Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft: Risiko und Zeitorientierung in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen [1 ed.] 9783428478286, 9783428078288

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Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft: Risiko und Zeitorientierung in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen [1 ed.]
 9783428478286, 9783428078288

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PETRA HILLER

Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft

Soziologische Schriften Band 59

Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft Risiko und Zeitorientierung in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen

Von

Petra Hiller

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hiller, Petra: Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft : Risiko und Zeitorientierung in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen von Petra Hili er - Berlin : Duncker und H umblot, 1993 (Soziologische Schriften ; Bd. 59) Zug!.: Bielefeld, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07828-4 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-07828-4

Inhalt 1. Einleitung . ........ 00. 00. 000000000. . . 0000000000. 000000. 0. 000000.... 000000000000. 00000

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2. Theoretische Grundlagen 0.. 0000.. 0.. .. 0000.. 0.. 00000.. . .. 0.. .. 00.. .. . 0.. 0.. .. ....

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201 Risiko 0000 0000 00 000000000000

00 0000 000 00000 00000 00000. 00 00000 0000 00 000 0000

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202 Entscheidung 00000000. 00000000. 000000. 00000000000000000000000. 000000000000000000

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203 Zeit 000 00 00 00. 00000 000 0

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2.4 Organisation 0. 00000. 00. 000. 000. 000000000. 0000000. 0000000. 000000•. 0. 0000. 00000. 00

35

3. Der Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft .. .. 0...... .. ................ .. .. .. .. 0

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301 Die Zukunftsorientierung des Risikos .. .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. .. •.. .. .. .. • .. .. • ..

45

302 Die Vergangenheitsorientierung des Rechts .. 0.. .. ...... .. .. ... ..............

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4. Riskantes Entscheiden und Zeitorientierung in rechtlich programmierten Verwaltungsentscheidungen . 0. 00000. 00. 000.. 000. 000000000000000000000000000000000

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401 Folgenberücksichtigung 000. 00. 000000000. 0000. 000. 000000000000000000• 00000000000

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402 Verantwortungszuschreibungen .... 000.... 0. 00 0000.. 0...... 00 .. . 00... 0000.. .. 0

83

5. Rechtsförmige Risikosteuerung 00000•. 00000000.. 00. 000000. 0. 00• 00000000. 000000. 00 II 0 50 1 Risikodefinitionen im Recht .. .. .... .. 00 .. .. .. 00 .. . 00 ... ....... .... . .. 00 00 . 00 00

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502 Prozedura1isierung 00. 0000000. 00.• 0. 0000. 0000000. . 000000. 0000. 0000. 00000000. 0000 139

6. Schlußbetrachtung 00. • 0. . 000000. 00.• 00000.• 0000. 000. 0. 0000000. 00000.• 00000. • 0. 0000 163 Literatur 000000.. 000. 0. 0000• 000000• 00000. • 0. 00000000000000000. • 0. 00000. 000• 000000000000.

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1. Einleitung Die Soziologie ist gerade erst dabei, das "Risiko" zu entdecken. Insofern wäre es mehr als verfrüht, von einer "Risikosoziologie" als einem ausdifferenzierten Forschungsfeld zu sprechen. Jedenfalls könnte damit gegenwärtig nicht wesentlich mehr bezeichnet werden, als daß es um eine Beschreibung erwarteter Schäden geht. Vermutlich hat die verstärkte gesellschaftliche Thematisierung von Umwelt- und Gesundheitsschäden und die damit verbundene Moral- und Angstrhetorik die Soziologie darauf aufmerksam gemacht, daß Risiken, insbesondere Umweltrisiken, noch keine soziologisch eigenständige Bearbeitung erfahren haben. Allerdings hat sich auch im Zuge der öffentlichen Thematisierung von Umweltzerstörung keine spezielle "Umweltsoziologie" herausgebildet, 1 an die eine "Soziologie ökologischer Risiken" anschließen könnte. 2 "Umwelt" wird vornehmlich exemplarisch als Politikbereich untersucht, etwa in der Implementationsforschung. Anknüpfungspunkte für Risikofragestellungen bietet eher schon die Techniksoziologie, die zwnindest auf dem Gebiet technischer bzw. technisch induzierter Risiken Kompetenz vorweisen kann. Hier dürfte die höchste Publikationsdichte zum Thema Risiko zu verzeichnen sein, wozu nicht 1 So auch Frederick H. Buttel 1987: New Directions in Environmental Sociology. in: Annual Review of Sociology 13, der als Vertreter einer "Environmental Sociology" diese als Zusammenfassung verschiedenster Forschungsfelder beschreibt, die von sozialpsychologischer Einstellungsforschung über Risk Assessment bis zur Strukturanalyse von Umweltbewegungen reicht. Davon zu unterscheiden wiederum ist die Katastrophenforschung. die sich mit der sozialen Bewältigung spezifischer Gefahren beschäftigt. Siehe dazu Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky (Hg.) 1983: Einflihrung in die Soziologie der Katastrophen, Bonn; Wolf R. Dombrowsky 1988: Katastrophe und Katastrophenschutz. Eine soziologische Analyse, soz. Diss., Univ. Bielefeld ; Louise K. Comfon (Ed.) 1988: Managing Disaster. Strategies and Policy Perspectives, Durham-London.

2 Als Versuch und Kritik in Anlehnung an die Ökosystemforschung siehe Waller L. Bühl 1986: Soziologie und Systemökologie, in: Soziale Welt 37; Klaus P. Japp 1990: Komplexität und Kopplung. Zum Verhältnis von ökologischer Forschung und Risikosoziologie. in: Jost Halfmann/Klaus Peter Japp (Hg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen.

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I. Einleitung

zuletzt auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen im Rahmen der Kernenergiedebatte beigetragen haben. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die ersten Publikationen im Risikokontext sich mit technischen, insbesondere kerntechnischen Risiken befassen. 3 Diese Arbeiten, häufig finanziert von öffentlichen und privaten Auftraggebern, sind zum Teil stärker politikwissenschaftlich und auch sozialpsychologisch ausgerichtet, etwa wenn neben Fragen der Technikbewertung Probleme der Institutionalisierung von Konsensbildungsprozessen durch Partizipation in geregelten Entscheidungsverfahren oder des Zusammenhangs von Risikoperzeption und Risikoakzeptanz behandelt werden. 4 Daraus ergeben sich aber auch Fragestellungen für eine soziologische Perspektive, in der Unterschiede in der Risikoeinschätzung von Laien und Experten beschrieben werden können.5 Mittlerweile wird die Akzeptanzproblematik im Forschungsprogramm der Society for Risk Analysis unter dem Stichwort "Risikokommunikation" in unterschiedlichen disziplinären Kontexten bearbeitet, 6 wozu in der Bundesrepublik ein Forschungszusammenhang der Kernforschungsanlage Jülich zu rechnen ist.7 Auch das ingenieurwissenschaftliche Risk Assessment und die Technikfolgenforschung haben - nicht zuletzt aufgrund der Akzeptanzproblematik 3 Einen Überblick geben z. B. Jobst Conrad (Hg.) 1983: Gesellschaft, Technik und Risikopolitik, Berlin-Heidelberg-New York; Meinolf Dierkes/Sam Edwards/Rob Coppock (Eds .) 1980: Technological Risk. lts Perception and Handling in the European Community, Königstein/Ts. ; Richard C. Schwing/Walter A. Albers (Eds.) 1980: Societal Risk Assessment. How Safe is Safe Enough?, New York-London.

4 Vgl. Harry Otway/Kerry Thomas 1982: Reflections on Risk Perception and Policy, in: Risk Analysis 2; Paul Slovic/Baruch Fischhoff/Sarah Lichtenstein 1980: Facts and Fears: Understsnding Perceived Risk, in: Richard C. Schwing/Walter A. Albers (Eds.), Sodetal Risk Assessment. How Safe is Safe Enough?, New York-London. 5 Vgl. Helga Nowotny 1979: Kernenergie: Gefahr oder Notwendigkeit. Anatomie eines Konflikts, Frankfurt/M. ; Dorothy Nelkin/Michael Pollak 1980: Problems and Procedures in the Regulation of Technological Risk, in: Richard C. Schwing/Walter A. Albers (Eds.), Societal Risk Assessment. How Safe is Safe Enough?, New York-London. 6 Dazu Beiträge in fast jedem Heft der letzten Jahrgänge der Zeitschrift Risk Analysis, dem offiZiellen Publikationsorgan der Society for Risk Analysis. 7 Siehe das Forschungsprogramm der Programmgruppe ~Mensch, Umwelt, Technik", dokumentiert in: Helmut Jungermann/ Bemd Rohrmann/Peter M. Wiedernano (Hg.), 1990: RisikoKonzepte, Risiko-Konflikte, Risiko-Kommunikation. Monographien des Forschungszentrums Jülich Bd. 3, Jülich.

1. Einleitung

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einen gewissen Wandel erfahren. Zunächst eng an einem formalen quantitativen Risikobegriff orientiert, wurde Technikfolgenabschätzung in soziologischer Perspektive erweitert, etwa um Aspekte der Technikgenese und der sozialverträglichen Technikgestaltung. 8 Allein: eine soziologische Risikoforschung ist daraus nicht entstanden. Bei den vorliegenden Arbeiten handelt es sich zu einem großen Teil um Fallstudien ohne ausgeprägte Theoriepräferenz bei der Wahl des begrifflichen Instrumentariums (wie bei einem neuen Forschungsfeld nicht anders zu erwarten), mit dem Ziel der Unterbreitung konkreter "Verbesserungsvorschläge" von begrenzter Reichweite (wie bei Auftragsforschuns nicht anders zu erwarten). Wesentliche Anregungen zu einer soziologischen Befassung mit dem Risikophänomen hat die von Mary Douglas und Aaron Wildavsky vorgelegte Schrift "Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers" (1982) gegeben. Darüber hinaus hat sich Wildavsky an der politisierten Debatte "how safe is safe enough?" beteiligt, in deren Kontext 1988 sein Buch "Searching for Safety" erschienen ist. In der Bundesrepublik kann der große -

ebenfalls politisch zu lesende

Durchbruch wohl Ulrich Becks 1986 publizierter "Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne" zugeschrieben werden. Mit diesem Titel ist Beck nicht nur eine Begriffsprägung weit über die Soziologie hinaus gelungen, er hat sicherlich auch dazu beigetragen, Risiko zum Thema der Soziologie werden zu lassen. 9 Die vorliegende Arbeit versucht, die Risikoproblematik als Zeitproblematik zu sehen. Daß Risiko auf Zukunft verweist, kann als allgemeines Begriffsmerkmal schon der alltagssprachlichen Verwendung vorausgesetzt werden. Weitaus seltener wird dieser Zusammenhang in eine wissenschaftliche Konzeption gebracht, um einen theoretisch fundierten Risikobegriff zu gewinnen. 8 Vgl. Meinolf Dierkes 1989: Technikgenese in organisatorischen Kontexten. Neue Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Technikforschung, papers FS lJ 89-104 des Wissenschaftszentrums Berlin flir Sozialforschung, Berlin. 9 Die Resonanz, die dieses Buch erfahren hat, ist immens, wenn man die Anzahl der Rezensionen, der zu einzelnen Thesen verfaßten Aufsätze sowie die Zitationsdichte als Indikator nimmt.

