Strafrechtliche Produzentenhaftung in der »Risikogesellschaft« [1 ed.] 9783428476671, 9783428076673

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Strafrechtliche Produzentenhaftung in der »Risikogesellschaft« [1 ed.]
 9783428476671, 9783428076673

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ERle HILGENDORF

Strafrechtliche Produzenten haftung in der "Risikogesellschaft"

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 78

Strafrechtliche Produzentenhaftung in der "Risikogesellschaft" Von

Dr. phil. Dr. iur. Eric Hilgendorf

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Fritjof Haft, Tübingen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hilgendorf, Eric: Strafrechtliche Produzentenhaftung in der ,,Risikogesellschaft" / von Erlc Hilgendorf. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Strafrechtliche Abhandlungen ; Bd. 78) Zug1.: Tübingen, Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-07667-2 NE:GT

D21 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprlnt: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07667-2

Meiner Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1992 als Dissertation bei der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Unhersität Tübingen eingereicht. Sie wurde von Herrn Professor Dr. Fritjof Haft betreut, dem ich dafür auch an dieser Stelle noch einmal herzlich danken möchte. Viele Hinweise verdanke ich Herrn Professor Dr. Ulrich Weber, der das Zweitgutachten erstellt hat. Meine Kollegen Albrecht Eißler und Joachim Renzikowski haben das Manuskript gelesen und kritisch kommentiert. Zu danken habe ich auch Herrn Professor Dr. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der "Strafrechtlichen Abhandlungen, N.F.". Mein besonderer Dank gilt schließlich abermals Herrn Alexander Lieventhal für die Erstellung der PC-Druckvorlage. Die Idee, mich mit dem vorliegenden Thema zu beschäftigen, stammt von Cornelius Prittwitz, der im Sommer 1990 im Rahmen einer Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes zusammen mit Felix Herzog eine Arbeitsgruppe zum "Strafrecht in der Risikogesellschaft" leitete. Seither ist die "Risikogesellschaft" in vielfältiger Weise Gegenstand juristischen Interesses geworden. Nicht immer wurde dabei eine hinlänglich skeptische Zurückhaltung gegenüber den Vorschlägen von Soziologen und Sozialphilosophen gewahrt. Ich glaube aber nach wie vor, daß mit dem Topos von der "Risikogesellschaft" Probleme bezeichnet werden, mit denen sich die Rechtsdogmatik bislang noch nicht in ausreichendem Maß beschäftigt hat. Vielleicht können die nachfolgenden Ausführungen dazu beitragen, diese Einschätzung zu erhärten. Die Untersuchung ist auf dem Stand vom Sommer 1992. Später erschienene Arbeiten konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Ich möchte aber bereits an dieser Stelle auf eine demnächst erscheinende Studie von Cornelius Prittwitz hinweisen, in der sich der Autor umfassend mit den Problemen des "Risikostrafrechts" auseinandersetzt. Sie trägt den Titel: "Strafrecht und Risiko. Untersuchungen zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesellschaft". Die Arbeit von Prittwitz, die ich nach Abschluß meiner eigenen Untersuchung noch als Manuskript einsehen durfte, wird viele Fra-

8

Vorwort

gen beantworten, die in der vorliegenden, weit weniger ehrgeizig angelegten Studie offengeblieben sind. Tübingen, im Oktober 1992

Eric Hilgendorj

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

A.

Die "Risikogesellschaft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . " I. Die Thesen Ulrich Becks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. "Alte" und "Neue" Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 23

B.

Die "Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht. .. 11. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Zivilrecht . . . . . . ..

29 29 34

c.

Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht . . . . . . . . . . I. Auf dem Weg in den "Interventionsstaat"? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. "Risikogesellschaft" und "Risikostrafrecht" . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. "Funktionalismus" und Gesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. IV. Die "Flexibilisierung" des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Beispiel Umweltstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VI. "Vemunftrechtliche" Schranken des Gesetzgebers? . . . . . . . . . . . . .. VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 40 43

D.

Wirtschaftsstrafrecht und der Allgemeine 'Jeil des Strafrechts . . . . . . . .. I. Zum Begriff" Wirtschaftsstrafrecht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. Sonderstrafrecht der Wirtschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Reibungszonen auf der Thtbestandsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . " IV. Rechttertigungs- und Entschuldigungsgrunde im Wirtschaftsstrafrecht .. V. Probleme der inflationären Fahrlässigkeitsahndung . . . . . . . . . . . . .. VI. Zum Problem der Stratbarkeit juristischer Personen . . . . . . . . . . . .. VII. Folgerungen aus der Straflosigkeit juristischer Personen. . . . . . . . . .. VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 58 59 61 64 66 69 72 75

E.

Die zivilrechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick . . . . . . . . . . I. Anspruchsgrundlagen für die zivilistische Produzentenhaftung . . . . 11. Beweisprobleme in der zivilistischen Produzentenhaftung . . . . . . . III. Tendenz zur Gefährdungshaftung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das neue Produkthaftungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77 78 80 83 86

. .. . .. . .. . .. . ..

45 48 52 54 57

10

Inhalt

F.

Anmerkungen zur historischen Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

89

I. Die frühe Entwicklung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

89

11. Die Entwicklung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

III. Exkurs: Zur Geschichte des Lebensmittelstrafrechts . . . . . . . . . . . .. 101

G.

Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen sowie die Feststellung der im konkreten Fall gegebenen Handlungspfticht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105 I. Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105 11. Die Feststellung der gebotenen Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . .. 108

H.

Kausalität und objektive Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Die Kausalitätsproblematik im Contergan-Fall. . . . . . . . . . . . . . . .. 115 11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall . . . . . . . . . . . . . . .. 121 III. Exkurs: Die Lehre von der objektiven Zurechnung und die strafrechtliche Produzentenhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 128

I.

Die GarantensteIlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 134 I. Der Argumentationsgang des BGH im Lederspray-Fall . . . . . . . . . . . 135 11. Die Kritik Kuhlens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 III. Der Begründungsansatz Schünemanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

J.

Die Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Judikatur zur objektiven Sorgfaltswidrigkeit auf das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146 I. Das Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 146 11. Traditionelle Einwände gegen die Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Sorgfaltsanforderungen auf das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Die Argumente Kuhlens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153

K.

Zur Bedeutung der §§ 319, 320, 330a für die strafrechtliche Produzentenhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 164

Zusammenfassung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 172

Die Abkürzungen folgen H. Kirchner, F. Kastner: Abkürzungen für Juristen. Alphabetisches Verzeichnis der Abkürzungen sowie Zitiervorschläge für Kommentare. Berlin, New York 1983.

Einleitung Ein neuer Begriff hat Hochkonjunktur: die "Risikogesellschaft" . Soziologen, Philosophen und Historiker verwenden ihn, um die Charakteristika der Gegenwart "auf den Begriff" zu bringen. Inzwischen hat er sich fast zu einem Passepartout in den Sozialwissenschaften gemausert. Auch Juristen bemühen sich, den Topos "Risikogesellschaft" für die besonderen Problemstellungen ihres Faches fruchtbar zu machen. Nicht nur in rechtspolitischen Auseinandersetzungen, sondern ebenso im Feld der Rechtsdogmatik wird der Begriff benutzt, um eine Gesellschaft zu bezeichnen, in der allgemeine Gefahrdungslagen mehr und mehr das öffentliche Bewußtsein bestimmen. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, der Verwendung des Topos "Risikogesellschaft" in der Rechtswissenschaft nachzuspüren und seine Fruchtbarkeit zu überprüfen. Dabei stehen rechtsdogmatische Fragestellungen im Vordergrund; rechtspolitische oder rechtsphilosophische Aspektel bleiben weitgehend ausgeblendet. Die Jurisprudenz steht Modevokabeln aus der Soziologie in der Regel außerordentlich skeptisch gegenüber - zu Recht, wie ich meine, denn die systematische Arbeit an der Rechtsdogmatik verträgt sich schlecht mit den oft unklaren und politisch aufgeladenen Wortschöpfungen der Soziologen und Sozialphilosophen. Umso mehr überrascht es, daß es dem Topos "Risikogesellschaft" offenbar geglückt ist, in der Rechtswissenschaft festen Fuß zu fassen. Vielleicht rührt dies daher, daß die Risiken, die der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt in den modernen Gesellschaften gebracht hat, inzwischen von der Rechtsordnung nicht mehr ignoriert werden können. Eines der Kernprobleme besteht darin, daß die neuen Risiken kaum noch einer einzelnen Gefahrenquelle zugerechnet werden können, sondern in der Regel nur multi kausal zu erklären sind. Das traditionelle rechtliche Instrumentarium wird durch die neuen Risiken auf eine harte Probe gestellt. Beson-

I Die Diskussion um die "Risikogesellschaft" steht in der Tradition der Fortschrittsskepsis, die als Gegenbewegung zur Aufklärung entstand und besonders in Deutschland stets sehr einflußreich war. Vgl. dazu R. P. SiefeIe: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984 (Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen, Bd. 5).

12

Einleitung

ders deutlich wird dies im Zivilrecht, wo zur Bewältigung der modernen Umweltgefährdungen und anderer grenzüberschreitender Großrisiken die Gefährdungshaftung die überkommene Verschuldenshaftung in zunehmendem Maße verdrängt. Zu nennen ist hier zunächst § 84 AMG aus dem Jahr 1978, worin unter dem Eindruck der Contergan-Katastrophe für die Risiken aus Arzneimitteln eine objektive Haftung eingeführt wurde. Zwei Jahre später folgte § 114 BBergG, der für Schäden im oder aus einem Bergbaubetrieb eine Gefährdungshaftung festlegt. Im vorliegenden Zusammenhang noch wichtiger sind das am 1. 1. 1990 in Kraft getretene Produkthaftungsgesetz, das in § 1 eine Gefährungshaftung für schadhafte Produkte regelt, die seit dem 1.7.1990 rechtswirksame objektive Haftung im Bereich der Gentechnologie2 sowie zuletzt die Einführung der Gefährdungshaftung durch § 1 des am 1. 1. 1991 in Kraft getretenen Umwelthaftungsgesetzes. Deutsch3 spricht bereits von einem neuen .. System der Gefährdungshaftungen", das unter dem Eindruck der modernen Großrisiken entstanden sei. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, welche Auswirkungen die Probleme der .. Risikogesellschaft" auf das Strafrecht und insbesondere die Strafrechtsdogmatik haben könnten. Diesem Problem sind vor allem Cornelius Prittwitz und Winfried Hassemer nachgegangen. Hassemer" hat es unternommen, einige der wesentlichen Charakteristika eines .. Risikostrafrechts " herauszuarbeiten. Dabei betont er unter anderem die Gefahr einer .. Flexibilisierung" der historisch gewachsenen strafrechtlichen Dogmatik durch Gesetzgeber und Rechtsanwender, die mehr auf kurzfristige kriminalpolitische Effizienz bedacht sind als auf die Bewahrung rechtsstaatlicher Traditionen, wie sie vor allem in der Vorstellung vom Strafrecht als der .. ultima ratio" ihren Ausdruck gefunden haben. In dieselbe Richtung zielt Cornelius Prittwiti, wenn er von einer .. Funktionalisierung" des modernen Strafrechts spricht. Prittwitz weist allerdings zu Recht darauf hin, daß eine .. Funktionalisierung" des Rechts nicht ohne weiteres negativ zu bewerten ist. Auch Tendenzen zu einem .. Gefährdungsstrafrecht" , das von manchen Autoren mit dem .. Risikostrafrecht" gleichgesetzt wird, sind nicht apriori negativ einzuschätzen. Vo-

2 Vgl. insbesondere § 32 GenTG und dazu die Komrnentierung in G. Hirsch, A. Schmitt-Didczuhn: Gentechnikgesetz (GenTG) mit Gentechnik-Verordnungen. München 1991. 3 E. Deutsch: Das neue System der Gefahrdungshaftungen: Gefährdungshaftung, erweiterte Gefährdungshaftung und Kausal-Vermutungshaftung. In: NJW 1992, S. 73 - 77. 4 W. Hassemer, V. Meinberg: Umweltschutz durch Strafrecht? In: Neue Kriminalpolitik 1989, S. 46 - 49; ders.: Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz. In: NStZ 1989, S. 553 - 559. Weitere Nachweise unten Kapitel 3. 5 C. Prittwitz: Funktionalisierung des Strafrechts. In: StV 1991, S. 435 - 441.

Einleitung

13

gel6 erwähnt zu Recht, daß sich ein Vorfeldstrafrecht ohne weiteres .. auch in ein betont sozialstaatliches System des Schutzes und Ausgleichs einfügen" oder durch Rekurs auf das .. Menschenrecht auf Sicherheit" sogar rechtsstaatlieh-liberal begründen läßt. Von manchen Autoren wird die Ausweitung des Strafrechts über das tradierte liberale Strafrecht hinaus zum Schutz überindividueller Rechtsgüter wie dem Verbraucherschutz sogar ausdrücklich empfohlen. 7 Freilich bestehen gegen ein derart .. funktionalisiertes" Strafrecht stets auch rechts staatliche Bedenken, die vor allem in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Varianten der .. Sozialen Verteidigung" herausgearbeitet wurden. 8 In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, den Auswirkungen der .. Risikogesellschaft" auf das Strafrecht und insbesondere möglichen Tendenzen zu einem .. Risikostrafrecht" weiter nachzuspüren. Als Beispiel eines Rechtsgebiets, das durch die modernen Gefährdungslagen besonders geprägt wird, habe ich die strafrechtliche Produzentenhaftung ausgewählt. Sie wurde erst kürzlich vom Bundesgerichtshof in einem aufsehenerregenden Grundsatzurteil9 wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, nachdem sie jahrzehntelang im Schatten der weit entwickelteren zivilistischen Herstellerhaftung gestanden hatte. Es handelt sich um eine Materie, die im Schnittbereich von Allgemeinem und Besonderem Teil liegt und gleichermaßen praktisch bedeutsam wie dogmatisch schwierig ist. Drei Problem6 J. Vogel: Verbraucherschutz durch strafrechtliche Produkthaftung. Kriminologische und funktionale Aspekte. In: GA 137 (1990), S. 241 - 264 (243). 7 So z. B. K. Tiedemann: Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht. Untersuchungen zu einem rechtsstaatlichen Tatbestandsbegritf, entwickelt am Problem des Wirtschafts strafrechts. Tübingen 1969 (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 27), S. 30 f. Zum Strafrecht als Mittel der Sozial kontrolle im Bereich der Produktkriminalität auch Vogel (Fn 6), S. 254 tf und grundSätzlich Jakobs, AT, 119 tf, 1/14 tf und 2/2 tf. 8 Zum Rechtsstaatsprinzip im Strafrecht vgl. etwa Jescheck, AT, S. 22 und ausführlich K. Amelung: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der "Sozialschädlichkeit" des Verbrechens. Frankfurt a.M. 1972, S. 314 tf. Zur Lehre von der "Defense sociale" BaumanniWeber, AT, S. 25 f; W. Hasserner, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts. 2. Auft., München 1990, S. 28 f, beide mit weiteren Nachweisen. 9 BGH NJW 1990, S. 2560 - 2569 (Urteil vom 6.7.1990,2 StR 549/89). Ausführlicher in J. Schmidt-Salzer: Entscheidungssammlung Produkthaftung. Strafrecht mit Urteilsanmerkungen und einer Einleitung. Loseblatt. Frankfurt a. M. Stand Dezember 1990, IV.1.17 (künftig zitiert als "ES Strafrecht". Die 1. Auft. von 1982 wird zitiert "ES Strafrecht 1982"). Ebenso aufsehenerregend verspricht der Prozeß gegen die Hoechst AG wegen des Psychopharmakons "Alival" zu werden, der demnächst vor der 21. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt a. M. beginnt. Vgl. dazu DIE ZEIT Nr. 11 vom 6. 3.1992, S. 31.

14

Einleitung

kreise dürften im Vordergrund stehen: Die Frage nach der Kausalität zwischen dem Herstellen bzw. Inverkehrbringen eines bestimmten Produktes und dem Eintritt schädigender Erfolge, die genaue und nachvollziehbare Bestimmung der an die Hersteller und Händler zu stellenden Sorgfaltsanforderungen und die präzise Herausarbeitung derjenigen Gesichtspunkte, die eine Verantwortlichkeit beim Unterlassen von Warn- oder Rückrufaktionen zu begründen vermögen, also vor allem die Frage nach der GarantensteIlung. Daraus ergibt sich im einzelnen folgender Aufbau dieser Untersuchung: In Kapitel A soll der Begriff "Risikogesellschaft" , der von Ulrich Beck geprägt und in der Folge von anderen Autoren weiter präzisiert wurde, erläutert werden. Besonders wichtig erscheinen dabei die "neuen Risiken", die der "Risikogesellschaft" ihr spezifisches Gepräge geben sollen. In Kapitel B beschäftige ich mich mit den Versuchen, den Topos "Risikogesellschaft" im Öffentlichen und im Privatrecht fruchtbar zu machen. Kapitel C untersucht die Rezeption des Begriffs "Risikogesellschaft" im Strafrecht, wobei den Analysen Winfried Hassemers und seiner Charakterisierung eines "Risikostrafrechts" besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den darauf folgenden Kapiteln geht es um die Frage, ob sich diese Charakteristika auch im Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung aufzeigen lassen. Dazu wird in einem ersten Schritt das Verhältnis von Wirtschaftsstrafrecht und allgemeinem Strafrecht skizziert (Kapitel D); Kapitel E gewährt einen Überblick über das Recht der zivilistischen Produzentenhaftung und in Kapitel F folgen einige Anmerkungen zur historischen Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung. In den Kapiteln G bis J wird die bisherige Rechtsprechung zur strafrechtlichen Produzentenhaftung daraufhin untersucht, ob sich in ihr Anzeichen einer rechtsstaatlich bedenklichen "Flexibilisierung" auffinden lassen, wie sie Hassemer als ein zentrales Merkmal des Risikostrafrechts herausgearbeitet hatte. Dabei beschränke ich mich auf die Komplexe "Abgrenzung von Tun und Unterlassen" und "Feststellung der gebotenen Handlungspflicht" (Kapitel G), "Zurechnung" (Kapitel H), "GarantensteIlung" (Kapitel I) und die Frage nach der Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Judikatur zur objektiven Sorgfaltspflicht auf das Strafrecht (Kapitel J). In Kapitel K schließlich wird der Bedeutung der §§ 319, 320, 330a StGB für die strafrechtliche Produzentenhaftung nachgegangen. Es bedarf keiner ausführlichen Begründung, daß bei der Berücksichtigung der Sekundärliteratur Vollständigkeit nicht erreicht werden konnte. Ebenso habe ich der Versuchung widerstanden, im Hinblick auf die Dogmatik der strafrechtlichen Produzentenhaftung oder gar das damit zusammenhängende

Einleitung

15

Nebenstrafrecht Vollständigkeit anzustreben. Es existieren bereits ausführliche einschlägige Darstellungen aus der Feder von Eberhard Goll \0 und Joachim SChmidt-Salzerll ; ihnen noch eine dritte umfängliche Arbeit an die Seite zu stellen, erschien mir wenig sinnvoll. Der Begriff "Risiko" ist in der Strafrechts lehre bekanntlich seit langem heimisch, man denke nur an die "Risikoerhöhungslehre"12 oder die Versuche, mit Hilfe des Risikobegriffs die Vorsatzdogmatik zu präzisieren. 13 Mit der Fragestellung, die in der vorliegenden Arbeit behandelt wird, haben diese Ansätze jedoch nichts oder doch nur sehr wenig zu tun. Auch auf ausführliche rechtsvergleichende Hinweise habe ich bewußt verzichtet, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, obgleich gerade die Entwicklung der Produzentenhaftung in den Vereinigten Staaten höchst aufschlußreich ist. 14 Ebenso mußten kriminologische l5 und strafprozessualel6 Aspekte unberücksichtigt bleiben. Ein sehr ausführliches Literaturverzeichnis soll aber zumindest das einschlägige Schrifttum erschließen helfen. Mir kam es darauf an, am Beispiel der strafrechtlichen Produzentenhaftung einige Thesen zur Entwicklung des Strafrechts in der Gegenwart zu überprüfen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten weitgehend im Zeichen der "Risikogesellschaft" stehen wird.

10 E. Goll: Strafrechtliche Produktverantwortung. In: Produkthaftungshandbuch. Hg. von Graf zu Westphalen. Bd. 1: Vertragliche und deliktische Haftung, Strafrecht und ProduktHaftpflichtversicherung. München 1989, S. 597 - 645. 11 1. Schmidt-Salzer: Produkthaftung. Bd. 1: Strafrecht. 2. Aufl., Heidelberg 1988. 12 Dazu zuletzt Roxin, Strafrecht AT 1, 11/59 - 11/84. Im Umkreis der Risikoerhöhungslehre wird bisweilen auch der Ausdruck "Risikostrafrecht" verwendet, so etwa von 1. Wolter: Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem. Berlin 1981 (Strafrechtliche Abhandlungen N. F., Bd. 40), S. 38, 57 Fn. 152 und passim.

13 Zu nennen ist hier vor allem die Monographie von W. Frisch: Vorsatz und Risiko. Grundfragen des tatbestandsmäßigen Verhaltens und des Vorsatzes. Zugleich ein Beitrag zur Behandlung außertatbestandlicher Möglichkeitsvorstellungen. Köln u. a. 1983. 14 Dazu E.-G. Bähr: Strafbarkeit ohne Verschulden (Strict liability) im Strafrecht der USA. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Baden-Baden 1974. Vgl. auch den Überblick von D. Debusschere: Vereinigte Staaten von Amerika - Das materielle Produkthaftungsrecht. In: F. von Westphalen: Produkthaftungshandbuch. Bd. 2: Das deutsche Produkthaftungsgesetz, Internationales Privat- und Prozeßrecht, Länderrechte zum Produkthaftungsrecht. München 1991, S. 219 - 317. 15 Dazu mit ausführlichen Nachweisen Vogel (Fn 6), S. 247 - 254. 16 Interessant ist vor allem das Beweisrecht. Zum Anscheinsbeweis vgl. L. Kuhlen: Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung. Heidelberg 1989 (Mannheimer rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 7), S. 37 - 57.

16

Einleitung

Welche Folgen dies für das Strafrecht haben könnte, ist Thema der nachfolgenden Untersuchung. Sie stellt damit einen ersten Versuch dar, der Fruchtbarkeit des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht nachzuspüren und zusammenfassend und systematisch Erscheinungen zu betrachten, die bislang trotz ihrer unbestrittenen Bedeutung für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft nur entweder hochabstrakt oder aber sporadisch und punktuell Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen geworden sind.

A. Die "Risikogesellschaft" I. Die Thesen Ulrich Becks Ulrich Beck hat mit seinem Buch "Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne"l sehr viel Aufsehen erregt. Der Begriff "Risikogesellschaft" wurde schnell zu einem nicht nur von Philosophen und philosophisch inspirierten Soziologen hochgeschätzten Modeausdruck, der - wie sein schärfster Konkurrent, die "Postmoderne"Z - die Charakteristika der Gegenwart "auf den Begriff' bringen soll.3 Auf dem 25. Deutschen Soziologentag in Frankfurt a. M. vom 9. bis zum 12. Oktober 1990 mit dem Thema: "Die Modernisierung moderner Gesellschaften" hielt Beck einen der beiden Eröffnungsvorträge, in dem er seine Gedanken zur Risikogesellschaft weiter ausbaute. 4 Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß derartige Etikettierungen immer problematisch und nicht ohne erhebliche Präzisierung für die Einzelwissenschaften und insbesondere die Rechtsdogmatik verwendbar sind. Und doch scheint der Risikobegriff derzeit geradezu im Mittelpunkt des interdisziplinären Interesses zu stehen. Die Fülle der einschlägigen Literatur ist gar nicht mehr überschaubar. 5 Dabei kann man auf zahlreiche ältere Analysen zum

I

Frankfurt a. M. 1986.

Manche Autoren versuchen allerdings, beide Begriffe miteinander zu verbinden. Vgl. z. B. P. Koslowski: Risikogesellschaft als Grenzerfuhrung der Moderne. Für eine postmoderne Kultur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1989, B 36, S. 14 - 30. 3 Vgl. auch die Beiträge in U. Beck (Hg.): Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen. Frankfurt a. M. 1991 sowie K. M. Meyer-Abich: Von der Wohlstandsgesellschaft zur Risikogesellschaft. Die gesellschaftliche Bewertung industriewirtschaftlicher Risiken. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1989, B 36, S. 31 - 42. 4 Der Vortrag Becks ist bislang noch nicht veröffentlicht (Teilabdruck in FAZ vom 19. 10.1990, S. 35). Für einen Überblick über die neuesten Thesen Becks vgl. U. Schimank: Die zwiespältige Moderne. Anmerkungen zu den Eröffnungsvorträgen des Frankfurter Soziologentages 1990. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialphilosophie 43 (1990), S. 193 - 196. 5 Einen ersten Überblick gibt die Bibliographie von R. Hoffmann, M. Borgmann, B. Rohrmann und P. Wiedemann: Kommunikation über ökologische, gesundheitliche und 2

2 Hilgeodorf

18

A. Die "RisikogeselIschaft"

Risikobegriff und seinem Pendant, dem Begriff der "Sicherheit", zurückgreifen. 6 Die Palette der Beiträge reicht von mathematisch orientierten Präzisierungsvorschlägen (meist aus dem Bereich der Versicherungsmathematik) über die Analyse spezifischer Gefahren einzelner Techniken und Untersuchungen zur psychischen Bewältigung dieser Gefahren bis hin zu politischen und moralphilosophischen Abhandlungen. Sehr häufig beschränken sich die Autorinnen und Autoren nicht auf wissenschaftliche Analyse, sondern verbinden sie mit politischen und gesellschaftskritischen Postulaten. 7 Dies gilt in besonderem Maße für die Studie Becks. Der Autor weist selbst darauf hin, daß er angesichts der Brisanz des Themas das "übliche [ ... ] akademische [ ... ] Abwägen" zugunsten einer stimmungsgeladeneren Darstellungsweise aufzugeben gedenkt. 8 Deshalb durchdringt das Buch nicht nur, wie Beck meint, "Kampfeslärm"9, sondern häufig auch der Geist der Poesie: "Wer zwischen den Zeilen hin und wieder das Glitzern eines Sees zu erkennen meint, irrt sich nicht. Breite Teile des Textes wurden auf einem Hügel im Freien oberhalb des Starnberger Sees unter dessen lebhafter Anteilnahme verfaßt. So mancher Kommentar von Licht, Wind und Wolken wurde gleich

geselIschaftliche Risiken des Einsatzes moderner Technologien. Jülich 1988 (Arbeiten zur Risikokommunikation Heft 2). Vgl. ferner die beiden 1980 in der Zeitschrift für Umweltpolitik (ZfU) erschienenen Sonderhefte zur Risikoproblematik (Heft 2 und 4) und daraus insbesondere den Beitrag von J. Conrad und C. Krebsbach-Gnath: Zum gesellschaftlichen Umgang mit technischen Risiken. In: ZfU 1980, S. 821 - 845. Unter den jüngeren Publikationen besonders bemerkenswert M. Schüz (Hg.): Risiko und Wagnis. Die Herausforderung der industrielIen Welt. 2 Bände, PfulIingen 1990. 6 Vgl. vor allem F. X. Kaufmann: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften. 2. Aufl., Stuttgart 1973 (mit umfangr. Bibliographie). Auch die Versicherungsmathematik beschäftigt sich schon seit langem mit der Risikoproblematik, vgl. etwa K. Wolfsdorf: Versicherungsmathematik. Bd. 1: Personenversicherung. Stuttgart 1986. Bd. 2: Theoretische Grundlagen, Risikotheorie, Dachversicherung. Stuttgart 1988. Vgl. ferner J. Conrad (Hg.): GeselIschaft, Technik und Risikopolitik. Berlin u. a. 1983; ders.: Risikoforschung und Ritual. Fragen nach den Kriterien der Akzeptabilität technischer Risiken. In: B. Lutz (Hg.): Technik und sozialer Wandel. Verhandlungen des 23. Deutschen Soziologentages in Hamburg 1986. Frankfurt a. M. 1986, S. 455 - 463. Aus historischer Sicht W. Conze: Artikel "Sicherheit, Schutz". In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch - sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von O. Brunner, W. Conze, R. KoselIeck. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 831 - 862. 7 Was natürlich legitim ist, solange man sich und die Leser über die unterschiedliche Valenz von (deskriptiven) Analysen und (normativen) Stellungnahmen nicht täuscht. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den ausgezeichneten Überblick von S. Scheerer: Neue soziale Bewegungen und Strafrecht. In: KJ 1985, S. 245 - 254. 8 RisikogeselIschaft, S. 12. 9 Ibid.

I. Die Thesen Ulrich Becks

19

eingearbeitet. "10 Diese Ausdrucksweise ist natürlich legitim und die Offenheit des Autors lobenswert. Für unsere Zwecke ist es freilich nötig, die Kommentare von Licht, Wind und Wolken auf ihren kognitiven Gehalt abzuklopfen - was nicht immer ganz einfach sein wird. Becks Leitthese lautet, daß wir uns derzeit in einem grundlegenden Epochenwandel befinden, in dem die Industriegesellschaft von einem neuen makrosoziologischen Typus, der "Risikogesellschaft" , abgelöst wird: "Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere gesellschaftliche Gestalt. "11 Diese "andere gesellschaftliche Gestalt" ist die Risikogesellschaft. Der Begriff der Risikogesellschaft bleibt bei Beck aber außerordentlich unscharf12 , obwohl er fast auf jeder Seite seines Buches auftaucht. In einer neue ren Publikation bestimmt ihn Beck als "die Epoche des Industrialismus, in der die Menschen mit der Herausforderung der entscheidungsabhängigen industriellen Selbstvernichtungsmöglichkeit allen Lebens auf Erden konfrontiert sind. "13 Damit unterscheide sich die Risikogesellschaft von allen bisherigen Kulturen. Im Vorwort zu dem jüngst erschienenen Sammelband "Politik in der Risikogesellschaft" 14 definiert Beck die Risikogesellschaft schließlich als "eine Epoche, in der die Schattenseiten des Fortschritts mehr und mehr die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen" .15 Die Entwicklung hin zur Risikogesellschaft vollzieht sich seiner Ansicht nach mit atemberaubender Geschwindigkeit, so daß viele diesen Epochenumschwung noch gar nicht bemerkt haben: "Wir stehen längst mit einem Fuß in der Risikogesellschaft, aber unser politisches System, unser Rechtssystem, die Wirtschaft, die Wissenschaft, auch die Mehrzahl unserer politischen Akteure sind geprägt von der Wohlstandsgesellschaft und der Verteilungsgesellschaft [... ]. "16

\0

11

Risikogesellschaft, S. 21. Risikogesellschaft, S. 14.

12 So auch P. Wagner: Sind Risiko und Unsicherheit neu oder kehren sie wieder? In: Leviathan 16 (1988), S. 288 - 296 (291). 13 U. Beck: Risikogesellschaft - Die organisierte Unverantwortlichkeit. Aulavortrag der Hochschule St. Gallen Bd. 47. St. Gallen 1990, S. 4. 14 U. Beck (Hg.): Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen. Frankfurt a. M. 1991, S. 10. 15 Zu zwei Versuchen, den Begriff "Risikogesellschaft" weiter zu präzisieren, vgl. u. 11. 16 Risikogesellschaft, S. 8.

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A. Die "Risikogesellschaft"

Um seine These von einem Epochenwandel plausibel zu machen, untersucht Beck Sektor für Sektor die gesellschaftlichen Veränderungen unserer Tage. Im ersten Kapitel analysiert er die "Logik" der Verteilung von Reichtum und Risiko. Nach seiner Einschätzung wird der "Machtgewinn des technisch-ökonomischen Fortschritts [ ... ] immer mehr überschattet durch die Produktion von Risiken." 17 Das zweite Kapitel Becks beschäftigt sich mit dem sozialen, politischen und philosophischen Hintergrund - dem weltanschaulichen Fundament - der aufgezeigten Entwicklungen. Grundthese seiner Kapitel drei bis sechs ist die Behauptung einer "Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen" .18 Es komme zu einer Freisetzung der Individuen aus ihren traditionellen sozialen Bindungen und Wertbezügen. Beck untersucht dies im einzelnen an der überkommenen Klassenund Schichtenzugehörigkeit (Kapitel 3), den Geschlechtsrollen und der Familie (Kapitel 4) und den Bindungen des Berufs (Kapitel 6). Kapitel 5 ist einer Präzisierung des Begriffs der "Individualisierung" gewidmet. Die beiden letzten Kapitel schließlich stehen unter der Überschrift: "Reflexive Modernisierung: Zur Generalisierung von Wissenschaft und Politik." Beck versucht darin die Rolle der Wissenschaft (Kapitel 7) und der Politik (Kapitel 8) zu klären, letztere insbesondere in ihrem Bezug zur Wirtschaft und zum technisch-ökonomischen Wandel. Im Rahmen dieser Arbeit ist es weder möglich noch erforderlich, alle von Beck angesprochenen Aspekte zu diskutieren. 19 Zumindest sollen aber Becks Ausführungen zur Rolle der Wissenschaft in der Risikogesellschaft einer näheren Prüfung unterwgen werden, denn darin scheinen mir Becks wichtigste Thesen in nuce enthalten zu sein. Im Mittelpunkt von Becks Überlegungen zur Rolle der Wissenschaft steht folgender Gedanke: "Handelte es sich früher um ,extern' (Götter, Natur) bedingte Gefahren, so liegt die historisch neuartige Qualität der Risiken heute in ihrer zugleich wissenschaftlichen und sozialen Konstruktion begründet, und zwar in einem dreifachen Sinne: Wissenschaft wird (Mit-) Ursache, Definitionsmedium und Lösungsquelle von Risiken, und eröffnet sich gerade dadurch neue Märkte der Verwissenschaftlichuq?;. "20 Diese Behauptung versucht Beck in vier Thesen zu veranschaulichen:

17

18

Risikogesellschaft, S. 17. Risikogesellschaft, S. 113.

19 Zu Becks These vom Epochenwandel zu Recht kritisch D. Brock: Die Risikogesellschaft und das Risiko soziologischer Zuspitzung. In: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), S. 12 - 24. 20 Risikogesellschaft, S. 254.

I. Die Thesen Ulrich Becks

21

(1) Die Wissenschaften sind heute von der Stufe einer "einfachen Ver-

in der die Wissenschaft auf eine als vorgegeben betrachtete Welt angewandt wurde, zur Phase einer "reflexiven Verwissenschaftlichung" übergegangen, d.h. "die Wissenschaften [sind] bereits mit ihren eigenen Produkten, Mängeln, Folgeproblemen konfrontiert, treffen also auf eine zweite zivilisatorische Schöpfung. "21 Indem die Wissenschaft jedoch ihr Augenmerk auf ihre eigenen Grundlagen und auf ihre Praxis legt, kommt es zu einem "Prozeß der Demystifizierung der Wissenschaften", in dem "ein Maß an Unsicherheit ihren Grundlagen und Wirkungen gegenüber [offenbar] wird, das nur noch übertroffen wird durch das Potential an Risiken und Entwicklungsperspektiven, das sie freilegt. "22 wissenschaftlichu~",

(2) Dadurch, so lautet Becks zweite These, "kommt es zu einer folgenreichen Entmonopolisierung wissenschaftlicher Erkenntnisansprüche: Wissenschaft wird immer notwendiger, zugleich aber auch immer weniger hinreichend für die gesellschaftlich verbindliche Definition von Wahrheit. "23 Was Beck damit ausdrücken möchte, ist nicht ganz klar: Nach dem üblichen Verständnis sind Definitionen Festsetzungen, die nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vorgenommen werden. Dem entspricht die allgemeine Auffassung, daß Wissenschaftler die Wahrheit nicht definieren, sondern die Welt erforschen und so zu wahren Sätzen über sie zu gelangen suchen. Möglicherweise ist dies auch die Ansicht Becks, denn er spricht von einem "Anspruch auf Erkenntnis" , der die Wissenschaften auszeichnet. Dieser Anspruch müsse allerdings mittlerweile "in der Flucht vor dem nun mit wissenschaftlicher Akribie erfolgreich vorangetriebenen Fallibilismus" zurückgeschraubt werden: "An die Stelle des zunächst unterstellten Zugriffs auf Wirklichkeit und Wahrheit treten Entscheidungen, Regeln, Konventionen, die auch anders hätten ausfallen können. "24 Gleichzeitig wächst die "Komplexität des Hypothesenwissens. Dadurch entsteht für Politik, Wissenschaft und allgemeine Öffentlichkeit die Notwendigkeit, die heterogenen wissenschaftlichen Interpretationsangebote aktiv [zu] handhaben. "25 Die Anwendung von Wissenschaft erlangt dadurch einen nicht unbeträchtlichen Freiraum. Beck verschweigt nicht, daß er diese Entwicklung durchaus ambivalent einschätzt:

21

Ibid.

24

Risikogesellschaft, S. 256. Ibid. Ibid.

2S

Ibid.

22 23

22

A. Die .. Risikogesellschaft"

"Sie enthält die Chance der Emanzipation gesellschaftlicher Praxis von Wissenschaft durch Wissenschaft; andererseits immunisiert sie gesellschaftlich geltende Ideologien und Interessenstandpunkte gegen wissenschaftliche Aufklärungsansprüche und öffnet einer Feudalisierung wissenschaftlicher Erkenntnispraxis durch ökonomisch-politische Interessen und ,neue Glaubensmächte' Tür und Tor" .26 (3) Becks dritte These lautet: Je deutlicher die Wissenschaft ihre eigenen Folgeprobleme überdenkt und je klarer die neugeschaffenen Risiken werden, desto drängender wird auch der politische Handlungsbedarf. Zur selben Zeit wächst das Bedürfnis, die "wissenschaftlich-technische Zivilisation" durch die Proklamation von "Sachzwängen", "Systemzwängen" und "Eigendynamiken" in eine "wissenschaftlich hergestellte ,Tabugesellschaft'" zu verwandeln. Beide Bestrebungen, die aktiv-aufklärerische und die retardierende, versuchen sich der Wissenschaft zu bedienen. Somit können die Wissenschaften "nicht länger auf ihrer angestammten Aufklärungsposition des ,Tabu-Brechers' verharren; sie müssen auch noch die Gegenrolle des ,Tabu-Konstrukteurs' übernehmen. Entsprechend schwankt die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaften zwischen Eröffnung und Schließung von Handlungsmöglichkeiten, und diese widersprüchlichen Außenerwartungen schüren professionsintern Konflikte und Spaltungen. "27 (4) In engem Zusammenhang damit steht Becks vierte These: ",Sachzwänge', ,latente Folgewirkungen' , die für die ,Eigendynamik' der wissenschaftlich-technischen Entwicklung stehen, sind ihrerseits hergestellt und damit: prinzipiell auflösbar. "28 Die Wissenschaft ist, so lautet also Becks These, durchaus zur Selbstkontrolle und Lösung der eigenerzeugten Probleme befähigt, wenn sie die Nebenfolgen ihrer Tätigkeit mitreflektiert, ihre Fehlbarkeit einräumt und bereit ist, aus praktischen Fehlern zu lernen. Becks vierte These zur Rolle der Wissenschaften in der Risikogesellschaft ist somit durchaus optimistisch. Man wird aber nicht umhin können einzugestehen, daß Beck mit den "Wissenschaften" vor allem und vielleicht ausschließlich die Naturwissenschaften meint. Seine Äußerungen zur Rolle der Jurisprudenz sind zwiespältig29, obwohl gerade in der Jurisprudenz Becks

26 27

Risikogesellschaft, S. 257. Ibid.

Risikogesellschaft, S. 258. Vgl. einerseits Risikogesellschaft, S. 317 ff, wo Beck die Chancen für eine grundrechtlich umhegte Basisdemokratie und die richterliche Entscheidungsmacht sehr optimistisch einschätzt, andererseits aber die überaus justizskeptischen Äußerungen in ders.: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a. M. 1988, S. 10 f, 214 ff. 28

29

11. "Alte" und "Neue" Risiken

23

Überlegungen zur "Risikogesellschaft" schnell rezipiert wurden. Ehe wir aber auf die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" in der Jurisprudenz näher eingehen, soll versucht werden, den Begriff selbst und vor allem seinen Bestandteil "Risiko" weiter zu präzisieren. 11. "Alte" und "Neue" Risiken

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß bei Beck der Begriff "Risikogesellschaft" und insbesondere dessen Bestandteil "Risiko" merkwürdig diffus bleiben. 30 Christoph Lau 3! hat diese Lücke teilweise geschlossen, indem er unter Anknüpfung an die einschlägige Litemtur32 drei Arten von gesellschaftlichen Risiken idealtypisch herausgestellt hat: Er unterscheidet tmditionelle Risiken, industriell-wohlfahrts staatliche Risiken und die von ihm sogenannten "neuen Risiken". Als Beispiele für die traditionellen Risiken der vormodernen Gesellschaft nennt Lau das Risiko des frühkapitalistischen Unternehmers, die Gefahrdungen eines Naturforschers, eines Arztes oder das BerufSrisiko eines Offiziers. Das Eingehen derartiger Risiken geschah freiwillig und wurde von einem bestimmten gemeinschaftsstiftenden Ethos getmgen. 33 Häufig besaßen derartige Risiken einen festen Ort in gruppenspezifischen Sozialisationsprozessen. Die Risiken waren individuell zurechenbar und zeitlich begrenzt. Allgemeine Lebensgefahrdungen wie Epidemien, Unfalle, Naturkatastrophen und Kriegsfolgen wurden nicht als "Risiken" im tmditionellen Sinn verstanden. Eine - positiv bewertete - Risikobereitschaft im traditionellen Sinn findet sich auch heute noch, etwa in dem Hang zu aufregenden Bergtouren, Abenteuer-

30 Die mangelnde Bestimmtheit des Begriffs "Risikogesellschaft" beklagt auch N. Luhmann: Risiko und Gefahr. St. Gallen 1990 (Hochschule St. Gallen, Aulavorträge 48), S. 4 ff, allerdings ohne selbst den Risikobegriff weiter zu klären. Vgl. jetzt auch dens.: Soziologie des Risikos. Berlin! New York 1991, insbes. S. 16 - 23 mit sprachgeschichtlichen Hinweisen. 31 Ch. Lau: Risikodiskurse: Gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Definition von Risiken. In: Soziale Welt 1989, S. 418 - 436 (Auch in: U. Beck (Hg.): Politik in der Risikogesellschaft (Kap. A, Fn 14), S. 248 - 265). 32 Beck, Risikogesellschaft (Kap. A, Fn 1); M. Douglas, A. Wildavsky: Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technical and Environmental Dangers. Berkeley 1982; A. Evers, H. Nowotny: Über den Umgang mit Unsicherheit. Frankfurt a. M. 1987; F. Ewald: L'etat providence. Paris 1986 (deutsche Übersetzung in Vorbereitung); ders.: Die Versicherungs-Gesellschaft. In: KJ 1989, S. 385 - 393; Ch. Perrow: Normale Katastrophen. Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik. Frankfurt a. M.! New York 1987. 33 Risikodiskurse, S. 420.

24

A. Die "Risikogesellschaft"

reisen, der Vorliebe für riskantes Autofahren oder der Anfälligkeit für die Werbespots bestimmter Zigarettenmarken. In der industriell-wohlfahrts staatlichen Gesellschaft sind es zwar weiterhin Einzelpersonen bzw. bestimmte Personengemeinschaften, die sich Risiken aussetzen; die Risikokosten aber werden nun "vergesellschaftet". Dies geschieht durch "Umverteilung der monetären Risikofolgen auf die Solidargemeinschaft der Versicherten"34, also durch Versicherung.35 Dadurch werden Risiken zu "Kostenfuktoren individueller, betrieblicher und staatlicher Kalkulation" und zum "Gegenstand von Konftikt- und Bargainingprozessen. "36 Im Zuge dieser "Kollektivierung individueller Risiken" wird das traditionelle Risikoethos entzaubert und die Frage nach der individuellen Zurechnung von Risiken von der Frage nach den - von der Solidargemeinschaft zu tragenden - Kosten getrennt. Lau spricht von einer "Entwicklung zur Versicherungsgesellschaft" .37 Nach wie vor sind jedoch die potentiellen Schäden, die Ursachen und Folgen der Risiken in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht eingrenzbar. Dies ändert sich erst bei den "neuen Risiken". Bei ihnen handelt es sich um "Mischfurmen aus individuell-wohlfahrts staatlichen Risiken und den nicht als Risiken begriffenen allgemeinen Lebensgefahren. "38 Dies bedeutet im einzelnen: Die neuen Risiken werden vom Individuum nicht mehr freiwillig eingegangen, man ist von ihnen vielmehr - um eine Modevokabel zu verwenden "betroffen". Dadurch entstehen nicht selten "spontane Solidarisierungsprozesse über Gruppengrenzen hinaus "39, die allerdings nicht von langer Dauer sind. Die neuen Risiken sind zwar grundsätzlich nach ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und nach ihren ökonomischen Kosten und Nutzanwendungen kalkulierbar, doch erscheinen Lau derartige Kalkulationen wegen der Art,

34 Risikodiskurse, S. 421 mit Verweis (in Fn 13) auf Ewald (vgl. oben Kap. A, Fn. 32) und Evers/Nowotny (oben Kap. A, Fn. 32). 3S Zur Geschichte der Versicherung F. Büchner: Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff der Versicherung. In: Grundprobleme des Versicherungsrechts. Festgabe für Hans Möller zum 65. Geburtstag. Hg. von R. Schmidt und K. Sieg. Karlsruhe 1972, S. 111 134. G. Hellmer: Grundlinien der Geschichte der Versicherung. In: Internationales Versicherungsrecht. Festschrift für Albert Ehrenzweig zum 80. Geburtstag. Hg. von H. Möller, Karlsruhe 1955, S. 57 - 70. Einen neueren zusammenfassenden Überblick gibt W. Mohr: Artikel "Versicherung". In: Staatslexikon. Hg. von der GÖrres-Gesellschaft. Bd. 5. Freiburg i. Br. 1989, Sp. 711-719. 36

37 38

39

Lau, Risikodiskurse, S. 422. Ibid. Risikodiskurse, S. 423. Ibid.

