Stimmungen weben: Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären [1. Aufl.] 978-3-658-26581-6;978-3-658-26582-3

Erziehung findet nie im luftleeren Raum statt. Basierend auf dem Atmosphärenbegriff von Gernot Böhme untersucht Julia Ju

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German Pages XIII, 174 [182] Year 2020

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Stimmungen weben: Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären [1. Aufl.]
 978-3-658-26581-6;978-3-658-26582-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz (Julia Jung)....Pages 1-6
Theoretischer Rahmen (Julia Jung)....Pages 7-22
Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte (Julia Jung)....Pages 23-58
Durchführung der Untersuchung (Julia Jung)....Pages 59-89
Untersuchungsertrag und Darstellung des entwickelten Konzepts anhand von Vignetten (Julia Jung)....Pages 91-134
Zusammenfassung und Ausblick (Julia Jung)....Pages 135-137
Back Matter ....Pages 139-174

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Julia Jung

Stimmungen weben Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären

Stimmungen weben

Julia Jung

Stimmungen weben Eine unterrichtswissenschaftliche Studie zur Gestaltung von Atmosphären

Julia Jung Frankfurt (Main), Deutschland Zugleich INAUGURALDISSERTATION zur Erlangung des Grades einer Doktorin/ eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) im Fachbereich 2, Lehrämter, Wissenschaft und Komposition, der HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND DARSTELLENDE KUNST FRANKFURT AM MAIN. Vorgelegt von Julia Jung, geb. am 07.05.1987 in Speyer; 2018 (Einreichungsjahr). 1. Gutachterin: Prof. Dr. Maria Spychiger 2. Gutachter: Prof. Dr. Eckhard Weymann 3. Gutachterin: Prof. Dr. Katharina Schilling-Sandvoß. Tag der mündlichen Prüfung: 14.12.2018 Gedruckt mit der Genehmigung der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main.

ISBN 978-3-658-26581-6 ISBN 978-3-658-26582-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Dank An erster Stelle gilt mein Dank meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Maria Spychiger für ihre wissenschaftliche, methodische und menschliche Unterstützung sowie ihr stetiges Vertrauen während der gesamten Bearbeitungsphase meiner Dissertation. An dieser Stelle schließt auch der Dank an meinen Zweitbetreuer Herrn Prof. Dr. Eckhard Weymann an, der mir nicht nur beratend zur Seite stand, sondern mich auch mit der Musiktherapie in Verbindung gebracht hat, aus der ich viele wertvolle Anregungen erhalten habe. Ich danke außerdem der Stiftung Polytechnische Gesellschaft für ihre finanzielle und vor allem auch ideelle Unterstützung im Rahmen des Stipendiums sowie für die Möglichkeit, das Dissertationsthema im interdisziplinären Austausch immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Ganz besonders möchte ich mich auch bei Prof. em. Dr. Gernot Böhme bedanken. Die Gespräche mit ihm über Atmosphären und die Verbindung zur Schule waren äußerst interessant, und seine Art zu denken eröffnete mir auch persönlich sehr viele neue Sichtweisen. Darüber hinaus haben mich sein Interesse sowie die Bedeutsamkeit, die er in der praxisorientierten Atmosphärenthematik sieht, mehrfach in meinem Schreiben motiviert. Ich danke außerdem Herrn Prof. Dr. Hermann-Josef Kaiser für die kritische Begleitung meiner Arbeit, der Unterstützung seitens der Graduiertenschule, Herrn Dr. Peter Ickstadt für seine fachliche Unterstützung, Herrn Prof. Eike Wernhard, Herrn Prof. Dr. Jan Sonntag und Frau Prof. Stefanie Köhler für impulsbringende Gespräche, Peter und Jakob als Teil des Kamerateams, meinem Hamburger Kolloquium für die vielen kritischen Anregungen sowie vor allem auch den Lehrerinnen und Lehrern, für ihr Interesse und ihre sofortige Bereitschaft hinsichtlich einer Teilnahme an der Untersuchung. Ein besonderer Dank gilt außerdem meiner Familie sowie meinen Freundinnen und Freunden für ihre unermüdliche Stärkung, ihre Motivation, die fachlichen Impulse und für das Korrekturlesen der Arbeit. Ganz besonders danke ich meiner Mutter, die die Arbeit nicht nur mit ihrem pädagogischen Blick stets begleitet, sondern auch die Vignetten malerisch umgesetzt hat. Ganz besonders möchte ich auch Arno danken, der mich während der gesamten Promotionszeit gestützt, immer wieder aufs Neue ermutigt, mich in meinen Ansichten gestärkt sowie in zahlreichen Diskussionen und Gesprächen mit seinen kritischen Bemerkungen stets gedanklich weitergebracht hat.

Geleitwort Das wir jedermann zugeben: Der Erfolg von Unterricht in der Schule hängt von der Atmosphäre ab, die im Klassenzimmer herrscht. Und nicht nur das. Vielmehr geht es auch um die Frage, ob Schüler und Schülerinnen gern zur Schule gehen, und um die Frage, ob ein Lehrer, eine Lehrerin zu unterrichten als erfüllende Lebensäußerung erfahren oder nur einen Job ausüben. Man hat diese Verhältnisse häufig auf die Lehrerpersönlichkeit zurückgeführt. Doch es geht, wie Julia Jung zeigt, nicht einfach um Charakter, um fachliches Können und um das Engagement des Lehrenden. Vielmehr arbeitet Frau Jung heraus, dass so etwas wie atmosphärische Kompetenz vorausgesetzt werden muss: Atmosphären kann man bewusst herstellen. Damit zeichnet sich eine Erweiterung des Spektrums der Lehrerausbildung ab. Hat man sich bisher auf fachliche und methodisch-didaktische Ausbildung konzentriert, so kann man, oder muss man heute vom werdenden Lehrer, von der werdenden Lehrerin ein Wissen um die Gestaltung von Atmosphären erwarten – und entsprechend ein Training in atmosphärischer Wahrnehmung und Gestaltung in deren Ausbildung integrieren. Das umso mehr unter dem Aspekt einer multikulturellen Schülerschaft, unter dem Druck wachsender Unterrichtsinhalte und dem Eindringen digitaler Medien in die Unterrichtspraxis. Längst haben wir die Auffassung hinter uns gelassen, man könne durch disziplinarische Maßnahmen den Unterricht zusammenhalten und durch Kontrolle Leistungen erzwingen. Es geht heute darum, im Klassenzimmer eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich für Schüler, Schülerinnen und Unterrichtende ein gemeinsames Interesse an Bildung entwickeln kann. Um diese Aufgabe einer notwenigen Veränderung der Lehrerbildung und einer Neugestaltung der Unterrichtssituation an der Schule vorzubereiten, muss Julia Jung in ihrem Buch weit ausholen. Sie muss über die Geschichte des Atmosphärenbegriffs berichten und die verschiedenen Stränge dieser Entwicklung zusammenführen. Der Leser, die Leserin wird so schon recht klare Vorstellungen davon haben, worum es bei der Thematisierung von Atmosphären geht, noch bevor der Bereich von Atmosphären im Unterricht und von atmosphärischen Kompetenzen betreten wird. Hier nun legt Frau Jung nicht etwa eine Art Ausbildungsprogramm vor, sondern geht vielmehr in die Empirie gegenwärtiger Unterrichtspraxis. Dieser Teil ist der qualitativen Sozialforschung zuzurechnen und arbeitet mit teilnehmender Beobachtung, Interviews und Video-Dokumentation. Das Besondere des Buches von Frau Jung liegt nun aber darin, wie sie ihre Erfahrungen dem Leser nahebringt – nämlich durch die Erstellung von Vignetten, mit der sie der Innsbrucker Vignetten-Forschung folgt. Vignetten sind Kurzberichte über Unterrichtssituationen, in denen es aber gerade um das emotionale Geschehen in diesen Situationen geht. Man kann auch sagen: es handelt sich um Impressionen. Der Autorin gelingt es auf diese Weise, den Leser in die Situation hineinzuziehen und ihn an ihrer eigenen Betroffenheit teilnehmen zu lassen. Die Vignette, d.h. die dargestellte Unterrichtssituation wird danach noch eigens kommentiert. Durch dieses methodische Verfahren der Autorin wird für das, was nun eigentlich beginnen müsste, nämlich ein Training werdender Lehrer und Lehrerinnen in Atmosphären-Wahrnehmung und -Gestaltung, Material bereitgestellt. Die Vignetten sind so sprechend, dass in Zukunft Studenten und Studentinnen mit ihnen quasi am grünen Tisch beginnen können, ihre atmosphärischen Kompetenzen zu reflektieren und sie mit diesem ersten Schritt auszubilden.

Gernot Böhme

Inhalt Dank........................................................................................................................................................V Geleitwort ........................................................................................................................................... VII Inhalt .................................................................................................................................................... IX Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ............................................................................................... XI I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz ................................................................................ 1 II Theoretischer Rahmen...................................................................................................................... 7 II.1 aísthēsis – Atmosphären im Kontext einer neuen Ästhetik.......................................................... 7 II.1.1 Aisthetik als neue Ästhetik ....................................................................................................7 II.1.2 Ästhetisierung des Realen: zwischen Sein und Schein, Grundbedürfnis und Macht .............8 II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme ................................................................................................ 10 II.2.1 Atmosphären als Wahrnehmungsgegenstände .....................................................................11 II.2.2 Die Seite der Wahrnehmenden ............................................................................................15 II.2.3 Die Seite der Erzeugenden: Physiognomien und Ekstasen ..................................................16 II.2.4 In-Erscheinung-Treten eines Menschen...............................................................................19 II.3 Relevanz des Atmosphärenbegriffs von Gernot Böhme ............................................................ 20 III.3.1 Relevanz für die vorliegende Untersuchungsthematik: Lehren als ästhetische Tätigkeit und „Atmosphärische Kompetenz“ im Rahmen einer ästhetischen Bildung........................................20 III.3.2 Relevanz für das methodische Vorgehen der Untersuchung ..............................................21 III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte ................. 23 III.1 Einführung des Begriffs der Unterrichtsatmosphäre................................................................. 23 III.2 Beschreibung von Unterrichtsatmosphären .............................................................................. 26 III.2.1 Gemeinsame Wirklichkeit: Unterrichtsatmosphären als Zwischenphänomene ..................26 III.2.2 Unterrichtsatmosphären als Gestimmte Räume ..................................................................28 III.2.3 Unterrichtsatmosphären als Zeitspielraum .........................................................................29 III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären ....................................................... 31 III.3.1 (Zwischen)Menschliches im Handlungsraum ....................................................................32 III.3.2 Gegenständliches: Architektur, Klassenzimmer und frei gestaltbare Objekte ...................38 III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre ............................................................... 43

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Inhalt III.4.1 Positive Stimmungsqualitäten einer Unterrichtsatmosphäre ..............................................45 III.4.2 Resonanz als Moment des Ergriffenseins und der Reziprozität .........................................48 III.4.3 Koordination: systembildendes und mitreißendes Phänomen ............................................53 III.4.4 Zusammenfassung: Im „Ein-Klang“ sein – Der Unterricht hat Form ................................56

IV Durchführung der Untersuchung ................................................................................................. 59 IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten ................................ 59 IV.1.1 „Teilnehmende Erfahrung“ ................................................................................................59 IV.1.2 Das Erkenntnispotenzial von Leib und Körper ..................................................................64 IV.1.3 Exemplarische Deskription: Beispiele geben und nachvollziehen .....................................65 IV.1.4 Phänomenologisch orientierte Vignetten............................................................................66 IV.2 Untersuchungsdesign ................................................................................................................ 68 IV.2.1 Allgemeine Merkmale: Induktion und Deduktion..............................................................68 IV.2.2 Untersuchungsfeld und Teilnehmende ...............................................................................70 IV.2.3 Methodische Vorgehensweise und Datenerhebung............................................................71 IV.2.3.1 Teilnahme im Untersuchungsfeld .............................................................................. 72 IV.2.3.2 Videoaufnahmen ........................................................................................................ 73 IV.2.3.3 Experteninterviews..................................................................................................... 74 IV.2.4 Analyse und Aufbereitung der Daten .................................................................................76 IV.2.4.1 Kategorisierung des Untersuchungsmaterials ............................................................ 76 IV.2.4.2 Die Vignette als Darstellung „atmosphärischer Momente“ ....................................... 82 IV.2.4.3 Aufbereitung der Interviews in Form von Bericht und Fragmenten .......................... 84 IV.2.4.4 Tabellarische Aufführung der Vignetten (V) und Fragmente (F) .............................. 85 IV.3 Gütekriterien ............................................................................................................................. 87 IV.3.1 Auf die Untersuchung angewandte Gütekriterien nach Mayring .......................................87 IV.3.2 Zum Verhältnis von Subjektivität und Objektivität ...........................................................88 V Untersuchungsertrag und Darstellung des entwickelten Konzepts anhand von Vignetten ..... 91 V.1 Ästhetisierung des Lehrberufs.................................................................................................... 91 V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht ................................................... 93 V.2.1 Einleitendes zum Konzept ...................................................................................................93 V.2.2 Eine Grundhaltung: in der pädagogischen Haltung „musikalisch“ sein ..............................95 V.2.3 Der Begriff des atmosphärischen Vermögens .....................................................................97 V.2.4 Darstellung und Erläuterung der Kategorien anhand von Vignetten und Fragmenten ........99 V.2.4.1 Hauptkategorie Wahrnehmen (perceiving)................................................................ 101

Inhalt

XI V.2.4.2 Hauptkategorie Stimmen (tuning) .............................................................................. 102 V.2.4.3 Hauptkategorie Verbinden (connecting).................................................................... 104 V.2.4.4 Kategorie Aufrechterhalten und Verändern .............................................................. 107 V.2.4.5 Darstellung der Vignetten und Fragmente................................................................. 108

V.2.5 Zusammenfassende Darstellung und Definition des atmosphärischen Vermögens ..........131 V.3 Gedanken zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens .............................................. 132 VI Zusammenfassung und Ausblick ................................................................................................ 135 Glossar der Begrifflichkeiten ........................................................................................................... 139 Literaturverzeichnis .......................................................................................................................... 141 Anhang ............................................................................................................................................... 151 i.

Interviewberichte .................................................................................................................... 151

ii.

Transkript: Gespräch über die Atmosphäre in der Klasse und die Wirkung des Lehrers ...... 168

iii.

Anwendung des atmosphärischen Vermögens auf eine außerschulische Situation ............... 173

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Darstellung Unterrichtsatmosphäre ................................................................................. 43 Abbildung 2: Schematische Darstellung des atmosphärischen Vermögens (Schnittstellen) .............. 131 Abbildung 3: Schematische Darstellung des atmosphärischen Vermögens ........................................ 132 Tabelle 1: Darstellung der Kategorien ...................................................................................................79 Tabelle 2: Bildung der Kategorien .........................................................................................................82 Tabelle 3: Differenzierte Darstellung der Vignetten und Fragmente .....................................................86 Tabelle 4: Darstellung der Vignetten und Fragmente ..........................................................................109

I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz Einleitende Zusammenfassung, Ziel und Fragestellung der Arbeit „Wir leben dauernd in Atmosphären, wir werden durch Atmosphären bestimmt und bestimmen sie selbst.“ (Böhme, 2007, S. 39) Im Kontext der neuen Ästhetik sind Atmosphären (gr. atmós: dt. Dampf, Dunst, Hauch und gr. sphaira: dt. Kugel (Adelung, 2014a, S. 225)) bei Gernot Böhme damit zunächst einmal eins: Alltagserscheinungen. Als solche finden sie sich immer und überall. Indem man über sie spricht, lassen sie sich charakterisieren: So redet man beispielsweise von der nüchternen Atmosphäre eines Büros, der gemütlichen oder eleganten Atmosphäre einer Wohnung, der angespannten Atmosphäre eines Gesprächs, der aufgeheizten Atmosphäre eines Fußballspiels oder von der konzentrierten und mitreißenden Atmosphäre des Unterrichts. Als „primäre Wahrnehmungsgegenstände“ – sprich als das Erste, das man bei einer Begegnung, in einer Situation oder bei einem Anblick spürt – stellen Atmosphären das Grundthema der neuen Ästhetik dar, die sich dem Wortursprung aisthesis nach als allgemeine Theorie der Wahrnehmung versteht. Atmosphären werden durch jemanden wahrgenommen – und: sie werden immer auch erzeugt durch etwas oder jemanden.1 Böhme schreibt Atmosphären damit einen Zwischenstatus zu: Er bezeichnet sie als das „Und“, das solche äußeren Qualitäten mit einem wahrnehmenden Subjekt verbindet. In diesem Sinne kann auch Unterricht, verstanden als das „Und“ zwischen Lehrenden und Lernenden, als Atmosphäre gesehen werden (vgl. Böhme, 2001, S. 53 ff.). Lehrende werden somit in ihrem Tun – immer und meist unbewusst – zu Gestaltenden von Atmosphären, zu ästhetisch Arbeitenden, und das Lehren zur ästhetischen Tätigkeit. Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Stelle an und verknüpft, unter Bezugnahme auf Gernot Böhmes Atmosphärentheorie, die Ästhetik mit der Unterrichtspraxis. Im Rahmen einer „Ästhetisierung des Lehrberufs“ werden hierbei bereits vorhandene Ansätze weiterentwickelt sowie das Lehren, verstanden als ästhetische Tätigkeit, untersucht mit dem Ziel der darauf basierenden Entwicklung eines (fächerübergreifenden) Konzepts für die Lehrerbildung: das „Konzept des atmosphärischen Vermögens“. Im Vordergrund steht hierbei, den Blick auf die Wahrnehmungsebene Unterricht zu lenken, Atmosphärisches sprachfähig zu machen und damit hinzuweisen auf oftmals nur sehr subtil Spürbares. Damit einhergehendes Ziel ist, bei Lehrenden ein Bewusstsein herauszubilden hinsichtlich einer positiven ästhetischen Lehrtätigkeit. Es soll hierbei betont werden, dass dies nicht die Entwicklung einer weiteren Kompetenz bedeutet.2 Vielmehr wird von einem atmosphärischen Lehrvermögen gesprochen, das im Sinne einer Bewusstseinsbildung gebunden an eine innere pädagogische Haltung als Zusatz für Lehrende zu verstehen ist. Im Zusammenhang mit dem Ziel der Konzeptentwicklung lautet die der Arbeit zugrunde liegende Forschungsfrage: Was beinhaltet ein atmosphärisches Lehrvermögen im Hinblick auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre? Dem vorangehend muss die Frage danach gestellt werden, welche Unterrichtsatmosphäre als positiv angesehen werden kann. Zur Beantwortung der Untersuchungsfrage wurde im Rahmen der Arbeit ein empirisches und zugleich theoretisch begleitetes Vorgehen gewählt. Die Teilnahme im Feld stellt die Hauptmethode dar. Das methodische Vorgehen orientiert sich hierbei am Untersuchungsgegenstand: Erst über das Gespürte können Atmosphären bestimmt und darauf basierend dann weiter untersucht werden. Zusätzlich wurden Videoaufnahmen erstellt und ergänzend Experteninterviews geführt. Die Datenanalyse und -aufbereitung erfolgte (in Orientierung an Mayrings Inhaltsanalyse) in Erstellung eines Kategoriensystems sowie schließlich in Form phänomenologisch orientierter Vignetten (und Fragmenten). Der Theorie wird hierbei als „Begleitung“ die Funktion einer Sehhilfe zuteil. Ferner dient sie im Hinblick auf eine möglichst

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Zum Beispiel durch ästhetisch Arbeitende wie Architektinnen und Architekten (vgl. Böhme, 2001, S. 53). Das Unterrichten ist bereits äußerst komplex; Lee Shulman (2004) vergleicht das alltägliche Unterrichtsgeschehen etwa mit einer Notaufnahme (ebd., S. 503/504). Ziel der Arbeit ist nicht, diese Komplexität noch weiter zu erhöhen (vielleicht ist sogar gerade das Gegenteil der Fall).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_1

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I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz

große Objektivierung zur Untermauerung des Gespürten. Das methodische Vorgehen ist dem qualitativen Bereich zuzuordnen und enthält ferner Züge einer (Reflexiven) Grounded Theory. Die Methodik unterstreicht hierbei den Grundgedanken der Arbeit: Es geht nicht darum, etwas zu beweisen, sondern auf etwas hinzuweisen. Auch geht es nicht darum, ein „Patentrezept“ oder einen „Katalog“ herzustellen im Hinblick auf die Erzeugung bestimmter Atmosphären, sondern: durch das (beispielhafte) Benennen sollen Lehrende dazu befähigt (und motiviert) werden, selbst auszuprobieren und zu gestalten.3 Die entwickelte Theorie (Konzept) ist somit als materiale Theorie zu verstehen, deren Potenzial in Richtung einer formalen Theorie zu entwickeln es weiterer Anwendungen bedarf. Stand der Forschung Die wissenschaftliche Verwendung des Atmosphärenbegriffs im Rahmen einer neuen Ästhetik ist noch relativ jung (vgl. hierzu Böhme, 2014, S. 102)4, wobei sich hierbei allem voran theoretische Auseinandersetzungen finden lassen. Die empirische Atmosphärenforschung weist einige Versuche sowie methodische Ansätze auf. Diesbezüglich können die Untersuchungen der Atmosphäre einer Straße von Hasse (2002), „La méthode des parcours commentés“ von Thibaud (2001) und das Werk „Ästhetische Feldforschung“ von Rauh (2012) als Beispiele angeführt werden. Gerade im schulischen Kontext liegen jedoch bisher zum empirischen Erfassen von Atmosphären keine etablierten Methoden vor. Das Erstellen phänomenologisch orientierter Vignetten ist eine Aufbereitungsmethode, die im Rahmen der phänomenologischen Erziehungswissenschaft aktuell vermehrt eingesetzt wird. Diesbezüglich seien die Studie von Agostini (2016) genannt, die Innsbrucker Vignettenforschung (seit 2010) sowie Autorinnen und Autoren wie Meyer-Drawe (z.B. 2008, 2012, 2015), Schratz (z.B. 2012) und Schwarz (z.B. 2012, 2015). Böhmes Atmosphärentheorie findet in unterschiedlichen Praxisfeldern Anwendung. Hierfür können beispielsweise die Musiktherapie (Sonntag, 2016; Deuter, 2005; Weymann, 2005a/b) oder die Architektur (z.B. in Krankenhäusern, Böhme, o.J.) genannt werden. In der Musikpädagogik ist Böhmes Atmosphärentheorie bisher nur wenig bekannt. Zwar stärker an der Ästhetik orientiert und weniger im Zusammenhang mit der Atmosphäre findet sich im Unterrichtsfeld ein aus der Philosophie kommender ästhetisch orientierter Beitrag zur Verbindung von Ästhetik und Lehrerbildung (Jüdt, 2013). Dieser Beitrag stellt jedoch kein praktisch orientiertes Konzept für die Lehrerbildung dar, wie es im Rahmen der Arbeit entwickelt wurde. Mit Bollnow und Friebel finden sich des Weiteren bereits 1964 beziehungsweise 1980 Beschreibungen pädagogischer Atmosphären. Diese beziehen sich jedoch ausschließlich auf das Verhältnis „Erzieher-Zögling“ und ermöglichen daher nicht den umfassenderen Blick, den die allgemeine Ästhetisierung des Lehrberufs bietet. So wird beispielsweise eine pädagogische Atmosphäre als positiv beschrieben, der Unterrichtsgegenstand wird jedoch nicht in die Betrachtung miteinbezogen. In der Lehrerbildung gibt es ferner eine große Anzahl an Kompetenzen, die Berufsanwärterinnen und -anwärter in der Ausbildung erwerben sollen, es liegt jedoch bisher kein eigenständiges Konzept o.Ä. vor, das eine Fähigkeit im Hinblick auf die Gestaltung von Unterrichtsatmosphären beinhaltet.5 Auch wenn häufig nicht in die Praxis umgesetzt, so findet sich das Atmosphärenthema aktuell vermehrt in der Schularchitektur – sowohl im Hinblick auf theoretische als auch empirische Auseinandersetzungen (z.B. Hasse, 2010; Rittelmeyer, 2014). Hierbei geht es um lern- und entwicklungsförderliche At-

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Etwas anderes wäre aufgrund der Komplexität von Atmosphären – sowohl in Bezug auf die Seite der Wahrnehmenden als auch die Seite der Erzeugung – sowie deren Aktualitätsbezogenheit nicht möglich. Denn: Unterrichtsatmosphären sind geprägt zum Beispiel von zahlreichen aktuellen Stimmungen, Erwartungshaltungen, Gefühlen, Einstellungen gegenüber dem Fach, persönlichkeitsbezogenen Erscheinungen, von Tageszeit, Wetter, Wochentag, Monat, Ort etc. Die wissenschaftliche Verwendung begann im Bereich der Psychiatrie (Tellenbach, 1968: „heimatliches Klima“, „Nestgeruch“, „Sphäre der Vertrautheit“, „leiblich-sinnlich spürbar“). Die Phänomenologie hat die Atmosphären inzwischen ausführlich erforscht (vgl. Böhme, 2014, S. 102). Das Fehlen eines solchen Konzepts mag zum einen damit zusammenhängen, dass bisher keine begriffliche Fixierung dessen, was „irgendwie“ und flüchtig da ist, und damit keine allgemeine Sprachfähigkeit, gegeben ist. Zum anderen dringt die Thematik in mancher Hinsicht in den Bereich des Persönlichen vor und ist darüber hinaus kaum bewertbar.

I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz

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mosphären durch die Gestaltung von Schulbauten oder durch den Einsatz spezieller Farben und Formen.6 Als bekannte Beispiele atmosphärischer Gestaltung durch – in diesem Falle „organische“ – Architektur (im Inneren und im Äußeren) sind hierfür die Gebäude der Waldorfschulen zu nennen. Weitere Beispiele finden sich in Abschnitt III.3.2. Atmosphären sind dem schulischen Bereich damit keineswegs unbekannt, rücken jedoch weniger als Forschungsgegenstand an sich in den Vordergrund. So finden in der Unterrichtsforschung Atmosphären beispielsweise im Rahmen der phänomenologischen Erziehungswissenschaft oder der Klimaforschung Erwähnung. Auch hier werden, wenn auch teilweise anders bezeichnet, atmosphärische Phänomene untersucht. Zwar finden sich hier Berührungspunkte zur vorliegenden Atmosphärenforschung, jedoch steht weniger eine allgemeine ästhetische Betrachtung des Unterrichts und damit das Zwischenphänomen an sich im Vordergrund als vielmehr die Erforschung einzelner Merkmale wie zum Beispiel Vertrauen, Anerkennung oder Lernen (vgl. z.B. Schweer, 2017; Prengel, 2013; Meyer-Drawe, 2012b, 2015). Damit zusammenhängend gibt es zahlreiche weitere Aspekte, die Atmosphärisches beziehungsweise auch Randerscheinungen der Atmosphäre darstellen und als Einzelphänomene untersucht werden. Diesbezüglich können Forschungen zur Körpersprache von Lehrpersonen im Unterricht (z.B. Rosenbusch, 1995), Auseinandersetzungen mit der Thematik des Unterrichtsflusses (z.B. Kounin, 2006/1976), eine soziologische Betrachtung zur „Resonanzpädagogik“ (Rosa, 2016b)7 oder eine aktuelle Forschung aus der Musikpädagogik zum Aspekt des „pädagogischen Haltens“ (Spychiger, 2018) genannt werden. Bezüglich des Lehrens als ästhetische Tätigkeit, das auf eine atmosphärische Gestaltung zielt, gibt es in der Forschungsliteratur bisher keine genauere Untersuchung. Es gibt jedoch zahlreiche Autoren, die sich mit dem Lehrerhandeln an sich beschäftigen wie zum Beispiel Dubs (2009), Hattie (2015) oder Oser (1993). Diese sind jedoch eher inhaltlich und weniger atmosphärisch orientiert. Es wird deutlich, dass im pädagogischen Bereich (wenn auch anders bezeichnet) einzelne Atmosphärenmerkmale auftauchen, jedoch keine umfassende ästhetische Betrachtung vorliegt. Basierend auf diesem Forschungsstand lässt sich somit formulieren: Durch die fehlende ästhetische Betrachtung des Unterrichts werden im Unterricht bisher Dinge – Gegenständliches, Methoden o. Ä. – weniger im Hinblick auf ihre Wirkkraft nach außen eingesetzt, sondern vielmehr, um beispielsweise etwas inhaltlich zu zeigen oder zu veranschaulichen. Der Fokus liegt damit verstärkt auf dem Sicht-, jedoch weniger auf dem Spürbaren. Auch die eigene Person, ihre innere Haltung oder ihre Handlungen, werden weniger im Hinblick auf das nach außen Spürbare betrachtet. Es ergibt sich daraus, dass das Potenzial hinsichtlich einer allgemeinen Unterrichtsgestaltung nicht ausgeschöpft ist, Unterricht nicht in seiner Gesamtheit und wesentliche Aspekte des Unterrichts damit nicht beachtet werden. Explizites Wissen hinsichtlich einer Atmosphärengestaltung beziehungsweise des Lehrens als ästhetischer Tätigkeit ist zwar in einzelnen Punkten (s.o.) vorhanden, nicht jedoch im umfassenden Sinne eines allgemeinen atmosphärischen Lehrvermögens. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in die vier Hauptteile II bis V, umrahmt von der Einleitung in Teil I und der Zusammenfassung mit gleichzeitigem Ausblick in Teil VI. Teil II beschreibt zunächst den Kontext (Ästhetik und Ästhetisierung), in dem die Arbeit zu sehen ist, und erläutert für die Arbeit relevante theoretische Grundlagen bezüglich Böhmes Atmosphärenbegriffs. Teil III verknüpft diesen ersten Teil mit der Unterrichts- beziehungsweise Schulpraxis und entwickelt diese Verbindung weiter: Der Begriff der Unterrichtsatmosphäre wird eingeführt, mögliche (Mit-)Erzeugende werden genannt sowie schließlich eine Wertung hinsichtlich einer positiven Unterrichtsatmosphäre vorgenommen. Diese grundlegende Darstellung ist essentiell im Hinblick auf die Frage nach 6

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In der Pädagogik, sowohl im Bereich des Kindergartens, der Grundschule sowie weiterführenden Schulen, spricht man allseits bekannt häufig von der Bedeutsamkeit des Raums als „drittem Erzieher“ (in der Praxis gerade weiterführender Schulen wird jedoch nur selten darauf Rücksicht genommen). Wobei diese Arbeit nicht ohne Kritik zu sehen ist, da es sich, auch wenn es der Titel vermuten ließe, zwar um interessante, in vielerlei Hinsicht jedoch weniger um pädagogische Ansätze handelt.

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I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz

dem Lehren als ästhetischer Tätigkeit, stellt dieses letztendlich ein Wahrnehmen sowie Gestalten von Unterrichtsatmosphären dar. Teil III fungiert somit als Brücke zwischen Ästhetik und Unterrichtspraxis. In der vorgenommenen Verknüpfung und Weiterentwicklung besteht bereits ein erster Ertrag der Untersuchung. In Teil IV wird das methodische Vorgehen der Arbeit ausführlich dargestellt. Die Ausführlichkeit ist begründbar zum einen im Hinblick auf die im Rahmen empirischer Atmosphärenforschung essentiellen Aspekte der Transparenz und der Nachvollziehbarkeit. Zum anderen steht die ausführliche Darstellung im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es bisher nur sehr wenige Beispiele einer empirischen Atmosphärenforschung gibt, sodass das vorliegende Untersuchungsdesign auch ein mögliches Beispiel für weitere Forschungen darstellen kann. Teil V stellt – in Form des Konzepts – schließlich den Ertrag der gesamten Untersuchung dar. Die vorherigen Teile II bis IV werden an dieser Stelle zusammengeführt. Darauf basierend wird das „Konzept des atmosphärischen Vermögens“ im Kontext einer hier vorgenommenen Ästhetisierung des Lehrberufs entwickelt. Im Rahmen dieses Konzepts wird die der Arbeit zugrunde liegende Forschungsfrage beantwortet, was das atmosphärische Lehrvermögen im Hinblick auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre beinhaltet. Abschließend werden Gedanken zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens dargestellt. Teil VI bildet mit der Zusammenfassung und einem gleichzeitigen Ausblick den Abschluss der Arbeit. Im Anhang finden sich die Interviewberichte (einschließlich Interviewleitfaden), ein Transkript sowie ein kurzes Anwendungsbeispiel des atmosphärischen Vermögens auf eine außerschulische Situation. Dem voran gehen das Literatur- sowie das Abbildungs- und Tabellenverzeichnis. Anmerkung: Zur besseren Verständlichkeit wird am Ende vereinzelter Abschnitte beziehungsweise Kapitel der jeweilige vorausgegangene Inhalt noch einmal zusammengefasst und konkretisiert (grauer Kasten). Des Weiteren ist der Arbeit zum Nachschlagen ein Glossar beigefügt, das die in der Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten enthält. Dieses findet sich im Anschluss an Teil VI. Relevanz der Arbeit Folgt man Gernot Böhmes Theorie einer stetigen Allgegenwärtigkeit (vgl. Böhme, 2014, S. 102/103) sowie einer Erzeugbarkeit von Atmosphären (vgl. ebd., S. 34 ff.), so ergibt sich daraus für die Lehrerbildung die Bedeutsamkeit, Lehrenden ein Bewusstsein zu geben für das, was sie tagtäglich und meist unbewusst tun: Sie gestalten Atmosphären.8 Hierbei gilt es, den Blick auf das Unsichtbare zu richten, denn: „alles Unterrichtsgeschehen, alle methodisch so gut abgesicherten Schritte einer pädagogischen Einwirkung [finden] nicht im luftleeren Raum statt […].“ (Friebel, 1980, S. 244) Auch Schubert (2004) sieht in der Atmosphäre ein zentrales Phänomen mit einer praktischen Bedeutung für die Unterrichtspraxis, „das nicht einfach beiseite geschoben werden sollte, weil es in der gängigen wissenschaftlichen Denkweise keinen Platz finde.“ (ebd., S. 107 und 109) Aus der Ästhetisierung des Lehrberufs ergibt sich damit eine allgemeine Relevanz der Arbeit. Damit einhergehend bergen Atmosphären aufgrund ihrer Eigenschaften ein großes Potenzial in sich, das sich Lehrende für die Unterrichtsgestaltung zunutze machen können: die Kraft, einzuhüllen, mitzureißen, unmittelbar zu berühren. Es entstehen hierdurch Momente, in denen die Luft „knistert“, etwas intensiv erfahren wird, Schülerinnen und Schüler etwas ergreift, Reziprozität entsteht, einander wahrgenommen wird. Als Kehrseite birgt eine Missachtung des Atmosphärischen gerade im pädagogischen Bereich mögliche Gefahren in sich: Ein Gefühl der Angst beispielsweise, fehlende wechselseitige Anerkennung oder fehlende Beziehungssicherheit können negative Entwicklungsfolgen mit sich bringen 8

Deutlich wird die Bedeutsamkeit des Zusammenspiels auch hinsichtlich einer Aussage Böhmes in Bezug auf die Architektur: „Die Architektur beispielsweise lebt gewissermaßen in einem permanenten Missverständnis ihrer selbst. Architekten denken, dass sie einfach Gebäude gestalten, aber was sie wirklich erzeugen, sind Atmosphären, d.h. Räume mit einer bestimmten Grundstimmung, die das Lebensgefühl der Menschen bestimmen. Die Architekten sind in ihrer ganzen Ausbildung und Selbstpräsentation total auf das rein Visuelle fixiert. […] das heißt, sie haben kein klares Bewusstsein von dem, was sie faktisch machen.“ (ebd./vgl. Weymann, 2005b, S. 309)

I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz

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(s. hierzu z.B. Prengel, 2013 und 2014; Krumm und Eckstein, 2012). Bereits ein einzelnes Wort kann ferner verletzend wirken und eine Atmosphäre „vergiften“, denn: „[…] all die tausend Dinge, die Lehrende im Schultag tun, sagen oder nicht tun, [haben] eine normative Bedeutung“ (Van Manen, 1995, S. 70).9 So ist es nicht nur wichtig, ein Bewusstsein dafür zu erzeugen, dass Atmosphären im Klassenzimmer allgegenwärtig sind, sondern auch, entsprechend damit umzugehen, denn: Lehrende und Lernende „sind Personen, die miteinander leben und sich unvermeidlich angenehm oder unangenehm berühren. Tritt man doch immer, wie man einem bekannten Menschen naht, in eine bestimmte Atmosphäre von Empfindungen! Welche Atmosphäre, das darf für die Erziehung nicht vom Zufall abhängen, sondern eine beständige Sorgfalt ist nötig, ernstlich, um die Wirksamkeit dieser Atmosphäre zu schwächen, wenn Gefahr ist, daß sie nachteilig werden könnte; zweitens ihre wohltätigen Einflüsse anhaltend zu verstärken (…).“ (Herbart, 1986; zitiert nach Schubert, 2004, S. 108) Geeignete atmosphärische Bedingungen zu schaffen betrachtet auch Bollnow als „unerlässliche Voraussetzung[, die] vorhanden sein müssen, damit überhaupt so etwas wie Erziehung gelingen kann“ (Bollnow, 2013/1964, S. 187). Nicht zuletzt ist es auch bedeutsam aufzuzeigen, dass hierbei nicht nur Schülerinnen und Schüler von einer positiven Atmosphäre profitieren, sondern auch die Lehrpersonen: Basierend auf einem menschlichen Grundbedürfnis bildet zum Beispiel Anerkennung auch für sie einen wichtigen Nährboden (vgl. z.B. Spychiger, 2015, S. 14 und Honneth, 2014). Des Weiteren ist im Zusammenhang mit dem Lehrerhandeln der Aspekt der Bewusstseinsbildung relevant. Lehren stellt ein zum großen Teil unmittelbares Handeln in der jeweiligen Situation dar, das oftmals kein langes Nachdenken über pädagogische Taktiken zulässt (vgl. hierzu Van Manen, 1995, S. 69 und 66)10. Mit der vorgenommenen Ästhetisierung wird jedoch nicht nur ein Bewusstsein geschaffen für etwas, das sonst nicht explizit Beachtung findet. Es ergeben sich hierdurch auch zahlreiche neue Gestaltungsmöglichkeiten: von der Klassenzimmergestaltung über die Darstellung des Unterrichtsgegenstandes bis hin etwa zum eigenen Auftreten.11 Darüber hinaus ist das Thema der Arbeit und damit die Herausbildung eines sensibilisierten Bewusstseins gerade auch in der heutigen Zeit von großer Relevanz: fortschreitende technische Neuerungen, verstärkte Digitalisierung (auch in der Schule), ästhetische Ökonomie und damit auch die Manipulation und Beeinflussung durch Atmosphären (vgl. hierzu auch Böhme, 2007) – gerade hier sieht Böhme in der ästhetischen Erziehung und damit in der Beschäftigung mit Atmosphären eine bedeutsame Aufgabe. So schreibt er, es sei wichtig, die Leiblichkeit (ohne das Körperliche auszuklammern) zu stärken und den Fokus auch auf das Spüren zu legen – im Hinblick auf das Äußere (Umgebung und andere Menschen), aber auch auf das eigene Selbst (vgl. hierzu ebd., S. 40 ff.). Mit einem fehlenden Spüren aufkommende Momente der Fremdheit und der Isolation können so umgangen werden12, denn: „Wo wir nicht (mehr) wahrnehmen (können) und keine Zeit (mehr) haben, da sind wir der Welt verlustig gegangen, was uns ein Gefühl der Entrückung gibt.“ (Herzog, 2002, S. 111) Die Arbeit ist insofern für Lehrende und ihr pädagogisches Handeln relevant sowie, sofern Atmosphären zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden, auch für die Heranwachsenden – sowohl in der Unterrichtspraxis als gerade auch (!) über sie hinausgehend.

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Ähnlich dem „spürenden Handeln“ finden sich diesbezüglich in der Literatur Ausführungen zur Bedeutung eines taktvollen Handelns seitens der Lehrperson. Neben Van Manen (1995) kann auch Herzog (2002) genannt werden, der davon spricht, es brauche seitens der Lehrperson unter anderem Fingerspitzengefühl, Takt und Intuition hinsichtlich einer „zuständlichen Wirklichkeit“ (Herzog, S. 85 und vgl. Herzog S. 528 ff.). Van Manen (1995) bezeichnet den pädagogischen Takt als „auf eine nachdenkliche Weise gedankenlos“ (ebd., S. 70). Diesbezüglich schreibt auch Spychiger (2015), Unterrichten sei ein Gestaltungsprozess und könne deshalb von der Ästhetik „gute Ratschläge“ erhalten (vgl. ebd., S. 110). Diese Thematik war Gegenstand eines Gesprächs mit Böhme (am 15.2.2018), bei dem er über solche Momente sprach. In diesem kritischen Kontext kann die Arbeit gleichzeitig auch als Appell gesehen werden, das Spüren, auch zum Beispiel in Rahmen von Digitalisierungen, im Unterricht nicht zu verlieren.