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1. Einleitung

Fehlt eine theoretische Verortung, dann kommt eine soziologische Bearbeitung entweder über Falldarstellungen nicht hinaus oder es werden Konzeptionen anderer Disziplinen übernommen, ohne Anschluß an das eigene Fach zu halten. Das heißt, es können weder risikosoziologische Fragestellungen entwickelt noch kann eine entsprechende Theorie entworfen werden. Und vermutlich liegt gerade hier der Grund für das Forschungsdefizit und die Heterogenität des Forschungsfeldes zur Risikoproblematik: Es fehlt noch an den Voraussetzungen, an einem theoretischen Begriffsapparat, mit dem man Risikoprobleme überhaupt erst bezeichnen und von anderen Phänomenen (etwa der Erzeugung externer Effekte oder konterintuitiver Folgen) unterscheiden kann. Dies zeigt eine knappe Darstellung unterschiedlicher Verwendungen des Risikobegriffs in der soziologischen Literatur in Kapitel 2. Anschließend wird ein theoretisch geleiteter Risikobegriff präzisiert, der von der Prämisse ausgeht, daß Risiken sich nicht in vorfindbaren Gegenständen oder Schäden manifestieren (Waldsterben, Ozonloch), sondern auf Entscheidung zurechenbare Konstrukte sind. Soweit Schäden oder Nachteile nicht mehr auf Entscheidungen zurechenbar sind, handelt es sich nicht um Risiken, sondern um Belastungen. Doch das geht schon in die Problemanalyse und wird in den Kapiteln 2 und 4 behandelt. Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind Arbeiten von Nildas Luhmann, der mit seiner Unterscheidung von Risiko und Gefahr vorgeschlagen hat, Risiko als entscheidungsbezogenen Begriff zu konzipieren und die Differenz von Entscheidung und Betroffenheit als konstitutiv herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang erweist es sich als ertragreich, die zunächst

trivial erscheinende Feststellung, daß jede Entscheidung mit einem Risiko verbunden ist, radikal zu formulieren und auch begrifflich durchzuhalten. Diese Erkenntnis führt zu dem ebenso naheliegenden wie folgenreichen Schluß, daß Risiken im Entscheiden irreduzibel sind: Risiko verweist auf Risiko. Erstaunlicherweise wird in der Literatur diese Einsicht nicht selten zum Ausgangspunkt genommen, um sich dann aber daran zu machen, Vorschläge zu entwickeln, wie bestimmte Risiken vermieden werden können,

1. Einleitung

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ohne die Riskanz dieser Vorschläge selbst wieder in Rechnung zu stellen. 10 Nimmt man die Irreduzibilität des Risikos ernst, dann stellt man andere Fragen. Und dafür ist Theoriearbeit unerläßlich. 11 Jedenfalls ist von vornherein klar, daß es nicht um die Ausarbeitung von Reformvorschlägen gehen kann. Die vorliegende Arbeit soll nicht nur um eine begriffliche und theoretische Auseinandersetzung mit Risiko bemüht sein, sondern mit der Untersuchung von Risiko und Zeit in rechtsförmig programmierten Verwaltungsentscheidungen ein Problem herausgreifen, an dem die spezifische Qualität des Risikophänomens beschrieben weden kann. Dabei wird wie folgt vorgegangen: Kapitel 2 stellt sich die Aufgabe, einen entscheidungsbezogenen Risikobegriff zu erarbeiten und die Zeitdimension als soziologische Kategorie herauszustellen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird mit Organisation eine Ebene eingeführt, in der riskante Entscheidungen, insbesondere rechtsförmig programmierte Verwaltungsentscheidungen zu verorten sind. Eine gesellschaftstheoretische Erweiterung im Hinblick auf Risiko als Reflexionsmodus sowie der daraus hervorgehenden Unsicherheitserfahrung in der modernen Gesellschaft erfolgt im 3. Kapitel, das zugleich als Problemaufriß und zur Konkretisierung der Fragestellung dient. Die dort zu entwickelnde und in den nachfolgenden Kapiteln 4 und S auszuarbeitende These vom "Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft" ist, daß in der Risikoperspektive Zukunft thematisch wird, und zwar als Problem der Verunsicherung bei gleichzeitiger Verengung des Zeithorizonts durch Festlegung von Optionen. Der "Zeitkonflikt" entsteht aus Folgeproblemen konfligierender Temporalitäten von Risiko und Recht. Risiko ist zukunftsorientiert und mit negativ 10 Vgl. hierflir etwa Carl Böhret 1989: Neuartige Folgen - eine "andere" Verwaltung? Wie könnte das politisch-administrative System besser mit den gesellschaftlich produzierten Folgen umgehen?, in: Verwaltungsarchiv 80. 11 In diesem Sinne formuliert Nildas Luhrnann 1991: Probleme der Forschung in der Soziologie, in: Forschung an der Universität Bielefeld Nr.J (hg. v. Universität Bielefeld, Informationsund Pressestelle), S. 42, "Es gibt viel unbestrittenes Wissen. das der Forschung zunächst als trivial erscheinen mag. Aber Theorie ist eben die Kunst, aus Trivialitäten weitreichende Schlüsse zu ziehen. Und vielleicht könnte die Soziologie ihre Distanz zur Gesellschaft weniger durch vorlaute Kritik und eher in der Form des Erstaunens über die Selbstverständlichkeiten der anderen zum Ausdruck bringen. "

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1. Einleitung

bewerteten Erwartungen besetzt. Die Struktur des Rechts hingegen ist primär auf vergangene Ereignisse bezogen. Daraus entsteht eine temporale Inkongruenz von "Problemstruktur" (Risiko) und "Problembearbeitungsstruktur" (Recht) rechtsförmig programmierter Verwaltungsentscheidungen. Dies führt zu der engeren Fragestellung der Arbeit: Wie werden Risiken definiert im Medium des Rechts? Wie wird das doppelte Problem der Offenhaltung von Optionen und der Vermittlung von Erwartungssicherheit im Hinblick auf die Zeitprobleme der Risikogesellschaft behandelt? Wie ist die empirisch zu beobachtende zunehmende Unbestimmtheit des Rechts im Hinblick auf die Funktion des Rechts als sichernde Institution zu bewerten? Diesen Fragen wird im 4. Kapitel unter den Stichworten Folgenorientierung im rechtlichen Entscheiden und Verantwortungszuschreibungen in Organi-

sationen nachgegangen. Dort wird das Problem aus der Sicht des Rechts betrachtet, das heißt: was bedeutet es für das Recht der modernen Gesellschaft, wenn rechtsförmiges Entscheiden auf Folgenberücksichtigung und Risikoorientierung umgestellt wird? In Kapitel 5 wird die Perspektive gewechselt und die Steuerungsfunktion des Rechts in den Vordergrund gerückt. Möglichkeiten regulativer und prozeduraler Risikosteuerung werden untersucht. Die Schlußbetrachtung in Kapitel 6 gibt ein Resümee im Hinblick auf die Frage· nach dem Umgang mit Risiko und Zeit in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen.

2. Theoretische Grundlagen In der Soziologie ist der Begriff des Risikos noch ohne Tradition. Erst in jüngeren Publikationen wird er vermehrt aufgegriffen und unterschiedlichen Versuchen einer näheren Bestimmung unterzogen. Einigkeit darüber, wie die Begriffe "Risiko", "Gefahr", "Unsicherheit" und "Ungewißheit" inhaltlich zu besetzen und gegeneinander abzugrenzen sind, konnte bislang nicht hergestellt werden. Auch gibt es nur in wenigen Fällen Anhaltspunkte dafür, ob es sich um Beobachtungsbegriffe der Wissenschaft oder der Akteure im Beobachtungsbereich der Wissenschaft handelt, ob Risiken als unabhängig von Definitionsprozessen "existierend" vorstellbar sind1 oder ob der Risikokontext Berücksichtigung findet. 2 Häufig wird der Risikobegriff im Rahmen spezifischer Problemstellungen eingeführt, so daß lediglich die jeweiligen Mindestbedingungen der Begriffsverwendung dargestellt werden. 3 Bei Evers/Nowotny schließt Unsicherheit als zentraler Begriff Gefahr und Ungewißheit ein und ist umfassender als der Begriff des Risikos. Zur Präzisierung und Darstellung der sozialen Dimension von Risiko knüpfen Evers/ 1 Dagegen ausdrücklich Mary Douglas/Aaron Wildavsky 1982: Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley- Los Angeles-London, und Francais Ewald 1989: Die Versicherungs-Gesellschaft, in: Kritische Justiz 22, Risiko sei eine Form des Umgangs mit Ereignissen. Anders wohl Ulrich Beck 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M., der eine Welt der Risiken und eine Welt der Risikowahrnehmung kennt.

2 Daflir z. 8. das Plädoyer von Brian Wynne 1987: Risk Perception, Decision Analysis, and the Public Acceptance Problem, in: ders., Risk Management and Hazardous Waste. lmplementation and the Dialectics of Credibility, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo. 3 So z. B. ebd.; ders. 1982: Jnstitutional Mythologies and Dual Societies in the Management of Risk, in: Howard Kunreuther/Eryl V. Ley (Eds.), The Risk Analysis Controversy. An lnstitutional Perspective, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo; Joseph G. MaronetEdward J. Woodhouse 1986: Averting Catastrophe. Strategies for Regulating Risky Technologies, Berkeley-Los Angeles-London; Dorothy Nel.lin/Michael Pollak 1980: Problems and Procedures in the Regulation of Technological Risk , in: Richard C. Schwing/Walter A. Albers (Eds.), Sodetal Risk Assessment. How Safe is Safe Enough?, New York-London; Patrick Lagadec 1987: Das große Risiko. Technische Katastrophen und gesellschaftliche Verantwortung, Nördlingen; Anthony Giddens 1990: The Consequences of Modernity, Stanford/Cal.

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2. Theoretische Grundlagen

Nowotny an die Arbeit von Douglas/Wildavsky an, wo die Wahrnehmung von Risiken als durch kulturelle Selektionsmuster bestimmt und daher als historisch kontingent herausgearbeitet wird. 4 Risikodefinitionen erscheinen so als Korrelate gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse, in denen festgehalten wird, "welche der beinahe unendlich vielen potentiellen Gefahren als Gegenstand politischer Behandlung ausgewählt und zu Risiken erklärt werden, also zu Gefahren, die gesellschaftlich thematisiert, abgegrenzt und damit potentiell kalkulierbar werden". 5 Mit Abgrenzbarkeil und Kalkulierbarkeit als Definitionskriterium von Risiko beziehen Evers/Nowotny Merkmale ein, die in soziologischen Arbeiten häufig als variabel angesehen werden. Ein Grenzfall von "Kalkül", den Luhmann anführt, besteht darin, daß negative Entscheidungsfolgen als Kosten behandelt und als solche in Kauf genommen werden. Diese Variante schließt Luhmann aus seinem Risikobegriff aus, indem er die Erwartung des Bedauerns der Entscheidung beim Eintritt negativer Folgen zum Begriffsmerkmal von Risiko macht. 6 Mit den folgenden Ausführungen wird der Versuch unternommen, unterschiedliche Dimensionen des Risikophänomens im Rahmen organisationsund entscheidungstheoretischer Begrifflichk.cit darzustellen. Insofern kann auf die vorgenannten Studien nur bedingt zurückgegriffen werden. Dieser Zugang zur Risikoproblematik wird aus zwei Gründen gewählt: erstens ist davon auszugehen, daß die moderne Gesellschaft über den Topos der "Organisationsgesellschaft" angemessen beschrieben werden kann. 7 Gesellschaftlich relevante Entscheidungsproduktion findet primär in und zwischen 4 Mary Douglas/Aaron Wildavsky 1982: Risk and Cu1ture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley-Los Angeles-London. Differenzierend hierzu siehe Marx W. Wartofsky 1986: Risk, Relativism, and Rationality, in: Vincent T . Covello/Joshua Menkes/ Jeryl Mumpower (Eds.), Risk Evaluation and Management. New YorkLondon.