11. "Alte" und "Neue" Risiken

25

dem Umfang und der mangelnden Vergleichbarkeit der Schäden und ihrer Ursachen als sehr problematisch. 40 Die neuen Risiken werden also nicht freiwillig eingegangen, sondern treffen die Menschen wie Naturkatastrophen. Trotzdem beruhen sie auf dem "Entscheiden und Handeln von Individuen bzw. von Institutionen. "41 Lau versucht dies durch zwei unterschiedliche Faktoren zu erklären, zum einen durch "nicht intendierte kollektive Effekte vieler Individualhandlungen"42 und zum anderen durch das "systematische Auseinanderfallen von Risikoverursachung und Risikobetroffenheit. "43 Als Beispiel für den ersten Faktor nennt er die Bodenerosion, das Ozonloch, das Waldsterben, die Luftverschmutzung, Wasser- und Lebensmiuehergiftungen (!) sowie Epidemien und Überschwemmungen. Lau erwähnt zu Recht die besondere Rolle, die die Wissenschaft bei der Feststellung und Einschätzung dieser bekannten Risikoherde spielt: "Erst wissenschaftliche Erkenntnis stellt [... ] individuelle Mitverantwortlichkeit für globale Gefahrdungen fest und macht sie damit vom Fatum zur Option. "44 Es ist also die Wissenschaft, durch die die U rsächlichkeit menschlichen Handeins für die genannten Katastrophen erst erkannt wird. Als Beispiel für den zweiten Wirkungsfaktor, also das "Auseinanderfallen von Risikoentscheidung und -belastung,,45 nennt Lau die moderne Chemie, die Kernenergie und die Gentechnologie. Spätestens seit dem offensichtlichen Scheitern der Fortschrittsutopien wird die Akzeptanz der neuen Risiken nicht mehr durch ein bestimmtes Ethos oder eine bestimmte Ideologie gestiftet. Auch eine individuelle Entschädigung etwa durch Versicherungsleistungen - ist weitgehend sinnlos geworden. Deshalb bleiben den Betroffenen "in erster Linie kognitiv-emotionale Bewältigungsstrategien [ ... ] angesichts der globalen Gefahren und fehlenden sozialen oder ökonomischen Auffangmechanismen. "46 An welche Mechanismen Lau hier denkt, erläutert er leider nicht weiter. 47 Die neuen Risiken bewirken, daß "die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie Klasse, Beruf, Schicht, Nachbarschaft, Geschlecht und Generation" an

41

Ibid. Diese Einschätzung wird von Lau leider nicht weiter erläutert. Ibid.

42

Ibid.

43

Ibid.

40

44

45 46

47

Ibid. Risikodiskurse, S. 424. Risikodiskurse, S. 425. Vgl. aber immerhin Risikodiskurse, S. 426 Fn 21.

26

A. Die "Risikogesellschaft"

Sinn verliert, weil sie alle Menschen gleichermaßen bedrohen. Diese egalisierende Wirkung beruht u. a. darauf, daß die neuen Risiken nicht nur hinsichtlich der Zahl der Betroffenen, sondern auch hinsichtlich der Schwere, des Umfungs und der Dauer der möglicherweise auftretenden Schäden unbestimmt sind. Nicht nur gewisse Tätigkeiten werden riskant, selbst der Alltag wird gefährlich. Beck hat sich den Ausführungen Laus im wesentlichen angeschlossen. 48 Er kennzeichnet die Gefahren der Risikogesellschaft nun durch folgende drei Gesichtspunkte: - sie sind nach Ort, Zeit und Kreis der Betroffenen nicht einzugrenzen, - sie sind nach den geltenden Regeln von Kausalität, Schuld und Haftung nicht zurechenbar49 und - sie sind nicht versicherungsfähig. Als Beispiele nennt Beck insbesondere atomare, chemische, ökologische und gentechnische Gefahren. 50 Im Sinne dieser Skizze sollen die Begriffe "Risiko" und "Risikogesellschaft" (als einer durch derartige Risiken charakterisierten Gesellschaft) im folgenden gebraucht werden. 51 Es ist allerdings offenkundig, daß der Begriff der "neuen Risiken" immer noch durchaus präzisierungsfähig ist. Wichtige Vorschläge dazu hat kürzlich Hans Christoph Binswanger gemacht. 52 Unter der Geltung der traditionellen Risikokonzeption53 lag es nahe, Risiken in erster Linie durch Minimierung

Politik in der Risikogesellschaft, S. 10. Vgl. zum Aspekt der Zurechenbarkeit auch: Politik in der Risikogesellschaft, S. 15. Als mögliche Korrektive zur Wiederherstellung der Zurechenbarkeit nennt Beck die Veränderung von Beweislasten, die Öffnung von Gremien und Gutachterkreisen für "fachlichen Pluralismus, [ ... ], Gegenexperten [und] Laienanwälte", die Reform des Haftungsrechts sowie die Aufdeckung der" Unversicherbarkeit vieler großtechnischer Entwicklungen". 48

49

50

51

Ibid. Beck gebraucht die Begriffe "Gefahr" und "Risiko" hier also synonym. Vgl. aber auch den Definitionsvorschlag bei Prittwitz, StV 1991, S. 438.

H. C. Binswanger: Neue Dimensionen des Risikos. In: ZfU 1990, S. 103 - 118. Wonach "Risiko" als das Produkt von Eintretenswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß verstanden wird. Vgl. dazu B. Bender / R. Sparwasser: Umweltrecht. Grundzüge des öffentlichen Umweltschutzrechtes. 2. Auft., Heidelberg 1990, Rz 530 ff, wo (Fn 71) zu Recht die unpräzise Verwendungsweise der Begriffe "Risiko" und "Gefahr" beklagt wird. Einen Überblick über die verschiedenartigen Verwendungsmöglichkeiten dieser und verwandter Begriffe in der Rechtswissenschaft gibt A. Reich: Gefahr - Risiko - Restrisiko. Das Vorsorgeprinzip am Beispiel des Immissionsschutzes. Düsseldorf 1989 (Umweltrechtliche Studien 5), S. 75 - 87. Zum Risikobegriff aus technischer Sicht vgl. W. D. Rowe: Ansätze und Methoden der Risikoforschung. In: 1. Conrad (Hg.): Gesellschaft, Technik 52 53

H. "Alte" und "Neue" Risiken

27

der Eintretenswahrscheinlichkeit, also etwa durch effizientere Sicherheitsvorkehrungen, zu reduzieren. Das Schadensausmaß wurde nicht oder doch nur am Rande berücksichtigt. Binswanger ist der Meinung, angesichts der "neuen technologischen Großrisiken" müsse der Risikobegriff erweitert werden. Es sei verfehlt, "die neuen Großrisiken in Analogie zu den Risiken der Vergangenheit zu behandeln". 54 Bei den traditionellen Risiken sei das versicherungstechnische Risiko gleich hoch, wenn ein kleiner Schaden häufig oder ein großer Schaden selten auftrete. 55 Bei den neuen Groß risiken sei diese Rechnung hingegen gänzlich unangemessen. Zum einen steige bei Großunfällen die psychologisch erfaßbare Risikoaversion der Bevölkerung stark an. 56 Ein einziger Unfall mit 10.000 Toten wird als sehr viel gravierender beurteilt als 10.000 Unfälle mit je einem Toten (etwa im Straßenverkehr). Ab einer gewissen Schadensgröße wächst das "psychologische Risiko" allein mit der Schwere des Schadens. Zum anderen weist Binswanger darauf hin, daß für Groß risiken auch die Kosten für Vorsorgemaßnahmen und Bereitschaftsdienste rasant zunehmen. Auch dieser Anstieg ergibt sich "mit dem Schadensausmaß allein und nicht wie die Versicherungszahlungen mit dem Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Schadensausmaß. "57 Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, "ob 1O.000mal ein einziger Verunglückter geborgen und gepflegt werden muß oder ob auf einmal 10.000 Verunglückte betreut werden müssen. "58 Um das psychologische Risiko und das vorsorgeorientierte Risiko zu bekämpfen, muß man nach Binswangers Ansicht mit der bisherigen, viel zu sehr an der versicherungstechnischen Problematik orientierten Risikokonzeption brechen und stattdessen verstärkt die Reduzierung des Schadensausmaßes in den Mittelpunkt stellen. 59 Zu prüfen bleibt, welche Konsequenzen die von Binswanger herausgearbeiteten neuen Dimensionen des Risikos für die Rechtsordnung haben könnten. Binswanger äußert sich dazu nicht explizit, deutet jedoch einige Aspekte zumindest an. So sollten seiner Ansicht nach die sogenannten "externen Kosten" der neuen Risiken, die vom Verursacher bislang nicht zu tragen

und Risikopolitik. Berlin u. a. 1983, S. 15 - 38. 54

Neue Dimensionen, S. 105.

55

Neue Dimensionen, S. 106.

56

Neue Dimensionen, S. 108 f.

58

Neue Dimensionen, S. 111. Ibid.

59

Neue Dimensionen, S. 117.

57

28

A. Die "Risikogesellschaft"

waren, auf diesen umgewälzt werden: "Diese Kosten müssen gemäß dem Verursacherprinzip internalisiert werden. Entsprechend ist dem Verursacher der Großrisiken zuzumuten, die Kosten für den Aufbau und die dauernde Bereitstellung einer dem Ausmaß der möglichen Katastrophe entsprechenden Notfull- und Katastrophenorganisation im potentiellen Gefahrenraum zu übernehmen. "60 Um das psychologische Risiko zu senken, müßten die Informations- und Teilhaberechte der Bürger ausgebaut werden; Ziel müsse es sein, "daß alle potentiell vom Risiko Betroffenen (Benachteiligte und Begünstigte) in einem demokratischen Verfahren sich zur Frage äußern können [ ... ], ob sie das noch verbleibende Restrisiko bzw. das damit verbundene Schadensausmaß sich selbst und den anderen zumuten wollen. "61 Hierin trifft sich Binswanger wieder mit Beck. Durch die Ausführungen Laus (und Binswangers) dürfte der Begriff des "neuen Risikos" hinreichend präzis bestimmt worden sein, um als Grundlage der folgenden Ausführungen dienen zu können. Besonders bemerkenswert scheint mir, daß die neuen Risiken sich zwar wie Naturkatastrophen verwirklichen, letztlich aber doch auf menschliches Handeln - auf menschliche Entscheidungen - zurückzuführen sind. Dies legt - besonders angesichts des Gewichts der drohenden Gefahren - auf den ersten Blick die Schlußfolgerung nahe, das Strafrecht könne ein geeignetes Mittel sein, den neuen Risiken zu begegnen, indem man einfach das sie verursachende Handeln pönalisiert. Ob und in welchem Grade diese Schlußfolgerung zutrifft und welche Argumente gegen ein "Strafrecht der Risikogesellschaft" vorgebracht wurden, wird im dritten Kapitel zu untersuchen sein. Zunächst möchte ich mich der Frage zuwenden, wie der Topos von der "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht und im Zivilrecht rezipiert worden ist.

60 6\

Neue Dimensionen, S. 116. Dieser Gedanke ist freilich nicht ganz neu. Neue Dimensionen, S. 115.

B. Die "Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz I. Die Rezeption des Thpos "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht Einer der ersten, die Becks Thesen zur Risikogesellschaft für die Jurisprudenz zu verwerten suchten, war Rainer Wolf.' Seine Ausführungen zur "Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft" können an earl Schmite und vor allem an Ernst Forsthoff' anknüpfen, die schon früh vor der Überwältigung des modernen Staates durch die Technik der Industriegesellschaft warnten. 4 Wolf weist zunächst zu Recht darauf hin, daß angesichts der Risiken moderner Technologien allgemein die Überzeugung vorherrsche, derartige Probleme seien nur durch einen Ausbau der rechtlichen Steuerung in den Griff zu bekommen. Dies zeige sich insbesondere an der UmweltschutzgeI R. Wolf: Zur Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft. In: Leviathan 15 (1987), S. 357 - 391. Vgl. auch dens.: "Herrschaft kraft Wissen" in der Risikogesellschaft. In: Soziale Welt 1988, S. 164 - 187; ders.: Das Recht im Schatten der Technik, KritV 1986, S. 241 - 262. Der Titel von Wolfs Aufsatz aus dem Jahr 1987 ist eine Parallelbildung zu dem Werk von G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956, 5. Aufl., 1980. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1980. Vgl. im übrigen auch R. Voigt (Hg.): Abschied vom Recht? Frankfurt a. M. 1983, wo manche Beobachtungen Wolfs schon vorweggenommen wurden. 2 Vgl. C. Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und 3 Corollarien. Unv. ND. der 1963 erschienenen Auflage. Berlin 1987, S. 75 ff; 85 ff. 3 E. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft. 2. Aufl., München 1971, S. 30 - 50 und 158 - 169. Zur Ideengeschichte des Topos "Sicherheit" im Staatsrecht vgl. G. Robbers: Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion. Baden-Baden 1987. 4 Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Die Rechtsordnung im technischen Zeitalter. Festschrift der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich zum Zentenarium des Schweizerischen Juristenvereins 1861 - 1961. Zürich 1961. Zu den staatlichen Möglichkeiten und Pflichten angesichts der modernen Technik aus heutiger Sicht D. Murswiek: Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformung. Berlin 1985 (Schriften zum Umweltrecht Bd. 3).

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B. Die .. Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz

setzgebung. Die zunehmende Verrechtlichung könne sogar auf die Forderung des Bundesverfassungsgerichts gestützt werden, wonach die Legislative sich zur Abwehr von Gefahren "schützend und fördernd vor die durch Artikel 2 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen" habe. 5 Diesem Zug zur Verrechtlichung entspricht nach Wolf eine ebenso starke Tendenz zur "Vergerichtlichung", der durch Art. 19 Abs. 4 GG Vorschub geleistet worden sei. Es geht dabei u. a. um Flughäfen6 , private Testgelände für Pkw7 , Industrieansiedlungen8 und große Kraftwerke9 , insbesondere Kernkraftwerke lO und anderes mehr. 11 Dies zeige, wie die Probleme der Risikogesellschaft in zunehmendem Maße die Gerichte zu beschäftigen begännen. 12 Doch weder die Verrechtlichung noch die "Vergerichtlichung" haben verhindern können, daß der Staat bei der Bewältigung der neuen Risiken immer wieder Rückschläge einstecken mußte. Als Beispiele erwähnt Wolf das Fehlen von besonderen Rechtsgrundlagen für die Beseitigung industrieller Altlasten oder für die Errichtung privater Teststrecken für Kraftfahrzeuge, das Ausbleiben einer gesetzlichen Regelung des Bodenschutzes oder das Regelungsdesaster bei der Vorsorge gegen radioaktiv verseuchte Lebensmittel nach der Katastrophe von Tschernobyl.13 Gegen die Verrechtlichung und "Vergerichtlichung" stehen also die Schlagworte vom "Regelungsdefizit" und vom "Vollzugsdefizit" . Trotzdem verharrt die Umweltschutzgesetzgebung nach Wolf bei den Grundmustern des überkommenen Polizeirechts 14, welches jedoch kaum angewandt, sondern 5 Vgl. BVerfGE 49, 89, 142 (Kalkar-E.) unter Berufung auf BVerfGE 39, 1, 41 (§ 218E.), zitiert von Wolf, Antiquiertheit des Rechts, S. 359. 6 BVerfGE 56, 54; BVerwG DVBI 87, 573 (München II-E.). 7

E.).

BVerwG DVBI. 85, 1136 (Boxberg-E.); BVerfG EuGRZ 14 (1987), 124 (Boxberg-

BVerwGE 45, 309 (Floatglas-E.); OVG Lüneburg DVBI. 77, 347 (Dow Chemical-E.). BVerwGE 55, 250 (Voerde-E.); 65, 313 (Marbod III-E.); OVG Lüneburg NVwZ 85, 357 (Buschhaus-E.). \0 BVerfGE 49, 89 (Kalkar-E.); 53, 30 (Mülheim-Kärlich-E.); 61, 82 (Sasbach-E.); BVerwGE 61, 256 (Stade-E.); BVerwGE 72, 300 (Wyhl-E.). 11 Vgl. die Angaben bei Wolf, Antiquiertheit des Rechts, S. 359 f. 8

9

12 Vgl. auch zusammenfussend R. Breuer: Gerichtliche Kontrolle der Technik. In: NVwZ 1988, S. 104 - 115. 13 Antiquiertheit des Rechts, S. 360 f. 14 Ausführlich Wolf, Antiquiertheit des Rechts, S. 362 - 363. Vgl. auch U. Preuß:

I. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht

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vielmehr durch informelle Verfahren des "Bargaining" zwischen Verwaltung und Industrie ersetzt werde. 15 Eine wesentliche Ursache für dieses "geradezu skurrile Mißverhältnis zwischen den polizeiförmig angelegten Eingriffsinstrumenten und den tatsächlich kooperativen Handlungsmustern" sieht Wolf in der Verdrängung genuin juristischer Denkweisen durch den "naturwissenschaftlich-technischen Sachverstand" .16 Er spricht pointiert von einer "Herrschaft kraft Ingenieurwissen" 17, das sich in Blankettatbeständen, der Verwaltungsakzessorietät und dem häufigen Rekurs des Gesetzgebers auf technische Normen der Industrie äußere. 18 Außerdem reiche das Alltagswissen schon lange nicht mehr aus, um die neuen Risiken zutreffend einschätzen zu können. Man könnte nun meinen, das Dilemma sei so aufzulösen, daß man die Wertentscheidungen den Bereichen des Rechts und der Politik zuweist, die Technik dagegen die zu der Verwirklichung dieser Ziele erforderlichen Mittel erarbeiten läßt. 19 Die grundlegenden Wertentscheidungen müßten danach vom Parlament getroffen werden. Wolf ist jedoch mit dieser "Repolitisierung" nicht einverstanden: Zum einen ließen sich Wertungs- und Tatsachenelemente schon begrifflich schwer trennen,20 zum anderen "führte [die Repolitisierung] bisher nur zu einer Renaissance der Lehre von der Dezision, ohne neue Dimensionen von Entscheidungsrationalität zu erschließen. ,,21 Zu Wolfs Abwertung von Dezisionen und der Möglichkeit, neue "Dimensionen" von Entscheidungsrationalität zu gewinnen, ließe sich natürlich sehr

Sicherheit durch Recht - Rationalitätsgrenzen eines Konzepts. In: KritV 1989, S. 3 - 26 (10 f). 15

16

Antiquiertheit des Rechts, S. 364 f. Antiquiertheit des Rechts, S. 365.

17 Ibid., unter Verweis auf M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe Tübingen 1985, S. 129. 18 Ausführlich Wolf, Antiquiertheit des Rechts, S. 366 - 369, 370 - 372. 19 So etwa H. 1. Koch: Grenzen der Rechtsverbindlichkeit technischer Regeln im öffentlichen Baurecht. Düsseldorf 1986, S. 56. 20 Antiquiertheit des Rechts, S. 373 Fn 93. Es handelt sich dabei um eine Variante der alten These, Wertungen und Tatsachenbehauptu~en ließen sich bereits grundSätzlich nicht auseinanderhalten. Vor allem in Teilen der Moralphilosophie wird dies vertreten, vgl. etwa K. O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. 1973, S. 358 - 435. Für eine Kritik dieser Aufassung vgl. H. Keuth: Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit. Tübingen 1989 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 59). 21 Antiquiertheit des Rechts, S. 373.

32

B. Die "Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz

viel sagen, handelt es sich doch um einen beliebten Topos der Moralphilosophie und Gesellschaftskritik.22 Da Wolfs moralphilosophische Thesen jedoch für den weiteren Gang seiner Argumentation ohne wesentliche Bedeutung sind, möchte ich von einer Diskussion hier absehen. Wolf versucht seine Thesen durch eine Kritik der gängigen Methoden zur Grenzwert- und Risikobestimmung zu stützen. Zu Recht weist er auf die zahlreichen Probleme einer allseits befriedigenden Grenzwertbestimmung für Umweltbelastungen hin,23 die schon gelegentlich Anlaß zu der Frage gegeben haben, "ob es schadstoff-resistentere Nationen" gebe. 24 Auch den in der Technik verwendeten Risikobegriff - Risiko als das Produkt aus Schadensumfang und mittlerer Schadenshäufigkeit25 - lehnt er ab, da "unterschiedliche Lebensbereiche" nicht kommensurabel seien: "Gleiche Lärmbelastungen durch Kirchenglocken und durch Rasenmäher müssen eben nicht gleichermaßen geduldet werden. "26 Die "Herrschaft kraft Ingenieurwissens " sei damit, auch und gerade unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, unsicher und fragwürdig geworden. 27 Durch einen überzogenen Hang der Rechtsprechung zum "richterlichen self-restraint" würden diese Probleme noch verschärft. 28 Doch welche Lösung hat Rainer Wolf anzubieten? Seine Eingangsthese von der "Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft" läßt allerhand erwarten. Schaut man sich aber seine Lösungsvorschläge genauer an, so erscheinen sie weit weniger radikal: Wolf argumentiert, es sei unmöglich geworden, "durch Gefahrenabwehr ,Sicherheit und Ordnung' für die Risikogesellschaft [zu] garantieren." Weiter 22 Vgl. ausführlich E. Hilgendorf: Argumentation in der Jurisprudenz. Zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz. Berlin 1991 (Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 146), S. 131 - 185. 23 Vgl. dazu auch Beck, Risikogesellschaft, S. 85 - 92 und umfassend G. Winter (Hg.): Grenzwerte. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einer Rechtsfigur des Umwelt-, Arbeitsund Lebensmittelschutzes. Düsseldorf 1986 (Umweltrechtliche Studien 1). 24 So H. Weidner, P. Knoepfel: Politisierung technischer Werte - Schwierigkeiten des Normbildungsprozesses an einem Beispiel (Luftreinhaltung) der Umweltpolitik. In: ZParl. 1979, S. 160 - 170 (161). 25 Dazu H. C. Binswanger (Kap. A, Fn 52), S. 105 fund A. Kuhlmann: Probleme des Restrisikos aus umwelttechnischer Sicht. In: ZfU 1980, S. 661 - 679 (664 t);

Antiquiertheit des Rechts, S. 376. Antiquiertheit des Rechts, S. 377. 28 Antiquiertheit des Rechts, S. 379 - 383. Beck, Risikogesellschaft, S. 319, hatte dagegen die These vertreten, in der Risikogesellschaft würden dem "unabhängigen Richter" Entscheidungsräume eröffnet. 26 27

I. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht

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heißt es: "Die Risikogesellschaft braucht einen Entwurf des Risikorechts, das nicht mehr auf den tönernen Füßen eines adaptierten Polizeirechts begründet ist" .29 Statt einer nicht mehr erreichbaren Sicherheit müsse "Risikobalancierung" angestrebt werden. 30 Derartige Überlegungen sind freilich alles andere als neu. Daß eine völlige Sicherheit vor jedem Schadensfall nie, auch nicht durch ein noch so differenziertes Polizeirecht, erreicht werden kann, ist geradezu eine Trivialität. In der Rechtsprechung ist der Topos vom "Restrisiko" zu einiger Berühmtheit gelangt. 31 Selbst Wolf räumt ein, daß "Risikobalancierung und nicht die binäre Kodierung ,Sicher oder Unsicher' [ ... ] schon heute" das "Risikorecht" charakterisieren. 32 Worin hier die "Antiquiertheit des Rechts" liegen soll, bleibt unerfindlich. Wolf schließt sich der Forderung Luhmanns an, wonach "zentral ermittelte und festgelegte Risikoeinschätzungen und Risikotoleranzen unvermeidlich" seien?3 Diese aber seien, so Wolf, "in keiner anderen Form denkbar als in quantifizierten Umweltstandards. "34 Hinter derartigen "Umweltstandards" verbergen sich jedoch offensichtlich die altbekannten Grenzwerte, die Wolf eben noch so heftig kritisiert hatte. Auch seine Forderung nach der verstärkten Möglichkeit befristeter Genehmigungen im Umweltrechp5 ist zwar de lege ferenda beachtenswert, jedoch kaum so umstürzlerisch, wie seine Ausgangsthese nahelegen könnte. Interessanter sind Wolfs Bemerkungen zur Infragestellung der überkommenen Zurechnungsprinzipien. 36 Die Risikogesellschaft, so Wolf, entwerte nicht nur die Kategorie der Schuld, sondern auch die der Kausalität. Stör und Unfälle seien in einem Maße entpersönlicht, daß "juristische Zentralbegriffe wie ,Vorsatz' und ,Fahrlässigkeit' nicht mehr anwendbar" seien. Kausale Beziehungen seien kaum noch nachweisbar. Das Recht beantworte diese Entwicklung "durch verschuldensunabhängige Risikobalanceinstitute" ,

29

JO

31 32

Antiquienheit des Rechts, S. 385. Antiquienheit des Rechts, S. 386. Vgl. die Nachweise bei Wolf, Antiquienheit des Rechts, S. 386. Ibid.

33 N. Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die modeme Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 2. Aufl., Opladen 1988, S. 137. 34 Antiquienheit des Rechts, S. 386. 35 Antiquienheit des Rechts, S. 387; vgl. dazu auch Beck, Risikogesellschaft, S. 43. 36 Antiquienheit des Rechts, S. 388. 3 Hügeodorf

34

B. Die "Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz

etwa die Regeln der "gefahrgeneigten Arbeit"37 oder die Gefährdungshaftung. Mir scheint, daß Wolf hier einen sehr wichtigen Gesichtspunkt anspricht. Ein beachtliches Beispiel für die von Wolf konstatierte Entwicklung ist die Fortbildung der früher fast ausschließlich auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten zivilrechtlichen Produzentenhaftung zu einer Gefährdungshaftung, wie es im neuen Produkthaftungsgesetz geschehen ist. Leider führt Wolf diese vielversprechenden Ansätze nicht weiter aus. Insgesamt ist zu sagen, daß Wolfs Beck-Rezeption nicht das hält, was sie zunächst verspricht. Wolf weist auf einige Tendenzen der neue ren Rechtsentwicklung hin, die jedoch seine These von der "Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft" keineswegs zu tragen vermögen. Auch Wolfs Weigerung, Rechtspolitik von Rechtsanwendung zu trennen, bleibt schon mangels näherer Ausführung äußerst problematisch. Keines seiner Argumente führt Wolf im Detail aus, sondern begnügt sich mit Andeutungen und Stichworten. Damit kommt er über Beck kaum hinaus. Mit seinen Bemerkungen zur wachsenden Problematik zentraler Rechtsfiguren wie Zurechnung und Schuld und der zunehmenden Bedeutung der Gefährdungshaftung hat Wolf aber doch einige wichtige Hinweise gegeben. Im folgenden wird es nicht zuletzt darum gehen, Wolfs Ausführungen zu vervollständigen und zu präzisieren. 11. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Zivilrecht Auch im Zivilrecht ist der Topos von der "Risikogesellschaft" schnell rezipiert worden. Gert Brüggemeier hat in einem Aufsatz mit dem Titel "Umwelthaftungsrecht - Ein Beitrag zum Recht der ,Risikogesellschaft'?" die "Risikogesellschaft" als gedanklichen Aufhänger seiner Analyse des Umwelthaftungsrechtes gewählt. 38 Sein Ausgangspunkt ist die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl vom 18.3.1987, worin dieser - unter dem

37 Vgl. BAGE 7, 118 und ausführlich W. Zöllner/U.-G. Loritz: Arbeitsrecht. Ein Studienbuch. 4. Aufl., München 1992, S. 226 ff. 38 G. Brüggemeier: Umwelthaftungsrecht - Ein Beitrag zum Recht der "Risikogesellschaft"? In: KJ 1989, S. 209 - 230. Eine zusammenfassende Darstellung des bis zum UmweltHG geltenden Umwelthaftungsrechts findet sich bei W. Hoppe/ M. Beckmann: Umweltrecht. München 1989, S. 259 - 276. Zur Rechtsentwicklung seit 1970 vgl. E.-H. Ritter: Umweltpolitik und Rechtsentwicklung. In: NVwZ 1987, S. 929 - 938.

11. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Zivilrecht

35

Eindruck des Sandoz-"Zwischenfulls" vom 1. 11. 198639 - eine obligatorische Umwelthaftpfiichtversicherung sowie eine Ausweitung der Gefährdungshaftung angekündigt hatte. 40 Brüggemeier weist zunächst zu Recht darauf hin, daß das Umwelthaftungsrecht - obgleich es mit dem bisherigen Umweltrecht in enger Beziehung steht - noch immer eine "diffuse Kategorie" darstellt. 41 Weder sei die Umwelt als solche ein haftungs rechtlich geschütztes Rechtsgut noch bestehe ein "sonstiges Recht" an der Umwelt LS.v. § 823 Abs. 1 BGB. Ebenso seien die Versuche einer persönlichkeitsrechtlichen Fundierung eines "environmental right" gescheitert42 und die einschlägigen Umweltschutznormen spielten als Schutzgesetze L S. d. § 823 Abs. 2 BGB kaum eine Rolle. Angesichts dieser Situation prognostiziert Brüggemeier eine Zweiteilung des Umwelthaftungsrechts: ,,(1) Bisher und auch weiterhin ist Umwelthaftungsrecht Teil des Privatrechts, das den Ausgleich und die Prävention von umweltverschmutzungsbedingten Rechtsgutsverletzungen beinhaltet. Als solches bleibt es kohärenter Bestandteil des traditionellen Haftpfiichtrechts mit seinen zwei Hauptspuren der deliktischen (objektiven) Fahrlässigkeitshaftung und der Gefährdungshaftung. Die engsten thematischen Bezüge weist es zu dem Sonderdeliktsrecht der Produzentenhaftung auf. "43

Die Zukunft des Umwelthaftungsrechts, so meint Brüggemeier, liege jedoch "jenseits des Deliktsrechts ": ,,(2) In Zukunft könnte Umwelthaftungsrecht zudem auch ein Entschädigungsrecht sein, das durch nicht identifizierbare Verursacher(mehrheiten) ausgelöste Individualschäden kompensiert (Schadensfonds) und das jenseits und unabhängig von individuellem Rechtsgüter- und Vermögensschutz emissionsbedingte Beeinträchtigungen des Naturhaushaltes ausgleichspfiichtig

39

FAZ Nr. 255 vom 3. November 1986, S. 7.

Verh. Hf, 11. WP, Steno Ber. Bd. 141,4. Sitzung vom 18. 3. 1987, S. 63. Inzwischen ist ein neues Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG) in Kraft getreten, das diese Vorstellungen weitgehend verwirklicht. Einen Überblick gibt K. Hager, Das neue Umwelthaftungsgesetz. In: NJW 1991, S. 134 - 143. 41 Umwelthaftungsrecht, S. 213. 42 Dazu etwa H. Forkel: Immissionsschutz und Persönlichkeitsrecht. Eine privatrechtliehe Untersuchung. Köln u. a. 1968 (Erlanger juristische Abhandlungen Bd. 1). 43 Umwelthaftungsrecht, S. 213. 40

B. Die .. Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz

36

macht. Definitions- und Regelungsbedarf besteht insoweit insbesondere hinsichtlich der sog. ökologischen Schäden und ihrer Durchsetzung. "44 Ein allgemeiner Gefährdungstatbestand für Rechtsgutsverletzungen infolge von Umweltverschmutzung45 könnte nach Brüggemeiers Ansicht folgende Konturen aufweisen: Der Nachweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der U rsächlichkeit einer bestimmten verschmutzenden Emission für eine Rechtsgutsverletzung liegt beim Geschädigten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Verschmutzungsbeitrag des oder der Emittenten allein oder im Zusammenwirken mit anderen Umweltbelastungen zu der Rechtsgutsverletzung geführt hat. Dem Emittenten bleibt es unbenommen, den Gegenbeweis anzutreten. Bei nur teilweiser Zurechenbarkeit der Schädigung soll eine Proportionalhaftung stattfinden ("pollution share liability")46. Die Verursachungsanteile sind dabei analog § 287 ZPO zu schätzen. Unter UmständenBrüggemeier nennt insbesondere Fälle einer Verletzung der Emissionsbeobachtungs- und Kontrollpfiicht - soll auch eine Beweislastumkehr für die haftungsbegründende Kausalität in Betracht kommen. 47 Ansonsten möchte es Brüggemeier bei den allgemeinen Grundsätzen des Schadensersatzrechts belassen. Er meint allerdings, daß die Umweltgefährdungshaftung neben dem Schadensausgleich auch Schmerzensgeldansprüche vorsehen sollte. Ein derartiger Geflihrdungstatbestand wäre allerdings nach Brüggemeiers Ansicht lediglich "in identifizierbaren und regional überschaubaren Schädiger - Geschädigten - Relationen funktionsfahig. ,,48 Dies reicht jedoch, so meint Brüggemeier, nicht aus: "Das Zusammentreffen von komplexen Kausalitätsfragen, einer Vielzahl von Schädigern, von kumulativen Effekten und von überregionalen Distanzund Langzeitschäden" überfordere auch ein "in Maßen entindividualisiertes

44

Ibid.

45 Zur insbes. durch den Sandoz-Unfall angeregten neueren Diskussion über einen umfassenden Gefährdungstatbestand im Umwelthaftungsrecht vgl. J. W. Gerlach: Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts. Berlin 1989 (Schriften zum Umweltrecht, Bd. 11), S. 334 tf; E. Rehbinder: Fortentwicklung des Umwelthaftungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland. In: NuR 1989, S. 149 - 163; P. Salje: Reform des Umwelthaftungsrechts. In: ZRP 1988, S. 153 - 158; ders.: Zur Kritik des Diskussionsentwurfes eines Umwelthaftungsgesetzes. In: ZRP 1989, S. 408 - 412. 46 Dazu I. C. F. Ohmann: Die .. Market Share Liability" als Lösung des Identifikationsproblems bei alternativ verursachten Massenschäden im US - Deliktsrecht. Diss. jur. München 1986. 47 Umwelthaftungsrecht, S. 221. 48 Umwelthaftungsrecht, S. 222.

11. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Zivilrecht

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Haftungsrecht. ,,49 Deshalb fordert Brüggemeier die zusätzliche Einführung von Entschädigungsfonds: "Ubiquität und Anonymität der Gefährdungen machen eine konsequente Kollektivierung des Schadensausgleichs unumgänglich. "50 Ein weiterer Vorschlag Brüggemeiers betrifft sog. "ökologische Schäden" Y Er versteht darunter "Beeinträchtigung[en] der nicht-eigentumsfähigen Teile des Naturhaushaltes und nicht-restituierbare (nicht-vermögenswerte) Beschaffenheitsveränderungen an den Naturbestandteilen, die sich im Privateigentum befinden oder sonstigen dinglichen Privatrechten unterfallen. "52 Um den Problemen einer exakten Monetarisieru~ zu entgehen, schlägt er vor, ein "ökologisches Schmerzensgeld" i.S. einer billigen Entschädigung für ökologische Schäden einzuführen. Dies würde einen Bruch mit der bisherigen Tradition bedeuten, bei der Gefährdungshaftung für technisch-industrielle Risiken kein Schmerzensgeld zu gewähren (Ausnahme: § 53 Abs. 3 S. 1 LuftVG). Schließlich verlangt Brüggemeier noch die Einrichtung einer obligatorischen Umwelthaftpflichtversicherung. 53 Ein zeitgemäßes Umwelthaftungsrecht sieht Brüggemeier also zusammenfassend durch folgende fünf Aspekte gekennzeichnet:54

49 Dazu ausführlich A. Fenyves, H.-L. Weyers (Hg.): Multikausale Schäden in modernen Haftungsrechten. Verhandlungen der Fachgruppe für Zivilrechtsvergleichung auf der Tagung für Rechtsvergleichung in Innsbruck 1987. Frankfurt a. M. 1988 (Arbeiten zur Rechtsvergleichung, 138), und darin auf S. 99 - 151 H.-D. Assmann zur Rechtslage in Deutschland. 50 Ibid. Zu den Problemen von Entschädigungsfonds vgl. K. KinkeI: Möglichkeiten und Grenzen der Bewältigung von umwelttypischen Distanz- und Summationsschäden. Bestandsaufnahme und rechtspolitischer Ausblick. In: ZRP 1989, S. 293 - 298 (296 ff). M. Kloepfer: Umweltrecht. München 1989, S. 241 m. w. N. in Fn 593. Als Alternative zu Entschädigungsfonds sind neuenlings auch "Umweltgenossenschaften" im Gespräch, vgl. dazu umfassend G. Wagner: Kollektives Umwelthaftungsrecht auf genossenschaftlicher Grundlage. Berlin 1990 (Schriften zum Umweltrecht Bd. 16). 51 Dazu auch E. Gassner: Der Ersatz des ökologischen Schadens nach geltendem Recht. In: Umwelt- und Planungs recht (UPR) 1987, S. 370 - 374; K. H. Ladeur: Schadensersatzansprüche des Bundes für die durch den Sandoz - Unfall entstandenen "ökologischen Schäden? In: NJW 1987, S. 1236 - 1241; E. Rehbinder: Ersatz ökologischer Schäden - Begriff, Anspruchsberechtigung und Umfang des Ersatzes unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Erfahrungen. In: NuR 1988, S. 105 - 115. 52 Umwelthaftungsrecht, S. 255. 53 Umwelthaftungsrecht, S. 227. Allgemein zur Umwelthaftpflichtversicherung P. R. Kleindorrer I H. C. Kunreuther (Hg.): Insuring and Managing Hazanlous Risks: From Seveso to Bhopal and Beyond. Berlin u. a. 1987, Teil 4.; J. Spiller: Umweltproblem und Versicherung. St. Gallen 1980. 54 Vgl. auch Umwelthaftungsrecht, S. 229 f.

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B. Die "Risikogesellschaft" und die Jurisprudenz

- Einführung einer Gefährdungshaftung mit Beweismaßreduktion und Kausalitätsvermutung. - Entwicklung einer Gemeinschaftshaftung für kumulative Gefährdungsbeiträge. - Haftung für ökologische Schäden ("ökologisches Schmerzensgeld"). - Errichtung von Entschädigungsfonds. - Einführung einer obligatorischen Umwelthaftpflicht\ersicherung. Verbleibende Präventionsdefizite möchte Brüggemeier - insoweit über das Verursacherprinzip'i5 hinausgreifend - durch den Einsatz ökonomischer Instrumente, etwa durch Lenkungsabgaben auf gefährliche Produkte56 und andere finanzielle Anreize ausgleichen. 57 Brüggemeiers Analysen und rechtspolitische Vorschläge58 bestechen durch ihre Präzision und heben sich schon dadurch wohltuend von den Ausführungen Wolfs ab. Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß Brüggemeier nicht alle Fragen beantworten kann und will, die die Herausforderungen der "Risikogesellschaft" für das Privatrechts system aufwerfen. Zu denken wäre etwa an Fragen wie die folgenden: Wie wirken sich die Probleme der Risikogesellschaft auf das Vertragsrecht, insbesondere den Grundsatz der Privatautonomie59 , aus? Sind die Probleme der Risikogesellschaft überhaupt noch "vertragsfähig"? Existieren effiziente Risikoverteilungssysteme zwischen Unternehmen? Wie werden die

55 Dazu grundlegend E. Rehbinder: Politische und rechtliche Probleme des Verursacherprinzips. Berlin 1973. 56 Zu den Erfahrungen mit der Abwasserabgabe vgl. C. H. Maas: Einfluß des Abwasserabgabengesetzes auf Emissionen und Innovationen. In: ZfU 1987, S. 65 - 85. 57 Umwelthaftungsrecht, S. 230. Vgl. auch H. Laistner: Ökologische Marktwirtschaft. Ein Plädoyer für die Vernunft. Ismaing bei München 1986, S. 162 ff. 58 Sie überschneiden sich teilweise mit dem Entwurf eines Allgemeinen Teiles eines Umweltgesetzbuches, den Michael Kloepfer, Eckard Rehbinder, Eberhard Schmidt-Aßmann und Philip Kunig vorgelegt haben, vgl. dies.: Umweltgesetzbuch - Allgemeiner Teil. Im Auftrag des Umweltbundesamtes. Berlin 1991 (Umweltforschungsplan des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Forschungsbericht 10106028/01-03). Darin speziell zum Umwelthaftungsrecht S. 412 - 434. 59 Zur Privatautonomie grundlegend W. Flume: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts. Bd. 2: Das Rechtsgeschäft. Berlin u.a. 1979, § 1; 1. Schmidt: Vertragsfreiheit und Schuldrechtsreform. Überlegungen zur Rechtfertigung der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit bei Schuldverträgen. Berlin 1985 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Bd. 13); vgl. auch D. Reuter: Die ethischen Grundlagen des Privatrechts - formale Freiheitsethik oder materiale Verantwortungsethik. In: AcP 189 (1989), S. 199 - 222. Zum Vertrag recht in der "Risikogesellschaft" eingehend W. Köck, K. Meier: Vertragsrechtliche Sicherheitsgewährleistung und "Neue Risiken". In: JZ 1992, S. 548 - 557.

H. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Zivilrecht

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neuen Risiken von den Gerichten und in der Rechtsdogmatik behandelt? Interessant erscheint ferner die Frage, wie jüngere Randgebiete des Privatrechts 60 , etwa das Medizin61 - und Gentechnikrecht, angesichts der rasanten technischen Entwicklung in diesen Bereichen reagieren. 62 Schließlich werfen die neuen Gefährdungslagen der Risikogesellschaft auch wichtige Verfahrensfragen auf,63 man denke nur an die (allerdings schon ältere) Diskussion um die Einführung einer Verbandsklage oder die Möglichkeit zur stärkeren Berücksichtigung von Allgemeininteressen im Verfahren. 64 Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Während der Begriff der "Risikogesellschaft" im Öffentlichen Recht bislang nur rudimentär rezipiert und rechtsdogmatisch kaum fruchtbar gemacht wurde, hat sich im Zivilrecht die "Risikogesellschaft" als ein Erklärungstopos etabliert. Am Beispiel des Umwelthaftungsrechts wurde dargelegt, wie der Risikobegriff über seine spezifischen Problemstellungen hinaus auch auf aktuelle grundlegende Fragestellungen des Haftungsrechts Licht zu werfen vermag. Im folgenden wird zu untersuchen sein, ob auch im Strafrecht der Topos von der "Risikogesellschaft" zur Klärung oder Präzisierung aktueller Problemstellungen beitragen kann.

60 Es handelt sich dabei häufig um typische Querschnittsmaterien, die neben einern privatrechtlichen Bezug auch starke öffentlich-rechtliche Einschläge aufweisen. 61

Dazu etwa A. Laufs: Arztrecht. 4. Aufl., München 1988.

Dazu R. Damm, Medizintechnik und Arzthaftungsrecht. Behandlungsfehler und Aufklärungspflicht bei medizintechnischen Behandlungsalternativen. In: NJW 1989, S. 737 744. 63 Vgl. H. Koch: Alternativen zum Zweiparteiensystem im Zivilprozeß. Parteiübergreifende Interessen und objektive Prozeßführungsrechte. In: KritV 1989, S. 323 - 340; E. Schmidt, AK-ZPO, Einleitung, Rz. 43 ff, 61 ff; ders.: Struktur- und Kompetenzanforderungen an einen zeitgemäßen Zivilprozeß. In: KritV 1989, S. 303 - 322. 62

64 Diese und ähnliche Fragen sollen in einern von der DFG geförderten Graduiertenkolleg mit dem Thema: "Risikoregulierung und Privatrechtssystem - Leistungsfähigkeit und Grenzen des Privatrechts in der Risikogesellschaft" behandelt werden. Das Kolleg wird ab Wintersemester 1991/92 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen durchgeführt. Es wird geleitet von Gert Brüggemeier, Reinhard Damm, Dieter Hart, Christian Joerges und Eike Schmidt.

c.

Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht I. Auf dem Weg in den "Interventionsstaat"?

Auf dem 12. Strafverteidigertag 1988 zum Thema: "Mehr gesellschaftliche Konflikte - mehr oder weniger Strafrecht?" hielt Peter-Alexis Albrecht den Eröffnungsvortrag mit dem Titel: "Das Strafrecht auf dem Weg vom liberalen Rechtsstaat zum sozialen Interventionsstaat - Entwicklungstendenzen des materiellen Strafrechts." 1 Albrechts Kemthese lautet: Mit dem Übergang vom liberalen Staat des 19. Jahrhunderts zum Sozial- und Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts wandelt sich auch der strafrechtliche Grundansatz vom Gedanken einer repressiven Steuerung hin zu einem "präventiv-gestaltenden Steuerungsmodell " .2 Der angesprochene "Wandel vom repressiv-limitierenden zum präventivgestaltenden Steuerungsmodell " verwirklicht sich nach Albrecht allerdings nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ursache hierfür ist die Ausdifferenzierung der Gesamtgesellschaft "unter anderem in ein politisch-administratives und ein technisch-ökonomisches System". Albrecht präzisiert diese offensichtlich von Luhmanns Version der Systemtheorie inspirierte Tenninologie nicht weiter; immerhin macht er deutlich, daß das "politisch-administrative System" im wesentlichen mit dem Bereich der Politik gleichzusetzen ist, während die "Sphäre der technisch-ökonomischen Interessenverfolgung" von ihm als "Nichtpolitik" bezeichnet wird. 3

Abgedr. in: KritV 1988, S. 182 - 209. Interventionsstaat, S. 183 f. Vgl. dazu auch P.-A. Albrecht: Prävention als problematische Zielbestirnrnung im Kriminaljustizsystem. In: KritV 1986, S. 55 - 103. Eine Abwendung von der liberalen Strafrechtsauffassung konstatiert schon Th. Lenckner: Strafgesetzgebung in Vergangenheit und Gegenwart. In: Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500jährigen Bestehen 1977 von ihren gegenwärtigen Mitgliedern und in ihrem Auftrag herausgegeben von 1. Gernhuber. Tübingen 1977 (Tübinger Juristische Abhandlungen Bd. 46), S. 239 - 261. 3 Interventionsstaat, S. 184. I

2

I. Auf dem Weg in den "Interventionsstaat"?

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Man dürfte wohl nicht fehlgehen, wenn man letzteren Bereich mit dem, was üblicherweise "Wirtschaft" genannt wird, identifiziert. "Politik" und "Wirtschaft" sind freilich plakative und sehr unbestimmte Begriffe; außerdem überschneiden und durchdringen sich die damit bezeichneten Bereiche. Darauf soll es hier jedoch nicht ankommen. Albrecht meint nun, im Bereich des politisch-administrativen Systems fande eine "Übersteuerung" durch soziale und repressive Maßnahmen statt. Er erwähnt in diesem Zusammenhang Hirschs These vom "Sicherheitsstaat" .4 Diese Übersteuerung zeige sich etwa in den Bereichen des politischen Strafrechts5 , des Jugendstrafrechts 6 und des Sexualstrafrechts7 • Das technisch-ökonomische System zeichne sich dagegen durch eine "Untersteuerung" aus; vor allem im Naturschutz- und im Wirtschafts recht herrschten ein deutliches Steuerungsdefizit. Albrecht schließt sich Beck an, wonach es im technisch-ökonomischen System zu einer "prekären Umkehrung von Politik und Nichtpolitik"g gekommen ist: "Das Politische wird unpolitisch und das Unpolitische politisch." Weiter heißt es dazu bei Beck: "Die politischen Institutionen werden zu Sachwaltern einer Entwicklung, die sie weder geplant haben noch gestalten können, aber doch irgendwie verantworten müssen. "9 Für das Umweltstrafrecht wird überwiegend eingeräumt, daß das Achtzehnte Strafrechtsänderungsgesetz (Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität) aus dem Jahr 1980 sich weitgehend auf eine symbolische Wirkung beschränkt. Vor allem die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts und die Abhängigkeit der Rechtsanwender von Expertenwissen - wie sie sich etwa bei der Festsetzung von Grenzwerten zeigt - haben zu einem außerordentlichen Vollzugsdefizit geführt. Zu Recht wird deshalb die Frage diskutiert, ob das Strafrecht überhaupt ein geeignetes Mittel ist, um die galoppierende Zerstörung der Umwelt aufzuhalten. 10

41. Hirsch: Der Sicherheitsstaat. Das "Modell Deutschland", seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Überarbeitete Neuauflage. Frankfurt a. M. 1986. 5 Vgl. Interventionsstaat, S. 200 - 203; vgl. dazu auch F. Dencker: Gefahrlichkeitsvermutung statt Tatschuld? Tendenzen der neue ren Strafrechtsentwicklung. In: StV 8 (1988), S. 262 - 266. 6 A.a.O., S. 203.