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I Einleitung: Ziele, Fragestellung und Relevanz

Zur Bedeutung für die Musikpädagogik (und analog für andere Fachrichtungen) sei angemerkt, dass die vorliegende Arbeit unter anderem mit der Verbalisierung des Atmosphärischen das Feld öffnet und damit Raum gibt für weitere mögliche Forschungsprojekte spezifisch auf den Musikunterricht bezogen.13 Ähnlich in die Zukunft weisend ist auch die Relevanz im Hinblick auf das methodische Vorgehen. Da es bisher keine gängige Methode zur empirischen Erforschung von Atmosphären gibt, stellt die Methodik der Arbeit ein mögliches Beispiel dar und leistet diesbezüglich, gerade auch im Hinblick auf die Gestaltungsforschung von Atmosphären, einen methodischen Beitrag für zukünftige Forschungsprojekte. Anmerkung zum Titel: „Stimmungen weben“ „Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt!“ (Faust I, V447 ff.)

„Stimmungen weben“ bedeutet, ein feines Gewebe aus Stimmungen herstellen: Stimmungen wahrnehmen, aufgreifen, miteinander verbinden, sich verbinden, miteinbinden, eingewoben sein. Längs- und Querfäden werden miteinander verbunden, keine festen „Stricke“, sondern dünne „Fäden“ – Stimmungen – die jedoch auch unterschiedliche Stabilitäten aufweisen können. Es entsteht eine Art fragiles „Atmosphärennetz“. „Gewebt“ wird hierbei nicht mit einem Webstuhl, sondern vielmehr im Sinne eines Kunsthandwerks durch die Lehrperson selbst: durch wirkende Blicke etwa, Worte, Hände oder auch durch die Erscheinung von Gegenständen. Der Begriff des Webens als Metapher ist hierbei passend gewählt. Zum einen konnotiert er Feinheit, Durchlässigkeit, Beweglichkeit14 und verweist damit auf den Charakter einer Atmosphäre. Das Atmosphärische findet sich hier im Zusammenhang mit dem Weben auch in Ausdrücken wie „ein sagenumwobener Gegenstand“ – ein Gegenstand, den „etwas“ umgibt15 (vgl. Duden online). Zum anderen birgt der Begriff des Webens zugleich auch wertvolle Aspekte der Pädagogik in sich: Flexibilität; bewegliche und zugleich Halt gebende Festigkeit, ohne jedoch zu umklammern; Wechselseitigkeit. Ferner entspringt der Begriff des Webens einer langen Tradition, was ihm an sich bereits eine Bedeutung zumisst. Schon in der Bibel ist bei Paulus von „Leben und Weben“ die Rede16, bei Goethes Faust findet er sich mehrfach und in unterschiedlichen Kontexten17, des Weiteren gebraucht Tellenbach (1968) den Begriff „Feines Weben“ (ebd., S. 48) und Schmitz (1999) spricht im Zusammenhang mit der Atmosphäre vom Weben eines zarten Netzes durch die subtile Sprache eines Dichters (ebd., S. 181). Auch in diesen Beispielen sind die beschriebenen Konnotationen jeweils enthalten; die Zeit überdauernd unterstreicht dies die sprachliche Festigkeit und damit einhergehend die Wertigkeit des Begriffs.

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Ein Beispiel hierfür könnte die Untersuchung der Wirkung des Vorspielens auf einem Instrument seitens der Lehrperson in Gegenüberstellung zur Wirkung von Musik, die über Lautsprecher abgespielt wird, darstellen. Die ursprüngliche Bedeutung von weben im Althochdeutschen: sich bewegen (Adelung, 2014b, S. 436). Oder: „um das Schloss webt sich manche Sage“ – „etwas“, das auf geheimnisvolle Weise allmählich entsteht (s. Duden online). „Denn in ihm leben, weben und sind wir; […]“ (Apostel Paulus, Apg 17, 28). Zum Beispiel: Faust I V 3449/3450: „…und webt in ewigem Geheimnis unsichtbar sichtbar neben dir?“; V2715 ff.: „Und hier mit heilig reinem Weben entwirkte sich das Götterbild!“

II Theoretischer Rahmen Als theoretischer Rahmen und Basis der Arbeit befasst sich dieser Teil im Kern mit der Darstellung des Atmosphärenbegriffs von Gernot Böhme hinsichtlich für die Arbeit relevanter Punkte (Kapitel II.2). Eingebettet in den Kontext der neuen Ästhetik und damit zusammenhängend der Ästhetisierung erfolgt zunächst dessen Vorstellung (Kapitel II.1). In Kapitel II.3 wird abschließend auf die Relevanz von Böhmes Ansatz für die vorliegende Arbeit eingegangen. II.1 aísthēsis – Atmosphären im Kontext einer neuen Ästhetik II.1.1 Aisthetik als neue Ästhetik Im Gegensatz zur traditionellen Ästhetik, die im Wesentlichen weniger als Theorie sinnlich-leiblicher Erfahrung, sondern vielmehr als Urteilsästhetik mit der Kunst als Hauptgegenstand aufgefasst werden kann (vgl. Böhme, 2014, S. 23 und ebd., 2001, S. 30/31), ist die neue Ästhetik von ihrem Wortursprung Aisthesis (dt. Wahrnehmung, Empfindung; vgl. Trebeß, 2010, S. 3) her zu verstehen. In diesem Sinne betrachtet stellt sie eine allgemeine Theorie der Wahrnehmung dar, geknüpft an die Begriffe der affektiven Betroffenheit durch das Wahrgenommene, der Leiblichkeit18 und einer „Wirklichkeit der Bilder“ (vgl. Böhme, 2014, S. 47). Es ist eine Ästhetik, bei der der Begriff der Atmosphäre nicht nur im Diskurs, sondern darüber hinausgehend auch als Theorie auftaucht: „Wahrnehmen ist im Grunde die Weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet. Der primäre Gegenstand der Wahrnehmung sind die Atmosphären. Es sind weder Empfindungen noch Gestalten, noch Gegenstände oder deren Konstellationen, wie die Gestaltpsychologie meinte, was zuerst und unmittelbar wahrgenommen wird, sondern es sind die Atmosphären, auf deren Hintergrund dann durch den analytischen Blick so etwas wie Gegenstände, Formen, Farben usw. unterschieden werden.“ (vgl. ebd., S. 47/48) Eine Ästhetik als Aisthetik ist überall gegeben, wo solche sinnlich-leiblichen Erfahrungen vollzogen werden. Und: „Mit den Atmosphären als Grundthema wird die Ästhetik erst recht sie selbst: Lehre von der Aisthesis.“ (ebd., S. 277) Um welche Art der Wahrnehmung es hierbei geht, erklärt Böhme am Beispiel eines Baumes. Diesen Baum kann man sehend wahrnehmen, man kann ihn jedoch auch empfinden: Steht man in seiner Nähe, zum Beispiel unter ihm, so spürt man etwa seine Mächtigkeit, sein von ihm ausgehendes Gefühl der Geborgenheit, seine Höhe. Hierbei bleibt der Baum Gegenstand der Wahrnehmung, verschwindet jedoch als Gegenstand, entzieht sich dem Blick (vgl. Böhme, 2001, S. 36/37). Ein anderes Beispiel findet sich im Bereich der Materialästhetik: „Wir spüren das Material, insofern die Atmosphäre, die Materialien ausstrahlen, in unsere Befindlichkeit eingeht. Wir spüren die Anwesenheit der Materialien, indem wir uns in ihrer Gegenwart in bestimmter Weise befinden.“ (Böhme, 2014, S. 54)19 Die Art der Erfahrung besteht weder im direkten körperlichen Kontakt noch ist sie ausschließlich eine sinnliche Wahrnehmung im Sinne einer Aufnahme der Sinnesdaten durch die fünf klassischen Sinne, sondern sie ist ein leibliches Spüren (vgl. ebd., S. 56). Eine solche Wahrnehmung stellt so verstanden einen Anregungszustand dar, und sie ist Wahrnehmenden und Wahrgenommenen gemeinsam, es ist eine „geteilte Wirklichkeit“: „Das wahrnehmende Subjekt ist wirklich in der Teilnahme an der Gegenwart der Dinge, das wahrgenommene Objekt ist wirklich in der wahrnehmenden Präsenz des Subjekts.“20 (ebd., S. 247) Wahrnehmung als Aisthesis bedeutet also primär die sinnlich-leibliche Erfahrung von Atmosphären. Zugleich stellt sie auch die Basis dar für einen Erkenntnisgewinn: Die Ästhetik „untersucht den Zusammenhang der Qualitäten von Umgebungen und der Befindlichkeiten. Sie fragt, wie bestimmte, durchaus objektiv feststellbare Eigenschaften von Umgebungen unser Befinden in diesen Umgebungen modifizieren.“ (Böhme, 2014, S. 16) Dadurch wird eine zweite Bedeutung von Aisthesis deutlich: Aisthesis

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Zum Begriff des Leibes s. II.2.2 und Glossar. Hierbei ist die Weise, in der das Material (oder analog dazu der Baum) atmosphärisch erfahren wird, diejenige, mit der man den Charakter dieses Materials benennen würde (vgl. Böhme, 2014, S. 56). Böhme unterscheidet Wirklichkeit von Realität. Mehr dazu s. III.2.1 und Glossar.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_2

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II Theoretischer Rahmen

als Wahrnehmung, die im Sinne einer objektiven Feststellung erkenntnisartig21 ist (vgl. Welsch, 1996, S. 26). Wahrnehmung als Aisthesis: 1. Sinnlich-leibliche Erfahrung von Atmosphären, 2. gegenstandsbezogene, erkenntnisartige Wahrnehmung. II.1.2 Ästhetisierung des Realen: zwischen Sein und Schein, Grundbedürfnis und Macht Die Anforderungen an die neue Ästhetik werden hierbei von außen gestellt: „Es ist die progressive Ästhetisierung der Realität, d.h. des Alltags, der Politik, der Ökonomie, und es ist die durch das Umweltproblem erzwungene Frage nach einem anderen Verhältnis zur Natur, dem sie zu entsprechen versucht. Für beide Aufgaben ist die traditionelle Ästhetik von Kant bis Adorno nicht gerüstet. Eine vornehmlich an Kunst und dem Kunstwerk orientierte Ästhetik konnte die Ästhetisierung der Realität nur als Kitsch, Kunsthandwerk oder als angewandte Kunst mit abfälligen Blick streifen.“ (Böhme, 2014, S. 7.) Die fortschreitende Ästhetisierung der Realität ist nicht nur heute immer stärker zu beobachten. Bereits Wolfgang Welsch spricht 1996 im Allgemeinen von einem „Ästhetik-Boom“ (ebd., S. 9). Im Folgenden werden verschiedene Bereiche der Ästhetisierung angesprochen. Sie alle stehen im Zusammenhang mit dem, worum es bei einer Ästhetisierung grundlegend geht: um die Herstellung von Atmosphären. Ästhetisierung der Realität Ästhetisierung bedeutet grundsätzlich, Nichtästhetisches ästhetisch zu machen oder als solches zu begreifen (vgl. Welsch, 1996, S. 20/21); etwas wird auf Wahrnehmungen und Empfindungen hin ausgelegt. Die Ästhetisierung des Realen meint nun „am schlichtesten die ästhetische Aufmachung, die Zurichtung und […] Inszenierung von allem, womit und worin wir leben.“ (Böhme, 2001, S. 20) Eine solche Ästhetisierung reicht vom (alltäglichen) Konsumverhalten über das individuelle Styling und zur Stadtgestaltung hin zur Politik (vgl. hierzu Benjamin, 2016/1936, S. 94) und zum gesellschaftlichen Denken – sie zieht sich quer durch alle Bereiche der Lebenswelt (vgl. Welsch, 2016, S. 15). In der urbanen Umwelt bedeutet sie zum Beispiel das Vordringen des Schönen, in der Werbung und im Selbstverhalten geht es um Inszenierung und Lifestyle, in der Technologie der objektiven und in der medialen Vermitteltheit der sozialen Welt um Virtualisierung (vgl. Welsch, 1996, S. 20/21). Wirklichkeit nimmt einen Charakter der Veränderbarkeit an, der Unverbindlichkeit und des Schwebens (vgl. ebd., S. 20/21). Es wird deutlich, dass man von zwei Welten sprechen kann: auf der einen Seite die häufig dominierende Welt des Scheins, der Aufmachung, des Ausdrucks, des Sich-Zeigens von Subjekten und Objekten sowie auf der anderen Seite die dahinter stehende Welt des Realen, des Physisch-Chemikalischen (vgl. Böhme, 2014, S. 13 ff.). Oberflächenästhetisierung – Tiefenästhetisierung Etwas differenzierter lässt sich die Ästhetisierung mit Welschs Unterscheidung zwischen Oberflächenund Tiefenästhetisierung betrachteten. Erstere beschreibt die Ästhetisierung auf vordergründiger Ebene im Sinne einer „Überzuckerung des Realen mit ästhetische[m] Flair“, mit ästhetischen Elementen (vgl. Welsch, 1996, S. 11). Städte, Ökologien, Einkaufszonen, Bahnhöfe – überall dreht es sich um Verschönerungen, Animationen, Erlebnisschaffungen, Entertainment (vgl. ebd., S. 10 und S. 12), und jede und jeder Einzelne wirkt hierbei durch individuelle Stylings und Erscheinungsbilder an der Ästhetisierung mit (vgl. ebd., S. 204): „Die Fassaden werden hübscher, die Geschäfte animatorischer, die Nasen perfekter.“ (ebd., S. 20) Die Ästhetisierung reicht aber auch tiefer, betrifft dann „grundlegende Strukturen der Wirklichkeit als solcher: der materiellen Wirklichkeit im Gefolge der neuen Materialtechnologien, der sozialen Wirklichkeit infolge ihrer medialen Vermittlung und der subjektiven Wirklichkeit infolge der Ablösung moralischer Standards durch Selbststilisierungen.“ (ebd.) So erweist sich die „einst für

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Es ist wichtig, von erkenntnisartig zu sprechen, denn: Erkenntnis ist immer verbunden mit Distanz, mit Fakten. Dies ist beim Wahrnehmen von Atmosphärischem jedoch nicht gegeben. Atmosphären stellen eher die Basis dar für einen Erkenntnisgewinn.

II.1 aísthēsis – Atmosphären im Kontext einer neuen Ästhetik

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hart gehaltene Wirklichkeit […] als veränderbar, neu kombinierbar und offen für die Realisierung beliebiger ästhetisch konturierter Wünsche.“ (Welsch, 1996, S. 14/15) Diese Ebene bezeichnet Welsch als Tiefenästhetisierung. Die Unterscheidung einer vordergründigen und einer tiefer liegenden Ästhetisierung wird besonders deutlich am Beispiel des Individuums: Ästhetische Perfektionierung der Körper und Körperkult im Fitnessstudio als oberflächliche Beispiele sowie tiefergehend zum Beispiel die ästhetische Spiritualisierung der Seele in Meditationskursen (vgl. ebd., S. 17/18).22 Potenzial und Kritik Die fortschreitende Ästhetisierung ist im Allgemeinen nicht ohne Problematik zu sehen, wobei sie weder pauschal als gut oder schlecht bewertet werden kann, zu weitreichend sind ihre Ausprägungen und die Bereiche, die sie in der heutigen Zeit betrifft. Nicht unkritisch zu sehen ist beispielsweise der angesprochene Aspekt der Erlebnisschaffung: Erlebnis-Büro, Erlebnis-Kauf, Erlebnis-Gastronomie, ErlebnisWohnen, Bahnhöfe als „Erlebniswelt mit Gleisanschluss“23 (Welsch, 1996, S. 11). Aktuell lassen sich des Weiteren auch Werbeslogans wie „Kauf dich glücklich“ oder „Mehr als nur Essen“ finden. Jedoch: „Die Erlebnisse sind wohl gar keine. Sie sind eher schal und öd. Deshalb sucht man schnell nach dem nächsten Erlebnis und hastet so von einer Enttäuschung zur anderen.“ (ebd., S. 264) Nicht nur Erlebnisse bleiben unbefriedigt. Auch beispielsweise das Bedürfnis nach Selbstinszenierung oder die Befriedigung einfachster Grundbedürfnisse stehen damit im Zusammenhang. Böhme gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff der „Ästhetischen Ökonomie“ und meint damit eine fortgeschrittene Form des Kapitalismus, genauer „ein Wirtschaftssystem, das sich entwickelt, dann und wenn die elementaren Bedürfnisse bereits befriedigt sind“ (Böhme, 2012, S. 146). Dieses System setzt auf die Bedürfnisse des Menschen, die durch ihre Erfüllung nicht befriedigt, sondern noch einmal mehr gesteigert werden. Ein solches Begehren stellt beispielsweise das Bedürfnis dar, gesehen zu werden, als Individuum in Erscheinung zu treten (vgl. ebd.). Und das mit ständig neuer und vermeintlich individuellerer, besserer Ausstattung als zuvor. Auch im Bereich der Waren geht es nicht mehr um eine Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, sondern um die Reizung beständiger „Gier nach Lebenssteigerung“ (Böhme, 2014, S. 47). Grundbedürfnisse, die kaum zu befriedigen sind und in sich die ständige Möglichkeit unendlicher Steigerung tragen. Eine „Verschwendungsökonomie“ (ebd.) und, von der anderen Seite aus gesehen, eine „ökonomische Macht“ (ebd., S.45), die sich die Menschen unterwirft, indem sie Emotionen hervorruft und Begehrlichkeiten erzeugt (vgl. ebd.): „Es gibt ästhetische Bedürfnisse und es gibt eine ästhetische Versorgung. Es gibt allerdings die ästhetische Lust, aber es gibt auch die ästhetische Manipulation.“ (ebd., S. 48)24 Im Grunde genommen folgt die Ästhetisierung der Alltags- und Lebenswelt der Legitimierung, die sich aus menschlichen Grundbedürfnissen heraus ergibt: Menschen streben danach, wahrgenommen zu werden, häufig einhergehend mit dem Bedürfnis des Sich-Zeigens und Aus-sich-Heraustretens (vgl. Böhme, 2012, S. 146). Sie verlangen nach Wohlbefinden und atmosphärischer Mitbestimmung der eigenen Umgebung, nach Schönheit (vgl. Böhme, 2014, S. 42). Diesbezüglich schreibt Böhme: „Das Atmosphärische gehört zum Leben, und die Inszenierung dient der Steigerung des Lebens.“ (ebd., S. 46). Im Sinne einer „Wirklichkeitskosmetik“ (Welsch, 1996, S. 13) hat eine solche Ästhetisierung durchaus positive Seiten, denkt man beispielweise an die Verschönerung von Städten.25 Ein weiteres Potenzial besteht in

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Welsch spricht diesbezüglich von einem „Homo aestheticus“ als neuer Leitfigur (Welsch, 1996, S. 18). Diese Bezeichnung bezieht sich auf den Kölner Hauptbahnhof. Es sei angemerkt, dass sich diese Betrachtung vor allem auf unseren Kulturkreis bezieht. Ein Beispiel hierfür stellt die Verwendung illuminativer Mittel dar: Atmosphären des Lichts umkleiden die Architektur, laden die Gebäude mit verschiedenen Qualitäten auf (z.B. „beheimatungsfähige Vitalqualitäten“ oder lassen im „‘fremden Licht‘“ erscheinen (vgl. Hasse, 2012, S. 33/34), Licht als „Erlebnissteigerung von Architektur“ (ebd. S. 37), als „Werkzeug“ und als „Stimmungsmittel“ (Weigel, 1925; zitiert nach Hasse, 2012, S. 37).

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II Theoretischer Rahmen

der ästhetischen Reflexion und damit einhergehend der Bildung eines ästhetisch sensibilisierten Bewusstseins. Eine Sensibilisierung, die auch auf Lebensweltliches und soziale Fragen übertragen werden, gar in gesellschaftliche Prozesse eingreifen kann (vgl. Welsch, 1996, S. 58 ff.).26 Kritisch kann es im Allgemeinen jedoch dann werden, wenn die Ästhetik zur „Essenz“ wird (vgl. ebd., S. 14), der Schein vor das Sein tritt beziehungsweise wenn es zu einer Vertauschung von Sein und Schein kommt und die Seinsweise der Wirklichkeit im Ganzen betroffen ist. Vor dem Hintergrund von Fritz Haugs These zur Warenästhetik – Gebrauchswert verschwindet hinter dem Tauschwert – formuliert Böhme diesbezüglich: „Wir haben es mit einer Dominanz des Ausdrucks gegenüber dem Sein der Dinge zu tun. Diese Dominanz bedeutet bei aller Explikation und Show eine Verdrängung, ein Unsichtbarwerden des Realen. Die Ästhetisierung des Realen ist zugleich ein Prozess der Verdrängung. Wir befinden uns in einem theatralischen Zeitalter, einem neuen Barock.“ (Böhme, 2014, S. 13/14) Im Hinblick auf die Waren steht dann nicht mehr der Artikel an sich im Vordergrund, sondern: „man kauft sich mittels seiner in den Lifestyle ein, den die Werbung mit ihm assoziiert hat.“27 (Welsch, 1996, S. 14) Ästhetik wird damit zur „Leitwährung“ der Gesellschaft, es wird hierbei fernab der realen Eigenschaften gekauft, Ware und Verpackung werden vertauscht (vgl. ebd., S. 13/14). Diese Vertauschung von Sein und Schein wird auch kritisch, wenn beispielsweise mediale Scheinwelten bedeutsamer werden als das, was an Realität dahinterzustehen vermag (vgl. Böhme, 2001, S. 20), die Wirklichkeit dadurch gar konstituiert wird. Oder in der Politik etwa, wenn Inszenierungen zum Eigentlichen und damit zum Entscheidenden werden (vgl. Böhme, 2014, S. 43). Als nicht ganz unkritisch zu sehen ist im Hinblick auf das Individuum ferner ein Zuviel an Ästhetisierungsprozessen, dann, wenn „nichts mehr übrig bleibt als eine Atmosphäre, eine diffuse Stimmung, die wir kaum mehr beschreiben können. Wir nehmen nicht mehr bewusst wahr, spüren aber etwas. ‚Irgendwie‘, wie das Zauberwort für diese Erfahrungen lautet, gefällt oder missfällt uns irgendetwas. Mehr wissen wir davon nicht zu sagen.“ (Liessmann, 2010, S. 38/39) Welsch bezeichnet dies als Hyperästhetisierung (vgl. Welsch, 1996, S. 204 ff.). Die Folge dieses Zuviels ist eine Anästhetisierung, sprich eine Entweichung der Sinnlichkeit, eine Desensibilisierung, eine sinnlichen Überreizung mit gleichzeitigen Wahrnehmungsverlust (vgl. Welsch, 2016, S. 12), eine „Betäubung durch ständige ästhetische Überdrehtheit“ (Welsch, 1996, S. 57). Gerade im Rahmen des allgemeinen Ästhetisierungsbooms oder im „Bombardement der Sinne“, wie Welsch es formuliert, werden somit ein Innehalten sowie Zonen der Unterbrechung, der Pause und Stille umso wichtiger (vgl. ebd., S. 259). Welsch formuliert dahingehend ein „ästhetisches Grundgesetz“: „[…] unsere Wahrnehmung [braucht] nicht nur Belebung und Anregung, sondern auch Verweilen, Ruhezonen und Unterbrechungen.“ (ebd., S. 57) Denn: „Die Totalästhetisierung läuft auf ihr Gegenteil hinaus. Wo alles schön wird, ist nichts mehr schön; Dauererregungen führen zu Abstumpfung; Ästhetisierung schlägt in Anästhetisierung um. Gerade ästhetische Gründe sprechen also dafür, den Ästhetisierungstrubel zu durchbrechen. Inmitten der Hyperästhetisierung tun ästhetische Brachflächen not.“ (ebd.) Ästhetisierung: Nichtästhetisches wird ästhetisch gemacht oder als solches begriffen, etwas wird auf Wahrnehmungen und Empfindungen hin ausgelegt; betrifft alle Bereiche des menschlichen Lebens; Oberflächenästhetisierung (z.B. Verschönerung von Städten) und Tiefenästhetisierung (betrifft grundlegende Strukturen, z.B. Bewusstsein); Potenzial: z.B. Verschönerung von Städten, sensibilisiertes Bewusstsein, Gefahr: Schein gerät vor das Sein, Ästhetik wird zur Essenz, Dauerberegnung/Abstumpfung durch Hyperästhetisierung. II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme Atmosphären finden sich in verschiedenen Bereichen: in der Astronomie, in der Physik, in der Malerei, im Theater, Tanz oder in der Musik. Es ist die Rede von Atmosphären, wenn Fachleute vom Wetter sprechen, von der Inneneinrichtung oder von der „Atmo“ eines Werbeclips. Beim Sport oder auf einem 26

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Welsch formuliert diesbezüglich: „Wie wir Menschen mit unseren Sinnen umgehen, wirkt sich auch auf unser übriges Selbstsein und unser Weltverhalten insgesamt aus.“ (Welsch, 1996, S. 235) Die Werbung – nicht mehr die Kunst! („Kunst ist überflüssig geworden, weil sie gesiegt hat.“ (Welsch, 1996, S. 206)) – vermittelt ästhetische Inhalte (vgl. Schirner, 1991; nach Welsch, 1996, S. 205).

II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme

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Fest drehen sich Gespräche häufig um Atmosphären, des Weiteren in der Architektur oder aber in der Analyse kommunikativer Situationen. Eine Atmosphäre kann als drückend empfunden werden, als angespannt, friedvoll, fröhlich oder gar mitreißend. Zur Bestimmung von Atmosphären (gr. atmós: dt. Dampf, Dunst, Hauch und gr. sphaira: dt. Kugel) werden im Duden (online) Synonyme wie Glashülle, Ausstrahlung, Air, Duft, Flair, Fluidum, Hauch, Klima, Stimmung oder auch Ambiente, Milieu und Umgebung angegeben. Es wird hierbei deutlich, dass Atmosphären sowohl in ihrer begrifflichen Zuordnung als auch bezüglich dessen, was sie sind, komplexe Gebilde darstellen. Zusammenfassend sind Atmosphären nach Böhme vor allen Dingen zunächst einmal eins: Sie sind Alltagserscheinungen. Als solche können sie überall und jederzeit spürbar werden, begegnen sie jedem täglich im Alltag: In der Politik, in der Kunst, der Architektur, der Werbung, im Design oder in der Schule. Immer stellen sie ein „Mehr“ (Adorno; nach Böhme, 2014, S. 21) von etwas dar und werden erfahren im leiblichen Betroffensein. Böhmes Betrachtung von Atmosphären setzt genau bei diesen Alltagserscheinungen und damit auch in der alltäglichen Sprache an: „Es sind Redeweisen, mit denen man sich leicht über eine Stimmung, die in der Luft liegt, verständigt, über das emotionale Klima28, das im Raume herrscht.“ (Böhme, 2007, S. 38)29 Der Begriff der Atmosphäre als Grundthema der neuen Ästhetik wird bei Böhme sowohl von der Rezeptionsseite als auch stark von Seiten der Produktion analysiert. Darauf bezogen wird im Rahmen dieses Kapitels neben der allgemeinen begrifflichen Darstellung zum einen auf den Begriff der Wahrnehmung im Sinne eines Sich-Befindens, eines Betroffenseins eingegangen. Auf der Produktionsseite werden die von Böhme verwendeten Begriffe der Physiognomie und der Ekstase aufgegriffen. II.2.1 Atmosphären als Wahrnehmungsgegenstände „Am Anfang steht der umfassende, überwältigende Eindruck – vielleicht das Ergriffensein von der plötzlich in Erscheinung tretenden Pracht einer Landschaft oder die Wirkung, die wir beim Betreten einer Kathedrale empfinden, wenn Dämmerlicht, Weihrauch und majestätische Proportionen zu einem unbestimmbaren Ganzen verschmelzen. Wir sagen zu Recht, wir seien von einem Gemälde betroffen. Es gibt ein Betroffensein, das aller klaren Erkenntnis dessen, worum es sich handelt, vorausgeht.“ (John Dewey, 1995/1934)

Der Begriff der Atmosphäre Böhme betrachtet Atmosphären als Gegenstände ästhetischer Wahrnehmung, die sowohl einen objektiven Ist-Zustand voraussetzen als auch ein wahrnehmendes Subjekt. Dabei sind Atmosphären weder (emotionale) Zustände des Subjektes noch stellen sie Eigenschaften des Objektes dar (vgl. Böhme, 2014, S. 33). Vielmehr definiert Böhme den Begriff der Atmosphäre als ein Dazwischen, das aus der Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden heraus entsteht: „Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären.“ (ebd., S. 23) Als solche sind sie primäre Gegenstände der Wahrnehmung und auf relationaler Ebene „gemeinsame Wirklichkeit“ von Objekt und Subjekt (vgl. Böhme, 2001, S. 55). Dieses „Und“ setzt also etwas voraus, das wahrgenommen werden kann sowie gleichzeitig ein wahrnehmendes, spürendes Subjekt, woran wiederum die Bedingung dessen leiblicher Anwesenheit geknüpft ist. Hierbei spürt man „[…] die Atmosphäre in seinem Befinden und zwar als eine Tendenz, in eine bestimmte Stimmung zu geraten. Man wird von einer Atmosphäre gestimmt.“ (Böhme, 2007, S. 38) Die Erfahrung von Atmosphären geschieht nach Böhme auf zweierlei mögliche Arten. Er unterscheidet diesbezüglich die Ingressions- von der Diskrepanzerfahrung (vgl. Böhme, 2001, S. 46 ff.): Man kann in eine Atmosphäre hineingeraten und sich von ihrer Stimmung einhüllen lassen oder aber man kann sie in Kontrast zur eigenen Stimmung wahrnehmen. Eine Ingressionserfahrung tritt beispielsweise 28

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Böhme verwendet hierbei den Begriff des Klimas nicht im Zusammenhang mit dem Unterrichtsklima. Auch differenziert er nicht zwischen Klima und Atmosphäre. In diesem Zusammenhang meint er die Atmosphäre, den Moment, der im Raum herrscht. Der Begriff der Atmosphäre stammt ursprünglich aus dem meteorologischen Bereich (wetterträchtige obere Lufthülle) und wird erst seit dem 18. Jh. metaphorisch verwendet für „in der Luft liegende“ Stimmungen, emotionale Tönungen des Raumes, wobei er heute kaum noch als Metapher angesehen wird (vgl. Böhme, 2014, S. 101).

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II Theoretischer Rahmen

ein, wenn sich ein spürendes Subjekt von der heiteren Atmosphäre eines sonnigen Frühlingsmorgens umhüllen und die Stimmung zu seiner eigenen werden lässt. Im Gegensatz dazu steht die Diskrepanzerfahrung, bei der das Subjekt die beschriebene heitere Stimmung in Diskrepanz zur eigenen, möglicherweise traurigen, Gestimmtheit erfährt. Gerade die Diskrepanzerfahrung verdeutlicht, dass Atmosphären äußerliche Zustände und nicht nur rein subjektiv sein können. Deutlich wird dies auch zum Beispiel bei einer Theatervorführung, bei Filmen oder einer Inneneinrichtung, wenn der Charakter einer bestimmten Atmosphäre für viele Menschen spürbar wird (vgl. Böhme, 2014, S. 101). Atmosphären besitzen also eine „Quasi-Objektivität“ (vgl. Böhme, 2013, S. 26). Ein Begriff, der der Atmosphäre sehr nahe kommt, beziehungsweise auf den sich Böhme in seinem Ansatz bezieht, ist derjenige der Aura bei Walter Benjamin. Benjamin bezeichnet Aura als ein „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (Walter Benjamin, 1975; zitiert nach Böhme, 2014, S. 26/27). So formuliert Böhme: „Und zwar ist die Aura offenbar etwas räumlich Ergossenes, fast so etwas wie ein Hauch oder ein Dunst – eben eine Atmosphäre. Benjamin sagt, dass man die Aura ‚atmet‘. Dieses Atmen heißt also, dass man sie leiblich aufnimmt, sie in die leibliche Ökonomie von Spannung und Schwellung eingehen lässt, dass man sich von dieser Atmosphäre durchwehen lässt.“ (Böhme, 2014, S. 27) Weiter schreibt Böhme: „Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufzunehmen. Was gespürt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität.“ (ebd.) Atmosphären vs. Atmosphärisches Um sich dem Phänomen der Atmosphäre weiter zu nähern, bedarf es einer differenzierten Betrachtung der Begrifflichkeit. Böhme unterscheidet Atmosphären von Phänomenen des Atmosphärischen (Böhme, 2001, S. 59). Als solche sind Letztgenannte Phänomene der Wahrnehmung, die deutlicher vom wahrzunehmenden Ich unterschieden sind als es bei den Atmosphären der Fall ist (vgl. ebd.). Das Atmosphärische umfasst Phänomene wie zum Beispiel die Nacht, den Wind, die Kälte, die Dämmerung oder den Herbst. Diesbezüglich greift Böhme Hermann Schmitz´ Bezeichnung dieser Phänomene als Halbdinge auf (vgl. ebd.). Es sind Wahrnehmungsphänomene, die „zwar noch keine Dinge sind, andererseits aber doch schon quasi wie Dinge begegnen, und wenn sie in ihrem Was-Sein bestimmt werden können auch ohne die affektive Betroffenheit durch sie.“ (ebd., S. 60) Atmosphären heben sich insoweit von diesen Halbdingen ab, insofern sie zwar, gerade in der Diskrepanzerfahrung des Anderen, ebenso einen gewissermaßen objektiven Status besitzen, dieser aber immer nur quasi objektiv ist (s.o.). Denn Atmosphären sind immer auch zugleich subjektive Wirklichkeit, können sie in ihrem „Was-Sein“ vollständig immer nur in affektiver Betroffenheit bestimmt werden (vgl. ebd., S. 59/60). Sowohl die Atmosphäre als auch das Atmosphärische besitzen einen räumlichen Charakter, sie teilen die Eigenschaft, „unbestimmt in die Weite ergossen zu sein“ (ebd., S. 63). Es ist jedoch unter anderem die Artikulation der Sprache, die eine Unterscheidung von Atmosphäre und Atmosphärischem verdeutlicht: „Die Erfahrung der affektiven Betroffenheit durch die Atmosphäre beziehungsweise gar des EinsSeins mit Letzterer verlangt sichtlich nach anderen Ausdrucksweisen, eben nicht konstativen, sondern eher expressiven oder reaktiven.“ (ebd., S. 60) So beschreibt beispielsweise der Satz „Es bläst ein Wind“ das Atmosphärische, wohingegen „Es bläst ein rauer Wind“ die affektive Betroffenheit eines Subjekts und somit die Atmosphäre benennt. Der Wind wird nicht mehr als etwas dem Subjekt Äußeres wahrgenommen, sondern als rau, als etwas dem Subjekt in seiner Betroffenheit zum Teil Immanentes (vgl. ebd., S. 61). Charaktere von Atmosphären Im Status ihrer Präsenz sind Atmosphären gewissermaßen unbestimmt: „Man weiß nicht recht, soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den Subjekten, die sie erfahren. Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen.“ (Böhme, 2014, S. 22) Sie sind jedoch nicht unbestimmt in Bezug auf das, was sie sind (vgl. ebd.): Über sie sprechend benennt man ihren Charakter, ihr „Was-Sein“, die

II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme

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„charakteristische Weise, in der sie anmuten.“ (Böhme, 2001, S. 87) Hierbei gibt es eine Reihe vielfältiger Artikulationsmöglichkeiten, mit denen Atmosphären charakterisiert werden können. Böhme gliedert die Charaktere von Atmosphären in fünf verschiedene Gruppen atmosphärischen Charakters: gesellschaftliche Charaktere (z.B. elegant, kleinbürgerlich), Synästhesien (z.B. warm, hell, feurig), Stimmungen30 (z.B. heiter, ernst, melancholisch), kommunikative Charaktere (z.B. gespannt, aggressiv, angenehm) und Bewegungsanmutungen (z.B. drückend, erhebend, weit, bewegend) (vgl. ebd., S. 89). Die Wahrnehmung solcher Charaktere stellt oftmals zunächst einen atmosphärischen Totaleindruck dar. Erst dann beginnt man nach und nach zu entdecken, wodurch genau dieser Eindruck hervorgerufen wurde. Deutlich wird das zum Beispiel in dem Moment, in dem man von einer hektischen in eine ruhige Umgebung gerät oder von einem nüchtern eingerichteten Büro in eine gemütliche Wohnung eintritt. Man wird zuerst den atmosphärischen Gesamteindruck, in diesem Fall die angenehm ruhige oder gemütliche Atmosphäre, empfinden und dann nach und nach entdecken, wodurch diese hervorgerufen wird (vgl. ebd., S. 87). Das Sprechen beziehungsweise das Benennen solcher atmosphärischer Charaktere, aber auch die Wahrnehmung von Atmosphären zum Beispiel durch Ingression oder aber auch Diskrepanz belegen die (relative) Eigenständigkeit von Atmosphären. Ein weiteres Zeugnis stellen verschiedene atmosphärische Charaktere dar, wie zum Beispiel „warm“: Ein Licht kann warm sein beziehungsweise warm wirken, ebenso eine Farbe, ein bestimmtes Material, ein besonderer Stimmklang, ein Ton oder ein Duft. Eine „warme Atmosphäre“ vermag also durch verschiedene Dinge erzeugt zu werden, sie existiert somit eigenständig und nicht ausschließlich an eine Sache gebunden (vgl. ebd., S. 91). Wie bereits angedeutet, geht es bei solchen Beschreibungen nicht um die Charaktereigenschaft eines Dinges, sondern um dessen Wirkung, um die Art und Weise des Heraustretens, des sich im Raum Artikulierens. Analog zu den Dingen nimmt man auch einen Menschen aufgrund seines Erscheinens wahr, aufgrund dessen, wie er mit seinem Dasein den Raum füllt (s. II.2.4). Stimmung und Atmosphäre Die beiden Begriffe Stimmung und Atmosphäre werden sowohl in der Alltagssprache als auch in einigen wissenschaftlichen Bereichen oft synonym verwendet. Auch wenn sie beide ein „Mehr“ beschreiben, können sie doch nicht in allen Punkten gleichgesetzt werden. Um für die vorliegende Arbeit begriffliche Klarheit zu schaffen, wird im Folgenden nun der Begriff der Atmosphäre im Verhältnis zur Stimmung sowie damit einhergehend der Stimmungsbegriff als solcher weiter ausdifferenziert. Als Anmutungen einer Atmosphäre sind Stimmungen beispielsweise einer Situation oder einer sie umgebenden Person zugehörig. In diesem Sinne sind sie äußere Qualitäten, „[…] etwas Äußerliches, was über die menschliche Seele dahinstreicht, ohne sie in ihrem eigentlichen Wesen, ihrem festen, unveränderlichen Kern zu berühren.“ (Bollnow, 2009/1941, S. 40) Stimmungen können aber auch etwas sein, das ein Subjekt in Form eines Gestimmtseins im Inneren trägt: Bollnow spricht von einer allgemeinen Färbung, „[…] die das ganze Gemüt durchzieht und allen seinen Regungen einen bestimmten einheitlichen Charakter gibt.“ (ebd., S. 25) Es sind „Zuständlichkeiten […], in denen das Ich seiner selbst in einer bestimmten Weise unmittelbar inne wird, die aber nicht auf etwas außer ihnen Liegendes hinausverweisen.“ (ebd., S. 22) Eine „diffuse ‚Hintergrundtönung‘ ohne klaren Objektbezug“, nicht immer bewusst wahrgenommen und häufig über einen längeren Zeitraum andauernd (Strack & Höfling, 2007, S. 104).31 Der Stimmungsbegriff ist also insofern interessant, als er sowohl eine äußere Qualität beschreibt, „affektive Charaktere“ (Fuchs, 2013, S. 3/4), sowie auch einer persönlichen Befindlichkeit

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Natürlich sind alle Atmosphären im Prinzip Stimmungen; „ihre Charaktere werden deshalb häufig mit den Namen der Stimmungen bezeichnet, in die man durch sie geraten kann. Wo dies ausdrücklich geschieht, wollen wir diese Charaktere ebenfalls Stimmungen nennen.“ (Böhme, 2001, S. 89) In diesen Punkten unterscheiden sich Stimmungen wiederum von Gefühlen (vgl. Bollnow, 2009/1941, S. 22 ff.). Es ist zum Beispiel ein Unterschied, sich über ein Geschenk zu freuen, sich über jemanden zu ärgern und um jemanden zu trauern oder die Tatsache, dass ein Geschenk jemanden in eine freudige Stimmung versetzt, man „irgendwie“ schlecht gelaunt und melancholisch gestimmt ist. In den ersten Beispielen ist das Gefühl nur vorhanden durch den Objektbezug, durch das Dasein von etwas oder jemanden, ohne welches/welchen es nicht existieren würde. Stimmungen jedoch umfassen keine

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II Theoretischer Rahmen

zugeschrieben werden kann. In ersterem Fall wird das Subjekt durch die Stimmung erfasst, in einem anderen Fall geht es von ihm selbst aus (vgl. Fuchs, 2013, S.1). Es ist somit „kein isoliertes ‚Innenleben‘ des Menschen“ (Bollnow, 2009/1941, S. 26), dem die Stimmung zukommt. Böhme verwendet den Begriff der Stimmung ähnlich: zum einen im Sinne von Befindlichkeiten, von Zuständen beziehungsweise Disponiertheiten (Böhme, 2001, S. 81 ff.), sowie zum anderen auch für äußere Qualitäten, die einem anmuten. Als solche werden sie bei Böhme nicht vom Begriff der Atmosphäre abgegrenzt32: Atmosphären sind bei ihm „unbestimmt räumlich ausgebreitete Stimmungen“ (ebd., S. 47), „gestimmte Räume“33 (ebd.). Das bedeutet: „[…] was einen da anmutet, ist eine Stimmung. Und zwar gerade zunächst nicht als meine Stimmung, sondern als Anflug von Stimmung, etwas, das ich wahrnehme gerade dadurch, dass ich beginne, in eine Stimmung zu geraten.“34 (ebd.) Oder im Falle der Diskrepanzerfahrung etwas, das im Kontrast zur eigenen Stimmung erfahren wird. Es ist also ein äußerer Anregungszustand, sozusagen die emotionale Tönung des (Zwischen-)Raums (vgl. ebd., S. 55), der bereits in Richtung Ich-Pol der Atmosphärenwahrnehmung weist. Diese Differenzierung wird in der japanischen Sprache deutlich: „[…] wie man individuell an einem außerindividuellen atmosphärischen ‚ki‘ teilhat und Anteil nimmt, beschreiben als Komposita zu ‚ki‘ die Begriffe ‚kibun‘ (Stimmung) und ‚kimochi‘ (Gefühl): ‚Ki selbst ist kein individualpsychologischer Begriff. Erst dadurch, dass ki sich auf einzelne Menschen aufteilt, von ihnen anteilmäßig besessen und damit zur Stimmung (kibun) oder zum Gefühl (kimochi) eines einzelnen Menschen wird, wird es zu einer Sache des einzelnen‘.“ (Kimura, 1995; zitiert nach Rauh, 2012, S. 141) Die Stimmung ist somit „auszulegen als das Gestimmtsein in der individuellen Betroffenheit von einer Atmosphäre, als der individuelle Aspekt des Durchstimmtseins im ‚Zwischen‘ der Atmosphäre.“ (Rauh, 2012, S. 141) Mit dem Zwischenstatus der Atmosphäre wird noch einmal deutlich, dass Atmosphären, anders als Stimmungen, auch an Objekte gebunden sind. Die Atmosphäre ist „nichts Subjektives ‚im‘ Menschen und nichts Objektives, was ‚draußen‘ in seiner Umgebung vorfindbar wäre, sondern betrifft den Menschen in seiner noch ungeteilten Einheit mit seiner Umwelt.“35 (Bollnow, 1963, S. 231) Die Verwendung des Stimmungsbegriffs folgt im Rahmen dieser Arbeit Böhmes Ansatz. Zum einen wird sie verstanden als „emotionale Tönung“ des Raums, sprich als spürbare äußere Qualität, als äußerer Anregungszustand. Zum anderen sind damit einhergehend die subjektiven Befindlichkeiten gemeint. Mit dem verwendeten Begriff der „Stimmungsqualität“ liegt die Betonung noch einmal auf dem Aspekt der emotionalen Tönung. Das Raumartige, Umhüllende, Umfassende, dem neben der emotionalen Tönung auch der Zwischenstatus (das „Und“) und damit ein strukturelles, gegenstandsbezogenes Merkmal zugeschrieben wird, wird mit dem Begriff der Atmosphäre beschrieben. Atmosphäre: primärer Gegenstand der Wahrnehmung, das „Und“, „gemeinsame Wirklichkeit“ von Subjekt und Objekt, quasi objektiv (vs. Atmosphärisches: Phänomene, die nicht Teil einer subjektiven Wirklichkeit sind); Ingressions- vs. Diskrepanzerfahrung; Charaktere von Atmosphären: ihr „WasSein“, entsteht daraus, indem man sich über sie verständigt; Atmosphären als äußere raumartige Stimmungen.