5 Adalben Evers/Helga Nowotny 1987: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeil der Gesellschaft, Frankfun!M., S. 27. 6 Niklas Luhrnann 1991: Soziologie des Risikos, Berlin-New York, S. 32 f., passim. So auch Dirlr. Baecker 1991: Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Winschaft, Frankfun!M., S. 13, 119.

7 Robert Presthus 1962: The Organizational Society. An Analysis and a Theory, New York, hat den Tenninus "organisiene Gesellschaft" geprägt und expliziert. Siehe auch Karl Gabriet

2.1 Risiko

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Organisationen statt. Daher erscheint es gerechtfertigt, organisiertes Entscheiden in den Mittelpunkt einer soziologischen Untersuchung des gesellschaftlichen Umgangs mit selbstproduzierten Risiken zu stellen. Grundlage hierfür ist ein entscheidungsbezogener Risikobegriff, der zu einer "Soziologisierung" der sozialwissenschaftliehen Risikoforschung beitragen soll. 8 Daneben wird zweitens angestrebt, die Zeitlichkeit des Risikos als Charakteristikum riskanten Entscheidens herauszustellen. Daher werden auf begrifflicher Ebene reale und soziale Zeit unterschieden. Die Konstitution sozialer Zeiterfahrung wird mit Bezug auf den Entscheidungsbegriff formuliert. Eine Berücksichtigung der sozialen und der zeitlichen Dimension riskanten Entscheidens macht es erforderlich, zunächst die zentralen Begriffe Risiko, Zeit, Entscheidung und Organisation zu klären. Die damit verbundene Steigerung des Abstraktionsniveaus soll dazu beitragen, eine Verbindung der verschiedenen Problembereiche herzustellen und diese auf die Risikoproblematik zu beziehen.

2.1 Risiko Die entscheidungstheoretische Literatur läßt sich grob danach klassifizieren, ob der Beschreibung des Risikophänomens ein entscheidungsbezogener oder ein informationstheoretischer Risikobegriff zugrundegelegt wird. Letzterer behandelt das Problem unvollkommener Information bei der Wahl zwischen Alternativen. Im Anschluß an Knights einflußreiche Unterscheidung 1979: Analysen der Organisalionsgesellschaft, Frankfun!M.-New York, ferner Charles Perrow 1989: A Society of Organizations, in: Max Haller/Hans-Jürgen Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24 . Deutschen Soziologentags, des 11 . Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft flir Soziologie in Zürich 1988, Frankfun!M.-New York. 8 So forden z. B. Lee Clarke 1988: Explaining Choices Among Technological Risks, in: Social Problems 35, eine Profilierung soziologischer Beiträge insbesondere gegenüber sozialpsychologischen und psychologischen Forschungen zur Risikoakzeptanz. Dabei gelte es herauszustellen, daß sieb z. B. riskantes Entscheiden im organisierten Kontext von individuellen Risikoentscheidungen grundlegend unterscheidet. Die Organisationsperspektive als Zugang der Analyse rechtlichen Umgangs mit Risiken empfiehlt etwa James F. Short 1989: Editor's lntroduction: Toward a Sociolegal Paradigm of Risi., in: Law and Policy 11.

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2. Theoretische Grundlagen

von "uncertainty" und "risk" interessieren hier informationsstrukturelle Merkmale vor der Entscheidung: bei Risiko kann die Eintrittswahrscheinlichkeit eines möglichen künftigen Ereignisses gemessen werden, bei Ungewißheit dagegen nicht. 9 Dieser Aspekt wurde insbesondere in der Entscheidungslogik unter dem Oberbegriff "Entscheidung unter Unsicherheit" herausgearbeitet und hat in der betriebswirtschaftliehen Unternehmenstheorie weite Verbreitung gefunden. 10 Gegen eine solche Begriffsfassung von Risiko spricht jedoch, daß objektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen in der Realität nur äußerst selten vorzufinden sind. Unterstellt man dennoch diesen Fall, so ist zu beachten, daß auch die Ermittlung von ("objektiven") Wahrscheinlichkeiten immer subjektiv geprägt ist und somit die geforderte Trennung von (objektiv) gemessenen und (subjektiv) geschätzten Wahrscheinlichkeilen nicht durchgehalten werden kann. 11 Auf dieses Problem zielen auch die Einwände gegen die im K.nightschen Risikobegriff vorausgesetzte Bedingung, daß sich die betrachteten Ereignisse häufig wiederholen müssen, um objektive Wahrscheinlichkeilen angeben zu können. 12 Neben anderen Bedenken gegen diese Einschränkung ist darauf hinzuweisen, daß es auch hier einer subjektiven Entscheidung darüber bedarf, wieviele künftige Wiederholungen in welchem Zeitraum dem Kriterium "häufiger" Wiederholung genügen.IJ Auch die Tatsache, daß komplexe Entscheidungssituationen in der Regel sowohl Merkmale von Unsicherheit wie von 9 Frank H. Knight 1965 (1921): Risk, Uncertainty, and Profit, Reprint New York. Die Begrifflichkeil Knights wurde in vielen Varianten verfeinen und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ausgearbeitet. Darauf wird hier nicht weiter eingegangen, weil es an dieser Stelle lediglich auf die Darstellung des Grundmodells ankommt, das durchgängig beibehalten wurde.

10 wunsicherheit" bildet also den Oberbegriff, der die beiden Formen WEntscheidung bei Risikow und "Entscheidung bei Ungewißheit" umschließt. Vgl. Wolfgang Mag !981 : An. "Risiko und Ungewißheit", in: Willi Albers (Hg.), Handwörterbuch der Winschaftswissenschaften Bd. 6, Stungan- New York. 11 Siehe hierzu die Diskussion bei Peter U. Kupsch 1973: Das Risiko im Entscheidungsprozeß, Wiesbaden, S. 24 ff., ferner Anatol Rapopon 1988: Risiko und Sicherheit in der heutigen Gesellschaft. Die subjektiven Aspekte des Risikobegriffs, in: Leviathan 16.

12

Frank H. Knight 11165 (1921): Risk, Uncertainty, and Profit, Reprint New York, S. 213 .

13 Vgl. dazu Christof Haas 1965: Unsicherheit und Risiko in der Preisbildung. Köln-BerlinBonn-München, S. 16 ff. m. w . N. ; Lothar Streitferdt 1973: Grundlagen und Probleme der betriebswinschaftlichen Risikotheorie, Wiesbaden, S. 9.

2.1 Risiko

17

Risiko beinhalten, die als Mischformen mit der exklusiven Knightschen Terminologie nicht erfaßt werden, legt eine Abkehr von den Prämissen informationstheoretischer Begrifflichkeil nahe. 14 So bezweifelt etwa auch Shackle, daß der Problemkreis von Entscheidung unter Unsicherheit überhaupt sinnvoll mit Annahmen über objektive Wahrscheinlichkeitsverteilungen erschlossen werden kann, wenn er formuliert: "A cosmos in which outcomes have calculable probabilities which men seek to discover and upon which they act is a cosmos where in effect certainty and not uncertainty prevails ... " . 15 Aus diesem Einwand ergibt sich die nun theoretisch zu begründende Umstellung und Verortung des Risikobegriffs. Im Unterschied zur Knightschen probabilistischen Konzeption ist für die

im weiteren zugrundegelegte possibilistische Begriffsfassung nicht Meßbar-

keit, sondern der Entscheidungsbezug Unterscheidungskriterium zwischen Ungewißheit und Risiko. Damit wird die Möglichkeit des Eintritts negativ

bewerteter Ereignisse infolge von Entscheidungen zum zentralen Definitionsmerkmal des Risikobegriffs. 10 Vor der Entscheidung besteht kein Risiko, sondern Unsicherheit über die zu wählende Alternative. Nach der Entscheidung gibt es darüber keine Unsicherheit mehr. Die Entscheidung eliminiert diese Unsicherheit und begründet das Risiko, potentielle Schadensfolgen initiiert zu haben. Diese Begrifflich-

keil modifiziert in dreierlei Hinsicht die in der Entscheidungslogik übliche Fassung: erstens wird die zweistufige Begrifflichkeil aufgegeben, die sich 14 Vgl. zu diesem Problem den Vorschlag von Ravi S. Achrol 1988: Measuring Uncenainty in Organizational Analysis, in: Social Science Research 17, nicht eine trennscharfe Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit zu unterstellen, sondern beide Begriffe als zwei Pole eines Kontinuums subjektiver Erwartungen aufzufassen.

15 George L. S. Shackle 1969: Decision Order and Time in Human Affairs, 2. Ed., Cambridge, S. 10. 16 Zu dieser Begriffsfassung siehe fLir die betriebswirtschaftliche Literarur schon Waldemar Wittrnann 1959: Unternehmung und unvollkommene Information. Köln-Opladen, wo Risiko als Gefahr einer Fehlentscheidung definiert wird. Vgl. auch den Risikobegriff unter Berücksichtigung des Zielverfeblungscharakters bei Wilhelm Krelle 1957: Unsicherheit und Risiko in der Preisbildung, in: Zeitschrift fLir die gesamte Staatswissenschaft 113; Herbeet Hax 1974: Entscheidungsmodelle in der Unternehmung, Reinbek b. Hamburg. Für eine soziologische Ausarbeirung siehe Niklas Luhmann 1990: Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Op1aden; Dirk Baecker 1988: Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt/M.

2 Hiller

18

2. Theoretische Grundlagen

durch die Trennung von "Ungewißheit" und "Unsicherheit" ergibt. Im folgenden wird deshalb nur noch der Begriff "Unsicherheit" verwendet, um damit die Situation vor der Entscheidung zu charakterisieren. Zweitens verzichtet der entscheidungsbezogene Risikobegriff auf eine normative Vorstellung von Rationalität, wie sie mit Kalkulationsfähigkeit und Rechenhaftigkeit vorausgesetzt wird. 17 Und drittens wird der Risikobegriff von der Wahrscheinlichkeit auf die Möglichkeit des Eintritts künftiger Ereignisse zurückgenommen und definitorisch vom Kriterium der Berechenbarkeit gelöst. Für eine soziologische Analyse des Risikophänomens erscheint diese Bedingung ohnehin wenig hilfreich. Douglas/Wildavsky beispielsweise lehnen die Vorstellung der Kalkulierbarkeit von Wahrscheinlichkeiten negativer Folgen schon aufgrund der Unmenge an kombinatorischen Möglichkeiten ab. 18 Luhmann geht noch einen Schrin weiter, wenn er die Idee gesamtgesellschaftlich rationaler Kalkulation selbstproduzierter "Zukunftsschäden" grundsätzlich in Frage stellt. 19 Darüber hinaus wird im Unterschied zur informationstheoretischen Begrifflichkeit, die nicht zwischen Annahmen über die Eintrittswahrscheinlichkeit negativ und positiv bewerteter künftiger Ereignisse trennt, mit der hier vorgenommenen negativen Wertung des Risikos der Bezug von Risiko auf Entscheidung schon deshalb erforderlich, weil Ungewißheit der Informationsstruktur allein die Möglichkeit negativer Konsequenzen nicht festlegt. Erst die Qualiftkation einer Alternative durch Entscheiden begründet die Möglichkeit negativer Wirkungen. Unsicherheit vor der Entscheidung dagegen ist 17 Dazu Dirk Baecker 1989: Rßtionalität oder Risiko?, in: Manfred Glagow/Helmut Willke/ Helmut Wiesenthai (Hg.), Gesellschaftliche Steuerungsrationalität und partikulare Handlungsstrategien, Pfaffenweiler. 18 Mary Douglas/Aaron Wildavsk.y 1982: Risk. and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers, Berkeley-Los Angeles-London, S. 5. Ähnlich auch die gegen Knight gerichteten Ausflihrungen von Carol A. Heimer 1988: Social Structure, Psychology, and the Estirnation of Risk., in: Annual Review of Sociology 14, S. 493, "In sociology, risk and uncertainty tend to be lumped tagether and contrasted with certainty (and this makes good sense since sociologists only rarely discuss situations in which the probabilities associated with possible outcomes are known). In addition, among sociologists risk.s usually connotes unknown probabilities associated with bad outcomes." 19 Niklas Luhrnann 1988: Geld als Kommunikationsmedium: Über symbolische und diabolische Generalisierungen, in: ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt!M., S. 270 f.; ders. 1991: Soziologie des Risikos, Berlin-New York.

