brautgabe zur Zeit der Offenbarung ist unbekannt. Jedoch war sie von der Jungfräulichkeit der Frau und vom Sozialstatus ihrer Familie und ihres Stammes abhängig. Die Qualifizierung und Eignung des Bräutigams für die vorgeschlagene Braut, wurde nach einem Prinzip namens al-kafāʾa berechnet. Die Qualifizierungskriterien waren Abstammung, Macht und Reichtum. Heiratswillige, die in einem der genannten Kriterien der Brautfamilie nicht ebenbürtig waren, versuchten sich durch höhere Brautgaben begehrenswerter zu machen. Als Brautgabe konnten bis zu 150 Kamele bezahlt werden.47 Die islamische Ehe und Eheschließung sind nichts anderes als ein reformiertes Bild der altarabischen vorislamischen Ṣadāq-Ehe. Einige Hadithe weisen darauf hin, dass die Brautgabe in Medina in Gold und Silber bezahlt wurde. Der Hadithgelehrte Muslim überliefert in seinem Ṣaḥīḥ-Werk, dass der Prophet einen der Muslime für die zu große Brautgabe tadelte, die dieser [arme Mann] für eine medinensische Frau bezahlte.48 Der Mann teilte dem Propheten mit, dass er für sie vier ūqīyas49 Silber entrichtete. Der Prophet selbst schenkte, laut einem ʿĀʾiša zugeordneten Hadith, seinen Frauen als Brautgabe je 12,5 ūqīyas Silber, was zu dieser Zeit einem Äqui-

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ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:531. Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:40. Eine ūqīya entspricht ca. 38 g.

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valent von 500 Dirhams entsprach.50 Die Sīra-Werke erwähnen jedoch, dass Muḥammad seiner ersten Frau Ḫadīǧa 20 junge Kamele als ṣadāq schenkte.51 Nach einem anderen Hadith soll der Prophetengefährte ʿAbd-ar-Raḥmān b. ʿAuf, ein reicher Mekkaner, für eine Frau aus Medina als Brautgabe das Gewicht einer Dattel in Gold gezahlt haben. Der Prophet tadelte ihn aber nicht dafür und verlangte von ihm, die Muslime zu einem Festmahl einzuladen.52 Es ist anzunehmen, dass die Festlegung der Brautgabensumme vom sozialen Status der Ehekandidaten und ihrem Reichtum abhängig war. Als Zeichen der Gleichwertigkeit beider Familien tolerierten die Altaraber niedrige Brautgabensummen und als Zeichen des Reichtums der Brautfamilie reichte der Vater bzw. der Vormund (waliy) der Braut ihre vollständige Brautgabe oder er beschenkte das Ehepaar sogar darüber hinaus. Bei Ehen innerhalb der gleichen Familie oder Sippe waren die Brautgaben manchmal so niedrig, dass sie als symbolisch betrachtet werden können. In der Praxis wurde darauf geachtet, dass die Brautgabe einer schon einmal verheirateten Frau geringer als die für eine Jungfrau aus ihrem Familienkreis ausfiel. Da die Altaraber verschiedene Arten der Ehe kannten, gab es auch Formen der Ehe ohne Brautgabe. Die Abstammung als Qualifizierungskriterium wurde streng geachtet. Die Altaraber untersagten die Vermählung arabischer Frauen mit NichtArabern oder freier Frauen mit ihren Sklaven.53 Das Gegenteil war jedoch erlaubt. Arabische Männer durften Frauen ausländischer Herkunft und Sklavinnen bzw. unfreie Frauen heiraten. Sie rechtfertigten die Ehe der Männer mit Nicht-Araberinnen, indem sie behaupteten, dass solche Ehen für besseren Nachwuchs sorgen würden. Wahrscheinlich war dies aber nicht im Ḥiǧāz verbreitet. Ibn Qutaiba berichtet in einer Überlieferung von al-Aṣmaʿī, dass die Bevölkerung von Medina die Vermählung mit unfreien Frauen verabscheute.54 All diese Qualifizierungskriterien wurden im Islam unter dem KafāʾaPrinzip in der Normenlehre übernommen. Mit der Berücksichtigung des islamischen Gleichheitsprinzips dürfen muslimische Frauen und Männer keine

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Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:42. Ibn Hišām, Sīra 1:114; vgl. ʿAlī, Sīra, 163. Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:42. Siehe al-Mufaṣṣal, 5:532. Ibn Qutaiba, Faḍl al-ʿarab, 48.