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Bezogenheit auf einen (intentionalen) Gegenstand also, sondern „[…] die einer Verursachung, die zwar durchaus bewusst sein kann, aber nicht im Zielpunkt der aktuellen Aufmerksamkeit zu stehen braucht.“ (Bollnow, 2009/1941, S. 25) In einem Gespräch (15.2.2018) sagte Böhme, vom Phänomen her seien Atmosphäre und Stimmung das Gleiche, sofern sie etwas Äußeres darstellten. Die manchmal ungleiche Verwendung im Sprachgebrauch – z.B. Morgenstimmung und Gesprächsatmosphäre – begründet er mit der Beweglichkeit der Sprache. Der Begriff des gestimmten Raumes stammt ursprünglich von Elisabeth Ströker (1965). Wichtig ist zu betonen, dass Böhme diese räumlich ausgebreiteten Stimmungen gerade nicht (wie häufig im psychologischen Ansatz) im Sinne einer Projektion des eigenen Empfindens versteht, sondern als etwas von außen Kommendes, wobei natürlich das Subjektive hierbei immer auch mitkonstruiert. Bollnow (1963) verwendet hier den Begriff der Stimmung, bezieht sich jedoch unter Hervorhebung der Doppelseitigkeit auf den gestimmten Raum und meint insofern den Raum außerhalb des Subjekts (vgl. ebd., S. 230/231, „Der Begriff des gestimmten Raums“).

II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme

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II.2.2 Die Seite der Wahrnehmenden Wahrnehmen: atmosphärisches Spüren von Anwesenheit Es ist bereits in Abschnitt II.1.1 mit dem Beispiel des Baumes angeklungen: Das grundlegende Phänomen von Wahrnehmung ist das atmosphärische Spüren von Anwesenheit (vgl. Böhme, 2001, S. 42). Die Wahrnehmung kann also verstanden werden „als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen“ (Böhme, 2014, S. 25), als ein Spüren dessen, was von ihnen ausgeht. Sie ist gebunden an eine Form der Sinnlichkeit, deren primäres Thema somit nicht die wahrgenommenen Dinge sind, sondern das, was man in der Wahrnehmung empfindet, sprich die Atmosphären (vgl. ebd., S. 15). Die Wahrnehmung der Ausdruckserscheinungen erfolgt zunächst intuitiv (vgl. ebd., S. 96), in einer passiven Form. Ein „Betroffensein und verschmelzender Mitvollzug“ (ebd., S. 29): „[…] und plötzlich ergreift das Sinnliche mein Ohr oder meinen Blick und ich liefere einen Teil meines Leibes oder gar meinen ganzen Leib jener Weise der Schwingung und Raumerfüllung aus, in der das Blau oder das Rot besteht.“ (Merleau-Ponty, 1966, S. 249; vgl. auch Böhme, 2001, S. 77) Das Spüren in der Atmosphärenwahrnehmung impliziert somit zwei Seiten, „die in der Wahrnehmung in einem Zustand der Ko-Präsenz zusammenhängen“ (Böhme, 2001, S. 74): „auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“ (Böhme, 2014, S. 96) Wahrnehmung als Teil der Ästhetik darf somit nicht nur als Erkenntnisweise angesehen werden, sondern sie muss sich auch damit befassen, „wie es dem wahrnehmenden Menschen in der Wahrnehmung geht“ (Böhme, 2001, S. 73). Ästhetik kann nach Böhme also überhaupt erst als Wahrnehmungslehre verstanden werden unter Einbezug des affektiven Betroffenwerdens (vgl. ebd.). Erst in diesem Betroffensein wird die Wahrnehmung zu einer subjektiven: „Denn in der Betroffenheit und nur in dieser bin ich unvertretbar.“ (ebd., S. 78) Die Ich-Seite der Wahrnehmung Die Erfahrung von Atmosphären ist gebunden an den Leib36: Erst durch die leibliche Anwesenheit können Atmosphären erfahren werden und zugleich ist diese atmosphärische Erfahrung auch eine Erfahrung der eigenen leiblichen Anwesenheit (vgl. Böhme/Weymann, 2005b, S. 308). In einer solchen Erfahrung schwingt das Ich im der Welt-ausgesetzt-Sein mit dem Wahrgenommenen mit und bringt sich in eine Position mit den Dingen in der Welt (vgl. Böhme, 2001, S. 83). Hierdurch wird das eigene Dasein, die eigene leibliche Anwesenheit, auf charakteristische Weise spürbar. Böhme bezeichnet dies mit „Befindlichkeit“ und in diesem Sinne weiter als „Disponiertheiten“ (vgl. ebd., S. 80 ff.). Diese betreffen das leibliche Spüren (zum Beispiel Enge und Weite), die Organisation des Körperlichen (sprich physische Reaktionen wie Puls oder Herzschlag) sowie die Sichtweisen der Wahrnehmung selbst (vgl. ebd., S. 83). In Bezug auf die Ich-Seite kann der Wahrnehmungsbegriff also verstanden werden als ein „gestimmtes und leibliches Sich-befinden in einer Umgebung“ (Böhme, 2014, S. 259). Es sind – in der Regel eher unauffällige – Zustände, jedoch keine Intentionen, nichts, das auf etwas anderes gerichtet ist (vgl. Böhme, 2001, S. 81 und 84).37

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Schmitz (2014) bezeichnet als den menschlichen Leib „den Inbegriff alles dessen, was er von sich, als zu sich selbst gehörig, in der Gegend – nicht immer in den Grenzen – seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und des aus ihren Erfahrungen, besonders denen des Sehens und Tastens, gewonnenen perzeptiven Körperschemas […] zu bedienen.“ (ebd., S. 16) Einige Beispiele hierfür sind leibliche Regungen wie Schmerz, Ekel, Durst, Mut, Freude, Zorn, Scham oder Müdigkeit (vgl. ebd., S. 16/17). Das Leibliche ist nicht mess- oder objektiv erfassbar wie das Körperliche, sondern „flächenlos“ (ebd., S. 17) und vorreflexiv. Darin unterscheiden sich diese Zustände (Stimmungen) von Gefühlen (s. auch II.2.1 „Stimmung und Atmosphäre“).

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II Theoretischer Rahmen

Schrittweises Ausdifferenzieren Die Atmosphärenwahrnehmung stellt zunächst einen Totaleindruck dar (s. auch II.2.1). Erst aus dieser Wahrnehmung heraus beginnt dann ein schrittweises Ausdifferenzieren des eigenen Ichs sowie dessen, was gespürt wird: „Man wird Dinge erkennen, man wird Farben benennen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, dass dann jedes einzelne gewissermaßen von der Atmosphäre getönt ist.“ (Böhme, 2014, S. 95) Dieser Schritt ist bereits der Beginn der Analyse (vgl. ebd.).38 Hierbei entsteht eine Distanz hin zum Atmosphärischen, denn: Je mehr man dem Gegenstand in der Wahrnehmung nachgeht und ihm verantwortliche Eigenschaften als Atmosphärenerzeugender zuschreibt, desto stärker zieht sich das Atmosphärische auf diesen Gegenstand zusammen (vgl. Böhme, 2001, S. 42). Die Wahrnehmung beinhaltet also verschiedene Grade an Vorreflexivität und Reflexivität, an Leiblichkeit und Körperlichkeit – je nach Augenblick, Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit. Wahrnehmen bedeutet zunächst: Spüren von Anwesenheit/von Atmosphären. Erst dann beginnt ein schrittweises Ausdifferenzieren des Gespürten. II.2.3 Die Seite der Erzeugenden: Physiognomien und Ekstasen Es wurde bereits deutlich, dass Böhme bei seiner Atmosphärentheorie nicht nur von der erfahrenden Subjektseite ausgeht, sondern auch die Seite der die Atmosphäre Erzeugenden betrachtet: „Die allgemeine Lehre ist, dass eine Atmosphäre, die ja als solche ein diffuses Ganzes, wenngleich von erkennbarer und wiedererkennbarer Charakteristik ist, durch gegenständliche und auch objektiv identifizierbare Elemente erzeugt werden kann, und zwar in der Regel sogar sehr wenige.“ (Böhme, 2014, S. 75) Hierbei geht es um ein Eindruckspotenzial der Dinge, ihre Weise, wie sie sich im Raum artikulieren und spürbar werden. Böhme beschreibt dies mit den Begriffen der Physiognomie und der Ekstasen. Physiognomik als Teil der Ästhetik Jedes Objekt (z.B. seine Form oder Haptik) und jedes Subjekt (z.B. seine Gesichtszüge) ist in seinem Dasein seine Erscheinung. Damit wird deutlich, dass der Ort, von dem Atmosphären ausgehen, bestimmbar ist und sie somit in ihrer Präsenz nicht vollkommen losgelöst allgegenwärtig sind39: „Atmosphäre nähert sich in diesem Sinne dem, was klassisch als sphaera activitatis oder auch Dunstkreis bezeichnet wurde. Es ist der unbestimmte Raum um jemanden oder um etwas, der durch dessen Anwesenheit tangiert oder tingiert wird.“ (Böhme, 2001, S. 111) Atmosphären können so verstanden werden als ein „Raum der spürbaren Anwesenheit“ – wobei diese Anwesenheit nicht nur als reine Präsenz, sondern auch als Gegenwart seiner Möglichkeiten zu sehen ist (vgl. ebd.).40 Die klassische Physiognomik versteht sich als Ausdruck der Manifestation eines Inneren (vgl. ebd., S. 107). Man ging davon aus, dass das Innere des Menschen anhand seines Äußeren, seiner äußeren Züge, ablesbar sei. Dies führte jedoch zu (rassistischen) Vorurteilen und generell zu erheblichen Kritikpunkten, wodurch sich diese Theorie nicht als stütz- beziehungsweise vertretbar erwies (vgl. ebd.). Mit Alexander von Humboldt und seinen physiognomischen Landschaftsbeschreibungen hat sich die Auffassung der Physiognomik stark verändert: „[…] so geht es nicht mehr um etwas, das hinter den Erscheinungen liegt, sondern um etwas, das an ihnen erfahren werden kann“ (ebd., S. 109). Hiervon ausgehend kann man einen Neuansatz der Physiognomik als Teil der Ästhetik formulieren. Dieser Neuansatz betrachtet physiognomische Züge nicht als Ausdruck in Bezug auf ein verborgenes Inneres, sondern als „artikulierte Weise, in der ein Etwas in den Raum seiner Anwesenheit hinaustritt“ (ebd., S. 111). Es ist eine „Physiognomie ohne Innerlichkeit“ (ebd., S. 113), die versucht, „Züge von

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Beide Schritte spielen bei der Methodik der vorliegenden Arbeit eine große Rolle (s. hierzu IV.1.2). Diese Betrachtungsweise steht derjenigen von Herrmann Schmitz entgegen, der Atmosphären eine große Eigenständigkeit zuschreibt (s. III.3.). Böhme verdeutlicht das am Beispiel einer Mücke: Man hört das Sirren und spürt die bedrohliche Anwesenheit der Mücke (Böhme, 2001, S. 42).

II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme

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Menschen und Dingen zu identifizieren und zu isolieren und in ihrer atmosphärischen Bedeutung darzustellen, das heißt also, sie als Konstituenten von Atmosphären zu lesen.“ (Böhme, 2014, S. 136) So betrachtet lässt sich die Physiognomik als Teil der Ästhetik ansehen. In diesem Zusammenhang ist auch Böhmes Begriff der Ekstase zu sehen. Ekstasen Eigens eingeführt verwendet Böhme den Begriff der Ekstase im Sinne seiner griechischen Wortherkunft ékstasis als ein Aus-sich-Heraustreten (Böhme, 2001, S. 131). Hierbei geht es nicht um etwas den Dingen Immanentes, nicht um ihre Eigenschaften, nicht um das, was an ihnen haftet, sondern um ihre Äußerung nach außen. Die Farbe einer roten Wand beispielsweise stellt weniger deren Eigenschaft dar als vielmehr die Artikulation ihrer Präsenz, als die sie für ein Subjekt spürbar wird. Das Rot strahlt dann in den Raum hinein, wirkt vielleicht warm oder leidenschaftlich, erzeugt eine Atmosphäre. Böhme beschreibt Ekstasen als charakteristische „Weisen der Artikulation von Anwesenheit“, das, wodurch Dinge erfahren werden, wie sie sich im Raum präsentieren (vgl. ebd., S. 131 ff.). Diese ekstatische Betrachtung denkt die klassische Auffassung der Dingontologie damit einen Schritt weiter beziehungsweise nähert sich Dingen von einer anderen Seite: Sie werden nicht mehr als In-sichVerschlossene beziehungsweise als in sich abgegrenzt betrachtet, sondern als etwas räumlich nach außen hin Spürbares (vgl. Böhme, 2014, S. 232). Dinge müssen in ihrer Betrachtung somit durch eine Spannung von Offenheit und Verschlossenheit begriffen werden (vgl. ebd., S. 174): Sie sind in ihrem Was-Sein einzeln benennbar, sonst wären sie nicht greifbar. Aber sie sind eben noch mehr, sofern man das Ding seinem Wesen nach auch als aistheton, und damit bezüglich seiner Erscheinung, auffasst (vgl. ebd., S. 242/243). Es ergibt sich also eine Relevanz beider Seiten: „Wenn Seiendes Aufgehendes ist, Aus-sich-Hervortretendes, dann kann es weder bloß nach seinem Hervorgetreten-Sein bestimmt werden noch als gänzlich in sich Verschlossenes gedacht werden.“ (ebd., S. 244) Eine Blume stellt hierfür ein gutes Beispiel aus der Natur dar: Sie fungiert als Dingbeweis, dass sich Naturdinge sowohl aus sich selbst als auch für andere präsentieren (vgl. ebd., S. 237). Die Unterscheidung des nach innen Verschlossenen und des Aus-sich-Heraustretens wird im Allgemeinen vor allem deutlich an Dingmodellen, die zwischen primären und sekundären Sinnesqualitäten differenzieren: Eigenschaften, die ein Ding an sich hat (primär) und solche, die ihm bloß – wie bei den Ekstasen – in Bezug auf ein wahrnehmendes Subjekt zukommen (sekundär) (vgl. ebd., S. 233). Die Differenz wird deutlich am Beispiel des Gewichts (vgl. Böhme, 2001, S. 142/143): Etwas erscheint schwer oder leicht, obgleich es das faktisch nicht ist. In der Architektur findet man dies häufig: Ein Gebäude vermag filigran und leicht zu wirken, obwohl es das aufgrund seiner tatsächlichen Substanz natürlich nicht ist. Das Sprechen über Ekstasen kann dem Ding also nicht zur Definition dienen. Vielmehr betrachtet es Böhme als angemessen, über die Weise, in der man es erfahren hat, zu berichten als eine „Beschreibung des Seienden […] im Geschehen seines Aufgehens.“ (Böhme, 2014, S. 244) Dinge können sich hierbei auf verschiedene Art und Weise räumlich artikulieren. Besonders intensiv in ihrer Wirkung sind beispielsweise „strahlende“ Farben: „Strahlende Farben sind solche, bei denen das Ekstatischsein der Farben besonders deutlich, ja aufdringlich wird. Die Erfahrung ist dann offenbar so, als seien die farbigen Dinge selbst Leuchten.“ (Böhme, 2001, S. 138) Ein Gelb kann jedoch nicht nur von sich aus kräftig-strahlend wirken, sondern neben einem Pink etwa auch „schreiend“. Was hier angesprochen wird, ist ein weiterer Aspekt, den der Begriff der Ekstase mit sich bringt: Die charakteristische Weise des Sich-Artikulierens basiert nicht nur auf den einzelnen Dingen selbst, sondern auch auf deren Zusammenspiel, auf Konstellationen, auf Relationen sowie auf der Umgebung und dem Kontext.41 Hierbei nehmen sie kein bestimmtes Raumstück für sich ein, sozusagen als Widerstand zu anderen 41

Am Beispiel des Geruchs und der Stimme, die als Ausdrucksformen klare Beispiele für Ekstasen darstellen, lassen sich die ekstatischen Charaktere etwas differenzierter betrachten, denn: Sie können im Kontext gesehen relativ betrachtet werden, zugleich aber in ihrem charakteristischen Dasein auch für sich und in ihrer Identität unabhängig von anderen auftreten. Auf relativer Ebene kann eine Stimme beispielsweise hoch oder tief wirken, ein Duft leicht oder schwer. Betrachtet man sie als Ekstasen des Tierreichs oder im Zusammenhang mit der Natur des Menschen, so erkennt man jedoch, dass sie auch Beispiele sind für identitätstragende Ekstasen (vgl. Böhme, 2001, S. 140): Beispielsweise identifiziert der Säugling anhand des Duftes oder der Stimme seine Mutter; ein Spürhund kann den Duft einer bestimmten Person zuordnen; etc.

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II Theoretischer Rahmen

raumeinnehmenden Dingen (vgl. Böhme, 2014, S. 33), sondern korrelieren auf verschiedene Weisen miteinander: Sie treten zueinander in Konkurrenz, beeinflussen sich in ihrem Heraustreten gegenseitig in ihrer Wirkkraft, verstärken sich in ihrer Intensität oder schwächen sich ab. Sie heben sich hervor oder lassen andere zurücktreten, sie bilden ein Ganzes oder bestätigen sich gegenseitig in ihrer Eigenständigkeit. Dies trifft auf jegliche Formen des Ekstatischseins zu, da Dinge stets in einer Umgebung und einem Kontext erscheinen. Zu den Farben schreibt Böhme beispielsweise: „Gerade weil sie nicht Eigenschaften von Dingen sind, sind sie auch nicht räumlich auf den Ort des Dinges beschränkt, sondern sie strahlen in den ganzen Raum aus. Das bedeutet natürlich, dass es in der Farbigkeit der Dinge eine Konkurrenz gibt, d.h. Verdrängung und Unterdrückung, aber andererseits durchaus Verbindung bzw. gegenseitige Steigerung.“ (Böhme, 2001, S. 139)42 Nicht nur die Umgebung spielt hierbei eine Rolle, sondern auch die Helligkeit: Je nach Licht ändert sich beispielsweise die Farbe oftmals bis hin zu einem anderen Farbton. Die Rolle der Umgebung wird auch deutlich am Beispiel des Volumens: Das Volumen besitzt neben seiner objektiven Eigenschaft auch eine Ekstase. Böhme bezeichnet diese als „Voluminösität“ oder „Mächtigkeit seiner dinghaften Anwesenheit im Raum“ (Böhme, 2014, S. 33): „Was da gespürt wird, ist nicht eigentlich der Raum, den das Ding real einnimmt, […] sondern gewissermaßen der Raum, den es beansprucht. Die Ekstase der Voluminösität wird deshalb auch nicht oder jedenfalls nicht bloß durch das reale Volumen erzeugt, sondern auch durch die Stellung, die Konstellation zu anderen Dingen, durch Abstandsbildung und natürlich auch durch die Gestalt.“ (Böhme, 2001, S. 143) So kann ein Tisch beispielsweise in einem Umfeld wuchtig, neben anderen Möbeln aber zierlich wirken.43 Es wird also deutlich, dass Ekstasen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden können. Der Zusammenhang zur Atmosphäre ergibt sich dadurch, dass diese „Räume“ darstellen, die durch die Anwesenheit von etwas (Dingen, Menschen, Umgebungskonstellationen), sprich durch deren Ekstasen, „tingiert“ sind: „Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume. [Sie werden gedacht] als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird.“ (Böhme, 2014, S. 33) Als solche sind Atmosphären weder objektiv – und doch haben sie als zum Ding gehörend etwas Dinghaftes – noch sind sie subjektiv, jedoch subjekthaft, da sie durch das Subjekt gespürt und in ihrem Charakter bestimmt werden (vgl. ebd.). Ästhetisch Arbeitende Im Zusammenhang mit den Erzeugenden steht die ästhetische Arbeit. Unter ästhetischer Arbeit versteht Böhme die Gestaltung von etwas – Gegenständen, Arrangements etwa – im Hinblick auf die affektive Betroffenheit, die Subjekte dadurch erfahren sollen (vgl. Böhme, 2001, S. 53). Es ist eine Arbeit, die „in die Erscheinung von Dingen, Menschen, Ideen gesteckt wird“ (ebd., S. 22), bei der man versucht, diesen eine Ausstrahlung zu verleihen (vgl. Böhme, 2007, S. 40). Vereinfacht gesagt geht es um die Herstellung von Atmosphären (vgl. Böhme, 2014, S. 25). Ästhetisch Arbeitende schaffen damit Räume bestimmter Stimmungsqualitäten (vgl. ebd., S. 97). Ob im Bereich der Kosmetik, der (Innen)Architektur oder der Werbung – ästhetisch Arbeitende finden sich überall (auf die zunehmende Ästhetisierung wurde bereits in Abschnitt II.1.2 eingegangen). Allerdings gibt es nur wenig explizites Wissen darüber, wie es gemacht wird, dass etwas erscheint; das Wissen ist meist implizit und wird allen voran durch Vormachen weitergegeben (vgl. ebd., S. 36). Physiognomie als Teil der Ästhetik: „Physiognomie ohne Innerlichkeit“ (Böhme); es geht nicht um die Beziehung von Innerem und äußeren Anzeichen, sondern von äußeren Merkmalen und ihrer atmosphärischen Wirkung. Ekstasen: Art und Weise, wie sich Subjekte/Objekte im Raum artikulieren, für andere spürbar werden. 42

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In Bezug auf Farben spricht Böhme in diesem Zusammenhang von einem „Konzert der Farben“ (Böhme, 2001, S. 139) und bezeichnet Farben als ganz besondere Ekstasen: „Das farbige Ding ist als anwesendes zwar lokalisierbar, seine Farbigkeit als solche ist in gewisser Weise aber überall.“ (Böhme, 2014, S. 241) Bei diesen Beschreibungen wird auch noch einmal deutlich, dass die Ekstasen von Dingen nicht als deren feststehenden Eigenschaften aufgefasst werden können.

II.2 Atmosphären bei Gernot Böhme

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Ästhetische Arbeit: Gestaltungen im Hinblick auf affektive Betroffenheit Wahrnehmender, Herstellung von Atmosphären. II.2.4 In-Erscheinung-Treten eines Menschen „Man sagt von jemandem, er sei eine gute Erscheinung, vielleicht sogar eine hervorragende, zumindest aber eine faszinierende. Andere sind weniger seriöse, eher zweifelhafte Erscheinungen, und dann gibt es auch traurige Erscheinungen. So über Menschen redend nimmt man auf ihr sogenanntes Äußeres Bezug, und zwar insofern es einen anspricht und fasziniert, aber indem man redend gerade davon zurücktritt.“ (Böhme, 2012, S. 119) In Erscheinung zu treten ist zunächst eine bestimmte Weise, sich zu präsentieren, sich im Raum zu artikulieren. Es ist eine Atmosphäre, die von einem Menschen ausgeht und in die ein wahrnehmendes Subjekt hineingeraten kann. Jemand macht sich durch seine Anwesenheit bemerkbar, nimmt ein Stück Raum für sich ein: vielleicht wortlos und durch eine Bewegung, die ihm oder ihr etwas Erhabenes verleiht oder ein Parfüm, das jemanden umgibt wie eine Wolke und damit den Raum füllt. Ein Mensch kann in seiner Erscheinung eine „Wucht“ oder eher un-scheinbar sein, in einem bestimmten Kontext besonders strahlend erscheinen oder eher zurücktreten. Wenn Böhme davon spricht, jemand sei eine gute, hervorragende oder faszinierende Erscheinung, dann ist es nicht nur das Äußere, auf das hierbei Bezug genommen wird. Aufgrund des allgemeinen Sprachgebrauchs stellt die Erscheinung eines Menschen – fälschlicherweise – auch seine Identifikation dar, wenn man sagt, jemand sei eine gute Erscheinung. Anders wäre es, würde man sein durch haben ersetzen und jemandes Auftreten mit „er habe eine gute Erscheinung“ beschreiben, was allerdings in der Umgangssprache nicht gebräuchlich ist (vgl. ebd., S. 120). Das Beispiel eines Schauspielers auf der Bühne, der einen bestimmten Charakter in Erscheinung treten lässt, welcher aber nicht sein eigener ist, verdeutlicht, dass die Identifizierung eines Menschen anhand seiner Erscheinung nicht unbedingt möglich ist. Wie bei der Physiognomie von Dingen, die diese als Eindruckspotenzial auffasst, können die beschriebenen Beispiele als Weisen aufgefasst werden, durch die ein Subjekt anwesend ist: „Wenn wir die spürbare Anwesenheit eines Menschen oder auch eines Dinges Atmosphären nennen, so studiert die phänomenologisch verfahrende Physiognomik also den Zusammenhang zwischen der Physiognomie eines Menschen und der Atmosphäre, die von ihm ausgeht.“ (ebd., S. 123) Es ist diese Atmosphäre, mit der man es bei der Begegnung primär zu tun hat und die auf die Wahrnehmenden einen entsprechenden „Eindruck“ macht (vgl. hierzu Böhme, 2001, S. 110). Allerdings reicht weder diese noch die phänomenologische Betrachtung von etwas Sich-Zeigendem aus, um der Beschreibung des menschlichen InErscheinung-Tretens gerecht zu werden, handelt es sich doch jeweils um einen konkreten Menschen. Durch die Tatsache, miteinander in Kontakt treten zu können, sei es auf verbaler oder nonverbaler Ebene, entsteht die Möglichkeit, die Subjektivität des Menschen zu entdecken und (miteinander) reflektierend in Zusammenhang zur Erscheinung zu betrachten (vgl. Böhme, 2012, S. 124).44 Die menschliche Erscheinung ist also ein besonderes Phänomen, das verschiedene Perspektivenbetrachtungen zulässt und fordert: Bei der menschlichen Erscheinung „[…] ist es uns möglich, die genetische Perspektive auf das Phänomen zu wählen, ohne den Bereich des Phänomenalen zu verlassen. Denn dieses Erscheinende sind wir ja je selbst. Die Erscheinung eines Menschen ist weder bloß objektives und mehr oder weniger sicher deutbares Symptom eines verborgenen Inneren, wie die klassische Physiognomik wollte, noch auch bloße Atmosphäre, die ein konkreter Mensch mit sich herumschleppt, wie sie die phänomenologisch bereinigte Physiognomik zum Thema hätte, sondern die Weise, in der ein Mensch leiblich in Erscheinung tritt.“ (ebd.)

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Nach Böhme ist eine Physiognomik denkbar auch ohne fragwürdige Hypothesen über das Innere des Menschen: „Die Tatsache, dass wir ständig in der physiognomischen Beurteilung unserer Kommunikationspartner irren, ist kein Einwand gegen die Physiognomik bzw. ihre Legitimität, sondern eher eine Aufforderung, unsere Vorurteile gegenüber unserem Partner beständig zu revidieren. Vielmehr ist es, um uns überhaupt irgendwie gegenüber neuen Partnern verhalten zu können, sogar notwendig, sie physiognomisch einzuschätzen. Diese Einschätzung macht gerade die Kommunikation erst human.“ (Böhme, 2014, S. 192)

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II Theoretischer Rahmen

Natürlich beschäftigen sich nicht alle Menschen fortwährend mit ihrer Erscheinung und doch kann es bei vielen als ein allgemeines Grundbedürfnis angesehen werden. Im Alltag beginnt dies bei der morgendlichen Wahl der Kleidung, dem Schminken und dem Richten der Frisur (s. hierzu auch II.1.2). Man findet es täglich im Beruf, wenn es beispielsweise um das Sich-Präsentieren, um das eigene oder das Auftreten anderer geht. Vielleicht stellt man sich auch die Frage des Erscheinens in Bezug auf die Perspektive derer, die an der eigenen Erscheinung teilhaben (dürfen): Ist zum Beispiel bei einem Treffen eher eine weniger dominante Farbe der Kleidung angemessen, damit sich andere nicht zurückgedrängt fühlen? Sollte das eigene In-Erscheinung-Treten mit Ruhe verbunden sein, um anderen ihre Nervosität zu nehmen? Diese verschiedenen Perspektiven der Betrachtung des In-Erscheinung-Tretens zeigen, dass es nicht nur um einen Stil geht, um ein Gefühl oder eine Identifikation, mit der sich ein Subjekt nach außen hin bewusst präsentieren möchte. Es geht auch darum, welche Wirkung durch die eigene Erscheinung bei den an der Erscheinung Teilhabenden erzeugt wird, gebraucht wird oder gewünscht ist.45 Bereiche, die sich mit dem bewussten In-Erscheinung-Treten von Menschen auseinandersetzen, sind beispielsweise die Kosmetik, die Parfümherstellung, die Stil- und Farbberatung, die Mode im Allgemeinen, die Rhetorik oder natürlich die Darstellende Kunst. Es sind Bereiche, in denen „Wissen“ darum existiert, wie es gemacht wird. Böhme spricht hierbei von einer mehr oder weniger bewussten Kompetenz, die, gekonnt eingesetzt, eine große Chance bietet, ein Phänomen als ein „Sich-Zeigen“ zu studieren (vgl. Böhme, 2012, S. 125). Bei der bewussten Auseinandersetzung geht es nicht darum, den Menschen oder Dingen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, sondern darum, sie ekstatisch sein zu lassen, ihnen eine bestimmte Aura zu verleihen. Ein Künstler zum Beispiel wird sein Gemälde vor eine weiße Wand hängen, damit die Farben seines Kunstwerkes möglichst rein zur Geltung kommen. Das kosmetische Schminken des Gesichts lässt einzelne Partien stärker hervortreten, strahlen, unterstreicht oder verdeckt Naturgegebenes. Jedoch nicht jedes Accessoire, das man an sich trägt, nicht jede Frisur, nicht jede Kleidungsfarbe lässt eine Person auf eine gewünschte Weise erscheinen. Vielmehr ist es die Tatsache, dass diese Dinge „[…] so beschaffen sein müssen, dass sie ein Aus-Sich-Heraus-Gehen, ein Ekstatisch-Werden des betreffenden Menschen ermöglichen.“ (ebd., S. 114) Nicht jedes Schönheitsidol kann somit nachgeahmt werden. Bei manchen wirkt ein greller Lippenstift aufgesetzt und eine rote Hose gar lächerlich. Wie jemand nach außen wirkt, wird somit nicht automatisch durch objektive Merkmale bestimmt. Und dies beinhaltet auch die Authentizität, dass etwas „zu einem Menschen passt“ und somit nicht als aufgesetzt oder etwas dem Menschen nicht Zugehöriges wahrgenommen wird. Das In-Erscheinung-Treten eines Menschen betrifft dessen Ekstasen, die Art und Weise wie jemand im Raum spürbar wird, sich präsentiert. Die Atmosphäre, die von einem Menschen ausgeht, ist bei einer Begegnung das erste, was man spürt. Die Besonderheit menschlicher Ekstasen: Durch ein MiteinanderSprechen kann die vom Menschen ausgehende Atmosphäre auch in Beziehung gesetzt werden zu seinem Inneren. II.3 Relevanz des Atmosphärenbegriffs von Gernot Böhme Die bekanntesten Ansätze einer konsistenten Atmosphärentheorie stammen von Hermann Schmitz und Gernot Böhme. In der Sache ähneln sich beide, in den jeweiligen Ausführungen unterscheiden sie sich jedoch in einigen wesentlichen Punkten (vgl. Rauh, 2012, S. 85). Die vorliegende Arbeit folgt dem bereits vorgestellten Ansatz Böhmes. Im Folgenden wird nun die Relevanz seiner Theorie hinsichtlich einiger für die Untersuchungsthematik und –methodik entscheidender Punkte begründet. III.3.1 Relevanz für die vorliegende Untersuchungsthematik: Lehren als ästhetische Tätigkeit und „Atmosphärische Kompetenz“ im Rahmen einer ästhetischen Bildung Anders als Schmitz, der an der Einschränkung der Ästhetik auf die Kunst festhält (vgl. Böhme, 2014, S. 30), erlaubt Böhmes Betrachtung von Atmosphären im Rahmen der neuen Ästhetik eine umfassendere Sichtweise. Vor allem hinsichtlich des Aspekts der Atmosphärenerzeugung hebt sich Böhme von

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Dies ist bereits bedeutend im Hinblick auf die Gestaltung einer für die Schülerinnen und Schüler positiven Atmosphäre.

II.3 Relevanz des Atmosphärenbegriffs von Gernot Böhme

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Schmitz ab, da Schmitz Atmosphären nur im Kontext einer Rezeptionsästhetik betrachtet.46 So kommentiert Böhme im Hinblick darauf, Schmitz schreibe den Atmosphären eine zu große Selbstständigkeit zu: „Sie sind freischwebend wie Götter und haben als solche mit den Dingen zunächst gar nichts zu tun, geschweige denn, dass sie durch sie produziert werden. Allenfalls können die Objekte Atmosphären einfangen, und diese haften dann an ihnen als ein Nimbus.“ (Böhme, 2014, S. 30/31) Diese Betrachtung schließt somit den Bereich ästhetischer Arbeit völlig aus. In Bezug auf die Thematik der Arbeit ist Böhmes Atmosphärenbegriff damit einhergehend vor allem aufgrund zweier Aspekte relevant: im Hinblick auf seinen Ansatz, Atmosphären im Rahmen einer Produktionsästhetik auch von Seiten der Erzeugenden aufzufassen sowie in Bezug auf seine Betrachtung von Unterricht im Sinne eines Zwischenphänomens als Atmosphäre. Im Zusammenhang mit beiden Punkten werden Lehrende so zu Gestaltenden von Atmosphären, zu ästhetisch Arbeitenden, und ihr Tun zum Lehren als ästhetische Tätigkeit. Aus der Verknüpfung von Ästhetik und Unterrichtspraxis heraus erlaubt dies eine genauere und weiterführende Untersuchung, wie sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde. Ein weiterer relevanter Punkt im Hinblick auf die Betrachtung von Lehrenden als Gestaltende von Atmosphären findet sich in Böhmes Ausführungen über die ästhetische Bildung. Hierbei steht dann nicht die eigene Wahrnehmungsschulung Lehrender sowie das Unterrichten als ästhetische Tätigkeit im Vordergrund, sondern vielmehr, dieses Wissen und Können weiterzugebenen, die Atmosphäre zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Dies ist deswegen von Bedeutung, weil im Alltag eine ständige Beeinflussung durch Atmosphären vorliegt – und das meist unbewusst und unbemerkt (vgl. Böhme 2007, S. 39). In Bezug auf eine ästhetische Bildung stellt Böhme deswegen als erste Forderung einer ästhetischen Erziehung das Lernen auf, Atmosphären wahrzunehmen. Und weiter: eine damit einhergehende bewusste Leiberfahrung, ein bewusstes Sich- darauf-Einlassen. Auch die produktive Seite, zu lernen, Atmosphären zu erzeugen und zu gestalten, nennt Böhme (vgl. ebd., S. 40). Gebunden an eine fortschreitende Modernisierung besteht darin ein großes Potenzial: „Der bewusste Umgang mit Atmosphären verschließt sich durchaus nicht der modernen Welt. Im Gegenteil er öffnet sich gerade Grundzügen dieser modernen Welt und lässt sich kritisch auf sie ein. Es ist die Avantgarde der modernen Kunst mit ihrem Zug ins Performative, es ist die neue Musik mit ihrer Tendenz zur Raumkunst zu werden, es ist die Ästhetisierung und Inszenierung der Alltagswelt, die Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik nahegelegt haben. Mit Atmosphären umgehen zu lernen macht den einzelnen Menschen gerade zum kritischen Teilnehmer und Mitwirkenden dieser Welt, die wir als Moderne verstehen.“ (ebd., S. 42) Böhme gebraucht in diesem Zusammenhang den Begriff der atmosphärischen Kompetenz. Diese beinhaltet im Wesentlichen die beiden beschriebenen Fähigkeiten: Atmosphären wahrnehmen und gestalten (vgl. ebd., S. 40). Zwar auf die Seite der Lernenden bezogen, besteht hierin jedoch auch für die Lehrseite und damit für die vorliegende Arbeit eine Relevanz: Neben einer weiteren Schnittstelle von Ästhetik und Unterrichtspraxis unterstreicht die Kompetenz noch einmal die Gestaltbarkeit von Atmosphären und zeigt bereits wesentliche Grundzüge auf, die der Umgang mit Atmosphären beinhaltet. Der Ansatz Böhmes, Atmosphären als Unterrichtsgegenstände einzusetzen, soll hier als bedeutend dargestellt werden. Aufgrund der Komplexität, die eine nähere Beschäftigung mit Atmosphären als Unterrichtsgegenstände mit sich bringt, wird dieser Aspekt im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter untersucht. Er birgt jedoch durchaus die Möglichkeit in sich, im Rahmen einer weiterführenden Untersuchung ein eigenständiges didaktisches Konzept für den Unterricht zu entwickeln (s. VI.). III.3.2 Relevanz für das methodische Vorgehen der Untersuchung Abschließend sei noch die Relevanz von Böhmes Atmosphärenbegriffs für das methodische Vorgehen innerhalb der Arbeit angeführt. Böhme betrachtet Atmosphären als Wahrnehmungsgegenstände (vgl. Böhme, 2001, S. 45). Damit macht er sie greifbar, gibt ihnen einen Umriss, ohne jedoch den notwendi-

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Schmitz lehnt Böhmes Auffassung jedoch auch nicht vehement ab. Vielmehr entspringt sein Atmosphärenbegriff einer anderen Tradition, die er verfolgt.