2.1 Risiko

19

Bedingung der Entscheidung selbst. 2° Für den hier verwendeten Risikobegriff heißt dies, daß durch die Unterscheidung von positiven und negativen Entscheidungsfolgen zugleich eine inhaltliche Bestimmung der möglichen Ereignisse vorweggenommen wird. Diese inhaltliche Bestimmung erfolgt durch den Wertbezug des möglichen Ereignisses, denn nur unter Wertgesichtspunkten kann dieses als Verlust oder Schaden begriffen, das heißt als Risiko von möglichen positiven Entscheidungsfolgen, den Chancen, unterschieden werden. 21 Da somit nicht-bewertete bzw. wertindifferente Möglichkeiten in der Begrifflichkeit von Risiko und Chance keine Berücksichtigung finden, definiert der Wertbezug auch, was überhaupt als Folge, Sekundärfolge usw. von Entscheidungen behandelt wird, wenn sie als riskant und/oder als chancenreich beobachtet werden. Die Bewertungsdimension kann allerdings auch durch die Gegenüberstellung von Risiko und Sicherheit berücksichtigt werden. So wird Sicherheit zuweilen als das Positive und Gewisse gekennzeichnet. 22 In anderen Begriffsfassungen reicht eine positive Bewertung aus, ohne Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintritts. Dazu gehört etwa die Definition von Wildavsky, der Risiko als "potential for harm and/or safety" begreift. 23 Damit wird zwischen Risiko und Sicherheit nicht mehr unterschieden. Wildavsky begründet dies mit seinem "Axiom of Connectedness" , womit er darauf insistiert, daß Sicherheit und Gefahr zumeist in denselben Ereignissen zusammen vorkommen.24 Diese Feststellung führt jedoch keineswegs notwendig zu dem Schluß, das negativ und positiv bewertete Element in einem 20 Vgl. Christof Haas 1965: Unsicherheit und Risiko in der Preisbi1dung. Köln-BerlinBonn-München; Wilhelm Krelle 1957: Unsicherheit und Risiko in der Preisbildung, in: Zeitschrift flir die gesamte Staatswissenschaft 113; Waldemar Winmann 1959: Unternehmung und unvollkommene Information, Köln-Opladen.

21 Vgl. hierzu Franz-Xaver Kaufmann 1973: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2., umgearb. Auflage, Stuttgan, S. 150 ff., don allerdings auf den Begriff der Gefahr bezogen, der jedoch in seinen wesentlichen Dimensionen mit dem hier verwendeten Risikobegriff übereinstimmt. 22

Z. B. ebd., S. 151.

23

Aaron Wildavslty 1988: Searching for Safety, New Brunswick-Oxford, S. 3.

24

Ebd., S. 5.

2•

20

2. Theoretische Grundlagen

soziologischen Risikobegriff zu verschmelzen. Daß riskantes Entscheiden goutiert werden kann, 25 wenn damit Chancen verbunden sind, zwingt nicht dazu, positive und negative Entscheidungsfolgen schon im Begriff zusammenzuziehen. Im Gegenteil, man vernachlässigt damit den wichtigen Hinweis, daß die Unausweichlichkeit des Eingehens von Risiken gerade in der Verknüpfung mit den Chancen liegt, denn "unter den Bedingungen funktionsspeziftsch ausdifferenzierter Sozialsysteme wird das Eingehen eines Risikos motiviert durch das noch größere Risiko, die im Risiko liegenden Chancen nicht wahrzunehmen. " 26 Diese Ausführungen machen deutlich, daß hier nicht mit einer objektivistischen Begrifflichkeit gearbeitet wird. Risiken und Chancen sind wie alle Systemereignisse system- bzw. beobachterrelativ. Wertungen von Systemereignissen können über Zuschreibungen aus der Selbst- oder Fremdbeobachterperspektive vorgenommen werden. 27 Daraus folgt, daß unterschieden werden muß zwischen dem, was das System als Risiko oder als Chance behandelt und dem, was aus der Umwelt als riskant bzw. chancenreich zugeschrieben wird. Obwohl nun mit Chance der positive Parallelbegriff zu Risiko eingeführt ist, werden sich die weiteren Ausführungen am Risikobegriff orientieren. Diese Festlegung erscheint willkürlich, denn man könnte "anstatt von einer Risikotheorie ebensogut auch von einer Chancentheorie sprechen, was freilich nicht üblich ist. " 28 Daß dies nicht üblich ist, mag unter anderem mit den Schwierigkeiten einer positiven Bestimmung von Systemzuständen 25 Dirk Baecker 1988: Information und Risiko in der Marktwinschaft, Frankfurt/M., S. 13,

133. 26 Klaus P. Japp 1990: Das Risiko der Rationalität flir technisch-ökologische Systeme. in: Jost Halfmann/Klaus Peter Japp (Hg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale. Elemente einer soziologischen Risikoforschung, Opladen, S. 38 (Hervorhebung weggelassen).

27 Vgl. dazu Niklas Luhmann 1986: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefahrdungen einstellen?, Opladen, S. 51 ff.; Dirk Baecker 1988: Information und Risiko in der MarktwirtsChaft, Frankfurt/M. , S. 138 ff. Die attributionstheoretischen Annahmen gehen zurück auf Fritz Heider 1977 ( 1958): Psychologie der interpersonalen Beziehungen, Stungart.

28 Lotbar Streitferdt 1973: Grundlagen und Probleme der betriebswinschaftlicben Risikotheorie, Wiesbaden, S. 11, allerdings zum wertindifferenten Risikobegriff.

2.1 Risiko

21

zusammenhängen. So kann "Sicherheit" z. B. von Kaufmann nur negativ als "Gefahrlosigkeit" definiert werden. Entsprechend handelt sein Buch mit dem Titel "Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem" auch in weiten Teilen von Unsicherheit, Risiko, Gefahr usw. 29 Ein empirisches und zugleich ein gesellschaftspolitisches Argument sprechen dafür, soziologische Risikoforschung und nicht soziologische Chancenforschung zu betreiben. Der Grund liegt in der temporalen Asymmetrie von

negativen und positiven Folgen. Nur auf der formalen Ebene der Eintrittswahrscheinlichkeit von Ereignissen im Sinne der Entscheidungslogik (z. B. der Chance, eine sechs, oder des Risikos, eine eins zu würfeln) werden Risiko und Chance als symmetrische Begriffe gebraucht. Im einen Fall kann man eine bestimmte Summe gewinnen, im anderen Fall eine bestimmte Summe verlieren. Dennoch sind die Ereignisfolgen in der zeitlichen Dimension nicht gleich. Im Bereich wirtschaftlichen Handeins kann der Verlust des Einsatzes die Vernichtung der Existenz bedeuten, wohingegen der gleichgroße Gewinn nicht den dauerhaften Bestand gewährleistet. Die temporale Asymmetrie liegt also darin, daß das Risiko der Entscheidung den Bestand in Frage stellen kann, eine gleichgroße Chancenrealisierung ihn aber in den seltensten Fällen garantiert. 30 Die sich daraus ergebende These ist, daß Entscheidungsrisiken sich in ihrer Temporalität von den mit ihnen verbundenen Chancen unterscheiden. Risiko und Chance sind zwar insoweit reziproke Begriffe, als sie wechselseitig aufeinander verweisen, aber sie sind nicht symmetrisch. Dieser Ausgangspunkt, der die entscheidende Differenz in der Zeitdimension sieht, wird 29 Franz-Xaver Kaufmann 1973: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2., umgearb. Auflage, Stuttgart. In seiner Bestimmung des Risikobegriffs fUhrt auch Niklas Luhmann 1990: Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Autltlärung 5, Opladen, an, daß Sicherheit als Gegenbegriff zu Risiko ungeeignet ist, weil Sicherheit eine soziale Fiktion darstellt, die als absolute nicht zu erreichen ist. Sicherheit bezeichnet also nur eine Leerstelle und kann allenfalls als Reflexionsbegriff eingesetzt werden. 30 Mit diesem Argument wird in der Versicherungswirtschaft risikoaverses Verhalten erklärt. Vgl. Hans-Werner Sinn 1988: Gedanken zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Versicherungswesens, in: Zeitschrift flir die gesamte Versicherungswirtschaft 77, S. 13.

22

2. Theoretische Grundlagen

in Kapitel 3 mit der dort vertretenen These vom Zeitkonflikt in der Risikogesellschaft wieder aufgenommen. Bislang wird in der Literatur die Differenz von Risiko und Chance hauptsächlich in der Sozialdimension gesehen, und zwar als Akzeptanzproblem. Diese Überlegungen führen dann schnell zu der Frage, für wen, was, wann, warum ein Risiko darstellt. 31 Damit ist eine zentrale, wenn nicht gar die zentrale Thematik des gesamten Risikophänomens angesprochen. Eine erste Annäherung an diese Problemstellung wird durch eine weitere Verknüpfung von Risiko und Entscheidung erreicht, die zugleich eine analytisch gewinnbringende Erweiterung der Begrifflichkeil erlaubt. Im Hinblick auf die Möglichkeit künftiger Schadensfolgen kann man danach fragen, ob dieselben durch eigene Entscheidung herbeigeführt worden sind oder nicht. Luhmann markiert diese Unterscheidung mit den Begriffen Risiko und Gefahr. 32 Risiko meint dann die Möglichkeit des Eintritts negativ bewerteter Ereignisse infolge eigener Entscheidung. Risiken werden also produziert im Zuge einer Aktivität, nämlich des Entscheidens. Der Begriff

der Gefahr dagegen bezeichnet die Möglichkeit des Betroffenseins durch nachteilige Ereignisse aufgrund nicht eigener Entscheidung.33 Der Gefahrbegriff bei Luhmaon umfaßt damit sowohl Schadenszumutungen durch fremde Entscheidungen, wie z. B. dauerhafte Hörschäden wegen der zu laut31 In Anlehnung an die bekannte Formulierung von Harold D. Lassweil 1936: Politics. Who Gets What, When, How, New York-London . 32 Niklas Luhmann 1990: Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Opladen. In diesem Sinne unterscheidet auch Niebolas Rescher 1983: Ris.k.. A Philosophical Introduction to the Theory of Ris.k. Evaluation and Management, Lanham-New Yor.k.-London, S. 6 f., zwischen 'risk-tak.ing' und 'risk-facing': ~The ris.k. - the prospect of negative outcome - is simply there without being so as the result of someone' s agency. Moreover, even when a ris.k. results from our actions we may not explicitly tak.e it at all. In taking the action that activates the risk, we may not even realize it is there. In sailing on the Titanic, most passengers presumably did not rec.k.on with the prospect of the ship's being sunk by an ioeberg. They ran a risk which they did not ta.k.e~. Rescher charakterisiert seinen Risikobegriff über folgende drei Dimensionen: ~(I) Choioe of action: deliberately doing oertain things towards the production or avoidanoe of results. (2) Negativity of outcome: whatever harm, loss, unpleasantness, or misfortune that can evenruate. (3) Chanoe of realization: the specific prospect (possibility or probability) of realizing the unfortunate result at issue. ~ 33 WeiterfUhrende Überlegungen zum Begriff ~Betroffenheit~ finden sich bei Otthein Rammstedt 1981 : Betroffenheit - was heißt das?, in: Hans Dieter K.lingemann/Max Kaase (Hg.), Politische Psychologie. Politische Vierteljahresschrift Sonderheft 12, Opladen.