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Polytheisten heiraten. Dieses Gebot wurde mit einem Vers des Koran legitimiert: 221 Heiratet keine Frauen, die Gott etwas beigesellen, bis sie gläubig werden! Wahrlich, eine gläubige Sklavin ist besser als eine Frau, die Gott etwas beigesellt, und sollte sie euch auch gefallen. Und verheiratet eure Frauen nicht mit Männern, die Gott etwas beigesellen, bis sie gläubig werden! Wahrlich, ein gläubiger Sklave ist besser als ein Mann, der Gott etwas beigesellt, und sollte er euch auch gefallen. (Koran 2:221) Zum Fall der Verwitwung bei den Altarabern überliefern die Quellen widersprüchliche Informationen: Verwitwete Frauen kehrten zu ihren Herkunftsfamilien zurück, verwitwete Frauen blieben selbstständig, verwitwete Frauen galten als Eigentum des Verstorbenen, welches vererbbar war oder Frauen galten nicht als Eigentum und durften ihre verstorbenen Männer beerben. Der Grund für die Unstimmigkeiten der Überlieferungen in den Quellen ist die Vielfalt an Eheschließungs- und Partnerschaftsformen, welche die altarabischen Stämme kannten. In seinem Ṣaḥīḥ-Werk überliefert Buḫārī, sich auf ʿUrwa b. az-Zubair berufend, dass ʿĀʾiša, die Ehegattin des Propheten, einmal erzählte:55 In vorislamischer Zeit gab es vier verschiedene Formen der Heirat und der Ehe (nikāḥ). Eine von ihnen entspricht der heutigen Heirat. Ein Mann hält bei einem anderen Mann um dessen Tochter oder Schutzbefohlene (waliyyatuh) an. Die Brautgabe wird entrichtet56 , und dann heiratet er sie. Eine andere Art der Ehe war folgende: Der Mann sagte zu seiner Frau, wenn ihre Menstruation vorüber war: »Rufe dir den Soundso und lasse dich von ihm schwängern!«57 . In der Folgezeit blieb der Ehemann ihr fern und rührte sie nicht an. Bis sie von jenem anderen Mann ein Kind erwartete. Wenn Sicherheit über ihre Schwangerschaft bestand, konnte er ihr wieder beiwohnen, wenn er wollte58 . Dieser Art der Ehe lag der Wunsch nach einem Kind von

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Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 7:15; die deutsche Übersetzung ist von Dieter Ferchls Ṣaḥīḥ al-Buḫārī (Reclam 1991, Seite 342-3) übernommen, mit eigener Bearbeitung nach dem arabischen Original. Nach Ferchl heißt es: Das Brautgeld wird festgelegt. Nach Ferchl heißt es: Halte dich an den Soundso und geh eine Beziehung mit ihm ein! Wenn er wollte fehlt bei Ferchl.

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besonderen Eigenschaften zugrunde.59 Diese Art der Vermählung hieß die Erwerbsvermählung (istibḍāʿ).60 Bei der dritten Kategorie von Ehe hatte eine Gruppe von nicht mehr als zehn Männern (rahṭ) sexuelle Beziehungen zu einer Frau. Oft wurde sie schwanger und brachte ein Kind zur Welt. Einige Tage nach der Entbindung rief sie sie61 zusammen, und keiner von ihnen hatte das Recht, dieser Zusammenkunft fern zu bleiben. Sobald alle versammelt waren, sagte sie: »Ihr wisst, was ihr getan habt!62 Ich habe ein Kind geboren, und es ist dein Kind, o Soundso!« Dabei nannte sie nach Belieben den Namen eines der Männer. Das Kind war damit diesem Mann zugewiesen, und er hatte nicht die Möglichkeit, die Vaterschaft zurückzuweisen.63 Bei der vierten Art der Ehe verkehrten viele Männer mit einer Frau. Diese Frauen waren Prostituierte, sie verweigerten sich keinem. Über den Türen ihrer Häuser befestigten sie Fahnen als Zeichen für die Männer, und wer mit ihnen schlafen wollte, begab sich zu ihnen. Wenn eine solche Frau ein Kind zur Welt brachte, wurden alle ihre Liebhaber zusammengerufen und die Physiognomen (al-qāfa, Sg. qāfī) eingeladen. Diese ordneten das Kind jenem Mann64 zu, den sie als den Vater erkannten. Ihm wurde das Kind zugesprochen, und es wurde als sein Sohn geheißen,65 ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Der Hadith von ʿĀʾiša stellt verschiedene Arten der sexuellen Beziehungen in der vorislamischen Zeit unter dem Begriff der Ehe (nikāḥ) dar. Sie unterschied

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Nach Ferchl heißt es: von besonders edlen und vornehmen Bluten. Es handelte sich nicht um edles und vornehmes Blut, sondern um das Erwerben eines körperlich und mental gesunden Kindes, daher wurden für diese Aufgabe oft fremde nomadische Hirten ausgesucht. Dies ist weit entfernt von edlem und vornehmem Blut. Der Satz fehlt bei Ferchl. Nach Ferchl: ihre Liebhaber. Nach Ferchl heißt es: warum ihr hier seid! Diese Art der Vermählung war unter den Namen zawāǧ ar-rahṭ bekannt, was so viel wie Gruppenehe heißt. Wie bekannt ist, war Yazīd b. Abī Sufyān die Folge einer solchen Beziehung seines Vaters mit einer Frau aus den Banū Ṯaqīf, jedoch lehnte Abū Sufyān die Anerkennung dieser Vaterschaft ab. So wurde Yazīd bis zum Tode seines angeblichen Vaters Ibn Abīh genannt, was Sohn seines Vaters bedeutet. Erst nach dem Tod Abū Sufyāns erkannte Muʿāwīya, der Gründer der Umayyaden-Dynastie und der Sohn Abū Sufyāns, die Abstammung Yazīds von Abū Sufyān an. Obwohl Abū Sufyān seinem Sohn Yazīd das Tragen seines Namens verweigerte, wuchs Yazīd mit den anderen Söhnen Abū Sufyāns in Mekka auf. Nach Ferchl: Diese Gelehrten. Nach Ferchl: und es galt als sein Kind.