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II Theoretischer Rahmen

gen Raum für Diffuses und Unbestimmtes auszublenden. Sein Ansatz ermöglicht sowohl eine theoretische Verknüpfung mit der Unterrichtspraxis als auch eine empirische Untersuchung. Das theoretische Vorgehen im Rahmen der Untersuchung legitimiert sich hierbei durch einige Schnittstellen zwischen Böhmes Ansatz und der Unterrichtspraxis (zum Beispiel Lehren als ästhetische Tätigkeit, Unterricht als „gemeinsame Wirklichkeit“ von Lehrperson sowie Schülerinnen und Schülern). Böhmes analytische Darstellung von Atmosphären und deren Betrachtung gerade auch im Rahmen einer Produktionsästhetik ermöglichen des Weiteren die empirische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Unterrichtsatmosphäre. Das „Was“, „Wie“ und „Wodurch“ kann hierbei näher – wenn auch nie vollständig – untersucht werden.

III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte Im vorliegenden Teil werden Theorie und Praxis und somit ästhetische beziehungsweise atmosphärische und unterrichtspraktische Inhalte miteinander in Beziehung gesetzt sowie gedanklich weiterentwickelt. Kapitel III.1 führt hin zum Begriff der Unterrichtsatmosphäre, welcher in Kapitel III.2 im Hinblick auf einige grundlegende (und zunächst nichtwertende) Merkmale beschrieben wird. Kapitel III.3 beschäftigt sich mit möglichen (Mit-)Erzeugenden von Unterrichtsatmosphären, bevor schließlich in Kapitel III.4 eine Wertung hinsichtlich einer positiven Unterrichtsatmosphäre unter Bezugnahme auf Literatur unter anderem aus (Musik)Pädagogik und aktueller Unterrichtsforschung vorgenommen wird. Die Begriffe der Gemeinsamen Wirklichkeit, des Gestimmten Raumes sowie weiterführend die Betrachtung von Unterrichtsatmosphären im Zusammenhang zum Performativen (Zeitspielraum) bilden im gesamten Teil III den Rahmen. Unter Anwendung dieser Begrifflichkeiten stellt der vorliegende Teil eine Brücke dar, die die Ästhetik mit der Seite der Schul- beziehungsweise Unterrichtspraxis verbindet: Die für den Unterricht relevanten charakteristischen Merkmale von Böhmes Atmosphärenbegriffs werden zum einen unter den drei genannten Betrachtungsweisen gefasst und ermöglichen zum anderen gleichzeitig einen Blick auf diejenigen Atmosphären, die im Klassenzimmer zu spüren sind (und indirekt auch sichtbar werden). Allgemein zeigt diese Betrachtung des Unterrichts nicht nur einige interessante Verbindungen zwischen Ästhetik und Unterrichtspraxis auf, sondern ist auch notwendig im Hinblick auf das Verständnis des Lehrens als ästhetische Tätigkeit beziehungsweise hinsichtlich des atmosphärischen Vermögens von Lehrpersonen (s. V.). III.1 Einführung des Begriffs der Unterrichtsatmosphäre „Ich unterrichte grundsätzlich nur bei guter Stimmung.“/ „Heute waren Sie irgendwie nicht so gut gelaunt, Herr Müller, und deshalb waren wir dann vielleicht auch etwas träge. Oder vielleicht auch, weil es draußen grau ist und regnet.“/ „Bei Ihnen fühlen wir uns immer wohl und machen gerne mit.“/ „Ein Schüler musste heute früher gehen, da war auf einmal eine ganz andere Stimmung. Der Unterricht lief plötzlich viel besser!“/ „Herr Hansen schaut mich immer so böse an und schreit so viel, deshalb habe ich montags vor seinem Unterricht immer ein ganz mulmiges Gefühl.“ / „Wir sind in der Klasse wie eine Familie. Da kommt alles auf den Tisch.“/ „Wenn ich etwas auf dem Klavier vorspiele, sind auf einmal alle ganz leise und hören zu. Einmal habe ich ein Stück gespielt und da hat plötzlich eine Schülerin angefangen zu weinen, weil sie so gerührt war. Das hat mich wiederum sehr berührt und freudig gestimmt.“ Diese aus der Unterrichtspraxis entnommenen Zitate geben bereits erste Hinweise darauf, was Unterrichtsatmosphären sind, welche Bereiche sie unter anderem umfassen und in welchem Zusammenhang sie zu verstehen sind. Vereinfacht gesagt ist eine Unterrichtsatmosphäre die Atmosphäre, die man spürt, wenn man sich während des Unterrichts im Klassenzimmer befindet. Und doch reicht es nicht aus, sie auf den Zeitraum einer Unterrichtsstunde zeitlich zu begrenzen, können doch Unterrichtsatmosphären zum Beispiel in Form von Beziehungsqualitäten auch über den Unterricht hinauswirken. Mit den Zitaten klingt bereits auch an, dass Unterrichtsatmosphären – zum Beispiel durch die Lehrperson, durch einen Unterrichtsgegenstand oder gar durch das Wetter – erzeugt beziehungsweise miterzeugt oder durch die Abwesenheit eines Schülers etwa verändert werden können. Und sie werden empfunden. Dies wird ebenfalls in den Zitaten deutlich und im Allgemeinen, wenn man sich, wie häufig üblich, über ihren Charakter verständigt. So spricht man beispielsweise von einem mitreißenden Unterricht. Eine Unterrichtsatmosphäre kann aber auch angstbeladen sein, vertrauensvoll, motivierend, angenehm; Unterrichtsatmosphären können intensiv sein oder weniger dicht und kaum spürbar. Damit sind sie „quasi objektiv“ (s. II.2.1), insofern man sich über sie unterhalten kann, und werden doch von den Lehrenden und Lernenden jeweils subjektiv wahrgenommen. Die Wahrnehmungen sind wiederum geprägt von der eigenen aktuellen Stimmung, von Erwartungshaltungen, Einstellungen zum Fach, von der Tageszeit etc. Ferner können Unterrichtsatmosphären Lernen fördern oder verhindern, sie besitzen das Potenzial, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, zu umhüllen, anzustecken und andere in ihren Bann zu ziehen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_3

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Diese Hinführung zum Begriff der Unterrichtsatmosphären verdeutlicht bereits, dass es sich aufgrund der Vielzahl an Einflüssen und subjektiven Wahrnehmungen innerhalb der Klasse bei Unterrichtsatmosphären um ein komplexes Phänomen handelt. Es wird hierbei vielleicht bereits auch deutlich, dass die Anwendung des Begriffs der Atmosphäre in diesem Zusammenhang nicht gleichzusetzen ist mit dem bekannten Begriff des „Klimas“, wenngleich beide Begriffe sicherlich als miteinander verwandt angesehen werden können. Möchte man Unterrichtsatmosphäre und Unterrichtsklima voneinander abgrenzen, ergibt sich hierbei zunächst eine Schwierigkeit hinsichtlich der Tatsache, dass es in der Forschungsliteratur keine einheitliche Definition dessen gibt, was der Klimabegriff im Sinne der metaphorischen Verwendung an sich meint beziehungsweise welche Bereiche er beinhaltet (vgl. Reindl, 2017, S. 2): „Wenngleich Evidenzen vorliegen hinsichtlich seiner Wichtigkeit und Notwendigkeit in Schule und Unterricht, so ist das Klimakonstrukt doch in seiner inhaltlichen Ausrichtung uneinheitlich und weit entfernt von einer klaren Dimensionalisierung.“ (Leitz, 2015, S. 26) So werden bezüglich der Thematik häufig gleiche Begriffe für unterschiedliche Dinge verwendet, Gleiches mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet (vgl. Reindl, 2017, S. 2). Bei Reindl (2017) findet sich beispielsweise die Unterteilung des Klima-Begriffs in Bildungsklima, Schulklima, Klassenklima und Unterrichtsklima (vgl. ebd., S. 3). Meyer (2016) wiederum nimmt diese Unterteilung nicht vor und gebraucht den Begriff des Klimas analog zu demjenigen des Unterrichtsklimas (vgl. ebd., S. 47). Mit Unterrichtsklima beschreibt er die humane Qualität der Lehrer-Schüler- und der Schüler-Schüler-Beziehungen (vgl. ebd.), wohingegen Reindl wiederum unter Unterrichtsklima ausschließlich die Organisationsebene bestehend aus den Lehrer-Schüler-Beziehungen versteht. Schüler-Schüler-Beziehungen ordnet sie wiederum dem Klassenklima zu. Lohmann spricht von einem „sozialen Klima“ und umschreibt damit die Gesamtheit aller Interaktionen in der Schulklasse und weiter die „generalisierte Einstellung aller Schüler gegenüber dem Lehrer und der Klasse“ (Lohmann & Prose, 1975, S. 88). Ferner beschäftigt sich die Klimaforschung mit einzelnen Faktoren, Merkmalen oder Elementen wie zum Beispiel: „gegenseitiger Respekt (Meyer 2004), Vertrauen (Schweer 2008), angemessene Wartezeiten nach Lehrerfragen (Helmke 2009), eine positive Einstellung zum Fehlermachen (Oser & Spychiger 2005), Schülerzentriertheit (Eder & Mayr 2000), Wohlbefinden (Hascher 2004a, b) und positive Lehrer-Schüler-Beziehungen (Cornelius-White 2007, Gehlbach et al. 2012, Martin & Dowson 2009)“47 (Leitz, 2015, S. 26). Eine konkrete Definition dessen, was das Klima eigentlich ist, sprich als Phänomen an sich (wie es im schulischen oder auch allgemein berufsfeldlichen Kontext gebraucht wird), findet sich nur in allgemeiner Formulierung. So schreibt das Handwörterbuch Pädagogische Psychologie beispielsweise: „‘Klima‘ lässt sich als die von den Betroffenen wahrgenommene Konfiguration bedeutsamer Merkmale innerhalb der jeweiligen schulischen Umwelt umschreiben.“ (Eder, 2010, S. 694) Als „kollektive Wahrnehmung des Unterrichts“ definiert auch Meyer den Klimabegriff. Etwas konkreter schreibt Reindl, Eder (2002) aufgreifend: „[Der Klimabegriff] spezifiziert die subjektive Wahrnehmung der Beteiligten im Bildungsprozess als entscheidenden Mediator zwischen struktureller Gegebenheit und Entwicklungsdimension.“ (Reindl, 2017, S.1) Nicht nur die humanen Qualitäten stehen hierbei also im Fokus, sondern auch die Umweltbedingungen. Kritisch anzumerken ist, dass offenbleibt, wie der Wahrnehmungsbegriff verstanden werden muss. Aufgrund der Ungenauigkeit beziehungsweise Uneinigkeit bezüglich des Klimabegriffs im schulischen Kontext ist es nicht einfach, eine trennscharfe Abgrenzung zum Begriff der Unterrichtsatmosphäre vorzunehmen. Ähnlich wie das Klima umfasst der Atmosphärenbegriff Beziehungen sowohl zwischenmenschlicher Natur als auch in Bezug auf physische Umgebungskonstellationen (z.B. Klassenzimmergestaltung) und beinhaltet ebenfalls als ein wesentliches Element die subjektive Wahrnehmung. So ergibt sich beispielsweise eine Schnittstelle, wenn Eder den Klimabegriff unter anderem auch zur „Charakterisierung der emotionalen Grundtönung einer pädagogischen Gesamtatmosphäre“ verwendet und damit auf die „Gefühls- und Stimmungsanteile, auf die emotionale Qualität der sozialen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern sowie auf die emotionale Befindlichkeit in der Klasse (Chemnitz, 1980)“ 47

In der deutschsprachigen Tradition können die Ansätze zur Klimaforschung von Dreesman (1980, 1982) und Fend (1977) genannt werden. Auch bei dieser Untersuchung stehen einzelne Merkmale beziehungsweise Faktoren des Klimas im Vordergrund: Beziehungsaspekte (z.B. Konkurrenzdenken, Disziplin, Kooperation, Kameradschaft, Verständlichkeit etc.) (Dressman, Unterrichtsklima), Aspekte der sozialen Umwelt (z.B. Interaktionsaspekt) (Fend) (vgl. Leitz, 2015, S. 30 ff.).

III.1 Einführung des Begriffs der Unterrichtsatmosphäre

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zielt (vgl. Eder, 2010, S. 694). Die Qualität der Wertschätzung zum Beispiel könnte im zwischenmenschlichen Bereich damit sowohl Gegenstand des Unterrichtsklimas als auch der Unterrichtsatmosphäre sein. Es gibt jedoch auch charakteristische Punkte, in denen sich beide Begriffe unterscheiden lassen. Die Ähnlichkeit beider Begriffe in einigen Merkmalen rechtfertigt somit nicht die häufig vorgenommene synonyme Verwendung von Klimabegriff und Atmosphäre. Zunächst einmal entstammen beide Begriffe der Meteorologie. Es ergeben sich jedoch bereits dort Unterschiede, die sich auch in der metaphorischen Anwendung auf den Unterricht wiederspiegeln: Beim Klima handelt es sich um Umweltbedingungen, die sich nicht von einem Moment auf den nächsten verändern können (vgl. Reindl, 2017, S. 3). Vielmehr sind es Zustände, die über einen längeren Zeitraum anhalten. Analog dazu kann auch das Klima im schulischen Kontext (ähnlich wie z.B. auch das Betriebsklima) als längerfristiger Qualitätszustand gesehen werden. Das wird auch deutlich dadurch, dass das Klima beispielsweise unter anderem Grundorientierungen und Werthaltungen im Sinne einer Schulkultur oder eines Schulethos charakterisiert (vgl. Eder, 2010, S. 694). Atmosphären wiederum existieren im Sinne ihres Wortursprungs atmós (dt. Dunst, Hauch, Dampf und sphaira: Kugel, s.o.) in der Aktualität und befinden sich somit in ständiger Bewegung. Von einem Moment auf den anderen kann sich die Atmosphäre schlagartig verändern und in eine andere Atmosphäre umschlagen, zerreißen oder sich neu aufbauen. Der Begriff der Unterrichtsatmosphäre ist somit beweglicher und eher als Situation oder als Moment zu verstehen (die Atmosphäre während einer Gruppenarbeit beispielsweise, eine Gesprächsatmosphäre, die Atmosphäre der 1. Stunde etc.), wobei dieses Verständnis eine länger anhaltende Zeitdauer oder die bereits angesprochene nachhaltige Wirkung und Manifestation im Sinne einer Beziehungsqualität keinesfalls ausschließt (s. dazu auch III.2.3): Eine vertrauensvolle Atmosphäre beispielsweise, die von einer Lehrperson ausgeht, kann auch gespürt werden, wenn diese gerade nicht anwesend ist beziehungsweise wenn gerade kein Unterricht stattfindet.48 Weitere Unterschiede zwischen Klima und Atmosphäre bestehen in ihrer Charakterisierung und den Bereichen, die sie betreffen. Beinhaltet das Klima im Unterricht vor allem den Bereich des Sozialen, steht die Unterrichtsatmosphäre überdies auch im Zusammenhang mit dem Fachlichen49 und mit einzelnen situativen Momenten, die den Bereich des Zwischenmenschlichen verlassen. Unterrichtsatmosphären sind dadurch facettenreicher und umfassender charakterisierbar: Sie können beispielsweise nicht nur vertrauensvoll, wertschätzend und motivierend, sondern auch melancholisch, mitreißend und irritierend sein. Dies verdeutlicht bereits die Sprache: Ruft zum Beispiel eine besondere Klassenzimmerbeleuchtung etwas Geheimnisvolles hervor, wäre es in diesem Fall eher unüblich, von einem Klima zu sprechen als vielmehr von einer Atmosphäre. Neben umfassenderen Qualitäten kann eine Unterrichtsatmosphäre des Weiteren auch im Hinblick auf ihre Intensität, Dichte, Konsistenz oder Struktur charakterisiert werden. Auch die Gestaltung beziehungsweise Erzeugung einer Unterrichtsatmosphäre an sich geschieht situativer: ein erhellendes Wort, das Erscheinen-Machen von Gegenständen, die Wirkung einer Methode oder das In-Szene-Setzen eines Unterrichtsgegenstandes stellen hierfür Beispiele dar. Im Rahmen der Ästhetisierung (s. II.1.2 und V.1) erlaubt der Begriff der Atmosphäre, den Blick stärker auf das „Dazwischen“ zu lenken und damit – anders als das Klima – auf das Phänomen Unterricht selbst (dies wird in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt). Über die pädagogische Atmosphäre bei Bollnow schreibt Schubert diesbezüglich passend, sie sei etwas sehr Grundlegendes, „[…] das aber eben wegen seiner Einbettung in ein übergreifendes Allgemeines nicht isoliert als Betriebs- oder Schulklima gefasst werden kann.“ (Schubert, 2004, S. 120) Die Atmosphäre legt nicht nur einen unmittelbareren, sondern auch einen umfassenderen Zugang zur Unterrichtspraxis.

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Schmitz (2014) nennt diesbezüglich das Gefühl der Geborgenheit eines liebenden Menschen oder einer harmonischen Familie und schreibt hierzu: „Dafür braucht man keine Badewanne und keine warme Stube; es ist überall, wohin man geht, randlos im Raum erlebter Anwesenheit.“ (ebd., S. 20) Der Bereich des Fachlichen wird auch beim Klima aufgegriffen, jedoch eher inhaltlich motiviert und auch hier wieder auf einzelne Elemente (z.B. Verständlichkeit) bezogen.

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Zusammengefasst ergeben sich vor allem Unterschiede bezüglich der Zeitdauer beziehungsweise Stabilität, der Bereiche, die sie jeweils umfassen beziehungsweise beschreiben (fachlich, methodisch, pädagogisch/sozial, etc.), der Qualitäten und damit einhergehend auch hinsichtlich der Erzeugung beziehungsweise Gestaltung. Ferner entsteht ein Unterschied in dem ungleichen Grad an metaphorischer Verwendung.50 Vorläufige Definition: Eine Unterrichtsatmosphäre ist die Atmosphäre, die man während des Unterrichts im Klassenzimmer spürt, die aber auch über die Aktualität der Schulstunde hinausreichen kann (z.B. eine vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre hinterlässt Spuren, wirkt nach). Sie werden durch etwas oder jemanden (mit-)erzeugt und sie werden wahrgenommen. In Abgrenzung zum Klima sind Unterrichtsatmosphären 1. zusammenhängend mit unterschiedlichen Bereichen facettenreicher charakterisierbar (von melancholisch über irritierend bis vertrauensvoll; von kaum spürbar bis dicht und intensiv), 2. mehr auf den aktuellen Moment bezogen und damit beweglicher und situativer gestaltbar, und ermöglichen 3. einen anderen Blick auf den Unterricht (Unterricht als Atmosphäre) und damit einhergehend auf die Unterrichtspraxis (Lehren als ästhetische Tätigkeit). III.2 Beschreibung von Unterrichtsatmosphären Im Folgenden werden nun weiterführend, wie in der Einleitung erwähnt, einige grundlegende Merkmale von Unterrichtsatmosphären beschrieben. Die Beschreibung beinhaltet die Begriffe der Gemeinsamen Wirklichkeit, des Gestimmten Raumes sowie weiterführend den Begriff des Performativen. III.2.1 Gemeinsame Wirklichkeit: Unterrichtsatmosphären als Zwischenphänomene Betrachtet man Atmosphären als etwas, das zwischen Subjekt und Objekt beziehungsweise zwischen Subjekten existiert – oder konkreter formuliert: als diese Relation selbst – kann Unterricht im Sinne einer Lehrende-Lernende-Relation als Atmosphäre angesehen werden (vgl. Böhme, 2001, S. 54/55). Böhme greift in diesem Zusammenhang Aristoteles´ Bezeichnung von Unterricht als gemeinsame Wirklichkeit von Lehrperson und Lernenden auf. Daran angelehnt bezeichnet Böhme Unterricht als ein Zwischenphänomen, dem er eine selbstständige Seinsweise zuschreibt (vgl. ebd., S. 55). Diese Eigenständigkeit erklärt er damit, dass die Relaten, also Lehrperson und Lernende, austauschbar sind, beispielsweise als Individuen in den Raum hinein- und wieder hinaustreten können, während der Unterricht weiterhin bestehen bleibt. Es ist somit eine gewisse Unabhängigkeit des Unterrichts als Phänomen innerhalb des Gesamtverhältnisses gegeben (vgl. ebd.). Weiter beschreibt Böhme den gemeinsamen Wahrnehmungszustand als Einheit von Subjekt und Objekt, als einen Kopplungszustand: „Subjekt und Objekt verschmelzen in der Wahrnehmung. Sie werden zu einem System, nicht aber in der Art, dass sie sich dadurch verändern, sondern in der Art, dass sie neue gemeinsame Zustände haben. Die Atmosphäre ist die Anregung eines gemeinsamen Zustandes von Subjekt und Objekt.“ (ebd., S. 56) Diese Anregungszustände sind in der Wahrnehmungswirklichkeit immer das „erste Seiende“ (ebd.), in der die einzelnen Konstituenten, in diesem Fall Lehrende und Lernende, nicht zwingend aufzutreten brauchen (vgl. ebd., S. 55). Dieser Gedanke bedarf einer genaueren Betrachtung des Begriffs der Wirklichkeit. In Unterscheidung zum Realen, sprich zu dem, „was dinglich dahinterstehen mag“ (ebd., S. 57), stellt die Wirklichkeit „das in aktueller Wahrnehmung Gegebene“ (ebd.) dar: „Wirklichkeit […] leitet sich von Wirken her, und der Terminus grenzt eher ab gegen das, was nicht wirkt, vielleicht bloß ruht oder bloße Potenz ist. Wirklichkeit bezeichnet deshalb eher das Seiende im Zustand der Aktualität.“ (ebd., S. 160) Man kann also zum einen die Welt der Wahrnehmung, die als solche eine teilweise subjektive, sich ständig im Fluss 50

Beide Begriffe sind ursprünglich der Meteorologie entspringende Metaphern. Jedoch kann der Atmosphärenbegriff inzwischen aufgrund einer weniger indirekten als vielmehr direkten sprachlichen Verwendung nicht mehr vollständig als Metapher angesehen werden (s. II.2.1). Der Klimabegriff hingegen findet noch immer häufig eine metaphorische Anwendung: politisches Klima, Betriebsklima, Unterrichtsklima etc. Hierbei steht der Klimabegriff für etwas, das man spürt – sprich: für die Atmosphäre. Vielleicht ist auch dies der Grund, weshalb es bisher – im Gegensatz zum Begriff der Atmosphäre – keine einheitliche Definition des Klimabegriffs gibt, eben weil er noch immer eine Metapher darstellt.

III.2 Beschreibung von Unterrichtsatmosphären

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befindende ist, von der objektiven, realen Welt dahinter unterscheiden (vgl. Syfuß, 2010, S. 19). Hierbei ist der beschriebene Kopplungszustand zwischen Subjekt und Objekt ein Zustand der Wahrnehmungswirklichkeit, aus dem beide erst durch Entkopplung ausdifferenziert werden: „Die Atmosphären sind deshalb für die Ästhetik die erste und die entscheidende Wirklichkeit. Sie sind die spürbare Ko-Präsenz von Subjekt und Objekt, ihre aktuelle Einheit, aus der sich ihr unterschiedenes Sein erst durch Analyse gewinnen lässt.“ (Böhme, 2001, 57) Böhmes Beispiel des Malers Josef Alber, der die Begriffe factual fact, die auf der Leinwand tatsächlich vorfindbare Farbe, und actual fact, die Farbwirkung, unterscheidet, verdeutlicht dies noch einmal. In der Malerei ist es seit jeher bekannt: „Ein Maler hat immer schon gewusst, dass die wahrgenommene Farbe sich von der Lokalfarbe auf dem Bild unterscheidet.“ (ebd.) Für die weitere Betrachtung von Unterrichtsatmosphären kann der dargestellte Begriff der gemeinsamen (Wahrnehmungs-)Wirklichkeit als Lehrende-Lernende-Relation ergänzt werden um weitere Zwischenphänomene. Der gemeinsame Zustand wird zum Beispiel auch gebildet durch die Relationen zwischen den Lernenden untereinander und beinhaltet damit jede Form der Zwischenmenschlichkeit. Er betrifft des Weiteren auch die Gegenstandsebene und damit das, was zwischen einzelnen Objekten oder aber auch dem Unterrichtsgegenstand und dem am Unterricht Teilnehmenden spürbar ist.51 Eine Unterrichtsatmosphäre ist also automatisch immer eine Einheit von weiteren zahlreichen Atmosphären. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde in diesem Zusammenhang der Begriff der „Unteratmosphäre“ entwickelt. Stellt eine Unterrichtsatmosphäre den spürbaren Gesamteindruck dar, sind die Unteratmosphären diejenigen, die in den Unterricht mitgebracht werden oder sich währenddessen und nur für Einzelne spürbar ereignen wie beispielsweise bei einer Gruppen- oder Partnerarbeit, bei einem (unausgesprochenen) Streitvorfall zwischen Einzelnen oder auch zwischen der Lehrperson und einzelnen Lernenden. Auf einer anderen Ebene kann eine Unteratmosphäre auch einen kurzen Moment darstellen, der unter der eigentlichen Unterrichtsatmosphäre besteht. Verdeutlicht wird dies noch einmal durch eine Formulierung Kandinskys über ein Gemälde: „Die große Komposition kann selbstverständlich aus kleineren in sich geschlossenen Kompositionen bestehen, die äußerlich sogar feindlich einander gegenüberstehen, aber doch der großen Komposition (und gerade in diesem Falle durch das Feindliche) dienen. Diese kleineren Kompositionen bestehen aus einzelnen Formen auch verschiedener innerer Färbung.“ (Kandinsky, 1952/1911, S. 72) Böhmes Betrachtungsweise von Atmosphären als gemeinsamer Anregungszustand (s.o.) impliziert zwei wesentliche Merkmale, die, gerade wenn es um die Gestaltung von Unterrichtsatmosphären geht, eine große Rolle spielen. Zum einen verweist diese Terminologie auf das bereits beschriebene Zwischenphänomen – ein „schwebendes Zwischen“ (Böhme, 2014, S. 105) – und den gemeinsamen Zustand (wobei das Gemeinsame nicht zwingend eine wechselseitige Verbundenheit bedeutet52). Zum anderen bewegt sich der Begriff der Anregung aber auch in Richtung einer Qualität, einem Wie (bei Kandinsky ist es die „innere Färbung“). Diese charakteristische Zweideutigkeit führt zu einem weiteren essentiellen Begriff: dem Begriff des Gestimmten Raumes. Unterricht verstanden als Lehrende-Lernende-Relation („Zwischenphänomen“) stellt eine Atmosphäre dar. Sie ist die Relation selbst. Unterricht wird so zur gemeinsamen Wirklichkeit von Lehrenden und Lernenden, als deren gemeinsamer Zustand, der eine relative Eigenständigkeit besitzt. Dieses Phänomen wird in der vorliegenden Arbeit als Unterrichtsatmosphäre bezeichnet. Als gemeinsamer Zustand beinhalten Unterrichtsatmosphären automatisch immer auch zahlreiche Unteratmosphären auf verschiedenen Ebenen (z.B. einzelne situative Momente oder zwischenmenschliche Beziehungsqualitäten). Wirklichkeit und Realität: das „in aktueller Wahrnehmung Gegebene“ (Wirklichkeit) und das, „was dinglich dahinter stehen mag“ (Realität).

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Spychiger (2015) schreibt diesbezüglich: „Wenn bei Böhme Atmosphäre die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen ist, dann umfasst sie Gegenstand und Teilnehmende, Kunstwerk, Aufführung, Improvisation. Nicht nur gehören die Wahrnehmenden zum künstlerischen Ereignis, sondern auch direkt zum künstlerischen Prozess. In unserer Analogie ist es die Einheit von Unterrichtsgegenstand, Lehrenden und Lernenden.“ (ebd., S. 2) Auch ein abwesend wirkender Schüler ist durch seine zumindest körperliche Anwesenheit Teil der gemeinsamen Wirklichkeit. Wechselseitigkeit entsteht hierbei jedoch nicht.

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

III.2.2 Unterrichtsatmosphären als Gestimmte Räume „Atmosphären sind gestimmte Räume oder – um mit Schmitz zu reden: räumlich ergossene, quasi objektive Gefühle. Atmosphären sind etwas Räumliches und sie werden erfahren, indem man sich in sie hineinbegibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren bzw. uns zumindest anmuten. Ich habe […] gesagt, dass Atmosphäre dasjenige ist, was zwischen den objektiven Qualitäten einer Umgebung und unserem Befinden vermittelt: wie wir uns befinden, vermittelt uns ein Gefühl davon, in was für einem Raum wir uns befinden.“ (Böhme, 2013, S. 16) Noch vor Böhme und unabhängig von seinem Begriff der Atmosphäre spricht Elisabeth Ströker (1965) von gestimmten Räumen. Gemeint ist hierbei nicht der geometrische Raum als solcher, sondern vielmehr bezeichnet der Begriff das „Umhafte“, wie Ströker es nennt, das „Atmosphärische“ (vgl. ebd., S. 22). Sie beschreibt hierbei einen Raum, dessen Charakteristik darin liegt, Qualität, Ausdrucksfülle beziehungsweise Ausdrucksgestalt zu sein (vgl. ebd., S. 22 und S. 31). Weiter beschreibt sie ihn: „Sein Vernehmen ist kein Wahrnehmen, sein Gewahren kein Erkennen, es ist vielmehr ein Ergriffen- und Betroffensein. Der Raum übt zwar seine ‚Wirkung‘ aus, er steht aber zum Erleben nicht in einem Kausalverhältnis, sondern er ‚teilt sich mit‘, ‚spricht an‘.“ (ebd., S. 22/23) In seiner Atmosphärenbetrachtung und insbesondere in Bezug auf die Entdeckung der Atmosphären durch Ingression greift Böhme Strökers Begriff des gestimmten Raumes als für die Atmosphärenwahrnehmung charakteristisch auf: Er beschreibt Atmosphäre als einen Raum, „in den man hineingerät“ (Böhme, 2001, S. 47), in den man hineingehen, in dem man sein und von dem man umfasst sein kann (vgl. ebd.). Weiter formuliert er: „Die Atmosphäre ist ferner gestimmter Raum, d.h. was einen da anmutet, ist eine Stimmung.“ (ebd.) (s. hierzu auch 2.1) Wie auch bei Ströker ist der Raum, den Böhme meint, kein geometrischer Raum, sondern der „Raum leiblicher Anwesenheit“, der als solcher immer ein gestimmter Raum ist (vgl. Böhme, 2013, S. 18): „Dies ist der Raum, den wir durch unsere leibliche Anwesenheit erfahren, also der Raum, den wir leiblich oder am eigenen Leibe spüren. Dieser Raum ist wesentlich durch Enge und Weite konstituiert. […] er ist zentriert: nämlich bestimmt durch das absolute Hier, an dem ich mich befinde, und er kennt ausgezeichnete Richtungen.“ (ebd., S. 88) Wichtig ist zu verstehen, dass es sich hierbei um keinen Raum handelt, der einer Stimmung vorhergeht und dann eben diese „Tönung“ erhält. Fuchs´ (2013) Bezeichnung eines „Stimmungsraumes“ (ebd. und Fuchs, 2000, S. 193 ff.) erleichtert möglicherweise das Verständnis. Es ist vielmehr die Räumlichkeit (bzw. das Raumartige), die diese Stimmungsanmutung charakterisiert, und die es als wesentliches Merkmal erlaubt, von einer Atmosphäre zu sprechen (vgl. Böhme, 2013, S. 25). Des Weiteren ist der Begriff der Räumlichkeit auch deswegen rechtfertigbar: „[…] man kann sich ihrem Einfluss nicht nur verschließen, sondern sich ihm auch durch räumliche Entfernung entziehen.“ (ebd., S. 26) Versinnbildlichen lässt sich dies auch in Analogie zur Musik: Musik besitzt etwas Raumartiges in der Form, dass sie umhüllt und man in sie hineingeraten kann. Aber sie ist kein Raum mit einer Wand beziehungsweise einer klar abtrennbaren Grenze. In diesem Sinne kann auch die Unterrichtsatmosphäre als auf besondere Art und Weise gestimmter Raum verstanden werden. Als solcher verweist dies auf ihren räumlichen, umhüllenden Charakter sowie gleichzeitig auf ihre Qualität, die sie darstellt. In Bezug auf die Unteratmosphären sind bezüglich der Qualität auch wieder die vielen einzelnen Gestimmtheiten zu nennen, die sowohl Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrperson mitbringen.53 Unterrichtsatmosphären sind auf besondere Art und Weise gestimmte Räume, d.h. sie besitzen etwas Raumartiges, Umhüllendes – sie sind „Stimmungsräume“. Als gemeinsamer Zustand beinhalten sie Unteratmosphären im Hinblick auf einzelne Gestimmtheiten und Zwischenqualitäten.

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Den Begriff des gestimmten Raumes kann man diesbezüglich in zweierlei Hinsicht gebrauchen: zum einen in Bezug auf die Unterrichtsatmosphäre und zum anderen auch in Bezug auf den geometrischen Klassenraum, der an sich bereits eine Stimmung trägt und als solcher ein gestimmter ist, insofern er in seinem Ausdruck erfahren wird und der damit als (Mit)Erzeugender der Unterrichtsatmosphäre zugrunde liegt.

III.2 Beschreibung von Unterrichtsatmosphären

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III.2.3 Unterrichtsatmosphären als Zeitspielraum Unterrichtsatmosphären wurden bisher als gemeinsamer und auf besondere Weise gestimmter Wahrnehmungszustand beschrieben. Des Weiteren wurden sie als etwas in gewisser Hinsicht selbstständig Seiendes aufgefasst, sofern man den Unterricht als Zwischenphänomen an sich versteht, das auch mit ausgetauschten Relaten bestehen bleibt. Diese Eigenständigkeit kann jedoch immer nur eine relative Eigenständigkeit sein. Relativ deswegen, weil Relaten in irgendeiner Form vorhanden sein müssen: Sie wird als Anmutung oder als ausgehende Qualität von etwas und durch jemanden erfahren beziehungsweise mitbestimmt. Und, wird man etwas spezifischer, relativ deswegen, weil die konkrete Unterrichtsatmosphäre schlussendlich immer gebunden ist an etwas Bestimmtes beziehungsweise jemand Bestimmten: Sie existiert zwischen einer bestimmten Lehrperson und bestimmten Schülerinnen und Schülern. Unterrichtsatmosphären können auf diese Weise somit zwar als eigenständige Phänomene beschrieben, jedoch nie vollständig losgelöst verstanden werden von dem, woran sie gebunden sind. Für eine weitere Beschreibung von Unterrichtsatmosphären ist es nun noch einmal wichtig, Folgendes zu verdeutlichen: Der Begriff Unterrichtsatmosphäre bedeutet nicht Atmosphäre im Unterricht, sondern es geht darum, Unterricht als Atmosphäre zu sehen, wobei Letztes Ersteres wiederum enthält. Betrachtet man Unterrichtsatmosphären in diesem Sinne und noch einmal im Zusammenhang mit der relativen Eigenständigkeit, so sind sie des Weiteren gebunden an dynamische Prozesse des Agierens, des Aufund Miteinander-Reagierens, des Einbeziehens und des Verbindens oder auch des Ablehnens und Verstoßens. Die gemeinsame Wirklichkeit wird konstituiert dadurch, dass etwas getan wird. Eine Unterrichtsatmosphäre stellt so betrachtet die Ko-Präsenz des menschlichen Daseins und der Handlungen dar. In diesem Sinne darf die gemeinsame Wirklichkeit nicht statisch gedacht werden, sondern unterliegt automatisch auch Veränderungen. Im zeitlichen Verlauf kann sich ihre Qualität beispielsweise ändern, ihre Intensität oder Konsistenz: „Wenn wir sagen, dass eine Atmosphäre entsteht, sich verdichtet, einen Höhepunkt erreicht, sich auflöst oder schwächer wird, dann tragen wir damit nicht nur ihrem zeitlichen Charakter Rechnung, sondern heben auch hervor, dass sie sich in eine bestimmte Richtung herausbildet und entwickelt. So gesehen sind Atmosphären keine stabilen und unwandelbaren Zustände, sondern eher dynamische Prozesse, die verschiedene Phasen durchlaufen, von denen jeweils eine zur nächsten führt.“ (Thibaud, 2003, S. 287) Der Begriff, der mit Beschriebenem im Zusammenhang steht, ist der Begriff des Performativen und weiterführend des „performativen Raums“. Hierfür soll ein kleiner Exkurs in die Theater- und Performance-Kunst vorgenommen werden. Der Begriff „Performance“ ist ein weitgefasster Begriff, der nicht nur verschiedene Praktiken und Konzepte, sondern zugleich auch einige ihrer übergreifenden Merkmale beinhaltet (vgl. Fiebach, 2002, S. 740). Fiebach (2002) nennt das „Machen“ als den Begriff, der den Konzepten und Praktiken der „Performance“ als wesentliches Merkmal zugrunde liegt. Eine weitere Charakterisierung ergibt sich durch Charles´ Betrachtung von Performance als einem „Zeitspielraum“ (Charles, 1989). Als solche ist sie absolute Gegenwart, „‘das wirkliche In-der-Welt-Sein des Alltagsmenschen‘ [ebd.; zitiert nach Fiebach], gleichsam reine Sinnlichkeit, unendliche Bewegung, Veränderung.“ (vgl. Fiebach, 2002, S. 746) Weiter formuliert Charles: Performance „geschieht nicht in der Zeit, sie erzeugt ihre eigene Zeit; sie ist nicht im Raum, sie schafft ihren eigenen Raum. Präsenz wird Aktualität.“ (ebd., 1989, S. 79) In ihrem Werk „Ästhetik des Performativen“ (2004) spricht Fischer-Lichte von performativen Räumen und beschreibt damit Ähnliches wie Charles. Es geht hierbei um Aufführungen und die Räume, in denen sie stattfinden. Diese Räume sind zunächst insofern performativ, als etwas in ihnen vollzogen wird. Bezugnehmend auf John L. Austin ist es nach Fischer-Lichte das, was der Begriff „performativ“ meint: „Man ‚vollzieht‘ Handlungen“ (Austin, 1979; zitiert nach FischerLichte, 2004, S. 31). Sowohl Performance als auch performativ leiten sich ab vom englischen Verb „to perform“: tun, handeln, vollziehen, ausführen, leisten (vgl. Fischer-Lichte, 2015, S. 53). Aus der Sprachphilosophie kommend bezeichnet „performativ“ Sprechhandlungen, genauer: Sätze, die etwas verändern: „Denn die Sätze sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen. Das heißt, sie sind selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen, von der sie sprechen. Es sind diese

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren.“54 (Fischer-Lichte, 2004, S. 32) Als weiteres Merkmal führt Fischer-Lichte die Fähigkeit des Performativen an, „dichotomische Begriffsbildungen zu destabilisieren, ja zum Kollabieren zu bringen.“ (ebd., S. 34) All diese Merkmale sind übertragbar auf körperliche Handlungen im Bereich der Künste, insofern diese eben auch selbstreferentiell sind, Wirklichkeiten konstituieren und Transformationen der Künstler und Zuschauer herbeizuführen vermögen (ebd.). In Fischer-Lichtes Beschreibung eines Aufführungsraums geht es zum einen um einen geometrischen Raum, sprich um einen Raum, der bereits vor Beginn und über die Aufführung hinausgehend existiert: Mit einem Grundriss, einer Höhe, Breite und Länge, stabil, fest und über einen längeren Zeitraum unverändert gegeben – eine Art Behälter, wie Fischer-Lichte ihn nennt (vgl. ebd., S. 187). Mit seinen gegebenen Bedingungen „[…] eröffnet [er] besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber hinaus organisiert und strukturiert.“ (ebd.) Der Aufführungsraum ist damit auch ein performativer Raum – veränderbar durch jede „Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten“, instabil und in ständiger Fluktuation (vgl. ebd.). Es ist wie eine Art Rhythmus im Sinne eines dynamischen Prinzips, das unterwegs ist und bleibt: immer mit Herstellung und Darstellung bestimmter Verhältnisse beschäftigt und immer auch in der Lage, diese Verhältnisse wieder neu zu entwerfen.“ (Helbling, 1999; zitiert nach Fischer-Lichte, 2004, S. 233) Was mit Erika Fischer-Lichte hier beschrieben wird, ist eine Atmosphäre, hervorgerufen durch Artikulationsweisen55 einer inneren Dynamik. Es ist die Konstitution einer Atmosphäre, die in der Aktualität der Aufführung besteht und damit flüchtig ist. Um noch einmal den Beginn des Abschnitts aufzugreifen ist die Betrachtung des Performativen beziehungsweise performativer Räume nun deswegen interessant, weil der Unterrichtsraum ebenfalls ein geometrischer Raum ist, in dem sich etwas abspielt, in dem etwas vollzogen wird. Und es ist, wie eingangs angeklungen, das sich Vollziehende, zwischenmenschlich, aber auch das Gegenständliche und somit auch den geometrischen Raum beinhaltend, das schließlich den atmosphärischen Unterrichtsraum, sprich die Unterrichtsatmosphäre, hervorruft. Unterrichtsatmosphären können somit auch als performative Räume – als „Zeitspielräume“ – verstanden werden: als Ausdruck eines Prozesses in seiner eigenen Zeitlichkeit. Die Dimension des Zeitlichen umfasst hierbei sowohl das Während auf der vertikalen Ebene einer Schulstunde, und damit die Aktualität der Atmosphäre, als auch auf horizontaler Ebene das Vorher und Nachher. Letzteres bezieht sich zum Beispiel auf Fälle, in denen sich Intensitäten herausbilden und als Beziehungsqualitäten manifestieren oder in denen Vorheriges – im Sinne einer „aisthetischen Hintergrunderfahrung“ – in die aktuelle Atmosphäre mithineinspielt. So gesehen sind Unterrichtsatmosphären also nicht zwingend gekoppelt an einen einzelnen Moment oder an eine einzelne Schulstunde, auch wenn sie als Atmosphären theoretisch natürlich nur in der Aktualität existieren. Im Rahmen dieser Arbeit wird diesbezüglich von „atmosphärischen Spuren“ gesprochen: Spuren, die nicht nur als Vergangenes in die aktuelle Atmosphäre mithineinspielen, sondern auch Spuren, die aktuelle Atmosphären in

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Z.B. „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau.“ (vgl. Fischer-Lichte, 2004, S. 32) Artikulationsweisen sind das, wodurch etwas oder jemand spürbar wird (analog dazu der Begriff der Ekstase bei Böhme, s. Glossar).