2.1 Risiko

23

gestellten Musikanlage des Nachbarn, als auch die Auswirkungen von Naturkatastrophen, die keiner Entscheidung verantwortlich zugeschrieben werden können. 34

Im Rahmen einer entscheidungsbezogenen Argumentation erscheint es jedoch hilfreich, die nicht auf Entscheidung rückführbare Dimension der Gefahr gesondert zu behandeln und für das Betroffensein durch fremde Entscheidung einen eigenen Begriff einzuführen. Dies entspricht der in der sozialwissenschaftliehen Literatur mittlerweile üblichen Unterscheidung zwischen "vorindustriellen Gefahren, die nicht auf technisch-ökonomischen Entscheidungen beruhen und insofern externalisierbar (Natur, Götter) sind, und industriellen Risiken, die Produkt gesellschaftlicher Entscheidungen sind. " 35 Zur Bezeichnung möglicher Schäden, die als systembedingt gelten und einer fremden Entscheidung zugeschrieben werden, wird hier der Begriff der

Belastung gewählt. Dies scheint einsichtig, denn Gefahren i. S. v. Naturkatastrophen als außersystemisch zurechenbare Ereignisse werden nicht als Produkte gesellschaftlichen Handeins wahrgenommen und zeichnen sich somit durch soziale Nichtzurechenbarkeit aus. Risikozumutungen dagegen werden als durch Dritte herbeigeführte Belastungen erlebt, die sozial zuschreibbar sind und für die sich deshalb ganz andere Formen des gesellschaftlichen Umgangs herausgebildet haben. Insbesondere Techniken der Attribution von Folgenverantwortung werden damit zum Gegenstand der Analyse. 36 Allerdings treten auch "Naturkatastrophen" wie z. B. Überschwemmungen in 34 Niklas Luhmann 1990: Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufk.lärung 5, Opladen, begründet dies damit, daß in seiner Begriffsfassung Risiko und Gefahr sachlich generalisierbar sind, weil das Problern und die Notwendigkeit der Unterscheidung beider Begriffe im Verhältnis von Zeitdimension und Sozialdimension liegt. 35 Ulrich Beclr. 1988: Gegengifte. Die organisierte Unverantwonlichk.eit, Franlr.fun/M. , S . 120 f. Dies gilt auch für die Risk-Assessrnent-Forschung. Dort wird unterschieden zwischen "natural and technical hazards". Siehe etwa Vincent T. Covello/Jeryl L. Murnpower/Pieter J. M. Stallen!V. R. R. Uppuluri (Eds.) 1985: Environrnental Impact Assessment, Technology Assessment, and Rislr. Analysis, Berlin-Heide1berg- New York- Tokyo. GebräuclJ.Iich ist auch die Differenzierung zivilisatorische oder gesellschaftliche vs. natürliche Risiken. 36

Vgl. dazu Abschnitt 4.2.

24

2. Theoretische Grundlagen

zunehmendem Maße als Produkte gesellschaftlichen Handeins in Erscheinung. Das Auseinanderhalten von Gefahren und Belastungen ist also auch in dieser Hinsicht aufschlußreich: als historisch-gesellschaftlicher Prozeß der Verwandlung von Gefahren in Risiken und Belastungen sowie als "Weg zurück zur Gefahr" .37

In dieser Begrifflichkeit liegt eine Annäherung an Perrow, der die Unterscheidung von möglichem Eintritt negativer Folgen durch eigene vs. fremde Entscheidung als Differenz von "aktivem" und "passivem" Risiko beschreibl' Und genau diese Unterscheidung von aktivem Herstellen möglicher Schäden, das heißt der Produktion von Risiken durch eigenes Entscheiden, und dem passiven Belastetsein durch Zumutung möglicher Nachteile in Entscheidungen anderer, gibt auch eine erste Antwort auf die Frage, was, wann, warum, in welcher Hinsicht für wen ein Risiko ist: Risiken gibt es nur für Botscheider bzw. Entscheidungssysteme. Andere sind allenfalls positiv oder negativ Entscheidungsbetroffene. Risiken entstehen im Entscheiden und werden nach der Entscheidung als Problem sichtbar. Als Risiko, möglicher Schaden/ Verlust/Nachteil gilt alles, was für den Entscheidenden bzw. das Entscheidungssystem hinsichtlich seiner Wertungskriterien ein mögliches negatives Ereignis darstellt, das ohne diese Entscheidung nicht gegeben wäre. Damit kommt man von einer zweistelligen zu einer dreisteiligen Klassifikation. Ereignisse können zugerechnet werden: (1) auf eigene Entscheidungen, (2) auf fremde Entscheidungen und sie können (3) als nicht entscheidungsbedingt behandelt werden. Nachdem nun die negativ bewerteten Entscheidungsfolgen innerhalb dieser Differenz über die Begriffe Risiko, Belastung und Gefahr erschlossen sind, 37 Das ist das Thema von Adalbert Evers/Helga Nowotny 1987: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeil von Gesellschaft, Frankfurt/M., siehe auch Ulrich Beck 1988: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M., S. 121 f.

38 Charles Perrow 1987: Nennale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt/M.-New York, S. 365 ff. Perrow weist ~onders darauf hin, daß im ersten Fall der Einzelne eine - wenn auch noch so geringe - Kontrolle ausübt über die Aktivität. Ygl. hierzu die Kritik von Aaren Wildavsky in einer Leserbriefkontroverse mit Charles Perrow: Charles Perrow 1986: ~Active" and "Passive~ Risks . Letter, in: Science 231, S. 783; Aaren Wildavsky 1986: Defining Risks. Letter, in: Science 232, S. 439.

2.1 Risiko

25

und mit Chance schon das positive Korrelat zu Risiko benannt ist, muß die Terminologie noch um den jeweils positiven Parallelbegriff zu Belastung und Gefahr ergänzt werden. So könnte man von Gelegenheiten sprechen und damit in Abgrenzung zum Gefahrenbegriff Situationen bezeichnen, in denen sich günstige Möglichkeiten anbieten, ohne daß diese jemandem zugerechnet werden. Gelegenheiten sind Ereignisse, für deren Wahrnehmung und Bearbeitung im System keine strukturellen Vorkehrungen getroffen werden. Sie tauchen zufallig auf und können "ad hoc" genutzt werden. Beim Wahrnehmen von Gelegenheiten kommt es darauf an, daß aussichtsreiche Situationen als solche erkannt werden, und daß das Entscheidungssystem über die Fähigkeit verfügt, "etwas daraus zu machen" .39 Als Korrelat zu Belastung schließlich schlage ich den Begriff der Begünstigung vor. Begünstigt ist, wer (z. B. als "free rider") von Ereignissen profitiert, die Folge fremder Entscheidungen sind. 40 Da die hier vorgenommenen pos1t:Iven und negativen Wertungen in den Begriffen in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen, und oben auf die zeitlich asymmetrische Wirkung positiv und negativ bewerteter Entscheidungsfolgen hingewiesen wurde, erfordern die positiv besetzten Begriffe keinen weiteren Begründungsaufwand. Als problematisch könnte sich dagegen eine andere theoretische Vorentscheidung erweisen. Der hier vorgestellte 39 Ni.klas Lohmann 1988: Über "Kreativität", in: Hans-Uirich Gumbrecht (Hg.), Kreativität - Ein verbrauchter Begriff?, München, S. 17. Die Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten nennt Luhmann "Kreativität". Zu adhocratischen (vs. institutionalisierten) Entscheidungssituationen vgl. Henry Mintzberg/Alexandra McHugh 1985: Strategy Formation in an Adhocracy, in: Administrative Science Quarterly 30; Henry Mintzberg/Duru Raisinghani/Andre Theoret 1976: The Structurc of 'Unstructurod' Decision-Processes, in: Administrative Science Quarterly 21 . 40 Eine wichtige Unzulänglichkeit dieser Begriffswahl soll hier gleich zugestanden werden. Im Unterschied zu Risiko, Chance, Gelegenheit und Gefahr kommt mit den Begriffen Begünstigung und Belastung nicht zum Ausdruck, daß damit künftige unsichere Ereignisse bezeichnet werden sollen, weil es sich nicht um Porenrialbegriffe handelt. Hier müßte von möglicher Belastung und möglicher Begünstigung gesprochen werden. In Ermangelung einer besser geeigneten Begrifflichkeil wird jedoch vorläufig und unter Beachtung der genannten Einschränkung an den Termini Belastung und Begünstigung festgehalten . Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die hier vorgenommene Begriffsverwendung zumindest nicht unüblich ist. So wird beispielsweise in der lndusttiesoziologie Belastung (im Gegensatz zu Beanspruchung) zur Bezeichnung künftig möglicher negativer Beeinträchtigungen der Gesundheit aufgrund gegenwärtiger Beanspruchung verwendet. Vgl. dazu Ditmar Brock/Hans-Rolf Vetter 1982: Was kann der Belastungsbegriff leisten? Anmerkungen zu den soz.iologischen Dimensionen von Belastung, in: Soziale Welt 33.

26

2. Tht:oretische Grundlagen

Risikobegriff und alle abgelt!iteten Begriffe gehen von der Idee der beobachterabhängigen kausalen Zuschreibung von Entscheidungen auf Entscheidungssysteme, bzw. von Entscheidungsfolgen auf Entscheidungen aus. In der empirischen Anwendung fallen die bekannten Kausalitätsprobleme an. Das heißt etwa, daß das Problem nicht-linearer Folgewirkungen in diesem Modell ebenso vernachlässigt wird, wie das bekannte Phänomen, daß ursächliche Einzelentscheidungen für zeitlich verzögerte, kumulativ entstandene Schädigungen (Beispiel: Ozonloch) nicht (mehr) identifizierbar sind. Eine zusammenfassende Darstellung der Begrifflichkeil zeigt nachfolgendes Schema.

UNSICHERHEIT über mögliche Ereignisse und deren Eintritt

eigene Entscheidung

fremde Entscheidung

nicht entscheidungsbedingt

Betroffenheit von negativ bewerteten Ereignissen

RISIKO

BELASTUNG

GEFAHR

Betroffenheil von positiv bewert~len Ereignissen

CHANCE

BEGÜNSTIGUNG

GELEGENHEIT

Abb. I : Die Differenz von Entscheidung und Betroffenheit

2.2 Entscheidung Mit der engen Verknüpfung von Risiko und Entscheidung wird es notwendig, auf den Entscheidungsbegriff näher einzugehen. Die normative Entscheidungstheorie begreift Entscheiden gemeinhin als rationale Wahl zwischen Alternativen. 41 Dies wirft mehrere Probleme auf. Insbesondere stellt sich für einen soziologischen Entscheidungsbegriff die Frage, wie 41 Nachweise bei Herben Braun 1984: Risikomanagement. Eine spezifische Controllingaufgabe, Dannstadt, S. 22.