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nicht zwischen Eheschließung und Geschlechtsverkehr. Der altarabische Begriff für Ehe, nikāḥ, kann auch beide Bedeutungen haben. Nach der Meinung der schāfiʿītischen Rechtsschule bezieht sich der Begriff nikāḥ auf den Ehevertrag als Legitimation für eine gültige Eheschließung und den erlaubten Vollzug der Ehe durch den Geschlechtsakt. Der Begriff nikāḥ kann also als eine Bezeichnung für den Geschlechtsverkehr im Rahmen seiner Legitimität verstanden werden.66 Die Muslime verwenden den Begriff nikāḥ im Sinne von islamischer Ehe bzw. Eheschließung. Sprechen Sie von der Nikāḥ-Ehe, meinen sie damit die Eheschließung entsprechend den islamischen religiösen Normen (aḥkām az-zawāǧ). Die ḥanafītische Rechtsschule vertritt eine andere Position als die schāfiʿītische Rechtsschule. So verstehen die ḥanafītischen Rechtsgelehrten unter dem Begriff nikāḥ die Geschlechtsbeziehung. Dennoch wird der Begriff ebenfalls für den Ehevertrag (ʿaqd an-nikāḥ) benutzt.67 Zurück zum Hadith von ʿĀʾiša: Es ist zu beachten, dass es im Islam nicht nur die erste erwähnte Eheform als einzige legale anerkannte Art der Ehe gibt, wie aus dem Hadith vielleicht geschlossen werden könnte. Außerdem umfasst dieser Hadith keinesfalls alle Typen altarabisch anerkannter sexueller Beziehungen und Partnerschaften. Die Altaraber erlaubten dem Mann – wie im Islam – sexuelle Beziehungen zu den in seinem Besitz befindlichen Frauen zu haben. »Frauen im Besitz«, auf Arabisch milk al-yamīn genannt, beschränkten sich nicht auf die Sklavinnen, welche sie durch Kauf erwarben. Die Bezeichnung bezog sich auch auf die im Krieg gefangenen Frauen, genannt saby. Eine sabiyya galt als Eigentum. Gefangene Frauen wurden in den meisten Fällen zum Zweck der eheähnlichen Beziehung behalten und nicht zu Arbeitszwecken wie im Falle der erworbenen Sklavinnen. Sie wurden sarārī (Sg. sariyya) genannt, was »Erheiternde« bedeutet. Wenn eine der sarārī männliche Kinder bekam, änderte sich damit meistens ihr Status zum Umm-Walad-Status (»Mutter eines Sohnes«). Nach islamischem Recht durften Frauen mit diesem Status nach dem Tod ihres Herrn weder verkauft noch vererbt werden und ihre Kinder galten als freie Stammesmitglieder. Vor dem Islam galten dafür andere Regeln. Es ist wichtig, die verschiedenen ehelichen Beziehungsformen der vorislamischen Zeit einzeln zu behandeln, um die Änderung des Rechtsstatus der Frau in solchen und durch solche Beziehungsformen, welche auch von 66 67

Kamāl ad-Dīn b. Al-Humām, Šarḥ fatḥ al-Qadīr, 3:175-180. Ibid.

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den Beduinen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts praktiziert oder teilweise praktiziert wurden, zu beleuchten.

Altarabische Eheformen Obwohl Abstammung und Genealogie bis heute eine instanzielle Rolle bei der Bildung und Rekonstruierung stammesgesellschaftlicher Strukturen spielen, gibt es viele Hinweise darauf, dass die Altaraber vor dem Islam die Vaterschaft nicht als Folge des physischen Erzeugens, sondern als einen rechtlichen Anspruch auf die Vaterschaft des Kindes aufgrund des Frauenbesitzes bzw. durch den ehelichen rechtlichen Anspruch auf den Beischlaf mit der Mutter des Kindes betrachtet hatten. Die gleiche Reglung bewahrte ihre Geltung in der islamischen Normlehre Dank dem Hadith: »Das Kind gehört dem (ehelichen) Bett.«68 In einer Gesellschaft, in welcher die ʿaṣabīya nur durch Männer gebildet wurden, war männlicher Nachwuchs nicht nur äußerst begehrt, sondern gefordert. Eigene Söhne waren als Kinder billige Arbeitskräfte und als Erwachsene loyale Kämpfer. Die Geschichte von ʿAbd-al-Muṭṭalib, dem Großvater des Propheten, der Gott versprach, einen seiner Söhne zu opfern, falls Gott ihm zehn Söhne bescherte, ist bekannt. Trotz der höheren Stellung ʿAbd-al-Muṭṭalibs in seinem Stamm Quraiš und obwohl er seine Aufgaben und Privilegien von seinem Onkel erbte und diese reibungslos übernahm, benötigte er die ʿaṣabīya der eigenen Söhne. Diese Art von ʿaṣabīya war die stärkste Form. Sie war weder durch Walāʾ-Verhältnisse noch mittels Adoption (tabannī) oder durch den Abschluss von Bündnis-Verträgen (ḥilf ) ersetzbar. Altaraber, ob in der Stadt oder in der Steppe, zeigten sich stolz auf ihren männlichen Nachwuchs. In einem ḫabar hieß es, dass sich ʿĀmir b. Uḥaimir b. Bahdala in einer Audienz beim König von Ḥīra, an-Nuʿmān b. al-Munḏir, mit seiner Vaterschaft von zehn Söhnen rühmte, während die Söhne seiner Brüder wie auch die Söhne seiner Schwestern nur insgesamt zehn an der Zahl gewesen wären.69 ʿĀmir b. Uḥaimir betrachtete sich durch seine zehn Söhne als mächtiger als seine Brüder, und durch den Anschluss seiner Neffen in seine ʿaṣabīya war er den anderen Stammesmitgliedern überlegen. Das eifrige Streben nach männlichen Nachkom68 69

Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 8:165. Ibn Qutaiba, Faḍl al-ʿarab, 41.

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men zeigte sich deutlich in der Vielfalt der ehelichen Beziehungen, welche die Altaraber kannten und anerkannten oder nur tolerierten, solange sie für männlichen Nachwuchs sorgten. Die verschiedenen unter den Altarabern generell verbreiteten Geschlechtsbeziehungen können in zwei Hauptkategorien eingeteilt werden, die vertraglichen und die nicht-vertraglichen ehelichen Beziehungen.70 Bei den vertraglichen Eheformen ist zwischen befristeten und unbefristeten Eheformen zu unterscheiden.

Die vertragliche unbefristete Ehe (nikāḥ aṣ-ṣadāq/nikāḥ al-baʿūla) Die vertragliche und unbefristete Ehe war die einzige Form der Ehe, welche der Frau gewisse Rechte sicherte. Die Altaraber und die Beduinen der Neuzeit stellten im Allgemeinen drei Bedingungen für die Anerkennung einer Ehe als rechtmäßige Ehe: • • •

Erstens musste der Mann beim Vormund der Frau um sie anhalten. Dies nannten sie ḫuṭba. Zweitens sollte der Vormund die kafāʾa des Mannes für die gewünschte Frau anerkennen. Drittens musste der Bräutigam eine Brautgabe (ṣadāq/mahr/siyāq/faid) entrichten, welche von beiden Familien vereinbart wurde. Eine eheliche Beziehung ohne die Entrichtung einer Brautgabe galt im Allgemeinen eher nicht als eine ehrenhafte Eheverbindung.71

Diese drei Bedingungen wurden im Islam bestätigt und weiter praktiziert. Beim Anhalten um eine Frau ging der Mann – meistens in Begleitung eines

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Diese Klassifizierung bezieht sich auf die bisher bekannten Informationen über die vor dem Islam in und um al-Ḥiǧāz existierenden Formen der Ehe und ist daher nicht zu verallgemeinern. Sie reflektiert u.a. die Bewertung der späteren muslimischen Autoren, welche darüber unter der Rubrik aḥkām al-ǧāhilīya berichtet haben. Allerdings wurde die Existenz solcher ehelichen Beziehungen durch Reiseberichte und ethnographische Werke aus dem 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert bestätigt. Die relevanten Quellen wurden im Unterkapitel »Signifikante der Kohärenz« erwähnt; daher verzichte ich an dieser Stelle auf ihre Wiederholung. Jedoch deutet das Beharren der oberen Stammesschichten darauf, ihre eigenen Töchter gegen höhere Brautgelder durch feierliche Eheschließungen an qualifizierte Männer zu geben, auf ihre Verachtung der anderen Formen der Ehe hin. Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 77f.

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älteren Verwandten – entweder zum Vater, zum Bruder oder Onkel oder sogar zu einem Cousin der begehrten Frau und bat um ihre Hand. Dies durfte er tun, wenn er sich als ebenbürtig (kuf ʾ) sah. Er äußerte seine Absichten und erwähnte dabei, dass er und seine Familie der Familie der gewünschten Frau würdig und ihr gleichrangig seien.72 Durch diese Formulierung beanspruchte die Familie des Bräutigams von der Familie der Braut eine akzeptable Erklärung im Falle, dass sie diese Ehe ablehnten. Ohne eine annehmbare Erklärung konnte die Familie des Bräutigams die Ablehnung ihres Sohnes als Missachtung betrachten, was möglicherweise Feindseligkeiten nach sich zog. Öffentlich durfte ausschließlich der Vormund der Braut für oder gegen die Partie entscheiden. Entschied er dagegen, musste er dies begründen. Manchmal wurden übertriebene Brautgaben verlangt oder einfach behauptet, dass die gewünschte Braut für einen ihrer Vetter vorgesehen war, um eine ungewollte Ehe zu vermeiden. Die Brautgabe wurde ṣadāq oder mahr genannt.73 Spies schreibt in seinem Artikel »Mahr« in der ersten Ausgabe von Encyclopedia of Islam (1936):74 Bei den heidnischen Arabern war die Mahr eine wesentliche Bedingung für die rechtmäßige Eheverbindung; nur dann, wenn eine Mahr gegeben war, kam ein rechtliches festes Verhältnis zustande. Eine Ehe ohne Mahr galt als schimpflich und wurde als Konkubinat betrachtet. Es gab für die mahr keine Grenze und sie war wahrscheinlich vom sozialen Status und Reichtum beider Familien abhängig. So wird berichtet, dass die Banū Kinda für ihre Töchter eine Brautgabe von 100 bis 1000 Kamelen verlangten, da sie sich als die Könige der Araber betrachteten.75 Obwohl der Begriff mahr ursprünglich »Kaufpreis« bedeutete und die an den Vormund der Braut entrichtete Brautgabe bezeichnete während mit dem Begriff ṣadāq ein an die Braut freiwillig vergebenes Geschenk ausdrückt wurde, bezogen sich die beiden Begriffe ṣadāq und mahr später anscheinend nur auf die Brautgabe, welche die Braut behalten sollte. Denn die Altararaber 72 73