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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die Zukunft gerichtet wiederum selbst hinterlassen.56 Unterrichtsatmosphären werden so zu einem gelebten und erfahrenen sowie zugleich auch erinnerten Raum57 – der Begriff des „Zeitspielraums“ muss damit ergänzt werden um diese weitere Dimension, die die zeitliche Aktualität überschreitet.58 Unterrichtsräume sind „Zeitspielräume“. Als solche sind sie gebunden an Handlungsvollzüge, an dynamische Prozesse, werden durch sie tingiert und stellen gleichzeitig deren Ausdruck dar. Als solche unterliegen sie auch einer zeitlichen Prozesshaftigkeit (eigene Zeit): Vorheriges spielt in die aktuelle Atmosphäre mit hinein und aktuelle Atmosphären hinterlassen in die Zukunft gerichtet wiederum selbst „Spuren“. Zusammenfassende Definition von Unterrichtsatmosphären: Eine Unterrichtsatmosphäre ist die Atmosphäre, die man während des Unterrichts im Klassenzimmer spürt, die aber auch über die Aktualität der Schulstunde hinausreichen kann (z.B. eine vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre hinterlässt Spuren, wirkt nach). Sie kann verstanden werden als raumartig anmutende Stimmung, als etwas Umhüllendes, dem man sich aussetzen oder von dem man sich distanzieren kann. Sie stellt die Relation zwischen Lehrenden und Lernenden, genauer: deren Relation selbst, dar. Als Zwischenphänomen besitzt sie eine relative Eigenständigkeit. Sie ist gebunden an das Prozesshafte, an den menschlichen Vollzug beziehungsweise wird hierdurch tingiert und kann somit als atmosphärischer Handlungsraum beziehungsweise als „Zeitspielraum“ mit der ihr eigenen Zeit betrachtet werden. Auf dieser Ebene wird das Lehren im Sinne einer ästhetischen Tätigkeit verstanden. III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich nun mit der genaueren Betrachtung von Unterrichtsatmosphären vor dem Hintergrund der in Kapitel III.2 beschriebenen Terminologien der gemeinsamen Wirklichkeit, des gestimmten Raumes und der Performativität beziehungsweise des Zeitspielraums. In Abschnitt II.2.3 beziehungsweise auch in Kapitel III.1 und III.2 wurde bereits die Produktionsseite von Atmosphären angesprochen. Im Vordergrund dieses Abschnitts steht nun das Benennen möglicher (Mit-)Erzeugender einer Unterrichtsatmosphäre: Von der Tages- oder Jahreszeit, der Klassengröße, dem Schulzweig und Schulsystem, der Raumtemperatur, aktuellen Wetterbedingungen, der Schularchitektur über subjektive Gestimmtheiten oder Assoziationen und Gedanken auch außerhalb des Unterrichts oder der Schule bis hin zum Beziehungsbereich zwischen Lehrenden und Heranwachsenden – um einige, jedoch längst nicht alle möglichen Erzeugende zu nennen – ergibt sich hierbei die Problematik der Komplexität. Um dem gerecht zu werden, beschränkt sich das vorliegende Kapitel auf das unmittelbare Umfeld der Schülerinnen und Schüler unter dem Aspekt der Gestaltungs- beziehungsweise Einflussmöglichkeit von Lehrpersonen auf die Unterrichtsatmosphäre. Ziel dieses Kapitels ist ein allgemeines Aufzeigen an Möglichkeiten und eine Bewusstmachung, bevor die Unterrichtsatmosphäre in Kapitel III.4 dann im Hinblick auf eine Wertung dargestellt wird. Einmal erkannt, wird damit jede Unterrichtsgestaltung, jedes Verhalten im Unterricht, der Einsatz jeder Methode auch Teil einer ästhetischen Lehrtätigkeit.

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Auf Seiten der Atmosphärenwahrnehmung ist es ein, aufgrund aisthetischer Hintergrunderfahrungen, Spüren „über den Umweg der Erinnerung“ (Rauh, 2012, S. 157). Rauh verwendet in diesem Zusammenhang den passenden Begriff der Spur: „[…] Die Atmosphären des ‚Hier und Jetzt‘ senken sich wie Spuren in die aisthetische Hintergrunderfahrung, und wie eine Spur verweist sie in aktuelle Wahrnehmungsbezüge auf die Einmaligkeit des kulturellen und biografischen Kontextes bisheriger Atmosphärenwahrnehmung. Wie Aura und Spur stehen Atmosphäre und aisthetische Hintergrunderfahrung in einem Verweisungszusammenhang von Nähe und Distanz, von Habhaftwerden (Spur) und Betroffenwerden (Aura).“ (ebd.) Die andauernde „atmosphärische Spur“ weist bereits in Richtung „Klima“ (s. III.1). Die Begriffe wurden in Anlehnung an den Buchtitel „Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum“ von Hasse (2010) gewählt. Ein Beispiel hierfür stellt die Unterrichtssituation an einem Tag dar, in der die Lehrperson weniger fehlerfreundlich mit den Lernenden umgeht als sonst, was jedoch ohne negative Auswirkungen bleibt, da der Unterricht normalerweise von einer Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung durchzogen ist. (Dieses Beispiel entstand aus einer beobachteten Unterrichtssituation heraus.)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

III.3.1 (Zwischen)Menschliches im Handlungsraum Einleitendes Rudert zitierend schreibt Tellenbach über die menschliche Atmosphäre: „Für die Atmosphäre ist es kennzeichnend, dass sie um die Person her ist. Die Person fließt darin über ihre Kontur hinaus, den Raum rings umher erfüllend, ähnlich wie die Duftemanation den Raum um das Wesen her erfüllt.“ (Rudert, 1964; zitiert nach Tellenbach, 1968, S. 61) Ohne es als Atmosphäre zu bezeichnen beschreibt Abramovic (2016) Ähnliches über ihre Wahrnehmung der Menschen, die in ihrer Performance „The Artist is present“ ihr gegenüber Platz genommen haben: „[...] Ich hatte das Gefühl, den unglaublichen Geisteszustand zu verstehen, den Van Gogh erreichte, während er seine Bilder malte. Als er die Leichtigkeit der Luft malte. Ich hatte das Gefühl, um jede Person herum die gleichen winzigen Energiepartikel zu sehen, die er gesehen hatte.“ (ebd., S. 395/396) Beide Zitate greifen noch einmal die Artikulation menschlicher Anwesenheit im Sinne eines Eindruckspotenzials auf, um das es in Abschnitt II.2.3 bereits gegangen ist. Als Mensch tritt jemand in Erscheinung, und, liest man Abramovics Beschreibung noch etwas weiter, kann jemand auch eine Art Spur59 hinterlassen, selbst wenn er oder sie nicht mehr körperlich anwesend ist: „Schon ziemlich zu Anfang fiel mir etwas Unglaubliches auf: Jede Person, die sich auf den Stuhl mir gegenübersetzte, ließ eine ganz spezielle Energie zurück. Die Person ging, die Energie blieb.“ (ebd.) Betrachtet man Lehrende und Lernende im Zusammenhang mit der relativen Eigenständigkeit von Atmosphären (s. III.2) und vor dem Hintergrund dieser Zitate, können sie somit in ihrer Erscheinung als Erzeugende, genauer: als Mit-Erzeugende60 einer Unterrichtsatmosphäre angesehen werden: „Was immer ein Lehrer im einzelnen tut, er schafft eine bestimmte Atmosphäre in seiner Klasse. Diese Atmosphäre ist im Allgemeinen dafür verantwortlich, ob das Lernen angeregt oder gehemmt wird.“ (Dreikurs, 1957, S. 81) Was hier bei Dreikurs anklingt, findet sich auch bei Beekman. Er betrachtet den pädagogischen Raum im Allgemeinen immer – mit den Erziehenden im Mittelpunkt stehend – als personal gestaltet (vgl. Beekman, 1984, S. 13 und 16). Das heißt, er konstituiert sich zunächst „durch die besondere Art des Anwesend-seins des Erwachsenen“ und schafft den Heranwachsenden damit einen Raum zur Entwicklungsmöglichkeit61 (vgl. ebd., S. 13). Als „personal gestimmter Raum“ ist er gebunden an die individuelle Art der (Handlungs-)Erscheinungen: „Der Raum, den Grandma Millie bietet, ist ganz anders als der Raum, den ich bieten kann. Auch Sasha ist auf eine andere Weise anwesend als die kleine Anna. Diese verschwindet fast in der Menge der Kinder in ihrer Schüchternheit. Man kann sie leicht übersehen. Sasha kann man kaum übersehen; er macht sich durch seine lebendige Anwesenheit leicht bemerkbar, auch wenn er gerade nichts sagt.“ (ebd., S. 14) Es ist oftmals nicht nur bedeutsam, wie Lehrende nach außen hin spürbar werden, sondern auch dass sie überhaupt da sind. Dies verdeutlicht auch die Beobachtung Beekmans, er habe oft sehen können, wie „Kinder im Schatten eines ruhigen Erwachsenen vor sich hin puzzeln“, weil sie da ungestört und geschützt seien, „vor dem Gepolter und dem Radau der ‚Großen‘, der älteren Kinder der Tagesstätte […], die oft die Räume beherrschen, gelegentlich zusammen mit einer Gefolgschaft von ebenfalls Unruhigen.“ (ebd., S. 12) Zwar sieht Beekman den pädagogischen Raum durch die Erwachsenen bestimmt, nicht aber allein, sondern auch durch das Dasein und die Handlungen der Kinder (vgl. ebd., S. 11 ff.). Auch Prengel (2013) konnte im Rahmen ihrer Anerkennungsforschung feststellen, dass sich pädagogische Interaktionen sowohl im Positiven als auch im Negativen auch auf der Ebene der anderen Klassenmitglieder beziehungsweise der Peergruppe auswirken können (vgl. ebd., S. 115). Diesbezüglich schreibt sie: „Die Gleichaltrigen lassen sich tendenziell hinsichtlich Freundlichkeit und Feindseligkeit vom Stil der Lehrperson anstecken.“ (ebd.) So führte beispielsweise Ermutigung eines Schülers seitens der Lehrperson dazu, dass die anderen Schülerinnen und Schüler Beifall klatschten. In einem anderen Beispiel kritisierte eine Lehr-

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Als etwas den Moment Überdauerndes kann auch hier von einer „atmosphärischen Spur“ gesprochen werden. Es ist präziser, von Mit-Erzeugenden zu sprechen, denn: Zwar sind Lehrende Erzeugende, wenn die Atmosphäre von ihnen ausgeht und doch sind sie immer nur Mit-Erzeugende von etwas, das auch von den anwesenden Schülerinnen und Schülern mitbestimmt wird (beziehungsweise von etwas, das strenggenommen bereits ursprünglich da ist (vgl. III.3.1: „Ki“)). Bei Beekman (1984) ist es ein Raum der Sicherheit, Geborgenheit und der Entwicklungsmöglichkeit (vgl. ebd., S. 13).

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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person ein dickes Mädchen herablassend im Sportunterricht, was dazu führte, dass die anderen Klassenmitglieder sie auslachten (vgl. Prengel, 2013, S. 115) (s. hierzu auch III.4.3). Impulsgebend sind in diesen Beispielen zwar die Lehrpersonen, jedoch wird die Gesamtatmosphäre erst durch die einzelnen Klassenmitglieder miterzeugt.62 Es ist insofern wichtig, die Unterrichtsatmosphäre hinsichtlich der menschlichen Erzeugenden im Gesamten, sprich als einzelne Unteratmosphären und persönliche Gestimmtheiten beinhaltende Relation, zu verstehen (s. hierzu auch III.2.3). Und es wird deutlich, weshalb man bezüglich der Lehrperson nur von einer die Atmosphäre Mit-Erzeugenden sprechen kann, obgleich sie aufgrund ihrer Funktion automatisch im Mittelpunkt steht und damit die Atmosphäre meist zu dominieren vermag. Meist, sicher jedoch nicht immer: Dies wird deutlich in Momenten, in denen Lehrpersonen durch die Abwesenheit einzelner Schülerinnen und Schüler plötzlich bewusst wird, wie viel angenehmer oder aber vielleicht auch unkonzentrierter das Unterrichten ohne sie ist. In solchen Fällen liegt die Dominanz auf der Seite der Schülerinnen und Schüler. Eine abschließende Aussage darüber, von wem genau eine Unterrichtsatmosphäre dominiert oder erzeugt wird, kann somit nicht getroffen werden. Da eine Unterrichtsatmosphäre jedoch immer auch zumindest mitgebunden ist an eine Lehrperson und sich die vorliegende Arbeit mit der Seite der Lehrenden beschäftigt, werden im Rahmen dieses Kapitels zum einen der Moment des menschlichen Sich- Begegnens im Allgemeinen (s. III.2.3, Atmosphäre wird gerade auch aus den Interaktionen heraus konstituiert) und zum anderen konkrete Beispiele in Bezug auf mögliche Artikulationsweisen der Lehrpersonen genannt. Dies dient den Lehrenden als Bewusstmachung in Bezug auf eigene Wirkungen sowie auf deren Gegenüber. Sich begegnen: menschliche Atmosphären als „Vorform einer Beziehung“63 „Ein Mensch hat und verbreitet Atmosphäre in mehr oder minder intensiver Weise als eine Wesensausstrahlung, die ihn in seiner Personalität kennzeichnet – ‚wie eine feine Wolke, die von ihr ausgeht‘ (Minkowski, S. 119). Wo immer ein Mensch mit dem anderen in Beziehung tritt, steht dieser strahlendspürende Bezug am Beginn. In diesem Eröffnungszug kann sich das Mitmenschliche durchaus erschöpfen. ‚Oft vernehmen wir von einer Person gar nicht viel mehr als einen irgendwie getönten Hauch‘ (Rudert), den wir achtlos geschehen lassen können, dem wir uns aber auch bewusst entziehen können. Wenn wir dagegen mit dem anderen in nähere Fühlung geraten, so wird diese zunehmend vom Atmosphärischen durchwirkt.“ (Tellenbach, 1968, S. 48) Tellenbach, auf den die Betrachtung von Atmosphären als zwischenmenschliche Wirklichkeit, wie man sie bei Böhme vorfindet, zurückzuführen ist, beschreibt hier auf besondere Weise den Moment des Sich- Begegnens und weiter des Miteinander-inBeziehung-Tretens. Für die Betrachtung von Unterrichtsatmosphären ist dies natürlich vor allem deswegen interessant, da der Unterricht im Sinne der gemeinsamen Wahrnehmungswirklichkeit eine fortwährende Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden darstellt. Atmosphären sind bei einer Begegnung das Erste, das man spürt. Das, was hierbei von einem Menschen ausgeht, dieses „Mehr“ oder dieser „Duft“, wie Tellenbach es nennt, „verbreitet sich in der Luft und entdeckt uns so die Existenz der Atmosphäre. Indem wir den Duft gewahren, nehmen wir an der Atmosphäre teil“ (ebd., S. 47). Ein schönes Beispiel stellt in diesem Zusammenhang Tellenbachs Beschreibung des Spürens innerhalb einer Mutter-Kind-Beziehung dar: Im Duft der Mutter hat das Kind zugleich auch ihr „Wesen“, ihre Atmosphäre (vgl. ebd., S. 46). Tellenbachs Verwendung des Duft-Begriffes lässt sich in mehrdeutigem Sinne verstehen: zum einen als konkreter Duft, der von einem Menschen ausgeht beziehungsweise als generell ein „Mehr“ und zum anderen im normativen Sinne eines Sich-(nicht)riechen-Könnens. In Bezug auf Letzteres trägt der „Duft“ entscheidend dazu bei, ob aus der bloßen Begegnung ein Miteinander entsteht und in welcher Intensität es dieses geben wird. Tellenbach beschreibt es als einen „Hauch, der uns ebensosehr anziehen wie schroff abstoßen kann.“ (Tellenbach, 62

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Analog dazu kann eine Aufführung gesehen werden: „Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. […].“ (Fischer-Lichte, 2015, S. 54) Dieser Ausdruck stammt von Deuter (2005): „Atmosphäre als Vorform einer Beziehung“ (ebd., S. 224).

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

1968, S. 49)64 Hierin gründen (unerklärliche) primäre Anti- und Sympathien sowie allgemeine Vorurteile (vgl. ebd.). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Subjekte eine zwischenmenschliche (beziehungsweise streng genommen jede Atmosphäre) immer und mit-bilden (vgl. ebd., S. 56). Tellenbach, und auf ihn bezugnehmend auch Böhme, greifen in diesem Zusammenhang das bereits in Abschnitt II.2.1 genannte japanische Wort Ki des Kollegen Kimura auf (vgl. ebd., S. 57; vgl. Böhme, 2013, S. 37). Unter Ki ist der „ursprüngliche Grund, in welchem die Beziehung eines Menschen zum Mitmenschen verankert ist“, das „Ursprüngliche, den Einzelnen vom Ursprung her durchwaltende, ihm das Mitsein stiftende“ zu verstehen65 (vgl. Tellenbach, 1968, S. 57). Ki bedeutet „Ursprung des Universums“, „Pneuma“, „Atem“, „Luft“, „Gemüt“ (ebd.). Es ist ein atmosphärischer Zustand, der bereits da ist („in der Luft liegt“) und an dem die einzelnen Personen nur teilhaben beziehungsweise von dem sie ergriffen werden können (vgl. Böhme, 2013, S. 37). Dieses Beitragen von jeder oder jedem Einzelnen zu einer gemeinsamen Atmosphäre geschieht dadurch, ob und wie jemand spürbar wird: zum Beispiel durch Gesten, durch das Was und Wie der sprachlichen Äußerungen, durch Blicke, durch allgemeine Charakterzüge oder innere Haltungen. Kurz: durch seine oder ihre Artikulationsweisen. (Diese beinhalten auch personenbezogene Gegenstände wie Kleidung oder Parfüm66.) Denn: „[…] jeder Mensch hat eine Atmosphäre und trägt durch sein Auftreten zur gemeinsamen Atmosphäre, in der wir uns begegnen, bei.“ (Böhme 1985; zitiert nach Schubert, 2004, S. 131) Im nächsten Abschnitt werden diesbezüglich einige konkrete Beispiele im Hinblick auf die Unterrichtsatmosphäre näher ausgeführt. Beispiele für menschliche Artikulationsweisen im Unterricht „Alle Lehrer bemüheten sich, wegzustreichen alle Runzeln, die zeither ihr Angesicht unfreundlich und mürrisch gemacht hatten, und ihre Blicke wurden heiter, wie die Sonne in ihrem Aufgange. Und sie mischten sich in die Gesellschaften der Kinder und liefen mit ihnen nach dem Ziele, schlugen mit ihnen den Ballen und lehrten sie treiben den Kreisel. […]“ (Salzmann, 1785; zitiert nach Bollnow, 2013/1964, S. 205) Was mit diesem Zitat von 1785 als damals imaginiertes Zukunftsbild anklingt, sind Artikulationsweisen der Lehrperson – in diesem Fall Nonverbales und Handlungsaspekte. Gerade im Hinblick auf die Körpersprache und deren Wirkung im Unterricht, aber auch hinsichtlich verbaler Aspekte, finden sich in der Literatur viele Beispiele. Betrachtet man Nonverbales und Verbales vor dem Hintergrund der (Mit-)Erzeugung von Atmosphären, könnte zum Beispiel eine als bösartig wahrgenommene Mimik eine angstvolle Atmosphäre hervorrufen. Und ferner könnte diese Mimik vielleicht deshalb als bösartig wahrgenommen werden, weil beispielsweise die zusammengekniffenen Augen, die stark aufeinandergepressten und nach unten weisenden Lippen dies möglicherweise evozieren. Bereits bei der hier gegebenen Wortwahl – vielleicht, beispielsweise, könnte und möglicherweise – wird deutlich, dass es sich keineswegs um etwas handelt, das sich nachweislich untersuchen ließe, sodass daraus Grundregeln im Sinne von „Bewegung A erzeugt Atmosphäre B“, „geöffnete Augen erzeugen X“ etc. ableitbar wären. Denn die beschriebene „bösartige“ Erscheinung wird vielleicht nicht von allen als bösartig empfunden und ist darüber hinaus je nach Situation auch im Kontext zu sehen. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bewegung A etwas erzeugt; dass überhaupt alles, wodurch ein Mensch für andere spürbar wird, notwendigerweise etwas erzeugt. Diesbezüglich formuliert Rosenbusch: „Kommunikation findet

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Tellenbach verdeutlich dies am Beispiel des Vertrauens eines Kindes, das im wörtlichen Sinne „sich ‚verlassen‘ kann“, weil es jemandem traut und hierbei ein Wagnis eingeht, denn Vertrauen stellt zunächst einmal immer ein blindes Unterfangen dar (vgl. Tellenbach, 1968, S. 50). Es ist der Moment des sich Verstehens ohne Worte. Tellenbach sieht im Ki sogar die Voraussetzung der Möglichkeit allen Verstehens: „Wo es keine Übereinstimmung im Ki gibt, da kann ein Mensch den Mitmenschen nicht mehr verstehen, weil bei beiden das atmosphärische Vorverständnis, der atmosphärische Elementarkontakt unterbrochen ist.“ (Tellenbach, 1968, S. 58) Die Verwendung von Parfüm beispielsweise bezeichnet Böhme (2012) als einen „bewussten Akt des In-Erscheinung-Tretens“ mit einer vor allem räumlichen Wirkung: „Sie schafft der Trägerin [oder dem Träger] eine sphaera activitatis. Die Trägerin [/der Träger] berührt von ferne, wandelt gewissermaßen in einer unsichtbaren Wolke.“ (ebd., S. 136) Diese Parfümwolke versinnbildlicht noch einmal den Duft, von dem Tellenbach spricht (s.o.).

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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in zwischenmenschlichen Situationen stets statt, indem interpersonale Wahrnehmungs- und Wechselwirkungsprozesse ablaufen.“ (Rosenbusch, 1995b, S. 208)67 Und ferner ist diese immer gebunden an das Atmosphärische: „Kommunikation zwischen Menschen vollzieht sich immer in einer Atmosphäre bzw. es gibt einen spezifischen Kommunikationsmodus, der in der Produktion der gemeinsamen Atmosphäre besteht.“ (Böhme, 2013, S. 33) Hierbei kann dem Nonverbalen etwa eine übergeordnete Rolle zugeschrieben werden, was auch deutlich wird an einer Formulierung von Rosenbusch: „Freude, Begeisterung, Zuneigung, Angst werden relativ selten verbalisiert, spiegeln sich jedoch häufig in der Mimik, Gestik und Paralinguistik von Schülern und Lehrern wider.“ (Rosenbusch, 1995a, S. 179)68 Sogar die innere Haltung Lehrender kann sich über das Nonverbale äußern: „Lehrer zeigen ihre positive Einstellung Schülern gegenüber durch positives nonverbales Verhalten, also Vorwärtslehnen, Bewegungen auf Schüler zu, Steigerung des Blickkontakts, bekräftigendes Kopfnicken und Lächeln.“ (ebd., S. 196) Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Artikulationsweisen einen Einfluss auf die Unterrichtsatmosphäre haben können, werden im Folgenden einige konkrete menschliche Artikulationsweisen beispielhaft aufgeführt. Die Stimme wirkt als Atmosphärenerzeugende in zweierlei Hinsicht, hört man doch bei ihr nicht nur das Was, sondern auch das Wie: arrogant beispielsweise, voll, rau, sanft, wohlklingend, gebieterisch, wertschätzend, ironisch, zynisch, aggressiv oder schrill. Zum Was schreibt Böhme: „Wenn man sagt, dass man Atmosphären mit Worten erzeugen kann, so ist das eigentlich im Rahmen der Alltagskommunikation auch selbstverständlich. Ein verletzendes Wort kann, wie man sagt, die Atmosphäre vergiften, ein tröstendes sie wieder aufhellen.“ (Böhme, 2014, S. 75) Auch das Anheben und Senken der Stimme oder das Unterbrechen des Sprechflusses, das Schweigen, vermögen wirkungsvoll zu erscheinen (vgl. Rosenbusch, 1995a, S. 194). Zum Schweigen beispielsweise schreibt Rosenbusch, es könne „alle emotionalen Spielarten einschließen, wie Zorn, Mißfallen, Gleichgültigkeit bis Liebe und Sympathie.“ (ebd., S. 198). Schweigen kann somit als kommunikative Handlung im Allgemeinen oder aber auch als „pädagogisches Mittel“ und damit als produktiver Bestandteil des Unterrichts angesehen werden (vgl. ebd., S. 207 ff.). Als „eisiges Schweigen“ kann es jedoch auch lähmend wirken (vgl. ebd., S. 194). Des Weiteren hat die Stimme auch die Funktion der gegenseitigen Kontaktherstellung: „[Sie] füllt den Raum zwischen beiden, setzt sie zueinander in ein Verhältnis, stellt eine Beziehung zwischen ihnen her. Mit seiner Stimme berührt der, der sie zu Gehör gibt, den, der sie vernimmt.“ (Fischer-Lichte, 2004, S. 226/227) Mit der Stimme im Zusammenhang steht auch das Lachen. Sofern es kein Auslachen ist, besitzt es unter anderem eine befreiende, lösende sowie auch eine kontaktherstellende Funktion (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 204 und vgl. Syring, 2016, S. 100). Fröhliche Mienen wirken ansteckend (vgl. Rosenbusch, 1995a, S. 194), durch den Humor werden Dinge aus ihrer Verhärtung gelöst, werden sie „beweglich und schwingungsfähig“ (Rosa, 2016b, S. 108) (z.B. sichtbar durch Tränen): „Es ist wie ein kurzes Fensteröffnen und einmal kräftig Durchlüften. Danach geht es wieder frisch ans Werk." (ebd., S. 109) Im Kontext seiner Beschreibung einer pädagogischen Atmosphäre spricht Bollnow von „Tugenden des Erziehers“. Eher auf die innere Haltung bezogen, jedoch mit dem Lachen im Zusammenhang stehend, können diesbezüglich unter anderem der Humor sowie die von der Lehrperson ausgehende Heiterkeit genannt werden. Ähnlich dem Lachen schreibt Bollnow dem Humor eine die Spannung lösende Funktion zu (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 242). Die Heiterkeit bezeichnet er des Weiteren als „die reinste Form der vom Lehrer ausstrahlenden Atmosphäre“ (ebd., S. 241). So gehe von der bloßen Gegenwart des heiteren Menschen ungewollt eine klärende und lösende Wirkung aus (ebd., S. 245). Mit der Heiterkeit, so Bollnow, würde eine Stimmung geschaffen, in der die Lernenden „ohne Widerstreben und mit fröhlicher Bereitschaft ergriffen werden.“69 (ebd., S. 241) Eine weitere Tugend, die Güte, strahle ferner „wohltuend und beglückend auf alle Menschen, die in ihrem Umkreis eintreten“ (ebd., S. 245). 67

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Rosenbusch bezieht sich hierbei auf eine Aussage der Kommunikationstheoretiker Watzlawick et al.: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ (ebd.; zitiert nach Rosenbusch, 1995b, S. 208) Auch in Fehlersituationen finden beziehungssicherheitsvermittelnde Ausdrucksweisen häufig auf körpersprachlicher Ebene statt (vgl. Spychiger, 2013, S. 152 ff.). Zum Beispiel wenn man Aufgaben in „heiterem Sinne“ stellt (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 241).

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Sie ist es des Weiteren, die den erzieherischen Humor im Allgemeinen erst möglich macht, indem sie ihn umschließt und trägt (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 244). Weitere bedeutsame Artikulationsweisen sind die Hände. Molcho (2013) bezeichnet diese als „das sensibelste Werkzeug und die ausdrucksstärksten Glieder des Menschen“ (ebd., S.156): „Mit den Händen weisen wir auf etwas hin, wir können mit ihnen beschreiben und unsere Gefühle zum Ausdruck bringen.“ (ebd., S. 159) Als direkter Ausdruck von Gefühlen, als das Gesprochene begleitend oder auch im Hinblick auf symbolische Gesten70 stellen die Hände somit weitere mögliche Atmosphärenerzeugende dar. Für den pädagogischen Bereich ist diesbezüglich eine Formulierung von Spychiger (2013) interessant: „[Die Hand] kann stark lenkend oder aber Raum gebend, helfend, haltend usw. eingesetzt werden.“ (ebd., S. 146) Hierbei nennt sie zum Beispiel eine Geste der Hand, mit der ein Lehrer eine Schülerin solange (quasi unsichtbar) „hält“, bis sie die Antwort weiß (vgl. ebd., S. 152). Spychiger bezeichnet dies als „pädagogisches Halten“ (s. Glossar), das die Qualität eines Vertrauensvorschusses trägt und mit dem der Moment der Ungewissheit überbrückt werden soll (vgl. ebd., S. 152 und Spychiger, 2018). Hingegen steht eine „eiserne Hand“ metaphorisch gesehen mit einem autokratischen Erziehungsstil im Zusammenhang (vgl. Spychiger, 2013, S. 146). Eine „haltende“ Wirkung vermag auch ein Blick zu erzeugen, etwa in Form eines „versichernden Blicks“ (ebd., S. 153). Sowohl Rosenbusch als auch Meyer schreiben dem Blickkontakt eine zentrale Rolle bei schulischen Interaktionen zu (vgl. Rosenbusch, 1995a, S. 176; vgl. Meyer, 2007, S. 95). Meyer betrachtet ihn gar als wichtigstes körperliches Element im Unterricht unter anderem im Zusammenhang mit dem Aspekt der Beziehung: Blicke stellen nicht nur einen Kontakt her, sondern es werden auch Signale gesendet. Über die Qualität des Blickes wird somit allgemeine Beziehungsarbeit geleistet (vgl. Meyer, 2007, S. 95/96).71 Kurz: „Blicken ist leibliche Kommunikation.“ (Düweke, 2008, S. 124) Ein Blick kann hierbei bösartig sein, warm, intensiv oder flüchtig. Ein netter Blick vermag das Belohnungssystem zu aktivieren (vgl. Spitzer, 2012, S. 191), ein fixierender Blick überzeugend (vgl. Molcho, 2013, S. 135), ein zu direkter Blickkontakt auf manche Schülerinnen und Schüler jedoch auch einschüchternd wirken. Ein kurzes Anschauen vermag disziplinierende Wirkung haben oder Aufmerksamkeit erzeugen (vgl. Rosenbusch, 1995a, S. 193). Ferner kann ein Blick jemanden anerkennend „wach blicken“ (vgl. Düweke, 2008, S. 121 und III.4.2). So schreiben Kiel et al. (2013) beispielsweise, Lehrende sollten innerhalb von fünf Minuten mit jeder Schülerin und jedem Schüler mindestens einmal Blickkontakt gehabt haben, damit sich diese wahrgenommen fühlten (vgl. ebd.; nach Syring, 2016, S. 95). Dementgegen steht: Erzeugen Blicke eine Kontaktaufnahme, können fehlende Blicke hingegen Kränkung hervorrufen oder ein Gefühl des Sich-übergangen- oder Sich-ignoriert-Fühlens (vgl. Molcho, 2013, S. 134). Ein weiteres Beispiel menschlicher Artikulationsweise stellt das Lächeln dar, das nicht nur aufhellend wirkt, sondern häufig auch eine Verbindung zu anderen Menschen herstellt (vgl. Ellgring, 1995, S. 27). Lachen und Lächeln (natürlich kein Auslachen) werden im Unterricht von den Schülerinnen und Schülern in der Regel als positiv empfunden – gerade im Fehlerkontext (vgl. Spychiger, 2013, S. 153).72 Eine solche Reaktion auf Fehler, schreibt Spychiger, habe die Funktion des „Überbrückens“: „Es ist das Auffangen einer Diskoordination (dazu Spychiger 2010), welches zu einer möglichen Lösung in der pädagogischen Interaktion führt.“ (ebd.) Ausdrucksweisen wie dieses Lächeln oder auch der genannte versichernde Blick vermitteln in solchen Momenten Beziehungssicherheit. Eine weitere Ausdrucksweise stellt diesbezüglich die Geste „Hand zum Kinn“ dar. Im Zusammenhang mit einer Fehlersituation vermittelt sie eine Form von Sicherheit, des geduldigen und vertrauenden Wartens – sie wirkt raum- und zeitgebend – sodass die Lernenden besser nachdenken können (vgl. Spychiger, 2011 und vgl. hierzu Oser & Spychiger, 2005, S. 81/82).

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Voraussetzung, dass symbolische Gesten entsprechende Atmosphären hervorrufen ist natürlich, dass die Symbolik bekannt ist; s. auch Ästhetische Semiotik beziehungsweise Böhme, 2001, S. 145-157. Etwas philosophischer formuliert Merleau-Ponty die Kontaktherstellung: „Der Blick […] hüllt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vermählt sich mit ihnen.“ (Merleau-Ponty, 2004, S. 175) S. hierzu auch Büeler, Urs (2000). In der Klasse stehen. Eine Untersuchung zur nonverbalen Kommunikation der Lehrperson, wenn eine Schülerin oder ein Schüler im schulischen Unterricht einen Fehler macht, http://www.surfboard.ch/inderklassestehen/ (13-06-2018).

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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Auch Bewegungen sind als Atmosphärenerzeugende bereits angeklungen. Das Innehalten in einer Bewegung oder die Körperhaltung an sich stehen ebenfalls damit im Zusammenhang (vgl. hierzu z.B. Bender, 2014, S. 43 ff.). Eine Bewegung wirkt zum Beispiel schnell, langsam, hastig, zackig, sanft, kontrolliert, gehalten, frei oder fließend. Sie kann klein und nah am Körper ausgeführt werden oder aber einen Raum scheinbar „ausfüllen“. Die Bewegung der Arme etwa kann auch im Zusammenhang stehen mit der Qualität einer Beziehung: Entfernt man beispielsweise mit der eigenen Empfindung von Vertrauen und Sicherheit einhergehend die Arme vom Körper, öffnet man diesen dadurch und signalisiert damit Offenheit, Vertrauen und eine Bereitschaft zur Mitteilung (vgl. Molcho, 2013, S. 160 ff.)73. Ferner steht mit der Bewegung auch die Position Lehrender im Unterrichtsraum im Zusammenhang. So verweist beispielsweise Rosenbusch (1995a) auf eine Studie (vor allem bei Grundschulkindern), in der herausgefunden wurde, dass Lehrende, die hinter dem Pult sitzen, weniger angenehm erlebt werden als solche, die sich innerhalb der Klasse positionieren (vgl. ebd., S. 196). Es sei noch einmal erwähnt, dass die genannten Beispiele tatsächlich als das verstanden werden müssen, was sie sind: als mögliche Beispiele und eben nicht als allgemeingültige Regelhaftigkeit. Letztendlich sind die Artikulationsweisen immer an die Person gebunden, von der sie ausgehen, an ihre Persönlichkeit sowie an diejenigen, die sie wahrnehmen.74 Und letztlich geht es auch um das Zusammenspiel etwa aus Bewegung, dem Was und dem Wie man etwas sagt: „Wenn beispielsweise eine Lehrkraft einen Schüler ermahnt, der gegen eine Regel verstoßen hat und dies mit einer leisen Stimme […] und einer unsicheren Haltung […] tut, wird sie der Schüler und vermutlich der Rest der Klasse nicht ernst nehmen.“ (Syring, 2017, S. 93)75 Abschließend werden die Beispiele noch ergänzt um das Merkmal der Unechtheit beziehungsweise der Echtheit: Begeisternde oder lobende Worte zum Beispiel können echt oder unecht sein, ebenso ein anerkennendes Lächeln oder die Ausstrahlung einer gesamten Persönlichkeit. So sei es beispielsweise nicht gut, schreibt Bollnow, Vertrauen aus „pädagogischen Gründen“ vorzuspielen: „Von diesem Versuch geht keine Überzeugungskraft aus, und er scheitert notwendig an seiner eignen inneren Unehrlichkeit. Das Vertrauen ist vielmehr nur dann erzieherisch fruchtbar, wenn es von der eignen ehrlichen Überzeugung des Vertrauenden getragen wird.“76 (Bollnow, 2013/1964, S. 225) Ob und wie eine verbale oder nonverbale Äußerung wirkt, wird letztendlich ersichtlich aus der Wahrnehmung der Reaktionen anderer, und noch mehr: durch das Miteinander-Sprechen. Auf eine konkrete Unterrichtssituation angewandt können einige der genannten Beispiele in einer Vignette aus der Untersuchung von Meyer-Drawe & Schwarz (2015) zusammengefasst dargestellt werden. Neben einigen gegenstandsbezogenen Aspekten enthält der Ausschnitt aus der Unterrichtsbeobachtung menschliche Artikulationsweisen zweier Lehrerinnen, wie: hektischer Blick, eine leicht erhobene, nervöse, angespannte und kommandierende Stimme, fehlende Blicke, die abgewandte Haltung der Lehrerin, ihre Betriebsamkeit, reißende Bewegungen, verschwörerische und zugleich auch ausbleibende Blick-Kontakte (im Rahmen der Unterrichtssituation stehen sie im Zusammenhang mit einer eher negativen Unterrichtsatmosphäre): „Frau Peier zeigt beim Betreten der Klasse […] einen hektischen Blick. Sie ist von einer gesteigerten Betriebsamkeit beherrscht. Sie hat Bestimmtes im Sinn und kein Auge für die Schülerinnen und Schüler. Ihre Stimme ist jedenfalls ‚leicht erhoben‘, verrät Nervosität und Angespanntheit. Sie zieht ‚alle Blicke‘ auf sich. Diese Blicke prallen jedoch auf den von ihr zugewandten Rücken. Der Rücken ist die Seite der Unaufmerksamkeit. Wenn wir ihn zeigen, haben wir nicht nur unseren Blick abgewandt, sondern uns.