Interventionsstaat, S. 204. Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 305. 9 Ibid. 10 Dazu näher 1. Herrmann: Die Rolle des Strafrechts beim Umweltschutz in der Bundes republik Deutschland. In: ZStW 91 (1979), S. 281 - 308; O. Triffterer: Die Rolle des Strafrechts beim Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland, ibid., S. 309 - 348. 7

8

42

C. Die Rezeption des Topos »Risikogesellschaft" im Strafrecht

Noch dramatischer ist die Situation im Wirtschaftsstrafrecht (i. w. S.), zu dem auch das Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung gehört. Die durch Wirtschaftsstraftaten entstandenen Schäden gehen in die Milliarden. 11 Weder das Erste noch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1. und 2. WiKG vom 29.7. 1976 bzw. 1. 8. 1986) haben dem Einhalt gebieten können. 12 Albrecht ist der Ansicht, daß strafrechtliche Mittel hier nicht weiterhelfen: "Umwelt und Wirtschaft lassen sich nur steuern und schützen mit wirksamer Umwelt- und Wirtschaftsstrukturpolitik, die sich anderer Regelungselemente als denen des Strafrechts bedienen muß. Insbesondere bedarf es einer umfassenden öffentlich-demokratischen Durchdringung jener technisch-wissenschaftlich-ökonomischen Subsysteme, denen das politisch-administrative System weitgehend ohnmächtig gegenübersteht oder ausgeliefert ist. Die Wasser-, Luft- und Bodenvernichtung kann nicht mittels der Fertigung von Anklageschriften aufgehalten werden. Hier bedarf es demokratischer Eingriffe in die technisch-ökonomischen Bereiche der Nichtpolitik. Gelingt das in absehbarer Zeit nicht, bedeutet das das Aus, das ,rien ne va plus' der ,Risikogesellschaft' "13. Nicht das Strafrecht kann also nach Meinung Albrechts helfen, die neuen Risiken in den Griff zu bekommen, sondern nur eine effizientere Politik. Deren wichtigste Voraussetzung ist nach Albrecht die Herstellung von Öffentlichkeit. 14 Diese Auffassung verdient Zustimmung. Welches Mittel am besten geeignet ist, die jeweiligen rechtspolitischen Ziele im Umwelt- und Wirtschafts strafrecht zu erreichen, ist zwar letztlich eine empirische Frage, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht beantwortet werden kann. Die Mängel des bisherigen Umwelt- und Wirtschafts strafrechts deuten jedoch darauf hin, daß in den Bereichen der neuen Risiken mit den Mitteln des Strafrechts tatsächlich fast nichts oder doch nur sehr wenig zu erreichen ist. Überträgt man diesen Befund auf die strafrechtliche Produzentenhaftung, so ergibt sich auch hier die Vermutung, daß mit einem eigenständigen "Her-

Aus neuerer Zeit: S. E. Kareklas: Die Lehre vom Rechtsgut und das Umweltstrafrecht. Diss. jur. Tübingen 1990; weitere Nachweise bei Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht lIT 2, S. 63 f. 11 Vgl. Albrecht, Interventionsstaat, S. 193 m. w. N. 12 Vgl. dazu E. Schlüchter: Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Kommentar mit einer kriminologischen Einführung. Heidelberg 1987, S. 13 f; vgl. auch U. Eisenberg: Kriminologie. 3. Aufl., Köln u. a. 1990, S. 731 ff. \3 14

Interventionsstaat, S. 205. Vgl. aber auch Interventionsstaat, S. 208 f.

II ... Risikogesellschaft" und .. Risikostrafrecht"

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stellerstrafrecht" die anstehenden Probleme nicht zu bewältigen wären. Andererseits folgt aus der Skepsis gegenüber strafrechtlichen Mitteln natürlich nicht, daß die Normen des geltenden Strafrechts nicht angewendet werden müßten, wenn ihre tatbestandsmäßigen Voraussetzungen vorliegen. Anders als im Bereich der zivilrechtlichen Produzentenhaftung hat der Strafgesetzgeber nicht versucht, den Gefahren, die dem Verbraucher durch riskante Produkte drohen, durch ein eigenständiges Produzentenstrafrecht zu begegnen. Die Schaffung eines derartigen Strafrechts wird auch, soweit ersichtlich, von niemandem vorgeschlagen. Dagegen ist die Anwendung des Kernstrafrechts auf die Fälle der Herstellung gefährlicher Produkte von zunehmender Bedeutung. Eines der frühesten einschlägigen Verfahren dieser Art war der Prozeß gegen die Hersteller des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan. 15 In jüngster Zeit hat der Bundesgerichtshof im sog. "Ledersprayfall" das Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung erstmals klar strukturiert. 16 Auf das Kernstrafrecht beginnen sich jedoch die Schatten eines "Risikostrafrechts" zu legen. Dies ist zumindest die Ansicht von Rolf-Peter Callies und vor allem von Winfried Hasserner, die dabei an die Ausführungen Becks und Albrechts anknüpfen. Dieser These wollen wir uns im folgenden zuwenden.

11. "RisikogeseUschaft" und "Risikostrafrecht" In seinem Vortrag im Rahmen des interdisziplinären Symposiums ,,40 Jahre Grundgesetz" vom 18. und 19. Dezember 1988 in Heidelberg17 führte Rolf-Peter Callies aus: "In der modernen ,Risikogesellschaft' , die in ihrem Produktionsprozeß unter Mitwirkung staatlicher Lenkung stets neue Gefahren für Leib, Leben und Umwelt in existenzgefährdender Weise schafft, in einer Gesellschaft also, in der es nicht mehr darum geht, das ,Gute' für die menschliche Wohlfahrt zu erreichen, sondern in der es nur noch darum geht, das ,Schlimmste' zu verhindern,18 liegt es nahe, den strafrechtlichen Schutz mit jeder neuen

15

JZ 1971, S. 507 - 521.

16

NJW 1990, S. 2560 - 2569.

Abgedruckt unter dem Titel .. Strafzwecke und Strafrecht. 40 Jahre Grundgesetz Entwicklungstendenzen vom freiheitlichen zum sozial-autoritären Rechtsstaat?" In: NJW 1989, S. 1338 - 1343. 17

18

Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 65.

44

C. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht

Gefährdung ständig mehr auszuweiten und weiter vorzuverlegen. "19 Letztlich führe dieses neue Präventionsdenken der Risikogesellschaft zu einer "systematische[n] Uminterpretation des traditionell rechtsstaatlichen Strafrechts auf ein flexibles Steuerungsinstrumentarium des nun sozial-autoritär verstandenen Staates. "20 Auch Winfried Hassemer sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen spezifischen Erscheinungsformen der "Risikogesellschaft" und der aktuellen Entwicklung des Strafrechts. 21 Hassemer spricht von einem "Interesse der ,Risikogesellschaft' an Minimierung von Unsicherheit und an globaler Steuerung komplexer Prozesse", das zunelunend auch in der Kriminalpolitik, der Straftheorie und der Lehre vom Rechtsgut seinen Niederschlag fande. 22 Damit wandeln sich nach Hassemer die Vorstellungen von den Aufgaben des Strafrechts : "Das Strafrecht verläßt das enge Gehäuse liberaler Beschaulichkeit, wo es noch um die Sicherung des ,ethischen Minimums' ging, und wächst zu einem Steuerungs instrument für gesellschaftliche oder staatliche Großstörungen. " Ziel des Strafrechts ist nicht mehr bloß die Verbrechensbekämpfung23, sondern die "flankierende Unterstützung der Subventions- und Umweltpolitik, der Gesundheits- und Außenpolitik. Aus punktueller Repression konkreter Rechtsverletzungen wird großflächige Prävention von Problemlagen. "24 Wenn das Strafrecht in seiner rechts staatlich-liberalen Form bewahrt werden soll, ist es nach Hassemers Ansicht "für eine Flankierung politischer Ziele, eine Steuerung von Problemlagen und eine großflächige Prävention gefährlicher Situationen denkbar schlecht geeignet. ,,25 Das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) , der Grundsatz des Tat- (und nicht Täter-) Strafrechts, das Schuldprinzip, die Grundregel "in dubio pro reo"

\9

Strafzwecke und Strafrecht, S. 1340.

20

Ibid. vgl. dazu auch H. A. Hesse: Der Schutz-Staat geht um. In: JZ 1991, S. 744 -

747.

2\ W. Hassemer: Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz. In: NStZ 1989, S. 553 - 559. 22 Symbolisches Strafrecht, S. 557. 23 Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 558 zieht den Ausdruck" Verbrechensverarbeitung" vor. 24 Symbolisches Strafrecht, 1989, S. 558. Vgl. dazu auch schon dens.: Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze. In: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für H. Coing zum 70. Geburtstag. Bd. 1. München 1982. Hg. von H. Horn, S. 493 - 524, insbes. S. 502 - 510 m. w. N. 25 Symbolisches Strafrecht, S. 558.

III. "Funktionalismus" und Gesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat

45

(vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK) sowie der auch für Strafmaßnahmen geltende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbieten es, auf die Probleme der Risikogesellschaft allzu flexibel zu reagieren, um dem Präventionsdruck nachzugeben. Auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma flüchtet sich der Gesetzgeber in abstrakte Gefährdungsdelikte und ein symbolisches Strafrecht. Diese Reaktion, so glaubt Hassemer, fügt sich nahtlos in die allgemeine Entwicklung des Strafrechts ein, die er durch zwei deutliche Trends charakterisiert sieht:26 Zum einen werde das Strafrecht mehr und mehr zu einem Instrument der Kriminalpolitik (Funktionalisierung). Hassemer spricht von einem "Klima, in dem Prävention, Folgenberücksichtigung und die Dienlichkeit der strafrechtlichen Instrumente für politische Zweckverfolgung die zentralen Kriterien einer Rechtfertigung des Strafrechts geworden sind. "27 Den zweiten Trend bezeichnet Hassemer als "Entformalisierung" .28 Er versteht darunter "die Beseitigung oder Verkleinerung von Barrieren, die, errichtet von den Traditionen eines rechtsstaatlichen Strafrechts, die politische Zweckverfolgung hemmen können". Insofern steht die Entformalisierung in engem Zusammenhang zur ersten von Hassemer aufgezeigten Entwicklung, der Funktionalisierung. Zur Entformalisierung gehört nach Hassemer auch ein Trend hin zu gesetzgeberischer Unbestimmtheit, der letztlich das Gesetzlichkeitsprinzip in Gefahr bringt. 29

III. "Funktionalismus" und Gesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat Hassemers Kritik am "Funktionalismus im Strafrecht"30 ist freilich zumindest mißverständlich. Im modernen Staat war die Gesetzgebung immer ein Mittel, um politische Entscheidungen durchzusetzen. Im demokratischen Rechtsstaat ist Träger der politischen Entscheidungsgewalt das Parlament. Diese Entscheidungsgewalt stößt erst an ihre Grenzen, wenn sie die Verfas-

26 Hassemer, AK-Strafrecht, Rz 480 ff vor § 1. Vgl. auch W. Naucke: Versuch über den aktuellen Stil des Rechts. In: KritV 1986, S. 189 - 210. 27 AK-StGB, Rz 481 m. w. N. 28 AK-StGB, Rz 480, 487 ff. 29 AK-StGB, Rz 490 - 494 m. w. N. 30 Noch deutlicher in: W. Hassemer: Grundlinien einer personalen Rechtsgutlehre. In: L. Philipps, H. Scholler (Hg.): Jenseits des Funktionalismus. Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag. Heidelberg 1989, S. 85 - 94.

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C. Die Rezeption des Topos »Risikogesellschaft" im Strafrecht

sung zu verletzen droht. Selbst das Grundgesetz kann - entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt - abgeändert werden, eine Möglichkeit, die gerade jetzt nach der deutschen Wiedervereinigung höchste Aktualität besitzt. Es ist also durchaus legitim, das Strafrecht als Mittel zur Durchsetzung politischer Zwecke zu verwendenY Hassemer dagegen beschwört eine "rechtsstaatlich-liberale Tradition" des Strafrechts, die er dem Zugriff des Gesetzgebers entziehen möchte. Problematisch ist schon, daß er, soweit ersichtlich, nirgends präzisiert, was er unter dieser Tradition genau verstehen möchte. Zwar zitiert er wiederholt Franz von Liszts berühmtes Diktum vom Strafrecht als der "unübersteigbare[n] Schranke der Kriminalpolitik"32, doch war es bekanntlich gerade von Liszt, der den Zweckgedanken im Strafrecht betont und die sich an Kant und Hegel orientierenden "absoluten" Strafzwecktheorien als schlechte Metaphysik abgelehnt hatte. Im "Marburger Programm" von 188233 greift von Liszt auf das sozialpädagogische Gedankengut der Aufklärung zurück; Strafe ist für ihn "nicht rechtsstaatlich formalisierter Tatausgleich, sondern nur zweckmäßige, sozial nützliche Reaktion auf unzweckmäßiges, sozial schädliches Verhalten. "34 Die Strafe ist für von Liszt also ein Mittel zur Besserung, Sicherung oder Unschädlichmachung des Täters im Interesse der Gesellschaft. Damit ist von Liszt geradezu ein Hauptvertreter solcher Bestrebungen, denen Hassemer eine "Funktionalisierung" des Strafrechts vorwirft. Hassemers Anliegen ist es, grundlegende strafrechtliche Wertungen wie das Schuldprinzip, den Gesetzlichkeitsgrundsatz oder das Prinzip "in dubio pro libertate" zu verteidigen. Dies ist ein durchaus legitimes rechtspolitisches Programm, dem ich mich gerne anschließe. Hassemer scheint jedoch anzunehmen, es handele sich bei seinem Bekenntnis zur rechtsstaatlich-liberalen Tradition des Strafrechts um mehr als eine rechtspolitische Entscheidung, der man folgen, die man aber auch ablehnen kann. Anders ist es nicht zu verstehen, daß Hassemer zustimmend von jenen Autoren spricht, "die nach

3\ So auch C. Prittwitz: Funktionalisierung des Strafrechts. In: StV 1991, S. 435 - 441 (437 t). 32 AK-StGB, Rz 481 vor § 1; Grundlinien, S. 85. 33 Unter dem Titel: »Der Zweckgedanke im Strafrecht" abgedruckt in: F. v. Liszt: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Bd. 1. Berlin 1905, S. 126 - 179. 34 So die prägnante Formulierung bei W. Naucke: Artikel »von Liszt, Franz". In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 3 (1984), Sp. 11 - 13 (12). Vgl. auch dens.: Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik. In: JuS 1989, S. 862 - 867 (864), wo es u. a. heißt: »Bei Liszt ist der Vorrang der Kriminalpolitik vor der Gesetzlichkeit fest etabliert" . Eine ausführliche Darstellung findet sich in: ders.: Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1882. In: ZStW 94 (1982), S. 525 - 564 (insbes. S. 541 t).

III. "Funktionalismus" und Gesetzgebung im demokratischen Verfussungsstaat

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einem festen normativen Halt in den Prozessen der Rechtsentwicklung rufen" und als einen Hauptvertreter dieser Bestrebungen den Münchener Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann anführt, für welchen "Dreh- und Angelpunkt einer nicht-funktionalistischen Rechtsbegründung" das "Konzept der Person" sei. 3s Bei Kaufmanns Überlegungen handelt es sich jedoch - auch wenn Hassemer dies nicht wahrhaben will - um einen krypto-naturrechtlichen Ansatz. An anderer Stelle36 spricht Hassemer ausdrücklich von der Suche nach einem "prinzipiellen Halt"37 und verweist auf Jürgen Habermas und dessen Konzeption einer "Diskursethik" .38 Auch die Vorschläge der Diskursethiker zur Begründung einer kognitiven Ethik sind jedoch schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. 39 Statt Unterstützung aus diesem zweifelhaften Bereich zu suchen, erscheint es mir vorzugswürdig, das Bekenntnis zu der rechtsstaatlich-libernlen Tradition unseres Strafrechts offen als politische Entscheidung zu proklamieren, die mit abweichenden Entscheidungen konkurrieren, aber grundsätzlich keine höhere philosophische oder moralische Dignität beanspruchen kann. Ist dies zugestanden, so bin ich gerne bereit, Hassemers Anliegen weitgehend zu folgen. Vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Prinzips der Gesetzesbindung von Exekutive und Judikative erscheinen manche Aspekte der strafrechtlichen Funktionalisierung und die Entformalisierung des Strafrechts in der Tat als höchst problematisch. Indem der Gesetzgeber das strafrechtliche

35 Grundlinien, S. 86 mit Fn 5, wo auf Kaufmanns Aufsatz "Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen" (in: Rechtstheorie 1986, S. 257 - 276), verwiesen wird. Manche Autoren führen die moralphilosophische Dimension auch in die Definition des Begriffes "Rechtsgut" ein. Rechtsgüter werden dann zu "jenseits" der positiven Rechtsordnung liegenden Werten. Eine derartige Konzeption vertritt etwa M. Marx: Zur Definition des Begriffes "Rechtsgut" . Prolegomena zu einer materialen Verbrechenslehre. Köln u. a. 1972. Die h. M. bestimmt den Begriff "Rechtsgut" dagegen rein formal als "rechtlich geschütztes Gut", vgl. SK-Rudolphi, vor § 1, Rz 3. Für eine umfussende Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriff vgl. K. Amelung: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gemeinschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zum Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der "Sozialschädlichkeit" des Verbrechens. Frankfurt a. M. 1972. 36 Unverfügbares im Strafprozeß. In: Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für W. Maihofer zum 70. Geburtstag. Hg. von Art. Kaufmann, E.-J. Mestmäker und H. F. Zacher. Frankfurt a. M. 1988, S. 183 - 204. 37 FS Maihofer, S. 184. 38 FS Maihofer, S. 196.

39 Es ist hier nicht der Ort; dies näher auszuführen. Interessierte Leserinnen und Leser verweise ich auf meine Arbeit zur Argumentation in der Jurisprudenz, S. 158 - 185.

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C. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht

Instrumentarium nicht mehr als ultima ratio der gesellschaftlichen Konftiktlösung verwendet, sondern zunehmend als prima und nicht selten sogar als sola ratio einsetzt, gefährdet er zentrale Elemente des Rechtsstaats.

IV. Die "Flexibilisierung" des Strafrechts Nach Hassemer benutzt der Strafgesetzgeber vor allem zwei Wege zur "Flexibilisierung" des Strafrechts: Die Normierung abstrakter Gefährdungsdelikte und die Hinwendung zu "symbolischem Strafrecht".4O Nun sind Gefährdungsdelikte in der Strafrechtswissenschaft schon sehr lange bekannt. Anders als bei den Verletzungsdelikten, wo bereits tatbestandlich eine Verletzung des geschützten Handlungsobjektes verlangt wird, reicht es bei den Gefährdungsdelikten aus, wenn als Resultat einer Handlung eine Verletzungsgefahr auftritt. 41 Unter "Gefahr" ist dabei nach h. M. "ein ungewöhnlicher, regelwidriger Zustand zu verstehen, bei dem für ein sachkundiges Urteil nach den obwaltenden konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich gelten kann [bzw.] die Möglichkeit eines solchen naheliegt. ,,42 Die Gefährdungsdelikte unterteilen sich in konkrete Gefährdungsdelikte, bei denen der Eintritt der Gefahr Tatbestandsmerkmal ist und im Einzelfall festgestellt werden muß, und die abstrakten Gefährdungsdelikte, wo das Vorliegen einer Gefährdung nicht selbst zum Tatbestand gehört, sondern die generelle Gefährlichkeit der vorgenommenen Handlung für die geschützen Rechtsgüter vorausgesetzt wird. 43 Bereits Binding hat übrigens die Gefährdungsdelikte im Zusammenhang mit einer existentiellen Unsicherheit - die also über die bloße Bedrohung eines einzelnen Rechtsgutes hinausgeht - gesehen: "Gefährdung ist immer

Symbolisches Strafrecht, S. 558. Einen umfassenden Überblick gibt U. Weber: Die Vorverlegung des Strafrechtsschutzes durch Geflihrdungs- und Unternehmensdelikte. In: H.-H. lescheck (Hg.): Die Vorverlegung des Strafrechts schutzes durch Geflihrdungs- und Unternehmensdelikte. Referate und Diskussionsbericht der Arbeitssitzung der Fachgruppe für Strafrechtsvergleichung anläßlich der Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung am 20. September 1985 in Göttingen. Berlin, New York 1987, S. 1 - 36 (Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft) . 42 So die Definition von lescheck, AT, S. 237 unter Berufung auf RGSt 30, 178 (179); BGHSt 8, 28 (32t); 13, 66 (70); 18, 271 (272 t). 43 Dazu näher Jescheck, AT, S. 238 m. w. N. In jüngerer Zeit werden als dritte Gruppe noch die sogenannten "Eignungsdelikte" oder potentiellen Gefahrdungsdelikte angeführt, vgl. A. Hoyer: Die Eignungsdelikte. Berlin 1987. 40 41

IV. Die "Flexibilisierung" des Strafrechts

49

Erschütterung der Daseinsgewißheit" .44 Die Gefährdungsdelikte werden seit langem im Hinblick auf das Schuldprinzip als problematisch betrachtef5 ; heute dürfen sie jedoch als überwiegend anerkannt gelten.46 Vor dem Hintetgrund der Risikogesellschaft sind nach Hassemer die Gefährdungsdelikte doppelt problematisch:47 Zum einen verschleiern sie "die faktische Kraft des Strafrechts zum Rechtsgüterschutz, indem sie die Verbindung von inkriminiertem Verhalten und Rechtsgutsverletzung auflösen. Strafrechtliches Unrecht ist nicht [wie es der rechtsstaatlich-libernlen Tradition entsprochen hätte, E.H.] die sichtbare Verursachung eines Schadens, sondern ist eine Betätigung, die der Gesetzgeber inkriminiert hat; ob er bei Auswahl und begrifflicher Beschreibung der inkriminierten Betätigung deren abstrakte Gefährlichkeit für Strafrechtsgüter getroffen oder verfehlt hat, kann auf der Ebene der Normverwirklichung gar nicht diskutiert werden, sondern ist lediglich Element der gesetzgeberischen Einschätzung. "48 Zum anderen erleichtern abstrakte Gefahrdungsdelikte "die für präventive Programme hinderliche Zurechnung" auf höchst bedenkliche Weise. Damit werde die Position des Täters geschwächt und eine weitere Bastion des klassisch-liberalen Strafrechts geschliffen. Dabei sei noch nicht einmal klar, ob die abstrakten Gefährdungsdelikte ihr Ziel, nämlich eine erhöhte Präventionswirkung, überhaupt erreichten; die verbreiteten Klagen über Vollzugsdefizite sprächen insoweit eine ganz andere Sprache.49 Anders als Hassemer bin ich der Meinung, daß die Entscheidung über die Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte allein vom Ermessen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers abhängt. Es existieren durchaus legitime gesetzgeberische Gründe für die Einführung von Gefährdungsdelikten, so etwa die Überwindung notorischer Zurechnungsprobleme (wie bei § 227 StGB) , die Pönalisierung in Fällen, in denen sich ein Verletzungserfolg nur schwer oder erst lange nach der Verletzungshandlung feststellen läßt (so etwa bei den §§ 153 ff StGB oder § 184 Abs. 1 Nr. 1, 2, 5 StGB) oder die Ab44 K. Binding: Die Nonnen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die richterliche Handlung und die Arten des Delikts. Bd. 1: Nonnen und Strafgesetze. 3. Aufl., Leipzig 1916, S. 372 f. 45 Vgl. Baumann/Weber, AT, S. 135 sowie Arzt/Weber, LH 2, Rz 52 ff (vor allem zu § 306). 46 Vgl. vor allem Arzt/Weber, LH 2, Rz 34 ff.

Symbolisches Strafrecht, S. 554. Symbolisches Strafrecht, S. 558. 49 Ibid. Zum Vollzugsdefizit vgl. nur G. Kaiser: Kriminologie. Ein Lehrbuch. 2. Aufl., Heidelberg 1988, § 93 Rz 4 m. w. N. 47

48

4 Hilg.odorf

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C. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht

sicht, die Zufallskomponente bei fahrlässigen Verletzungsdelikten auszuschalten (so vor allem in den §§ 315 - 315c StGB).50 Ansonsten stimme ich Hassemers Bedenken jedoch weitgehend zu. Abstrakte Gefährdungsdelikte bewirken eine Pönalisierung im Vorfeld von Verletzungen "klassischer" Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Sie stehen in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum ultimaratio-Grundsatz des Strafrechts. Die rasante Zunahme von Gefährdungsdelikten51 ist deshalb sehr bedenklich, zumal in zunehmendem Maß präventivpolizeiliche Aspekte in den Vordergrund zu treten scheinen.52 Die deutlich feststellbare Neigung von Gesetzgebung und Rechtsprechung zur Schaffung vage formulierter Universalrechtsgüter3 erscheint andererseits nicht selten als ein Schleichweg, um Rechtsgutsverletzungen im üblichen Sinn konstruieren zu können. Es handelt sich dabei freilich nur um einen Ausschnitt aus der allgemein zu beobachtenden Tendenz zu einer Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes. 54 Der zweite Ausweg des Strafgesetzgebers aus dem Präventionsdruck der Risikogesellschaft führt nach Hassemer in das symbolische Strafrecht. Im

50 Ausführlich zu den genannten Gründen Weber, Vorverlegung des Strafrechtsschutzes (Kap. C, Fn 41), S. 22 - 29. Vgl. ferner U. Berz: Formelle Tatbestandsverwirklichung. Eine Untersuchung zu den Gefährdungs- und Unternehmensdelikten. München 1986, S. 55 - 64, sowie aus der älteren Literatur K. Lackner: Das konkrete Gefährdungsdelikt im Verkehrsstrafrecht. Vortrag gehalten vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 13. Mai 1966. Berlin 1967 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 27). 51 Vgl. A.R. Reeg / M. Siegmann: Bundesrepublik Deutschland. In: A. Eser / B. Huber (Hg.): Strafrechtsentwicklung in Europa 3. Teil 1: Landesberichte 1986/1988 über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur. Freiburg i. Br. 1990 (Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg. Band S 20/1), S. 91 - 194 (96). Vgl. ferner Weber (Kap. C, Fn 41), Vorverlegung des Strafrechtsschutzes, S. 1. 52 So auch Weber, Vorverlegung des Strafrechtsschutzes, S. 30 f.

53 Vgl. Jakobs, AT, 2/11; W. Hassemer: Das Schicksal der Bürgerrechte im "effizienten" Strafrecht. In: StV 1990, S. 328 - 331 (insbes. S. 330); speziell zum Topos "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" W. Hassemer: Die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" - ein neuer Rechtsbegriff? In: StV 1982, S. 275 - 280; ihm folgend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 B H. 54 Dazu G. Jakobs: Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung. In: ZStW 97 (1985), S. 751 - 785 (S. 767 ff zu jen abstrakten Gefährdungsdelikten und S. 774 ff zur Neudefinition von Rechtsgütern). Zumindest hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auch auf die §§ 151 ff AE-StGB, wo ebenfalls bereits eine Vorverlegung der Strafbarkeitsgrenze angestrebt wurde. Vgl. dazu insbes. die Vorbemerkung zu den §§ 151 ff. In: G. Arzt [u. a.]: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil, Straftaten gegen die Person. Zweiter Halbband, Tübingen 1971, S. 49 - 55 (53).

IV. Die "Flexibilisierung" des Strafrechts

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Anschluß an Monika VOß55 unterscheidet er folgende Erscheinungsformen eines symbolischen Strafrechts: 56 - gesetzgeberische Wertbekenntnisse, - Gesetze mit (moralischem) Appellcharakter, - Ersatzreaktionen des Gesetzgebers (Alibigesetze, Krisengesetze) und - Kompromißgesetze. Es handelt sich hierbei allerdings um durchaus altehrwürdige Topoi der Gesetzeskritit57 , die sich zudem grundsätzlich auf jedes Resultat gesetzgeberischer Tätigkeit anwenden lassen. 58 Den besonderen Zusammenhang mit den Problemen der Risikogesellschaft sieht Hassemer darin, daß das symbolische Strafrecht politischen Gewinn abwirft, ohne daß die eigentlichen Probleme bewältigt werden: Der "präventive Gewinn", den das symbolische Strafrecht bringt, "wird nicht für den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, sondern für das Image des Gesetzgebers oder des erfolgreichen ,Moralunternehmers ' erwirtschaftet. "59 Das spezifische Problem eines symbolischen Strafrechts in der Risikogesellschaft erblickt Hassemer also offenbar darin, daß es präventive Wirkung auf potentielle Produzenten von Unsicherheit vortäuscht, während es in Wirklichkeit nur die Gemüter beruhigt und dem Strafgesetzgeber Ansehen und ein gutes Gewissen verschafft. 60 Dies kann nach Hassemer im Extremfall so weit gehen, daß Strafgesetzgebung und Strafrechts anwendung nur mehr als "Bluff" gemeint sind. 61 Hassemers Kritik des symbolischen Strafrechts überzeugt. Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung erscheint freilich die Frage interessanter, warum die Normen, die der Gesetzgeber in so großer Zahl zur Bewältigung der Probleme der Risikogesellschaft geschaffen hat, so wenig reale Erfolge erzielt

55 M. Voß: Symbolische Gesetzgebung: Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten. Ebelsbach 1989, S. 25 - 34. Einen Überblick über verwandte Thesen gibt A. Schmehl: Symbolische Gesetzgebung. In: ZRP 1991, S. 250 - 253. 56 Symbolisches Strafrecht, S. 554. 57 Man denke etwa an die Parlamentskritik Carl Schmitts oder der APO. 58 So auch Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 555 If, der betont, daß die "symbolische Vermittlung rechtstreuen Lebens" Kennzeichen des modernen Strafrechts überhaupt ist. 59 Symbolisches Strafrecht, S. 558.

60 Ebenso für den Bereich der AIDS-Bekämpfung C. Prittwitz: AIDS-Bekämpfung Aufgabe oder Selbstaufgabe des Strafrechts? In: KJ 1988, S. 304 - 309. 61 Hassemer, Symbolisches Strafrecht, S. 558. Vgl. auch Hassemers Definition des Ausdrucks "symbolisches Strafrecht" a.a.o., S. 556.

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C. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht

haben. Aufschlußreich wäre ferner zu wissen, wo die spezifischen Probleme der dabei angewandten Gesetzgebungstechnik liegen. Der Problemkreis, den Hassemer unter dem Aspekt der Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte angesprochen hat, erscheint mir deshalb für die vorliegende Problemstellung wichtiger als die Frage nach dem symbolischen Strafrecht. V. Das Beispiel Umweltstrafrecht An anderer Stelle hat sich Hassemer zu den besonderen Problemen des Gesetzgebers (und, wie ich ergänzen möchte, des Rechtsanwenders) in der Risikogesellschaft noch präziser geäußert. Dies geschah im Zusammenhang einer Kritik des geltenden Umweltstrafrechts, 62 das sich nach Hassemers Ansicht durch folgende Merkmale auszeichnet: 63 (1) Es wird implizit behauptet, das Strafrecht sei ein geeignetes Mittel für die Lösung sämtlicher gesellschaftlicher Probleme. Folge davon ist eine Kriminalisieru~ von Personen auch außerhalb des eigentlichen TäterOpfer-Bereichs. (2) Es werden vage formulierte Universalrechtsgüter eingeführt. (3) Es kommt zu einer flächendeckenden Vorfeldkriminalisieru~, insbesondere durch Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte. (4) Dogmatische Institute wie die Kausalität, die Lehren von Versuch und Vollendung, von Täterschaft und Teilnahme sowie von Vorsatz und Fahrlässigkeit werden abgeschliffen oder flexibilisiert. Hinzu tritt eine ungenaue Gesetzessprache. (5) Das opfer- und rechtsgutorientierte Kernstrafrecht wird durch Hinzufügung von Strafdrohungen relativiert, die eher als flankierende Absicherung der Gesundheits-, Wirtschafts- und Umweltpolitik anzusehen sind denn als Strafrecht im klassischen Sinn. Hinzu kommen noch speziell für das Umweltstrafrecht folgende Kritikpunkte: (6) Im Umweltstrafrecht gilt der Grundsatz der Verwaltungsakzessorietät. Dies wäre im Kernstrafrecht allenfalls in Ausnahmefällen erträglich.

62 Vgl. dazu auch D. Meurer: Umweltschutz durch Umweltstrafrecht? In: NJW 1988, S. 2065 - 2071. 63 W. Hassemer, V. Meinberg: Umweltschutz durch Strafrecht. In: Neue Kriminalpolitik 1989, S. 46 - 49 (48).

V. Das Beispiel Umweltstrafrecht

(7) (8) (9)

53

Die selektive Wahrnehmung geringfügiger Verstöße im Umweltstrafrecht ist nicht nur ökologisch ineffizient, sondern auch flagrant ungerecht. Die Prävalenz des Ermittlungs- gegenüber dem Hauptverfahren im Umweltstrafrecht favorisiert Heimlichkeit und Handel anstelle von Öffentlichkeit, Gleichmäßigkeit und Klarheit. Die Gerichte schöpfen den Strafrahmen bei weitem nicht aus. Der Resozialisierungsgedanke paßt nicht; Geldstrafen haben keine nennenswerte Wirkung.

Es ist bemerkenswert, daß die von Hassemer angesprochenen Probleme auch von den Verteidigern des Umweltstrafrechts letztlich nicht bestritten werden. So räumt etwa Meinberg bedeutende Defizite ein. Er hält aber die derzeitige Regelung trotzdem für reformierbar, denn die "bestehenden materiellrechtlichen Mängel" seien "viel zu evident, als daß eine systemimmanente Reform schon eo ipso aussichtslos erscheinen müßte".64 Die aufgezeigten Probleme treten freilich nicht nur im Umweltstrafrecht auf, sondern zeigen sich mutatis mutandis auch in anderen Bereichen des Strafrechts der Risikogesellschaft. Als besonc.lers heikle Gebiete sind hier das AIDS-Strafrechf5, das Strafrecht der Wirtschaft i. w. S., das Strafrecht der Datenverarbeitung, das Drogenstrafrecht und die strafrechtliche Bewältigung des Terrorismus zu nennen. Hassemers Analyse scheint also in der Tat für das gesamte Strafrecht der Risikogesellschaft Gültigkeit zu besitzen. Interessant ist vor allem Hassemers These von der Flexibilisierung überkommener dogmatischer Strukturen wie der Regeln über Vorsatz und Fahrlässigkeit, der Beteiligungslehre und der Lehre von der Zurechnung, also die Behauptung, die entsprechenden dogmatischen Regeln würden von Gesetzgebung und Rechtsprechung ad hoc verbogen, um Pönalisierungsbedürfnissen nachkommen zu können. Bevor ich den damit aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf das Wirtschafts strafrecht weiter nachgehe, möchte ich mich aber zunächst einigen Ausführungen Felix Herzogs zuwenden, der versucht hat, den erwähnten "normativen Halt", den Hassemer in der rechtsstaatlich-libernlen Tradition des Strafrechts erblickt, noch deutlicher herauszuarbeiten.

64

Neue Kriminalpolitik 1989, S. 47.

Insbes. zum Verletzungsvorsatz von HIV-Infizierten C. Prittwitz: Das "AIDS Urteil" des Bundesgerichtshofes. In: StV 1989, S. 123 - 128. Allgemeiner zum Problemkreis "AIDS und Strafrecht" K. Lüderssen: Die im strafrechtlichen Umgang mit AIDS verborgenen Motive - Hypermoral oder Gesinnungsethik? In: StV 1990, S. 83 - 87. 6S

54

C. Die Rezeption des Topos .. Risikogesellschaft" im Strafrecht

VI. "Vernunftrechtliche" Schranken des Gesetzgebers?

Felix Herzog hat die Kritik Hassemers an den Gefährdungsdelikten weitergeführt und radikalisiert.66 Herzog bezeichnet seine Arbeit selbst als "Streitschrift" gegen die Gefährdungsdelikte, deren Existenzberechtigung er - ob bloß teilweise oder in toto, wird nicht ganz klar - in Frage stellt. Herzog beginnt mit einem Abriß der Geschichte der Dogmatik der Gefährdungsdelikte67 von Feuerbach68 über Stübel69 und Binding70 bis hin zu Cramer71 , Brehm72 , Schünemann73 und Kindhäuser. 74 Dem folgen ein historischer Essay zu der Genese des Gefährdungsstrafrechts in den Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrhunderts sowie einige kritische Bemerkungen zum modernen Gefährdungsstrafrecht am Beispiel der §§ 264 und 324 StGB. Nach Herzog lassen sich in der Entwicklung der Literatur zum Gefährdungsstrafrecht zwei Stufen unterscheiden. Auf der ersten, bis hin zur Arbeit Cramers reichenden Stufe wurde versucht, "die Gefährdungsdelikte trotz irritierender und widerstreitender Eigenschaften doch irgendwie mit der er66 F. Herzog: Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge. Studien zur Vorverlegung des Strafrechtsschutzes in den Gefährdungsbereich. Heidelberg 1991 (R. v. Deckers rechts- und sozialwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 46). 67 Vgl. dazu auch die historischen Ausführungen bei E. Graul: Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht. Berlin 1991, S. 140 - 231. 68 P. 1. A. Feuerbach: Kritik des Kleinschrodschen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayrischen Staaten (3 Theile). Gießen 1804; ders.: Über die Polizei-Strafgesetzgebung überhaupt und den Theil eines .. Entwurfs des Strafgesetzbuches, München 1822". In: Ders.: Biographischer Nachlaß, veröffentlicht von seinem Sohn Ludwig Feuerbach. Zweiter Band, 2. Ausgabe. Leipzig 1853 (ND. Aalen 1973), S. 346 378. m Ch. C. Stübel: Über gefährliche Handlungen als für sich bestehende Verbrechen, zur Berichtigung der Lehre von verschuldeten Verbrechen, nebst Vorschlägen zur gesetzlichen Bestimmung über die Bestrafung der erstem. In: Neues Archiv des Criminalrechts VIII (1826), S. 236 - 323. 70 K. Binding: Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts. Bd. 1: Normen und Strafgesetze. 2. Aufl., Leipzig 1890, S. 368 - 397. 7\ P. Cramer: Der Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt. Tübingen 1962. 72 W. Brehm: Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts. Tübingen 1973. 73 B. Schünemann: Modeme Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeits- und Gefährdungsdelikte. In: JA 1975, S. 435 - 444; 511 - 516; 575 - 584; 647 - 656; 715 - 724; 787 - 798. 74 U. Kindhäuser: Gefährdung als Straftat. Rechtstheoretische Untersuchungen zur Dogmatik der abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikte. Frankfurt a. M. 1989.

VI. "Vernunftrechtliche" Schranken des Gesetzgebers?

55

folgsstrafrechtlichen Genealogie des Strafrechts zusammenzubringen" .75 Die zweite Stufe kennzeichnet nach Herzog dagegen eine "stiefmütterliche" Haltung gegenüber den Traditionen des Strafrechts, die sich in einer "radikalen Umstellung auf das Handlungsunrecht und präventiv-regulative Strafziele zur Begründung der Gefährdungsdelikte äußert" .76 Herzog zufolge lassen alle von ihm skizzierten Versuche einer dogmatischen Durchdringung des Gefährdungsstrafrechts eine "Aufklärung des materiellen Substrats von Gefährdungskriminalisie~en" vermissen: "Solange die Entwicklung vom Erfolgsstrafrecht zum Risikostrafrecht nur als Austausch von Kategorien in der Begründung von Unrecht und Schuld bearbeitet wird, es dabei um die rein begriffliche Abgrenzung von kriminellem Unrecht und "reinem Ungehorsam" geht, oder die Strafrechtsdogmatik entsprechend den jeweiligen kriminalpolitischen Entwicklungen einfach neu aufgezogen wird, bleiben die sozialhistorischen Hintergründe und sozialtheoretischen Gründe ungeklärt, und es fehlt an Ansatzpunkten einer systemtranszendenten Kritik des Gefährdungsstrafrechts. "77 Herzog sieht die "sozialhistorischen Hintergründe" des Vordringens von Gefährdungsstrafrecht in der um sich greifenden gesellschaftlichen Unsicherheit und einem korrespondierenden Bedürfnis nach Sicherheit. Er beruft sich dabei u. a. auf Ulrich Beck, Ernst Forsthoff, Franz-Xaver Kaufmann, Wolfgang N aucke und David Riesmann. Durch den rasanten ökonomischen und technischen Wandel komme es zu "gesellschaftlichen Orientierungsunsicherheiten" , die das Vordringen der Gefährdungsstraftatbestände stark förderten. 78 Herzog faßt seine Analyse dieses Problems wie folgt zusammen: "Mit dem Verlust traditionaler gesellschaftlicher Ordnung und Orientierung, dem Verfall von Wertorientierungen, die innen-lenkend wirksam werden könnten, schwindet das Selbstvertrauen und das Vertrauen in die anderen Gesellschaftsmitglieder. Das gesellschaftliche Leben wird - in Anlehnung an ein Wort Erich Kästners - als tendenziell lebensgefährlich wahrgenommen und das Strafrecht erscheint als gewaltbewehrtes Mittel geeignet, den anarchischen und destruktiven Kräften schon im Gefahrdungsbereich Einhalt zu gebieten. Das Strafrecht erscheint aber damit nicht mehr bloß als eine repressive oder vergeltende Reaktion auf Rechtsverletzungen, sondern nimmt eine

7S 76

77

78

Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 47. Ibid. Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 48. Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 54.

56

C. Die Rezeption des Topos "Risikogesellschaft" im Strafrecht

Aufgabe im System der staatlichen Daseinssicheru~ wahr [und] wird als Prävention Teil der allgemeinen staatlichen Daseinsvorsorge. "79 Herwg lehnt diese Entwicklung strikt ab. Besonders deutlich wird dies in seiner Auseinandersetzung mit Jürgen Baumann, der unter dem Titel "Strafe als soziale Aufgabe" die Strafe als ein Instrument der Sozialpolitik bezeichnet und etwaige sittliche, moralische oder gar religiöse Aufgaben des Strafrechts hinter dessen sozialer Funktion zurückstehen lassen will. 80 Das Strafrecht, so betont Baumann, sei "nicht der Gerichtsvollzieher der Kirchen oder der Moraltheologen und Philosophen" .81 Herwgs Auffassung von den Aufgaben des Strafrechts weicht von der Baumanns erheblich ab: Herwg beruft sich zwar, ebenso wie Hassemer, wiederholt auf die "rechtsstaatlich-libernle Tradition" des deutschen Strafrechts 82 , doch versteht er diese Tradition im Sinne eines "rechtsphilosophisch-vernunftrechtlichen Begriffs von der Aufgabe und Grenze des Strafrechts. "83 Eine zentrale Rolle in dieser Konzeption spielt für Herwg dabei offenbar der preußische Staatsphilosoph Hegel. Damit verlagert Herwg die Fundierungsproblematik in die Metaphysik. 84 Die Zuordnung Hegels zu der Tradition des Liberalismus und den rechtsstaatlichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts ist außerordentlich problematisch. 85 Darauf will ich hier nicht näher eingehen. Ich halte jedenfalls an der Ansicht Baumanns fest, wonach das Strafrecht keine metaphysische, sondern in erster Linie eine soziale Aufgabe hat. Dem demokratisch gewählten Gesetzgeber steht es danach prinzipiell frei, Gefahrdungstatbestände zu schaffen, wenn er dies für notwendig erachtet. 86 Ob es ein Gefährdungsstrnfrecht geben sollte, ist also nicht, wie Herwg

79

Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 70 f.

80 1. Baumann: Strafe als soziale Aufgabe. In: Universitas 40 (1985), S. 87 - 96 (92, 95). Vgl. auch H.-L. Günther: Die Genese eines Straftatbestandes. Eine Einführung in Fragen der Strafgesetzgebungslehre. In: JuS 1978, S. 8 - 14. 81 Strafe als soziale Aufgabe, S. 93.

82 83

Vgl. Z. B. auf S. 3, 30 f; 65 ff; 110, 151 u. passim. Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 3.

So auch Prittwitz, Funktionalisierung des Strafrechts, S. 436. 85 Zu Hegels politischer und rechtsphilosophischer Wirkung vgl. K. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 7. Aufl., München 1992, sowie E. Topitsch: Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie. 2. Aufl., München 1981. 86 Ganz anders Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 65 ff (insbes. S. 70). 84

VII. Zusammenfassung

57

meint, "eine Frage des Rechtsbegriffs"87, sondern bestimmt sich danach, ob das Gefährdungsstrafrecht als ein taugliches Mittel der sozialen Befriedung angesehen werden kann. Es handelt sich nicht um eine rechtsphilosophische, sondern eine rechtspolitische Frage. Die Schaffung von Geflihrdungstatbeständen ist natürlich nur dann zweckmäßig, wenn durch sie der angestrebte Schutz wichtiger Interessen erreicht werden kann. Dies mag man, etwa im Hinblick auf das Umweltstrafrecht, mit guten Gründen bezweifeln. Für den Bereich der strafrechtlichen Ptoduzentenhaftung könnte eine Pönalisierung schon im gefahrbringenden Vorfeld dagegen eher angebracht sein.

VII. Zusammenfassung Sieht man von der eher rechtsphilosophischen bzw. rechtspolitischen Frage einer "Funktionalisierung" des Strafrechts ab, so erscheint als das zentrale Problem der Rechtsanwendung in der "Risikogesellschaft" die Gefahr einer "Flexibilisierung" der bewährten überkommenen Strafrechts dogmatik zum Zweck einer Pönalisierung von Risikoproduzenten. Angewandt auf die strafrechtliche Produzentenhaftung ist damit zu fragen, ob die zunehmende gesellschaftliche Unsicherheit im Hinblick auf gefahrliche Produkte zu einer "Flexibilisierung" der strafrechtlichen Produzentenhaftung geführt hat, also zu einer Aufweichung bislang akzeptierter dogmatischer Figuren, um sorglose Hersteller bestrafen zu können. Es handelt sich um ein Problem, das im Spannungsfeld zwischen Wirtschafts strafrecht und Allgemeinem Teil angesiedelt ist. Ehe wir uns der strafrechtlichen Produzentenhaftung zuwenden, erscheint es deshalb angebracht, erst einmal einen Blick auf das schwierige Verhältnis von Wirtschaftsstrafrecht und Allgemeinem Teil im Ganzen zu werfen. Es wird sich zeigen, daß die hier aufgefundenen Probleme mutatis mutandis auch in der Spezialmaterie "strafrechtliche Produzentenhaftung" auftauchen werden.

87

Gesellschaftliche Unsicherheit, S. 70.

D. Wirtschaftsstrafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts I. Zum Begriff "Wirtschaftsstrafrecht"

Den Begriff "Wirtschaftsstrafrecht" zu definieren ist nicht leicht, handelt es sich doch um eine Querschnittsmaterie, die auch mit "klassischen" Regelungsbereichen wie dem Vermögensstrafrecht und sogar mit dem Strafrecht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit in Verbindung stehLl Weder vom Täterkreis her - man denke an Edwin Sutherlands berühmte Formel von der "White collar-Kriminalität"2 - noch im Hinblick auf eine bestimmte Schutzrichtung der fraglichen Normen noch schließlich in Anknüpfung an bestimmte gesetzgeberische Vorgaben3 ist eine in allen Fällen eindeutige Umschreibung des Wirtschaftsstrafrechts möglich. 4 Ein definitorischer Willkürakt, durch den die Merkmale eines Wirtschaftsstrafrechts festgelegt werden könnten, erscheint unzweckmäßig. Ich möchte deshalb dem Vorschlag Ulrich Webers folgen und ein Wirtschafts strafrecht im engeren Sinne von einem solchen im weiteren Sinne unterscheiden: Wirtschafts strafrecht im engeren Sinne ist danach "die Summe der Strafgesetze, deren Schutzobjekt die Gesamtwirtschaft oder funktionell wichtige Zweige und Einrichtungen der Gesamtwirtschaft sind, Wirtschaftskriminalität die Taten, die gegen solche Strafgesetze verstoßen. "5 Ausschlaggebend ist also der Bezug auf die Gesamtwirtschaft. Daneben tritt das Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinne. Es umfaßt jene Strafvorschriften, "die zwar ihrer ursprünglichen dogmatischen Konzeption nach individuelle Rechtsgüter schüt-

I Für einen ersten Überblick vgl. statt aller K. Tiedemann: Wirtschafsstrafrecht Einführung und Übersicht. In: JuS 1989, S. 689 - 698. 2 E. H. Sutherland: White Collar Crime. New York 1949.

3 In Betracht kommen vor alJem Art. 74 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft), § 74c GVG (Wirtschaftsstratkammem) und das 1. und 2. WiKG. 4 So auch Arzt/Weber, LH 4, Rz 13. S Arzt/Weber, LH 4, Rz 5; vgl. auch E. Schlüchter: Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Kommentar mit einer kriminologischen Einführung. Heidelberg 1987, S. 5 f m. w. N.

11. Sonderstrafrecht der Winschaft?

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zen, deren Verletzung aber typischerweise oder doch in bestimmten Fällen Beeinträchtigungen auch des gesamtwirtschaftlichen Gefüges nach sich zieht. "6 Da gefährliche Produkte den einzelnen Verbraucher, ein Individuum also, bedrohen, ist das Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung nicht dem Wirtschafts strafrecht im engeren Sinn zuzuordnen. Treten jedoch Produktfehler gehäuft auf und bedrohen womöglich Leib und Leben zahlreicher Verbraucher, so wird dadurch auch die Gesamtwirtschaft tangiert - vor allem dann, wenn es sich um einen medienwirksamen Skandal handelt'? Damit gehört das Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung zum Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinne. 8

11. Sonderstrafrecht der Wirtschaft? In den beiden zugrundegelegten Definitionen wird schon angedeutet, daß das Wirtschaftsstrafrecht Teil des allgemeinen Strafrechts ist. Es gibt also kein Sonderstrafrecht für Wirtschaftskriminelle. 9 Gegen diesen Grundsatz kann nicht eingewendet werden, der Gesetzgeber habe im Allgemeinen Teil des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts zahlreiche Normen gerade auf die Bedürfnisse einer Pönalisierung im Wirtschaftsleben zugeschnitten und damit ein eigenständiges Wirtschafts strafrecht zumindest der Tendenz nach angelegt, so etwa in § 30 OWiG ("Bebußung" juristischer Personen), § 130 OWiG (Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen) oder §§ 9, 290WiG, 14 StGB (Organ- und Ver-

6 LH 4, Rz 8. Vgl. auch die ähnliche Definition bei H. Dito: Konzeption und Grundsätze des Winschaftsstrafrechts (einschließlich Verbraucherschutz). Dogmatischer Teil I. In: ZStW 96 (1984), S. 339 - 375 (342) mit Diskussion von Einwänden auf S. 343 ff und B. Schünemann: Strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Grundfragen der Unternehmenskriminalität. In: wistra 1982, S. 41 - 50 (41). Einen Überblick über ältere Definitionsansätze gibt F. H. Berckhauer: Winschaftskriminalität und Staatsanwaltschaft. Eine Untersuchung materiell rechtlicher und organisationsspezifischer Bedingungen für die Strafverfolgung von Winschaftsdelikten. Bamberg 1977, S. 22 ff. 7 Man denke nur an die Skandale um unhygienisch hergestellte Eiernudeln oder gesundheitsgefährdende Babynahrung. 8 Ebenso Dito, ZStW 96 (1984), S. 352 f. Zu den angesprochenen Klassifikationsproblemen vgl. auch J. Vogel: Verbraucherschutz durch strafrechtliche Produkthaftung. Kriminologische und funktionale Aspekte. In: GA 137 (1990), S. 241 - 264 (244 t). 9 So auch U. Weber: Konzeption und Grundsätze des Winschaftsstrafrechts (einschließlich Verbraucherschutz). Dogmatischer Teil 11: Das Winschaftsrecht und die allgemeinen Lehren und Regeln des Strafrechts. In: ZStW 96 (1984), S. 376 - 416 (381).

60

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

treterhaftung). Gegen die These von einem eigenständigen Wirtschaftsstrafrecht spricht entscheidend, daß die genannten Vorschriften nicht nur im Wirtschaftsstrafrecht Anwendung finden lO - obgleich nicht zu bestreiten ist, daß dort ihr Hauptanwendungsgebiet liegt. Hinzu kommt, daß der Allgemeine Teil des Ordnungswidrigkeiten- und Strafrechts auch noch andere Normen enthält, die nur für einige wenige Deliktstypen eine Rolle spielen, so etwa die Indemnitätsvorschriften der §§ 36 und 37 StGB. Ebensowenig kann die These von einem Sonderrecht der Wirtschaft darauf gestützt werden, daß der Gesetzgeber - etwa in den §§ 263 affoder 283 ff StGB - Regelungen geschaffen hat, die speziell auf im Wirtschaftsverkehr hervortretende Verhaltensweisen zugeschnitten sind. Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, als strafwürdig empfundenes Verhalten in den verschiedensten Lebenssphären und damit auch im Bereich der Wirtschaft mit Strafe zu belegen. Von einem "Sonderstrafrecht" der Wirtschaft ließe sich deshalb allenfalls mit derselben Berechtigung sprechen, wie etwa von einem "Sonderstrafrecht der Tötung" oder einem "Sonderstrafrecht der Beleidigung" die Rede sein kann. Der Gesetzgeber hat ferner, worauf Weber zu Recht hinweist, selbst\erständlich die Möglichkeit, Prinzipien des Allgemeinen Teils für bestimmte Deliktsgruppen oder einzelne Delikte des Besonderen Teils zu modifizieren. 11 Dies ist für das Wirtschaftsstrafrecht etwa in § 263 a StGB geschehen. Deshalb kann auch der Blick auf die Regelungen des Besonderen Teils die These von einem eigenständigen Sonderstrafrecht der Wirtschaft nicht stützen. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß zwischen den Regeln des Allgemeinen Teils und den spezifischen Problemen einer Pönalisierung von Verhaltensweisen im Wirtschaftsleben durchaus Reibungszonen existieren. 12 Es ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung weder möglich noch erforderlich, dieses Problemfeld umfassend zu analysieren. Gleichwohl sollen im folgenden kurz einzelne, besonders virulente Bereiche angesprochen werden. Es ist zu erwarten, daß die Rechtsprechung dort, wo die Friktionen besonders groß

10

Weber, ZStW 96 (1984), S. 382.

Weber, ZStW 96 (1984), S. 383. Deshalb generell skeptisch gegenüber einem Einsatz des Strafrechts zur Bekämpfung unlauterer Praktiken in der Wirtschaft K. Volk: Strafrecht und Wirtschaftskriminalität. Kriminalpolitische Probleme und dogmatische Schwierigkeiten. In: JZ 1982, S. 85 - 92 mit kritischer Entgegnung von 1. Baumann: Strafrecht und Wirtschaftskriminalität. Eine wegen des E (sie) eines 2. WiKG notwendige Erwiderung. In: JZ 1983, S. 935 - 939. 11

12

III. Reibungswnen auf der Tatbestandsebene

61

sind, am ehesten in die Versuchung gerät, sich der Bindung an die dogmatischen Strukturen durch eine "Flexibilisierung" zu entziehen. 111. Reibungszonen auf der Thtbestandsebene

Ein erstes Problem bilden die weiten, nicht selten sogar verwaltungsakzessorisch ausgestalteten Tatbestände, die zu einer "Flexibilisierung" geradezu einladen. Auf diese Frage wurde bereits oben l3 mehrfach hingewiesen. Ein in jüngerer Zeit besonders virulent gewordenes Beispiel eines zu unbestimmten Tatbestandsmerkmals ist das Merkmal "unbefugt" i.S.v. § 263 a Abs. 1 Var. 3 StGB (Es geht dabei um das "Leerspielen" von GlücksspielautomatenI4). Auch Fragen der Kausalität und objektiven Zurechnung sind im Wirtschafts strafrecht häufig besonders problematisch. Ganz ähnlich wie im Umweltstrafrecht treten nicht selten mehrere Personen als Verursacher eines Schadens auf (kumulative Kausalität).15 Hinzu kommt, daß Schadensverursachung und Schadens eintritt oft räumlich und zeitlich weit auseinanderliegen. Gerade die Produktion gefährlicher Güter ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Auch der Kausalitätsnachweis wirft oft sehr schwierige Probleme auf. Es ist somit kein Zufall, daß das Contergan-Verfahren in der gesamten neue ren Diskussion zur strafrechtlichen Kausalität eine zentrale Rolle spielt. 16 Ebenfalls in den vorliegenden Zusammenhang gehört die besondere Problematik der Schuldtheorie im Wirtschafts strafrecht und im Ordnungswidrigkeiten- sowie Nebenstrafrecht. 17 In seiner berühmten Entscheidung BGHSt

13

Vgl. oben S. 45, 52.

14 Dazu H. Achenbach: Die "kleine Münze" des sog. Computer-Strafrechts. - Zur Strafbarkeit des Leerspielens von Geldspielautomaten. In: Jura 1991, S. 225 - 230 m. w. N. 15 In die Lehrbuchliteratur hat dieses Problem bemerkenswerterweise noch nicht Eingang gefunden. Vgl. aber E. Samson: Kausalitäts- und Zurechnungs prob lerne im Umweltstrafrecht. In: ZStW 99 (1987), S. 617 - 636, und umfassend E. Kleine-Cosack: Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht. Die strafrechtliche Relevanz der Schwierigkeiten naturwissenschaftlicher Kausalfeststellung im Umweltbereich. Berlin 1988 (Beiträge zur Umweltgestaltung A 104). 16 Dazu unten Kapitel H. 17 Dazu K. Tiedemann: Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität. Bd. 1: Allgemeiner Teil. Reinbek 1976, S. 206 - 219; ausführlich ders.: Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht. Untersuchungen zu einem rechtsstaatlichen Tatbestandsbegriff, entwickelt am Problem des Wirtschaftsstrafrechts. Tübingen 1969, S. 335 - 339.

62

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

2, 194 ff vom 18.3. 1952 hat der Bundesgerichtshof sich gegen die Vorsatzund für die Schuldtheorie entschieden. Jescheck spricht zu Recht von einem "Markstein in der neueren deutschen Strafrechtsgeschichte" .18 Danach wird das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht zum Vorsatz gerechnet, sondern dem Bereich der Schuld zugeordnet. Der Gesetzgeber hat sich dieser Rechtsprechung in den §§ 16 und 17 StGB angeschlossen. 19 Gegen die Schuldtheorie20 wurde unter anderem eingewandt, sie prämiere die Unkenntnis der Tatumstände, die ja über § 16 Abs. 1 StGB zu der Rechtsfolge des Strafbarkeitsausschlusses und dem Verweis auf die - meist fehlende - Pönalisierung der Fahrlässigkeitstat führt, während sie die Unkenntnis des Unrechts erheblich schlechter stelle, da dort über § 17 ein Schuldausschluß und damit Straffreiheit nur bei einem unvermeidbaren Verbotsirrtum vorgesehen sei?1 Dies sei jedoch grob unbillig, da man sich über das Vorliegen der Tatumstände in aller Regel weitaus leichter informieren könne als über das Vorliegen der Rechtswidrigkeit des eigenen Handeins. Diese Argumente sind nicht leicht zu entkräften, insbesondere nicht für das Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrecht, wo gemäß Art. 1 Abs. 1 EGStGB ebenfalls die Schuldtheorie gilt. 22 Problematisch sind vor allem jene Bereiche des Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrechts, die verwaltungsakzessorisch aufgebaut sind, also Blankettatbestände verwenden, die erst noch durch Ge- oder Verbote der Verwaltungs behörden ausgefüllt werden müssen?3 Zu Recht meint Weber24 , daß sich in diesen Fällen der "Vorwurf vorsätzlichen Zuwiderhandeins [... ] also legitimer\\eise erst bei Kenntnis des Ge- oder Verbots erheben [ließe] - ein rechts staatliches Anliegen, dem allein die Vorsatztheorie uneingeschränkt gerecht würde." Es kann somit nicht verwundern, daß vor der Reform des Strafgesetzbuches von 1975 die

18

AT, S. 406.

A.A. noch Schmidhäuser, AT, S. 416 ff und ders.: Unrechtsbewußtsein und Schuldgrundsatz. Schwerpunkte der BGH-Rechtsprechung auf dem Gebiet des Strafrechts. In: NJW 1975, S. 1807 - 1813 (1810) sowie W. Langer: Vorsatztheorie und strafgesetzliche Irrtumsregelung. Zur Kompetenzabgrenzung von Strafgesetzgebung, Verfassungsgerichtsbarkeit und Strafrechtswissenschaft. In: GA 1976, S. 192 - 216 (206 ff); dagegen z. B. Wesseis, AT, § 11 I 3. 20 Die heute in mehreren Varianten, etwa einer "strengen" und einer "eingeschränkten", vertreten wird, vgl. Jescheck, AT, S. 417 f. 21 Vgl. Baumann/Weber, AT, S. 424 f. 19

22 Dazu jüngst G. Jenny: Tatbestands- und Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht. In: SchwZStR 107 (1990), S. 241 - 258 m. w. N. (primär zur Rechtslage in der Schweiz). 23 Einen Überblick gibt Roxin, AT 1, 17/42 - 17/51. 24 ZStW 96 (1984), S. 393.

III. Reibungszonen auf der Thtbestandsebene

63

Anhänger der Vorsatztheorie im Nebenstrafrecht in der Mehrzahl waren. 25 Unter der Geltung von Art. 1 Abs. 1 EGStGB und § 11 Abs. 2 OWiG ist es allerdings ausgeschlossen, im Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrecht ohne weiteres die Vorsatztheorie anzuwenden. 26 Um schwerwiegende Unbilligkeiten zu vermeiden, die bei einer gedankenlosen Anwendung der Schuldtheorie entstehen könnten, sind einige Vorsichtsmaßregeln zu beachten. Zum einen ist bei der Auslegung zu berücksichtigen, ob der Gesetxgeber nicht möglicherweise die Strafbarkeit auf Fälle eindeutiger Verbotskenntnis beschränken wollte. 27 So läßt sich das Fehlen der behördlichen Erlaubnis oft als Tatbestandsmerkmal interpretieren, dies vor allem dann, wenn das tatbestandsmäßige Handeln zwar gefährlich, aber doch grundSätzlich sozial nützlich ist. 28 Gelegentlich ergibt sich die Beschränkung der Vorsatzstrafbarkeit auf Fälle positiver Verbotskenntnis sogar unmittelbar aus dem Gesetz. 29 Eine Beschränkung der Vorsatzstrafe auf positive Verbotskenntnis soll nach Jeschec~o ferner dann anzunehmen sein, "wenn Fälle der Tatfahrlässigkeit in dem durch die Vorschrift erfaßten Sachgebiet nicht denkbar sind, so daß der Fahrlässigkeitstatbestand sinngemäß nur der Rechtsfahrlässigkeit vorbehalten sein kann ... 31 Eine weitere Möglichkeit, die Härten der Schuldtheorie zu mildern, läßt sich über die Lehre von der Doppelstellung des Vorsatzes erreichen: Hat der Täter zwar den Tatbestand vorsätzlich erfüllt, jedoch bei rein formalen oder technischen Strafvorschriften bloß eine Erkundigungspflicht nicht beachtet,32

25 Dazu besonders R. Lange: Der Strafgesetzgeber und die Schuldlehre. Zugleich ein Beitrag zum Unrechtsbegriff der Zuwiderhandlungen. In: JZ 1956, S. 73 - 79 mit scharfer Entgegnung von H. Welzel: Der Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht. In: J~ 1956, S. 238 241 und Duplik von R. Lange: Die Magna Charta der anständigen Leute. In: JZ 1956, S. 519 - 524. Vgl. ferner die Nachweise bei Tiedernann, Wirtschaftsstrafrecht Bd. 1 (Kap. D, Fn 17), S. 212 Fn 22.

26 So aber noch Schmidhäuser, AT, S. 423 (der aber ohnehin generell die Vorsatztheorie aufrechterhält) . 27 So schon Weizei, Lehrbuch S. 174; vgl. auch Jescheck, AT, S. 413. Zu einem einschlägigen Fall siehe OLG Düsseldorf NStZ 1981, S. 444 und dazu den Besprechungsaufsatz von 1. Meyer: Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht - OLG Düsseldorf, NStZ 1981,444. In: JuS 1983, S. 513 - 516.

28

Vgl. Sch/Sch-Lenckner, Vorb. 61 vor § 32.

So etwa in § 36 Abs. 3 Nr. 1 Marktorganisationsgesetz (MOG) vom 27.8.1986, BGBI. I S. 1397. 30 AT, S. 414. 29

31

Zahlreiche Beispiele bei Lange, JZ 1956, S. 73 f.

32

Dazu ausführlich Sch I Sch-Lenckner, Vorb. 120 vor § 13.

64

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

so kann sich je nach Einzelfall aus dem geringen Gewicht des Sorgfaltsmangels eine Verneinung der Vorsatzschuld begründen lassen?3 Im übrigen werden sich meist an jene Personen, die in den Anwendungsbereich einer neben- oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sonderregelung fallen, auch besonders hohe Anforderungen hinsichtlich der Kenntnis derartiger Regelungen stellen lassen. 34 In solchen Fällen dürfte die gemilderte Vorsatzstrafe dem von Weber35 zu Recht herausgehobenen rechts staatlichen Anliegen das ja auch ein Anliegen des Gerechtigkeitsempfindens ist - nicht widersprechen. IV. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im Wirtschaftsstrafrecht Auch die Anwendung der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im Wirtschafts straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht wirft teilweise besondere Probleme auf. Grundsätzlich gelten alle Rechtfertigungsgründe auch im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, also nicht nur dann, wenn sie, wie die Notwehr (§ 32 StGB, § 15 OWiG) oder der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB, § 16 OWiG) auch außerhalb des StGB eine positiv-rechtliche Regelung gefunden haben. Allerdings ist die Notwehr im Wirtschaftsstrafrecht weitgehend bedeutungslos, weil sich Wirtschaftsdelikte und -ordnungswidrigkeiten in der Regel gegen überindividuelle Rechtsgüter richten. 36 So hat Otto für den Gesamtbereich der Wirtschaftsdelinquenz die Schutzgüter der Volkswirtschaft, der Betriebswirtschaft, der staatlichen Finanzwirtschaft und den Schutz der Allgemeinheit sowie des Verbrauchers unterschieden. 3? Nach Webers Ansicht scheitert eine Rechtfertigung durch Einwilligung ebenfalls an der Überindividualität der im Wirtschafts straf- und -ordnungswidrigkeitenrecht geschützten Rechtsgüter. 38 Zur Stützung seiner These

Jescheck, AT, S. 414. Vgl. Jescheck, AT, S. 414 mit Hinweis auf OLG Karlsruhe, Gewerbearchiv 1973, S. 302 (zur Kenntnis der rechtlichen Regelungen des Steinmetzhandwerks). Vgl. aber auch Tiedemann, Thtbestandsfunktionen, S. 330. 3S Vgl. oben S. 62. 33

34

36 So auch Weber, ZStW 96 (1984), S. 394. Vgl. ferner Göhler, Kommentar zum OWiG, § 15 Rz 1 m. w. N. 37 Otto, ZStW 96 (1984), S. 351 - 353. 38 ZStW 96 (1984), S. 395.

IV. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im Wirtschafts strafrecht

65

kann er auf die §§ 264 Abs. 2 Nr. 2 StGB und 370 Abs. 3 AO 1977 verweisen, wo, wie Weber zu Recht bemerkt, "die einwilligende Tatbeteiligung des quasi im Lager des Opfers des Subventions- und Steuerbetrugs stehenden Amtsträgers in der Regel sogar zum Vorliegen eines besonders schweren Falles" führen. 39 Etwas anderes könnte aber für den vierten von Otto genannten Schutzbereich gelten, den Verbraucherschutz. Hier erscheint es nicht zwingend, ausschließlich auf ein überindividuelles Rechtsgut .. Verbraucherschutz" abzustellen; es dürfte vielmehr eher naheliegen, das individuelle Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit jedes einzelnen Verbrauchers in den Mittelpunkt zu rücken. Dann aber käme auch eine rechtfertigende Einwilligung grundsätzlich in Frage. Dem steht jedoch entgegen, daß die Einwilligung, wenn überhaupt, nur für die individuellen Rechtsgüter des einzelnen Verbrauchers erfolgen kann. Eine Einwilligung in die Verletzung fremder Rechtsgüter ist rechtlich grundsätzlich bedeutungslos. Der Verbraucherschutz zeichnet sich aber gerade dadurch aus, daß er die Betroffenen insgesamt schützen will. Zudem dürfte einer Einwilligung in Körperverletzungen nicht selten § 226 a StGB entgegenstehen. Auch im Hinblick auf den Verbraucherschutz ist deshalb die Bedeutung der rechtfertigenden Einwilligung eher gering. Bedenkenswert erscheinen schließlich noch jene Fälle, in denen sich der Wirtschaftsdelinquent in einer Notstandslage auf § 34 StGB beruft. Weber hält eine Anwendung dieser Norm auf tatbestandsmäßige Handlungen, die zur Rettung eines Unternehmens vor dem wirtschaftlichen Ruin und damit ja auch zur Erhaltung von Arbeitsplätzen erfolgen, immerhin für denkbar. 40 Zu Recht weist er aber darauf hin, daß in derartigen Fällen das geschützte Interesse das beeinträchtigte nur selten überwiegen dürfte, da "spätestens ein Blick auf die rechtserschütternden Folgewirkungen der Attestierung einer Rechtfertigung zu dem Ergebnis führen [müsse], daß die Tat kein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden (§ 34 Satz 2 StGB) und deshalb nicht gerechtfertigt sein kann. "41 Zudem könne eine allgemeine wirtschaftliche Notlage die Rettungshandlungen einzelner nicht rechtfertigen. 42 Für das Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrecht wird aber gelegentlich ein anderes Ergebnis vertreten, etwa hinsichtlich der Streitfrage, ob der einzelne Arbeitnehmer, den sein Arbeitgeber aus Profitstreben zur Begehung

39

Ibid.

41

ZStW 96 (1984), S. 395. Ibid.

42

Vgl. auch Sch/Sch-Lenckner, § 34 Rz 54.

40

S Hilgeodorf

66

D. Wirtschaftsstrafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

einer Ordnungswidrigkeit veranlaßt, nach § 16 OWiG gerechtfertigt sein kann. So hat z. B. das Oberlandesgericht Oldenburg den Täter im Falle eines Schwertransports ohne den vorgeschriebenen Beifahrer nach § 16 OWiG für gerechtfertigt erklärt. 43 Zwar liegt es nun nahe, diesen Gedanken auch auf das Wirtschafts strafrecht anzuwenden; dennoch lehnt die h. M. für unseren Ausgangsfall eine Rechtfertigung aus § 34 ab, da "sich der Arbeitnehmer, wenn auch gezwungenennaßen, auf die Seite des Unrechts gestellt hat [... ]. Es wäre auch ein sonderbares Ergebnis, wenn die zuständige Behörde die Fortsetzung des ordnungswidrigen Verhaltens nicht unterbinden könnte." 44 Dem ist nichts hinzuzufügen. Es bleibt aber die Frage, ob der Arbeitnehmer in einem derartigen Fall nicht entschuldigt sein könnte. Das Ordnungswidrigkeitenrecht enthält keine Regelung des entschuldigenden Notstandes. Meist wird angenommen, daß eine Verletzung von Bußgeldvorschriften unter den Voraussetzungen des § 35 StGB stets nach § 16 OWiG gerechtfertigt ist. 45 Die für eine Anwendbarkeit des § 35 StGB zu fordernde gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit dürfte im Wirtschafts straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht aber ohnehin kaum vorkommen. Auch erscheint es kaum denkbar, daß eine Drohung mit Arbeitsplatzverlust jemals eine derart extreme Motivationslage hervorrufen könnte, wie § 35 sie verlangt. 46

v. Probleme der inflationären Fahrlässigkeitsahndung Wichtiger sind die Probleme der inflationären Fahrlässigkeitsahndung im Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrecht. 47 Nach § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, auch fahrlässiges Handeln ist ausnahmsweise durch den Gesetzgeber mit Strafe bedroht. Dies ist grundsätzlich nur bei der Verletzung oder Gefährdung besonders hochwertiger Rechtsgüter

43 OLG Oldenburg NJW 1978, S. 1869. Weber, 'Z1)tW 96 (1984), S. 396 Fn 91 weist zu Recht auf die Parallele zum Leinenfangerfall (RGSt 30, 25) hin. 44 So Weber, 'Z1)tW 96 (1984), S. 396 unter Berufung auf Th. Lenckner: Der rechtfertigende Notstand. Zur Problematik der Notstandsregelung im Entwurf eines Strafgesetzbuches (E 1962). Tübingen 1965 (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 14), S. 117. 45 So z. B. Göhler, Kommentar zum OWiG, § 16 Rz 1 m. w. N. 46 A.A. Weber, 'Z1)tW 96 (1984), S. ~97. 47 U. Weber: Die Überspannung der staatlichen Bußgeldgewalt. Kritische Bemerkungen zur neue ren Entwicklung des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts. In: 'Z1)tW 92 (1980), S. 313 - 345.

V. Probleme der inflationären Fahrlässigkeitsahndung

67

der Fall, so etwa bei der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB), der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) oder der fahrlässigen Brandstiftung (§ 309 StGB). Derselbe Regel-Ausnahmegrundsatz findet sich in § 10 OWiG. Während der Besondere Teil des Strafrechts jedoch dem Konzept des § 15 StGB folgt, ist für den Besonderen Teil des Ordnungswidrigkeitenrechts zu konstatieren, daß "von dem in § 10 OWiG postulierten Grundsatz so gut wie nichts übriggeblieben ist, vielmehr fast alle Bußgeldvorschriften auch fahrlässige Zuwiderhandlungen erfassen" .48 So ist etwa auch in den §§ 51 Abs. 1, la, 4; 52 i.Y.m. 53 Abs. 1; 53 Abs. 2 und 54 LMBG sowie § 95 Abs. 1,4 AMG eine Fahrlässigkeitsahndung vorgesehen. Durch das 1. und 2. WiKG wurde im Kernstrafrecht die Zahl von fahrlässig begehbaren Straftatbeständen allerdings kaum ausgeweitet. Im 1. WiKG ist nur die - rechtsdogmatisch wie rechtspolitisch umstrittene49 Einbeziehung auch leichtfertig begangener Taten in den Subventionsbetrug (§ 264 Abs. 3 StGB) zu erwähnen. Das 2. WiKG hat keine neuen Fahrlässigkeitstatbestände eingeführt. Die weitgehende Ahndung fahrlässiger Verhaltensweisen zumindest im Ordnungswidrigkeitenrecht ist nicht unproblematisch. Weber weist mit Recht darauf hin, daß der Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter gegen Verletzung oder Gefährdung diese Erscheinung nicht zu rechtfertigen vermag, da es im Ordnungswidrigkeitenrecht hauptsächlich um Rechtsgüter geht, die ungleich weniger bedeutend sind als die kriminalstrafrechtlich geschützten.50 Weber erklärt die inflationäre Ahndung fahrlässiger Verhaltensweisen im Ordnungswidrigkeitenrecht hauptsächlich mit der geschichtlichen Genese dieses Rechtsgebiets aus dem Polizei- und Verwaltungsstrafrecht. 51 Die weitreichende Fahrlässigkeitsahndung steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum Schuldgrundsatz, wonach die Schuld nicht nur Grundlage, sondern auch Begrenzung jeder Strafe ist. Das Schuldprinzip gilt auch im 48 Weber, ZStW 96 (1984), S. 389. Vgl. auch P. eramer: Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten. Eine Einführung an Hand von Fällen. Stuttgart u. a. 1971, S. 90; Göhler, Kommentar zum OWiG, § 10 Rz 1. 49 Vgl. nur Lackner, § 264 Rz 6 b m. w. N. 50 ZStW 92 (1980), S. 335. 51 Ausführlich Weber, ZStW 92 (1980), S. 335 ff unter Hinweis auf K. Binding: Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts. Band 2: Schuld und Vorsatz. Zweite Hälfte: Der rechtswidrige Vorsatz. 2. Aufl., Leipzig 1916, S. 1195 ff. Für einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung vgl. auch KK OWiG-Bohnert, Einleitung, Rz 4 - 49 m. w. N.

68

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

Ordnungswidrigkeitenrecht. Daraus ergibt sich "das zwingende Gebot an den Gesetzgeber, für jede Bußgeldvorschrift gesondert zu prüfen, ob eine Ahndung fahrlässiger Zuwiderhandlungen angebracht erscheint. .. 52 Als entscheidenden Gesichtspunkt für diese Prüfung schlägt Weber vor, "ob das hinter dem Tatbestand stehende Verbot oder Gebot so einleuchtend ist, daß seine Kenntnis von den davon betroffenen Rechtsunterworfenen vernünftigerweise erwartet werden kann ... 53 Bei diesem Gedanken handelt es sich in der Tat um eine wichtige Ausprägung des Schuldgrundsatzes und des Rechtsstaatsprinzips. Webers Kriterium verdient deshalb Zustimmung, zumal im Ordnungswidrigkeitenrecht die Schutzbedürftigkeit besonders wichtiger Rechtsgüter gegen Verletzung und Gefährdung, die das Webersche Kriterium ausnahmsweise zurückdrängen könnte54 , kaum eine Rolle spielt. Ich möchte bezweifeln, ob das sich auf die Wirtschaftskriminalität beziehende Ordnungswidrigkeitenrecht ausnahmslos dem Weberschen Kriterium genügt. Die Frage kann hier aber letztlich offenbleiben. Weber selbst meint, daß der Gesetzgeber zumindest im Wirtschaftsstrafrecht das Schuldprinzip noch nicht durch eine inflationäre Pönalisierung fahrlässiger Verhaltensweisen verletzt habe. 55 Für den Bereich der Produzentenhaftung deutet alles darauf hin, daß das Webersche Kriterium und damit das Schuldprinzip ebenfalls noch nicht verletzt sind: Die Gefahren, die dem Verbraucher durch fehlerhafte Produkte drohen, sind so groß, daß die einschlägigen Tatbestände - etwa die §§ 212, 223, 223a und eben auch die §§ 222, 230 StGB - schon dem natürlichen Sorgfaltsempfinden unmittelbar einleuchtend sind. Die Verwendung größtmöglicher Sorgfalt ist hier allgemein akzeptiert. Gerade die Akzeptanz strengster Sorgfaltsanforderungen birgt jedoch die Gefahr einer Übertreibung in sich. Durch die Schaffung immer strengerer und immer differenzierterer Sorgfaltsanforderungen wird nämlich das Schuldprinzip ebenfalls ausgehöhlt, indem der Grundsatz individueller Vorwerfbarkeit verlassen und eine Entwicklung hin zur Gefährdungshaftung eingeleitet wird. In der zivilrechtlichen Produzentenhaftung hat diese Tendenz in dem am 1. 1. 1990 in Kraft getretenen Produkthaftungsgesetz ihre Krönung gefun-

S2 S3

Weber, 'll)tW 92 (1980), S. 338. Ibid.

54 Fast immer wird der Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter aber auch für ein breiteres Publikum einleuchtend sein. Ausnahmen sind lediglich bei überindividuellen Rechtsgütern wie der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" (vgl. oben Kap. C, Fn 53) denkbar. ss 'll)tW 96 (1984), S. 391.

VI. Zum Problem der Strafbarkeit juristischer Personen

69

den. Im Zivilrecht ist freilich, anders als im Strafrecht, eine Gefährdungshaftung weitgehend unproblematisch. 56 Es fragt sich nun, ob eine derartige Tendenz auch für das Wirtschaftsstrafrecht und das Recht der strafrechtlichen Produzentenhaftung zu konstatieren ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Ordnungswidrigkeitenrecht seine historischen Ursprünge im Polizei- und Verwaltungs strafrecht hat. Im Polizeirecht gilt seit jeher der Grundsatz, daß die Polizei gegen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ohne Rücksicht auf ein Verschulden des Störers vorgehen kann. 57 Schon hierin könnte man einen Anknüpfungspunkt für eine Tendenz hin zur Gefährdungshaftung erblicken. Im neueren Schrifttum finden sich gelegentlich diesbezügliche Hinweise. So deutet etwa Weber an, daß die "inflationäre Fahrlässigkeitsahndung" im Ordnungswidrigkeitenrecht "in der Rechtspraxis in besorgniserregendem Maße dazu führt, daß die Sanktion an den objektiven Normverstoß angeknüpft und nach der subjektiven Tatseite kaum noch gefragt wird. "58 Besonders deutlich ist diese Entwicklung im Straßenverkehrsrecht.59 Es wird zu prüfen sein, ob in der Dogmatik der strafrechtlichen Produzentenhaftung vergleichbare Tendenzen zu konstatieren sind.

VI. Zum Problem der Strafbarkeit juristischer Personen N ach geltendem deutschen Strafrecht können juristische Personen nicht bestraft werden. Dies wird teils schon mit der mangelnden Handlungsfähigkeit60 ("societas delinquere non potest"), teils mit der fehlenden Schuldfahigkeit juristischer Personen61 begründet. Allerdings ist es nach § 30 Abs.

Dazu ausführlich unten S. 83 ff. Vgl. V. Götz: Allgemeines Polizeirecht und Ordnungsrecht. 10. Aufi., Göttingen 1991, Rz 191. 58 ZStW 96 (1984), S. 338. Dem folgend KK OWiG-Rengier, § 10 Rz 1 f. Für ein Beispiel aus der Rechtspraxis vgl. OLG Düsseldorf LRE 12, 264 (265 t). 59 Haft, AT, 6. Teil § 3 Nr. 1 spricht von einer "Verformung des allgemeinen Fahrlässigkeitsbegriffes" durch das Straßenverkehrsrecht. Ebenso auch schon J. Baumann: Probleme der Fahrlässigkeit bei Straßenverkehrsunfallen. In: Kriminalbiologische Gegenwartsfragen. Heft 4. Stuttgart 1960, S. 100 - 109; auch in: ders.: Beiträge zur Strafrechtsdogmatik. Allgemeiner Teil. Hg. von G. Arzt u. a., Bielefeld 1987, S. 87 - 95 (91 t). 60 So etwa RGSt 16, 121 (123); 28, 103 (105); 33, 261 (264). Vgl. auch Sch/Sch-Cramer, Rz 98 vor § 25; Wesseis, AT, § 3 11 3. Zusammenfassend B. Ackermann: Die Strafbarkeit juristischer Personen im deutschen Recht und in ausländischen Rechtsordnungen. Frankfurt a. M. u. a. 1984, S. 49 - 54. 61 SO Z. B. W. Niese: Die modeme Strafrechtsdogmatik und das Zivilrecht. In: JZ 56, 56 57

70

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

1 OWiG möglich, gegen juristische Personen und Personenvereinigungen Geldbußen zu verhängen, wenn eines ihrer Organe, ein Vorstand oder ein vertretungsberechtigter Gesellschafter eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, durch die Pflichten des Verbandes verletzt oder der Verband bereichert wurde oder werden sollte. Durch die Ausgestaltung des § 30 Abs. 1 OWiG als Kann-Vorschrift und durch die Verhängung einer Geidbuße62 statt einer als sozialethisches Unwerturteil verstandenen Strafe hat der Gesetzgeber versucht, den oben angedeuteten Einwänden gegen eine Strafbarkeit juristischer Personen Rechnung zu tragen. 63 Der damit eingeschlagene Weg, dem - offensichtlich dringenden - Bedürfnis nach einer Sanktionsmöglichkeit gegen juristische Personen nachzukommen, ohne gegen tradierte dogmatische Strukturen zu verstoßen, ist jedoch wenig überzeugend. Zu Recht spricht Jakobs 64 von einer "doppelt halbherzige[n] Lösung": Angreifbar sind schon die methodischen Grundvorstellungen des Gesetzgebers: Die Legislative ist nicht ohne weiteres an die Erklärungsmuster gebunden, die in der strafrechtlichen Handlungs- und Schuldlehre diskutiert werden; es handelt sich dabei nicht selten um Annahmen, die in die Metaphysik und nicht in die Rechtspolitik gehören. Im übrigen zeichnet das Recht nicht irgendwie vorgegebene Strukturen nach, sondern schafft eigene, die sich nach den spezifischen Bedürfnissen und Absichten des Gesetzgebers bestimmen. Dies gilt auch für die Handlungs- und Schuldlehre. Zu Recht heißt es deshalb bei Baumann/Weber: "Wer Zurechnungsendpunkt eines rechtlich relevanten Verhaltens ist, bestimmt das Recht selbstherrlich. "65

S. 457 - 466 (463). Zusammenfassend Ackermann, Strafbarkeit juristischer Personen, S. 54 - 59. 62 Dazu K. Tiedemann: Die "Bebußung" von Unternehmen nach dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. In: NJW 1988, S. 1169 - 1174. 63 Zu neue ren Bestrebungen vgl. H. Achenbach: Die Sanktionen gegen die Unternehmensdelinquenz im Umbruch. In: JuS 1990, S. 600 - 608. Die Rechtsprechung setzt sich über die Nicht-Strafbarkeit juristischer Personen bisweilen durch eine "faktische" Betrachtungsweise" hinweg, indem sie unterderhand nicht auf die juristische Person als solche, sondern auf natürliche Personen abstellt, vgl. etwa BGH NStZ 1988, S. 14 - 16 (konkursdeliktische Problematik) mit kritischer Anmerkung von U. Weber, ibid., S. 16 - 18. M AT, 6/43; skeptisch auch Jescheck, AT, S. 205 m. w. N. Vgl. auch die ausführliche Darstellung von M. Brender: Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswidrigkeitenrecht. Rheinfeiden u. a. 1989. 65 AT, S. 363.

VI. Zum Problem der Strafbarkeit juristischer Personen

71

Einige rechts historische und rechtsvergleichende Hinweise mögen diese These stützen: In älteren Rechten waren bekanntlich nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Sachen deliktsfähig. 66 In der jüngeren deutschen Strafrechtswissenschaft finden sich bedeutende Autoren, die für eine Strafbarkeit von juristischen Personen eingetreten sind, so etwa von Liszt67 , M. E. Meyer68 und Busch69 • Sie konnten sich dabei insbesondere auf Otto von Gierkes Vorstellung von der realen Verbandspersönlichkeit der Körperschaften stützen. 70 Im britischen und US-amerikanischen Strafrecht ist die Strafbarkeit juristischer Personen allgemein akzeptiert. 71 Es kann deshalb nicht überraschen, daß auch die bereits mehrfach zitierte Arbeit Ackermanns - die gründlichste Aufarbeitung des Themas in jüngerer Zeit - zu dem Schluß kommt, "daß das Dogma von der strafrechtlichen Nicht-Verantwortlichkeit juristischer Personen keineswegs unumstößlich ist. Es ist dem Gesetzgeber durchaus möglich, de lege ferenda die Strafbarkeit juristischer Personen vorzusehen [... ]."72 Im deutschen Zivilrecht wird die Handlungs- und Schuldfähigkeit juristischer Personen übrigens als unproblematisch betrachtet. Die §§ 31 und 89 Abs. 1 BGB legen fest, daß einer juristischen Person das schadensersatzpflichtige und damit in der Regel schuldhafte Verhalten ihrer Organe als eigenes Handeln zugerechnet wird. 73 Es bleibt also festzuhalten, daß es dem Strafgesetzgeber grundsätzlich frei steht, eine Strafbarkeit juristischer Personen einzuführen. 74 De lege lata

66 Vgl. H. von Hentig: Die Strafe. Bd. 1: Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Berlin u. a. 1954, S. 50 ff. 67 F. V. Liszt: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. Erster Band. Einleitung und Allgemeiner Teil. 26. Auft., bearb. von Eb. Schmidt, Berlin, Leipzig 1932, § 28 12m. w. N. in Fn 3. 68 M. E. Meyer: Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts. Heidelberg 1915, S. 96. 69 R. Busch: Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände. Leipzig 1933. 70 O. v. Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4 Bände. Berlin 1868, 1873, 1881, 1913. ND. 1954. Einen Überblick über die Lehren von Gierkes gibt 1. Schröder in: G. Kleinheyer / J. Schröder: Deutsche Juristen aus 5 Jahrhunderten. 3. Auft., Heidelberg 1989, S. 96 - 101 (mit umf. Literaturnachweisen). 71 Ausführlich Ackermann, Strafbarkeit juristischer Personen, S. 75 - 138. 72 Ackermann, Strafbarkeit juristischer Personen, S. 243. 73 Palandt-Heinrichs, § 31 Rz 1 f; § 89 Rz 1. 74 Vgl. auch B. Schünemann: Unternehmens kriminalität und Strafrecht. Eine Untersu-

72

D. Wirtschafts strafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

aber, soweit herrscht Einigkeit, ist eine Sanktionierung juristischer Personen über § 30 OWiG hinaus nicht möglich. Andererseits ist jedoch nicht zu übersehen, daß gerade die Wirtschaftskriminalität als besondere Form der Verbands- oder Organisationskriminalität für den juristischen Laien eine Pönalisierung von ganzen Unternehmen - und nicht bloß deren leitenden Organen - nahelegt. Dies gilt insbesondere aus der Sicht des juristischen Laien: Wenn die Firma X den Rhein durch Einleitung giftiger Substanzen verschmutzt und dadurch Menschenleben gefahrdet, so steht es für den Normalbürger außer Frage, daß "die Firma X" bestraft werden muß. Bringt die Firma Y ein nicht ausreichend getestetes Medikament auf den Markt, das bei den Verbrauchern zu schweren gesundheitlichen Schäden führt, so fordern diese, daß "die Firma Y" zu bestrafen sei. Für den "Mann auf der Straße" ist die Strafbarkeit juristischer Personen also kein Problem, wobei allerdings zuzugeben ist, daß der Laie zwischen der juristischen Person und ihren verantwortlichen Organen wohl gar nicht differenziert. VII. Folgerungen aus der Straßosigkeit juristischer Personen

Es fragt sich nun, wie die Rechtsordnung mit diesen legitimen Erwartungen fertig werden kann, d.h. also wie - trotz der grundSätzlichen NichtStrafbarkeit juristischer Personen - vor dem Hintergrund der legitimen Strafbarkeitserwartungen in der Bevölkerung die Wirtschaftskriminalität als Sonderform der Verbands- oder Organisationskriminalität strafrechtlich bewältigt werden kann. Mit Weber lassen sich die hierbei relevant werdenden Probleme75 in folgender Weise gliedern:76 1) Die Rollenverteilung der an dem deliktischen Geschehen Beteiligten, also die Frage nach Täterschaft und Teilnahme. 2) Das Problem der Verantwortlichkeit von Aufsichtspflichtigen (vor allem der Betriebsinhaber), sofern ihre Beteiligung nicht nach allgemeinen Regeln erfaßt werden kann und

chung der Verantwortlichkeit der Unternehmen und ihrer Führungskräfte nach geltendem und geplantem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Köln u. a. 1979, S. 174,232 - 255. 75 Für eine eher kriminologisch bzw. kriminal politisch ausgerichtete Analyse vgl. Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 13 - 60. 76 Weber, ZStW 96 (1984), S. 401 nennt als viertes Problemfeld die Frage nach Sanktionen gegen Organisationen, insbesondere gegen juristische Personen und Personenvereinigungen. Dieses Problem wurde hier gesondert behandelt, vgl. oben VI.

VII. Folgerungen aus der Straftosigkeit juristischer Personen

3)

73

Die strafrechtliche Erfassung des Handeins für andere, also die OIEanund Vertreterhaftung.

Was zunächst die Rollenverteilung angeht, so liegen die Dinge nur dort einfach, wo es sich um klar strukturierte Klein- und Mittelbetriebe mit scharf abgegrenzten Verantwortungsbereichen handelt. Hier ist der Unternehmer in der Regel Täter, während für den weisungsgebundenen Arbeitnehmer allenfalls Mittäterschaft, meist aber nur Beihilfe in Betracht kommt. Nützlich ist die Faustregel Webers: "Je größer sein Freiraum ist, etwa aufgrund von Mitsprachebefugnissen, desto eher wird der Arbeitnehmer in die Rolle eines Mittäters (§ 25 Abs. 2 StGB) hineinwachsen. "77 Etwas anderes gilt nur bei Sonderdelikten.78 Die in Großbetrieben heute allgemein übliche arbeitsteilige OIEanisation hat zur Folge, daß eine Täterschaft des Unternehmers oder seiner leitenden Mitarbeiter durch aktives Tun kaum je nachzuweisen ist.79 Es wäre jedoch grob unbillig, wollte man diesen Personenkreis apriori von jeder Strafbarkeit ausschließen. Es entspricht deshalb zu Recht der herrschenden Lehre und Rechtsprechung, "daß die Betriebsinhaber sowie die Inhaber von Leitungsund Aufsichtsbefugnissen in Wirtschaftsunternehmen die Pflicht trifft, in ihrem Verantwortungsbereich zu verhindern, daß Mitarbeiter bei Wahrnehmung von Aufgaben des Betriebs Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begehen. "so Dieser Grundsatz wird im wesentlichen auf drei Wegen verwirklicht: Über eine Unterlassu~sstrafbarkeit (§ 13 Abs. 1 StGB), eine fahrlässige Nebentäterschaft und über § 130 OWiG. Eine Unterlassu~sstrafbarkeit setzt, neben einer Garantenpflicht, Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus, was bei einer großen - räumlichen oder hierarchischen - Distanz zwischen dem Aufsichtspflichtigen und dem deliktisch Handelnden oftmals nicht nachweisbar sein dürfte. Die Sanktionierung als fahrlässige Nebentäterschaft steht vor dem Problem, daß ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand häufig fehlt. Weber weist überdies zu Recht darauf hin, daß die Fahrlässigkeit - ebenso wie der Vorsatz - auf ein bestimmtes Tun hin konkretisiert sein muß und deshalb

77 ZStW 96 (1984), S. 402. Ausführlich ders.: Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts. Unter Berücksichtigung der bestehenden zivilrechtlichen Schutzmöglichkeiten. Tübingen 1976, S. 327 - 336. 78 Weber, ZStW 96 (1984), S. 402 f.

79

80

Dazu Schünernann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 30 - 40. Weber, ZStW 96 (1984), S. 404 f.