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ʿAlī, al-Mufaṣṣal 5:531; vgl. Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 99-123. Ǧawād ʿAlī ist der Ansicht, dass die beiden Begriffe ṣadāq und mahr Synonyme sind (al-Mufaṣṣal V, 530). Jedoch interpretiert Wellhausen die Vielfalt der Bezeichnungen für die Brautgabe als Hinweis auf die früheren Formen der Eheschließung: Die Namen für Brautgeld weisen also auf ursprünglich verschiedene Typen der Ehe, die dann jedoch alle in einen herrschenden Typus zusammengesunken sind (Wellhausen, »Die Ehe«, 435). Spies, »Mahr«, in: Encyclopaedia of Islam. Siehe Zanātī, Nuẓum, 48.

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kannten andere Begriffe wie nāfiǧa und ḥulwān. Die letzten beiden Begriffe bezeichnen, was der Vater der Braut für sich beanspruchte und behielt, wobei nāfiǧa als Attribut zu mahr gebraucht wurde. Dieser Gebrauch der Bezeichnung nāfiǧa kann auch darauf hinweisen, dass die mahr im Besitz der Brautfamilie blieb, um sie zu investieren und zu vermehren. Das Verb nafaǧa bedeutet so viel wie »vermehren«.76 Ǧawād ʿAlī erwähnt, dass die Altaraber das Verlangen des Vaters nach ḥulwān verpönten.77 Der Philologe Ibn Manzūr (1232-1311) ließ jedoch ḥulwān wie mahr gelten: al-ḥulwān al-mahr.78 Qurṭubī berichtet, dass die Altaraber ihren Töchtern kaum etwas von ihren Brautgaben aushändigten, wenn sie in der gleichen ʿašīra (Haushaltsgruppenverband) heirateten. Bei exogamer Ehe erhielt die Braut, wenn sie ihre ʿašīra verließ, ein Reitkamel zum Zweck ihres Umzugs. Im Islam galt mahr als Eigentum und Sicherheit für die Frau. Zudem sagt der Koran: 4 Gebt den Frauen ihre Morgengabe als Geschenk! Doch wenn es ihnen gut erscheint, euch etwas davon abzugeben, so verbraucht es unbeschwert und froh! (Koran 4:4) Es ist daher anzunehmen, dass zur Zeit der Offenbarung kein einheitlicher Brauch für die Brautgabe galt. Jedoch gehörte es zu den edlen Tugenden einer Familie, der Braut ihre ṣadāq mitzugeben. So wird berichtet, dass al-Muġīra b. ʿAbd-ar-Raḥmān aus dem Stamm Quraiš für jede seiner vier Töchter 1000 Dinar als Brautgabe forderte. Als seine Töchter zu den Häusern ihrer Männer gingen, gab er ihnen zusätzlich zur gewöhnlichen Brautausstattung die 1000 Dinar und das, was ihre Haushalte für ein Jahr brauchten.79 Die ṣadāq wurde entweder, wie später auch im islamischen Recht, in Vorzahlung und Nachzahlung geteilt oder vollständig vor der Eheschließung bezahlt. Im Falle der Scheidung durfte die Frau in der Regel die gesamte mahr für sich behalten, außer, wenn sie aufgrund von Unzucht verstoßen oder als hulʿ geschieden wurde. Im Falle von Unzucht musste die Familie der Frau den Ehemann entschädigen und ihm das Brautgeld, welches er für diese Ehe gezahlt

76 77 78 79

Siehe Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, unter N F Ǧ. ʿAlī, al-Mufaṣṣal 5:532. Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab. Siehe ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 7:442.