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Er führt diesbezüglich das Beispiel eines Menschen auf, der Politiker wird und insofern Leute überzeugen und einen Eindruck machen muss: „Doch wenn er nicht gerade rhetorisches Charisma besitzt […], gelingt das mit geschlossenen Armen nicht – er kommt nicht rüber, er kommt nicht an. Er muss große Gebärden machen, um sie alle zu umarmen und an sich zu ziehen.“ (Molcho, 2013, S. 163) „Beim einen Lehrer reicht es, wenn er die linke Augenbraue hochzieht, um einen Schüler zu disziplinieren, beim anderen löst dieselbe Botschaft nur ein müdes Lächeln aus […].“ (Meyer, 2016, S. 95) Es wird natürlich auch dann eine Atmosphäre erzeugt, jedoch vermutlich eine andere als beabsichtigt. Bezüglich des Spielens einer Rolle schreibt Bollnow Nitschke zitierend im Allgemeinen: „Dies selbstbefangene Spielen einer Rolle verhindert den lebendigen Bezug zum Andern, verhindert die Begegnung.“ (Nitschke, 1962; zit. nach Bollnow, 2013/1964, S. 264)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Während die gesamte Aufmerksamkeit der Lehrerin gilt, ist diese damit beschäftigt, mühevoll das Päckchen aufzureißen, das sie als Geschenk für Patrick angekündigt hat. Reißen bedeutet, dass etwas mit Gewalt in Stücke zerfetzt wird. Man hört das brutale Vorgehen, bei dem es sich nicht um ein übliches Geschenk handeln kann; […] ‚Setzen!‘ kommandiert die weitere Lehrerin – wie im Kasernenhof. Nun wendet sich Frau Peier der Klasse zu, aber immer noch nicht als respektvolles Gewahren, sondern um eine Blickverständigung gegen Patrick zu inszenieren und sich mit den anderen Kindern untereinander zu verschwören. Beim vermeintlichen Geschenk handelt es sich um Mathematikbücher, die ihm auf den Tisch gelegt werden. […].“ (aus: Meyer-Drawe & Schwarz, 2015, S. 131) Durch ihre (individuellen) Artikulationsweisen (z.B. ein versichernder Blick, ein aufmunterndes Lächeln, ein gemeinsames Lachen) sind sowohl Lehrende als auch Schülerinnen und Schüler Mit-Erzeugende einer Unterrichtsatmosphäre, tragen sie durch eben diese Artikulationsweisen zu ihrem Charakter bei. III.3.2 Gegenständliches: Architektur, Klassenzimmer und frei gestaltbare Objekte Analog zum Menschlichen werden, der neuen Dingontologie folgend, auch Dinge nicht als in sich abgegrenzt, sondern nach außen hin spürbar betrachtet. In der Wahrnehmung treten sie in Erscheinung: „Etwas zeigt sich in einem atmosphärischen Erscheinen, wenn es für die Wahrnehmenden in einer existentiellen Bedeutsamkeit anschaulich wird. So erinnert der Ball an das Lärmen der Kinder, die längst abwesend sind; so inszeniert eine Wohnungseinrichtung einen Wohlstand, dem man ansehen kann, dass er trügerisch ist. Atmosphäre ist ein sinnlich und affektiv spürbares und darin existentiell bedeutsames Artikuliertsein von realisierten oder nicht realisierten Lebensmöglichkeiten. In der Gestalt, die sie haben, geben die Objekte dieses Erscheinens der jeweiligen Situation eine charakteristische Gestalt – und zwar so, dass dieser von ihnen (mit)geschaffene Charakter der Situation an ihnen anschaulich wird.“ (Seel, 2016, S. 152) Dieses Zitat führt hin zu dem Inhalt, mit dem sich das vorliegende Kapitel beschäftigt: Mit der Benennung von Gegenständlichem als mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären. Hierbei wird der Fokus – in Begrenzung auf das unmittelbare Umfeld der Heranwachsenden – auf die Architektur des Schulbaus, dessen Räumlichkeiten sowie auf darin enthaltene bewegliche Gegenstände als mögliche schulische (Mit-)Erzeugende gelegt. Denn: Was man in der Schule, und konkret im Unterricht, empfindet, kann zum Beispiel davon abhängen, welche Atmosphäre einem beim Betreten des Schulbaus entgegenkommt, in welchem Umfeld sich das Schulgebäude befindet, ob ein Klassenzimmer hohe Wände hat oder niedrige, quadratisch, rechteckig oder gar rund ist, wie die Klassenräume möbliert sind, ob es sich um ein historisches Gebäude handelt oder um einen Neubau, welche Farben die Wände haben und ob sie leer sind oder geschmückt mit persönlichen Kunstwerken der Schülerinnen und Schüler etc. Schularchitektur „Atmosphäre beginnt offenbar dort, wo die Konstruktion endet. Sie umgibt ein Gebäude, sie haftet seiner Materie an. Tatsächlich scheint sie dem Objekt zu entströmen. Ursprünglich wurde damit die Gashülle bezeichnet, von der Himmelskörper umgeben sind. Ganz ähnlich scheint die Atmosphäre eines Bauwerkes durch dessen physische Form erzeugt zu werden. Sie ist gewissermaßen eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit, ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte.“ (Mark Wrigley)

In der Architekturpsychologie finden sich einige Hinweise auf die pädagogische Bedeutung dessen, was von den Gebäuden und deren Räumen ausgeht. Als Beispiel ist hierfür die anthroposophische Architektur der Waldorfschulen beziehungsweise die organische Architektur, die den Menschen als Maßstab verwendet, zu nennen. Gerade auch in Skandinavien finden sich viele Ansätze innerhalb der Architektur, eine für das Lernen und Heranwachsen geeignete Atmosphäre zu erzeugen. Die Architektin Prue Chiles berichtet in einem Interview beispielsweise von einer schwedischen Schule, deren Eingang in eine Bücherei verwandelt wurde, sodass der Weg zum Klassenzimmer für die Schülerinnen und Schüler stets daran vorbeiführte, wodurch eine besondere Wirkung erzeugt würde (vgl. Haeming, 2015). Oder von Schulen in Südamerika, die, zwar billig und aus Beton seien, durch ihr ikonisches Design bei den Her-

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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anwachsenden jedoch starke Eindrücke hinterließen. Effizienteres Lernen, Selbstbestimmung, Identitätsfindung, Kreativitätsförderung und Steigerung der Aufnahmefähigkeit durch bestimmte Farben, Formen und Baumaterialien – der atmosphärischen Wirkung wird hierbei eine große Verantwortung zugeschrieben. Wie Verhaltensweisen von Lehrpersonen können auch „erlebte Botschaften der Schularchitektur“ von den Schülerinnen und Schülern als negativ oder positiv empfunden werden (vgl. Rittelmeyer, 2014, S. 128). Meist unbewusst wahrgenommen macht sich dies dann zum Beispiel in einer allgemeinen Grundeinstellung zur Schule bemerkbar: „So führen beispielsweise brutal, gesichtslos, abstoßend, hektisch oder arrogant wirkende Bau- und Farbelemente zu antipathischen Grundstimmungen.“ (ebd.) Die Architektur weiß um den Zusammenhang architektonischer Wirkung und pädagogischer Prozesse. Ein Zitat von Wright aufgreifend schreibt der Architekt Reker: „Ob die Menschen sich dessen (…) bewusst sind oder nicht, sie beziehen Zuversicht und Nahrung aus der Atmosphäre der Dinge, in oder mit denen sie leben. Sie wurzeln darin wie eine Pflanze in ihrem Boden.“ (F. L. Wright; zitiert nach Reker, 2015/2016, S. 70)77 Auch Rittelmeyer (1994) schreibt dem Schulbau eine erzieherische Wirkung zu: „Der Schulbau wirkt in einem gewissen Sinne wie die Lehrerpersönlichkeit bildend oder verbildend auf Heranwachsende.“ (ebd., S. 104) Wie stark die Atmosphäre eines Gebäudes wirken kann, verdeutlicht Kükelhaus (1988) in seinem Werk „Unmenschliche Architektur. Von der Tierfabrik zur Lernanstalt“ auf erschreckende Weise. Es ist die Beschreibung zweier Schulen Ende der 1960er Jahre in USA (New York, Harlem) und Westdeutschland. Diese „Lernanstalt-Architektur“, wie er sie nennt, zeichnet sich aus durch die Anwendung gleicher Techniken, die auch unter Garantie in Tierfabriken zu einem Massenausstoß von Eiern und Fleisch führen. Das Prinzip dieser Techniken benennt er folgendermaßen: „Gradlinige Anpeilung gewünschter Effekte. Ausschaltung aller Störelemente. Risikofreie Verfahrenstechnik.“ (ebd., S. 16) Es ist das Bild einer Legebatterie: aufnehmen und funktionieren (vgl. ebd.). Diese Prinzipien lagen dem damals als „Fensterlose Schule“ bekannten Schulbau in Harlem zugrunde: Aufgrund der Lage in einer stark verkehrsreichen Landschaft wurde das menschliche Ohr der Lehrenden und Lernenden einem ständig anhaltenden und unzumutbaren Geräuschpegel ausgesetzt. Die Beschreibung der Schule als ein kastenhafter und durch ein Gitter von der Außenwelt abgeschlossener Betonbau mit fensterlosen Wänden und ohne Schulhof (vgl. ebd., S. 18) macht den Begriff „Lernanstalt“ nachvollziehbar. Das Innere des Gebäudes mit all seinen Räumlichkeiten war mit grellem Licht (2500-3000 Lux) von dicht aneinandergereihten Leuchtstoffröhren ausgestattet – so dicht, dass keine organische Schattenbildung möglich war – und alle Wände trugen vom Boden bis zur Decke weiße und stark spiegelnde Kacheln. Weiß waren auch die Schallschluck-Plastik-Tafeln an der Decke, die den Effekt hatten, die menschliche Stimme trocken und ohne jegliche Echobildung erscheinen zu lassen; Pflanzen oder Ähnliches waren nicht vorhanden (vgl. ebd., S. 17). Was hier durch die Architektur bewusst erzeugt wurde, war eine dem menschlichen Organismus völlig fremde Atmosphäre: nüchtern, ohne jegliche Sinnlichkeit und damit ohne Störeinflüsse in Bezug auf das Lernen, dachte man. Allein schon die Beschreibung reicht aus, um zu verstehen, dass eine solche Atmosphäre, natürlich aber auch die direkte physische Wirkung (z.B. grelles Licht), nicht gerade zum menschlichen Wohlbefinden beigetragen hat (darauf war sie ja auch nicht angelegt), und zu einem zunehmenden Schulschwänzen, zu Unlust, körperlichen und psychischen Beschwerden sowie wachsender Kriminalität führte (vgl. ebd., S. 18). Den gewünschten positiven Lerneffekt konnte man damit sicher nicht erreichen. Diese Schule stellt ein negatives Beispiel dafür dar, wie stark der Zusammenhang von Architektur und atmosphärischer Wirkung sein kann. Ein ähnliches Bild zeigte sich in der Schule in Westdeutschland, die die beschriebene Schule in Harlem durch weitere Negativ-Faktoren übertraf: eine komplett ebenerdige Anlage, spärliches Tageslicht nur durch Fenster, die bis zur Augenhöhe reichten und farbig abgedämpft waren (allerdings erst später, um Phobien bei den eingeschlossenen Kindern vorzubeugen), einfarbige Räume und Mobiliare sowie eine gleichförmige Temperatur, die sich durch alle Räume zog, um nur ein paar Beispiele aufzuzählen (vgl. ebd.). Im Gegensatz zur „Legebatterie“ oder „Lernanstalt“ ist insbesondere das bereits erwähnte ArchitekturKonzept der Waldorfschule zu nennen. Und natürlich sind auch staatliche Schulen, trotz ihrer noch immer häufig „kasernenartigen“ Schulbauten, nicht annähernd mit dem zu vergleichen, was Kükelhaus beschreibt. Der Architekt Gerold Reker (2015/2016) gibt jedoch zu bedenken, die moderne Entwicklung 77

„Zur heimlich erziehenden Wirkung schulischer Lernräume“ vgl. auch Hasse (2010).

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

des öffentlichen Raums, zu dem auch Schulbauten gezählt werden können, zeige noch immer „dramatisch die Reduzierung des Menschen auf eine Funktion, auf seine – Zweckhaftigkeit“ (Reker, 2015/2016, S. 95). Und dabei gehe es doch gerade im öffentlichen Raum eigentlich um die Entfaltung des „Ichs“ (vgl. ebd.). Wie in Kükelhaus´ Beschreibung der Harlemer Schule deutlich wurde, kann Architektur verantwortlich sein für die psychische und physische Gesundheit. Ob man sich in einem Gebäude wohl fühlt oder nicht, steht im direkten Zusammenhang zu Lernprozessen der Heranwachsenden: „Lernen ist nicht nur ein geistiger Vorgang. Lernen erfolgt auch über den Körper. Lernen spielt sich stets zu einer konkreten Zeit an einem konkreten Ort ab. Die Lernumwelt hat Einfluss auf den Lernprozess und die Lernergebnisse.“ (ebd., S. 71) Des Weiteren kann Architektur identitätsstiftend wirken. Reker verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „atmosphärischen Reichtums“, der von Bauten ausgeht und den es bewusst zu ergänzen gilt (vgl. ebd., S. 73). Ein „schöner“ Raum beispielsweise kann etwas darstellen, mit dem man sich gerne identifiziert. Reker spricht diesbezüglich von einer Wechselbeziehung zwischen Pädagogik und Architektur, sprich von einer pädagogischen Architektur (vgl. ebd., S. 71). Auch Hasse betrachtet Schulbauten als „Mittel der Erziehung“, ohne jedoch „in ihren architektonisch-synästhetischen Bewirkungen kritisch bedacht zu werden.“ (Hasse, 2010, S. 69) Es geht hierbei um eine Architektur, bei der der Mensch im Vordergrund steht, die sich um ihn „kümmert“ und in deren Räumlichkeiten gelernt wird: „In solcher Atmosphäre docken sich das Interesse und die Neugier des Menschen an, und er fasst Fuß.“ (Reker, 2015/2016, S. 73) Ähnlich wie zwischenmenschliche Atmosphären können somit auch Gebäude und deren Räume dafür verantwortlich sein, ein „Heimgefühl“, ein Gebunden- und darin gerade ein Frei-Sein zu erzeugen, das zu einer freien und doch pädagogisch gehaltenen Entwicklung führen kann: „Gute Räume, also auch gute Bildungsräume, sind geprägt von Sorgfalt und Vielfalt, sie lassen die Seele atmen und den Menschen sich wohl fühlen. So können bildende Räume bestenfalls zur gebauten Heimat werden, die viel mit Freiheit und Spielraum in den unterschiedlichsten Facetten zu tun hat, und mit einer schönen Selbstverständlichkeit.“ (ebd.) Manuelle Klassenzimmergestaltung „Schläft ein Lied in allen Dingen“ (Eichendorff)

An den vorherigen Abschnitt anknüpfend verwundert es somit nicht, dass der Raum78 in der Pädagogik bekanntlich häufig als „dritter Erzieher“ angesehen wird. Erziehung findet nicht nur im Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden statt, sondern: „Die räumliche Umgebung beeinflusst erheblich mit. Räume können behindern und fördern, können gute Absichten zunichte machen oder unerwartete Entfaltungsmöglichkeiten produzieren.“ (Reker, 2015/2016, S. 70) Dies geschehe hierbei häufig im Verborgenen oder im Unbeabsichtigten und immer dann, „wenn atmosphärische Arrangements interessenspezifisch inszeniert werden.“ (ebd.) Mit der Beschreibung der Schule in Harlem sind neben der Architektur bereits auch Aspekte manueller Klassenzimmergestaltung genannt worden; grelles Licht, weiße und stark spiegelnde Kacheln und das Nichtvorhandensein von Pflanzen wurden hierfür unter anderem als (Mit-)Erzeugende für eine Atmosphäre aufgezählt, die sich eher gesundheitsschädlich als lern- und entwicklungsfördernd ausgewirkt hat. Hinsichtlich einer positiven Wirkung der Raumgestaltung greift Meyer (2016) bezugnehmend auf Montessori ihren Begriff der „vorbereiteten Umgebung“ auf. Interessant ist folgende Formulierung, wird doch hierbei das Zusammenwirken von statischem und performativen Raum beschrieben: „Die vorbereitete Umgebung kann […] als Ensemble von ‚eingefrorenen‘ Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen gedeutet werden, die durch das didaktisch-methodische Handeln der Lehrer und Schüler wieder ‚aufgetaut‘ werden müssen (Meyer 1993).“ Anders formuliert, so lautet seine These: „Der Klassenraum ist das materialisierte Curriculum des Unterrichts.“ (Meyer, 2016, S. 120) Eine solche gut vor-

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Im folgenden Abschnitt ist der physische Raum gemeint.

III.3 Mögliche (Mit-)Erzeugende von Unterrichtsatmosphären

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bereitete Lernumgebung habe „positive Effekte auf die Entwicklung der kognitiven, sozialen und methodischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler […].“79 (Meyer, 2016, S. 121) Konkret führt er hierbei beispielsweise eine „Funktionale Einrichtung“ auf. Diese umfasst die Aspekte funktional (im Sinne der Didaktik, nicht der Architektur), ökologisch und ergonomisch und damit einhergehend konkrete Beispiele wie eine gute Belüftung, stimmige Beleuchtung und Akustik sowie ausreichend Platz (vgl. ebd.) Des Weiteren nennt er in Bezug auf die Klassenzimmergestaltung den bereits angesprochenen Aspekt der „Identifikation mit dem Lernort“: „Schüler müssen das Gefühl entwickeln können, dass ihr Klassenzimmer ihr persönliches Eigentum ist.“ (ebd., S. 123) Es wird deutlich, dass es nicht nur die Aufgabe der Architektur ist, eine geeignete Umgebung für Heranwachsende in Bezug auf Entwicklung und Lernprozesse zu schaffen. Auch die manuelle Gestaltung des Klassenzimmers stellt als direktes Umfeld der Heranwachsenden eine mögliche Relevanz dar in Bezug auf die (Mit-)Erzeugung von Unterrichtsatmosphären.80 Hierbei kann seitens der Lehrperson viel unternommen werden: Von der Wandfarbe81 über Wandgestaltungen, Sitzordnung, Pflanzen, einer geeigneten Temperatur, dem Ordnungssinn, dem Duft bis hin zum Licht – all dies sind mögliche gestaltbare Elemente. Auch der Unterrichtsgegenstand ist diesbezüglich zu erwähnen. Sowohl das Klassenzimmer als auch seine Gestaltung erzeugen etwas, berühren, fordern zu etwas auf, laden ein oder stoßen ab. In seinen Beobachtungen schreibt Beekman zum Beispiel und betont hierbei auch den subjektiven Teil der Wahrnehmung: „Im Kellergeschoß fordert die Leere zum Rennen auf. Der Raum wird bestimmt von Wahrnehmungsmöglichkeiten: in den Ruheraum legt man sich gerne hinein, die weichen Kissen sind so einladend. Der Raum ist zugleich mit emotionaler Bedeutung besetzt, die mit früheren eigenen Erfahrungen der Kinder in diesem Raum zusammenhängen: wir haben ‚Gespenster‘ hier unten gespielt. Auch ist der Raum so geartet, daß Sasha sich nicht mehr allein hineintraut.“ (Beekman, 1984, S. 14) Ähnlich wie bei der Architektur wird auch bei der manuellen Gestaltung deutlich: Welche Gestaltungen wirklich als geeignet erscheinen, ist in Abhängigkeit von den Menschen im Raum, von der jeweiligen Situation, vielleicht auch vom Fach oder vom Unterrichtsinhalt zu sehen. Es braucht hierbei die direkte Orientierung am Menschen und ihren (wechselnden!) Bedürfnissen, denn: „Es ist nicht von vornherein bestimmbar, in welchen Atmosphären sich ein Mensch wohl fühlt. Zwar sind die Atmosphären objektiv darstellbar, ihre Wahrnehmung bleibt aber dem Subjekt überlassen.“ (Grätzel, 2015/2016, S. 23) Zur Gestaltung: direkte und indirekte Wirkung Beekmans Zitat ermöglicht im Hinblick auf die Subjektivität der Wahrnehmung überdies auch eine differenzierte Betrachtung der Gegenstände, was gerade für die Atmosphärengestaltung erweiterte Möglichkeiten mit sich bringt. So können Gegenstände – wie beispielsweise die einladenden Kissen – direkt wirken, sprich aufgrund ihres Materials, ihrer Beschaffenheit, der Textur oder ihrer Farbe. Dingen oder Räumen können aber auch – wie im Falle des „Gespenster-Raums“ – eine emotionale Bedeutung anlasten und insofern in eher indirekter Wirkung erfahren werden.82 Diese Differenzierung wird auch deutlich in der Beschreibung sogenannter „Übergangsobjekte“ (Winnicott, 2006/1971, S. 10 ff.) aus der Kindheit wie beispielsweise einem Teddybären: „Dem leblosen Objekt wird eine Bedeutung beigemessen, die es ‚von sich aus‘ nicht hat – damit ist der erste Schritt zur Symbolbildung gemacht. Der Säugling macht dabei die Erfahrung, durch eigene Aktivität Einfluss auf seine Gefühle nehmen zu können, indem er das Mittel zur Regulierung seines Befindens selber erschafft, indem er eine enge emotionale Beziehung eingeht zu einem Objekt seiner Wahl. Besonders faszinierend an diesem Vorgang ist, dass der Säugling und später das Kind sein Übergangsobjekt nicht nur liebt, sondern sich von ihm geliebt fühlt.“ (Winnicott; nach Limberg, 2003, S. 4/5) Das Beispiel Boeschs von einer Fahne verdeutlicht diese Symbolkraft (im eher kulturellen Kontext) ebenfalls: „Die Fahne besteht 79

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Darüber hinaus betont Meyer (2016) diesbezüglich auch die positive Wirkung auf die Berufszufriedenheit der Lehrpersonen (ebd., S. 121). Ein Lehrer berichtete im Rahmen der vorliegenden Untersuchung davon, wie er genau das stets versuche umzusetzen: In seiner aktuellen Klasse verwende er sehr viel Energie darauf, ein Raumkonzept zu entwerfen, das den Heranwachsenden das Gefühl eines sicheren Zuhauses, eines „Nests“, geben sollte (s. Anhang: Interviewbericht Herr Buber). Waldorfschulen passen beispielsweise die Wandfarben den jeweiligen Altersstufen an. Analog dazu kann natürlich auch das Menschliche auf entsprechende Weise betrachtet werden.

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

[…] aus einem Stück – meist rechtwinkligen und farbigen – Tuches. Als Objekt hat das Tuch seine stofflichen Qualitäten: es ist weich, biegsam, lässt sich zerschneiden, nähen, man kann es zum Einhüllen benutzen oder, wenn man will, auch zum Verhüllen […]. Das alles sind Eigenschaften, die den Bereich der Handlungen abstecken, die die Stofflichkeit des Dinges erlaubt. Zu den so umrissenen Handlungsmöglichkeiten gehört indessen nicht, dass man vor dem Tuch stramm steht, salutiert, sich verbeugt, Lieder singt, Kampfrufe ausstößt oder Eide ablegt.“ (Boesch, 1980, S. 203; vgl. hierzu auch Allesch, 2016) Ein Beispiel aus der Schule gibt, Rittelmeyer aufgreifend, Jürgen Hasse. Er berichtet von einem Schüler, der sich im Hinblick auf eine kaiserzeitliche Schulfassade dahingehend äußert, dass er diese Schule nicht gerne besuchen würde, da sie aussehe wie eine Kirche. Diese assoziiere er mit negativen Empfindungen (vgl. Hasse, 2010, S. 70). Eine kulturelle Bedeutung auf dem Hintergrund der persönlichen Situation des Schülers führt hierbei zur angegebenen Distanzierung (vgl. ebd., S. 71). In allen drei Fällen sind die Gegenstände beziehungsweise erscheinen sie über ihre subjektiv-emotionale, symbolische, kulturelle oder vielleicht auch konventionelle Bedeutung83. Analog dazu ist es auf der Ebene der Sprache das, was durch die beiden sprachlichen Bedeutungsebenen Denotation und Konnotation veranschaulicht werden kann. Denotation umfasst das Sachliche, das Funktionale, das relativ Objektive, wohingegen Konnotation die denotativen Kodes auf eine verstärkt emotionale und somit subjektive und Weise interpretiert: „Konnotativen Aspekten entsprechen emotionale und ästhetische Anmutungsqualitäten, verbunden mit ihrer Wertschätzung. Ihre Bedeutung kann konventionell festgelegt sein wie zum Beispiel bei Verkehrszeichen.“ (nach Weber 1994, Richter, 2004, S. 154) Interessant ist in diesem Zusammenhang, auch das Licht beziehungsweise die Beleuchtung zu betrachten (vgl. hierzu auch Hasse, 2012, S. 31 ff.). Licht an sich besitzt bereits einen atmosphärischen Charakter: In emotionaler Betroffenheit kann es herbstlich sein, kalt, warm, strahlend, festlich (vgl. Böhme, 2013, S. 104). Als solches wirkt es von sich aus und kann damit selbst als freigestaltbarer Gegenstand betrachtet werden – als Negativbeispiel sei noch einmal auf die grelle Beleuchtung der Harlemer Schule verwiesen. Zwar auf anderer Ebene, jedoch trotzdem ähnlich wie bei den Beispielen des Teddybärs oder der Flagge über die emotionale Bedeutung oder Assoziationen können Gegenstände auch über das Licht beziehungsweise die Beleuchtung und insofern weniger von sich aus als vielmehr indirekt wirken: „Das Licht an den Dingen ist wesentlich dafür verantwortlich, wie sie uns anmuten.“ (ebd., S. 103) Als Beleuchtung steht das Licht neben seiner Eigenwirkung somit im Zusammenhang zum Raum und zu den Dingen: „Das Licht tritt mit den Dingen in eine Wechselwirkung, verwandelt sich darin und tritt uns von den Dingen her in einer schier unendlichen Mannigfaltigkeit von unterscheidbaren Phänomenen entgegen.“ (ebd., S. 102) Den Dingen wird hierdurch ein „emotiver Charakter“ verliehen (vgl. ebd., S. 104). Gerade im Hinblick auf die Gestaltung von Unterrichtsatmosphären ist außerdem interessant: „In der Helle sehen wir und insofern ist das Licht für uns als Augenwesen von einer außerordentlichen, einer konstitutiven Bedeutung. Aber man fragt sich, ob das Licht als Beleuchtung nicht noch bedeutsamer ist, insofern sie uns jeweils die Welt in einer bestimmten Weise sehen lässt und dadurch unsere affektive Teilnahme an der Welt grundiert.“ (ebd.) Im Hinblick darauf wäre es eine Überlegung wert, Schulen mit dimmbaren Beleuchtungen auszustatten, um die atmosphärische Wirksamkeit – beispielsweise zur Untermalung des Unterrichtsgegenstandes – zu verstärken. Eine ähnliche Wirkung kann ferner auch durch die Musik erzielt werden, besitzt sie neben ihrer Eigenwirkung als Atmosphärenerzeugende auch die Kraft, Gegenständen und Räumen eine bestimmte Wirkung zu verleihen (z.B. Filmmusik) (vgl. ebd., S. 89). Durch ihre Artikulationsweisen tragen Gegenstände (in diesem Fall: Architektur, Klassenzimmer und frei gestaltbare Objekte, auch Unterrichtsgegenstand) zum Charakter der Unterrichtsatmosphäre bei beziehungsweise stimmen diese mit. Gerade im Hinblick auf die Gestaltung von Unterrichtsatmosphären ist interessant: Gegenstände wirken hierbei an sich (direkt) oder über ihre konnotative Bedeutung (indirekt). 83

Natürlich ist die indirekte Wirkung symbolischer, kultureller oder konventioneller Bedeutung abhängig von einer vorherigen absolvierten kognitiven Leistung. Erst über das Erkennen entfalten solche Bedeutungen ihre Wirkung. S. hierzu auch Böhme, 2001, S.145-157.

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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Zusammenfassung: Unterrichtsatmosphären stellen als Zwischenphänomene die gemeinsame Wirklichkeit von Lehrenden und Lernenden dar. Als solche sind sie ferner gestimmte Räume sowie performative Zeitspielräume. Unterrichtsatmosphären beinhalten somit immer auch zahlreiche Unteratmosphären beziehungsweise bestehen aus ihnen. Zwar in der Aktualität existierend, können sie als „atmosphärische Spuren“ auch über den Unterricht hinauswirken. Aufgrund ihrer nur relativen Eigenständigkeit sind sie gebunden an Erzeugende. Dieses Bewusstsein ist für die Lehrperson und ihr pädagogisches Handeln von großer Bedeutung. So werden Unterrichtsatmosphären erzeugt beziehungsweise miterzeugt unter anderem durch die Artikulationsweisen der Lehrperson, aber auch durch das Klassenzimmer, die Beleuchtung oder andere äußere Gegebenheiten.

Abbildung 1: Darstellung Unterrichtsatmosphäre

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre Einleitendes Unterrichtsatmosphären wurden in Kapitel III.2 beschrieben als das, was man im Unterricht zwischen Lehrenden und Schülerinnen und Schülern spürt, als Zwischenphänomen, das als solches auch den Unterrichtsgegenstand (sowie Unteratmosphären im Allgemeinen84) beinhaltet. Der vorliegende Abschnitt beschäftigt sich nun mit der Wertung dieses Zwischenphänomens. Bezogen auf Kapitel III.2 ergeben sich somit folgende zu beantwortende Fragen: Welcher Art ist der positiv gestimmte Unterrichtsraum? Wann kann die gemeinsame Wirklichkeit als solche sowie im Hinblick auf das Zusammenspiel der Teilnehmenden (performativer Zeitspielraum) als positiv beschrieben werden? Einleitend seien diesbezüglich zwei Beispiele aufgegriffen, mit denen sich nicht nur die Bedeutsamkeit einer positiven Unterrichtsatmosphäre betonen lässt, sondern in denen auch bereits erste Hinweise darauf gegeben werden, inwiefern diese Atmosphäre als positiv charakterisiert werden kann. So schreiben Prengel & Winkelhofer (2014): „Für die Bildungswege der Kinder und Jugendlichen ist entscheidend, ob sie es mit Pädagoginnen und Pädagogen zu tun haben, die sie anerkennen und ermutigen oder die sie demütigen und verletzen. Wohlbefinden und Lernen hängen auch davon ab, wie sehr die pädagogischen Interaktionen von responsiven oder destruktiven Handlungsmustern geprägt sind. Dafür ist die Qualität pädagogischer Beziehungen sowohl für persönliche Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen als auch für die Verwirklichung der Menschen- und Kinderrechte und für eine demokratische Erziehung bedeutsam.“ (Prengel & Winkelhofer, 2014, S. 17)85 Mit den Handlungsweisen – anerkennen, ermutigen – nennt Prengel bereits erste positive Qualitäten. Oser (1993) des Weiteren spricht im Rahmen seines 84 85

Zum Beispiel Lehrperson und einzelne Schülerinnen und Schüler sowie Letztgenannte untereinander. Diese Aussage orientiert sich an § 1631 Abs. 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

ganzheitlichen Handlungsmodells unter anderem von einer „Situationsschaffung“86 durch die Lehrperson (vgl. Oser, 1993, S.1), – analog dazu könnte man auch von der Erzeugung einer Atmosphäre sprechen – die „im Bemühen [besteht], a) [eine bestimmte] Situation zu schaffen, und b) die Lernenden in die Situation hineinzunehmen oder hineinzubitten.“ (ebd., S. 3) Weiter schreibt Oser: „[…] ohne Lernsituation kann nicht gelernt werden; deren Qualität fordert den Lernenden heraus, auf diese Situation handelnd zu reagieren. […]“ (ebd.) Neben der Bedeutsamkeit einer solchen Lernsituation charakterisiert Oser mit seinem Punkt b) eine positive gemeinsame Wirklichkeit: Es ist kein bloßes Anwesend-, sondern ein Eingebundensein in die Situation beziehungsweise Atmosphäre. Und es ist eine Qualität, die die Lernenden erreicht, sie herausfordert, zu reagieren. Liest man seinen Text etwas weiter, finden sich weitere positive Merkmale, wie zum Beispiel die Aspekte der „Präsupposition“ (s. III.4.1) oder auch der Fehlerfreundlichkeit (vgl. ebd., S. 12). Die Frage nach einer positiven Unterrichtsatmosphäre kann in verallgemeinerter Form wie folgt beantwortet werden: Stellt Unterricht einen Ort dar zur Entwicklung und zum Lernen87 (vgl. hierzu Meyer, 2016, S. 13 ff.), ist konsequenterweise diejenige Atmosphäre positiv, die sich an den Schülerinnen und Schülern und ihren Bedürfnissen orientiert und damit der Entwicklung und dem Lernen im Allgemeinen und aber auch im aktuellen Unterrichtsmoment förderlich ist.88 Schwieriger wird es, möchte man diese Aussage spezifizieren, denn: Die Wertung muss immer in Abhängigkeit gesehen werden von verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel individuellen und auch wechselnden Bedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler (z.B. wiederum abhängig von Alter, Schulform), dem Schulfach89 oder dem Unterrichtsgegenstand. Folgende Beispiele verdeutlichen dies: Die Atmosphäre der Geborgenheit ermöglicht bei einem Schüler etwa eine freie Entwicklung, bei einem anderen birgt sie die Gefahr, einzuengen.90 Im ersten Fall ist die Atmosphäre – im Gegensatz zum zweiten – dann als positiv bewertbar. Eine geheimnisvolle Unterrichtsatmosphäre kann des Weiteren nicht an sich als positiv bezeichnet werden, sehr wohl aber in Bezug auf einen Moment, in dem das Geheimnisvolle das Interesse an einem Unterrichtsgegenstand weckt und dabei ein positiver Lerneffekt entsteht. Um diesen Abhängigkeiten gerecht zu werden, muss die Wertung daher immer einhergehen mit einer Reflexion beziehungsweise eine stetigen Austausch (vgl. hierzu auch Prengel, 2013, S. 59): Positiv – Für welche Schülerinnen und Schüler (Alter etc.)? Für welches Fach? Im Hinblick worauf? Im Rahmen dieses Kapitels soll die allgemein gehaltene Definition einer positiven Unterrichtsatmosphäre nun soweit wie möglich inhaltlich gefüllt und damit ergänzt werden vor dem Hintergrund folgender Punkte: (1) Da es bisher kaum Bewertungen des Phänomens der Unterrichtsatmosphäre als solchem gibt, werden Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Bereichen aufgegriffen, die sich in einem engeren oder weiteren Sinne dazu geäußert haben. (2) Die Wertung muss immer im jeweiligen Unterrichtskontext beziehungsweise der jeweiligen Unterrichtssituation gesehen werden, was die Bedeutsamkeit der genannten Reflexion und des Wahrnehmens betont. (3) Es ergeben sich daraus nicht nur eine, sondern viele (zum Teil fachspezifische) positive Charakterisierungsmöglichkeiten der Atmosphäre. Im Rahmen dieses Kapitels werden nur einige Beispiele aufgegriffen, die grundlegend sind (z.B. menschliche Grundbedürfnisse) und für jedes Unterrichtsfach gelten. (4) Die vorgenommene Wertung 86

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Dieses Element stellt wohl das Grundlegendste der insgesamt fünf Elemente („Situationsschaffung“, „Präsupposition praktizieren“, „Fehlerkultur ermöglichen“, „Denkabläufe der Lernenden präzise nachvollziehen“, „Selbstwirksamkeit erhöhen“) des Modells dar, auch wenn es aufgrund der Komplexität der Handlungsstrukturen im „Lehr-Lern-Alltag“ den anderen Elementen nicht immer vorangeht (vgl. Oser, 1993, S. 1). Etwas differenzierter geht es dann auch um Begeisterung, Sinnhaftigkeit, Bedeutsamkeit, Selbstwirksamkeit etc. Dies steht auch im Zusammenhang zu einem positiven Classroom Management, bei dem es einfach gesagt darum geht, eine Basis für wirksame Lernprozesse zu legen (vgl. Bohl et al., 2010, S. 22). Ein positives Classroom Management beinhaltet also somit auch die positive Unterrichtsatmosphäre, deren Bereitstellung und Gestaltung. Neben einer Orientierung an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler dürfen darüber hinaus die Lehrpersonen nicht außer Acht gelassen werden. Wird im Musikunterricht beispielsweise häufig eine „lebendige“ Atmosphäre als positiv bezeichnet, wäre diese in einem anderen Fach vielleicht weniger erwünscht. Bollnow betrachtet das Gefühl der Geborgenheit als essentiell im Hinblick auf die Entwicklung (ebd., 2013/1964, S. 200). Friebel wiederum schreibt Mitscherlich aufgreifend: zu viel Geborgenheit könne Manche auch einschläfern, berge ferner die Gefahr, keinen Platz mehr für Beweglichkeit oder Distanzierung zu lassen (vgl. Friebel, 1980, S. 98/99).