74

D. Wirtschaftsstrafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

der ganz allgemein gebliebene Verdacht, im Betrieb würden Straf- oder Bußgeldbestimmungen verletzt, nicht genügt. 81 Angesichts dieser Schwierigkeiten hat der Gesetzgeber in § 130 OWiG versucht, bereits die schuldhafte Verletzung der Aufsichtspflicht als solche zu inkriminieren. Nach § 130 OWiG handelt ordnungswidrig, wer als Inhaber eines Betriebs oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig eine Aufsichtspflicht verletzt und infolge dieser Verletzung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen wird. Abs. 2 weitet diese Bestimmung auf gewisse dem Betriebsinhaber gleichgestellte Personen aus. Bemerkenswert an dieser Vorschrift ist vor allem, daß die Zuwiderhandlung weder von Vorsatz noch von Fahrlässigkeit des Aufsichtspflichtigen umfaßt sein muß; diese müssen sich vielmehr allein auf das Unterlassen der erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen beziehen. Die Zuwiderhandlung gegen betriebliche Pflichten ist also lediglich eine objektive Bedingung der Ahndung. 82 Die Zuwiderhandlung muß allerdings kausal auf die Verletzung der Aufsichtspflicht zurückzuführen sein, was ebenfalls häufig an der mangelnden Nachweisbarkeit scheitert. Nach dem Entwurf des 2. WiKG83 von 1986 sollte es deshalb genügen, wenn die Zuwiderhandlung durch eine ordnungsgemäße Aufsicht wesentlich erschwert worden wäre. 84 Der Gesetzgeber konnte sich jedoch zu dieser Lösung nicht entschließen, die die Risikoerhöhungslehre gesetzlich verankert hätte. 85 Das dritte von Weber genannte Problemfeld, die strafrechtliche Erfassung des HandeIns für andere, gewinnt seine Brisanz aus der Vielzahl der im Wirtschafts straf- und hier besonders im Nebenstrafrecht vorkommenden Sonderdelikte. Das daraus entstehende Problem skizziert Weber wie folgt: "Ist Adressat dieser Normen [d.h. der Sonderdelikte, E.H.] eine strafrechtlich von vornherein nicht handlungsfähige juristische Person oder zwar eine natürliche Person, die aber im konkreten Falle nicht handelt, so ist eben mangels HandeIns - nicht nur der Normadressat straflos, sondern es ist

8\

82 83

ZStW 96 (1984), S. 405. So Rebmann / Roth / Hernnann, OWiG, § 130 Rz 13 unter Hinweis auf BGHSt 9, 322. BT Drucks. 10/318, S. 43 f.

84 Vgl. dazu Göhler, Kommentar zum OWiG, § 130 Rz 22 und aus der Rechtsprechung schon de lege lata OLG Koblenz, VRS 65, S. 457 (459), OLG Stuttgart NJW 1977, S. 1410. 85 Vgl. näher BT Drucks. 10/5058, S. 37; KK OWiG-Cramer, § 130 Rz 97; K. Rogall: Dogmatische und kriminalpolitische Probleme der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG). In: ZStW 98 (1986), S. 573 - 623 (608 ft).

VIII. Zusammenfassung

75

mit den allgemeinen Teilnahmeregeln auch das Handeln eines anderen, etwa des Organs der juristischen Person, nicht zu erfassen: als Täter nicht, weil er die dafür erforderliche Qualifikation (z. B. Arbeitgeber, Schuldner) nicht aufweist, als Teilnehmer nicht, weil Anstiftung (§ 26 StGB) und Beihilfe (§ 27 StGB) eine tatbestandsmäßig-rechtswidrige Haupttat voraussetzen, an der es gerade fehlt. "86 Um diese Lücke zu schließen, hat der Gesetzgeber in § 14 StGB und § 9 OWiG eine Organ- und Vertreterhaftung eingeführt. Danach kann in gewissen Fällen der Organschaft und Stellvertretung ein Sondertatbestand auch auf den Vertreter angewendet werden, wenn die die Stratbarkeit begründenden besonderen persönlichen Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Vertretenen vorliegen. An § 14 StGB wird allerdings zu Recht Kritik geübt: 87 Fraglich ist schon, ob der Ausdruck "besondere persönliche Merkmale" in § 14 StGB dieselbe Bedeutung hat wie in § 28 StGB. 88 Rechtspolitisch wird gefordert, nicht nur die betrieblichen, sondern alle gewillkürten Vertreter zu erfasserf!9 und das Merkmal der ausdrücklichen Beauftragung in § 14 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StGB zu streichen. 90 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung als Mittel zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität noch verbesserungsfähig ist. 91 VIII. Zusammenfassung

Als vorläufiges Resümee bleibt damit festzuhalten, daß alle drei von Weber genannten Problembereiche - die Rollenbewertung, die Verantwortlichkeit von Aufsichtspflichtigen und die Organ- und Vertreterhaftung - noch durchaus problemträchtig sind. Die von der Rechtsordnung angebotenen Weber, ZStW 96 (1984), S. 407 f. Dazu ausführlich LK-Roxin, § 14 Rz 4 ff sowie H. J. Bruns: Grundprobleme der strafrechtlichen Organ- und Vertreterhaftung (§ 14 StGB, § 9 OWiG). Zum gegenwärtigen Stand von Lehre und Rechtsprechung. In: GA 1982, S. 1 - 36. 86

87

88 Bejahend z. B. W. Langer: Zum Begriff der "besonderen persönlichen Merkmale". In: Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag. Hg. von G. Warda u. a., Berlin, New York 1976, S. 241 - 264 (254); verneinend z. B. Lackner, § 14 Rz 4 m. w. N. 89 So Bruns GA 82, S. 29; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Bd. 1, S. 203. 90 Bruns, GA 82, S. 28 mit Fn 103; SchI Sch-Lenckner, § 14 Rz 36; K. Tiedemann: Die strafrechtliche Vertreter- und Unternehmenshaftung. In: NJW 1986, S. 1842 - 1846. 91 Dazu zuletzt K. Marxen: Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung - eine Waffe im Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität? In: JZ 1988, S. 286 - 29l.

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D. Wirtschaftsstrafrecht und der Allgemeine Teil des Strafrechts

Wege, um die Verbands- oder Organisations kriminalität in den Griff zu bekommen, sind zu verwickelt und lassen nicht selten klare Konturen vermissen. Dies steht einer effizienten strafrechtlichen Bewältigung der Wirtschaftskriminalität im Wege. Es wird zu prüfen sein, wie sich dies bei der strafrechtlichen Produzentenhaftung auswirkt. Bei den Vorsatzdelikten wie §§ 212, 223, 223a verdient insbesondere die Begründung der GarantensteIlung von Personen in leitenden Positionen besondere Aufmerksamkeit. Eine weitere im Hinblick auf die strafrechtliche Produzentenhaftung besonders virulente Reibungszone stellt die Gefahr einer Überspannung strafrechtlicher Sorgfaltsanforderungen dar, wodurch gegen den Schuldgrundsatz verstoßen werden könnte. Als dritte besonders problemträchtige Zone sind schließlich die Kausalität und die objektive Zurechnung zu nennen. Auch diesen Problemfeldem wird im folgenden besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein. Bevor jedoch diesen und anderen Fragen im Detail nachgegangen wird (Kapitel G - K), soll zunächst in zwei ausführlichen Exkursen die zivilrechtliche Produzentenhaftung (Kapitel E) und der historische Hintergrund der strafrechtlichen Produktverantwortung (Kapitel F) in den Blick genommen werden.

E. Die zivilrechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick In der zivilrechtlichen Rechtsprechung und Lehre wird das Problem der Produzentenhaftung schon erheblich länger behandelt als im Strafrecht. 1 Es ist hier nicht der Ort, diese Entwicklung im einzelnen darzustellen? Stattdessen möchte ich zunächst nur knapp die wichtigsten dogmatischen Figuren skizzieren, mit denen man versucht hat, die Produzentenhaftung in den Griff zu bekommen (unter 1).3 Dies ist nicht völlig unproblematisch, denn mit Brüggemeier" läßt sich konstatieren, daß die "deliktische Produzentenhaftung nach § 823 I BGB [ ... ] der Bereich des zivilen Haftungsrechts [ist], der durch die Rechtsprechung die expansivste Ausdifferenzierung erfahren hat, um den spezifischen Gefahren der entwickelten industriellen Warenproduktion zu begegnen". Sodann möchte ich die typischen Beweisprobleme der lange Zeit herrschenden deliktischen Lösung und ihre Beantwortung durch die Judikatur ansprechen (11). Angesichts dieser Rechtsprechung stellt sich das Problem, ob wir es bei der heutigen deliktischen Judikatur zur Produzen-

I Vgl. etwa Th. Brendel: Qualitätsrecht. Die technisch-ökonomischen Implikationen der Produ:rentenhaftung. Berlin 1976 (Schriften zum Wirtschaftsrecht, Bd. 24); U. Diederichsen: Die Haftung des Warenherstellers. München. Berlin. 1967; W. Lorenz: Rechtsvergleichendes zur Haftung des Warenherstellers-Lieferanten gegenüber Dritten. In: Festschrift der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der lulius-Maximilians-Universität Würzburg zum 75. Geburtstag von Herrmann Nottarp. Hg. von R. Mikat, Karlsruhe 1961, S. 59 - 89; 1. Schmidt-Sal:rer: Produkthaftung. Die Haftung der an der Warenherstellung und am Warenbetrieb beteiligten Personen und Unternehmen. Heidelberg 1972; S. Simitis: Grundfragen der Produ:rentenhaftung. Tübingen 1965; ders.: Soll die Haftung der Produzenten gegenüber dem Verbraucher durch Gesetz, kann sie durch richterliche Fortbildung des Rechts angeordnet werden? In welchem Sinne? Verhandlungen des 47. Deutschen luristentages 1968, C 1 - 98. Zahlreiche rechtsvergleichende Hinweise finden sich bei E. von Hippel: Verbraucherschutz. 3. Aufl., Tübingen 1986, S. 46 - 93. 2 Vgl. den knappen Überblick bei Larenz, SchR 11 /1, § 41 a; Taschner-Frietsch, Produkthaftungsgesetz, Einführung Rz 31 ff. 3 Für eine umfassende Darstellung vgl. I. Schmidt-Sal:rer: Produkthaftung. Band III /1 : Deliktsrecht. 1 Teil. 2. Aufl., Heidelberg 1990; F. Graf von Westphalen: Produkthaftungshandbuch. 2 Bände, München 1989/1991. 4 KJ 1989 (wie Kap. B, Fn 38), S. 213 f.

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E. Die zivilrechtIiche Produzentenhaftung - ein Überblick

tenhaftung überhaupt noch mit einer Verschuldenshaftung oder schon mit einer Gefährdungshaftung zu tun haben (unter III). Schließlich bleibt noch die Bedeutung und der wesentliche Inhalt des neuen, am 1. 1. 1990 in Kraft getretenen Produkthaftungsgesetzes zu skizzieren; hierbei kann ich mich ebenfalls kurz fassen, da das Produkthaftungsgesetz bereits einige hervorragende Darstellungen gefunden hat. 5 I. Anspruchsgrundlagen für die zivilistische Produktverantwortung

Um eine brauchbare Anspruchsgrundlage für die zivilrechtliche Produzentenhaftung zu finden, ist es zweckmäßig, sich zunächst einmal über die Rollen der Beteiligten k1arzuwerden: Der Endverbraucher steht in der Regel nicht direkt dem Produzenten der schadhaften Sache gegenüber, sondern hat das Produkt von einem Händler bezogen, der es seinerseits direkt oder unter Zwischenschaltu~ weiterer Händler vom Hersteller erworben hat. Grundsätzlich sind also drei Personen zu unterscheiden: der Endverbraucher, der Händler und der Hersteller. Vertragliche Schadens ersatzansprüche des Verbrauchers gegen den Händler, etwa aus culpa in contrahendo, positiver Vertragsverletzung oder aus § 463 S. 2 BGB setzen beim Händler Verschulden voraus. Daran wird es meist fehlen. Der BGH hat es abgelehnt, dem Händler ein Verschulden des Herstellers über § 278 BGB zuzurechnen, da der Händler die Herstellung nicht schuldete und sich somit dazu auch des Herstellers nicht bedient hat, wie es § 278 BGB voraussetzt. 6 Auch ein verschuldensunabhängiger vertraglicher Schadensersatzanspruch aus § 463 S. 1 BGB wird nur selten anzunehmen sein, da die h. M. die Anforderungen an das Vorliegen einer "Zusicherung" bestimmter Eigenschaften außerordentlich hoch angesetzt hat. 7 Ebensowenig läßt sich argumentieren, der Händler wolle Angaben aus der Hersteller\\erbung als eigene gelten lassen.8 Schließlich dürften auch deliktische Schadens-

5

6

Vgl. die Nachweise unten Kap. D, Fn 50. BGHZ 48, 118 (120); vgl. auch Medicus, SchR H, S. 45.

7 Zur allerdings wenig einheitlichen Judikatur vgl. Gernhuber, BürgR, § 33 H 3; Medicus, BürgR, Rz 359; beide m. w. N. Mit Recht kritisch zur h. M. H. Schack: Die Zusicherung beim Kauf. In: AcP 185 (1985), S. 333 - 361. 8 Vgl. BGH NJW 1981, 1269 (1270); anders noch BGHZ 48,118 (zu letzterem kritisch A. Teichmann: Schadensersatz bei fehlerhafter Ware - BGHZ 48, 118. In: JuS 1968, S. 315 - 320).

I. Anspruchsgrundlagen für die zivilistische Produktverantwortung

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ersatzansprüche des Verbrauchers gegen den Händler in den meisten Fällen mangels Verschuldens ausscheiden. Ansprüche des Verbrauchers aus dem Vertrag zwischen dem Hersteller und dem Händler kommen nur in Betracht, wenn man entweder bereit ist, diesem Vertrag eine Schutzwirkung für den Verbraucher zuzugestehen oder aber, wenn die Voraussetzungen einer Drittschadensliquidation gegeben sind. Ein Vertrag mit Schutzwirkung für den Verbraucher liegt in der Regel deshalb nicht vor, weil es an der von der h. M. geforderten engen personenrechtlichen Beziehung9 zwischen dem Händler und dem Verbraucher fehlt. 10 Ebensowenig hilft nach h. M. die auf die Fallgruppen "mittelbare Stellvertretung", "obligatorische Gefahrenentlastung" und "Obhutsverhältnisse" zu beschränkende Drittschadensliquidation weiter. 1I Direkte vertragliche Schadens ersatzansprüche des Verbrauchers gegen den Hersteller setzen zunächst einen Vertrag voraus, woran es fast immer fehlen wird. Weder die Werbung l2 noch eine dem Produkt beiliegende Gebrauchsanweisungl3 vermögen eine derartige rechtsgeschäftliche Beziehung zu begründen. In Betracht kommt allenfalls ein selbständiger Garantievertrag, wenn der gelieferten Sache entsprechende Garantiescheine beiliegen. 14 Derartige Garantien enthalten aber meist nur eine Pflicht zur Nachlieferung oder Nachbesserung, jedoch keine Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz. 15 Auch eine Haftung analog § 122 BGB hat sich nicht durchgesetzt. 16 Die weitaus wichtigste Anspruchsgrundlage bleibt damit die aus § 823 Abs. 1 BGst 7 (zum ProdHaftungsG vgl. unten IV). Der BGH hat dabei die Sorgfaltsanforderungen sehr hoch angesetzt und auch eine Produktbeobachtungs- 18 und eine Produktprüfungspflichtl9 festgelegt. Die deliktsrechtliche 9

845. 10

Zu dieser sog. ",Wohl und Wehe'-Rechtsprechung" vgl. näher Medicus, BürgR, Rz BGHZ 51,91 (95 t).

BGHZ 51, 91 (93 ft); zu den Fallgruppen der Drittschadensliquidation vgl. auch Jauemig-Teichmann, vor §§ 249 - 253, Anm. IV 2 b. 12 Dazu BGH VersR 1984, S. 1151. 11

14

Vgl. BGH NJW 1989, S. 1029. Vgl. Larenz, SchR 11 /1, S. 83.

15

Dazu näher Medicus, SchR 11, S. 46.

16

Larenz, SchR 11 /1, S. 84 f.

13

An sich denkbar sind ebenfalls Ansprüche aus § 826 oder 823 Abs. 2 BGB i. V.m. einem Schutzgesetz, doch kommen derartige Ansprüche in der Praxis offenbar kaum vor. 18 Vgl. etwa Fikentscher, SchR, S. 753 f; Larenz, SchR lI/I, S. 88 f. 19 Vgl. dazu H. Herrmann: Die Rückruthaftung des Produzenten. BB 1985, S. 1801 17

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E. Die zivilrechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick

Lösung setzt voraus, daß der Verbraucher in einem der durch § 823 Abs. BGB geschützen Rechte oder Rechtsgüter verletzt ist. Während dieser Nachweis im Regelfall relativ einfach zu führen ist, stellt die delikts rechtliche Lösung den Verbraucher ansonsten vor fast unüberwindlich erscheinende Beweisschwierigkeiten. 11. Beweisprobleme in der zivilistischen Produzentenhaftung Grundsätzlich ist es Aufgabe des Klägers, alle anspruchsbegründenden Tatsachen zu beweisen. Dazu gehört bei § 823 Abs. I BGß nicht nur die Verletzung in einem der dort genannten Rechtsgüter oder Rechte, sondern ebenso der Beweis von Rechtswidrigkeit und Verschulden. Bei bloß mittelbaren Verletzungen i.S.v. § 823 Abs. I BGB, also solchen Verletzungen, bei denen der Verletzungserfolg erst in einem nicht ganz unbeträchtlichen räumlichen und zeitlichen Abstand von der verletzenden Handlung - hier: dem Produktionsvorgang - eintritt, genügt es für die Indikation der Rechtswidrigkeit nicht, daß der Anspruchsgegner eine Ursache für den Schaden gesetzt hat. 20 Die Rechtswidrigkeit ist vielmehr ebenso wie bei den sog. "Rahmenrechten" am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eigens zu begründen. 21 In den Fällen bloß mittelbarer Schädigungen ist der vom Gesetz verwendete Begriff "Verletzung" zu weit, denn von der Rechtsordnung "wird nun einmal eine gewisse Gerahrlichkeit von Produkten in Kauf genommen". 22 Es bedarf deshalb zusätzlich der Verletzung einer besonderen VerkehrssicherungspflichtP Daß der Verletzungserfolg aber gerade aus der Vernachlässigung einer derartigen Verkehrssicherungspflicht herrührt, ist im Prozeß kaum zu beweisen. Erst recht ist es natürlich schwierig, dem Hersteller ein schuldhaftes Verhalten nachzuweisen. Zwar kehrt § 831 Abs. I S. 2 BGB die Beweislast um, doch gilt dies nur dann, wenn der Verletzungserfolg von einem Verrichtungsgehilfen verursacht wurde. Im Falle des § 31 BGB ist keine Beweislastum-

1812 sowie zusammenfassend E-Ch. Niehusen: Die rechtlichen Grundlagen und die Durchführung einer Rückrufaktion. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1979. 20 Medicus, SchR Ir, S. 48. Vgl. Fikentscher, SchR, S. 737. Medicus, SchR Ir, S. 48. 23 Ibid., allgemein zu den Verkehrssicherungspflichten Ch. von Bar: Entwicklungen und Entwicklungstendenzen im Recht der Verkehrs(sicherungs)pflichten. In: JuS 1988, S. 169 - 174. 21

22

11. Beweisprobleme in der zivilistischen Produzentenhaftung

81

kehr vorgesehen. Die Chancen eines Außenstehenden, ein Verschulden des Herstellers nachzuweisen, sind damit außerordentlich gering.24 Um dem Verbraucher bei diesen Beweisschwierigkeiten zu Hilre zu kommen, hat der BGH erstmals 1968 in der vielzitierten "Hühnerpestentscheidung"25 die Beweislast in den Fällen der Produzentenhaftung neu verteilt: Ein Tierarzt hatte unmittelbar von der Herstellerfirma einen Impfstoff gegen Hühnerpest erworben. Da der hnpfstoff nicht hinreichend immunisiert worden war, enthielt er noch aktive Hühnerpest-Viren; die damit geimpften Tiere gingen ein. Die Schuldfrage ließ sich im einzelnen nicht aufklären. Der BGH hält in seiner Entscheidung grundSätzlich daran rest, daß der Geschädigte, der sich auf § 823 Abs. 1 BGB beruft, auch das Verschulden des Schädigers nachzuweisen hat. Dieser Nachweis, so der BGH, sei jedoch offensichtlich mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft, wenn es um Vorgänge gehe, die sich bei der Herstellung eines Produktes im Betrieb abgespielt haben. Die Rechtsprechung sei in solchen Fällen schon seit langem dem Geschädigten dadurch entgegengekommen, daß sie sich mit dem Nachweis einer Kausalkette begnügt habe, die nach der Lebenserfuhrung zunächst für ein Organisationsverschulden des Herstellers spreche. Dies, und darin liegt die entscheidende Neuerung, erachtet der BGH im Hühnerpestfall jedoch für nicht mehr ausreichend: "Allzuoft wird der Betriebsinhaber die Möglichkeit dartun, daß der Fehler des Produkts auch auf eine Weise verursacht sein kann, die den Schluß auf sein Verschulden nicht zuläßt - ein Nachweis, der zumeist wiederum auf Vorgängen im Betrieb des Schädigers beruht, daher vom Geschädigten schwer zu widerlegen ist. Infolgedessen kann der Hersteller dann, wenn es um Schäden geht, die aus dem Gefahrenbereich seines Betriebs erwachsen sind, noch nicht dadurch als entlastet angesehen werden, daß er Möglichkeiten aufzeigt, nach denen der Fehler des Produkts auch ohne ein in seinem Organisationsbereich liegendes Verschulden entstanden sein kann. Dies gebieten in den Fällen der Produzentenhaftung die schutzbedürftigen Interessen des Geschädigten [ ... ]. "26 Diese Beweislastregel greire freilich "erst ein, wenn der Geschädigte nachgewiesen hat, daß sein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers, und zwar durch einen objektiven Mangel oder Zustand der Verkehrswidrigkeit ausgelöst worden ist. "27

24

25 26

27

So auch Medicus, SehR 11, S. 49.

BGHZ 51, 91 ff. BGHZ 51, 91 (105). Ibid.

6 Hügeadorf

82

E. Die zivilrechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick

Es reicht also aus, wenn der Geschädigte beweisen kann, daß der Verletzungserfolg im Herstellerbereich wurzelt; dann werden eine dafür kausale objektive Pflichtverletzung und ein Verschulden des Herstellers vermutet. 28 An dieser verbraucherfreundlichen Regelung hat der BGH seither festgehalten und sie sogar noch ausgebaut: Nach BGHZ 67, 359 ff (Schwimmschalter) gelten die soeben wiedergegebenen Grundsätze der Beweislastumkehr auch dann, wenn der geschädigte Endverbraucher das Produkt direkt vom Hersteller bezogen hat. Dies erscheint nur konsequent. Problematischer ist die Ansicht des BGH, die Beweislastumkehr gelte auch gegenüber einem "Produktionsleiter in herausgehobener Stellung". 29 Diese Haftungsausweitung ist in der Literatur zu Recht überwiegend auf Ablehnung gestoßen und dürfte auf jene Fälle zu beschränken sein, in denen der leitende Mitarbeiter eine Position innehat, in der seine Organisationsbefugnisse, seine Gewinnbeteiligung und seine Verfügungsrnacht über die Beweismittel einem Unternehmens leiter vergleichbar sind. 30 Im Schwimmschaltertilll BGHZ 67, 359 ff hat sich der BGH auch zum Problem des sog. "weiterfressenden Schadens" geäußert. 31 Danach gelten die Grundsätze der Produzentenhaftung auch dann, wenn infolge eines Mangels am gelieferten Einzelteil der für sich mangelfreie Rest des Produkts zerstört wird. 32 In BGHZ 99, 167 ff (Honda) wurde die schon bisher bestehende Produktbeobachtungspflicht verschärft: Danach soll eine Vertriebsgesellschaft von Honda-Motorrädern verpflichtet sein, nicht nur die eigenen Motorräder zu beobachten, sondern auch die von anderen Herstellern auf den Markt gebrachten Zubehörprodukte. 33 Gelegentlich wurde diese Produktbeobach-

28 29

Vgl. Medicus, SchR II, S. 50. BGH NJW 1975, S. 1827.

30 Medicus, BürgR Rz 650a; MüKo-Mertens, § 823 Rz 311; ausführlich W. Marschall v. Bieberstein: Zur Verantwortlichkeit leitender Mitarbeiter im Produkthaftpflichtrecht. In: VersR 1976, S. 411 - 415; Lieb, Urteilsanmerkung. In: JZ 1976, S. 526 - 528. 31 Vgl. auch BGH NJW 1978, S. 2241 tf (Reifenfall). 32 Das sich daraus ergebende Problem einer überzeugenden Abgrenzung von Deliktsund Vertragsrecht haben auch BGHZ 86, 256 tf (Gaszug) und BGH NJW 1983, S. 812 tf (Hebebühne) letztlich nicht befriedigend lösen können, vgl. dazu Larenz II/ I, S. 89; Medicus, BürgR Rz 650b. 33 Vgl. dazu auch 1. Schmidt-Salzer, Anmerkungen zu BGH, Urt v. 9. 12. 1986 - VI ZR 65/86. In: BB 1987, S. 721 - 722, sowie H. J. Kullmann: Die Produktbeobachtul1lspflicht des Kraftfahrzeugherstellers im Hinblick auf Zubehör. In: BB 1987, S. 1957 - 1959; R. Sack: Produzentenhaftung und Produktbeobachtul1lspflicht. In: BB 1985, S. 813 - 819.

III. Tendenz zur Gefährdungshaftung?

83

tungspfticht auch zu einer Gefahrenbeseitigungspfticht und der Pflicht zu Rückrufaktionen (besonders im Kfz-Bereich) erweitert.34 Eine der jüngsten Verschärfungen der Produzentenhaftung findet sich in BGHZ 104, 323 ff (Sprudelftasche). Dort war ein Kind durch eine berstende Mehrweg-Limonadenftasche verletzt worden. Ob dies auf eine Nachlässigkeit des Limonadenproduzenten oder des Flaschenherstellers zurückzuführen war, ließ sich nicht mehr feststellen. Deshalb hatte das OLG Frankfurt die Klage als unbegründet abgewiesen. 35 Der BGH half sich dagegen über die Kausalitätsproblematik hinweg, indem er eine Verkehrssicherungspfticht des beklagten Limonadenherstellers statuierte: Der Hersteller habe die Pflicht, das gesamte Produkt auf seine Gefahrlosigkeit hin zu überprüfen. 36 Welche Folgen diese Entscheidung für die zivilrechtliche Produzentenhaftung haben wird, ist noch offen. III. Thndenz zur Gef"ährdungshaftung? Angesichts der geschilderten Entwicklung in der Rechtsprechung wurde schon bald argumentiert, der BGH habe das Verschuldensprinzip hinter sich gelassen und die Einstandspfticht des Produzenten der Gefährdungshaftung angenähert, mithin auf das Erfordernis eines Verschuldens weitgehend verzichtet. 37 In der Tat dürfte die Schärfe der statuierten Sorgfaltspftichten und vor allem die Umkehr der Beweislast hinsichtlich des Verschuldens als deutliche Annäherung der Rechtsprechung an eine Gefährdungshaftung zu betrachten sein. Die Grenze zur Gefährdungshaftung ist jedoch erst dann endgültig überschritten, wenn das Verschulden des Produzenten rechtlich bedeutungslos wird oder unwiderleglich zu vermuten wäre. Dies ist selbst nach der derzeitigen Rechtsprechung zur zivilrechtlichen Produzentenhaftung nicht der Fall; vielmehr bleibt es dem Produzenten trotz der Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Wirtschaftsbetriebe grundsätzlich möglich, sich zu entlasten. Deshalb ist mit der überwiegenden Ansicht davon auszugehen, daß

34 35 36

So etwa BGH VersR 1986, S. 1125. VersR 1987, S. 469. BGHZ 104, 323 (326).

37 So etwa Brüggemeier, KJ 1989 (Kap. B, Fn 38), S. 214, 220; H.-B. Ott/C. Schäfer: Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts. Berlin u. a. 1986, S. 157. Näher zum Begriff der Gefährdungshaftung E. Deutsch: Haftungsrecht. Erster Band: Allgemeine Lehren. Köln u.a. 1976, S. 363; Larenz, SchR lI/I, S. 698.

84

E. Die zivil rechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick

die Produzentenhaftung gern. § 823 Abs. 1 BGB auch heute noch als Verschuldenshaftung anzusehen ist. Eine ganz andere Frage ist, ob die zivilrechtliche Produzentenhaftung weiterhin als Verschuldenshaftung konzipiert sein sollte oder ob nicht eine Gefahrdungshaftung den Eigenarten der heute von Produkten und Produktionsbetrieben ausgehenden Gefahren besser entspricht. Die Gefahrdungshaftung ist ein Kind des Industriezeitalters. Sie findet sich bemerkenswerterweise zuerst im Preußischen Eisenbahngesetz vom 3. 11. 1838, dessen § 38 lautete: 38 "Die Gesellschaft ist zum Ersatz verpflichtet für allen Schaden, welcher bei der Beförderung auf der Bahn, an den auf derselben beförderten Personen und Gütern, oder auch an anderen Personen oder deren Sachen, entsteht und sie kann sich von dieser Verpflichtung nur durch den Beweis befreien, daß der Schaden entweder durch die eigene Schuld des Beschädigten oder durch einen unabwendbaren äußeren Zufall bewirkt worden ist. Die gefahrliche Natur der Unternehmung selbst ist als ein solcher, von dem Schadensersatz befreiender, Zufall nicht zu betrachten. "39 Grund dieser Regelung war die damals befürchtete übermäßige Gefährlichkeit des Bahnverkehrs. 40 Dieser Gedanke einer Einstandspflicht für rechtlich gebilligte, aber trotzdem als bedenklich groß eingestufte Gefahren ist auch heute noch als das Grundprinzip der Gefahrdungshaftung anzusehen. 41 Es drückt sich auch in folgenden, zur überpositiven Rechtfertigung

38 Zitiert nach der Gesetzessammlung für die Königlich Preußischen Staaten. Berlin 1838, S. 510.

39 Zur Bedeutung dieser Bestimmung vgl. ausführlich R. Ogorek: Untersuchungen zur Entwicklung der Gefahrdungshaftung im 19. Jahrhundert. Köln 1975 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte Bd. 22), S. 7 ff, 61 - 68. Aus der zeitgenössischen Literatur vgl. vor allem 1. H. Beschomer: Von der Ersatzpflicht der Eisenbahnverwaltungen. In: AcP 41 (1858), S. 393 - 410 und allgemein H. Siebenhaar: Der Begriff der Gemeingefahrlichkeit und die gemeingefahrlichen Delikte nach dem Reichsstrafgesetzbuche. In: ZStW 4 (1884), S. 245 - 291; J. Kitzinger: Gemeingefahrliche Verbrechen und Vergehen (Abschnitt 27 des 11. Teiles des RStGB). 1. Allgemeine Erörterung. In: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil. IX. Band. Berlin 1906, S. 1 - 30. 40 Dazu G. Lehmann: Körperverletzungen und Tötungen auf deutschen Eisenbahnen und die Unzulänglichkeit des Rechtsschutzes. Erlangen 1869. Weitere historische Nachweise finden sich bei Ogorek (Fn 39) und M. R. Will: Quellen erhöhter Gefahr. Rechtsvergleichende Untersuchungen zur Weiterentwicklung der deutschen Gefahrdungshaftung durch richterliche Analogie oder durch gesetzliche Generalklausel. München 1980 (Münchener Universitätsschriften, Bd. 42), S. 2 - 4. 41 Larenz, SchR 11/1, S. 699; ders.: Die Prinzipien der Schadenszurechnung. Ihr Zusammenspiel im modemen Schuldrecht. In: JuS 1965, S. 373 - 379 (374 ft). Ausführlich

III. Tendenz zur Gefährdungshaftung?

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der Gefährdungshaftung häufig verwendeten Topoi aus: Möglichkeit der Risikobeherrschung, Nähe zur Schadensursache, Vorteilsziehung aus der gefahrbringenden Tätigkeit, Sach- oder Betriebsbedingtheit der Gefahr, Sicherung der Lebensordnung durch Einstandspflichten, und andere mehr.42 Die auf diese Weise begründete "erweiterte Zulassung gefahrbehafteter Tätigkeit"43 durch die Rechtsordnung zeigt sich auch in einer "gewandelte[n] Funktion der Fahrlässigkeit in der modernen Verkehrs- und Industriegesellschaft. Dem heutigen Verständnis der Fahrlässigkeit zufolge ist regelmäßig nicht Vermeidung, sondern kontrollierter Umgang mit der Gefahr als sorgfältiges Verhalten anzusehen. "44 Überträgt man diese Grundsätze auf die zivilrechtliche Produzentenhaftung, so ergibt sich folgendes Bild: 45 Das Merkmal der Betriebsbedingtheit der Gefahr läßt sich für den Hersteller eines gefährlichen Gutes problemlos bejahen. Zwar wäre es in den meisten Fällen möglich, das Risiko - etwa durch sorgfältige Kontrollen - zu vermindern, doch stehen dem in der Regel wirtschaftliche Gründe entgegen. Der Hersteller produziert mit dem Ziel, finanzielle Vorteile aus seiner Tätigkeit zu ziehen und nimmt dafür gewisse Risiken in Kauf. Diese Art des Wirtschaftens mag in mancher Hinsicht als problematisch erscheinen, doch hat sich das System eines leistungsorientierten, risikofreudigen Wirtschaftens allen anderen Systemen gegenüber als weit überlegen erwiesen. Es ist allerdings Aufgabe des Staates, für diese Tätigkeit den Rahmen zu setzen und, sofern nötig, auch im Detail Regelungen vorzunehmen. Wachsende Risiken führen zur Notwendigkeit wachsender staatlicher Kontrolle. 46

1. Esser: Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung. Beiträge zur Reform des Haftpflichtrechts und zu seiner Wiedereinordnung in die Gedanken des allgemeinen Privatrechts. 2. Aufl., München 1969. 42 Vgl. dazu, mit detaillierten Hinweisen, Deutsch, Haftungsrecht, S. 364. Sehr viel pragmatischer sind dagegen die Begründungsansätze im angelsächsischen Rechtskreis, vgl. E.-G. Bähr: Strafbarkeit ohne Verschulden (Strict Liability) im Strafrecht der USA. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Baden-Baden 1974. 43 So prägnant Deutsch, ibid. 44 Ibid. Vgl. auch die umfassende Analyse von H. Kötz: Haftung für besondere Gefahr - Generalklausel für die Gefährdungshaftung. In: AcP 170 (1970), S. 1 - 41.

45 Vgl. zum folgenden auch H. C. Ficker: ProduktenhaftuJ11; als Gefährdungshaftung? In: Festschrift für Ernst von Caemmerer zum 70. Geburtstag. Hg. von H. C. Ficker u. a. Tübingen 1978, S. 343 - 358. 46 Daß diese Entwicklung nicht unproblematisch ist, liegt auf der Hand. Speziell im Hinblick auf das Haftungsrecht vgl. W. Zöllner: Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert. In: AcP 188 (1988), S. 85 - 100.

86

E. Die zivil rechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick

Da der Produzent mithin die Gefahren nicht nur schafft, sondern aus der gefahrbringenden Tätigkeit sogar finanzielle Vorteile zieht, erscheint es nur billig, wenn ihm auch eine Ersatzpflicht für die daraus entstehenden Schäden - und zwar unabhängig von seinem Verschulden - auferlegt wird. 47 Dies ist im neuen Produkthaftungsgesetz geschehen. 48 IV. Das neue Produkthaftungsgesetz Um eine Verfalschung des Wettbewerbs durch unterschiedliche Haftungsnormen in den einzelnen EG-Mitgliedsstaaten zu verhindern, hatte der Rat der Europäischen Gemeinschaften mit dem Datum vom 25. 7. 1985 eine Richtlinie zur Vereinheitlichung der nationalen Regelungen der Produkthaftung erlassen. 49 Der bundes deutsche Gese~eber ist dieser Verpflichtung durch Erlaß des am 1. 1. 1990 in Kraft getretenen Gesetzes über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ProdHaftungsG) nachgekommen. 50 Nach § 1 Abs. 1 S. 1 ProdHaftungsG haften Hersteller und Importeur für Verletzungen von Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum verschuldensunabhängig. Die verschuldensunabhängige Haftung wird jedoch bereits in Abs. 2 wieder durch zahlreiche Ausnahmen durchlöchert. Besonders bedeutungsvoll ist dabei Abs. 2 Nr. 5, wonach die Herstellerhaftung dann nicht eintritt, wenn der Fehler zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens "nach dem Stand der Wissenschaft und Technik [ ... ] nicht erkannt werden konnte. "51 47 Schäfer I Ott, Lehrbuch, S. 157 halten die Gefahrdungshaftung bei der Produzentenhaftung sogar für das in der Regel "einzig effiziente Haftungssystem" . 48 Die im Vorstehenden nur knapp skizzierte Entwicklung wird umfassend dargestellt und analysiert von Kee-Young Yeun: Von der Verschuldenshaftu~ zur Gefahrdungshaftung für fehlerhafte Produkte. Eine zivilrechtliche Untersuchung mit rechtsvergleichenden Ausblicken. Göttingen 1988 (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 132). 49 ABlEG L 210 vom 7.8.1986, S. 26. Text auch in: VersR 1985, S. 922. so Ausführlich zur Gesetzgebungsgeschichte W. Lorenz: Europäische Rechtsangleichung auf dem Gebiet der Produzentenhaftung. Zur Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Juli 1985. In: ZHR 151 (1987), S. 1 - 39 (mit zahlreichen rechtsvergleichenden Hinweisen). Vgl. auch die Materialien BR-Drs. 101/88; BT-Drs. 11/2447. Einen Überblick über die neue gesetzliche Regelung gibt F. Graf von Westphalen: Das neue Produkthaftungsgesetz. In: NJW 1990, S. 83 - 93; ausführlich ders.: Das deutsche Produkthaftungsgesetz. In: ders.: Produkthaftungshandbuch. Bd. 2: Das deutsche Produkthaftungsgesetz, Internationales Privat- und Prozeßrecht, Länderberichte zum Produkthaftungsrecht. München 1991, S. 1 - 176. Speziell zur Haftung für fehlerhafte Lebensmittel H. Hummel-Liljegren: Produkthaftung für fehlerhafte Lebensmittel. In: LebensmittelrechtsHandbuch. Loseblatt-Sammlung. München. Stand: Januar 1991, III A. 5\ Weitergehend die arzneimittelrechtliche Gefahrdungshaftung in §§ 84 ff AMG sowie

IV. Das neue Produkthaftungsgesetz

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Eine Haftungsmilderung bewirkt auch § 3 Abs. 2 ProdHaftungsG, wonach ein Produkt nicht allein deshalb einen Fehler aufweist, weil später ein verbessertes Produkt in den Verkehr gebracht wurde. § 3 ProdHaftungsG legt den Fehlerbegritf fest. Ein Produkt hat danach einen Fehler, "wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände [ ... ] berechtigterweise erwartet werden kann." Als zu berücksichtigende Umstände werden insbesondere die Darbietung des Produktes, der zu erwartende Gebrauch und der Zeitpunkt des Inverkehrbringens erwähnt. Es kommt mithin nicht darauf an, ob der Hersteller selbst den Fehler erkennt oder hätte erkennen können (vgl. aber § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftungsG). Eine Pflicht zur Produktbeobachtung besteht nach dem ProdHaftungsG nicht. 52

Im Hinblick auf den Haftungsumfang ist besonders bemerkenswert, daß das Gesetz kein Schmerzensgeld gewährt und für Personenschäden in § 10 Haftungshöchstbeträge vorgesehen sind. Der Ersatz von Sachschäden ist nur möglich, wenn der Schaden nicht an dem fehlerhaften Produkt selbst entsteht und die Sache ihrer Art nach für den privaten Ge- und Verbrauch bestimmt ist, § 1 Abs. 1 S. 2.53 Neben dem ProdHaftungsG bleibt im übrigen eine Produkthaftung aus § 823 BGB möglich. 54 Durch die Einführung der Gefährdungshaftung verlagert sich die Hauptfunktion der zivilrechtlichen Produzentenhaftung von dem individuellen Schadensausgleich zur allgemeinen Vermeidung von Schadensfällen. Die Produzentenhaftung wird zu einem Mittel gesellschaftlicher Steuerung. Brüggemeier zufolge handelt es sich um eine Funktionsverlagerung, die gegenwärtig überall im Haftungsrecht zu beobachten ist. 55 Die Wünschbarkeit dieser Entwicklung im Zivilrecht braucht hier nicht diskutiert zu werden. Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß für das Strafrecht eine Gefährdungshaftung keinesfalls in Betracht kommt. Es besteht jedoch die Gefahr, daß sich eine vergleichbare Entwicklung unterderhand vollzieht, etwa im Wege einer Ausweitung der Gefährdungsdelikte durch Gesetzgeber oder Rechtsprechung oder die in § 117 des Entwurfs eines Allgemeinen Umweltgesetzbuches (oben Kap. B, Fn 58) geregelte Haftung für das Herstellen umweltgefährdender Stoffe, worin das Entwicklungsrisiko dem Hersteller aurerlegt wird. 52

Jauernig-Teichrnann, Anh. § 823 Anm. 6 d; a.A. Palandt-Thomas, § 823 Rz 220.

Das ProdHaftungsG hätte also weder den Hühnerpest- (BGHZ 51, 91) noch den Schwimmschalterfall (BGHZ 67, 359) erfaßt. 54 Taschner-Frietsch, Produkthaftungsgesetz, Einführung Rz 11 f. 53

55 G. Brüggemeier: Judizielle Schutzpolitik de lege lata - Zur Restrukturierung des BGB-Deliktsrechts. In: JZ 1986, S. 969 - 979.

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E. Die zivil rechtliche Produzentenhaftung - ein Überblick

durch eine Flexibilisierung anderer dogmatischer Institute. Diesem Problem möchte ich im folgenden am Beispiel der strafrechtlichen Produzentenhaftung nachspüren. Dazu soll zunächst die historische Genese der strafrechtlichen Produzentenhaftung skizziert werden.

F. Anmerkungen zur historischen Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung Der Terminus "strafrechtliche Produzentenhaftung" scheint jüngeren Datums zu sein. I Der Sache nach sind die heute mit diesem Ausdruck bezeichneten Probleme aber weit älter. Dabei sind im wesentlichen zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden: Der erste betrifft allgemein die Gefährlichkeit von Unternehmen und die sich daraus ergebende Wahrscheinlichkeit von Schäden bei Außenstehenden. Derartige Probleme wurden schon Ende des letzten Jahrhunderts im Rahmen von Topoi wie "erlaubtes Risiko" und "soziale Adäquanz" erörtert. Der zweite Aspekt betrifft die Gefahren, die von Produkten für die Allgemeinheit ausgehen. Interessant ist hier insbesondere die Geschichte des Lebensmittelstrnfrechts. Beide Aspekte sollen im folgenden kurz beleuchtet werden.

I. Die frühe Entwicklung in der Literatur Eine der ersten Äußerungen zum Problem der gefährlichen, aber gleichzeitig auch vorteilsstiftenden und deshalb praktisch unverzichtbaren Betriebe und Unternehmen stammt von Ludwig von Bar: 2 "Es gibt [ ... ] gewisse gefährliche, aber für das Leben notwendige Gewerbebetriebe, bei denen man statistisch wahrnehmen könnte, daß im Laufe einer Reihe von Jahren mit aller Wahrscheinlichkeit eine Anzahl Menschen, und zwar nicht nur solche, die freiwillig sich beim Betrieb beteiligen, das Leben verlieren. "3 Derartige Betriebe, so von Bar, ließen sich nicht einfach verbieten, denn das "Leben verlangt ein gewisses Risiko, und übertriebene Vorsichtsmaßregeln, die aller-

I In den gängigen Strafrechtslehrbüchern taucht der Begriff, soweit mir bekannt, zum ersten Mal auf in: Maurach/ Schroeder: Strafrecht. Besonderer Teil, Teilband 2 (6. Aufl., 1981), S. 57. Zur (ähnlichen) Situation in der Schweiz vgl. N. Schmid: Von der zivilrechtlichen zur strafrechtlichen Produktehaftung. In: Festschrift für Max Keller zum 65. Geburtstag. Hg. von P. Forstmoser u. a. Zürich 1989, S. 647 - 660. 2 L. von Bar: Die Lehre vorn Causalzusarnrnenhang, Leipzig 1871. 3 Causalzusarnrnenhang, S. 14.

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F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

dings in einzelnen Fällen einen Schaden verhüten könnten, würden [ ... ] die Möglichkeit jedes Gewerbebetriebes ausschließen. 4 Um dieser Konsequenz zu entgehen, möchte von Bar den Kausalzusammenhang zwischen dem Betrieb des gefährlichen Gewerbes und dem Schadenseintritt verneinen, wenn nur die erforderliche Sorgfalt beachtet wurde: "Sofern solche Einrichtungen, mit allen regelrechten Vorsichtsmaßregeln versehen, einem regelmäßigen Bedürfnisse unseres Lebens entsprechen, kann gar nicht davon die Rede sein, daß ihr Urheber auch die dadurch veranlaßten Unglücksfälle verursacht habe. "5 Dieser beim Kausalbegriff ansetzende Lösungsvorschlag erscheint heute, unter der Herrschaft der conditio-sine-qua-non-Formel, nicht mehr akzeptabel, wenngleich auch der Bundesgerichtshof in dem berühmten Radfahrerfall BGHSt 11, 1 - terminologisch ungenau - bei einem vergleichbaren Problem noch mit Kausalitätsüberlegungen operiert hat. Darauf braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Interessanter ist von Bars Hinweis auf die "regelrechten Vorsichtsmaßregeln", deren Erhaltung nach seiner Ansicht die Strafbarkeit des Betriebsinhabers ausschließen soll. Doch welche Vorsichtsmaßregeln sind "regelrecht"? Und wie sind sie zu bestimmen? Auf diese Fragen gibt von Bar keine hinreichende Antwort. Eine Generation später griff Karl Binding die Ausführungen von Bars auf, um das Fahrlässigkeitsdelikt von der "Handlung mit maßvollem Risiko" abzugrenzen. 6 Binding geht von der Beobachtung aus, daß bei fast allen menschlichen Handlungen " Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, vielleicht Gewißheiten unbeabsichtigter Rechtsgefährdungen oder Rechtsverletzungen" bestehen, ohne welche die Handlung nicht ausgeführt werden kann. 7 Für diese Gefahrenträchtigkeit schlägt Binding den terminus technicus "Risiko" vor. 8 Positivrechtlich sei der damit angedeutete Bereich noch kaum erfaßt, doch glaubt Binding bei näherem Zusehen" vereinzelte Spuren eines großen Rechtsgedan-

4 Causalzusammenhang, S. 13. Vgl. auch dens.: Gesetz und Schuld im Strafrecht. Fragen des geltenden deutschen Strafrechts und seiner Reform. Bd. 11: Die Schuld nach dem Strafgesetze, Berlin 1907, S. 212 - 214, 452. 5 Causalzusammenhang, S. 14. 6 K. Binding: Die Normen und ihre Übertretung. Eine Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die Arten des Delikts. Vierter Band: Die Fahrlässigkeit. Leipzig 1919, S. 432 - 448. 7 Fahrlässigkeit, S. 433 f. 8 Fahrlässigkeit, S. 435.