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hatte, zurückerstatten. Wollte die Frau ihren Mann verlassen und die Ehe beenden, gab sie ihm seine mahr zurück,80 was ḫulʿ genannt wird. Im islamischen Recht wurde dieses altarabische Recht der Frau, die Ehe zu beenden, anerkannt und bestätigt. Wenn ein Teil der mahr vor der Eheschließung als ḥulwān für den Vormund der Frau vereinbart wurde, durfte der waliy ihn behalten. Da eine verheiratete Frau trotz der Eheschließung zur ʿāqila (Solidarund Haftgruppe) ihres Vaters und nicht zu der ihres Mannes gehörte, spielte es keine Rolle, ob ihre Brautgabe in ihrem Besitz oder im Besitz ihrer Blutsverwandtschaft blieb, denn sie waren ihr gegenüber verpflichtet. Das Eigentum einer Frau blieb trotz der Eheschließung unantastbar und wurde nicht zum Eigentum ihres Mannes transferiert. Dies schließt die Behauptung aus, dass der Ehemann mit seiner mahr die Braut kaufte und dass sie daher zu seinem Eigentum gehörte. Denn nach dem altarabischen Recht besitzt derjenige, der Besitz ist, keinen Besitz, wie im Falle der Sklaven und der sabiy (im Krieg gefangene Frauen). Das Recht der freien Frau, Eigentum zu besitzen und es selbst zu verwalten, war den Altarabern nicht fremd. Zanātī interpretiert die Bezahlung von mahr als Kauf des Anspruchs auf die mit dieser Frau gezeugten Kinder.81 Ich gehe einen Schritt weiter und behaupte, dass der Mann durch die mahr den Anspruch auf die Sexualität mit der Frau und die dadurch erzeugten Kinder erwarb.82 Quasi erwarb der Mann durch die entrichtete ṣadāq die Bettrechte. Bei den Altarabern galt, wie im Islam und unter den Beduinen der Neuzeit, die Grundregel: al-walad lil-firāš.83 Dies bedeutet, dass die Vaterschaftsrechte unabhängig von der leiblichen Vaterschaft dem Ehemann allein vorbehalten waren/sind. Allerdings waren diese Rechte von der vereinbarten Form der Eheschließung abhängig, da es nicht auszuschließen ist, dass die unbefristete vertragliche Ehe nicht nur auf patrilineare soziale Verhältnisse beschränkt war. Wenn wir jedoch behaupten, dass durch ṣadāq die Zugehörigkeit der gezeugten Kinder zum Stamm des Ehemannes gesichert wurde, kann die Ṣadāq-Ehe nur als eine charakteristische Praxis einer patrilinearen Gesellschaft gedeutet werden.

80 81 82 83

Vgl. Zanātī, Nuẓum al-ʿarab, I, 77-98. Zanātī, Nuẓum, 56-59; vgl. Smith, Kinship, 77f. und 130f.; vgl. Zanātī, Nuẓum al-ʿarab I, 91-98. Vgl. Smith, Kinship, 130f. Zanātī, Nuẓum, 97-112; vgl. ibid., Nuẓum al-ʿarab I, 153.

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Nur im Kontext ehelicher Rechtsverhältnisse, wie zum Beispiel dem Verhältnis zwischen Brautgabe, Vaterschaft und Stammeszugehörigkeit der Kinder, können Geschlechtsbeziehungen, wie die Šiġār-Ehe, die Badal-Ehe, der istibḍāʿ und Eheschließungsformen wie die Rahṭ-Ehe und die Mutʿa-Ehe erörtert werden.

Die Šiġār-Ehe Die sogenannte Šiġār-Ehe wurde geschlossen, indem der waliy einer Frau dem waliy einer anderen Frau sein Mündel zu einer Heirat ohne ṣadāq anbot. Als Gegenleistung erhielt der Anbieter das Mündel der zweiten Person zur Ehefrau.84 In einer prophetischen Überlieferung unter Berufung auf Ibn ʿUmar heißt es: Der Gesandte Gottes verbat aš-šiġār. Aš-šiġār ist jenes Vorgehen, dass ein Mann seine Tochter mit einem anderen Mann verheiratet, der wiederum ihm seine Tochter zur Frau gibt, wobei beide Seiten auf die Entrichtung eines Brautgelds verzichten.85 Die Gültigkeit beider Eheverhältnisse wurde durch den Verzicht auf die Brautgabe wechselseitig voneinander abhängig. Entschied einer der beiden, sich von seiner Frau zu scheiden, war die Ehe des anderen damit ebenso ungültig und dieser musste seine Frau zu ihrer Familie zurücklassen, da er keine ṣadāq gezahlt hatte. Ǧawād ʿAlī weist darauf hin, dass diese Form der Ehe heute bei den einkommensschwachen gesellschaftlichen Schichten und unter den armen Beduinen verbreitet ist.86 Naheliegend ist, dass dies unter den Altarabern ähnlich war. Die wirtschaftliche Lage vieler armer Hirten könnte zu dieser Praxis geführt haben, bei welcher die mahr gespart wurde. Die Behauptung, dass die Altaraber in ihrem Innersten Händler waren und daher diese Form der Ehe unter ihnen Verbreitung fand, ist meiner Ansicht nach fragwürdig.87 Diese Behauptung ist nicht belegbar. Erstens ist nicht mehr nachvollziehbar, unter welchen sozialen Schichten die Austauschehe bei den Altarabern verbreitet war. Zweitens

84 85 86 87

Siehe Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:35; Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 7:12; vgl. ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:537; Alʿaliy, Tārīḫ al-ʿarab, 179. Ferchl, Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 337; Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 7:12. ʿAlī, al-Mufaṣṣal, 5:537-538. Siehe Cinar, Islamische Überlieferungsliteratur, 126.