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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stellt somit einen beispielhaften Einblick dar, ohne den Anspruch auf absolute Vollständigkeit zu erheben. Des Weiteren muss (5) betont werden, dass das Kapitel keine Wertung darstellt zur allgemeinen Beantwortung der Frage nach gutem Unterricht.91 Vielmehr fokussiert es, wie eingangs erwähnt, die positiv wertende Beschreibung dessen, was in Kapitel III.2 dargestellt wurde (s.o.). III.4.1 Positive Stimmungsqualitäten einer Unterrichtsatmosphäre „Heiterkeit […] schließt wie ein Frühling alle Blüten des Innern auf.“ (Jean Paul) „Ohne Begeisterung schlafen die besten Kräfte unsers Gemüths, […]. Es ist ein Zunder in uns, der Funken will“ (Johann Gottfried von Herder)

In diesem Kapitel wird auf einige grundlegende positive Stimmungsqualitäten eingegangen, die in einem förderlichen Verhältnis zu Lern- und Entwicklungsprozessen stehen. Diesbezüglich werden Qualitäten wie Geborgenheit, Vertrauen, Zutrauen und Ermutigung, (Beziehungs-)Sicherheit, Wertschätzung, Fröhlichkeit sowie (Fehlbarkeits-)Anerkennung beispielhaft aufgegriffen. Es handelt sich hierbei um grundlegende pädagogische Qualitäten, die als solche jedem Unterrichtsfach zugrunde liegen und damit fachunspezifisch sind. Im Hinblick auf den jeweiligen Unterrichtsgegenstand kann im Rahmen dieses Kapitels nur eine allgemeine Wertung vorgenommen werden. Diese gilt es in der jeweiligen Unterrichtssituation dann spezifisch zu ergänzen. In seiner Beschreibung einer „pädagogischen Atmosphäre“92 nennt Bollnow zunächst das Gefühl93 der Geborgenheit als „tragenden Grund“ jeder Erziehung (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 199). Dieses Gefühl erfährt das Kind bei seiner Mutter und stellt darüber hinaus bei Bollnow auch eine wesentliche und aufrechtzuerhaltende Qualität des erzieherischen Verhältnisses dar (vgl. ebd., S. 200). Eine „Inselwelt der Geborgenheit“, so schreibt Bollnow, „in der [das Kind] sich erst einmal in Sicherheit entfalten kann, bis es dann imstand ist, den Widerständen der raueren Wirklichkeit entgegenzutreten.“ (ebd., S. 201)94 An die Erziehung stellt sich somit die Aufgabe, „die noch ungefestigten jungen Menschen nicht gleich dieser unerbittlichen Außenwelt auszuliefern, sondern erst einmal um sie die Sphäre einer geordneten und sinnvollen Welt zu schaffen, in der sie sich so weit entwickeln können, bis sie dann als erwachsene Menschen auch in dieser härteren Welt bestehen können.“ (ebd.) Den Heranwachsenden wird damit ein (engerer) Raum gegeben, in dem sie sich sicher fühlen und in dem sie sich auch zurückziehen können (vgl. ebd.).95 Des Weiteren nennt Bollnow das umfassende, an den ganzen Menschen gerichtete Vertrauen als „atmosphärische Bedingung aller Erziehung“ (ebd., S. 223). Hierbei wendet er sich ebenfalls wieder zunächst der Mutter-Kind-Beziehung zu. Der Säugling ist eingebettet in eine Atmosphäre „selbstverständlich vertrauender Beziehung“ (ebd., S. 224) und später in ein Verhältnis der Sinnhaftigkeit: „Die Mutter schafft in ihrer sorgenden Liebe für das Kind einen Raum des Vertrauenswürdigen, Verlässlichen, Klaren. Was in ihm einbezogen ist, wird zugehörig, sinnvoll, lebendig, vertraut, nahe und zugänglich.“ (Pestalozzi, 1927; zitiert nach Bollnow, 2013/1964, S. 196) Ähnliches vollzieht sich auch im erzieherischen Verhältnis: „Erst auf dem Wege über den vertrauten Menschen erschließen sich also die Dinge.“ 91

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Fachliche beziehungsweise didaktische Kompetenzen der Lehrperson beispielsweise werden nicht explizit aufgeführt. Zu einem allgemeinen Überblick empfehlenswert: Meyer (2016): Was ist guter Unterricht? Bollnow versteht darunter „das Ganze der gefühlsmäßigen Bedingungen und menschlichen Haltungen, die zwischen dem Erzieher und dem Kind bestehen“ (Bollnow, 3013/1964, S. 187) Er selbst nimmt seinen Begriff der „pädagogischen Atmosphäre“ nur „zögernd“ auf, liege darin doch oft – und gerade das sei bei ihm nicht gemeint – „ein gefühlvoller und empfindsamer Unterton zugrunde, der alles Erziehungsgeschehen in eine unbestimmte Seelenharmonie aufzulösen droht“ (ebd.). Greift man nun Böhmes erst später entworfenen Gedanken auf, Atmosphären als Lehrende-Lernende-Relation zu verstehen, kommt dies der Formulierung Bollnows jedoch sehr nahe, weshalb die Bezeichnung pädagogische Atmosphäre als angemessen erscheint. Mit dem Begriff „Gefühl“ ist hierbei die Atmosphäre gemeint. Zur Beidseitigkeit der Geborgenheit s. auch Anmerkung im Abschnitt „Einleitendes“. Anzumerken sei an dieser Stelle, dass Bollnow mit der Geborgenheit zu bewältigende Krisen gerade nicht ausschließt („Krisen der Reifung“) (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 215). Diese gelte es aber eben aufzufangen, um zunächst einmal ein Selbst herauszubilden, das dann später in der freien Welt bestehen kann. Auch Prengel (2013) schreibt diesbezüglich: „Das Kind soll vom Wohlwollen der Bezugspersonen, gerade in kritischen Situationen, getragen werden.“ (ebd., S. 70)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

(Bollnow, 2013/1964, S. 196) Nicht nur Sinngehalt und Bezogenheit gehen jedoch mit dem Vertrauen einher. Aktuelle empirische Befunde aus der Vertrauensforschung schreiben dem Vertrauen auch einen angstmindernden und leistungsförderlichen Effekt zu (vgl. Schweer, 2017, S. 523). Wie bereits bei Bollnow wird auch auf Basis der Forschungsergebnisse der offenkundige Stellenwert des Vertrauens als wesentliches Merkmal für die Qualität der Beziehungen im Klassenzimmer betont (vgl. ebd.). Hierbei ist auch der Aspekt der Authentizität von Bedeutung. Nicht nur, aber gerade im Hinblick auf das Vertrauen oder auch auf die Geborgenheit führt eine unauthentische, gekünstelte Atmosphäre schnell zu Verstimmungen, Unsicherheit und Misstrauen (vgl. hierzu Friebel, 1980, S. 88). Mit dem Vertrauen einher geht ein Wagnischarakter, denn zum Vertrauen gehört auch die Möglichkeit des Scheiterns und Misslingens (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 225). Oser verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „pädagogischen Präsupposition“ und meint damit eine „Als-Ob-Unterstellung von Fähigkeiten, die noch nicht entwickelt sind“ (Oser, 1993, S. 4). Sprich: Einhergehend mit einem Vertrauensvorschuss wird der Schülerin oder dem Schüler zugemutet, dass sie oder er mehr kann als über eine unmittelbare Einschätzung zu vermuten wäre (ebd.).96 Damit im Zusammenhang steht auch die Beziehungssicherheit. Als ein Grundbedürfnis und als Bedingung menschlichen Lebens lässt diese Sicherheit als etwas Haltgebendes gerade Raum für freie Entwicklungsprozesse (vgl. Spychiger, 2013, S. 148).97 Spychiger bringt diesbezüglich das Beispiel eines Lehrers, der den Schüler nicht gleich verbessert, sondern ihn durch eine besondere Geste seiner Hand unsichtbar „hält“ (s. auch III.3.1). Dieser Moment ist mehr als eine „wait-time“ (Rowe, 1974; nach Shulman, 2004, S. 262), mit der Rowe das allgemeine geduldige Warten der Lehrperson auf eine Antwort der Lernenden beschreibt. Es ist eine stille und ruhige Wartezeit, die einen auf besondere Art und Weise gestimmten intensiven und als Phänomen unsichtbaren Kontakt darstellt: Der Lehrer lässt den Schüler in dieser Situation erfahren, dass er sich nicht abwendet, ihn nicht fallen lässt und ihm damit einen Vertrauensvorschuss gewährt („trust-inadvance“; Spychiger, 2013, S. 144). Es ist „der Glaube daran, dass der Schüler es können wird, auch wenn der Beweis gerade noch aussteht.“ (ebd.)98 Auch die Ermutigung kann in diesem Zusammenhang genannt werden. Diese zielt darauf ab, den Glauben der Heranwachsenden an sich selbst zu stärken und setzt somit deren positive Bewertung voraus (vgl. Dreikurs, 1957, S. 76). Eine von fehlendem Vertrauen oder gar offenem oder versteckten Misstrauen durchzogene Atmosphäre wiederum, bei dem der stärkende Glaube an das Kind nicht vorhanden ist, hindert nach Bollnow dessen freie Entfaltung (vgl. Bollnow 2013/1964, S. 222). Mit dem Gefühl der Sicherheit im Zusammenhang steht auch die den Schülerinnen und Schülern entgegengebrachte Wertschätzung: „Erster Faktor in einem Verhältnis, das dem Kind Sicherheit geben soll, ist die ehrliche Wertschätzung. […] Man braucht die innere Überzeugung, daß in jedem Kind Gutes steckt, daß es entwicklungsfähige, positive Anlagen hat und unsere Bemühungen und Versuche mit ihm verdient. Das Kind muß zuerst fühlen, daß es der Mühe wert ist, die der Erzieher sich mit ihm gibt, bevor es an sich selbst glauben kann.“ (Dinkmeyer & Dreikurs, 2004/1963, S. 84) Diesbezüglich ist auch die „erzieherische Liebe“ zu nennen als das „schlichte Bejahen und Liebhaben des jungen Menschen, ohne alle künstliche Unterscheidung und grade so, wie er ist“ (Bollnow, 2013/1964, S. 228) und damit als Grundlage für jede Erziehung (vgl. ebd., S. 229). Diese Haltung findet auch in den Beobachtungen der INTAKT-Studie (Prengel, 2013) zur Anerkennung im schulischen Kontext Erwähnung. So 96

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Diesbezüglich wurde im Sinne eines „Erwartungseffekts“ die positive Wirkung nachgewiesen, dass Schülerinnen und Schüler höhere Leistungen erbringen, wenn Lehrende sie ihnen zutrauen und ihnen pädagogisch präsupponieren (vgl. Spychiger, 2018 und Oser, 1993, S. 11). Es ist interessant, dieses haltende Gefühl der (Beziehungs-)Sicherheit im Zusammenhang mit der (Entwicklungs-)Freiheit und weiter dem Ursprung des Wortes frei zu betrachten: „Frei-sein heißt nicht einfach Ungebunden- und UnverbindlichSein. Frei machen nicht Entbindungen und Entbettungen, sondern Einbindungen und Einbettungen.“ So bedeutet die indogermanische Wurzel fri – frei, Friede und Freund gehen darauf zurück – eigentlich „lieben“ und frei ursprünglich „zu den Freunden oder Liebenden gehörend“ (vgl. Byung-Chul, 2014, S. 38). „Man fühlt sich frei gerade in der Beziehung von Liebe und Freundschaft. Nicht Bindungslosigkeit, sondern Bindung macht einen frei. Die Freiheit ist ein Beziehungswort par excellence. Ohne Halt gibt es auch keine Freiheit.“ (ebd.) Beziehungssicherheit stellt also gerade im Hinblick auf die freie Entwicklung und auch auf die Herausbildung von Kreativität (vgl. hierzu Holm-Hadulla, 2003, S. 6) eine weitere wertvolle Qualität einer Unterrichtsatmosphäre dar. S. hierzu Glossar: „Pädagogisches Halten“ (Spychiger, 2018).

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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bedürfe es einer „entschiedenen und unbeirrbaren Liebe zum Beruf und zu den Schülerpersönlichkeiten, und zwar gerade zu den unerträglich agierenden“ (Prengel, 2013, S. 65). Im Zusammenhang mit einer freien Entwicklung ist des Weiteren die fröhliche Atmosphäre zu sehen: „[…] durch Bereitstellung dieser freudigen Atmosphäre wird die Bedingung geschaffen, aus der sich die weitere Entwicklung dann ganz von selbst mit innerer Notwendigkeit vollzieht.“ (Bollnow, 2013/1964, S. 204) Dementgegen steht eine düstere und bedrückende, gar angstvolle Atmosphäre. Nicht nur hinsichtlich einer freien Entwicklung, sondern auch in Bezug auf das Lernen ist Angst wenig förderlich im Hinblick auf einen freien Umgang mit dem neu zu Lernenden: Sie verhindert die Verknüpfung dessen, was gelernt werden soll mit bereits Bekanntem sowie die Anwendung auf andere Situationen und Beispiele und hemmt überdies kreative Prozesse (vgl. Spitzer, 2012, S. 161). Letzteres wird gerade deutlich im Fernbleiben der Angst: „Wenn gerade keine Angst da ist, werden die Gedanken freier, offener und weiter. Dies lässt sich nicht nur subjektiv erleben, sondern auch im Experiment messen. Eine positive Grundstimmung ist daher gut für das Lernen.“ (ebd., S. 165) Dies unterstreicht auch das Beispiel eines Experimentes von Santrok (1976), das Dubs (2009) hinsichtlich der Bedeutsamkeit einer guten Stimmung im Klassenzimmer aufgreift. Hierbei wurde in je einer Klasse in freudiger, trauriger und sachlich-neutraler Stimmung unterrichtet, das Klassenzimmer jeweils entsprechend gestaltet und die Inhalte der Stimmung entsprechend ausgewählt. Das Ergebnis des Experiments zeigte, dass die freudig gestimmte Klasse viel länger und intensiver an den Problemen arbeitete (vgl. ebd., S. 430). Des Weiteren stellt Anerkennung die Qualität einer positiven Unterrichtsatmosphäre dar. Im menschlichen Grundbedürfnis verankert strebt, ähnlich wie das Vertrauen, auch die Anerkennung nach einer Erwiderung: „Der Mensch wird notwendig anerkannt und ist notwendig anerkennend.“ (Hegel, 1969/1931, S. 206; vgl. hierzu auch Honneth, 2014) Eine Beobachtung aus der INTAKT-Studie unterstreicht dies: So kämpften alle Schülerinnen und Schüler, auch die, die verletzt wurden, mit verschiedensten Mitteln darum, anerkannt zu werden (vgl. Prengel, 2013, S. 115). Es liegt auf der Hand, dass, sofern die Anerkennung ausbleibt oder Lernende gar verkannt werden, dies im Zusammenhang mit einer negativen Atmosphäre steht.99 Gerade die Qualität der Anerkennung muss von den Lehrpersonen ausgehen: „Anerkennende pädagogische Beziehungen brauchen eine solidarische Motivation seitens der Lehrenden. Die Heranwachsenden brauchen auch außerhalb der Familie Erwachsene, die zu ihnen halten.“ (ebd., S. 62) Bei der Anerkennung ist eine Hinwendung zur Sprache interessant. Übersetzt man das französische Wort „reconnaissance“ ins Deutsche, ergibt sich daraus ein Zusammenhang aus er-kennen und an-erkennen. Erkennen bedeutet aus wahrnehmungspsychologischer Sicht wiederum, etwas oder jemanden „für wahr nehmen“ oder „für wahr halten“, sprich jemanden anzuerkennen (vgl. Spychiger, 2013, S. 156). Dieser Zusammenhang wird auch deutlich, wenn Düweke (2008) davon schreibt, wie das Baby von seinen Eltern eines Tages „wach geblickt“ wird (vgl. ebd., S. 121). Es ist der Moment, in dem das Baby plötzlich merkt, dass es es selbst ist, den die Mutter oder der Vater anschaut. Auch hier wieder spielt das Erkennen eine große Rolle. Jemanden wach blicken bedeutet umgekehrt jemanden zu sehen, jemanden in seinem Selbst zu erkennen und weiter: anzuerkennen. Auf die Unterrichtsatmosphäre bezogen geht es dann darum, die Schülerinnen und Schüler „wach“ zu blicken und ihnen damit das Gefühl zu geben „gesehen“ zu werden. Auch für die Lehrkräfte ist der Aspekt der Anerkennung bedeutsam. So ergab sich aus der Untersuchung von Prengel (2013) heraus der deutliche Eindruck, „dass es Lehrkräften, wenn sie anerkennen, gut geht, und dass sie in Situationen, in denen sie verletzen, weit von beruflichem Wohlergehen entfernt sind, sodass auch sie selbst dabei emotional verelenden.“ (ebd., S. 127/128) Ferner beziehen Lehrende als Menschen auch aus ihnen entgegengebrachter Anerkennung „Nahrung“, was die Notwendigkeit der Reziprozität hervorhebt (weitere Ausführungen hierzu in III.4.2). Es ist eine gegenseitig von Achtung und Respekt durchzogene Atmosphäre, die damit entsteht.

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Prengel (2013) geht davon aus, „dass destruktive Handlungsmuster auch deswegen verbreitet sind, weil sie für richtig und zum Lehrerhandeln gehörig gehalten werden.“ (ebd., S. 118) Sie spricht diesbezüglich von verbreiteten und tolerierten, teilweise jedoch zerstörerischen „Kunstfehlern“ (ebd., S. 119 und S. 65). Zu weiteren Ursachen s. INTAKT-Studie (ebd., S. 117 ff.).

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Mit der Wechselseitigkeit des Erkanntseins beginnt die bereits genannte Beziehungssicherheit (vgl. Spychiger, 2013, S. 159). Diese spielt auch bei der Fehleranerkennung eine große Rolle: „Sichere Lernprozesse erfordern sichere Beziehungsbotschaften, in Fehlersituationen und –bereichen ganz besonders.“ (ebd.) Damit benennt Spychiger eine weitere Facette der Anerkennung: Die Fehlbarkeitsanerkennung. Es ist ein offener Umgang mit Fehlern, der diese zulässt und besonnen reflektiert, wodurch sich nicht nur Lernchancen ergeben, sondern den Lernenden ein Gefühl von Sicherheit und damit wieder Freiheit in ihrer Entwicklung und in ihrem Tun und Handeln gegeben wird (vgl. hierzu ebd., S. 141). Eine Fehleroffenheit, die die Bereitschaft impliziert, „mit Ungewissheit und gegebenenfalls mit unangenehmen Konsequenzen von Fehlern umgehen zu können. Eine Voraussetzung vertrauensvoller Kommunikation ist damit schon geschaffen“ (ebd., S. 152). Auch im Rahmen der INTAKT-Studie wurde die Anerkennung sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler als auch hinsichtlich der Lernprozesse als bedeutsam dargestellt. So ermögliche Anerkennung tendenziell Lernen, wohingegen Verletzungen dieses eher blockierten (vgl. Prengel, 2013, S. 115).100 Eher auf den Unterrichtsgegenstand bezogen sei im Hinblick auf das Lernen abschließend eine motivierende und begeisternde101 Unterrichtsatmosphäre genannt. Gerade der Aspekt der Motivation ist interessant, wird doch häufig davon gesprochen, man solle Schülerinnen und Schüler motivieren. Folgt man Autoren wie beispielsweise Herzog (2002), liegt die Motivation jedoch im menschlichen Naturell. Es scheint im Hinblick auf einen positiven Atmosphärencharakter deswegen angemessener, von einer nicht demotivierenden oder die Motivation aufrechterhaltenden Atmosphäre zu sprechen (vgl. ebd., S. 505 ff.).102 Ferner ist im Allgemeinen eine Unterrichtsatmosphäre, die einen Unterrichtsgegenstand als besonders wirksam erscheinen lässt und die Erfahrenden somit betroffen macht, als positiv zu bewerten (s. III.4.2): Es sind dann „those things of which we say in recalling them, ‚that was an experience‘” (Dewey, 1934, S. 36). Aus neurobiologischer Sicht wird dadurch der Lerneffekt oder das gedankliche Behalten des Stoffs gesteigert beziehungsweise in höherem Maße stattfinden (vgl. Spitzer, 2012, S. 158 ff.). Im Hinblick auf den gestimmten Raum können Unterrichtsatmosphären im zwischenmenschlichen Bereich durch grundlegende Qualitäten wie Vertrauen, (Beziehungs-)Sicherheit, Ermutigung und „Zumutung“, Anerkennung, Fehlerfreundlichkeit, Begeisterung und Motivation als positiv charakterisiert werden. Im fachlichen Kontext müssen diese dann je nach Unterrichtsgegenstand ergänzt werden. III.4.2 Resonanz als Moment des Ergriffenseins und der Reziprozität Einleitendes Zur Beantwortung der Frage, welcher Art eine positive gemeinsame Wirklichkeit ist, wird in diesem Abschnitt der Begriff der Resonanz aufgegriffen. Sowohl Atmosphäre als auch Resonanz sind beides Begriffe, die „die Wirkung einer ästhetischen Qualität in einem Raum [beschreiben], in dem sich Subjekte befinden, die durch eine sinnliche Wahrnehmung angeregt werden.“ (Klawitter, 2015, S. 57) Klawitter (2015) spricht diesbezüglich von einer „affizierenden Ästhetik“ (ebd., S. 57 ff.), sicht-, spür- und messbar beispielsweise durch Herzklopfen, Lachen, Erleichterung oder Gänsehaut (vgl. Greenblatt, 1993; nach Klawitter, 2015, S. 74). Beide – Resonanz und Atmosphäre – beschreiben hierbei einen Zustand des Betroffenseins. Und doch sind sie als Phänomene nicht unbedingt das Gleiche: Resonanz stellt im Rahmen einer affizierenden Ästhetik immer ein atmosphärisches Phänomen dar, wohingegen nicht jeder Atmosphäre automatisch Resonanz als „strukturelles“ Merkmal zugrunde liegt. Deutlich wird das gerade am Beispiel der gemeinsamen Wirklichkeit. Als gemeinsamer Zustand während der Unterrichtszeit im Klassenzimmer besteht diese immer und automatisch – allein schon durch die bloße 100

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Es wird hierbei deutlich, dass die Thematik der Anerkennung facettenreich ist und in verschiedenen Formen beziehungsweise Mustern auf unterschiedlichen Ebenen auftritt (vgl. hierzu z.B. Prengel, 2013, S. 115 und S. 121). Reaktionen sowohl auf Verletzungen als auch auf Anerkennungen sind hierbei in der Körpersprache der Kinder lesbar (vgl. ebd., S. 115). Vgl. hierzu auch Wömmel (2016). Enthusiasmus. Untersuchung eines mehrdimensionalen Konstrukts im Umfeld musikalischer Bildung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Als Beispiel nennt Herzog oftmals demotivierende Schulnoten. Gerade in solchen Situation bedürfe es der Aufrechterhaltung der Motivation (vgl. Herzog, 2002, S. 505).

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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Anwesenheit der Lehrperson und der Lernenden. Man muss jedoch unterscheiden, kann dieser Zustand sowohl ein gemeinsames Miteinander als auch ein gemeinsames Nebeneinander darstellen. Letzteres wäre zum Beispiel der Fall, wenn Lehrende und Lernende menschlich voneinander entfremdet sind, sich gegenseitig nicht sehen oder fachlich nicht verstehen, Inhalte nicht ankommen. In diesem Fall wäre sehr wohl eine gemeinsame Unterrichtsatmosphäre im Klassenzimmer vorhanden, es wäre jedoch keine Resonanz spürbar. Im Rahmen dieses Abschnitts wird die Bedeutsamkeit des Resonanzbegriffs für die Unterrichtsatmosphäre herausgearbeitet. Da der Resonanzbegriff je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen hat, bedarf es hierfür jedoch zunächst einer Klärung des Begriffs. Resonanz Eine gute Darstellung dessen, was der Begriff der Resonanz, wie er hier verwendet wird, meint, findet sich unter anderem bei Allesch (2008). Hinführend zu dem Begriff zeigt Allesch Revers (1971) zitierend zunächst die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Resonanz am Beispiel des Hörens: „Sobald wir ihn [sc. den Ton] hören, entdecken wir eine neue Daseinsweise, eine neue Eigentümlichkeit der Welt, die Welt als Widerhall, als Klangwelt, als Resonanzraum. In dieser widerhallenden Welt sind wir nicht mehr alleine als Stimme, sondern vom Widerhall des fremden Tönens umgriffen und durchtönt […] Das Phänomen des Widerhalls eröffnet uns eine ganz wesentliche Eigenart unseres Daseins und unserer Welt der Zweisamkeit des Ich und Du, in der ich nicht isoliert, sondern mit ‚anderen‘ verbunden bin. […]“ (ebd.; zitiert nach Allesch, 2008, S. 1) Die Worte „Widerhall“, „Resonanz“ und „Tönen“ stellen hierbei weniger Begriffe für akustisch-physikalische Erscheinungen als solche dar (vgl. ebd.), sondern sind vielmehr Metaphern für eine „tönende Ganzheit“ (ebd.): Es geht um „jenen ertönenden Ton, der die Welt als tönende Welt, als Welt voll Widerhall und Resonanz offenbart, d.h. aber als die lebenserfüllte Welt der Beseeltheit. Von dem Ton soll die Rede sein, der nicht nur als akustische Erscheinung dem Ohr zugänglich ist, sondern allen Sinnen; und es ist die Rede von jener Resonanz, die durch alle Sinne hindurch unser Erleben erfüllt, indem sie uns in ihren ‚Schwingungen‘ mitschwingen macht.“ (ebd.) Der Begriff der Resonanz kann in der Beschreibung Revers somit zweideutig verstanden werden: Zum einen als physikalisches Geschehen, mit dem die Töne an das menschliche Ohr dringen und zum anderen als etwas, das darüber hinausgeht, das das subjektive Erleben kennzeichnet und das Hören letztendlich erst zum Hören macht (vgl. Allesch, 2008, S. 2). Denn: „Nicht das Auge sieht, sondern der Mensch sieht. Nicht das Ohr hört, sondern der Mensch hört.“ (Kükelhaus, 1978; zitiert nach Allesch, 2008, S. 1) Das Beispiel des Hörens zeigt die Notwendigkeit, auf die menschliche Subjektivität, auf die menschliche Erfahrungswelt, zurückzugreifen (vgl. Allesch, 2008, S. 2). Damit erhält der Resonanzbegriff eine andere Bedeutung: „Er bezeichnet eine Eigenschaft oder einen Prozess, der über das hinausgeht, was man in der Physik und auch in der Sinnesphysiologie darunter versteht.“ (ebd.) Resonanz lässt sich in diesem erweiterten Sinne also verstehen als ein subjektives Ergriffensein, berührt werden und ein Mitschwingen als ganzer Mensch. Mit dem Zitat Revers´ wird außerdem ein weiteres Merkmal deutlich: die Verbundenheit beziehungsweise das Sich-Verbinden, das In-Beziehung-Treten mit etwas oder jemandem. Das Verständnis eines solchen Resonanzbegriffes wird noch einmal besonders bildlich in Boeschs Beschreibung des Pianisten Arthur Rubinstein. Ohne den Begriff explizit zu nennen, schreibt Allesch, gehe es in Boeschs Beschreibung doch gerade um Resonanz (vgl. ebd., S. 12): „Während ich so hört und schaut, fesselte mich auf einmal die ihm eigene Mimik, sein altes, zerknittertes Gesicht, unbeweglich, mit halb, ja oft ganz geschlossenen Augen – völlig in sich gekehrt. Was ist dieses Innen, frug ich mich, dieses In-sich-versunken- und dennoch einem Außen minutiös Zugewandt-sein? Einem Außen, das der Pianist delikat, bis zum Feinsten hin steuert und von dem er doch zugleich selbst gesteuert wird? Im Grunde verwunderlich, zu bedenken, dass jeder Ton, den ein Finger anschlägt, seine Geschichte hat, wie oft war er anders, um eine Nuance vielleicht härter als intendiert, lauter, zögernder; und so war eigentlich, über lange Zeiten des Übens, der gewollte Ton immer ein nächster, zukünftiger, gewollter nach dem Eindruck dessen, der eben erklang. Später zwar, beim gekonnten Spiel, gelingt der Ton so, wie man ihn wollte, wie man ihn sich dachte – er folgt einem Innen, das antizipiert und zugleich reagiert, bestätigend oder korrigierend, einem also, das sowohl wahrnimmt wie Ziele setzt. Was für Ziele? Den richtigen, den schönen Ton, gewiss, doch dieser ist ja nur ein Element eines größeren Außen, das dem

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Innen entsprechen, das anders gesagt, ein Stück Fremd-Welt in Eigen-Welt verwandeln soll.“ (Boesch, 2005; zitiert nach Allesch, 2008, S. 12) Mit der Beschreibung Rubinsteins kann der Resonanzbegriff noch einmal erweitert werden: der wahrgenommene Ton wird nicht einfach abgebildet, „sondern mit einem inneren Gegenbild konfrontiert“ (Allesch, 2008, S. 12). Resonanz beschreibt hier nicht nur ein einmaliges Ergriffensein, sondern geht weiter, stellt eine „Metapher der Wechselwirkung“ (ebd.) dar. Allesch spricht diesbezüglich von einer „dynamischen Form von Resonanz“. Dies wird vor allem auch deutlich in der weiterführenden Beschreibung Rubinsteins: „Das Innen, meint man, endet an den Fingerkuppen, bis dahin nur reicht seine Möglichkeit, sein Wirken auf das Außen zu steuern. Die Tasten, die sie anschlagen, der Ton, den sie erklingen lassen, gehören zum Außen […] Doch trotz dieser äußeren Wirklichkeit bleibt der Klang auch ein Innen: Der Spieler hat ihn erdacht, hat ihn angeschlagen, gestaltet, und so ist er ein ‚veräußerlichtes‘ Innen. […]“ (Boesch, 2005; zitiert nach Allesch, 2008, S. 12/13) Die dynamische Resonanz kann ferner auch Teil menschlicher Haltungen und der Bewegung sein (vgl. Allesch, 2008, S. 13). Bezüglich der Bewegung greift Allesch Boeschs Beispiel eines Skifahrers auf, bei dem jede Wendung der Landschaft eine entsprechende Körperbewegung hervorruft (vgl. ebd.). Der Skifahrer nimmt in diesem Moment wahr und reagiert darauf entsprechend. Merkmale des Resonanzbegriffs, wie er hier verwendet wird: subjektives Ergriffensein und Mitschwingen, Verbundenheit beziehungsweise In-Beziehung-Treten mit etwas oder jemanden, „dynamische Resonanz“ als Metapher der Wechselwirkung. Resonanz und Unterrichtsatmosphäre Auf den Unterrichtskontext bezogen sind nun vor allem zwei Aspekte von Bedeutung. Sie markieren wesentliche Momente einer positiven Unterrichtsatmosphäre: erstens das Verständnis von Resonanz im Sinne einer ästhetischen Erfahrung103, sprich eine subjektiven Ergriffensein in der Wahrnehmung, dann, wenn ein Unterrichtsgegenstand erfahrbar wird, die Lernenden ergreift und in ihr Bewusstsein eindringt. Wenn Schülerinnen und Schüler in Staunen versetzt werden oder der bekannte Funke überspringt und sie plötzlich begeistert sind. Lehrende und Lernende (aber auch Lernende untereinander) stehen in einem solchen Resonanzraum miteinander in Beziehung, sind verbunden, es wird etwas hineingegeben und es kommt auch etwas zurück (vgl. Rosa, 2016a, S. 411 ff.). Was hier anklingt, ist zweitens die „dynamische Form von Resonanz“, wie Allesch sie bezeichnet, sprich das Verständnis von Resonanz als „Metapher der Wechselwirkung“. Übertragen auf den Unterricht (und letztendlich gilt es für jeden menschlichen Handlungsraum) wird hierbei etwas Grundlegendes angesprochen. Anerkennung oder Vertrauen beispielsweise entfalten beide ihre volle Wirkung erst in der Reziprozität (s.u.). Auch der Moment, in dem Schülerinnen und Schüler von einer Sache begeistert sind und diese Begeisterung dann wiederum die Lehrperson weiter motiviert (usw.)104 oder das gegenseitige Sich-Verstehen und Sich-erreicht-Fühlen stellen hierfür positive Beispiele dar. Das Gefühl der Lehrperson, „ins Leere zu reden“ und nichts zurückzubekommen, sind wiederum Beispiele für Momente, in denen eine solche Wechselwirkung ausbleibt (vgl. Rosa, 2016b, S. 16). Ferner spielt die dynamische Form der Resonanz gerade auch auf der Handlungsebene, wie sie mit dem Beispiel des Skifahrers beschrieben wurde, eine große Rolle: Im Unterricht ist es dann zum Beispiel der Moment, in dem aufeinander reagiert wird, Störungen umgeleitet oder Fehler aufgegriffen werden (s. Abschnitt Diskoordination). Es ist ein „subtiles Wechselspiel“, um einen Ausdruck Greenblatts im Hinblick auf resonante Kunsterfahrungen zu gebrauchen (vgl. ebd., 2009; nach Klawitter, 2015, S. 74), das jedoch immer erst entstehen kann, wenn Schülerinnen und Schüler etwas an-geht. 103

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Reimer (1989) definiert ästhetische Erfahrung als „Experience of the vitality of life, through perceiving and reacting to qualities which are expressive of the vitality of life […]” (ebd., S. 102). Ähnlich spricht Allesch (2008) von einer “spezifischen Form des Widerhalls, also der Resonanz der Wirklichkeit im erlebenden Subjekt” (ebd., S. 2) und von einer “Resonanz der sinnlich erfahrbaren Lebenswelt im menschlichen Bewusstsein” (ebd., S.7). Vlg. hierzu auch Wömmel (2016): Bezugnehmend auf die Philosophie beschreibt sie Enthusiasmus als „verbindende und sogar verschmelzende Beziehung von Subjekt und Objekt“ (ebd., S. 63 ff.) und eine von Enthusiasmus geprägte Atmosphäre als „ansteckend“ auf das Subjekt (ebd.).

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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Zwischenmenschliche Resonanz „…so weiß das atmosphärisch Erspürte den kürzesten Weg zu meiner Gestimmtheit, um hier die unmittelbarsten Resonanzen zu wecken – Resonanzen, weil sie auf dem gleichen atmosphärischen Weg auf den anderen zurückstrahlen, der sich abgelehnt oder angenommen spürt.“ (Tellenbach, 1968)

Spricht man im Rahmen einer zwischenmenschlichen Atmosphäre von Resonanz in ihrer dynamischen Form, betritt man hierbei den Beziehungsbereich zwischen Lehrenden und Lernenden oder aber auch den Lernenden untereinander. Im Duden (online) wird Beziehung erstens als Verbindung beziehungsweise Kontakt zwischen Einzelnen oder Gruppen sowie zweitens als innerer Zusammenhang, als ein wechselseitiges Verhältnis definiert. Des Weiteren ist im Duden als Synonym unter anderem das passende Wort „Fühlung“ aufgeführt. Spychiger konkretisiert diese wechselseitige Verbindung noch weiter: „Die Beziehung beruht auf Geben und Nehmen […].“ (Spychiger, 2008, S. 7) Die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden (und der Lernenden untereinander) stellt als „innerer Zusammenhang“ (Duden online) hierbei eine Form des intensiven beidseitigen Kontakts dar, der durchzogen ist von einer Qualität. Die Sprache verdeutlicht dies bereits: so spricht man etwa von einer vertrauens-, respekt- oder liebevollen Beziehung. Es sind dann Qualitäten, die auf Reziprozität beruhen. In Abschnitt III.4.1 wurde bereits auf positive Stimmungsqualitäten eingegangen. Unter dem Aspekt der Reziprozität sei noch einmal auf einige Bezug genommen: Das Vertrauen zum Beispiel verlangt geradezu nach einer Erwiderung (vgl. Bollnow, 2013/1964, S. 220). Nur so kann man dem Verhältnis von ver-trauen und zu-trauen gerecht werden. Aber auch hinsichtlich gegenseitiger Anerkennung und Wahrnehmung spielt die Reziprozität eine große Rolle. Der beidseitige Wunsch nach Anerkennung gründet in einem menschlichen Grundbedürfnis (s. III.4.1 und vgl. Honneth, 2014) und steht auch im Zusammenhang zur Erziehung: „Lehrpersonen sind Gestalter von Lernatmosphären, Vermittler von oder Begleiter in Lernerlebnissen. Sie teilen ihre Welt mit den Lernenden. Die wechselseitige Wahrnehmung und Anerkennung ist dazu eine bedingende Grundlage.“ (Spychiger, 2015b, S. 126) Es ist ein direkter und damit verbunden auch ein indirekter, sprich auf Langfristigkeit angelegter „Tausch“, der hier stattfindet: „Die Resonanz beim anderen wird als Wahrgenommensein erfahren, als Erkannt- und Anerkanntsein (deutlich im englischen Begriff re-cognition).“ (ebd., S. 124) Es entsteht dann weiterführend Vertrauen – vor allem wenn es eine wiederholte Erfahrung ist.105 Darüber hinaus kann die Erfahrung des Unterstützt-Seins genannt werden: Nach Spychiger ist diese nicht einseitig, sondern wirkt auf die Lehrperson zurück, indem sie ihr Tun als sinnvoll erfährt (ebd.). Auch die Fröhlichkeit kann genannt werden: „Der Lehrer läßt sich durch positiv eingestellte Schüler freundlich stimulieren und strahlt Freundlichkeit oder Fröhlichkeit in die gesamte Klasse zurück, wodurch eine insgesamt angenehmere Interaktionsatmosphäre entstehen kann.“ (Rosenbusch, 1995a, S. 194) Es wird hierbei deutlich, dass auch Lehrende von einer wechselseitigen Atmosphäre profitieren.106 Da Lehrende im Unterricht sowohl als Menschen als auch in ihrer Profession anwesend sind, muss der Beziehungsbegriff etwas differenzierter betrachtet werden. Herzog (2002) unterteilt die Verbundenheit von „Erzieher und Edukand“ in ein asymmetrisches und ein symmetrisches Beziehungsverhältnis (vgl. ebd., S. 504). So stellt die Lehrende-Lernende-Relation zum einen ein asymmetrisches, sprich komplementäres Verhältnis dar. Das, was und wie es unterrichtet wird, sprich Didaktik und Methodik, liegt in der Entscheidungsbefugnis der Lehrperson (basierend auf dem Lehrplan) (vgl. ebd.). Herzog beschreibt damit ein Gefälle (dieses entsteht allein schon aufgrund des Wissensvorsprungs und des größeren Erfahrungsreichtums seitens der Lehrperson), in dessen Rahmen schulisches Lehren und Lernen stattfindet (vgl. ebd.). Jedoch, sind beide in vielen ihrer menschlichen Bedürfnisse gleich (vgl. Spychiger, 2008, S. 7): „Die Asymmetrie des Pädagogischen ist immer zurück gebunden an eine Symmetrie des Sozialen.

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Eine diesbezügliche Analogie findet sich in der Musik: Damit die Saite eines Instruments schwingt und schwingend bleibt, muss sie immer wieder angestoßen werden – manchmal auch stärker. Auch zwei von Jackson (1968) befragte Lehrerinnen über die Quelle ihrer allgemeinen Zufriedenheit antworteten: „I think just seeing them [the children, W.H.] happy and seeing them progress is the biggest reward“ (ebd., S. 135; zitiert nach Herzog, 2002, S. 507)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Die Ungleichheit von Erzieher und Edukand gründet in ihrer Gleichheit als Menschen.“ (Herzog, 2002, S. 514) Komplementäre Beziehungen beruhen also auf reziproken (vgl. ebd., S. 506). Zur Erziehung gehört somit immer eine gewisse „Verbundenheit und zugleich eine Distanz zweier Niveaus, die durch pädagogische Hilfe überbrückt werden soll. Wo die Verbundenheit fehlt, ist Erziehung nicht möglich. … Wo … das Gefälle fehlt, ist Erziehung nicht nötig.“ (Scheuerl 1967; zitiert nach Herzog, 2002, S. 506) Dies betont auch Meyer (2007): „Der Lehrer soll Nähe zu den Schülern herstellen, weil nur so eine pädagogische Beziehung entstehen kann, die für erfolgreiches Lernen unverzichtbar ist. Er muss aber auch Distanz wahren, um beraten, beurteilen und auch einmal strafen zu können.“ (ebd., S. 87) Im Hinblick auf eine positive Unterrichtsatmosphäre findet Resonanz auf beiden Ebenen statt: Im asymmetrischen Verhältnis, wenn Methoden und Themen des Unterrichts bei den Schülerinnen und Schülern (unaufgezwungen) ankommen, sie gar fesseln und mitreißen, sie bereit sind, sich unterrichten zu lassen, sowie gründend im symmetrischen Verhältnis, wenn die Atmosphäre durchzogen ist von beispielsweise wechselseitigem Vertrauen. Die symmetrische Beziehung, von der Herzog spricht, bezieht sich auf die Gleichheit von Lehrenden und Lernenden als Menschen, wodurch jedoch deren jeweilige Individualität nicht missachtet wird. Dass Erziehung überhaupt zustande kommt, beruht auf einer gewissen Form von Übereinstimmung und auch Abgestimmtheit aufeinander (s. auch III.4.3). Die Beziehung stellt damit eine Basis dar, durch die Erziehung und Bildung erst möglich werden (vgl. Herzog, 2002, S. 506/507).107 Betrachtet man jedoch die Individualität, die jede Schülerin, jeder Schüler und auch jede Lehrperson mitbringt, muss die zwischenmenschliche Resonanz im Sinne eines Hörens und Antwortens – nicht jedoch (zwingend) als Echo – verstanden werden. Resonanz beinhaltet so verstanden dann auch Momente des Widersprechens und Widersetzens (vgl. Rosa, 2016b, S. 53). Denn: Positiv ist eine Unterrichtsatmosphäre gerade dann, wenn trotzdem eine gemeinsame Einheit (s. III.4.4: „Einheit in der Vielheit“, Dewey, 1995/1934, S. 186) spürbar ist. Damit einher geht auch ein Freilassen, sowohl in Bezug auf einen Moment (z.B. kurzes Schwätzen) als auch auf eine Beziehung108: Lehrende und Lernende sind frei, die Beziehung einzugehen und auch wieder zu lösen (vgl. Giesecke, 1997, S. 222). Als negativ kann demgegenüber ein autokratisches beziehungsweise autoritäres109 Verhältnis angesehen werden, das gerade nicht von „innen“ heraus entsteht: „Autorität bezeichnet ein Verhältnis sozialer Ungleichheit, das eine relativ überdauernde Überund Unterordnung voraussetzt oder zur Folge hat und in seinem Gefällecharakter als legitim anerkannt wird.“ (Herzog, 2002, S. 514) Zwischenmenschliche Resonanz geschieht dann von außen auferlegt und mit „eiserner Hand“ (vgl. Spychiger, 2013, S. 146). Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob dann überhaupt noch von Resonanz gesprochen werden kann. Die gemeinsame Wirklichkeit kann (unter anderem) dann als positiv angesehen werden, wenn ihr (dynamische) Resonanz zugrunde liegt: Schülerinnen und Schüler werden erreicht (Ergriffensein), und es kommt auch etwas zurück. Diese Reziprozität ist entscheidend hinsichtlich des Lehr-Lern-Prozesses (Verständigung über Unterrichtsgegenstand) sowie auf der Ebene sozialer Strukturen („Beziehungsnetz“ und damit Gefühl von Verbundenheit; Lehrende und Lernende werden in ihrer Individualität anerkannt und erfahren sich in ihrem gegenseitigen Wahrgenommensein). Lern- und Entwicklungsprozesse können so stattfinden.