27

2. 2 Entscheidung

Handlung und Entscheidung auseinandergehalten werden können. So weisen etwa

Brunsson

und

- aus

einer

anderen

theoretischen

Perspektive -

Harrnon darauf hin, daß die Fokussierung auf Entscheidung in vielen Fällen unterstellt, einmal Entschiedenes würde auch authentisch zur Ausführung gelangen. Sie betonen, daß Entscheidung und Handlung regelmäßig gerade nicht deckungsgleich sind, und daß darüber hinaus Entscheiden ohne Handeln ebenso wie Handeln ohne vorgängiges Entscheiden vorfindbar ist. Dieser Position zufolge ist Handlung, nicht Entscheidung zum Gegenstand der . . Iyse zu machen. 42 Orgamsauonsana Ob dieser Einwand das im folgenden darzustellende Luhmannsche Konzept trifft, ist jedoch fraglich. Die Trennung vo11 Entscheidung als Akt der Vorbereitung einer darauf gegebenenfalls folgenden Ausführungshandlung weist Luhmann als psychologische Auffassung, die organisiertes Entscheiden in Analogie zum individuellen Entscheiden konzipiert, zurück. Dieses Problem stellt sich nicht, wenn man ein funktionales Verständnis zugrundelegt. Die Funktion von Verwaltung z. B. wird im verbindlichen Entscheiden gesehen und nicht in der Ausführung von Handlungen .43 Unter dem Entscheidungsaspekt bestehen Verwaltungsorganisationen aus Verkettungen von Handlungen, die sich an Erwartungen orientieren, womit dann sowohl Entscheidungs- wie auch Ausführungshandlungen erfaßt sind. Weiterhin wird in der Kritik von Brunsson und Harrnon angenommen, daß entscheidungsbezogenen Ansätzen notwendigerweise ein - wenn auch auf eine "bounded rationality" reduziertes -

zweckbezogenes Rationalkonzept zugrundeliegt. Dies gilt für

Luhmanns Erwartungskonzept ebensowenig wie der Einwand, daß entscheidungstheoretische Analysen den sozialen Kontext von Entscheidungssituationen vernachlässigen. Luhmann gewinnt aus der Differenzierung von Handeln und Entscheiden erst seinen soziologischen Entscheidungsbegriff. Er schlägt vor, von Ent42 Nils Brunsson 1985: The Irrational Organization. Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change. Chichester-New York-Brisbane-Toronto-Singapore; Michael M . Harrnon 1989: 'Decision' and 'Action' as Contrasring Perspectives in Organization Theory, in: Public Administration Review 49. 43 Vgl. NilrJas Luhmann 1966: Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung. Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung, Berlin, S. 16 f.

28

2. Theoretische Grundlagen

scheidung nur dann zu sprechen, wenn eine Handlung auf Erwartungen reagiert. Mit Erwanungen werden allerdings nicht mehr oder weniger sichere Zukunftserwartungen über den Eintritt bestimmter Ereignisse bezeichnet,

denn diese werden beim Entscheiden in Unsicherheitssituationen immer gebildet und haben etwa in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur breite Beachtung gefunden. Dort wird das Unsicherheitsproblem zum Teil "ganz in eine Theorie der Erwartung aufgelöst. "44 Vielmehr sind hier soziale Verhaltenserwartungen an den Entscheider gemeint. Der Unterschied besteht darin, daß es im ersten Fall um die Prognose künftiger Entwicklungen durch einen Entscheider geht, der zweite Fall meint Prognose des Entscheidcrverhaltens durch einen Beobachter. Verhaltenserwartungen können eigene oder fremde Erwartungen sein, denen ein Handelnder sich ausgesetzt sieht. Wichtig ist, daß er sich entscheiden muß, ob er den Erwartungen entsprechen will oder nicht. 45 Dieser Entscheidungsbegriff setzt also an der Konstitution von Wahlsituationen an. Der Gewinn dieser Unterscheidung von Handlung und Entscheidung kann an zwei Extremen verdeutlicht werden: am Beispiel von Zwangs- und gewohnheitsmäßigen Entscheidungen. Obwohl Entscheiden selbst nicht als Wahl zwischen Alternativen beschrieben werden kann, setzt Entscheiden eine 44 Waldemar Wittmann 1959: Unternehmung und unvollkommene Information, Köln-Opladen, S. 31; vgl. ferner Horst Albach 1959: Winschaftlichkeitsrechnung bei unsicheren Erwartungen, Köln-Opladen, und natürlich George L. S. Shackle 1949: Expectation in Economics, Cambridge. Weitere Nachweise bei Josef Mugler 1979: Risk-Management in der Unternehmung, Wien, S. 24, Fn. 48. Hierbei wird auf Konzepte logischer, statistischer und subjektiver Wahrscheinlichkeilen zurückgegriffen, die Ähnlichkeiten aufweisen mit der Knightschen Konzeption. Als neueren Beitrag vgl. Hermann Bartmann/Klaus-Dieter John 1985: Entscheidungen, Erwartungen und Kontrakte bei Unsicherheit, in: Jahrbücher flir Nationalökonomie und Statistik 200. Als frühere kritische Auseinandersetzung mit dem Ergebnis einer Umarbeitung dieses Erwartungskonzepts in eine deskriptive Entscheidungstheorie siehe Herben A. Sirnon 1959: Theories of Decision- making in Economics and Behaviora1 Science, in : American Economic Review 49; Richard M. Cyert/William R. Dill/James G. March 1958/59: The RoJe of Expectation in Business Decision-making, in: Administrative Science Quarterly 3. Eine frühe betriebswirtschaftliche Auseinandersetzung mit dem sozialen Erwartungsbegriff im Anschluß an Niklas Luhmann 1964: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin, findet sich bei Themas Eduard Schmitt I 969: Innerorganisatorische Erwartungen. Ihre Bedeutung flir die Koordination von Entscheidungen, staatswinschaftl. Diss., Univ. München.

45 Vgl. Nik.las Luhmann 1984: Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens, in: Die Betriebswirtschaft 44.

2. 2 Entscheidung

29

Wahlsituation gleichwohl voraus. Formal ist für jede Handlung eine Wahlmöglichkeit in Form der "Nullalternative", das heißt der einfachen Negation, immer gegeben. Für einen soziologischen Entscheidungsbegriff interessiert die formal gegebene Nullalternative jedoch nicht. "Wahl" impliziert "Freiheit" der Wahl. Insofern ist eine Entscheidungssituation nicht durch die formale, sondern durch ihre faktische Alternativenstruktur bestimmt, und was faktisch als Alternative in Betracht c;ezogen wird , hängt von subjektiven Bewertungen ab. In Zwangssituationen entscheidet sich jemand nur dann, einem Befehl zu folgen, wenn die Möglichkeit der Verweigerung in Betracht gezogen wird. Ist dies nicht gegeben, z. B. weil die Befehlsverweigerung mit dem Tode bestraft wird und aus diesem Grunde sich für den Einzelnen eine Überlegung darüber nicht stellt, liegt keine Entscheidung vor. In diesem Fall handelt es sich um (zwangsweisen) Vollzug von andernorts getroffenen Entscheidungen. Dies erscheint selbstverständlich, denn Zwangssituationen entbehren per Definition dem Kriterium der Freiheit der Wahl. Diese Vorstellung wird jedoch aufgebrochen, sobald die Möglichkeit der Abweichung reflektiert wird und jemand sich für oder gegen befehlskonformes Handeln entscheidet. Wird der Befehl befolgt, so ist dieses Verhalten als Entscheiden möglicherweise extern nicht beobachtbar. Hier kann man sagen, daß "Erwartungen zunächst nur den Effekt haben, bedenkenloses Handeln in bedenkliches Entscheiden zu transformieren. " 46 Auch arn Beispiel von gewohnheitsmäßigen Handlungsvollzügen, oft "Routine" genannt, läßt sich sehr gut zeigen, worauf der erwartungsbezogene Entscheidungsbegriff abstellt. Um ein solches Verhalten entweder als Entscheiden oder als Handeln qualifizieren zu können, kommt es allein darauf an, ob Entscheidungsmöglichkeiten gesehen werden oder nicht. Routinehandeln wird erst dann zur Entscheidung, wenn die Möglichkeit der Abweichung von zu Gewohnheit geronnenen Verhaltenserwartungen reflektiert und somit eine Wahlsituation konstituiert wird. Ist dies nicht der Fall, liegt lediglich ein Vollzug früher getroffener Entscheidungen vor. Erwartungen steuern also Verhalten, indem sie als Prämisse für Entscheidungen dienen. Verhaltenserwartungen sind Strukturen sozialer Systeme, an 46

Ebd., S. 603.

30

2. Theoretische Grundlagen

denen Entscheiden als konformes oder abweichendes Verhalten beobachtbar wird. Wie die Beispiele zeigen, kann das, was jeweils als Entscheidung gilt, nur über Zuschreibungen aus der (Selbst- oder Fremd-) Beobachterperspektive bestimmt werden . Der Entscheidungsbegriff ist insofern beobachter- bzw. systemrelativ, als er nicht festlegt, "für wen etwas Alternative ist" .47 Entscheidung ist demnach weder ein "Akt" der Auswahl zwischen Alternativen noch die realisierte Alternative selbst. Das Entscheidungsereignis ist vielmehr die Einheit der Vorher/Nachher- Differenz zweier Formen von Kontingenz. Vor der Entscheidung besteht Kontingenz als Unsicherheit in Form einer Wahlsituation zwischen Alternativen, in der offen ist, ob Erwartungen bestätigt oder enttäuscht werden. Nach der Entscheidung wird Kontingenz anhand der gewählten Alternative sichtbar. Die anderen Möglichkeiten, die durch die Entscheidung nicht Wirklichkeit geworden sind , werden deshalb nicht vernichtet. An der gewählten Alternative dokumentiert sich vielmehr, daß die Entscheidung auch anders hätte ausfallen können. Im Hinblick auf die anderen (vielleicht im Nachhinein erst gesehenen) Optionen jedoch wird sie bewertet, gerechtfertigt oder ex post als falsch herausgestellt. Die Kontingenz nach der Entscheidung verweist also auf das mit jeder Entscheidung zwangsläufig verbundene Risiko: das Risiko, die falsche Alternative gewählt zu haben. Der entscheidungsbezogene Risikobegriff wird damit sehr elementar. Riskantes Entscheiden heißt hier nichts anderes, als daß mit jeder Entscheidung die Möglichkeit des Eintritts negativ bewerteter Ereignisse verbunden ist. Dennoch ist erst mit diesen Ausführungen eine theoretische Begründung für die in der sozialwissenschaftliehen Risikoliteratur häutig rein deskriptiv zum Ausgangspunkt genommene Feststellung gegeben, daß Risiken im Entscheiden irreduzibel sind. 48 Anders formuliert läßt Entscheiden sich auch 47 Niklas Luhmann 1981 : Organisation und Entscheidung, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen, S. 379, Fn. 14.