I. Die frühe Entwicklung in der Literatur

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kens" wahrzunehmen9, etwa in den Regeln des Sports, den Handwerksregeln "betreffend das Maß der Warnungszeichen bei ihren die Mitwelt gefährdenden Arbeiten" und im Arztrecht. 10 Insbesondere sei anerkannt, daß gefährliche Betriebe wie Bergwerke und Steinbrüche sowie die Herstellung von Sprengstoff trotz des ihnen immanenten Risikos zulässig seien. Dies sind freilich nur wenige, zu Bindings Zeiten allerdings durchaus aktuelle Beispiele riskanter und gleichwohl rechtlich geduldeter Tätigkeiten. Binding geht jedoch über bloße Kasuistik hinaus, indem er für die rechtliche Bewältigung riskanten Verhaltens folgende Grundregeln vorschlägt, die ihrer Bedeutung wegen im vollen Wortlaut wiedergegeben seien: "A. Je unentbehrlicher eine Handlung im Rechtssinne, desto größer das Risiko, das ohne rechtliche Mißbilligung bei ihr gelaufen werden darf. "11 Aus diesem Grundsatz ergeben sich nach Binding folgende Regeln: " 1. Der zur Handlung Pflichtige hat grundSätzlich das Risiko zu laufen, das seine Pflichterfüllung notwendig macht; 2. das bei Vornahme einer rechtlich erlaubten Handlung unvermeidlich zu laufende Risiko ist gleichfulls grundSätzlich als gerechtfertigt zu betrachten; 3. das statthafte Risiko steigert sich in diesem Falle, wenn der Handelnde an seiner Rechtsausübung gehindert werden soll; 4. die Gefährdung eines Rechtsgutes als einzigem Mittel zu seiner Erhaltung ist stets statthaftes Risiko. " 12 Heute, fast drei Generationen nach der Niederschrift dieser Sätze, haben die Regeln (1) bis (4) in der Strafrechtsdogmatik noch immer keine präzisere Fassung erhalten. Es ist sogar umstritten, ob das "erlaubte Risiko" überhaupt rechtliche Relevanz haben SOll.13 Die in der Literatur herrschende Meinung billigt dem erlaubten Risiko zwar rechtliche Bedeutung zu, betrachtet es jedoch nicht als eigenständige Rechtsfigur, sondern sieht darin nur "einen

9 10

11 12

Fahrlässigkeit. S. 436. Fahrlässigkeit, S. 439. Fahrlässigkeit. S. 436. Fahrlässigkeit. S. 441.

13 Ablehnend z. B. D. Kienapfel: Das erlaubte Risiko im Strafrecht - Zur Lehre vom sozialen Handlungsbegriff. Frankfurt a. M. 1966, S. 28 f; J. Rehberg: Zur Lehre vom .. Erlaubten Risiko". Zürich 1962, S. 239; H. Roeder: Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau. Berlin 1969. S. 40.

92

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

Sammelbegriff für strukturell unterschiedliche Fallgestaltungen" .14 Zu der genauen dogmatischen Verortung des erlaubten Risikos sind schon die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht worden, so etwa die Situierung im Bereich des Handlungsbegriffs 15, der Kausalitätl6 , der Fahrlässigkeit l7 , des Vorsatzes l8 , im Bereich der Rechtfertigungsgründe19 und der Schuldausschließungsgründe 20 • Überblickt man diese bunte Palette im Zusammenhang, 21 so ist unschwer zu erkennen, daß die Rechtsdogmatik selbst von einer auch nur grundsätzlichen Klärung der Problematik noch weit entfernt ist. Erst recht gilt dies für die inhaltliche Präzisierung des "erlaubten Risikos".22 Es sei nur angemerkt, daß die Frage nach der Verortung des erlaubten Risikos keine Frage von "wahr" oder "falsch" ist, sondern nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entschieden werden sollte. 23 Insofern erscheint mir die Einordnung als Rechtfertigungsgrund einleuchtend. Darauf kommt es hier aber letztlich nicht an. Es ist jedenfalls deutlich geworden, daß Bindings Strukturierungsvor-

14 Wesseis, AT, § 8 II 1; ebenso Baumann I Weber, AT, S. 321; Bockelmann I Volk, AT, S. 106; R. D. Herzberg: Vorsatz und erlaubtes Risiko - insbesondere bei der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB). In: JR 1986, S. 6 - 10 (6); P. Maiwald: Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" für die Strafrechtssystematik. In: Festschrift für H.-H. Jescheck zum 70. Geburtstag. Hg. von Theo Vogler. 1. Hlbd. Berlin 1985, S. 405 - 425 (405) m. w. N.

15 K. Engisch: Der finale Handlungsbegriff. In: Probleme der Strafrechtsemeuerung. Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstage dargebracht. Hg. von P. Bockelmann u. a .. Berlin 1944, S. 141 - 179 (161); Arth. Kaufmann: Die ontologische Struktur der Handlung. Skizze einer personalen Handlungslehre. In: Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag am 1. Mai 1965. Hg. von F. Geerds und W. Naucke. Berlin 1966, S. 79 - 117 (116). 16 17

v. Bar, Causalzusammenhang (Kap. F, Fn 2), S. 4 ff. Wesseis, AT, § 8 II 1.

18

Weizei, Lehrbuch, S. 66.

19

Baumann/Weber, AT, S. 321 f; Jescheck, AT, S. 360 ff.

20

Roeder, Sozialadäquates Risiko, S. 94.

Dazu ausführlich W. Preuß: Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht. Berlin 1976 (Strafrechtliche Abhandlungen NF, Bd. 19). 22 Ebenso Jescheck, AT, S. 360. Zum gleichen Ergebnis kommt M. Madrich in seiner Untersuchung der rechtlichen Erfassung des "allgemeinen Lebensrisikos" im Schadensersatzrecht, vgl. dens.: Das allgemeine Lebensrisiko. Ein Beitrag zur Lehre von der Haftungsbegrenzung im Schadensersatzrecht. Berlin 1980 (Schriften zum Bürgerlichen Recht, Bd. 59), S. 130 f. 21

23 Zu dieser Konzeption der Strafrechtsdogmatik vgl. Haft, AT, 1. Teil § 1; ausführlich L. Zimmerl: Aufbau des Strafrechtssystems, Tübingen 1930.

I. Die frühe Entwicklung in der Literatur

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schlag nach wie vor der am klarsten ausgearbeitete Versuch ist, die Haftung für riskante Betriebe rechtlich in den Griff zu bekommen. Für die strafrechtliche Produzentenhaftung ebenso interessant ist Bindings Grundsatz "B. Je entbehrlicher [ ... ] die Handlung im Rechtssinne ist, umso mehr verkleinert sich das bei ihr zu laufende statthafte Risiko. "24 Bei bewußt rechtswidrigen und ganz unnützen Handlungen soll die Schaffung von Risiken also vollends unzulässig sein. Bindings letzter Grundsatz schließlich lautet: "C. Alles Risiko rechtfertigt sich [ ... ] nur durch seine Erforderlichkeit zur Handlung. "25 Was ist von diesen Strukturierungsvorschlägen zu halten? Für den Rechtsanwender, aber auch für den dem Recht unterworfenen Bürger ist naturgemäß in erster Linie interessant, welches Maß an Risiko erlaubt sein soll. Grundsatz (C) begrenzt die Zulässigkeit der Risiken insoweit, als sie mit der in Frage stehenden Handlung untrennbar verbunden sind. Damit wird aber das Problem nur verschoben zu der Frage, welche risikobehafteten Handlungen von der Rechtsordnung geduldet werden müssen. Näheren Aufschluß dazu könnte man sich von Grundsatz (B) erhoffen, wonach das Maß des jeweils statthaften Risikos die Entbehrlichkeit der Handlung "im Rechtssinne" sein soll. Naheliegend erscheint es, die "Entbehrlichkeit" einer Handlung danach zu bemessen, wie sehr sie individuellen oder gesellschaftlichen Bedürfnissen wirtschaftlicher und sozialer Art entgegenkommt. Leider erläutert Binding seinen Vorschlag nicht weiter; er ist aber jedenfalls der Meinung, daß bei rechtswidrigen oder ganz unnützen Handlungen eine Rechtfertigung ausscheidet.26 Den Vorschlag Mirickas 27 , das Maß des zulässigen Risikos als abhängig von der Sozialmäßigkeit des Handlungszwecks, dem Wert des gefährdeten

24 2S 26

Fahrlässigkeit, S. 442. Ibid. Ibid.

A. Miricka: Die Fonnen der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung. Leipzig 1903, S. 153: "Je sozialer der Zweck der Handlung, je geringer der Wen des gefahrdeten Rechtsgutes und je geringer der Umfang der drohenden Verletzung, um so größer ist das Maß der zulässigen Verletzungsmöglichkeit. " Ähnlich auch F. Exner, Das Wesen der Fahrlässigkeit. Eine strafrechtliche Untersuchung. Leipzig/Wien 1910, S. 194 f; A. Löffler: Die Schuldfonnen des Strafrechts in vergleichend-historischer und dogmatischer Darstellung. Bd. 1: Die Entwicklung des geltenden Rechts. Abt. 1: Deutschland und Österreich. Leipzig 1895, S. 7 f mit Fn 3. 27

94

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

Rechtsgutes und dem Umfang der drohenden Verletzung anzusetzen, hält Binding für sehr problematisch: Bei "starker Unentbehrlichkeit" sind seiner Ansicht nach "der Wert des ev. (sie) zu opfernden Gutes und die Grösse seiner Verletzung gleichgültig." Binding kritisiert zudem die Ungenauigkeit der drei von Miricka genannten Topoi. 28 Darin ist ihm zuzustimmen. Dennoch geben sie immerhin einige Anhaltspunkte und können die im Einzelfall unvermeidliche Abwägung strukturieren helfen. Die Entbehrlichkeit einer Handlung nimmt damit mit dem Wert des gefährdeten Rechtsguts und mit dem Umfang der drohenden Verletzung zu, während sie mit dem aus der Tätigkeit entspringenden sozialen Nutzen abnimmt. In dieser Form scheint mir Bindings Strukturierungsvorschlag auch heute noch ein brauchbarer Weg zu sein, um in den Fällen der strafrechtlichen Produzentenhaftung das noch erlaubte von dem unerlaubten Risiko abzugrenzen. Für den Wert der Bindingsehen Vorschläge spricht, daß sie in der Folgezeit weitgehend unangefochten geblieben sind. Man wird sogar sagen dürfen, daß die späteren Ausführungen zum Problem erlaubter Gefährdungen durch riskante Betriebe nicht nur an Umfang, sondern auch an Klarheit und gedanklicher Schärfe weit hinter denen Bindings zurückgeblieben sind. 29 Es erscheint deshalb wenig zweckmäßig, die Weiterentwicklung jenes "großen Rechtsgedankens" in der Literatur zu verfolgen. Vielmehr soll hier der Hinweis genügen, daß der gefährliche Betrieb seither zu einem Standardbeispiel für das "erlaubte Risiko" geworden ist. 3o 11. Die Entwicklung in der Rechtsprechung In seinen "Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht" erwähnt Preuß31 als einen der ersten einschlägigen Fälle, daß ein Täter auf der Jagd den eigenen Vater mit einem Wildschwein verwechselte und ihn erschoß. 32 Das Neumärkische Kriminalkollegium verneinte hier in einem am 15.8.1796 bestätigten Gutachten das Vorliegen von Fahrlässigkeit, weil der Täter ein

28

Fahrlässigkeit, S. 442 Fn 35.

Eine der wenigen Ausnahmen bildet K. Engisch: Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht. Berlin 1930, S. 285 - 290 (allgemein zum erlaubten Risiko) m.w.N. 30 Vgl. Preuß: Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, S. 20 - 25. 31 Untersuchungen zum erlaubten Risiko, S. 31. 32 Wiedergegeben bei K. Klee: Die fahrlässige Tötung in der preußischen Praxis 1792 - 1812. Ein quellenmäßiger Beitrag zur Geschichte der Fahrlässigkeit. In: GA 62 (1916), S. 394 - 455 (445). 29

11. Die Entwicklung in der Rechtsprechung

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Tier auf frischer Spur verfolgte und das Opfer in umnittelbarer Nähe dieser Spur knieend vorfand. Preuß glaubt, in dieser Lösung schon eine Frühform der Argumentation aus dem erlaubten Risiko entdecken zu können: "Da die Möglichkeit eines tödlichen Unfalls durch eine Schußwaffe bei der Jagd gerade in dieser beinahe typischen Weise durchaus im Bereich der Wahrscheinlichkeit und damit auch innerhalb der erforderlichen Vorhersehbarkeit lag, ist die Verneinung dieses Merkmals als Fahrlässigkeit in Wirklichkeit nicht die Begründung des Freispruchs. Vielmehr wurde der Gedanke [ ... J, daß die Jagd eine Tätigkeit erhöhter Gefährlichkeit ist, und wegen ihres sozialen Nutzens (sei es zur Ernährung oder als Sport) die hinzunehmenden Gefahren größer sind, in die Vorhersehbarkeit wesensfremd und unausgesprochen hineingepreßt [... ]. "33 Es mag dahinstehen, ob Preuß den vom Neumärkischen Kriminalkollegium entschiedenen Fall damit nicht überinterpretiert. Was immer auch die Überlegungen im einzelnen gewesen sein mögen, die das Kollegium zu dem Freispruch veranlaßt haben, so steht doch fest, daß die Argumentation mit dem erlaubten Risiko jedenfalls nicht explizit geworden ist. Dies war, und darin ist Preuß zuzustimmen, auch so lange gar nicht nötig, "als die straflosen gefährlichen Handlungen noch nicht mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Erfolg führten und derartige Fälle nicht zahlreicher wurden. "34 Erst durch die Industrialisierur:g, die unter anderem mit dem Bau von Fabriken, der Verwendung neuer, leistungsfähigerer Maschinen und dem zunehmenden Straßenverkehr einherging, änderte sich diese Situation: "Man konnte statistisch feststellen, daß etwa beim Bau eines Tunnels eine bestimmte Anzahl von Arbeitern ums Leben kam. Der alleinige Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit wurde immer fragwürdiger." Damit wurde die industrielle Revolution zum "entscheidende[n] Anstoß" für die Herausbildung des erlaubten Risikos. 35

33 34

Untersuchungen zum erlaubten Risiko, S. 32. Ibid.

3S Untersuchungen zum erlaubten Risiko, S. 32. Zu beachten ist, daß Preuß hier nur von einer bestimmten Fallgruppe des erlaubten Risikos, nämlich den Fällen erlaubten Risikos "wegen des mit der Handlung verbundenen überwiegenden sozialen Nutzens" spricht. Preuß unterscheidet davon die Fälle erlaubten Risikos bei unvorhersehbarer Kausalität, das erlaubte Risiko "bei riskanten Rettungshandlungen, deren größere Rettungschance gegenüber anderen Maßnahmen nicht sicher erkennbar ist" und solche Fälle, in denen das erlaubte Risiko auf Einwilligung in Gefahr und Handlung beruht. Vgl. dazu Untersuchungen zum erlaubten Risiko, S. 20 - 25.

96

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

Der neue Topos fand allerdings nicht von heute auf morgen Eingang in die Rechtsprechung. Das Oberappellationsgericht München hatte sich 1861 mit einem Brand zu befassen, der durch von einer Lokomotive ausgehenden Funkenflug verursacht worden war. 36 Das Gericht versuchte, die Interessenabwägung zwischen dem Betrieb der Eisenbahn und den von dem Brand Betroffenen wie folgt vorzunehmen: Grundsätzlich sei der Staat verpflichtet, "keine Konzession für ein den Einwohnern gefährliches Gewerbe zu erteilen". Deshalb könne "die Konzession zum Betrieb einer Eisenbahn, wodurch erfahrungsgemäß täglich und stündlich das Eigentum der Einwohner mit Feuersgefahr bedroht wird, welche aber dessenungeachtet aus höheren staatsökonomischen Rücksichten und im Hinblick auf den Weltverkehr unumgänglich geboten erscheint, nur unter der Voraussetzung der Schadloshaltung der Einwohner geschehen. "37 Der "Betrieb einer Eisenbahn durch Lokomotiven [führe] notwendig und unzertrennlich eine culpöse Handlungsweise mit sich ... 38 Überlegungen zum "erlaubten Risiko" fehlen hier ganz, obwohl das Gericht durchaus anerkannte, daß "höhere staatsökonomische Rücksichten" für den Betrieb der Eisenbahn sprechen. Der Widerstreit der Interessen wurde nicht dadurch gelöst, daß an die Eisenbahnen mindere Sorgfaltsanfurderungen gestellt wurden; allerdings auch nicht dadurch, daß das Gericht den Betrieb der Eisenbahnen schlichtweg für unzulässig hielt. Der Interessenausgleich wurde vielmehr über eine analoge Anwendung des alten Prinzips "Dulde und liquidiere"39 gesucht: Der einzelne Bürger hat die von den Eisenbahnen unvermeidbarerweise ausgehenden schädigenden Einwirkungen zu dulden, doch kann er Schadensersatz verlangen, ohne daß es auf ein Verschulden beim Betrieb der Eisenbahn ankäme. Noch deutlicher hieß es in einer Entscheidung aus dem Jahr 1886: "Es besteht kein Gesetz, nach welchem die Normen des gemeinen Rechts über die Verpflichtung zum Schadensersatz aufgehoben wären für den Fall, wenn der Schaden verursacht wurde bei Ausführung oder dem Betrieb einer dem gemeinen Wesen nutzbringenden Unternehmung. "40 Immerhin zeigt dieser

Seufferts Archiv Bd. 14, S. 354 ff. A.a.D., S. 356. 38 A.a.O., S. 359. 39 Dazu ausführlich F. Ossenbühl: Staatshaftungsrecht. 4. Aufl., München 1991, S. 102 ff mit umfangreichen Nachweisen. 40 So das Oberste Landgericht für Bayern. In: Seufferts Archiv Bd. 41 (N.F. Bd. 11) (1886), S. 403 - 407 (407). Es ging dabei um ein Pferd, das mit einern Huf in den Schie36

37

11. Die Entwicklung in der Rechtsprechung

97

Satz, daß der Gedanke eines erlaubten Risikos für nutzbringende, aber gefährliche Betriebe schon "in der Luft" lag. Zu Recht kritisierte bereits Rudolf Merkei, daß in beiden zuletzt genannten Entscheidungen die "eigentliche Frage" otfenbleibe: "Wie weit dürfen wir Handlungen vornehmen, die in voraussehbarer Weise andere schädigen?"41 Eine der frühesten reichsgerichtlichen Entscheidungen, die in den vorliegenden Zusammenhang hineinspielen, wurde im Jahr 1887 erlassen. 42 In einer Zementfabrik hatten sich mehrere Unglücksfälle ereignet, wobei drei Arbeiter verletzt worden waren. Grund dafür war, daß der Angeklagte es versäumt hatte, bestimmte Arbeitsanlagen ordnungsgemäß abzusichern, obwohl ihm die Gefährlichkeit des Zustandes bekannt war. Das Reichsgericht bejahte hier ohne weiteres das Vorliegen von Fahrlässigkeit und untersuchte lediglich, ob die nacheinander erfolgte Verletzung der drei Arbeiter als ein- oder mehrfache Verwirklichung eines Fahrlässigkeitsdelikts zu betrachten sei. Das besondere, von der Zementfabrik ausgehende Risiko wurde nicht problematisiert. In anderen Entscheidungen stellte das Reichsgericht zwar fest, daß in riskanten Betrieben beschäftigte Arbeiter oder Handwerker zu besonderer Sorgfalt verpflichtet sein können43 , doch allgemeinere Erörterungen zur Gefährlichkeit von Betrieben oder gar zum erlaubten Risiko fehlen. Im vorliegenden Zusammenhang interessanter ist das berühmte "Leinenfänger-Urteil" aus dem Jahr 1897. 44 Dort hatte ein Kutscher seine Droschke mit einem sogenannten "Leinenfänger" bespannt, also mit einem Pferd, das die Gewohnheit hatte, gelegentlich mit dem Schweif die Fahrleine einzufangen und diese herunterzudrücken. Diese Angewohnheit war dem Kutscher auch bekannt. Nachdem das Pferd eines Tages wieder die Leine "eingefangen" hatte und der Kutscher sie unter dem Schweif hervorziehen wollte, wurde das Pferd so wild, daß der Kutscher die Herrschaft über das Gespann verlor. Dabei wurde ein Fußgänger verletzt. Der Fall wurde zu einer viel-

nen einer Trambahn steckengeblieben und verendet war. 41 R. Merkei: Die Kollision rechtmäßiger Interessen und die Schadensersatzpflichten bei rechtmäßigen Handlungen. Im Hinblick auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich in zweiter Lesung. Straßburg 1895, S. 116 (vgl. auch ibid., S. 114 - 120 mit weiteren Nachweisen zu einschlägigen Fällen). 42 RGSt 16, 290 - 294. Vgl. z.B. RG Rspr. 1,341; 2, 594; 6,14; 8, 21; 9, 460. RGSt 30, 25 - 28. Es handelt sich dabei um einen Schulfall, vgl. etwa Maurach/GösseI/Zipf, AT, Teilband 2, § 44 Rz 50; Roxin, AT 1, 24/115ffund R. Maurach: Kritik der Notstandslehre. Berlin 1935, S. 141 m. w. N. zur älteren Literatur. 43

44

7 HilaeDdorf

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

98

zitierten Leitentscheidung nicht nur für das "erlaubte Risiko", sondern auch für die Problematik des "übergesetzlichen Notstandes", so daß Kitzinger schon 1933 feststellen konnte: "Jener unsympathische Gaul hätte es verdient, ausgestopft in einem rechtsgeschichtlichen Museum für die Nachwelt konserviert zu werden. "45 Das Reichsgericht hat den Kutscher gleichwohl nicht wegen einer fahrlässigen Körperverletzung verurteilt. Zwar habe der Angeklagte gewußt, daß er seine Droschke mit einem Leinenfanger bespannt habe, so daß die Vorhersehbarkeit des Unfalls zu bejahen sei. Dies reiche jedoch nicht aus, um den Vorwurf fahrlässigen Verhaltens zu begründen: "Wollte man den Satz aufstellen, es müsse zur Vermeidung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit jede Handlung unterlassen werden, bezüglich derer die Möglichkeit gegeben und vorhersehbar ist, daß sie für einen rechtswidrigen Erfolg kausal werden kann, so würde dies zu Konsequenzen führen, deren Unvereinbarkeit mit den bestehenden Lebensverhältnissen und den Bedürfnissen des Verkehrs offensichtlich ist. "46 Das Reichsgericht verortet somit das Problem im Fahrlässigkeitsbereich, also bei der anzuwendenden Sorgfalt und begrenzt sie durch jenes Gefahrdungsverhalten, das in der Gesellschaft allgemein akzeptiert wird, vor allem wenn die "Bedürfnisse des Verkehrs" es erfordern. Die Nähe zu den von Binding herausgearbeiteten Grundprinzipien des erlaubten Risikos ist unverkennbar. 47 Ein weiterer in unserem Zusammenhang wichtiger Fall wurde im Jahr 1900 entschieden. 48 Bei aufwendigen Kanalarbeiten war ein Arbeiter durch eine einstürzende Wand verschüttet und erheblich verletzt worden. Es stellte sich heraus, daß eine Absicherung außerordentlich kostspielig gewesen wäre. Trotzdem wurde der Arbeitgeber von der Vorinstanz wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Das Reichsgericht hielt hingegen die Bejahung von Fahrlässigkeit für fehlerhaft: Bereits § 120 a Abs. 1 (a.F.) der Gewerbeordnung mache Sicherungsmaßnahmen von der "Natur des Betriebs" abhängig. "Diese für die

45 1. Kitzinger: Übergesetzlicher Notstand und kein Ende. In: JW 1933, S. 405 - 408 (405).

RGSt 30, 25 (27); vgl. auch RGSt 57, 172 (Memelfall). So auch Kitzinger, JW 33, S. 407; Maurach, Kritik, S. 143; vgl. aber auch H. Henkel: Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip. In: Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag. Hg. von .C. Engisch und R. Maurach. München, Berlin 1954, S. 249 - 309 (287). 48 RGSt 33, 346 (Kanal fall) . 46 47

11. Die Entwicklung in der Rechtsprechung

99

strafrechtlichen Folgen eines die notwendigen Schutzvorrichtungen nicht beachtenden Unternehmens zwar nicht entscheidenden, aber jedenfalls doch zu berücksichtigenden Anordnungen verlangen daher keineswegs völlige Einstellung des Betriebsunternehmens, wenn Schutzmaßnahmen ganz besonderer Art nicht möglich sind, sondern nur solche Maßnahmen, die der Betrieb nach seiner Eigenart gestattet. "49 Das Gericht weist darauf hin, "daß gewisse wirtschaftliche oder technische Aufgaben, wie beispielsweise die Herstellung einer Kirchturmspitze oder die Anbringung von Blitzableitern, häufig überhaupt nicht gelöst werden könnten, wenn dieselben abhängig gemacht würden von Maßregeln, die Leben oder Gesundheit der dabei beschäftigten Arbeiter unbedingt und unter allen Umständen sicherstellten. "50 Dieser Grundsatz gelte allgemein. Deshalb müsse im vorliegenden Fall Fahrlässigkeit verneint werden. Letztlich wiederholt das Reichsgericht hier also noch einmal den Grundgedanken des erlaubten Risikos, ohne diesen Topos allerdings ausdrücklich zu erwähnen. Gefährdet waren hier zwar nur die Arbeiter des riskanten Betriebs und nicht Außenstehende. Im Hinblick auf den Grundgedanken des erlaubten Risikos macht dies jedoch keinen Unterschied. Ebenfalls in unseren Zusammenhang gehört der "Memelfull"51. Dort hatte der Angeklagte trotz stürmischen Wetters zwei Personen mit einem Kahn über die Memel zu transportieren versucht; die beiden hatten ihn dazu gedrängt, obwohl der Angeklagte sie nachdrücklich auf die Gefuhren hingewiesen hatte. Der Kahn war dabei gekentert und die Passagiere ertrunken. Zu dem Vorwurf fahrlässiger Tötung führt das Reichsgericht aus, allein darauf, daß die Überfuhrt über die Memel bei stürmischem Wetter lebensgefährlich war und der Angeklagte dies auch erkannte, könne kein Vorwurf fuhrlässigen Handeins gestützt werden: "Nicht jede Vornahme einer gefährlichen Handlung enthält [ ... ] schon als solche, nur um dieser ihr innewohnenden Gefährlichkeit willen, eine Pflichtwidrigkeit" .52 Viele sozial nutzbringende Beschäftigungen wie etwa die Arbeit eines Arztes oder wissenschaftlich-technische Tätigkeiten verursachten häufig erhebliche Gefahren sowohl für den Handelnden selbst als auch für Dritte, ohne jedoch als fahrlässig betrachtet werden zu können. 53 Hier hatten die beiden Fahrgäste zudem in das Risiko

49

RGSt 33, 347.

50 Ibid. 51 RGSt 57, 172. 52

RGSt 57, 173.

53

Ibid.

100

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

eingewilligt. Ein Verschulden würde den Angeklagten deshalb nur dann treffen, "wenn er bei der Ausführung des Unternehmens die ihm als dem Leiter der Fahrt und Lenker des Kahns obliegende Aufmerksamkeit und Sorgfalt vernachlässigt hätte. "54 Da dies nicht der Fall war, hat das Reichsgericht ein Verschulden des Angeklagten verneint. Es ist offensichtlich, daß auch der "Memelfull" nicht direkt dem Bereich der strafrechtlichen Produzentenhaftung zuzurechnen ist.55 Der Freispruch des Fährmanns wird damit begründet, daß ihn die Passagiere durch Einwilligung in das Risiko von der Einhaltung der ansonsten gebotenen Sorgfalt entbunden hätten. In typischen Produkthaftungsfällen hingegen spielen Einwilligungsfragen keine Rolle. Allerdings beruft sich das Gericht immerhin auf den Grundgedanken des erlaubten Risikos, wenn es bei sozial nützlichen Tätigkeiten den Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens nicht allein auf die Gefahrschaffung gründen zu können glaubt. Bemerkenswert ist, daß das Reichsgericht insbesondere auf die Ausführung des gefahrbringenden Unternehmens abstellt und sie in die Fahrlässigkeitsprüfung einbezieht. Dieser Gedanke kann unmittelbar für die Fälle der strafrechtlichen Produzentenhaftung fruchtbar gemacht werden. Dies zeigt sich deutlich am sogenannten "Ziegenhaarfull", den das Reichsgericht im Jahr 1929 zu entscheiden hatte. 56 Ein Fabrikant hatte für seine Pinselfubrik chinesische Ziegenhaare bezogen und diese ohne ordentliche Desinrektion an seine Arbeiter verteilen lassen. Vier Arbeiterinnen starben daraufhin an Milzbrand, mit dem die Ziegenhaare infiziert gewesen waren. Die Vorinstanz sprach den Angeklagten frei, weil nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen war, ob im Falle einer Desinfektion die verwendeten Ziegenhaare ungefährlich gewesen wären. Das Reichsgericht hielt diese Anforderungen für zu streng; es wollte die Zurechenbar-

54

RGSt 57, 174.

Wichtiger ist das Urteil im Hinblick auf die Herausbildung des Selbstverantwortungsgrundsatzes, vgl. dazu aus der neuen Rechtsprechung vor allem BGHSt 32, 262 (Heroinspritzen-Fall) und BayObLG NStZ 90, 81 (eigenverantwortlicher ungeschützter Sexualverkehr mit einern AIDS-Infizierten). Überblick über weitere Entscheidungen bei Wesseis, AT, § 6 11 4. Skeptisch gegenüber dieser Rspr. U. Weber: Objektive Grenzen der strafbefreienden Einwilligung in Lebens- und Gesundheitsgefahrdungen. In: G. Arzt u. a. (Hg.): Festschrift für ]ürgen Baumann zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1992, S. 43 - 55 (zum Memelfall a.a.O., S. 49 t), und ausführlich S. Walther: Eigenverantwortlichkeit und strafrech.tliche Zurechnung. Zur Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Täter und "Opfer" bei riskantem Zusammenwirken. Freiburg i. Br. 1991. 56 RGSt 63, 211. Auch hier handelt es sich um einen Schulfall, vgl. Roxin, AT 1, 11/ 64, 11/80. 55

III. Exkurs: Zur Geschichte des Lebensmittelstrafrechts

101

keit57 nur verneinen, wenn die Gewißheit oder zumindest eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür gegeben sei, daß der Tod der Arbeiterinnen auch dann eingetreten wäre, wenn man die Desinfektion durchgeführt hätte. Deshalb wurde der Fall zu weiterer Tatsachenaufklärung an die Vorinstanz zuTÜckverwiesen. Im "Ziegenhaarfall" ging die schädigende Wirkung zwar von einem Produkt aus, doch fehlen in der reichsgerichtlichen Entscheidung typische Topoi aus der strafrechtlichen Produzentenhaftung wie erlaubtes Risiko und Fahrlässigkeit. 58 Die Ansicht, der "Ziegenhaarfall" sei das erste wichtige Beispiel einer strafrechtlichen Produzentenhaftung, 59 ist also nicht ganz ohne Einschränkungen zu betrachten. Bedeutung hat die Ziegenhaarentscheidung eher für die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen als für die Dogmatik der strafrechtlichen Produzentenhaftung.

III. Exkurs: Zur Geschichte des Lebensmittelstrafrechts Nicht unmittelbar zur Geschichte der strafrechtlichen Produzentenhaftung zu rechnen, aber doch mit ihr verwandt, ist die Geschichte jener Vorschriften, die die Gefahrlosigkeit von Produkten sicherstellen sollen. Interessant ist hier vor allem die Geschichte des Lebensmittelstrnfrechts. 60 Erste lebensmittelstrafrechtliche Bestimmungen finden sich schon in den Stadtrechten des Mittelalters. 61 So heißt es etwa im Soester Stadtrecht von 1120: "Wer fauS1

Das RG sprach noch von" Ursachenzusammenhang" .

In der heutigen Dogmatik wird der Ziegenhaarfall unter einem ganz anderen Gesichtspunkt diskutiert, nämlich unter dem Aspekt einer Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Vgl. dazu vor allem K. Engisch: Tun und Unterlassen. In: Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973. Hg. von K. Lackner u.a., Berlin/New York 1973, S. 163 - 196 (für Begehungsdelikt) sowie aus der Lehrbuchliteratur für Unterlassung: Mezger, Lehrbuch, S. 116 Fn 21; für Tun: Baumannl Weber, AT, S. 237; Blei, AT, S. 311; Maurach/GössellZipf, AT, Tbd. 2, § 45 Rz 30; Schmidhäuser, AT, S. 700. S8

SO etwa Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Bd. 1, S. 47 Fn 4. Auch die historische Entwicklung der Warenfalschung gehört in diesen Zusammenhang, wenn man die Warenfalschung mit F. Geerds, Warenfalschung - Sammelbezeichnung oder einheitliche Wirtschafts straftat? Ein Beitrag zur Problematik des Wirtschaftsstrafrechts. In: ZStW 74 (1962), S. 245 - 294 (255) definiert als "alle Formen kriminellen Verhaltens, durch die Handelswaren von zur Täuschung des Publikums geeigneter Beschaffenheit in Verkehr gebracht oder zu diesem Zweck hergestellt werden". Zur Geschichte der Warenfälschung ausführlich K. Eiben: Die Lehre von der Warenfalschung, hauptsächlich in geschichtlicher Hinsicht. Diss. jur. Tübingen 1881. Zahlreiche historische Hinweise finden sich auch bei K. Landry: Inverkehrbringen und Herstellen gesundheitsschädlicher Gegenstände (§§ 324, 326 StGB, 3 und 11 LMG). Diss. jur. Kiel 1966, S. 40 - 63. 61 Dazu R. His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Zweiter Teil. Die einzelnen S9

60

102

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

len [d.h. verfälschten, E.H.] Wein mit gutem Weine mischt, der hat, wenn er überführt wird, sein Leben verwirkt" .62 Auch Hygienebestimmungen finden sich, so etwa ab 1250 in Dortmund, wo es den Käufern verboten war, Fleisch bei der Besichtigung anzufassen. 63 In vielen Orten zwang man die Hersteller gesundheitsschädlicher Lebensmittel, ihre eigenen Erzeugnisse zu essen, bis sie daran starben. Trotz dieser drakonischen Strafen waren jedoch im ausgehenden Mittelalter Mißstände allgemein verbreitet. In Sebastian Brandts Narrenschiff (1494) heißt es: "Man läßt den Wein nicht rein mehr bleiben. Viel Fälschung tut man mit ihm treiben: Salpeter, Schwefel, Totenbein, Pottasche, Senf, Milch, Kraut unrein, Stoßt man durchs Spundloch in das Faß Die schwangeren Frauen trinken das ... "64 Kein Wunder, daß das Lebensmittelstrnfrecht auch in der Carolina von 1532 seinen Platz fand. In Artikel 113 wurde dort die Warenfälschung unter strenge Strafe gestellt. Einen weiteren, systematischen Ausbau des Lebensmittelstrafrechts hat es jedoch im Alten Reich nicht gegeben. 65 Auch in den Partikularstrafgesetzbüchern kam ihm keine besondere Bedeutung zu. 66 Im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 spielte das Lebensmittelstrnfrecht bis auf § 367 Ziff. 767 keine Rolle. Infolge sich ausbreitender Mißstände wurde jedoch bereits 1879 das Nahrungs- und Genußmittelgesetz erlassen68 und später durch Spezialgesetze ergänzt. 69 1927 wurde ein neues Lebensmittel-

Verbrechen. Weimar 1935, S. 308 ff. 62 Zitiert nach E. Holthöfer / A. Juckenack/ K. H. Nüse: Deutsches Lebensmittelrecht. Lebensmittelgesetz mit Erläuterungen und dem für den Lebensmittelverkehr wichtigen Rechtsstoff. Bd. 1,4. Aufl., Berlin u.a. 1961, S. 2. 63 A.a.O., S. 3. 64 Hier zitiert nach der Übertragung von H. A. Junghans. Durchgelesen und mit Anmerkungen sowie einem Nachwort neu herausgegeben von H. J. Möhl, Stuttgart 1972, S. 381. 6S Holthöfer/Juckenack/Nüse, S. 6.

66 Dazu ausführlich C. R. Köstlin: Über die gemeingefährliche Waarenfälschung (sie) mit besonderer Berücksichtigung der Begriffe von dolus eventualiter und luxuria. In: Archiv des Criminalrechts. Neue Folge, 1856, S. 181 - 213, 269 - 325. 67 Sie lautete: "Mit Geldstrafe bis zu 150 M oder mit Haft wird bestraft, wer verfälschte oder verdorbene Getränke oder Eßwaren, insbesondere trichinenhaltiges Fleisch, feilhält oder verkauft ... 68 (f)

Dazu näher G. Boldt: Recht des Lebensmittelgewerbes. Münster 1963, S. 4 f. Boldt, a.a.O., S. 6 ff.

III. Exkurs: Zur Geschichte des Lebensmittelstrafrechts

103

gesetz in Kraft gesetzt, welches 1974 durch das noch heute geltende Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz ersetzt wurde. Die genannten lebensmittelrechtlichen Paragraphenwerke - sowohl das von 1879 als auch die aus den Jahren 1927 und 1974 - enthalten ausführliche strafrechtliche Regelungen. 70 Überblickt man die skizzierte Entwicklung im Zusammenhang, so läßt sich feststellen, daß nur das "Verfalschen" und Inverkehrbringen gefahrlicher Lebensmittel pönalisiert wird. Eine Haftung für Schäden aus dem Verzehr gesundheitsschädlicher Lebensmittel, also eine strafrechtliche Produkthaftung im eigentlichen Sinn, findet sich nicht. Auch hier bestätigt sich also der Befund, daß die strafrechtliche Produzentenhaftung über die allgemeinen Strafrechtsnormen und nicht über ein Sonderstrafrecht zu behandeln ist. Soweit der Exkurs zur Geschichte des Lebensmittelstrnfrechts als Vorläufer des Rechts der strafrechtlichen Produzentenhaftung. Das bisher Erarbeitete läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Probleme, die Ulrich Beck unter den Begriff "Risikogesellschaft" zusammenzufassen versuchte, beginnen in zunehmendem Maße auch die Rechtsprechung und Rechtslehre zu beschäftigen. Im Zivilrecht zeigt sich dies unter anderem an der beträchtlichen Ausweitung der Gefahrdungshaftung, wie sie etwa im neuen Produkthaftungsgesetz für die zivilistische Produzentenhaftung festgesetzt wurde. Für das Strafrecht haben prominente Autoren einen Trend weg von den liberal-rechtsstaatlichen Traditionen und hin zu einem "Risikostrafrecht" konstatiert. Nach Ansicht Winfried Hassemers, der sich mit den damit angeschnittenen Problemen besonders intensiv beschäftigt hat, ist das "Risikostrafrecht" nicht zuletzt durch eine "Flexibilisierung" überkommener dogmatischer Institute wie den Regeln über Vorsatz und Fahrlässigkeit, der Beteiligungslehre oder den Lehren von der Zurechnung gekennzeichnet.

70 Zusammenfassender Überblick bei K. Freimüller: Strafbare Handlungen beim Inverkehrbringen von Nahrungsmitteln. Diss. jur. Erlangen 1932. Zur heutigen Regelung vgl. die ausführliche Kommentierung des LMBG in Erbs I Kohlhaas: Strafrechtliche Nebengesetze. Kommentierung, Bd. 2.

104

F. Die historische Entwicklung der strafrechtlichen Produzentenhaftung

Im folgenden möchte ich die Rechtsprechung zur strafrechtlichen Produzentenhaftung - insbesondere die drei Leitfalle Contergan7l , Monza-Steel72 und Lederspray73 - daraufhin untersuchen, ob sich auch bei ihnen eine dogmatische Flexibilisierung zeigt, die auf die Herausbildung eines "Risikostrafrechts" hindeuten könnte.

71 Für eine nahezu erschöpfende Darstellung dieses Falles vgl. Ch. Beyer: Grenzen der Arzneimittelhaftung, dargestellt am Beispiel des Contergan-Falles. München 1989 (Rechtswissenschaftliche Forschung und Entwicklung, Bd. 183). Der Prozeßverlauf ist im einzelnen dokumentien bei D. und K.-H. Wenzel: Der Contergan-Prozeß. Verursachte Thalidomid Nervenschäden und Mißbildungen? 6 Bände. Bensheim-Auerbach 1968.

n Schmidt-Salzer, ES Strafrecht 1982, Nr. IV.28. 73 BGH NJW 1990, S. 2560 - 2569.

G. Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen sowie die Feststellung der im konkreten Fall gegebenen Handlungspflicht I. Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen

Bei jedem Verdacht einer Straftat ist zunächst zu prüfen, ob eine strafbare Handlung in Form eines aktiven Tuns oder eines Unterlassens vorliegt. Eine Rechtsverletzung durch ein Thn besteht in der Zuwiderhandlung gegen eine Verbotsnorm durch Vornahme der verbotenen Handlung. Eine Rechtsverletzung durch Unterlassen liegt hingegen dann vor, wenn eine Gebotsnorm mißachtet wird. I Jede strafrechtliche Analyse eines Sachverhalts steht deshalb vor dem Problem, ob als Anknüpfungspunkt der Bewertung eine menschliche Aktivität oder ein menschliches Unterlassen zu wählen ist. N ach welchen Kriterien die Entscheidung zwischen einem Tun und einem Unterlassen vorzunehmen ist, ist freilich lebhaft umstritten. Bei Zugrundelegung des "gesunden Menschenverstandes" scheint zwar in vielen Fällen eine Unterscheidung nach dem äußeren Erscheinungsbild der fraglichen Fälle möglich zu sein. 2 Bei näherer Analyse entpuppt sich diese alltägliche Sichtweise jedoch als durchaus problematisch, denn grundsätzlich gesehen kann jede Rechtsverletzung durch eine Tätigkeit auch als Rechtsbruch durch Nichtvornahme eines bestimmten Unterlassens 3 betrachtet werden. Die damit angelegten Abgrenzungsprobleme werden vor allem bei zwei Fallgruppen diskutiert. Die erste bilden die sog. "Rettungsfalle" , in denen eine Person eigene, bereits eingeleitete Rettungsversuche wieder abbricht oder fremde Rettungsbemühungen vereitelt. 4 Das zweite und im vorliegenden Zusammenhang wichtigere Problemfeld stellen die Fahrlässigkeitsdelikte dar, wo jede

Vgl. BGHSt 14, 280 (281) und Jescheck, AT, S. 543 f m. w. N. Darauf stellt denn auch die Mehrzahl der Autoren ab, vgl. etwa Jescheck, AT, S. 545; Wesseis AT, § 16 14. 3 Wobei ich hier von der definitorischen Festlegung ausgehe, daß auch das Unterlassen unter den Oberbegriff "willensgetragenes Verhalten" fallt. 4 Dazu näher Wesseis, AT, § 16 I 1. I

2

106

G. Abgrenzung von Thn u. Unterlassen; Feststellung der Handlungspflicht

Sorgfaltspflichtverletzung als ein Handeln unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt angesehen werden kann. 5 Bei der Fahrlässigkeit liegen Tun und Unterlassen also stets nebeneinander vor. Nach ganz herrschender Meinung ist hier grundsätzlich von einer Tätigkeit auszugehen. 6 Eine der klassischen Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, ist der "Ziegenhaarfall" RGSt 63, 211 ff, der bereits oben angesprochen wurde. 7 Im Contergan-FallS betrafen die Ausführungen des LG Aachen im Einstellungsbeschluß fast ausschließlich die Anklagen wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB) und fahrlässiger Tötung (§ 220 StGB). Das Gericht hatte deshalb bei Zugrundelegung der soeben erwähnten h. M. keinen Anlaß, ausführlich auf die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen einzugehen. 9 Im Monza-Steel-VerfahrenlO waren von der Beklagten unzureichend getestete Hochgeschwindigkeitsreifen auf den Markt gebracht worden. An den Reifen traten zahlreiche Defekte auf, die teilweise auch zu Verkehrsunfallen führten. Das LG München 11 was hier der Ansicht, der Angeklagten ein vorwerfbares Thn zur Last legen zu können, nämlich die Freigabe der Reifen. 11 Die Unterscheidung von Thn und Unterlassen wird in der Begründung des LG München 11 nicht ausführlich thematisiert.

Jescheck, AT, S. 545. RGSt 63, 211 (Ziegenhaar-Pall); 63, 392 (Radleuchter-Pall); weitere Nachweise bei WesseIs, AT, § 16 I 2. 7 Vgl. oben S. 100 f und die Nachweise bei Jescheck, AT, S. 546 Fn 28. B LG Aachen, JZ 1971, S. 507 - 521. 9 Speziell zur Unterlassungsproblematik im Contergan-Fall H.-J. Bruns: Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses. In: Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972. Hg. von H. Lüttger in Verbindung mit H. Blei und P. Hanau. Berlin 1972, S. 317 - 340 (334 ft). 10 Schmidt-Salzer, ES Strafrecht 1982, Nr. IV.28. 11 Vgl. Schmidt-Salzer, ES Strafrecht 1982, Nr. IV.28 (S. 307) und E. GolI: Strafrechtliche Produktverantwortung. In: Produkthaftungshandbuch. Hg. von F. Graf zu Westphalen. Bd. 1: Vertragliche und deliktische Haftung, Strafrecht und Produkt-Haftpflichtversicherung. München 1989, § 44 Rz 5. 5

6

I. Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen

107

Im Lederspray-Verfahren12 hingegen hat der Bundesgerichtshof in Übereinstimmung mit der Vorinstanz, dem LG Mainzl3 , sorgfältig differenziert: Eine Tatbestandserfüllung durch positives Tun hielt der BGH in jenen Fällen für möglich, in denen die Schäden durch Verwendung von Sprays eintraten, die erst nach der Sondersitzung der Geschäftsführer vom 12.5. 1981 produziert oder vertrieben worden waren. 14 Auf der Sondersitzung waren die bis dahin bekanntgewordenen Schadensfälle diskutiert und der Chefchemiker Dr. B gehört worden, so daß spätestens ab diesem Zeitpunkt die Gefährlichkeit der Sprays als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Die relevante Tätigkeit der Geschäftsführer lag in der weiteren Produktion und im Vertrieb der als gefährlich erkannten Produkte. Etwas anderes gilt nach Ansicht des Bundesgerichtshofes hingegen für Schadensfälle, "in denen das jeweils schadensursächliche Lederspray zu dem für den Schuldvorwurf maßgeblichen Zeitpunkt [dem 12.5.1981, E.H.] zwar schon in den Handel gelangt war, den Verbraucher aber noch nicht erreicht hatte." 15 Hier wäre es nach Ansicht des BGH erforderlich gewesen, die Betroffenen durch ein aktives Tun vor Schaden zu bewahren. Dies haben die Angeklagten unterlassen. Diese Lösung stimmt mit den Abgrenzungsvorschlägen der Rechtsprechung und Lehre überein. 16 Sie wird insbesondere auch dem "Kausalitätskriterium" gerecht, nach welchem vorrangig die Möglichkeit eines Begehungs-

12 Ihm lag im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Angeklagt waren die Geschäftsführer einer Produktionsgesellschaft und zweier Vertriebsgesellschaften, die ein Lederspray produzierten und vertrieben. Seit Herbst 1980 gingen bei der Firmenleitung Meldungen über Gesundheitsschäden - von bloßen Atembeschwerden bis hin zu lebensbedrohlichen Lungenödemen - ein, die nach dem Gebrauch der Ledersprays aufgetreten waren. Die Geschäftsleitung bemühte sich daraufhin, die Schadensursache ausfindig zu machen, blieb damit aber ohne Erfolg. Nachdem noch weitere Schädigungen aufgetreten waren, kam es am 12.5. 1981 zu einer Geschäftsführersitzung der Produktions-GmbH. Dort wurde beschlossen, keine Rückruliiktion einzuleiten, sondern bloß die Warnhinweise auf den Spraydosen zu verbessern. Die Geschäftsführer der Vertriebsgesellschaften schlossen sich dem an. Der gegen die Geschäftsführer erhobene Vorwurf lautete, Benutzern der Sprays teils durch Unterlassung des rechtzeitigen Rückrufs der Produkte, teils durch Fortsetzung der Produktion und des Vertriebs der Sprays körperlichen Schaden zugefügt zu haben. Der BGH verurteilte wegen liihrlässiger Körperverletzung hinsichtlich solcher Schäden, die nach dem besonders markanten Schadensliill am 14.2.1981, aber noch vor der Geschäftsführersitzung vom 12.5.1981 eintraten. Hinsichtlich solcher Schadensfalle, die nach der besagten Sondersitzung auftraten, nahm der BGH gefahrliche Körperverletzung an. Für eine ausführlichere Sachverhaltsschilderung vgl. BGH NJW 1990, S. 2560 f. 13

Abgedruckt in: Schmidt-Salzer, ES Strafrecht, IV.3.22.