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haben wir keine Belege dafür, dass die Austauschehe bei den Mekkanern, den Händlern unter den Arabern, verbreitet war. Belegt ist, dass diese Ehe in Medina praktiziert und vom Propheten unterbunden wurde.88 Das gegenwärtige Praktizieren solcher oder ähnlicher Eheschließungsformen wird meiner Ansicht nach durch die Armut und die Mittellosigkeit der Menschen in bestimmten Gebieten und nicht durch kulturelle Veranlagung veranlasst. Die altarabischen und beduinischen Traditionen können nicht als die einzige Erklärung der Verbreitung solcher Eheschließungen gelten. Ökonomische Gründe, wie Armut und die einfachen Lebensverhältnisse vieler Beduinen, könnten das Motiv für solch eine Eheschließung gewesen sein, genauso wie das Streben, dadurch ein Bündnis zwischen zwei Haushalten oder Stämmen zu besiegeln.89 Zwischen einer Austauschehe infolge einer Bündnisschließung, was unter bestimmten Bedingungen als šiġār bezeichnet werden kann, und einer gegenseitigen Leihgabe von Frauen im Rahmen eines Konfliktbeilegungsabkommens ist aber zu unterscheiden. Šiġār ist als šiġār dadurch zu definieren, dass es ein Austausch zweier weiblicher Mündel unter ihren Vormündern ohne ṣadāq ist. Die Ehen sind unbefristet, allerdings, wie erwähnt wurde, voneinander abhängig. Beim kollektiven Austausch von Frauen unter zwei Stämmen fand der Austausch nicht zwischen zwei Vormündern statt und war demzufolge nicht als šiġār zu betrachten. Es fehlte auch die Personalisierung der Verhältnisse, welche die Gültigkeit von zwei Ehen voneinander abhängig machte. Außerdem handelte es sich bei der Leihgabe von Frauen im Rahmen eines Konfliktbeilegungsabkommens definitiv nicht um eine Šiġār-Ehe, sondern um eine andere Form der Ehe, welche als ġurra bekannt war. Die Ġurra-Ehe war eine Form der befristeten Ehe, welche eigenen Konditionen folgte, die einzeln behandelt werden sollen. Mit dem Islam galt die Šiġār-Ehe als rechtsungültig und war vom Propheten unterbunden worden.90 Denn nach dem islamischen Recht gehört die Entrichtung einer mahr an die Braut zu den Konditionen eines Ehevertrages. Einige Rechtsschulen erkennen die Gültigkeit der Eheschließung an und erkennen gleichzeitig die Kondition, welche beide Ehen voneinander abhängig machen, ab. Dies bedeutet, dass die islamischen Gerichte in solchen Fällen für die Anerkennung der Eheverträge mit der Entrichtung von äquivalenter 88 89 90

Siehe Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:35; Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 7:12. Cinar, Islamische Überlieferungen, 126; Wellhausen, »Die Ehe«, 433. Es gibt keine šiġār im Islam – lā šiġār fī l-islām; siehe Muslim, Ṣaḥīḥ, 2:35.

Frauen in Recht und Gesellschaft zwischen zwei Kulturen

ṣadāq für beide Ehefrauen und Aberkennung der Šiġār-Kondition entscheiden.91 Das gilt aber nicht beim Gelehrten Šāfiʿī, welcher die Šiġār-Ehe als verboten sieht, was die Tilgung der Ehe bedeutet.92 Diese Form der Ehe wird in vielen ländlichen und beduinischen Gebieten bis heute weiter praktiziert und meistens als badal (Austausch) statt als šiġār bezeichnet. Allerdings verstanden die Altaraber unter badal eine andere Form der Eheschließung. Um das Verbot dieser Form der Ehe im Islam zu umgehen, werden beide Ehen unabhängig voneinander vertraglich geschlossen.

Die Badal-Ehe Die Badal-Ehe unterschied sich bei den Altarabern von der Šiġār-Ehe, indem im badal zwei Ehefrauen und nicht zwei Mündel wie im šiġār ausgetauscht wurden. Auch bei dieser Eheschließung wurde keine mahr bezahlt.93 Über diese Form der Ehe sind, außer darüber, dass sie praktiziert wurde, kaum weitere Informationen vorhanden. Trotz dieses Mangels tendiere ich zu der Annahme, dass diese Form der Eheschließung des badal existierte und zumindest in Medina praktiziert wurde. Die Sīra- und Hadith-Werke überliefern in mehreren Berichten, dass die anṣār in Medina oft zugunsten ihrer ausgewanderten Glaubensbrüder aus Mekka auf eine ihrer Ehefrauen verzichteten: nazala lahu ʿan imraʾatih. Buḫārī berichtet unter Berufung auf den Prophetengefährten ʿAbd-ar-Raḥmān b. ʿAuf, dass es erlaubt war, dass ein Mann zu seinem Glaubensbruder sagt: wähle dir eine meiner Frauen aus, damit ich sie zu deinen Gunsten verlasse!94 Prinzipiell ist es gleich, ob ein Ehemann zugunsten eines anderen auf seine Frau verzichtete oder die beiden ihre Frauen tauschten. In beiden Fällen herrscht der Verzicht auf die durch eine Eheschließung mit mahr erworbenen Bettansprüche zugunsten von Anderen ohne Rücksprache mit dem waliy oder der Frau selbst. Auch in diesem Kontext gibt es keine Erwähnung dazu, dass eine neue mahr für die Frau gezahlt wurde oder werden sollte. Die Frau verfügte wahrscheinlich über keinerlei Verweigerungsrechte gegenüber

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Ibn al-Humām, Fatḥu l-Qadīr, 3:338. Ibid. ʿAlī, al-Mufaṣṣal V, 537. Buḫārī, Ṣaḥīḥ, 7:4.