48 Für ein jüngeres Beispiel vgl. ~t .... a Kenneth R. MacCrimmon/Donald A. Wehrung 1986: Taking Risks. The Management of Uncertainty, New York, S. 4, "Risk is a pervasive pan of all actions ... . Life requires choices : choices require risks . While you can choose to minimize the risks you face, you cannot avoid risks completely. Along with death and taxes, risk is one of the cenainties of life." Ebenfalls entschl!idungsbezogen formulien William W. Lowrance 1976: Of

2.3 Zeit

31

begreifen als Kontingenzverarbeitung unter Inanspruchnahme von Zeit, nämlich als Transformation einer Form von Kontingenz in eine andere: als Transformation von Unsicherheit in Risiko. 49

2.3 Zeit Dieser Begriff von Entscheidung als Einheit einer Vorher/NachherDifferenz zweier Formen von Kontingenz beinhaltet eine soziologische Vorstellung sozialer Zeit. Als Einheit der Differenz von Unsicherheit und Risiko erscheint Entscheiden als zeitpunktgebundenes Ereignis ohne dauerhafte Existenz. Entscheidungsereignisse sind temporalisierte Elemente, die mit ihrem Entstehen wieder vergehen und nur über diese zeitliche Differenz beobachtbar sind. Indem Luhmann "Handeln" als "zeitstellenfixiertes Ereignis"50 begreift, ist Handlung direkt auf Zeit bezogen . Der Begriff des Ereignisses zeigt dies an, da "Ereignisse eo ipso 'in der Zeit' geschehen. "st Die zeitliche Präsenz eines Ereignisses wird erst erfahrbar im Bezug sowohl auf vorausgegangene wie auf künftige Formen seiner Existenz. Für Acceptable Risk, Los Altos/Cal., S. 8, "A thing is save if its risks are judged to be acceptable . ... Nothing can be absolutely free of risk . One can't think of anything that isn't, under some circumstances, able to cause harm . Because nothing can be ab~olutely free of risk, nothing can be said to be absolutely safe. There are degrees of risk, and consequently there are degrees of safety." Vgl. auch Josef Mugler 1979 : Risk- Management in der Unternehmung. Wien , S. 3; Carl Böhret 1989: Neuartige Folgen - eine "andere" Verwaltung? Wie könnte das politischadministrative System besser mit den gesellschaftlich produzierten Folgen umgehen?, in: Verwaltungsarchiv 80; Nicholas Rescher 1983: Risk. A Philosophical lntroduction to the Theory of Risk Evaluation and Management, Lanham-New York-London, S. 9 f. 49 Niklas Luhmann 1984: Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens, in: Die Betriebswirtschaft 44, S. 595; ders. 1981 : Organisation und Entscheidung, in: ders., Soziologische Aufldärung 3, Opladen, S. 338. 50 NikJas Luhmann 1984: Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens, in: Die Betriebswirtschaft 44, S . 593. In diesem Sinne schreibt auch George L. S. Shackle 1969: Decision Order and Time in Human Affairs, 2. Ed., Cambridge, S. 15, " .. .we have defined an event as what carries one instantaneous situation into another."

SI Peter Bieri 1972: Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt/M ., S. 183 . Vgl. auch Niklas Luhmann 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M., S. 390, "Die zeitliche Punktualisierung der Elemente als Ereignisse ist nur in der Zeir und nur dank der Zeil möglich." (Hervorhebungen im Original).

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2. Theoretische Grundlagen

den Begriff einer sozialen Gegenwart heißt dies: Handlungen bzw. Entscheidungen konstituieren Gegenwart nur im Moment und bauen damit jeweils neue Vergangenheits- und Zukunftshorizonte auf. 52 Mit dem Ereignis wird unmittelbare Zukunft in Gegenwart und Gegenwart in unmittelbare Vergangenheit überführt. Zugleich findet eine Verschiebung der Zeitmomente von Vorzukunft in unmittelbare Zukunft und von unmittelbarer Vergangenheit in Vorvergangenheit statt. 53 Zu unterscheiden sind unmittelbare und mittelbare Zeithorizonte darin, daß die unmittelbare Dimension durch Erinnern bzw. Erwarten vergegenwärtigt wird, während fernere Zukunft und Vergangenheit global antizipiert bzw. rekonstruiert werden. Entscheidungen sind durch diese Zeitperspektiven und deren jeweilige Gewichtung geschichtlich bestimmt. 54 Entschieden wird immer nur in der Gegenwart. Folglich existieren auch die dadurch konstituierten Zeithorizonte ebenfalls nur in einer sozialen Gegenwart. Vergangenheit wird vom gegenwärtigen Ereignis aus als Systemgeschichte interpretiert, jeweils neu und kausal passend, und Zukunft hypothetisch als Folge antizipiert. Die Zeithorizonte sind an die Gegenwart gebunden und Änderungen ihres Referenzpunktes unterworfen. 55 Zeitlichkeit bzw. Systemzeit wird konstituiert, indem mit jeder Entscheidung (im spezifischen Systemkontext) eine Neubestimmung von Vergangenheit und Zukunft erfolgt. Allein das Hinzukommen des gegenwärtigen Ereignisses zu den vergangeneo verändert Vergangenheit wie Zukunft insgesamt. Gegenwart entsteht also aus Gegenwart, nicht aus Vergangenheit oder Zukunft. Daraus 52 Wemer Bergmann 1981: Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse, Berlin, S. 38. Diesen Aspekt betont George L. S. Shackle 1969: Decision Order and Time in Human Affairs, 2. Ed., Cambridge, S. 3, wenn er definien: "Decision, as all of us use the word, is a cut between past and future, an introduction of an essentially new standard into the ernerging panem of history." 53 Vgl. Reinhard Lauth 1981: Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein, Hamburg, S. 19. Wird im folgenden nur von Vergangenheit bzw. Zukunft gesprochen, ohne die Differenzierung in mittelbare/unmittelbare zu benennen, sind jeweils beide Formen zusammen gemeint. 54 Ähnlich ebd., S. 95, wo allerdings Vergangenheit und Zukunft grundsätzlich unterschiedliche Wirklichkeitsgrade zugeschrieben werden. 55 lnfolge ihres Horizontcharakters können Zukunft und Vergangenheit deshalb auch nicht "beginnen". Vgl. Niklas Luhmann 1982: The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modem Society, in: ders. (Ed.), The Differentation of Society, New York.

33

2.3 Zeit

folgt, daß es Wirklichkeit immer nur in der Gegenwart geben kann. Zukunft und

Vergangenheit

dagegen

sind

Möglichkeitshorizonte,

die

in

der

Gegenwart ("kausal passend") zeitlich aufeinander bezogen werden. Diese intellektuelle Interpretationsleistung allein konstituiert soziale Zeit. Zeiterfahrung ist somit eine subjektive, bewußtseinsabhängige Interpretation "der Realität" im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft.56 Denn Gegenwart wird erst identifiziert durch die Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit. Sie ist die Einheit dieser Unterscheidung, weil sie nur als Gegenwart künftiger oder vergangener Gegenwarten mit je eigenen Zukünften bzw. Vergangenheiten erfahrbar wird. Wenn aber Zeit als soziale Interpretation der Realität aufgefaßt wird, dann muß es neben dieser

sozialen Zeit auch eine reale Zeit geben, die nicht auf Dimensionen sozialer Zeit reduzierbar ist. 57 Unter realer Zeitstruktur wird die Ordnung von Ereignissen in ihrer relationalen Abfolge von früher als/später als/gleichzeitig mit bzw. vorher/ nachher verstanden. Konstant ist diese Zeitfolge insofern, als die Beziehung zwischen den Ereignissen im zeitlichen Nacheinander unveränderlich ist. Das vorgängige Ereignis wird immer in diesem Verhältnis zum nachfolgenden bleiben, und umgekehrt wird das spätere niemals dem früheren Ereignis vorangestellt sein. 58 Diese reale, in der Zeitphilosophie McTaggerts als B-Reihe bezeichnete Folge von Ereignissen ist Bedingung des Aufbaus

sozialer Zeit. Im Unterschied zu sozialer wird reale Zeit als objektiv und bewußtseinsunabhängig gedacht. Das heißt, daß die Verknüpfung der Positionen innerhalb einer Ereignisreihe für jeden Beobachter dieselbe ist. Dagegen sind Ereignisse, die nicht nach früher/später, sondern danach unterschieden werden, ob sie in der Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart liegen, 56 Nildas Luhmann 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfun!M., S. 116. 57 Zum Nachweis der Irreduzibilität der beiden Zeitreihen aufeinander siehe Peter Bieri 1972: Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfun/M.

58 Im Gegensatz zur sozialen Zeit kann es nach der realen Zeitordnung. in der jedes zeitliche Ereignis in einem bestimmten Bezug zu anderen Zeitmomenten steht, logisch auch keine zyklische Zeit geben. Vgl. Reinhard Lauth 1981: Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein, Hamburg, S. 13 f. 3 Hiller

34

2. Theoretische Grundlagen

Änderungen insofern unterworfen, als die Position des jeweiligen Ereignisses in der Zeit variien. Was einmal zukünftig war, ist jetzt gegenwärtig und wird einmal vergangen sein. Von McTaggen wird diese Zeitordnung A-Reihe genannt, oder auch "zeitliches Werden" im Gegensatz zum "Werden in der Zeit" (als zeitliche Struktur von B-Relationen). 59 Ein zeitliches Werden läßt sich indes nur denken, wenn das Ereignis im Übergang von einem künftigen in einen vergangeneo Moment seiner Existenz eine Änderung erfähn. Es darf im einen mit dem anderen Modus nicht identisch sein, denn "das nur Identische ... wird nicht. "60 In beiden Zeitbegriffen ist die soziale Gegenwan, oder das "Jetzt" des Ereigniseintritts, der Bezugspunkt zur Ordnung der Zeit. Jedes Entscheidungsereignis markien einmal die Vorher/Nachher-Differenz von Wahlsituation und gewählter Alternative und trennt damit nach der B-Reihe. Indem aber die Kontingenz jeder Entscheidung auch nach der Entscheidung erhalten bleibt (und damit riskantes Entscheiden begründet), wird die reale Vorher/ Nachher-Ordnung als soziale Zeit erfahrbar. Jedes Ereignis leistet in der Gegenwan demnach eine mehrfache temporale Integration. Die Differenz von Zukunft und Vergangenheit muß in der Gegenwan ihren zeitlichen Anschluß ebenso finden, wie die Differenz von Vorher und Nachher im gegenwänigen Jetzt. In der Gegenwan erfolgt die Vermittlung der diskontinuierlichen realen Ereignisfolge (der B-Reihe) mit der kontinuierlichen bewußtseinsmäßigen Darstellung derselben nach A-Bestimmungen. Es geht mit anderen Wonen um die Anschlußfähigkeit und um das Prozessieren temporalisiener Elemente in einem autopoietisch geschlossenen Kommunikationssystem. Festzuhalten bleibt: Zeit wird nur an Änderungen von Ereignissen erkennbar, als Entstehen und Vergehen, als Relation von Zukünftigem und Vergan59 John MeT. E. McTaggen 1968 (1927): The Nature of Existence Vol. 2, Cambridge. Die Unterscheidung zweier Zeitformen findet sich auch z. B. bei Gurvitch und bei E. Husserl. Allerdings wird don die reale Zeit als primäre angesehen, welche die soziale Zeit dominien. Als eine Ausarbeitung, die diesen Zugang aufgenommen hat, siehe llja Srubar 1975: Glaube und Zeit. Über die Begründung der Metaentwürfe der sozialen Welt in der Struktur der soz:iaJen Zeit, phil. Diss., Univ . Frankfun/M. 60 Reinhard Lauth 1981: Die Konstitution der Zeit im Bewußtsein, Hamburg, S. 35 (Hervorhebung im Original).