14 NJW 1990, S. 2562. 15Ibid. 16 Dazu ausführlich Jescheck, AT, S. 543 - 547.

108

G. Abgrenzung von Thn u. Unterlassen; Feststellung der Handlungspfticht

delikts zu prüfen und erst in zweiter Linie ein (unechtes) Unterlassu~sdelikt zu untersuchen ist. 17 Im folgenden möchte ich mich auf jene Fälle konzentrieren, in denen der BGH eine Unterlassu~sstraftat annimmt, und die dogmatische Stringenz der weiteren Begründungsschriue überprüfen. 18 11. Die Feststellung der gebotenen HandlungspOicht N ach der sowohl in der Literatur wie in der Rechtsprechung ganz herrschenden Ansicht muß bei den unechten Unterlassu~sdelikten die Nichtvornahme des gebotenen Tuns gesondert geprüft werden. Damit ist aber nicht das Ausbleiben irgendeiner Aktivität gemeint, sondern das Fehlen einer ganz bestimmten Handlung des Unterlassenden. 19 Die nähere Bestimmung dieser Tätigkeit richtet sich danach, was in der jeweils gegebenen tatbestandsmäßigen Situation20 erforderlich gewesen wäre, um den Erfolg zu verhindern. In der Literatur wird häufig von dem "Ausbleiben der nach der tatbestandsmäßigen Situation erforderlichen Handlung"21 oder dem "Unterlassen der in der konkreten Gefahrenlage erforderlichen Rettungshandlung"22 gesprochen, ohne daß ein Bezug zum tatsächlich eingetretenen Erfolg hergestellt wird. Dagegen ist einzuwenden, daß "erforderlich" ein zweistelliger Begriff ist: Es ist nach der üblichen Verwendung dieses Ausdrucks nicht möglich, eine Handlung etc. für "erforderlich" zu erklären, ohne zumindest implizit anzugeben, worauf die Erforderlichkeit abzielt, also welcher Zweck mit der Handlung erreicht werden soll. Deshalb ist der Ausdruck: "Unterlassen der erforderlichen Rettungshandlung" genaugenommen zu "Unterlassen der zur Abwendung des Erfolgs erforderlichen Rettungshandlung" zu ergänzen. Daraus folgt, daß schon bei der Feststellung der Erforderlichkeit gewisse Kausalitätsüberlegungen anzustellen sind. Die Erforderlichkeit ist objektiv zu bestimmen. Rechtlich gefordert wird allerdings nur, was tatsächlich möglich und zumutbar ist. 23

Haft, AT, 7. Teil § 2; Jescheck, AT, S. 545. Die übrigen Fälle sind strafrechtlich gesehen weitaus problemloser und brauchen hier nicht untersucht zu werden. 19 Jescheck, AT, S. 556. 17

18

20 Zu diesem Begriff vgl. näher Arm. Kauftnann: Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte. Göttingen 1959, 2. unv. Auft., 1988, S. 96 ff. 21 So Jescheck, AT, S. 557. 22 So WesseIs, AT, § 16 II 2. 23 Ob für die Frage nach der tatsächlichen Handlungsmöglichkeit auf die individuelle Handlungsfähigkeit des Täters abzustellen ist oder aber ein objektiver Maßstab anzulegen

11. Die Feststellung der gebotenen Handlungspflicht

109

Angesichts der Unmöglichkeit, sämtliche tatbestandsmäßigen Situationen vorauszusehen, ist natürlich nicht daran zu denken, eine abgeschlossene Liste von erforderlichen Rettungshandlungen aufzustellen. Was zur Vermeidung des konkreten Erfolgs erforderlich ist, ergibt sich vielmehr erst aus einer Analyse der jeweils gegebenen Situation. Möglich ist es aber, gewisse Typen von Rettungshandlungen in der Rechtsprechung und Literatur auszumachen. Die wichtigsten Fallgruppen zur strafrechtlichen Produzentenhaftung dürften die Produktüberwachung, die Warnung vor gefährlichen Produkten und schließlich der Rückruf derartiger Produkte sein. 24 Die Prüfung der konkreten Handlungspflicht kann also in folgender Reihenfolge durchgeführt werden: Zunächst wird gefragt, ob eine Schadensabwendungspflicht - sie setzt eine Garantenstellung voraus - nicht schon deshalb abzulehnen ist, weil jede Hilfeleistung physisch-real unmöglich oder unzumutbar war. Ist dies nicht der Fall, so stellt sich die weitere Frage, ob eine - und gegebenenfalls welche - der für die strafrechtliche Produzentenhaftung typischen Schadensabwehrhandlungen einschlägig ist. Dies dürfte angesichts der Weite der oben angesprochenen drei Handlungstypen regelmäßig der Fall sein. Erst in einem dritten Schritt wird dann das Merkmal der Erforderlichkeit präziser ins Auge gefaßt und gefragt, welche bestimmte Handlung im konkreten Fall den eingetretenen Erfolg hätte verhindern können. Im Lederspray-Verfahren ist der BGH diesem Dreistufenschema im wesentlichen gefolgt. Zunächst stellt das Gericht fest, daß den Geschäftsführern der drei mit der Herstellung und dem Vertrieb der Ledersprays befaßten Firmen eine allgemeine Schadensabwendungspflicht oblag, also die Pflicht, "dafür zu sorgen, daß Verbraucher der von diesen Firmen produzierten und vertriebenen Ledersprays vor Gesundheitsschäden bewahrt blieben, die ihnen bei bestimmungsgemäßer Benutzung dieser Artikel infolge deren Beschaffenheit zu entstehen drohten. "25

Aus dieser allgemeinen Schadensabwendungspflicht ergab sich nach Ansicht des BGH im Lederspray-Fall die Verpflichtung, die bereits in den Handel gelangten Ledersprays zurückzurufen. Der Übergang von der allgemeinen Schadensabwendungspflicht zur Rückrufpflicht wird vom BGH nicht weiter thematisiert. Er prüft nur, ob sich eine Rückrufpflicht aus einer Garantenstel-

ist, ist str. Vgl. WesseIs, AT, § 16 11 2 m. w. N. 24 Insofern kann auch auf die zivilrechtlichen Darstellungen verwiesen werden, vgl. etwa Medicus, SehR 11, S. SI. 2S BGH NIW 1990, S. 2562.

110

G. Abgrenzung von Tun u. Unterlassen; Feststellung der Handlungspflicht

lung aus Ingerenz herleiten läßt. Das Gericht verweist allerdings auf bereits behandelte Fälle zur Rückrufproblematik, 26 insbesondere auf den sog. "Mandelbienenstich-Fall "27. Eine Komplizierung liegt freilich darin, daß im Lederspray-Fall nicht nur eine, sondern drei Gesellschaften an der Herstellung und dem Vertrieb der Ledersprays beteiligt waren. Der BGH bejaht zunächst eine grundSätzliche Rückrufpfticht bei sämtlichen Geschäftsführern der beteiligten Gesellschaften. Das Gericht beschränkt diese PflichtensteIlung bei den beiden Geschäftsführern der Tochtergesellschaften jedoch auf die jeweils vertriebenen Produkte "Marke E" bzw. "Marke S". Diese PflichtensteIlung sei nicht dadurch beseitigt worden, daß die beiden Geschäftsführer der Tochtergesellschaften der Muttergesellschaft untergeordnet waren. Bei den Geschäftsführern der Mutter-GmbH möchte der BGH eine Eingrenzung der PflichtensteIlung auf den jeweils betreuten Geschäfts- und Verantwortungsbereich hingegen nicht vornehmen. Zwar wird eine derartige Eingrenzungsmöglichkeit vom Gericht grundSätzlich bejaht2s, doch sieht es in ressortübergreifenden Krisen- und Ausnahmesituationen den "Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit der Geschäftsleitung" in den Vordergrund treten. 29 Deshalb waren nach Ansicht des BGH alle Geschäftsführer der Muttergesellschaft gefordert, den Rückruf zu betreiben. Auch dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung3° und herrschenden Lehre 31 • Über die Vorinstanz hinausgehend, differenziert der Bundesgerichtshof bei den Handlungspftichten jedes einzelnen Geschäftsführers allerdings weiter und unterscheidet von der allgemeinen Pflicht zum Rückruf das konkrete, den jeweiligen Geschäftsführer einzeln treffende Handlungsgebot. Zur Begründung weist das Gericht darauf hin, daß innerhalb einer GmbH mit mehreren Geschäftsführern grundSätzlich Gesamtgeschäftsführung besteht. Eine Rückrufaktion konnte deshalb nicht von einem der Geschäftsführer alleine, sondern nur von allen gemeinsam beschlossen werden. Damit kommt der BGH

26

BGH NJW 1990, S. 2564.

BGH NStE § 223 StGB NT. 5 (Urteil vom 4.5. 1988). Auch in: Schmidt-Salzer, ES Strafrecht IV. 1.13 . 28 BGH NJW 1990, S. 2565. Vgl. auch 1. Schmidt-Salzer: Strafrechtliche Produktverantwortung. In: NJW 1988, S. 1937 - 1942 (1941) und Schünemann, Untemehmenskriminalität und Strafrecht, S. 107 f; 29 Ibid. 27

Vgl. etwa BGHSt 19, 286 (289). Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Bd. 1, S. 120; L. Kuhlen: Strafuaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefahrdender Produkte. In: NStZ 1990, S. 566 - 570 (569). 30

31

11. Die Feststellung der gebotenen Handlungspflicht

111

zu folgendem Abschluß seiner Präzisierung der allgemeinen Schadensabwendungspflicht: "Jeder [Geschäftsführer] war hiernach nur dazu verpflichtet, unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um einen Beschluß der Gesamtgeschäftsführung über Anordnung und Vollzug des gebotenen Rückrufs zustandezubringen ... 32 Dieser konkreten Handlungspflicht ist keiner der angeklagten Geschäftsführer nachgekommen. Hierin liegt also das tatbestandsmäßige Unterlassen. Bei seiner jeden einzelnen Angeklagten berücksichtigenden Bestimmung des konkreten Handlungsgebotes verdient der BGH Zustimmung.33 Sie steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung und Strafrechtsdogmatik. Dogmatischer Ausgangspunkt der Prüfung ist die individuelle Handlungsfähigkeit. 34 Die Annahme eines Unterlassungsdelikts setzt nach gefestigter Judikatur voraus, daß der Täter die unterlassene Handlung überhaupt hätte durchführen können. Dabei wird das Maß dessen, was dem Täter möglich und zumutbar ist, zugunsten des Täters von der Rechtsprechung bisweilen durchaus großzügig festgesetzt. So hat der BGH entschieden, ein Kriminalbeamter könne nicht wegen einer durch Unterlassen begangenen Strafvereitelung im Amt (§ 258 a StGB) bestraft werden, wenn er über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus belastet und deshalb nicht in der Lage ist, seine Rückstände aufzuarbeiten. 3s Es kommt also nach Ansicht des Gerichts nicht allein auf die psychische Möglichkeit an, die gebotene Handlung durchzuführen; wichtig ist auch, daß die Handlung in den durch den jeweiligen Tätigkeitsbereich definierten Pflichtenkreis des Täters fällt. Die Berücksichtigung der individuellen Handlungsfähigkeit beruht letztlich auf dem Grundsatz, daß strafrechtliche Verantwortlichkeit ein individuelles pflichtwidriges Handeln und Schuld voraussetzt. Diese Berücksichtigung des eigenen innerbetrieblichen Verantwortlichkeitsbereichs bei arbeitsteiligen Organisationen entspricht der ständigen Rechtsprechung. So formuliert Schmidt-Salzer: 36 "Der eindeutige Grundtenor der einschlägigen strafgerichtlichen Entscheidungen ist, daß strafrechtlich jeder grundsätzlich nur für seinen innerbetrieb-

32

BGH NJW 1990, S. 2565.

33

So auch Kuhlen, NStZ 1990, S. 569.

34 So die h. L., vgl. etwa Jescheck, AT, S. 557; SchI Sch-Stree, Rz 141 f vor § 13, beide m. w. N. Dagegen will M. Maiwald: Grundlagenprobleme der Unterlassungsdelikte, JuS 1981, S. 479 - 483 (479) einen rein objektiven Maßstab zugrundelegen. 35 BGHSt 15, 18. 36

Produkthaftung, Bd. I, S. 94.

112

G. Abgrenzung von Tun u. Unterlassen; Feststellung der Handlungspflicht

lichen (bzw. innerorganisationsmäßigen) Verantwortungsbereich einzustehen hat. Es muß also jeweils der konkrete innerbetriebliche Verantwortungsbereich jedes einzelnen Beschuldigten ermittelt werden. 37 Anschließend ist dann jedem einzelnen nachzuweisen, welche Pflichtverletzung gerade ihm innerhalb seines Verantwortungsbereichs zur Last fällt. 38 Auch die Staatsanwaltschaft geht in der Regel nicht nur gegen den Letztverursacher vor, sondern ermittelt ebenso gegen leitende Mitarbeiter in den Grenzen von deren Verantwortungs bereich. So wurden im Contergan-Verfahren insgesamt neun Mitarbeiter der Firma Grünenthai GmbH angeklagt, nämlich alle drei Geschäftsführer sowie die unterhalb der Geschäftsleitung tätigen Ressortleiter der Bereiche "Forschung und Produktion", "Vertrieb" und " medizinisch-wissenschaftliche Abteilung" und schließlich auch die den Ressortleitern nachgeordneten Abteilungsleiter für den wissenschaftlichen Außendienst und die Lizenzabteilung Ausland. Angeklagt wurde schließlich auch der für die Betreuung der Contergan-Präparate zuständige Sachbearbeiter. Dem Ressortleiter Forschung warf man einen Instruktionsfehler vor, weil die zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens erfolgte Deklarierung von Contergan als atoxisch schon nach dem damaligen Kenntnisstand unzulässig gewesen sei. Den übrigen Angeklagten wurde zur Last gelegt, daß sie zumindest ab Herbst 1960 die Gefahren von Thalidomid hätten erkennen können; seit Ende Februar 1961 habe sich die Erkennbarkeit zu sicherer Kenntnis verdichtet, so daß die Fortsetzung des Vertriebs und Bagatellisieru~ der Nebenwirkungen vorwertbar sei (Produktbeobachtungsfehler). 39 Im Monza-Steel-Verfahren wurde die Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen den Vorstandsvorsitzenden, gegen das für das Ressort Vertrieb verantwortliche Vorstandsmitglied, gegen das dem Bereich Entwicklung vorstehende Mitglied sowie gegen den Abteilungsleiter der "Reifentechnischen Entwicklung" erhoben. 40 Den beiden letztgenannten wurde ein Konstruktionsfehler zur Last gelegt, weil die Freigabe der Stahlgürtel-Hochgeschwindigkeitsreifen zur Serienrertigung nicht zulässig gewesen sei. Gegen den Vorstandsvorsitzenden und das für die Technik verantwortliche Vorstandsmitglied wurde dagegen der Vorwurf erhoben, nach Bekanntwerden der ersten Scha-

BayObLG ES Strafrecht 1982 NT. IV. 13 (Markenbutter-Füllmenge). BGH ES Strafrecht 1982 NT. IV. 6 (Truppenübungsplatz); BGH ES Strafrecht Nr. IV. 10 (Kernkraftwerk). 39 Vgl. die Anklageschrift im Contergan-Verfahren, abgedruckt bei Schmidt-Salzer, ES Strafrecht IV.4.1 und ferner Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Bd. 1, S. 74 ff. 40 Vgl. Schmidt-Salzer, Produkthaftung. Bd. 1, S. 26. 37

38

11. Die Feststellung der gebotenen Handlungspflicht

113

densfalle weitere Schäden nicht verhindert zu haben. Es handelt sich also letztlich um den Vorwurf eines Produktbeobachtungsfehlers. 41 Angesichts dieser Rechtsprechung war es nur konsequent, wenn der BGH auch im Lederspray-Verfahren sorgfaltig zwischen den Verantwortungsbereichen der Angeklagten differenzierte. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Ausführungen des BGH zur Ermittlung der konkreten, den einzelnen Angeklagten treffenden Handlungspfticht geradezu schulmäßig anmuten. Das Gericht greift bewährte Differenzierungen und Argumentationsmuster auf und führt sie fort. Von einer Flexibilisierung dogmatischer Strukturen kann keine Rede sein.

41

Weitere Fallbeispiele bei Schmidt-Salzer, Produkthaftung, Bd. I, S. 230 f.

8 Hilgendorf

H. Kausalität und objektive Zurechnung Desweiteren erfordert die Strafbarkeit des Inverkehrbringens von gefährlichen Produkten die Kausalität des in Frage stehenden Verhaltens für den eingetretenen Erfolg. Bei den Begehungsdelikten wird der Kausalitätsprüfung allgemein die Äquivalenztheorie und die darauf bezogene conditio-sine-quanon-Formel zugrundegelegt, wonach kausal für den eingetretenen Erfolg jedes Verhalten ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. I Eine präzise und auch den Ansprüchen der modernen Wissenschaftstheorie2 genügende Formulierung hat diese Theorie in der von Karl Engisch in das Strafrecht eingeführten Formel von der gesetzmäßigen Bedingung3 gefunden, wonach es für eine Kausalitätsfeststellung im Sinne der Äquivalenztheorie darauf ankommt, ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung naturgesetzlich verbunden sind und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen. 4 Angewandt auf die Unterlassungsdelikte ergibt dies, daß die U nterlassu~ einer Handlung dann kausal für einen Erfolg ist, wenn die Handlung den Erfolg abgewandt hätte. 5 Um der Unsicherheit unseres empirischen Wissens Rechnung zu tragen, verlangt die Rechtsprechung, daß der Erfolg bei Vornahme der Handlung "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" ausgeblieben wäre.6 Zweifel

Vgl. z. B. Baumann/Weber, AT, S. 219; Jescheck, AT, S. 251. Vgl. dazu insbes. I. Puppe: Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht. In: ZStW 92 (1980), S. 863 - 911, sowie E. Kleine-Cosack: Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht. Die strafrechtliche Relevanz der Schwierigkeiten naturwissenschaftlicher Kausalfeststellung im Umweltbereich. Berlin 1988 (Beiträge zur Umweltgestaltung, A 104), S. 12 I

2

ff. 3 K. Engisch: Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände. Tübingen 1931 (Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, N.F. Bd. 1), S. 21, 25 f; weitere Nachweise bei Jescheck, AT, S. 254 f. 4 Jescheck, AT, S. 254. 5 Baumann/Weber, AT, S. 239; Jescheck, AT, S. 559.

6 So schon RGSt 15, 151 (153 f); umfangreiche Rechtsprechungsnachweise bei Jescheck, AT, S. 560.

I. Die Kausalitätsproblematik im Contergan-Fall

115

darüber, ob die gebotene Handlung den Erfolg abgewendet hätte, dürfen den Beschuldigten nicht belasten. I. Die Kausalitätsproblematik im Contergan-Fall

Im Contergan-Fall war die Frage nach der Kausalität der Thalidomideinnahme für die Nervenschäden und körperlichen Mißbildungen ein Hauptproblem des Verfahrens. Ohne Übertreibung darf man sagen, daß das Verfahren und die in ihm aufgeworfenen Probleme die gesamte neue re Diskussion zur strafrechtlichen Kausalität maßgebend beeinflußt haben. Eine der scharfsinnigsten jüngeren Studien zur Kausalitätsproblematik nennt ausdrücklich den Contergan-Prozeß als Anstoß der Untersuchung. 7 Die besondere Problematik des Contergan-Falles lag aber nicht in der Anwendung der von der juristischen Dogmatik herausgearbeiteten Instrumente für die Kausalitätsprüfung, sondern darin, ob sich überhaupt Kausalbeziehungen zwischen der Einnahme des Medikamentes und den Nervenschäden bzw. Mißbildungen empirisch bestätigen ließen. 8 Beyer hat die seinerzeit gegen eine generelle Eignung des Thalidomids zur Bewirkung der aufgetretenen Schäden vorgebrachten Argumente übersichtlich zusammmengestellt: 9 - Sicheren Aussagen über die Verursachung der Mißbildungen stehe entgegen, daß der genaue Wirkungsmechanismus des Thalidomids noch unbekannt sei. - Andere Ursachen seien möglich oder doch zumindest nicht gänzlich auszuschließen. - Die neuartigen Mißbildungen seien vornehmlich bei den Kindern aufgetreten, deren Mütter während der Schwangerschaft häufig ferngesehen hätten. Die Strahlung der Fernsehröhren habe möglicherweise diese Mißbildungen verursacht. - Die neuartigen Mißbildungen seien eventuell durch radioaktiven Niederschlag nach Atombombenversuchen bedingt.

7 M. Maiwald: Kausalität und Strafrecht. Studien zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Jurisprudenz. Göttingen 1980 (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 108). 8 Vgl. Arm. Kaufmann: Tatbestandsmäßigkeit und Verursachung im Contergan-Verfahren. Folgerungen für das geltende Recht und die Gesetzgebung. In: JZ 1971, S. 569 - 576

(572).

9 Ch. Beyer: Grenzen der Arzneimittelhaftung, dargestellt am Beispiel des ConterganFalles. München 1989, S. 18 f; vgl. auch die umfangreichen Ausführungen des LG Aachen, JZ 1971, S. 510 - 514.

116

H. Kausalität und objektive Zurechnung

- Die Fehlbildungen seien auf mißlungene Abtreibungsversuche zurückzuführen. - Es könnten besondere Konstitutionsfaktoren im Organismus der betroffenen Mütter oder besondere psychologische Situationen während der Schwangerschaft ausschlaggebend gewesen sein. - Für die Mißbildungen seien Erbfaktoren maßgebend. - Gleiche Mißbildungen habe es bereits vor der Entwicklung des Thalidomids gegeben, so daß die Ursächlichkeit des neuen Medikamentes in Frage zu stellen sei. - Nicht wenige glei.chartige Mißbildungen habe man in den Jahren 1958 bis 1962 auch in einigen Ländern beobachtet, in denen Thalidomid nicht oder noch nicht 9 Monate im Handel gewesen sei. - Es gebe auch in der Bundesrepublik Mütter, die in den Jahren 1958 1962 ein Kind des neuen Mißbildungstyps geboren, aber kein Thalidomid eingenommen hätten. - Vereinzelte gleiche Mißbildungen habe es auch noch gegeben, nachdem Thalidomid mehr als 9 Monate aus dem Handel gezogen war. - Gegen die Kausalität Thalidomids für Mißbildungen des neuen Typs spreche, daß die Einnahme des Präparates bei verschiedenen betroffenen Frauen nicht während der kritischen Phase, sondern vor- oder nachher erfolgt sei. - Manche Mütter, die Thalidomid während der Schwangerschaft einnahmen, hätten völlig gesunde und normal entwickelte Kinder zur Welt gebracht. - Möglicherweise verursache Thalidomid keine Mißbildungen, sondern verhindere nur den vorzeitigen Abgang bereits durch andere Faktoren in der Entwicklung gestörter Embryonen. Die Einwände gegen die Annahme von Kausalität zwischen der Thalidomid-Einnahme und dem Auftreten der Schäden wurden so ausführlich wiedergegeben, weil sie für Fälle strafrechtlicher Produzentenhaftung typisch sind. Das Landgericht Aachen erkannte die Berechtigung dieser Zweifel an, meinte aber, daß sie einer Bejahung des Kausalitätszusammenhangs letztlich nicht im Wege stünden. Unter einem "Nachweis im Rechtssinne" , so argumentiert das Gericht, sei nämlich "keineswegs der sogenannte naturwissenschaftliche Nachweis zu verstehen, der eine mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewißheit, also absolut sicheres Wissen (vgl. BGH in VRS 39, 103 ft) voraussetzt. Der für die strafrechtliche Beurteilung allein maßgebliche Beweis ist - erst und schon - erbracht, wenn das Gericht von den zu beweisenden Tatsachen nach dem Inbegriff der Hauptverhandlung

I. Die Kausalitätsproblematik im Contergan-Fall

117

voll überzeugt ist. "10 Der strafrechtliche Beweis beruhe, wie es der "Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens" gemäß sei, nicht auf einem "unmittelbar einsichtigen Denken, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe abwägenden Urteils über den GesamtzusammenhaIll;." Dabei käme es nicht auf die objektive, sondern nur auf eine subjektive Gewißheit an. 11 Die subjektive Gewißheit des Gerichts war im Contergan-Fall gegeben. Diese Ausführungen des LG Aachen sind zu Recht auf Skepsis gestoßen. Ausgangspunkt war dabei die Unterscheidung zwischen der Frage nach der generellen Kausalität - war das Thalidomid überhaupt geeignet, die Mißbildungen herbeizuführen? - und der Frage nach der singulären Kausalität, also dem Problem, ob, die generelle Kausalität unterstellt, auch in den Einzelfällen Kausalität anzunehmen sei. 12 Die schär:fSte Kritik hat Armin Kaufmann in einem vielzitierten Aufsatz vorgebracht. 13 Er untersucht den Beschluß des LG Aachen anhand zweier Leitfragen: Wie hat ein Gericht zu verfahren, wenn das in Frage stehende Kausalgesetz in den maßgebenden Fachkreisen umstritten bleibt?14 und: Ist ein eigenständiger "strafrechtlicher Nachweis" derartiger Kausalgesetze im Prozeß zulässig?15 Es handelt sich dabei um Probleme, die noch heute im Rahmen von § 286 ZPO und § 261 StPO lebhaft diskutiert werden. 16 Zur Beantwortung dieser Fragen knüpft Kaufmann an die Entscheidung BGHSt 6, 70 ff an. In einem Unterhaltsrechtsstreit hatte eine Frau beschworen, während der gesetzlichen Empfängniszeit nur mit einem bestimmten Mann Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Zwei Blutgruppenuntersuchungen kamen aber zu dem Ergebnis, daß der fragliche Mann als Erzeuger des Kindes ausscheide. Die Unterhaltsklage wurde deshalb abgewiesen und die

LG Aachen, JZ 1971,510. Ibid. Ebenso schon der Beschluß des LG Aachen vom 2.4.1970 - 15 - 115167, abgedr. in JMBI NRW 1971, S. 70171 (mit umfangreichen Literaturangaben). 12 Vgl. dazu H.-J. Bruns: Verfahrensrechtliche Fragen des Contergan-Prozesses. In: Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag. Hg. von F.-Ch. Schroeder und H. Zipf, Karlsruhe 1972, S. 469 - 486 (478) und allgemein Sch/Sch-Lenckner, Rz 75 vor § 13; SK-Rudolphi, vor § 1 Rz 42 m. w. N. 13 JZ 1971, S. 569 - 576 (oben Kap. H, Fn 8). Es handelt sich dabei um die Kurzfassung eines für die Verteidigung gegen den Strafkammer-Beschluß vom 2. 4. 1970 verfaßten Gutachtens. 14 Tatbestandsmäßigkeit und Verursachung, S. 572. 10

11

Thtbestandsmäßigkeit und Verursachung, S. 573. Vgl. aus der Rspr. BGH NJW 1982, S. 2874; NJW 1978, 1919 f; NJW 1970, S. 946 ff und aus der Literatur etwa KK StPO-Hürxthal, § 261 Rz 45 ff. IS

16

118

H. Kausalität und objektive Zurechnung

Frau wegen Meineides angeklagt. Das Landgericht Marburg (Lahn) sprach sie jedoch frei, weil von den drei im Strafverfahren eingeholten Gutachten nur zwei l ? die im Zivilprozeß erstatteten Gutachten bestätigten, während der dritte Gutachter aufgrund einer erbbiologischen Untersuchung die Angaben der Frau bestätigte. Demgegenüber will der BGH an dem lange bewährten Beweiswert von Blutgruppengutachten festhalten. In der Rechtsprechung sei schon seit Jahren als Erfahrungssatz der Wissenschaft anerkannt, daß einem Blutgruppengutachten, nach dem aufgrund einer Bestimmung von Blutmerkmalen die Vaterschaft eines Mannes ausgeschlossen ist, bei dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis unter der Voraussetzung fehlerfreier Bestimmung der Merkmale eine unbedingte, jeden Gegenbeweis mit anderen Beweismitteln grundsätzlich ausschließende Beweiskraft zukomme. 18 Eine einzelne abweichende Meinung eines Sachverständigen sei nicht ohne weiteres geeignet, allgemein anerkannte Naturgesetze in Frage zu stellen. Dies sei nur dann denkbar, wenn sich die abweichende Ansicht auf eine ausreichende Erfuhrungsgrundlage stützen könne, was jedoch für das divergierende erbbiologische Gutachten durch das Landgericht nicht dargelegt worden sei. 19 Deshalb hob der BGH das Urteil auf. Kaufmann formuliert das entscheidungs erhebliche Kausalgesetz wie folgt: "Kinder mit dem Blutfaktor N können nicht von Vätern mit dem Blutfaktor M stammen. "20 Unter der Voraussetzung, daß dieses Kausalgesetz (noch) nicht allgemeine Anerkennung in den maßgebenden Fachkreisen gefunden habe, möchte Kaufmann zwei Konstellationen unterscheiden: Zum einen könnte sich ein Richter "ohne Auseinandersetzung mit der Hypothese [... ] eine Überzeugung bilden", etwa aufgrund eines Geständnisses oder nach Zeugenvernehmungen. Diesen Weg hält Kaufmann für zulässig. Anders sei es aber, wenn der Richter zu der in Frage stehenden empirischen Hypothese Stellung bezieht, eine wissenschaftlich umstrittene Hypothese verwirft oder anerkennt und auf dieser Grundlage einen Angeklagten

17 Es handelte sich um dieselben Gutachter, die schon im Zivilrechtsstreit gutachterliche Stellungnahmen abgegeben hatten. 18 BGHSt 6, 70 (71).

19 BGHSt 6, 70 (74). Vgl. auch die weiterführenden Hinweise bei LR-Gollwitzer, § 261 Rz 52 mit Fn 147; W. Sarstedt: Beweisregeln im Strafprozeß. In: Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, dargebracht von Mitgliedern der Juristischen Fakultät zum 65. Geburtstag. Berlin 1968, S. 171 - 186; Eb. Schmidt: § 261 StPO in der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung. In: JZ 1970, S. 337 - 343 (338). 20 JZ 1971, S. 573.

I. Die Kausalitätsproblematik im Contergan-Fall

119

verurteilt oder freispricht. Für diesen Fall beruft sich Kaufmann auf die zitierte BGH-Entscheidung und erklärt, die ",subjektive Gewißheit' des Richters ... [könne] die allgemeine Anerkennung nicht ersetzen. Der Satz bleibt wissenschaftlich eine Hypothese, der die Approbation in maßgebenden Fachkreisen fehlt. Nur ein allgemein anerkannter Satz aber vermag [ ... ] die Schlußfolgerung auf die Falschheit der Aussage und die Schuld des Angeklagten zu tragen ... 21 Empirische Gesetzmäßigkeiten sind also nach Kaufmann vom Gericht nur dann der Entscheidung zugrundezulegen, wenn sie von der zuständigen Einzelwissenschaft anerkannt sind. Damit sind für Kaufmann beide Leitfragen beantwortet. Die Überzeugungs bildung des Richters beschränkt sich auf die Frage, ob in der zuständigen Einzelwissenschaft ein anerkannter Erfuhrungssatz existiert.22 Über das Bestehen eines derartigen empirischen Zusammenhangs befinden nur die Einzelwissenschaften. Ein eigenständiger "strafrechtlicher Nachweis" von Kausalgesetzen ist nicht zulässig. Das LG Aachen hat deshalb nach Kaufmann seine Kompetenzen überschritten, als es in umfangreicher Arbeit das anzuwendende Kausalgesetz zu ermitteln suchte. Damit habe sich das Gericht unzulässigerweise an die Stelle der maßgebenden naturwissenschaftlichen Autoritäten gesetzt. Ähnlich meint Maiwald, daß bei divergierenden Sachverständigengutachten das Prinzip "in dubio pro reo" zur Anwendung kommen müsse: "Bestehen Meinungsverschiedenheiten unter den Fachwissenschaftlern über das Bestehen von bestimmten Gesetzmäßigkeiten in der Natur, so muß der Richter für sein Urteil diejenige Ansicht zugrunde legen, die für den Beschuldigten am günstigsten ist." 23 Das Vorliegen starker Indizien für einen Kausalzusammenhang zwischen der Thalidomideinnahme und dem Entstehen der Mißbildungen sei keine ausreichende Grundlage für die gerichtliche Feststellung der Kausalität gewesen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gelte hier nicht. 24 Im Ergebnis möchte ich Kaufmanns Ausführungen weitgehend zustimmen. 25 Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, die Existenz empirischer Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Richtern fehlt dazu die fachliche Kompetenz.

21 22

Ibid. Ebenso auch Bruns, Maurach-FS. S. 480 (oben Kap. H, Fn 12). IZ 1971, S. 574.

Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 109. A.a.O., S. 110. Vgl. auch E. Horn: Konkrete Gefahrdungsdelikte. Köln 1973, S. 128 ff, 147. 2S Ebenso Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 106 - 110; vgl. auch das LG Frankfurt, NStZ 1990, S. 594 (Holzschutzmittel). 23

24

120

H. Kausalität und objektive Zurechnung

Dieser Gedanke steht wohl auch hinter Kaufmanns Ausführungen, obwohl er ihn nicht explizit ausspricht und nur auf die Rechtsprechung des BGH verweist. Die hier vertretene Aufgabenteilung zwischen den die Kausalgesetze erforschenden Einzelwissenschaften und der diese Gesetze anwendenden Rechtswissenschaft ist übrigens schon in Engischs klassischer Studie zur Kausalität mit der Einführung eines "gesetzmäßigen Zusammenhangs" anstelle der conditio-sine-qua-non-Formel angelegt26 • Fraglich erscheint mir freilich, ob das LG Aachen tatsächlich seine Kompetenzen in der Weise überschritten hat, wie es Kaufmann darstellt. Zum Zeitpunkt des Contergan-Verfahrens existierten noch keine wissenschaftlich allgemein anerkannten Hypothesen über die Wirkungsweise des Thalidomids, so daß das Landgericht darauf nicht Bezug nehmen konnte. Die Arbeitsweise des Gerichts läßt sich aber so interpretieren, daß versucht wurde, den Fachwissenschaftlern Gelegenheit zur Etablierung einer allgemein oder doch zumindest überwiegend anerkannten empirischen Aussage über die Wirkung des neuen Medikamentes zu geben. Das Gericht hat also nicht in eigener Verantwortung medizinisch-biologische Forschungen betrieben, sondern einzelwissenschaftliche Untersuchungen dazu angeregt und deren Ergebnisse aufgegriffen. Der Unterschied zur üblichen Feststellung wissenschaftlich anerkannter Gesetzmäßigkeiten lag also im wesentlichen darin, daß im Normalfall auf in Lexika, Lehrbüchern etc. bereits schriftlich fixierte Aussagen über empirische Gesetzmäßigkeiten zurückgegriffen werden kann, während hier die Wissenschaftler "bei der Arbeit" gehört wurden. Dagegen läßt sich nicht einwenden, die Anhörung einiger weniger Forscher reiche auf keinen Fall aus, um sich eine Überzeugung von der Existenz einer allgemein oder zumindest überwiegend anerkannten empirischen Gesetzmäßigkeit zu bilden. Im Contergan-Verfahren wurde eine große Zahl prominenter Vertreter der zuständigen Einzelwissenschaften gehört. Fast alle plädierten dafür, die schädigende Wirkung des Thalidomids zu bejahen. Angesichts des großen öffentlichen Interesses am Contergan-Verfahren muß davon ausgegangen werden, daß diese Stimmenverteilung in etwa auch dem Meinungsbild in der gesamten Medizin entsprach. Es kann also durchaus von einer "überwiegend anerkannten" Gesetzmäßigkeit gesprochen werden. Daß nicht ausnahmslos alle Vertreter der Einzelwissenschaften zustimmten, ist demgegenüber ohne Belang, denn es stellt geradezu ein kennzeichnendes Merkmal empirischer Aussagen dar, daß sie immer dem Zweifel ausgesetzt bleiben. Dies ist eine der Arbeitsgrundlagen der modernen Wissenschafts-

26

K. Engisch: Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände (oben Kap.

H, Fn 3).

11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall

121

theorie. 27 Die Äußerungen des Landgerichts, wonach ein naturwissenschaftlicher Nachweis eine "mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewißheit, also ein absolut sicheres Wissen", voraussetze,28 sind falsch und beruhen auf schwerwiegenden Mißverständnissen der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise. 29 Der Annahme einer angeblich sicheren naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise und einer dagegen grundSätzlich unsicheren geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethode bedarf es nicht. Als Zwischenergebnis läßt sich somit festhalten, daß das LG Aachen trotz einiger Mißverständnisse über den Hypothesencharakter aller empirischer Erkenntnisversuche die Kausalität im Contergan-Verfahren in zulässiger Weise geprüft und bejaht hat. Hinweise auf eine rechtsstaatlieh bedenkliche "Flexibilisierung" des bis dahin von der Dogmatik entwickelten juristischen Instrumentariums liegen nicht vor.

11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall

Im Monza-Steel-Fall war das Vorliegen einer generellen Kausalität unproblematisch. Das Landgericht München 11 konnte sich deshalb auf die Feststellung beschränken, die Freigabe der Reifen durch den Angeklagten sei für die Unfälle kausal im Sinne der Äquivalenztheorie gewesen. Die Kausalität sei auch nicht durch andere möglicherweise wirksame Ursachen beseitigt worden, insbesondere nicht durch vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten der Opfer (z. B. Fahren mit zu geringem Reifendruck).30 Im Lederspray-Verfahren konnte die conditio-sine-qua-non-Formel dagegen nicht ohne weiteres angewandt werden. Problematisch war zunächst, daß es sich bei den Ledersprays um komplexe, aus zahlreichen Wirkstoffen zusammengesetzte Produkte handelte und es trotz eingehender Untersuchungen nicht möglich war, einen einzelnen Wirkstoff oder eine Kombination von Wirkstoffen zu isolieren, die die Gesundheitsschäden hervorgerufen hatten. Dies sei jedoch, so meint der BGH, zur Bejahung der strafrechtlichen Kausalität auch nicht erforderlich, sofern nur feststehe, daß die Schäden auf

27 Vgl. nur K. Popper: Logik der Forschung. 9. Aufl., Tübingen 1989, S. 223: "Wir wissen nicht, sondern wir raten". 28 JZ 1971, S. 510. 29 Richtig dagegen Arm. Kaufmann, JZ 1971, S. 573, und Kleine-Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht (Kap. H, Fn 2), S. 52 f. 30 Schmidt-Salzer, ES Strafrecht 1982, IV.28 (S. 332 f).

122

H. Kausalität und objektive Zurechnung

den Ledersprays beruhten und nicht auf anderen Faktoren. Dies sei hier der Fall. Der BGH begründet seine Ansicht nicht weiter, doch ist dem Gericht zuzustimmen: Jede Wirkursache läßt sich - zumindest gedanklich - als Summe zahlreicher untergeordneter Wirkfaktoren ansehen. Wollte man den Kausalitätsnachweis in jedem dieser Fälle so weit als möglich präzisieren, so liefe dies mangels genaueren empirischen Wissens in der Regel auf eine Ablehnung der Kausalität hinaus, wenn man nicht gleich die Differenzierung unbegrenzt fortsetzen und so die Kausalitätsformel ad absurdum führen will. Die Ausführungen des BGH zur Kausalitätsproblematik sind jedoch bei Samson31 auf scharfe Kritik gestoßen. Samson geht so weit, dem BGH ein wissentliches "Verbiegen der Strafrechtsdogmatik" vorzuwerfen,32 also eben jene "Flexibilisierung", wie sie hier in Frage steht. Samsons Argumente sind freilich erheblichen Zweifeln ausgesetzt: Der BGH hatte die Entscheidung über das Vorliegen von Kausalität davon abhängig gemacht, daß "alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen" auszuschließen seien. 33 Samson interpretiert diese Formulierung dahin, "es müßten alle anderen Ursachen für den schädlichen Erfolg ausgeschlossen werden, die auch ohne den angewendeten Stoff zum schädlichen Erfolg geführt hätten. "34 Damit dürfte Samson in der Tat das vom BGH Gemeinte zutreffend wiedergeben. Samson ist allerdings der Meinung, die Ansicht des BGH sei "inhaltsleer", 35 denn bei genauerern Hinsehen ergebe sich, "daß sie nichts weiter darstellt als die umformulierte Conditio-Formel". Diese Begründung ist merkwürdig, denn aus ihr ergibt sich, daß Samson die Conditio-Formel für inhaltsleer hält. Daß er dies nicht gemeint -haben kann, zeigen seine weiteren Ausführungen zur Kausalitätsproblematik, in denen er gerade einer korrekten Anwendung der Conditio-Formel besonderes Gewicht beimißt. Vermutlich will Samson sagen, daß die zitierte Argumentation des BGH der Anwendung der Conditio-Formel inhaltlich nichts hinzufügt. Dies dürfte zutreffend sein, läßt sich indessen kaum als Argument gegen die Kausalitätsprüfung des BGH ansehen. Schwerwiegender ist Samsons zweites Argument. Er wirft dem BGH vor, sich nicht mit der Frage beschäftigt zu haben, "auf welche Weise man andere

3\ E. Samson: Probleme strafrechtlicher Produkthaftung. In: StV 1991, S. 182 - 186 (183). 32 Ibid. 33 34 35

BGH NJW 1990, S. 2562. StV 1991, S. 183. Ibid.

11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall

123

Schadensursachen ausschließen kann". 36 Bekanntlich ist eine Anwendung der Conditio-Formel nur möglich, wenn die Frage nach anderen möglichen Schadensursachen (negativ) beantwortet ist. 37 Samsons Argument ist jedoch nicht ganz zutreffend: Immerhin lagen der Entscheidung des BGH ausführliche Sachverständigengutachten zugrunde, die andere Schadensursachen als die Verwendung der Ledersprays verneinten. 38 Samson aber meint, der Hinweis auf die eingeholten Sachverständigengutachten löse das Rätsel nicht, "weil auch der Sachverständige vor demselben Problem stand und es sehr wohl Gegenstand revisions rechtlicher Überprüfung ist, ob die Schlußfolgerung des Gerichts - und sei sie auch von einem Sachverständigen empfohlen - denkgesetzlich möglich ist. "39 Es ist natürlich zutreffend, daß auch solche Ausführungen eines Gerichts, die auf Sachverständigengutachten beruhen, Gegenstand revisionsrechtlicher Überprüfung sein können. Im Regelfall sind die Gerichte aber gut beraten, Sachverständigengutachten nicht leichtfertig vom Tisch zu wischen, insbesondere dann nicht, wenn es um eine Materie geht, in der allein Mediziner und nicht Juristen - kompetent sind. Ob neben den Ledersprays noch andere Ursachen für die aufgetretenen Körperverletzungen in Betracht kommen, ist nämlich eine empirische Frage, die nicht in den Kompetenzbereich der Rechtswissenschaft als solcher, sondern in den der Medizin fällt. In den Kompetenzbereich der Juristen fällt hingegen das Problem, ob die Ansicht des BGH zur Kausalitätsproblematik denkgesetzlich möglich ist. Eben dies bezweifelt Samson. Seine Ausführungen dazu scheinen mir zentral für seine Kritik am BGH überhaupt zu sein; es sei deshalb erlaubt, sie im Zusammenhang zu zitieren: "Ob in denjenigen Fällen, in denen zeitgleich mit dem Spraykontakt Lungenödeme auftraten, andere Umstände vorhanden waren, die als (wirkliche) Ursachen in Betracht kommen, kann nur beurteilt werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Einerseits müssen diejenigen Umstände umfassend und abschließend bekannt sein, die Lungenödeme hervorrufen können. Andererseits muß festgestellt werden, daß keiner dieser anderen Umstände im konkreten Fall vorlag. Wenn dagegen nicht sämtliche Umstände bekannt sind, die Lungenödeme verursachen können, dann ist die Feststellung, andere Ursachen hätten nicht vorgelegen, auf die Ursachen beschränkt, von denen

36

Ibid.

37

Jescheck, AT, S. 253 mit umfangreichen Nachweisen.

38

39

Vgl. BGH NJW 1990, S. 2562. Ibid.