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Theologie und Normen im Wandel

ihrem Mann. Der Mann allein hatte das Recht und er allein durfte darauf verzichten, wenn er wollte. Es ist jedoch wichtig, zwischen diesen beiden Formen der Ehe zu unterscheiden. Daher nenne ich die Praxis der Muslime nach der Auswanderung von Mekka nach Medina die Verzicht-Ehe, auf Arabisch zawāǧ an-nazūl. Diese wurde in einer sehr frühen Phase der Bildung der ersten muslimischen Gemeinde praktiziert, bevor die Offenbarung die Ehe- und Scheidungsangelegenheiten regelte. Mit der Offenbarung der Verse 2:26-33 war zawāǧ an-nazūl nicht mehr erlaubt. 226 Denen, die ihren Frauen abschworen, ist eine Wartezeit von vier Monaten bestimmt. Und wenn sie zurückkehren – siehe, dann ist Gott bereit zu vergeben, barmherzig. 227 Wenn sie sich dann zur Scheidung entschließen – siehe, dann ist Gott hörend, wissend. 228 Die geschiedenen Frauen warten ihrerseits drei Perioden ab, und ihnen ist es nicht erlaubt, dass sie verbergen, was Gott in ihrem Schoße schuf – sofern sie an Gott glauben und an den Jüngsten Tag. Ihre Männer sind voll dazu berechtigt, sie während dieser Zeit zurückzuholen, falls sie Aussöhnung wollen. Und den Frauen steht dasselbe zu, wozu sie ihrerseits nach Billigkeit verpflichtet sind. Die Männer stehen eine Stufe über ihnen. Gott ist mächtig, weise. 229 Die Scheidung: zweimal. Dann jedoch: Festhalten nach Billigkeit oder Entlassung in Gütlichkeit. Und es ist euch nicht erlaubt, dass ihr etwas von dem nehmt, was ihr ihnen gabt – außer, wenn beide fürchten, die Schranken Gottes nicht einhalten zu können. Doch wenn ihr fürchtet, dass die beiden die Schranken Gottes nicht einhalten können, dann liegt für beide keine Sünde in dem, womit sie sich freikauft. Das sind die Schranken Gottes. Überschreitet die Schranken Gottes nicht! Doch wer die Schranken Gottes überschreitet, das sind die Frevler! 230 Wenn er sie entlässt, ist sie danach für ihn nicht mehr erlaubt, bis sie einen anderen als ihn zum Mann nimmt. Wenn dieser sie entlässt, dann ist es für beide keine Sünde, wenn sie wieder zueinander zurückkehren, sofern sie beide meinen, dass sie die Schranken Gottes einhalten können. Das sind die Schranken Gottes. Er macht sie den Menschen klar, die Wissen haben. 231 Wenn ihr die Frauen entlasst und sie dann ihren Zeitpunkt erreichen, dann haltet an ihnen fest, nach Billigkeit, oder entlasst sie, nach Billigkeit! Haltet aber nicht lediglich aus Niedertracht an ihnen fest, um so eine Übertretung zu begehen! Wer das tut, der frevelt an sich selbst. Macht die Zeichen Gottes nicht zum Gespött, sondern gedenkt der Gnade Gottes an euch und dessen, was er euch herabgesandt hat von dem Buch und von der Weisheit, um euch damit zu ermahnen! So fürchtet Gott, und wisst, dass Gott Wissen über alles

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hat! 232 Wenn ihr die Frauen entlasst und sie dann ihren Zeitpunkt erreichen, so hindert sie nicht daran, ihre Ehemänner wieder zu heiraten, wenn sie sich untereinander verständigt haben – nach Billigkeit! So wird der von euch ermahnt, der an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag. Das ist für euch geziemend und besonders rein. Gott hat Wissen, ihr aber habt kein Wissen. (Koran 2:226-232) Die Offenbarung schuf eine neue Situation, welche die Frauenrechte bestätigte und stärkte. Die Verse sprechen zwar weder von zawāǧ an-nazūl noch von zawāǧ al-badal oder aš-šiġār, stellen aber klare Reglungen für die Scheidung und erneute Eheschließung. Die Frau muss nun zuerst geschieden werden. Sie muss drei Monate warten, bevor sie noch einmal verlobt oder verheiratet werden darf. Ihr bisheriger Ehemann darf sie wieder zur Rückkehr zur Ehebeziehung fordern. Ihre Zustimmung ist erforderlich und verbindlich. Eine erneute Brautgabe muss vereinbart und entrichtet werden, wenn sie einen neuen Mann heiratet.

Die Erwerbsvermählung (istibḍāʿ) Im zitierten Hadith von ʿĀʾiša hieß es: Eine andere Art der Ehe (nikāḥ) war folgende: Der Mann sagte zu seiner Frau, wenn ihre Menstruation vorüber war: >>Rufe dir den Soundso und lasse dich von ihm schwängern!