2.4 Organisation

35

genem. Also sind es weder die Ereignisse, noch ist es die Zeit selbst, die "Dauer" haben. Dauerhaftigkeit wird vermittelt durch eine bewußtseinsmäßige Ordnung von Ereignissen in der Zeit. Was als Zukunft, Vergangenheit oder Gegenwart vorgestellt wird, hängt also vom Beobachtungsstand61 punkt ab. In welcher Weise werden diese zeittheoretischen Überlegungen für das Problem riskanten Entscheidens relevant? Zunächst ist im Risikobegriff die zeitliche Dimension in Form einer unsicheren Zukunft immer schon enthalten, weil es definitionsgemäß um etwaige künftige Schäden geht, die einer Entscheidung zugerechnet werden. Die Rückführung des Risikobegriffs auf Entscheidung legt es nahe, Entscheidungssysteme näher zu betrachten. Ein soziales System, das aus Entscheidungen besteht und Entscheiden ermöglicht, nennt Luhmann Organisation.

2.4 Organisation

Die bisherigen begrifflichen Ausführungen zu Risiko, Entscheidung und Zeit haben insofern eine vereinfachende Perspektive eingenommen, als nicht systematisch zwischen individuellem und organisiertem Entscheiden unterschieden wurde. Wenn nun der Blick auf organisiertes Entscheiden gerichtet wird, so heißt dies nicht, daß Individualentscheidungen im folgenden nicht mehr von Interesse sind. Das Gegenteil ist der Fall, allerdings mit der wichtigen Einschränkung, daß es sich hierbei um Entscheidungsverhalten in Organisationen handelt. Zunächst ist herauszustellen, daß Risikobewältigung in sozialen Systemen auf die Unsicherheitsreduktion durch Strukturen angewiesen ist. Entscheidung wurde beschrieben als Transformation von Unsicherheit in Risiko. Doch nicht alle Unsicherheit kann durch Entscheidungen abgearbeitet werden. Strukturelle Unsicherheitsreduktion ist Bedingung, um riskantes Entscheiden

überhaupt erst zu ermöglichen. Für die Theorie ergibt sich damit zunächst 61 Peter M. Hejl 1982: Sozialwissenschaft als Theorie selbsueferemieller Systeme, Frankfurt/M., S. 288, formuliert deshalb, ~daß Zeit nur flir Beobachter existiert~.

3•

36

2. Theoretische Grundlagen

nur eine Verdopplung des Problems, denn auch die Strukturierung formaler Organisationen, auf die wir uns hier konzentrieren wollen, erfolgt selbst durch Entscheidungen, durch riskante Strukturentscheidungen. Diese Überlegungen gehen also hinter den bisher verfolgten Gedankengang zurück und befassen sich mit dem für riskantes Entscheiden konstitutiven Unsicherheitsproblem. Formale Organisationen sind soziale Systeme von hoher organisierter Komplexität. Die Tragweite dieser Feststellung wird deutlich, wenn man sich die damit aufgeworfenen grundsätzlichen Überlegungen zum Problem der Komplexität und dann eingehender der Strukturierung organisierter Sozialsysteme vor Augen führt. Komplexität bezeichnet die Menge von Elementen eines Systems, wobei aufgrund interner Beschränkungen der Elemente nicht mehr jederzeit jedes Element mit jedem in Beziehung gesetzt werden kann. 62 Weil aufgrund des unbewältigbaren Möglichkeitsraumes eine perfekte Ordnung im System schon aus rein zeitlichen Gründen nicht herstellbar ist, muß die Relationierung zwischen den Elementen notwendig selektiv erfolgen. Das heißt zugleich, daß jede gewählte Verknüpfung auch anders ausfallen könnte . Welche Verknüpfungen gewählt werden, hängt von der Beziehung zwischen System und Umwelt ab.

Im Erfordernis der Relationierung von Element und Relation stellt Komplexität sich ständig als Problemdruck dar, der nach Problemlösungen drängt. Die Abarbeitung von Problemen erfordert Zeit, ohne Zeitbeschränkung könnte vollständige Ordnung hergestellt werden. Erst durch Zeitdruck entsteht die Notwendigkeit zur Selektion, und Selektion als Operation verbraucht Zeit, um sich zu ereignen. Organisierte Komplexität bezeichnet dann einen strukturierten Zusanunenhang heterogener Elemente, wobei infolge der Interdependenz relationierter Elemente die Isolierung einzelner Variablen und die Bestimmung von Kausalitäten zwischen Variablen ausgeschlossen ist. Das Problem organisierter Komplexität erschließt sich also über die Erfassung des Doppelproblems von Komplexität und Kontingenz, wobei Komplexität besagt, daß es für ein fokales System immer mehr Handlungsmöglich62 Zum Komplexitätsbegriff vgl. Nik.las Luhmann 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfun/M., S. 45 ff.

2.4 Organisation

37

keiten gibt, als wahrgenommen werden können, und Kontingenz darauf verweist, daß anstatt der aktualisierten Möglichkeiten auch andere hätten Wirklichkeit werden können. 63 Durch selektive Verknüpfung gelingt es sozialen Systemen nun, eine ihrer Umwelt angemessene Eigenkomplexität aufzubauen, die weder eine maximale Relationierung aller Elemente anstrebt noch im Zustand der vollständigen Kontingenz einer Gleichwahrscheinlichkeit sämtlicher Möglichkeiten (Entropie) verbleibt. Durch Strukturbildung erfolgt die systematische Begrenzung des Möglichkeitsraumes eines Systems. Strukturen stellen Auswahlregeln dar für Ereignisse, die im System aktualisiert werden können. Strukturen steuern Relationierungen und können so das Komplexitätsniveau eines entropischen Zustandes erheblich steigern, indem durch Ausschluß beliebiger Möglichkeiten insgesamt mehr Variabilität im System realisiert werden kann. "Steigerung durch Reduktion" meint z. B., daß eine Entscheidung mehr Optionen dadurch eröffnet, daß sie andere Entscheidungsmöglichkeiten verschließt. Limitierung ist insofern ein Weg zur Steigerung von Komplexität. 04 Elementar für diese Fassung des Komplexitätsbegriffs ist daher nicht die Menge der durch Strukturwahl ermöglichten Verknüpfungen, sondern deren Selektivität. 65 Strukturbildung leistet durch Herausbildung eines bestimmten Relationierungsmusters die Einschränkung der Vernetzungsmöglichkeiten der Elemente des Systems und somit den Aufbau strukturierter (organisierter) aus unstrukturierter Komplexität. Es entsteht "Ordnung" durch Selektion, nämlich durch die geregelte Begrenzung des Spielraums an Verhaltensmöglichkeiten des Systems. Die Differenz von Element und Relation ist nicht nur Grundlage für ein hinreichendes Verständnis von Komplexität. Sie stellt sich auch für die 63 Eine Behandlung dieses Grundproblems der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme im Rahmen des hier zu präzisierenden Organisationsbegriffs erscheint u. a. deshalb erforderlich, weil das Spannungsverhältnis von Komplexität und Kontingenz - wie oben im Zusammenhang mit Entscheidung und Risiko schon angedeutet - sich als zentral erweisen wird flir die Risikoproblematik schlechthin. Luhmann bringt dies auf den Begriff, wenn er formulien: "Komplexität ... heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko." Niklas Luhmann 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfun/M., S. 47. 04

Niklas Luhmann 1987: Rechtssoziologie, 3. Auflage, Opladen, S. 7.

65

Niklas Luhmann 1975: Komplexität, in: ders ., Soziologische Aufklärung 2, Opladen, S. 207.

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2. Theoretische Grundlagen

Bildung von sozialen Systemen als konstitutiv heraus. Systembildung erfolgt durch Relationierung der Elemente und durch Relationierung von Relationen~ das heißt durch Grenzziehung und durch selbstselektive Ordnungsfindung. Die Selektionsnotwendigkeit ergibt sich allerdings nicht allein aus dem bis hierher behandelten Problem der Systemkomplcxüät, sondern auch aus dem Verhältnis zwischen System und Umwelt. Denn wenn es richtig ist, daß die Umwelt eines Systems immer komplexer ist als ein fokales System,67 dann kann ein Kongruenzverhältnis im Sinne einer vollständigen Berücksichtigung aller Umweltereignisse im System nicht aufgebaut werden. Das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt zwingt zur Selektion, weil nicht alles aus der Umwelt im System relevant werden kann und deshalb im System Erwartungsstrukturen bereitgestellt werden müssen für das, was relevant werden soll. Durch die Selektion von Verknüpfungen wird das Verhältnis von System und Umwelt in der Weise bestimmt, daß eine Qualifizierung relevanter Umweltinformationen stattfindet. Mit der ausgewählten Beachtung nur bestimmter Umweltereignisse nimmt das System Ordnungsleistungen hinsichtlich seiner Umwelt vor und reduziert damit die Komplexität der Umwelt für das System. 68 Diese spezifische, von System zu System unterschiedliche interne "Konstruktion" je eigener Umwelten bietet zugleich die Möglichkeit zur Herstellung von Sicherheit (im System) durch Absorption von Unsicherheit (der Umwelt). Strukturen bestimmen, was intern anschlußfähig sein soll an künftige und/oder vergangene Ereignisse des Systems und somit auch alles 66

Niklas Luhmann !984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfun/M.,

s. 41

f.

Vgl. ebd., S. 47 f.• S. 249 f. ; anders etwa Helmut Willke 1987: Differenzierung und Integration in Luhmanns Theorie sozialer Systeme, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfun!M. , 260 f. 67

68 Insofern kann man sagen, daß Komplex.ität sowohl der Umwelt wie auch des Systems immer das Ergebnis von Beobachtungen und Beschreibungen ist. In Fortflihrung dieses Gedankens müßte man dann stan von "Komplexität" auch von "Polykomplexität" sprechen, weil jedes beobachtende System seine eigene Komplex.itätsbeschreibung vornehmen wird. Vgl. Nildas Luhmann 1988: Observing and Describing Complexity, in: Kar! Yak (Ed.). Complex.ities of the Human Environment. A Cultural and Technological Perspective, Wien.

39

2. 4 Organisation

andere, gegen das das System sich damit invariant setzt.

69

Ausdifferenzie-

rung in diesem Sinne bedeutet Autonomie des Systems gegenüber der Umwelt. Wenn formale Organisationen als Systeme von hoher organisierter Komplexität bezeichnet werden, dann muß auch ein Maß angehbar sein, nach dem sich der Komplexitätsgrad ermineln läßt: Komplexität bemißt sich nach der Zahl der Elemente, der Zahl der zwischen ihnen möglichen Relationen, der Verschiedenartigkeit der Elemente bzw. der Relationen, und danach, inwieweit sich die Zahl und die Verschiedenartigkeit von Elementen und Relationen während einer bestimmten Zeit verändern. 70 Doch welche besondere Qualität macht Organisationen nun von anderen Sozialsystemen unterscheidbar? Die Besonderheit liegt sowohl auf der Ebene der Relationen, wie auch auf der Ebene der Elemente des Systems. Strukturen sozialer Systeme entstehen aus der Verknüpfung von Ereignissen, die im Falle organisierter Sozialsysteme als Entscheidungen ausgewiesen werderi: Entscheidungen sind Letztelemente von Organisationen, das heißt, daß Entscheidungen als kleinste Einheiten auch bei weiterer Dekomposition ihre Qualität als Entscheidungen behalten und in nichts anderes aufspaltbar sind als in (Sub-)Entscheidungen, die selbst an zeitlich vorgängige Entscheidungen anschließen und neues Entscheiden ermöglichen. In Organisationen baut sich Komplexität also durch die Verknüpfung von Entscheidungen auf. Die inhaltliche Ausrichtung von Entscheidungen orientiert sich vor allem an der Beziehung zu anderen Entscheidungen.72 Für den Fall organisierter Sozial69 Siehe Nildas Luhmann I