124

H. Kausalität und objektive Zurechnung

bekannt ist, daß sie derartige Folgen haben können. Damit ist aber für die Kausalfeststellung bezüglich des Erdal-Sprays nichts gewonnen." Es bleibt deshalb nach Samson "die - ernsthafte - Möglichkeit, daß ein anderer bisher unbekannter - Stoff das Lungenödem verursacht hat und Erdal in den schadenbehafteten Fällen mit dieser anderen unbekannten Ursache zufällig nur zeitgleich auftrat" .40 Dieses Argument Samsons ist schwerwiegenden Zweifeln ausgesetzt. Schon seine erste Voraussetzung ist äußerst problematisch: Es ist völlig ausgeschlossen, daß der Naturwissenschaft oder gar dem Richter sämtliche Faktoren, die für das Auftreten von Lungenödemen kausal sein können, abschließend bekannt sind. Unser empirisches Wissen ist stets beschränkt und noch dazu fehlbar. Deshalb kann zweitens in keinem Fall mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden, daß ein unbekannter Faktor den jeweils in Frage stehenden Kausalverlauf mitbestimmt hat. Nähme man Samson beim Wort, so könnte Kausalität niemals bejaht werden. Die hier relevanten Probleme werden noch klarer erkennbar, wenn man die - mißverständliche - Conditio-Formel, der ohnehin nur ein heuristischer Wert zukommt41 , beiseite läßt und auf das Vorliegen eines naturgesetzlichen Zusammenhangs zwischen der Verwendung von Ledersprays und dem Auftreten der Schäden abstellt. 42 Eine Behauptung über das Bestehen eines solchen naturgesetzlichen Zusammenhangs wird stets eine Hypothese bleiben; sie stellt also kein sicheres Wissen dar, sondern ist grundsätzlich fallibel. Trotzdem kann eine derartige Hypothese bei der Lösung praktischer Probleme vielfach bewährt und deshalb von den zuständigen Fachwissenschaftlern akzeptiert sein. Ist dies der Fall, so muß die Hypothese auch der juristischen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden. Mehr als gut bewährte Hypothesen kann die Jurisprudenz in keinem Fall erwarten. Da im Lederspray-Fall die zuständigen FachwissenschaftIer einen naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen der Verwendung der Ledersprays und den eingetretenen Körperverletzungen bejaht haben, konnten auch das LG Mainz als Vorinstanz und der BGH vom Vorliegen eines Kausalzusammenhangs ausgegehen. Samsons Kritik ist insoweit unhaltbar. Der BGH prüft die Frage der Ursächlichkeit der Unterlassurg für die eingetretenen Erfolge auf drei verschiedenen Stufen. Zum einen fragt das StV 1991, S. 183. Engisch, Kausalität, S. 14 ff; ihm folgend etwa Jescheck, AT, S. 252; Roxin, AT 1, 11/14, beide m. w. N. 42 Vgl. oben S. 114. 40

41

11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall

125

Gericht, ob, die gebotene Handlung unterstellt, die Rückrufaktion stattgefunden hätte. Desweiteren untersucht der BGH, ob der Rückruf die Händler noch rechtzeitig erreicht hätte. Erst auf der dritten Stufe wird der Frage nachgegangen, ob der Rückruf auch die tatsächlich eingetretenen Erfolge hätte vermeiden können. Diese differenzierende Vorgehensweise hat den Vorteil, den hypothetisch festzustellenden empirischen Verlauf bei Vornahme des gebotenen Tuns präziser rekonstruieren zu können als beim bloßen Abstellen auf Anfang (Unterlassen der gebotenen Handlung) und Ende (Erfolgseintritt) des hier relevanten GeschehensablaulS. Am Charakter der Kausalitätsprüfung im Sinne der Äquivalenztheorie ändert sich dadurch nichts. Der Ursächlichkeitszusammenhang wird vom Gericht auf allen drei Stufen bejaht, wobei die Tatsache, daß das Gericht die gebotene Handlungspfticht enger als die Vorinstanz auffaßt, keine besondere Rolle spielt. Auch die Frage, ob die Schäden bei einer Durchführung der Rückrufaktion ebenfalls eingetreten wären, weil die Verbraucher sich anderen Ledersprays zugewendet hätten, ist für den BGH ohne Belang.43 Die Kausalitätsprüfung in Fällen unterlassener Kollektiventscheidungen ist ein Problemfeld, dem in Rechtsprechung und Literatur bislang nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 44 Samson hat auch in dieser Hinsicht Zweifel an der Entscheidung des BGH angemeldet: Der BGH hatte in den Fällen, in denen er eine vorsätzliche Körperverletzung durch Unterlassen angenommen hatte, wegen des auf Unterlassen einer Rückrufaktion gerichteten gemeinsamen Tatentschlusses der Angeklagten ohne weiteres Mittäterschaft aller Beteiligten angenommen. 45 Samson meint dagegen, nicht das Unterlassen sei mittäterschaftlich erfolgt, vielmehr habe jeder für sich unterlassen, die gebotene Rückrufaktion in Mittäterschaft durchzuführen. 46 Dies scheint mir jedoch sehr zweifelhaft zu sein: Hätten die Verantwortlichen die Rückrufaktion gemeinsam durchgeführt, so wären sie gar keine Straftäter (von den vorausgegangenen Fahrlässigkeitsdelikten einmal abgesehen) und deshalb erst recht keine Mittäter. Das Unterlassen der Rückrufaktion hingegen erfolgte in "bewußtem und gewolltem Zusammenwirken" der Verantwortlichen und stellt deshalb geradezu einen Schulfall von

43 NJW 1990, S. 2566 unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH bei SchmidtSalzer, ES Strafrecht 1982, Nr. IV. 4, S. 171 (.. Zwischensteckerfall") und L. Kuhlen: Fragen einer strafrechtlichen Produkthaftung. Heidelberg 1989 (Mannheimer rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 7), S. 36. 44 Vgl. etwa die knappen Bemerkungen bei Sch / Sch-Cramer, § 25 Rz 79. 45 BGH NJW 1990, S. 2562,2564. 46

StV 1991, S. 184.

126

H. Kausalität und objektive Zurechnung

Mittäterschaft darY Der BGH hat diese Frage deshalb zu Recht nicht ausführlich behandelt. Auch die Kausalität zwischen dem Beschluß, die Rückrufaktion zu unterlassen, und dem Eintritt der Schäden ist entgegen Samsons Ansichf8 unproblematisch. In den Fällen, in denen der BGH ein fahrlässiges Unterlassen der Verantwortlichen angenommen hat, hält Samson die Kausalitätsprüfung des Gerichts sogar für "völlig unzulänglich". 49 Seiner Ansicht nach gilt für diese Fälle folgendes: "Hat eine identifizierbare Mehrheit unter den Geschäftsführern den Eindruck der Uneinsichtigkeit erweckt, so haften allein sie und nicht die anderen, die mit Recht resignierten. Hat dagegen jeder jedem anderen diesen Eindruck vermittelt, dann hat jeder durch Aktivität zunächst den jeweils anderen und sodann dadurch sich selbst rettungsunfähig gemacht. "50 Die Uneinsichtigkeit und Passivität aller Geschäftsführer unterstellt, kommt Samson damit letztlich zur Annahme eines Begehungsdelikts durch "Verbreitung von Resignation". Dieses Ergebnis erscheint sehr merkwürdig. Die Analyse von Samsons Argumentationsgang zeigt, daß seine Darlegungen auch im einzelnen beträchtlichen Zweifeln ausgesetzt sind. Samson geht von folgendem Beispielsfall aus: "Unterstellt, die beiden Feuerwehrleute A und B haben vor dem brennenden Haus eine lange Schlauchverbindung vom Hydranten zum Haus gelegt. A muß nur den Schieber des Hydranten öffnen und B die Spritze mit dem Schlauch verbinden, um sodann den Wasserstrahl auf das brennende Haus zu richten. Die Handlungen von A und B sind gleichermaßen notwendig, das Rechtsgut zu retten. Wenn A seine Handlung unterläßt und das Haus daraufhin völlig niederbrennt, dann stellt sich zunächst nicht ein Problem der Kausalität, der hypothetischen Kausalität oder der Erfolgszurechnung. Vielmehr ist zuerst zu fragen, ob A die ihm gebotene Rettungshandlung unterlassen hat. Da die dem Unterlassungsdelikt zugrunde liegende Gebotsnorm aber nicht blinde Aktivität, sondern nur die Vornahme solcher Handlungen verlangt, die den tatbestandsmäßigen Erfolg verhindern können, kommt es darauf an, ob B das Haus gelöscht hätte, wenn A den Schieber des Hydranten geöffnet hätte. Steht z. B. fest, daß die Spritze am anderen Ende des Schlauches fehlte oder defekt war,

47 Vgl. Baumann I Weber, AT, S. 527; Engisch, Kausalität, S. 30 f; Haft, AT, 8. Teil § 3 Nr. 3; Jescheck, AT, S. 618; Sch/Sch-Cramer, § 25 Rz 79.

49

StV 1991, S. 185. Ibid.

50

Ibid.

48

11. Die Kausalitätsproblematik im Lederspray-Fall

127

so daß B nicht hätte löschen können, dann steht damit zugleich fest, daß es A nicht geboten war, das Wasser in den Schlauch zu senden"51 Der BGH, so meint Samson, müßte diesen Fall nach seinen Ausführungen im Erdal-Urteil anders lösen: Kausal wären sowohl das Unterlassen des A am Hydranten als auch der Defekt an der Spritze. Samson räumt allerdings selbst ein, daß es im Erdal-Fall den (jeweils) anderen Geschäftsführern nicht unmöglich gewesen wäre, gemeinsam die gebotene Handlung vorzunehmen, d.h. einen Vertriebsstopp zu verfügen. Schon insofern hinkt der Vergleich also. Hinzu kommt, daß in Samsons Beispielsfall die Feststellung der gebotenen Handlung angesprochen wird und nur indirekt das Problem der Kausalität (zwischen der Nichtvornahme der gebotenen Handlung und dem Eintritt des Erfolges). Welche Handlung im konkreten Einzelfall geboten ist, ist grundsätzlich vor der eigentlichen Kausalitätsprüfung zu untersuchen, wenngleich zuzugeben ist, daß auch in die Feststellung der gebotenen Handlung Kausalitätsgesichtspunkte einfließen.52 Wenn der Mitgarant im Beispielsfall lediglich unwillig zur Vornahme der Rettungshandlung war - etwa wenn B die Spritze weglegt, um sich am Feuer zu erfreuen -, soll Samson zufolge allein dieser haften. Dies soll offenbar selbst dann gelten, wenn der andere Garant - hier also A - noch auf den Mitgaranten einwirken kann: Wenn B "unwillig war, seine Pflicht zu tun und A dies erkannt hat, war nicht A geboten, irgendetwas faktisch aussichtsloses zu unternehmen, sondern B hat durch sein Verhalten bewirkt, daß ihm selbst die Rettungsmöglichkeiten fehlten. Er hat sich selbst rettungsunfähig gemacht und dadurch das Unterlassu~sdelikt erfüllt. Für Bs strafrechtliche Haftung ist es aber gleichgültig, ob er die faktische Rettungsmöglichkeit (durch Beschädigung der Spritze) beseitigt oder durch die Demonstration seiner Rettungsunwilligkeit die Resignation von A bewirkt hat. "53 Dieser Gedanke überzeugt nicht. Wenn A noch eine Chance hatte, auf B einzuwirken und diesen umzustimmen, dies aber unterläßt, so kommt eine strafrechtliche Haftung des A sehr wohl in Betracht. Dies ergibt sich schon aus einer Anwendung der allgemeinen Kausalitätsregeln bei den Unterlassungsdelikten. Erst recht zweifelhaft ist Samsons Vorschlag, bei B ein aktives Vereiteln der Erfolgsverhinderung (etwa durch Zerstörung der Spritze) der offensichtlich gleichfalls als aktives Tun verstandenen - "Demonstration von Rettungsunwilligkeit" (wegen der dadurch bewirkten Resignation bei A)

5\

Ibid.

52

Siehe oben S. 108.

53

StV 1991, S. 185.

128

H. Kausalität und objektive Zurechnung

gleichzustellen und A deshalb straffrei ausgehen zu lassen. Eine Täterschaft durch "Erzeugen von Resignation" erscheint mir sehr weit hergeholt, von den unüberwindlichen Beweisschwierigkeiten54 gar nicht zu sprechen. Nur in ganz außergewöhnlichen Fällen dürften psychisch wirkende Faktoren so schwer wiegen, daß man ihre Auswirkungen einer physischen Unmöglichkeit zur Ausführung der gebotenen Handlung gleichstellen kann. In Betracht kommen hier vor allem solche Fälle, die üblicherweise unter der Rubrik "Unzumutbarkeit" diskutiert werden. 55 Der Versuch Samsons, im Lederspray-Fall darauf abzustellen, ob und gegebenenfalls welche Geschäftsführer Resignation verbreitet und so (durch aktives 1\m) die anderen Verantwortlichen rettungsunfähig gemacht haben, ist deshalb nicht überzeugend. Dasselbe gilt für Samsons Kritik am Lösungsweg des BGH insgesamt. Das Gericht hat sich bei seiner Prüfung der Kausalitätsbeziehungen durchaus im Rahmen der bewährten strafrechtlichen Dogmatik gehalten. Samson ist zwar zuzugestehen, daß die Ausführungen des Gerichts zur Kausalität unterlassener Kollektiventscheidungen durchaus noch präzisierungsfähig sind. Auch die Strafrechtswissenschaft hat hier noch einiges nachzuholen. Keinesfalls kann dem BGH aber der Vorwurf gemacht werden, die strafrechtliche Dogmatik "verbogen" zu haben, um Pönalisierungsbedürfnisse zu befriedigen. III. Exkurs: Die Lehre von der objektiven Zurechnung und die strafrechtliche Produzentenhaftung Zur Lehre von der objektiven Zurechnung, insbesondere der Risikoerhöhungslehre56 , nimmt der BGH weder im Contergan-Einstellungsbeschluß noch in der Lederspray-Entscheidung Stellung. Dies steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts. 57 Demgegenüber gewinnt in der Literatur die Lehre von der objektiven Zurechnung immer mehr Anhänger. Um einem Menschen einen bestimmten Erfolg als eigene Tat zuzurechnen, so wird argumentiert, reiche es nicht aus, daß der Erfolg kausal auf ein Tun oder ein Unterlassen des möglichen Täters zurückgeführt werden könne. Nötig sei vielmehr ein engerer Zusammenhang.

54 55 56 57

Die auch Samson, a.a.o., S. 185 feinräumt. Vgl. Haft, AT, 7. Teil § 3 Nr. 2d. Zu ihr jetzt zusammenfassend Roxin, AT 1, 11/72 - 11/84. Vgl. aber immerhin OLG Karlsruhe, JR 1985, S. 479 tf mit Anm. Kindhäuser.

III. Exkurs: Objektive Zurechnung und strafrechtliche Produzentenhaftung

129

Es ist allgemein anerkannt, daß die Äquivalenztheorie allein diesen Zusammenhang nicht zu begründen vermag; dazu ist sie viel zu weit. 58 Die überwiegende Lehre will die hier erforderlichen Einschränkungen aber nicht, wie die Rechtsprechung es tut,59 auf der Ebene der Schuld im Rahmen der Prüfung von Vorsatz und Fahrlässigkeit vornehmen - ein Weg, der allerdings durchaus zu überzeugenden Ergebnissen führt - sondern versucht, der Weite der Äquivalenztheorie durch die Lehre von der objektiven Zurechnung Herr zu werden. 60 Der Grundgedanke dieser Lehre lautet: Ein im Sinn der Äquivalenztheorie verursachter Erfolg ist nur dann objektiv zurechenbar, wenn die Handlung eine rechtlich verbotene Gefährdung des geschützten Handlungsobjekts geschaffen und die Gefahr sich in dem tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht hat. 61 Eine Präzisierung dieser Formel, die für alle Fälle zu einer konsensfähigen Lösung führt, steht allerdings noch aus; die h. L. behilft sich mit Fallgruppen62 , die im Detail viele Fragen offenlassen. Besonders umstritten ist die objektive Zurechnung auf dem Gebiet der Fahrlässigkeitsdelikte. Auch hier wird für die Zurechnung des Handlungserfolgs der bloße Kausalzusammenhang i. S. d. Äquivalenztheorie als nicht ausreichend betrachtet und verlangt, daß sich der Erfolg gerade aus der Sorgfaltspflichtverletzung ergeben habe (Pflichtwidrigkeitszusammenhangli3). Wie bei den Vorsatzdelikten sind allerdings auch im Fahrlässigkeitsbereich die Details umstritten. Die Rechtsprechung siedelt das Problem - terminologisch ungenau - bei der Kausalitätsprüfung an und erklärt, eine Handlung sei dann "im Rechtssinne" nicht ursächlich, wenn der gleiche Erfolg auch bei Berücksichtigung der erforderlichen Sorgfalt eingetreten wäre. 64

Im Schrifttum dagegen wird eine kaum noch übersehbare Vielzahl von Positionen vertreten,65 die sich aber im wesentlichen in zwei Grundpositionen unterteilen lassen: Die eine Ansicht - es dürfte wohl immer noch die

Vgl. nur Jescheck, AT, S. 255. Vgl. etwa RGSt 61, 320; BGHSt 4, 182; 12, 75 (78); ebenso Baumann/Weber, AT, S. 232; E. Schlüchter: Grundfalle zur Lehre von der Kausalität, JuS 1976, S. 314,519. 60 Die Bemühungen, den Haftungszusammenhang über die sog. nAdäquanztheorie" oder die nRelevanztheorie" einzuschränken, lasse ich hier außer Betracht, vgl. dazu Jescheck, AT, S. 256 f m. w. N. 61 So Jescheck, AT, S. 257 f; vgl. die Nachweise dort Fn 41. 62 Vgl. insbesondere Jescheck, AT, S. 258. 63 Vgl. dazu WesseIs, AT, § 15 Il 4, 6, 7 sowie § 6 Il 2 (Vorsatztaten) und § 16 Il 3 (Unterlassungstaten) . 64 Vgl. z. B. BGHSt 11, 1; 21,59; OLG Karlsruhe JR 1985,479 mit Anm. Kindhäuser. 6S Überblick bei Jescheck, AT, S. 527 - 529; WesseIs, AT, § 15 Il 6. 58

59

9 HilseDdorf

130

H. Kausalität und objektive Zurechnung

herrschende sein - will die Zurechnung dann bejahen, wenn der Erfolg bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre (sog. Vermeidbarkeitstheorie).66 Im Unterschied zur Rechtsprechung soll nach dieser Ansicht die Vermeidbarkeitsprüfung also nicht im Rahmen einer weit verstandenen Kausalität geprüft werden, sondern in einer eigenständigen Kategorie der "objektiven Zurechnung". Nach der von Claus Roxin67 begründeten Risikoerhöhungslehre soll es hingegen ausreichen, daß eine Sorgfaltspflichtverletzung das Risiko des Erfolgseintritts über die Schwelle des erlaubten Risikos hinaus erhöht hat. 68 Mit Hilfe der Risikoerhöhungslehre lassen sich zahlreiche Fälle überzeugend lösen. 69 Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß die Risikoerhöhungslehre den Grundsatz "in dubio pro reo" bedeutend einschränkt. Zudem wird gegen sie eingewandt, daß sie die Verletzungsdelikte contra legern in konkrete Gefährdungsdelikte umdeute. 7o Hinzu kommt die beträchtliche Vagheit der Begriffe "Gefahr" bzw. "Risiko" und die Schwierigkeit, den Grad einer möglichen Risikoerhöhung präzis zu bestimmen.

66 So z. B. Bockelmannl Volk, AT, S. 162; LK-Schroeder, § 16 Rz 189 f; WeIzeI, Lehrbuch, S. 136; WesseIs, AT, § 15 11 6. Ebenso im Ergebnis, wenngleich mit anderer Veronung der Problematik, auch die Rechtsprechung: BGHSt 11, 1 (7); 21, 59 (61); 24, 31 (34); OLG Hamm DAR 1963, S. 245; OLG Stuttgart DAR 1963, S. 335; OLG Karlsruhe GA 1970, S. 313. 67 Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten. In: ZStW 74 (1962), S. 411 444. 68 Dazu ausführlich M. Burgstaller: Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in Verkehrssachen. Wien 1974 (Wiener rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 14), S. 139 ff; I. Puppe: Zurechnungsprobleme und Wahrscheinlichkeit. Zur Analyse des Risikoerhöhungsprinzips. In: ZStW 95 (1983), S. 293 315; dies.: Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten. In: ZStW 99 (1987), S. 595 - 616 (602); B. Schünemann: Moderne Tendenzen in der Dogmatik der Fahrlässigkeitsdelikte. In: JA 1975, S. 647 - 656; G. Stratenwenh: Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung. In: Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973. Hg. von K. Lackner u.a., Berlin/New York 1973, S. 227 - 239 (239); weitere Nachweise bei Jescheck, AT, S. 528 f; WesseIs, § 6 11 3 a.E. 69 Vgl. das an BGHSt 17, 359 f angelehnte Beispiel bei C. Roxin 1B. Schünemann 1B. Haffke: Strafrechtliche Klausurenlehre mit Fallrepetitorium. 4. Aufl., Köln u.a. 1982, S. 133 - 147. 70 Baumann 1Weber, AT, S. 273 f. VgJ. ferner F. Dencker: Der praktische Fall. Strafrecht: Die erfolgreiche Fahrerflucht. In: JuS 1980, S. 210 - 214 (212); U. Eben, K. Kühl: Kausalität und objektive Zurechnung. In: Jura 1979, S. 561 - 576 (572); Jakobs, AT, 7/98 ff; Maurach/Gössel/Zipf, AT, TBd. 2, § 43 Rz 104. Weitere Nachweise bei WesseIs, AT, § 6 11 3 a.E.

III. Exkurs: Objektive Zurechnung und strafrechtliche Produzentenhaftung

131

Es fragt sich nun, ob sich die strafrechtlichen Produkthaftungsfälle mit Hilfe der derzeit diskutierten Modelle zur objektiven Zurechnung befriedigend lösen lassen. Schmidt-Salzer spricht die Frage der objektiven Zurechenbarkeit allerdings gar nicht an und beschränkt sich auf Probleme der Kausalität.71 Goll 72 dagegen bekennt sich zur Lehre von der objektiven Zurechnung und diskutiert sie in zahlreichen Fallgruppen. So soll dann, wenn der Produktbenutzer vom Hersteller stammende Warnhinweise nicht berücksichtigt hat oder das Produkt weiterbenutzt, obwohl er von einer Rückrufaktion erfahren hat, eine Verantwortlichkeit des Herstellers entfallen. Goll beruft sich dabei auf den Grundsatz der Selbstverantwortung, wonach "derjenige, der sich in Kenntnis des Risikos eigenverantwortlich in eine Gefahrensituation begibt, auch die daraus resultierenden Schäden hinzunehmen hat. ,,73 Auch in den Fällen, in denen das Produkt trotz Warnhinweisen oder einer Rückrufaktion weiterbenutzt wird, der Schaden aber nicht beim Produktbenutzer selbst, sondern bei einem Dritten auftritt, plädiert Goll für Straflosigkeit, da sich in dem Erfolg "nicht mehr das ursprüngliche, im pflichtwidrigen Verhalten des Herstellers liegende Risiko" verwirklicht habe. 74 Die Verantwortlichen im Unternehmen dürften grundsätzlich darauf vertrauen, daß Warnhinweise oder Rückrufaktionen auch befolgt würden. Andere Fälle glaubt Goll mit der Figur des erlaubten Risikos lösen zu können. 75 Wird etwa nur ein besonders qualifizierter Typ eines Produkts mit gewissen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet - etwa Airbag, Gurtstraffer oder ABS für bestimmte Fahrzeugtypen - so wird eine an sich mögliche Maßnahme der Gefahrenverringerung nur für einen Teil der Produkte durchgeführt. Bei Schäden, die kausal auf das Fehlen derartiger Sicherungsvorkehrungen zurückzuführen sind, will Goll trotzdem eine Zurechnung verneinen, "da das Verhalten des Herstellers im Rahmen des erlaubten, weil sozialadäquaten Risikos lag. "76 Verneint wird die Zurechnung von ihm auch dann, wenn "die für das Produkt verantwortlichen Personen nach allgemeiner Lebenserfahrung mit einem derartigen Erfolgseintritt nicht zu rechnen" Produkthaftung Band 1, S. 279 - 302. Strafrechtliche Produktverantwortung. In: F. Graf von Westphalen (Hg.): Produkthaftungshandbuch. Bd. 1. München 1989, S. 597 - 645. 73 Strafrechtliche Produktverantwortung, § 45 Rz 46. 71

72

74

Strafrechtliche Produktverantwortung, § 45 Rz 47.

Das erlaubte Risiko wird hier also auf der Ebene der Zurechnung verortet. Zu anderen Möglichkeiten vgl. oben S. 92. 76 Strafrechtliche Produktverantwortung, § 45 Rz 48. 7S

132

H. Kausalität und objektive Zurechnung

brauchten. Goll spricht von der "Ausscheidung völlig atypischer Geschehensabläufe "77, vor allem in den Fällen eines "eklatanten Produktmißbrauchs " .78 Eine Zurechnung will Goll hingegen bejahen, wenn infolge einer zu geringen Zahl von Stichprobenkontrollen bei der Produktion die Gefahr eines Schadenseintritts erhöht wird. Ausschlaggebend soll hier der Gedanke der Risikoerhöhung sein.79 Es fällt auf, daß Goll bei seiner Diskussion der objektiven Zurechenbarkeit in strafrechtlichen Produkthaftungsfällen nahezu alle Topoi verwendet, die auch in der Dogmatik diskutiert werden, so den Gedanken der Risikoverwirklichung, das Selbstverantwortungsprinzip, den Vertrauensgrundsatz, die Figur des erlaubten Risikos, den Gedanken der Adäquanz sowie die Risikoerhöhungslehre. Er verzichtet dagegen darauf, die Fälle unter einem einheitlichen Gesichtspunkt - etwa dem der Risikoerhöhung - zu behandeln. Angesichts der Zerstrittenheit in der Dogmatik ist diese Zurückhaltung nicht nur verständlich, sondern sogar legitim. Andererseits gerät die topische Argumentationsweise Golls in den Verdacht, aus dem Rechtsgefühl heraus gelöste Fälle erst nachträglich mit einem Begründungstopos zu versehen, so daß seiner Vorgehensweise insgesamt eine gewisse Beliebigkeit anzuhängen scheint. So könnte man in jenen Fällen, in denen sich eine Person eigenverantwortlich in eine Gefahrensituation begibt, ebensogut mit dem Topos "Schutzzweck der Norm" argumentieren. Dasselbe gilt für die Fälle eines eklatanten Produktmißbrauchs. Die Grenze zwischen den Fällen eines erlaubten, weil sozialadäquaten Risikos und einer rechtlich unzulässigen Risikoerhöhung ist weitgehend offen. Fraglich ist ferner, wie zu verfahren ist, wenn der Selbstverantwortungsgrundsatz und der Gedanke der unzulässigen Risikoerhöhung kollidieren, etwa dann, wenn sich in Fällen mangelhafter Produktkontrolle das Fehlen ausreichender Stichproben herumspricht und der Konsument sich sehenden Auges in die Gefahrensituation begibt. Diese Fragen und offenen Probleme bestätigen den Befund, daß die Lehre von der objektiven Zurechnung derzeit noch nicht in der Lage ist, wirklich stringente und intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien für ihre Lösungsvorschläge anzubieten. 80 Die Formeln von der "Schaffung einer rechtlich mißbilligten Gefahr" und der "Verwirklichung dieser Gefahr im konkreten Er-

n Strafrechtliche Produktverantwortung, § 45 Rz 51. Er verweist auf das "Sniffing-Urteil" des BGH in NJW 1981, S. 2514. 79 Strafrechtliche Produktverantwortung, § 45 Rz 49, 50. 80 So auch BaumannIWeber, AT, S. 231.

78

III. Exkurs: Objektive Zurechnung und strafrechtliche Produzentenhaftung

133

folg"Sl sind viel zu vage, um mehr zu bieten als bloß eine Darstellungsmethode für ein auf andere Weise gefundenes Ergebnis. Vorzugswürdig erscheint mir deshalb trotz gewisser Bedenkens2 vorläufig noch der Weg der Rechtsprechung, die erforderliche Einschränkung der Zurechnung über Vorsatz und Fahrlässigkeit zu erreichen.

81

82

Vgl. auch die zusammenfassende Formulierung bei Jescheck, AT, S. 258. Dazu etwa Haft, AT, 3. Teil § 6 Nr. 3; Roxin, AT 1, 11/36f.

I. Die GarantensteIlung Für die unechten Unterlassu~sdelikte ist kennzeichnend, daß einem Handlungsfahigen nicht jede kausal durch sein Unterlassen bewirkte Rechtsgutsverletzung vorgeworfen werden kann. Es bedarf vielmehr eines besonderen Rechtsgrundes dafür, daß die Gemeinschaft dem Einzelnen die Pflicht auferlegt, zum Schutz eines fremden Rechtsgutes tätig zu werden. 1 Als Entstehungsgrund derartiger Rechtspflichten waren früher Gesetz, Vertrag, vorangegangenes gefährdendes Tun und enge Lebensbeziehungen anerkannt (formelle Rechtspflichtenlehre). Heute werden die Garantenpflichten nach materiellen Gesichtspunkten eingeteilt und Obhuts- sowie Sicherungspflichten unterschieden. 2 Unter Obhutspflichten sind dabei Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter zu verstehen, die sich aus besonderen Rechtssätzen, aus rechtlich fundierten Verhältnissen enger natürlicher Verbundenheit, aus sonstigen engen Lebens- und Gefahrgemeinschaften, aus der freiwilligen Übernahme von Schutz- und Beistandspflichten sowie, nach einer vordringenden Ansicht, aus einer Stellung als Amtsträger ergeben können. 3 Grundgedanke der für die Fälle einer strafrechtlichen Produzentenhaftung wichtigeren Sicherungspflichten ist hingegen die Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen. Auch hier werden verschiedene Fallgruppen unterschieden: Garantenpflicht aus vorangegangenem gefährdendem Tun (Ingerenz) , Garantenhaftung aus der Pflicht zur BeaufSichtigung Dritter sowie die Garantenhaftung aus der (auch zivilrechtlieh relevanten) Verkehrssicherungspflicht infolge einer Verantwortlichkeit für bestimmte Gefahrenquellen. 4

I Vgl. Jakobs, AT, 29/26; ausführlich 1. Welp: Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung. Berlin 1968 (Schriften zum Strafrecht, Bd. 9), S. 25 tf. 2 So zuerst Arm. Kaufmann, Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 283 tf. Für einen Überblick über den heutigen Meinungsstreit vgl. Jescheck, AT, S. 561 - 568 m. w. N. 3 Vgl. Wesseis, AT, § 16 II 5 d und ausführlich M. Schultz: Amtswalterunterlassen. Berlin 1984 (Strafrechtliche Abhandlungen N.F. Bd. 52); vgl. auch BGH JZ 1986, S. 967; OLG Frankfurt JR 1988, S. 168. 4 So etwa Sch/Sch-Stree, § 13 Rz 12f.

I. Der Argumentationsgang des Bundesgerichtshofes im Lederspray-Fall

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I. Der Argumentationsgang des Bundesgerichtshofes im Lederspray-FaU

Weder im Contergan-Fall noch im Monza-Steel-Verfahren wurde die Frage nach der besonderen PflichtensteIlung der Verantwortlichen aktuell. Im Lederspray-Verfahren hingegen hatte das LG Mainz als Vorinstanz eine SicherungsgarantensteIlung aus der zivilrechtlichen Verkehrssicherungspflicht hergeleitet und sich dabei ausdrücklich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur zivilrechtlichen ProduzentenhaftungS gestützt. 6 Der Bundesgerichtshof ist der Ansicht, daß in der Tat manches dafür spräche, die im Rahmen der zivilrechtlichen Produzentenhaftung entwickelten Grundsätze auch zur Begründung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit heranzuziehen. Dies dürfe jedoch angesichts der zivilrechtlichen Orientierung am Schadensersatz - und nicht an der Strafe - keinesfalls "unbesehen" geschehen. 7 Das Gericht läßt die Frage aber letztlich offen, weil es eine Garantenstellung auch ohne Rekurs auf die Verkehrssicherungspflicht aus dem Begründungstopos "vorangegangenes pflichtwidriges Gefährdungsverhalten " (Ingerenz) herleiten zu können glaubt. Grundsätzlich hat derjenige, der durch sein Handeln oder durch pflichtwidriges Unterlassen8 eine Gefahr für den Eintritt schädlicher Erfolge geschaffen hat, die Rechtspflicht, die drohenden Schäden zu verhindern. Es handelt sich um eine Ausprägung des "neminemlaede" - Prinzips, die in der Rechtsprechung und Literatur schon lange anerkannt ist. 9 Umstritten ist allerdings, welche Qualität das Vorverhalten haben muß. Während nach einer Meinung auch ein rechtmäßiges oder verkehrsgerechtes Vorverhalten eine GarantensteIlung aus Ingerenz begründen kann,1O verlangt die bislang h. M. ein pflichtwidriges gefahrdendes Vorverhalten und läßt bei gerechtfertigtem Vorverhalten allein eine Hilfspflicht aus § 323 c entstehen. 11 Dem hat sich der BGH in seiner neueren Rechtsprechung angeschlossen. 12.

5 Z. B. BGHZ 51,91 (Hühnerpest), BGHZ 104, 323 (Sprudelftasche). Ausführlich oben Kapitel E. 6 Vgl. NJW 1990, S. 2562. 7 Ibid.

RGSt 68, 104. Vgl. statt aller Sch/Sch-Stree, § 13 Rz 32 mit umfassenden Nachweisen. 10 Baumann/Weber, AT, S. 248; Maurach/Gössel/Zipf, AT, Tbd. 2, § 46 Rz 99 f. 11 LK-Jescheck, § 13 Rz 33; Sch/Sch-Stree, § 13 Rz 35; SK-Rudolphi, § 13 Rz 39 ff; differenzierend WesseIs, AT, § 16 11 6 m. w. N. 12 BGHSt 23, 327; 25, 218; zurückhaltender BGHSt 26, 35; vgl. ferner OLG Stuttgart 8

9

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I. Die GarantensteIlung

Auch im Lederspray-Verfahren scheint der Bundesgerichtshof auf den ersten Blick dieser neuen Linie folgen zu wollen. 13 Das Gericht akzeptiert dabei die in der jüngeren Lehre entwickelten Einschränkungen des Ingerenzgedankens: 14 Zum einen muß das vorangegangene Thn nicht bloß irgendeine, sondern eine nahe Gefahr des SchadenseintritlS herbeigeführt haben (Adäquanz). Zum anderen fordert der BGH einen Pftichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Normverletzung und dem Erfolg: die Pftichtwidrigkeit muß in der Verletzung einer Norm bestehen, die gerade auch dem Schutz des konkret betroffenen Rechtsgutes dient. 15 Schließlich muß das Vorverhalten tatsächlich pftichtwidrig sein; ein rechtmäßiges oder verkehrsgerechtes Vorverhalten begründet grundSätzlich keine Garantenstellung. 16 Diese Voraussetzungen sah der BGH im Lederspray-Fall als gegeben an. Das gefahrbegründende Vorverhalten des Angeklagten bestand nach Ansicht des Gerichts darin, "daß sie als Geschäftsführer der beteiligten Gesellschafter Ledersprays auf den Markt brachten, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch gesundheitliche Schäden bei den Benutzern zu verursachen drohten." 17 Auch die objektive Pftichtwidrigkeit dieses gefahrbegründenden Vorverhaltens glaubt der BGH bejahen zu können. Er bringt dafür zwei Argumente vor: Zum einen sei die objektive Pftichtwidrigkeit bereits deshalb gegeben, weil es die Rechtsordnung grundsätzlich verbiete, Gefahren zu schaffen, die sich bei ungehindertem Fortgang zu Körperschäden Dritter entwickeln würden. Die rechtliche Grundlage hierfür sieht das Gericht im grundrechtlich verankerten Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Zum anderen beruhe die objektive Pftichtwidrigkeit in einem Verstoß gegen § 30 N r. 2 LMBG, da es sich bei den Ledersprays um Bedarfsgegenstände i.S.v. § 5 Nr. 7a und b des LMBG handele. Die objektive Pftichtwidrigkeit des Vorverhaltens, so der BGH, entfalle auch nicht unter dem Gesichtspunkt des erlaubten Risikos. Dies hält das

NJW 1981, S. 2369. Anders noch RGSt 46, 343. 13 BGH NJW 1990, S. 2563. 14 Zusammenfassend Jescheck, AT, S. 565. 15 So auch Sch/Sch-Stree, § 13 Rz 35a. Anders dagegen noch RGSt 51,9 (12); BHGSt 3, 203 (205); BGHSt 17, 321 (323). 16 Vgl. auch schon BGHSt 23, 327 (Verletzung eines Angreifers in Notwehr); BGHSt 25, 218 (Schädigung eines anderen Verkehrsteilnehmers trotz verkehrsgerechter Fahrweise). 17 NJW 1990, S. 2563.

11. Die Kritik Kuhlens

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Gericht lediglich bei sogenannten "Ausreißern" für möglich, welche, "weil sie selbst bei der Fabrikation generell einwandfreier Massenerzeugnisse nicht ausnahmslos zu vermeiden sind, unter Umständen keine strafrechtliche Haftung begründen." 18 Auf die persönliche Vorwertbarkeit des pflichtwidrigen Vorverhaltens komme es dagegen nicht an. 11. Die Kritik Kuhlens Diese Ausführungen des BGH sind bei Lothar Kuhlen auf energischen Widerspruch gestoßen. 19 Kuhlen ist zwar mit dem Gericht der Auffassung, daß aus der Bedingung pflichtwidrigen Vorverhaltens nicht ohne weiteres das Erfordernis schuldhaften Vorverhaltens folge. Er meint aber, der BGH habe selbst das Erfordernis eines pflichtwidrigen Vorverhaltens der Sache nach fallengelassen, indem das Gericht "auf den rechtlich mißbilligten Gefahrdungserfolg abstellt" und die "objektive Pflichtwidrigkeit des Inverkehrbringens aus der ex post festgestellten Gefahrlichkeit der in Verkehr gebrachten Produkte herleitet".2O Eine so verstandene objektive Pflichtwidrigkeit, so argumentiert Kuhlen, sei "im wesentlichen im ohnehin unstrittigen Erfordernis der (ex post zu beurteilenden) Gefahrschaffung enthalten und fügt diesem allenfalls hinzu, daß die hervorgerufene Gefahr (ex post betrachtet) außerhalb des erlaubten Risikos liegen muß." Demgegenüber, so meint Kuhlen, werde mit dem Erfordernis pflichtwidrigen Vorverhaltens in der Strafrechts dogmatik üblicherweise eine ex ante mißbilligte Risikoschaffung gefordert. Kuhlen verweist dabei auf Rudolphi21 , Ranft22, Stree23 und Wessels24. Dies ergebe sich auch daraus, daß heute in der Strafrechtswissenschaft die Lehre vom nur ex ante bestimmbaren Verhaltensunrecht herrsche. 25 Nach dieser Lehre ist es Aufgabe der Rechtspflichten, ihre Adressaten zu einem bestimm-

NJW 1990, S. 2563 unter Berufung auf Goll, Produktverantwortung, § 45 Rz 39. L. Kuhlen: Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefährdender Produkte. In: NStZ 1990, S. 566 - 570. 20 NStZ 1990, S. 568. 21 SK, § 13 Rz 39 a. 18

19

22 O. Ranft: Rechtsprechungsbericht zu den Unterlassungsdelikten - Teil 1. In: JZ 1987, S. 859 - 866.

23 24

Sch I Sch-Stree, § 13 Rz 35. AT, § 16 11 6 c.

2S Kuhlen NStZ 1990, S. 568 Fn 38 verweist dabei auf W. Frisch: Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges. Heidelberg 1988 (Mannheimer rechtswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 1), S. 34 ff.

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I. Die GarantensteIlung

ten Verhalten zu motivieren. Deshalb, so Kuhlen, könne "ein Verhalten nur dann (objektiv) pflichtwidrig sein, wenn es mit einer im Handlungszeitpunkt (objektiv) erkennbaren rechtlich mißbilligten Risikoschaffung verbunden ist. "26 Daraus folgert Kuhlen, "daß das Inverkehrbringen der Pflegesprays nur dann pflichtwidrig war, wenn sich bereits bei diesem Inverkehrbringen ihre Gefahrlichkeit erkennen ließ." Dies sei jedoch nur bei den Sprays der Fall gewesen, die nach dem 14.2. 1981 ausgeliefert worden seien. Den Feststellungen des Gerichts, so Kuhlen weiter, ließe sich nicht entnehmen, "daß in den Schadensfällen, hinsichtlich derer ein strafbares Unterlassen angenommen wurde, die schadensursächlichen Ledersprays nach diesem Zeitpunkt in Verkehr gebracht wurden. Damit ist davon auszugehen, daß ihr Inverkehrbringen nicht pflichtwidrig erfolgte.27 Indem der BGH gleichwohl eine GarantensteIlung aus Ingerenz bejahe, weiche er von dem Erfordernis eines pflichtwidrigen Vorverhaltens der Sache nach ab, ohne diese Rechtsprechungsänderung28 deutlich zu machen. 29 Ich halte die Kritik Kuhlens am BGH im Ergebnis für überzeugend. Ausgangspunkt der Analyse ist der Unterschied zwischen (objektiver) Pflichtwidrigkeit und dem (subjektiven) Erkennen dieser Pflichtwidrigkeit. Ersteres gehört zum Tatbestand, letzteres zur Schuld. Das Erfordernis pflichtwidrigen Vorverhaltens bei der Begründung einer GarantensteIlung aus Ingerenz ist so zu verstehen, daß es allein einen (objektiv festzustellenden) Pflichtenverstoß umfaßt. Ob der Täter sich des Verstoßes bewußt war, ist unwesentlich. Strukturell handelt es sich um eine ähnliche Situation wie bei der doppelten Fahrlässigkeitsprüfung. 30 Kuhlen hat also recht, wenn er schreibt, erforderlich sei eine "ex ante mißbilligte" bzw. eine "im Handlungszeitpunkt (objektiv) erkennbare [ ... ] rechtlich mißbilligte" RisikoschaffungY Objektive Erkennbarkeit der rechtlich mißbilligten Risikoschaffung ist keineswegs gleich-

26 27

NStZ 1990, S. 568. Ibid.

28 Die Kuhlen NStZ 1990, S. 568 schon in BGHSt 34, 82 vorgezeichnet sieht. Vgl. auch R. D. Herzberg: Die GarantensteIlung aus vorangegangenem Tun. In: JZ 1986, S. 986 992. 29 Vgl. auch Jakobs, AT, 29/42 Fn 93a, der gegen den BGH darauf hinweist, "die sich im Erfolg ex post zeigende Schadensneigung indizier[e) nicht notwendig ,objektiv pflichtwidriges' Verhalten."

30 Vgl. Jescheck, AT, S. 573; SK-Rudolphi, § 13 Rz 39a; vgl. auch W. GalIas: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der am Bau Beteiligten unter besonderer Berücksichtigung des "verantwortlichen Bauleiters". Heidelberg 1963, S. 32 ff. 31 NStZ 1990, S. 568.

11. Die Kritik Kuhlens

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zusetzen mit (subjektiver) Erkenntnis seitens des Täters. Um eine GarantensteIlung aus Ingerenz zu begründen, muß das Vorverhalten gegen eine Rechtspflicht32 verstoßen (wobei eine rechtlich relevante Sorgfaltspflicht genügt); auf das subjektive Erkennen diese Verstoßes kommt es nicht an. Als derartige Rechtspflichten nennt der BGH zum einen die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleitete Norm, niemanden körperlich zu schädigen, zum anderen die in § 30 Nr. 2 LMBG statuierte Pflicht, keine gefährlichen Lebensmitteloder BedarlSgegenstände auf den Markt zu bringen. Gegen diese Pflichten verstießen die beteiligten Firmen, wie der BGH feststellt, bereits mit dem Inverkehrbringen der Sprays, also auch schon vor dem 14.2.1981, obgleich für sie der Verstoß erst ab diesem Zeitpunkt erkennbar war. Insoweit kann dem BGH gefolgt werden. In dem Argumentationsgang des BGH taucht jedoch nicht auf, daß der Ausdruck "objektiv pflichtwidrig" in zwei verschiedenen Weisen verstanden werden kann. Zum einen kann man die objektive Pflichtwidrigkeit allein in der Gefahrschaffung sehen, ohne daß es darauf ankommt, ob irgendjemand die Erzeugung der Gefahr wahrzunehmen vermag (ein auch nur fahrlässiges Verhalten kommt also bei dieser Fallgruppe nicht in Betracht). Zum anderen läßt sich der Ausdruck "objektive Pflichtwidrigkeit" aber auch so auslegen, daß es der Erkennbarkeit der (nicht mehr durch das erlaubte Risiko gerechtfertigten) Gefahrschaffung bedarf. 33 Der BGH entscheidet sich vorliegend offensichtlich für die Auslegungsvariante, nach der es allein auf die Gefahrschaffung ankommt. Die "objektive Pflichtwidrigkeit" wurde von der Rechtsdogmatik aber bislang allgemein im zweiten Sinne verstanden. So spricht etwa Stree ausdrücklich von der "Mißachtung" einer Sorgfaltsvorschrift. 34 Dafür bestehen auch gute Gründe: Stellt man allein auf die Gefahrschaffung ab, so wird die GarantensteIlung aus Ingerenz stark ausgeweitet. Das Merkmal der "Pflichtwidrigkeit" des Vorverhaltens wird neben dem Merkmal der Gefahrschaffung weitgehend überflüssig. 35 Der Unterschied zu der Begründung einer GarantensteIlung

32

Es sei denn, man folgt der in Kap. I Fn 10 angegebenden Meinung.

Dabei kommt es nicht darauf an, daß gerade der Täter die mißbilligte Gefahrschaffung erkennen konnte (subjektive Fahrlässigkeit); es genügt, daß ein aufmerksamer und gewissenhafter Beobachter die Gefahrschaffung hätte erkennen und vermeiden können (objektive Fahrlässigkeit) . 33

Sch / Sch-Stree, § 13 Rz 35a. Es sei denn, wie Kuhlen, NStZ 1990, S. 568 hervorhebt, man interpretiert die Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens als eine Gefahrschaffung, die über das erlaubte Risiko hinausgeht. 34 35

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I. Die GarantensteIlung

schon aus rechtmäßigem (aber gefahrbringendem) Vorverhalten, wie es eine gewichtige Ansicht in der Literatur ja tatsächlich vertrite6 , verschwimmt. Indern der BGH von der "Mißbilligung des Gefährdungserfolges" spricht, schafft er eine zusätzliche Unklarheit, weil nicht deutlich wird, ob als "Gefährdungserfolg" die Gefährdung selbse7 oder die Realisation der Gefährdung im eingetretenen Verletzungserfolg bezeichnet wird. Vor allem in Versuchsfällen führen die genannten Varianten zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Der BGH rückt also in der Tat von dem Ingerenzerfordernis eines pflichtwidrigen Vorverhaltens der Sache nach ab, ohne diesen Wechsel deutlich zu machen. Er belastet seine Position außerdem mit zusätzlichen Unschärren, indern er nicht hinreichend zwischen bloß gefährlichem Vorverhalten und solchem Vorverhalten unterscheidet, dessen Gefährlichkeit sich bereits in einern Rechtsgutsschaden verwirklicht hat. Kuhlen ist allerdings der Meinung, daß die Unterlassu~sdogmatik ohnehin das Erfordernis eines pflichtwidrigen Vorverhaltens zur Begründung einer Garantenstellung aus Ingerenz aufgeben sollte. 38 Doch möchte auch er nicht jedes für eine Rechtsverletzung kausale Verhalten genügen lassen. Kuhlen präferiert vielmehr einen neuartigen Ansatz, nämlich eine "Eingrenzung der Ingerenz auf Fälle der Gefahrschaffung durch ein gegenüber dem alltäglichen Handeln gesteigert riskantes Vorverhalten" .39 Produktion und Inverkehrbringen von Gütern seien heute bereits "eine derart riskante Tätigkeit", daß sie "eine Garantenstellung von Hersteller und Vertreiber unabhängig davon auslöst[en], ob eine unangemessene Gefährlichkeit bestimmter Produkte schon bei deren Vertrieb erkennbar war oder nicht. 0