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Nohl spricht bezüglich des Fehlens innerer Bindungen von „Verwahrlosung“ und sieht im Pädagogen denjenigen, „der einem bestimmten Individuum gegenüber den richtigen Weg findet, um ihm diese innere Bindung zu verschaffen.“ (Nohl, 1949; zit. nach Seichter, 2014, S. 230) In Bezug auf Bollnow beschreibt Schubert dies jedoch auch als „stets präsente[…] Aufgabe, die nicht nur nicht gelöst werden kann, sondern letztendlich auch nicht gelöst werden darf. Sie kann nicht gelöst werden, weil die ‚richtige‘ Atmosphäre sich immer nur unwillkürlich und punktuell im glücklichen Zusammentreffen von Stimmungen und Gefühlshaltungen herstellt, die zwar gepflegt, aber eben nicht herbei gezwungen werden können, und sie darf nicht gelöst werden, da Erziehung zumindest die Formen der ungeschiedenen Einheit von selbst und Welt, die für die kindlichen Gestimmtheiten charakteristisch sind, gerade auflösen muss, um den Heranwachsenden Selbstständigkeit zu ermöglichen.“ (Schubert, 2004, S. 117) Autoritär kann auch im affirmativen Sinne verstanden werden (vgl. Reichenbach, 2011, S. 154-169), hier wird es jedoch im Sinne der „eisernen Hand“ aufgefasst.

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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III.4.3 Koordination: systembildendes und mitreißendes Phänomen Einleitendes Im Folgenden geht es um die Beantwortung der Frage nach einer positiven gemeinsamen Wirklichkeit im Hinblick auf das Zusammenspiel der Handlungen, sprich: im Hinblick auf den (performativen) Zeitspielraum. Diesbezüglich wird das Konzept der Koordination und Diskoordination von Spychiger (2008) aufgegriffen. Spychiger (2010) versteht unter Koordination „Prozesse, die glatt und ununterbrochen im Zusammenspiel ihrer Elemente ablaufen“ (ebd., S. 32), „der gut geordnete Fluss der Dinge, […] der aus dem Zusammenspiel und der Angleichung von Lebewesen hervorgeht und beobachtbar ist, etwa wenn sie sich bei einer gemeinschaftlichen Arbeit in die Hand arbeiten, sich zu einem gleichen Grundrhythmus bewegen, miteinander rennen oder gehen usw.“ (ebd., S. 36). Etwas differenzierter unterscheidet Spychiger Inter- und Intra-Koordination (Spychiger, 2018): Intra-Koordination bezieht sich hierbei auf Bewegungen innerhalb eines Körpers, beispielsweise die (feinmotorischen) Bewegungen Musizierender beim Üben oder einzelner Ruderer. Inter-Koordination hingegen bezieht sich auch auf das Äußere, die Umwelt etwa oder im personalen Bereich auf die aufeinander abgestimmten, angeglichenen (oft sogar synchronen) Bewegungen vieler Körper (vgl. Spychiger, 2011), wie man es zum Beispiel beim gemeinsamen Rudern oder in einem Orchester110 beobachten kann. Ein „Moment der Gleichzeitigkeit im Spiel“ (Spychiger, 2015a, S. 57) – sichtbar in gleichen Bewegungen und hörbar in einem „runden Klang“ (Spychiger, 2008, S. 7). Koordination lässt sich unter anderem bei einem gut fließenden Autoverkehr beobachten, bei einem Vogelschwarm, beim geordneten gemeinsamen Singen und Musizieren – und im Unterricht: dann zum Beispiel, wenn man sagt „der Unterricht hat einen Fluss“111, womit bereits ein erstes positives Merkmal genannt ist. „Magneteffekt“ Koordination besitzt als Phänomen die Eigenschaft mitzureißen. Sei es im genannten Unterrichtsfluss oder aber zum Beispiel auch dann, „[…] wenn ein Lehrer in eine lustlose, angeödete Schulklasse mit einem interessanten Thema kommt und die Schüler durch sein Auftreten mitreißt. Wenn junge Menschen, denen es an Antrieb fehlt, begeistert an einer Clique teilnehmen, in der etwas los ist, in der es hoch hergeht, suchen und finden sie eine kollektive Atmosphäre, die vom Schwung eines rhythmisch bewegten gemeinsamen Antriebs belebt ist“ (Schmitz, 2014, S. 58). Ohne es selbst als Koordination zu bezeichnen findet sich dieser Aspekt auch bei Bollnow, wenn er im Zusammenhang zu einer fröhlichen Atmosphäre die Bedeutsamkeit des Lachens hervorhebt: „Wo das Lachen befreiend hervorbricht, da ist notwendig zugleich die Sphäre der Absonderung, des inneren Widerstrebens und Nicht-mitmachenwollens durchbrochen. Das Kind kann gar nicht mehr anders als in die Gemeinsamkeit einschwingen.“ (Bollnow, 2013/1964, S. 204) In der Psychologie wird bezüglich solcher Phänomene von einem „Magneteffekt“112 gesprochen. Im Falle einer positiven Unterrichtsatmosphäre ist dieser Effekt natürlich wünschenswert: Positive und lernförderliche Stimmungen können somit übergreifen – negative wie zum Beispiel Lustlosigkeit und Unkonzentriertheit allerdings auch (s. hierzu Abschnitt Diskoordination). Koordination als systembildendes Merkmal Weiterführend ist nun entscheidend: Koordination wirkt unter anderem systembildend (vgl. Spychiger, 2011). Dies lässt sich mit einem Zitat von Joachim Kaiser (2009) verdeutlichen, wenn er über eine besondere Form der Stille in einem Konzert spricht: „Es kommt manchmal vor, dass Musik die Menschen so ergreift, […] dass sie plötzlich gemeinsam atmen. Dann hat die Nachbarin plötzlich nicht mehr ein Portmonee, das ihr so sehr gefällt, dann muss der Nachbar nicht mehr husten, dann blättert der andere 110

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S. hierzu auch Hellberg, Bianca (2017). „Jetzt greift es wirklich ineinander“. Koordinationsprozesse beim Musizieren im Instrumentalen Gruppenunterricht. Unveröffentlichte Dissertation, Frankfurt/M. Hiermit ist ein reibungsloser, schwungvoller und inhaltlich konsequenter Ablauf des Unterrichts gemeint (vgl. Gärtner, 2017). Etwas differenzierter unterscheidet Kounin (2006/1976) diesbezüglich die Bereiche Reibungslosigkeit und Geschmeidigkeit (smothness) sowie Schwung (momentum) (vgl. ebd., S. 101 ff.). „Tendenz von gleichzeitige rhythmische Bewegungen in ihren Frequenzen anzugleichen, z.B. bei Armbewegungen (Psychomotorik).“ (Wenninger, 2000)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

Nachbar nicht mehr im Programmheft, sondern: die Leute sind dabei, es stellt sich sozusagen eine tönernde produzierte Stille des Publikums her – ein großer Moment, der nicht häufig ist, er stellt sich jedoch gelegentlich her. Ich habe das […] manchmal erlebt, dass das Publikum gleichsam gebannt ist und gemeinsam atmet. Die Stille, die sich so herstellt, ist natürlich weitaus produktiver und ergreifender als die sterile Lautlosigkeit im Tonstudio, das schalltot ist. Davon hat diese Stille nichts. Aber eine solche Stille ergibt sich, und geht dann auch über auf die Ausführenden. Das heißt, es ist ein Wechselverhältnis. Plötzlich merken die Musiker, wie sie das Publikum ergreifen und das kommt dann zurück. Solche Dinge sind natürlich nur im lebendigen Konzert möglich.“ (Kaiser, 2009) Das Zitat beinhaltet noch einmal einige Merkmale der Resonanz: Ergriffensein durch die Musik, Wechselseitigkeit zwischen Ausführenden und Publikum. Mit dem gemeinsamen Atmen und dem gleichsam Gebanntsein wird jedoch auch das Koordinationsphänomen beschrieben. Es entsteht ein Gefühl von Einheit, das als solches eine besondere Empfindung darstellt. Diese beschreibt auch Fischer-Lichte, wenn sie, Fuchs zitierend, von einer neuen Schauspielkunst berichtet, von der man sich erhoffte, dass sie Akteure und Publikum in jenen „seltsamen Rausch“ zu versetzen vermögen, „der uns überkommt, wenn wir uns als Menge, als einheitlich bewegte Menge fühlen. […] das ist sicher, dass uns ein Schauer durchschüttelt, sobald wir uns mit anderen, ungezählten anderen in einer Leidenschaft als ungeheure Einheit, als Masse empfinden.“ (Fuchs, 1909; zitiert nach Fischer-Lichte, 2004, S. 84)113 Diesem „seltsamen Rausch“, der Empfindung einer „ungeheuren Einheit“, liegt die beschriebene interpersonale Koordination zugrunde. Im Hinblick darauf ist für den Unterricht weniger die Synchronität als vielmehr die Ausprägung „aufeinander abgestimmt, jedoch nicht gleich“ interessant, da sie die Individualitäten im Klassenzimmer und damit den Aspekt des individuellen Antwortens sowie des trotzdem in irgendeiner Form aufeinander Abgestimmtseins betont (braucht es zur Erziehung doch immer eine gemeinsame Basis) (s. III.4.2). Es ist der Bereich der Beziehung, der hier betreten wird. Im Hinblick auf eine positive Unterrichtsatmosphäre ist das Phänomen der Koordination diesbezüglich also insofern interessant, als es zum einem mit einem gemeinsamen Rhythmus innerhalb der Klasse im Zusammenhang steht. Im Hinblick auf das gemeinsame Denken zum Beispiel, auf das gemeinsame Konstruieren von Gedanken oder das Lernen im sozialen Kontext ist Koordination damit eine unverzichtbare Komponente (vgl. Spychiger, 2008, S. 5/6): „Der Lern- und Entwicklungsprozess geht aus der dynamischen Abstimmung zwischen Individuen, aus der gemeinsamen Bewegung hervor. Die Beteiligten schwingen sich aufeinander ein […].“ (ebd., S. 7) Damit einhergehend steht das Koordinationsphänomen zum anderen auch im Hinblick auf die Empfindung einer Einheit, einem allgemeinen Involviertsein (vgl. Spychiger, 2010, S. 38), im Zusammenhang mit einer positiven Unterrichtsatmosphäre: „Wenn ein anregender Gesprächspartner den anderen, ein Lehrer die Schulklasse ‚mitreißt‘, nachdem er eine Hemmschwelle der Lustlosigkeit oder des Widerstandes überwunden hat, bildet sich eine gemeinsame Situation und Atmosphäre, worin die Beteiligten miteinander warm werden und sich gleichsam die Bälle zuspielen […].“ (Schmitz, 2008, S. 56/57) Eine solche als Einheit empfundene Unterrichtsatmosphäre ist das Ergebnis von Koordination und – durch ihre mitreißende Kraft – ihre Ursache zugleich.114 Und es ist die Ebene, auf der der Unterricht Form erhält (s. III.4.4). Diskoordination – Hindernis und Potenzial Treten Handlungsstörungen oder Unterbrechungen jeglicher Art, oft auch als Fehler bezeichnet, auf, spricht man von Diskoordination (vgl. Spychiger, 2011), „dahingehend, dass Zusammenspielendes und Aneinandergefügtes voneinander abgekoppelt oder entbunden wird.“ (Spychiger, 2010, S. 31). Nicht Ganzheitlichkeit und Kraft werden, wie es bei der Koordination der Fall ist, dann erfahren. Diskoordinationen stellen in der Regel eher unangenehme Erfahrungen dar, werden häufig begleitet von negativen 113

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Roselt (2012) spricht hinsichtlich der Wir-Erfahrung, sprich der gemeinsamen Wahrnehmung im Theater ferner von einer „chorischen Prozedur“ (ebd., S. 271). Deutlich wird dies, beim Applaus oder wenn ein Schuss auf der Bühne alle Zuschauer zusammenfahren lässt (vgl. ebd.). Spychiger (2015a) nennt hier das Beispiel Arbeitslieder (ebd., S. 58): Die Musik dieser Lieder wirkt auf den Menschen, auf dessen Befindlichkeit und Körper, sie koordiniert seine Bewegungsabläufe und Handlungen. Das, was hierbei entsteht ist wiederum Koordination. Bezogen auf Böhmes Atmosphärenbegriff ist es, um bei dem Musikbeispiel zu bleiben, die (unter anderem) von der Musik ausgehende Atmosphäre, durch die ein Koordinationseffekt entsteht und die, ebenso wie die Musik, gleichzeitig auch das Ergebnis des koordinierten Prozesses darstellt.

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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Emotionen, wirken als Unterbrechung, als Hindernis. Allerdings bieten solche Erfahrungen auch ein Lernpotenzial, zum Beispiel dann, wenn man sie nicht wiederholen möchte und wenn man aus Fehlern lernt (vgl. Spychiger, 2011). Solche Fehler wirken dann als „Signal, in den Modus der Reflexion zu wechseln“ (Spychiger, 2010, S. 37) und bergen somit ein großes Reflexionspotenzial in sich. Ferner besitzt Diskoordination eine aufmerksamkeitsfokussierende Funktion, wird man von einem Fehler doch regelrecht „aufgeweckt“ (vgl. ebd., S. 51).115 Dies betrifft auch die Beziehungsebene, auf der Diskoordination eine Beziehungsstörung darstellt (vgl. ebd., S. 40). Jedoch kann Diskoordination auf dieser Ebene, beispielsweise bei einem Vertrauensbruch, auch zum kompletten Zerfall führen (vgl. hierzu Böhme, 2013, S. 39 ff.). Selbiges betrifft den Unterrichtsfluss. Stellt Koordination des Weiteren in Bezug auf eine beispielsweise fröhliche Atmosphäre die Chance dar, positive Stimmungsqualitäten übergreifen und andere mitreißen zu lassen, wäre Diskoordination in diesem Fall eher hinderlich, würde es die allgemeine Fröhlichkeit stören. Ist jedoch die Atmosphäre von negativen Qualitäten wie Angespanntheit oder Lustlosigkeit durchzogen, wäre Diskoordination – im Sinne einer Änderung oder eines Aufbrechens – dann gerade als positiv anzusehen. Es wird deutlich, dass die Frage, ob Diskoordination hinsichtlich einer positiven Unterrichtsatmosphäre ein Hindernis darstellt oder ein Potenzial in sich birgt, nicht pauschal beantwortet werden kann. Anders formuliert: Sowohl Koordination als auch Diskoordination können mit einer positiven Unterrichtsatmosphäre im Zusammenhang stehen. Des Weiteren müssen beide als Prozess und als zusammenhängend und teilweise ineinandergreifend verstanden werden: Eine angespannte Atmosphäre beispielsweise wird durch Diskoordination gelöst, sodass sich im weiteren Verlauf eine entspannte Atmosphäre einstellen kann. Oder: Eine konzentrierte Atmosphäre wird trotz Zuspätkommens eines Schülers (als Moment der Diskoordination) aufrechterhalten. Ein Fehler verlangt danach, um den Fluss nicht zu stören, umgeleitet zu werden. Hierbei wird deutlich: Koordination und Diskoordination beinhalten ferner, auf kurze und auf lange Sicht, das Moment des Strebens (eine Beziehungsstörung etwa strebt nach Auflösung) und stellen oftmals nur vorübergehende Zustände dar. Der Begriff des Einkoordinierens „Aufgabe des Erziehers ist es aber, sich die Stimmungslagen und Gefühlshaltungen seiner Zöglinge zu vergewissern und sich auf sie einzustellen oder einzustimmen. Er wird sie – je nach Alter und Situation – nicht alle gleichermaßen nähren und erhalten können und dürfen. Gleichwohl wird er, schon um seiner eigenen Arbeit nicht die emotionale Grundlage zu entziehen, etwa an die morgendliche Gestimmtheit ‚anknüpfen und dieses freudige Gefühl in seiner Reinheit zu erhalten und zu pflegen und nach allen Erschütterungen immer wieder neu aufzubauen versuchen‘ (Bollnow, 1964, S. 33)“ (Schubert, 2004, S. 113/114). Was bei diesem Zitat bereits anklingt, ist der Vorgang des „Einkoordinierens“. Der Begriff des Einkoordinierens ist aus der Untersuchung heraus und in Anlehnung an das Konzept der Koordination und Diskoordination entstanden und wurde durch die Forscherin entwickelt. Einkoordinieren meint das Aufeinander-Einschwingen (vgl. hierzu auch Spychiger, 2010, S. 36), das Auf-eine-gemeinsame-Ebene-Kommen – kurz: das Herstellen der beziehungsweise der Weg in die gemeinsame Wirklichkeit, in die Koordination. Diesbezüglich beinhaltet der Begriff des Einkoordinierens zwei Seiten. Zum einen das rezeptive Moment des Wahrnehmens: Auf zwischenmenschlicher Ebene ist es eine Einfühlung in das Gegenüber, ein „Vorgang der spontanen sinnlichen Resonanz“ (Allesch, 2008, S. 7);116 eine Art „atmosphärische Einstimmung“ (Tellenbach, 1968, S. 53)117, auf deren Basis dann 115

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Wobei nicht nur unterbrochene, sondern auch besonders koordinierte Abläufe aufmerksamkeitsfokussierend und bewusstseinssteigernd sind (vgl. Spychiger, 2010, S. 32) Die Kraft der Diskoordination zur Aufmerksamkeitsfokussierung ist hierbei jedoch noch einmal zwingender als die Kraft der Koordination, „weil es um die Behebung von Störungen, die Lösung von Problemen, das Herbeiführen von Veränderung geht. Man kann sagen, dass Fehlererfahrung als Auslöser gesteigerter Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle in den Bewusstseinsprozessen spielen und damit auch ihre Relevanz für Entwicklung und Lernen begründen.“ (ebd., S. 39) Ähnlich spricht Stern (2010) von „Affektabstimmung“ (ebd., S. 198 ff.) (engl. „attunement“) in Bezug auf das Verhältnis Eltern-Säugling/Kind. Alles Begegnen zwischen Menschen wird eingeleitet und gelenkt „von diesem feinen Spiel [atmosphärisches Einstimmen], das nie aufhört und die Menschen inniger verbinden und nachhaltiger trennen kann als Wort und Gedanke“. (Tellenbach, 1968, S. 71)

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

gemeinsam gehandelt werden kann (etwa wenn man die traurige Stimmung eines Gegenübers wahrnimmt und der Stimmung entsprechend einen leisen und behutsamen Tonfall anschlägt). Im Unterricht ist es zum Beispiel der Moment, in dem die Lehrperson das Klassenzimmer betritt, sich spürend orientiert, an die Gestimmtheiten anknüpft und entsprechend handelt. Einkoordinieren bedeutet zum anderen aber auch ein In-Kontakt-Treten mit einem Gegenüber, beispielsweise in Form eines Sich-für-sie/ihnInteressierens, das ein Gefühl entstehen lässt, auf einer Ebene zu sein. So verstanden stellt Einkoordinieren ein Nach-außen-Gehen dar, ein Sich-Verbinden mit jemanden (oder etwas), begleitet wiederum von der Wahrnehmung. Ein Beispiel aus der Musiktherapie soll dies noch einmal aus praxisbezogener Sicht verdeutlichen: Der Musiktherapeut spielt zu Beginn ein paar Töne auf dem Klavier, hält inne und wartet. Er schafft hierbei einen Raum für den Patienten, in irgendeiner Form auf ihn zu reagieren, fordert ihn auf, sich auf beliebige Art und Weise zu äußern. Vielleicht hat er sich bereits in den Patienten einfühlen können und wählt die Töne entsprechend, lässt bereits eine gemeinsame Ebene entstehen. Oder aber er gibt dem Patienten zunächst den Raum, in dem dieser sich äußern und an dessen Äußerung er dann spürend anknüpfen kann: Er ahmt ihn nach, spiegelt ihn, geht mit ihm in eine Stimmung, passt sich ihm an, verstärkt die Stimmung vielleicht auch. Ein Prozess des Wahrnehmens und zugleich des Ein- beziehungsweise Verbindens. Einkoordinieren stellt damit einen sensiblen Vorgang dar, ein „feines Spiel“118. Der Begriff des Einkoordinierens bezieht sich ferner sowohl auf das eigene Sich- Einkoordinieren als auch darauf, andere oder gar Gegenstände einzukoordinieren (s.V.2.4.3) Der performative Zeitspielraum kann (unter anderem) dann als positiv beschrieben werden, wenn ihm das Koordinationsphänomen zugrunde liegt: Koordination ermöglicht einen gut funktionierenden „Unterrichtsfluss“, besitzt (hierbei) die Kraft mitzureißen und wirkt überdies systembildend. Positive Stimmungsqualitäten können somit übergreifen, Lehrende und Lernende handeln gemeinsam, es entsteht ein Gefühl von Einheit und einem allgemeinen Involviertsein. Auch die Diskoordination (Störung) kann positive Effekte mit sich bringen, wie zum Beispiel eine aufmerksamkeitsfokussierende und bewusstseinsbildende Wirkung. Beide – Koordination und Diskoordination – müssen als zusammenhängend verstanden werden. Einkoordinieren: Einfühlen, Erspüren eines Gegenübers/mehrerer Gegenüber und gleichzeitiges InKontakt-Treten; auf eine Ebene kommen, der Weg in die gemeinsame Wirklichkeit. III.4.4 Zusammenfassung: Im „Ein-Klang“ sein – Der Unterricht hat Form „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe, Faust I)

Der Satz „Der Unterricht hat Form“ beschreibt eine Unterrichtsatmosphäre, die als Einheit wahrgenommen wird und als von innen heraus entstanden jede Schülerin und jeden Schüler in ihren jeweiligen Individualitäten miteinbezieht. Um dies genauer zu verdeutlichen, wird hinsichtlich des Begriffs der Form noch einmal der Bereich der Ästhetik betreten und damit einhergehend die Bedeutung, die der Formbegriff im Hinblick auf eine positive Unterrichtsatmosphäre mit sich bringt, weiter ausgearbeitet. Der Form-Begriff beinhaltet hierbei die in III.4.2 und III.4.3 beschriebenen Merkmale der Resonanz und des Koordinationsphänomens und steht damit auch im Zusammenhang mit der Betrachtung von Unterrichtsatmosphären als gemeinsame Wirklichkeit sowie als performativer Zeitspielraum. Ferner werden auch die Stimmungsqualitäten und damit der gestimmte Raum bedacht. Der vorliegende Abschnitt fungiert somit – unter dem Form-Begriff – als Zusammenfassung des gesamten Kapitels III.4. In einem Objekt ästhetischer Anschauung – wie zum Beispiel dem Unterricht – sind die einzelnen Teile jeweils auf bestimmte Weise miteinander verbunden. Dies wird etwa deutlich bei der Betrachtung einer Stadtsilhouette (vgl. Dewey, 1995/1934, S. 157): Einige mögen hierbei über die Gebäudehöhe mancher Bauwerke nachdenken, andere freuen sich vielleicht darüber, ein spezielles Gebäude als Wahrzeichen 118

Tellenbach (1968) spricht von einem „allerfeinsten Spiel“ in Bezug auf das Erspüren eines Mitmenschen vor allen Worten (in diesem Fall ist es das Mutter-Kind-Verhältnis) (vgl. ebd., S. 51).

III.4 Beschreibung einer positiven Unterrichtsatmosphäre

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zu erkennen. Wieder andere konzentrieren sich auf Details, wie sie an manchen Gebäuden sichtbar sind. Diese Betrachtungsweise steht derjenigen gegenüber, die sich, zwar nicht von den Details abwendet, jedoch zurücktritt und diese in Verbindung, in Relation, zueinander sieht. Im gegebenen Beispiel mögen es die Lichtspiele sein, die Farben der Gebäude, ihre Formen, die man, aufeinander bezogen, plötzlich als wahrnehmbares Ganzes sehen kann.119 Dewey (1995/1934) spricht diesbezüglich von Relationen, wobei er diese nicht im Sinne gedanklicher Verknüpfungen versteht, sondern als „etwas Direktes und Aktives, etwas Dynamisches und Energiegeladenes“ (ebd., S. 156). Solche Relationen richten „das Augenmerk auf die Art, wie die Dinge aufeinander einwirken, auf ihren Zusammenprall oder ihre Vereinigung, auf die Art, wie sie sich gegenseitig befriedigen und frustrieren, fördern und behindern, anregen und aufhalten.“ (ebd.). Das heißt: Sie „existieren als Aktionen und Reaktionen, in deren Verlauf sich die Dinge verändern.“ (ebd.) Die ästhetische Form definiert Dewey nun im Sinne einer „Vollkommenheit der Relationen“ (ebd.). Das bedeutet: Jeder Teil ist hierbei ein dynamischer Bestandteil, nimmt also aktiv an der Bildung des wahrnehmbaren Ganzen, sprich der Form, teil (vgl. ebd., S. 158). Das Beispiel Deweys einer alten Formel für die Schönheit in Natur und Kunst – „Einheit in der Vielheit“ (ebd., S. 186) (engl. „Unity in diversity“) – differenziert dies noch einmal. Die Formel kann auf zweierlei Arten verstanden werden: Zum einen kann sie als eine Einheit angesehen werden, die rein äußerlich ist, also dann, wenn sich beispielsweise Bücher in einem Regal, viele Münzen in einer Tasche oder viele Menschen auf einem einzigen Bild, viele Dinge in einer Schachtel (vgl. ebd.) befinden. Das Viele ist untereinander nicht verbunden und die Einheit ist hierbei äußerlicher Natur (vgl. ebd.). Analog dazu ist es ein Klassenzimmer als äußeres Gehäuse mit einer Unterrichtsatmosphäre ohne Resonanz. Deweys Formel kann aber auch anders verstanden werden, nämlich dahingehend, dass man ihre Begriffe auf das Verhältnis der Energien – der Zwischenphänomene – bezieht und somit die Dynamik miteinbezieht. Die einzelnen Teile bleiben hierbei weiter voneinander differenziert, sonst könnte man nicht von Vielheit sprechen, treten jedoch zueinander in Beziehung und finden schließlich ihre gemeinsames Gleichgewicht (vgl. ebd., S. 187): „Einheit gibt es nur, wenn die [gegenseitigen] Widerstände eine Spannung erzeugen, die durch die kooperative Interaktion der gegensätzlichen Energien aufgelöst wird.“ (ebd., S. 186/187) Form entsteht dann aus der inneren Dynamik heraus. Ähnliches findet sich auch bei Kandinsky. Er beschreibt Form im engeren Sinne zum einen als eine Abgrenzung einer Fläche von einer anderen und bezeichnet somit das Äußere der Form, sowie zum anderen: „Da aber alles Äußere auch unbedingt Inneres in sich birgt (stärker oder schwächer zum Vorschein kommend), so hat auch jede Form inneren Inhalt. Die Form ist also die Äußerung des inneren Inhalts. Dies ist ihre Bezeichnung im Inneren.“ (Kandinsky, 1952/1911, S. 69) Die Form selbst besitzt also einen „inneren Klang“ (ebd., S. 68), bestimmte Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind. Kandinsky spricht hierbei von einem Wesen „mit dem ihm allein eigenen geistigen Parfüm“ (ebd.). In Verbindung mit anderen Formen nun „differenziert sich dieses Parfüm, bekommt beiklingende Nuancen, bleibt aber im Grunde unveränderlich, wie der Duft der Rose, der niemals mit dem des Veilchens verwechselt werden kann.“ (ebd.) Sowohl Deweys als auch Kandinskys Betrachtungsweisen beschreiben mit dem Begriff der Form eine Gesamtkomposition, die aus der Zusammensetzung einzelner Teile und deren Zusammenwirken besteht und als solche beweglich ist. Hervorzuheben ist hierbei die im Grunde unveränderliche Beständigkeit dieser einzelnen Teile.120 Es sind die gleichen Eigenschaften, die Böhme der Atmosphäre als dem gemeinsamen Zustand von Subjekt und Objekt zuschreibt: „Subjekt und Objekt verschmelzen in der Wahrnehmung. Sie werden zu einem System, nicht aber in der Art, dass sie sich dadurch verändern, sondern in der Art, dass sie neue gemeinsame Zustände haben.“ (Böhme, 2001, S. 56) Es ist eine „Harmonie“, die sowohl aus Zusammenklang als auch aus Gegensätzen und Widersprüchen entstehen kann: „Auf 119

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Diese aufeinander bezogenen Teile (Relationen), sind das, was beispielsweise ein Kunstwerk auszeichnet (in der Malerei oder aber auch in der Musik, wo die Relationen zwischen Tönen und auf übergeordneter Ebene zwischen Akkorden und anderen Klängen das Gesamtwerk als eine wahrnehmbare Einheit erscheinen lassen). Aber auch im alltäglichen Bereich finden sich Beispiele ästhetischer Form – überall dort, wo sie durch ästhetische Betrachtungsweisen entstehen. Oftmals sind sie hier vielleicht nicht direkt vorgegeben, drängen sie sich nicht auf und müssen erst aktiv vorgenommen werden: Es ist ein Unterschied, ein ästhetisches Objekt zu sehen und ein Objekt ästhetisch zu sehen. Zur Bezogenheit einzelner Teile aufeinander und der daraus entstehenden Einheit, Betrachtung von Verbindungen und Mustern vgl. auch Bateson, 1995, S. 26 ff. Entwicklungen, Transformationen etc. sind natürlich, bis zu einem gewissen Punkt, trotzdem möglich.

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III Verknüpfung und Weiterentwicklung ästhetischer und schulpraktischer Inhalte

dieser Harmonie fußende Komposition ist eine Zusammenstellung farbiger und zeichnerischer Formen, die als solche selbstständig existieren, von der inneren Notwendigkeit herausgeholt werden und im dadurch entstandenen gemeinsamen Leben ein Ganzes bilden, welches Bild heißt.“121 (Kandinsky, 1952/1911, S. 109) Überträgt man das hier Beschriebene nun auf den Unterricht als Objekt ästhetischer Anschauung, liegt diese „Harmonie“ – verstanden als „Einheit in der Vielheit“, sprich Individualitäten und vielleicht gar Dissonanzen enthaltend – einer positiven Unterrichtsatmosphäre zugrunde: Lehrende und Lernende werden hierbei sowohl eigenständig, aber auch als miteinander verbunden, und weiter wechselseitig verbunden, angesehen (s. III.4.2).122 Als Individuen treten sie zueinander in Beziehung, interagieren miteinander und finden ein gemeinsames Gleichgewicht, eine Abgestimmtheit aufeinander (s. III.4.3). Auch der Unterrichtsgegenstand ist Teil dieses Ganzen – alles greift, und es greift ineinander (s. III.4.2 und III.4.3). Die Unterrichtsatmosphäre kann – mit einem ihr eigenen Klang (s. III.4.1) – so als wahrnehmbares Ganzes gesehen werden, als eine spürbare Einheit, entstanden aus (zwischenmenschlichen) Resonanzen im Klassenzimmer. Auf dieser Ebene nimmt der Unterricht eine Gestalt an, „er hat Form“, wobei der Form-Begriff hierbei keineswegs statisch, sondern flexibel und „atmend“ verstanden werden muss. Momente der Störung können dann umgeleitet werden, ohne die Form zu zerstören; der Unterricht fließt. Abschließend soll das Beschriebene hierbei noch um den Aspekt der Spannung ergänzt werden: „Ohne innere Spannung gäbe es ein ungegliedertes Dahinströmen zu einem blindlings gesetzten Ziel. Es gäbe nichts, das als Entwicklung oder Vollendung bezeichnet werden könnte.“ (Dewey, 1995/1934, S. 160) Die innere Spannung hält das Ganze jedoch nicht nur zusammen, sondern sie ermöglicht beziehungsweise bedingt auch die äußere Spannung des Ganzen als solches – ähnlich wie bei einem (Wasser)Tropfen: Seine Form wird bedingt sowohl durch eine innere als auch eine Oberflächenspannung. Hierbei bleibt die Form aufgrund der Spannung bis zu einem gewissen Grad „eindellbar“, sprich resistent hinsichtlich kleinerer Störungen (Momente der Diskoordination) und damit beweglich. Kann die Spannung jedoch nicht gehalten werden, zum Beispiel wenn die Störung zu groß ist, geht auch die Form verloren.123 Der Form-Begriff steht mit einer positiven Unterrichtsatmosphäre auf zwei Ebenen im Zusammenhang: Er umfasst im „Inneren“ die Phänomene Resonanz und Koordination/Diskoordination und hebt damit noch einmal die Aspekte Reziprozität, innerer Zusammenhalt und ein Miteinander-im-Einklang-Sein (ohne jedoch Individualitäten und mögliche Dissonanzen auszuklammern) hervor. Dieses Innere trägt bestimmte Stimmungsqualitäten, die ihren Ausdruck wiederum in der Form finden. Eher „äußerlich“ betrifft der Form-Begriff die allgemeine Grundspannung einer Unterrichtsatmosphäre als wahrgenommene Einheit.

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Ein wahrnehmbares Ganzes entsteht, indem man Dinge auf bestimmte Art und Weise zueinander in Beziehung setzt (vgl. Dewey, 1995/1934, S. 158). Künstler tun dies beispielsweise – es entsteht eine Gesamtkomposition, dann, wenn das Bild „in sich stimmig“ ist. Ähnlich wie die einzelnen Formen, Linien und Farben bei einem Bild auf unterschiedlichen Spannungsverhältnissen zueinander beruhen (z.B. Kontraste), sind auch nicht alle Bezogenheiten der einzelnen Subjekte untereinander gleich stark. Ferner besitzt auch der Tropfen eine bestimmte Farbe sowie eine Konsistenz und dient somit auch im Hinblick auf die Stimmungsqualitäten als passende Analogie.

IV Durchführung der Untersuchung Dem methodischen Vorgehen der Arbeit liegen Begrifflichkeiten und Sichtweisen zugrunde, die in Kapitel IV.1 zunächst erläutert werden. Kapitel IV.2 beinhaltet daran anknüpfend die Beschreibung des Untersuchungssdesigns im Hinblick auf Datenerhebung und -aufbereitung sowie allgemeiner Merkmale. Abschließend folgt in Kapitel IV.3 eine Darstellung angewandter Gütekriterien zur Überprüfung der Wissenschaftlichkeit der Untersuchung. IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten IV.1.1 „Teilnehmende Erfahrung“ Impulsgebend für die Datenerhebung und -aufbereitung ist ein Text von Ton Beekman (1984) über die von ihm als „teilnehmende Erfahrung“ bezeichnete Methode. Die Beschreibung seiner Vorgehensweise kann im Allgemeinen weniger als Hauptmethode einer wissenschaftlichen Untersuchung verwendet werden – zu unpräzise sind seine (begrifflichen) Ausführungen, zu unklar bleibt eine Abgrenzung zur teilnehmenden Beobachtung. Sehr wohl kann seine Methode jedoch als Impuls verstanden werden. Mit der Hervorhebung des Aspekts einer allumfassenden, spürenden Anwesenheit der Forschenden innerhalb des Untersuchungsfeldes fungiert sie hierbei als „auffüllendes“ beziehungsweise besonders betonendes Merkmal einer teilnehmenden Beobachtung. Essentiell sind vor allen Dingen – neben ihrem inhaltlichen Kern – die der Methode vorausgehende Traditionslinie sowie das Ziel, welches mit der Methode erreicht werden soll. Zum allgemeinen Verständnis wird im Folgenden die „teilnehmende Erfahrung“ nach Ton Beekman zusammenfassend dargestellt und in IV.1.2 durch eine soziologische Betrachtung hinsichtlich des Leib-Körper-Dualismus ergänzt. „Teilnehmende Erfahrung“ im Kontext phänomenologischer Forschung Phänomenologie kann, vereinfacht gesagt, verstanden werden als philosophische Lehre des Erscheinens im Sinne einer „Aufklärung der Sinnstrukturen im Verhältnis von Mensch und Welt“ (Stieve, 2010, S. 25/26). Phänomenologie bedeutet zunächst ein Philosophieren an den Phänomenen und, damit einhergehend, die Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Ziel theoretischer Grundlegungen (vgl. ebd., S. 36). Nicht Subjektzentriertheit, sondern das Zwischenweltliche steht hierbei im Vordergrund (vgl. Lippitz, 2000; nach Stieve, 2010, S. 36). Als wichtigste Methode ist in diesem Zusammenhang die Deskription von Phänomenen zu nennen: „Durch die Beschreibung der verschiedenen Variationen eines Phänomens wird versucht, sich einem Wesensgehalt anzunähern und diesen wiederum auf die lebensweltlichen Zusammenhänge zurück zu beziehen.“ (Stieve, 2010, S. 36) Es ist also ein Zusammenspiel des Analysierens von Erfahrungen, des Findens von Erklärungen sowie der Grundlage eines verwobenen Verständnisses von Welt und Subjekt (vgl. ebd., S. 37). Weiter ist diese Beschreibung exemplarisch, wodurch etwas erkennbar wird, das nur durch die verschiedenen Beispiele begreifbar ist (vgl. ebd., S. 41). Es werden keine festen Definitionen dargestellt, sondern es ist vielmehr ein „offenes, vieldeutiges, eher auf- als beweisendes Geschehen“ (ebd.). Hierbei erscheint etwas immer jemandem als etwas Bestimmtes (vgl. ebd., S. 38), denn Erziehung (oder wie im Fall der vorliegenden Untersuchung Unterricht) gedacht als Phänomen kann nicht als vollständig objektiv betrachtet werden. Es wird von jemandem erfahren und steht im Zusammenhang zu praktischen Handlungen durch jemanden. Diese Erfahrungen und Handlungen sind zunächst präreflexiv, gehen dem Bewusstsein voraus (vgl. ebd.). Hierbei steht vor allem die Leiblichkeit als verbindendes Moment (mit anderen Menschen oder Dingen) im Vordergrund (vgl. ebd. S. 40). Stieve formuliert es als „leibliche Verwobenheit“ (ebd.). Ein Spüren und Gespürt-Werden: „Die Dinge berühren mich, wie ich sie berühre […].“ (Merleau-Ponty, 2004/1964, S. 328) Die „teilnehmende Erfahrung“ nach Ton Beekman ist einzuordnen in diesen in Ansätzen beschriebenen Kontext einer auf die Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft ausgerichteten Form der Phänomenologie. In wissenschaftlichen Untersuchungen findet sie bisher nur wenig Anwendung und wurde theoretisch bislang kaum aufbereitet oder weiterentwickelt. Bei Ton Beekman (1984), der über

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_4

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IV Durchführung der Untersuchung

die Utrechter Schule Langenvelds mit der Phänomenologie verbunden ist (vgl. Stieve, 2010, S. 37), findet sich ein Text, der, in Bezug auf die „teilnehmende Erfahrung“, als zentral angesehen werden kann (vgl. Agostini, 2016, S. 48). Für die Utrechter Schule der Phänomenologie ist eine „teilnehmende“ pädagogische Erforschung kindlicher Sicht typisch (vgl. Lippitz & Meyer-Drawe, 1984, S. 7). Ton Beekman verwendet den Begriff der „teilnehmenden Erfahrung“ im Zusammenhang mit einer in einer Kindertagesstätte durchgeführten Untersuchung. Er begleitet hierbei als Forscher Kinder und nähert sich „einerseits dem, wie Erziehung als lebensweltliche Wirklichkeit erfahren wird, andererseits implizit, wie sich das räumliche Empfinden von Kindern und Erwachsenen äußert, bzw. was einen lebensweltlichen Raum im Gegensatz zu einem physikalischen Raum auszeichnet“ (Stieve, 2010, S. 41). Beekman beschreibt diesbezüglich beispielhaft das intersubjektive Geschehen, den „pädagogischen Raum“ (vgl. ebd., S. 37). An Beekman anknüpfend finden sich bei Stieve (2010), hier auch in einer ansatzweise vorgenommenen Unterscheidung zur teilnehmenden Beobachtung, sowie bei Brinkmann et al. (2015) weiterführende Gedanken. Eine Untersuchung von Agostini (2016) bezüglich eines neuen Verständnisses von Lernen beschäftigt sich, genannte Autoren aufgreifend, mit der „teilnehmenden Erfahrung“ als einzelner Methode sowie darüber hinaus in Abgrenzung zur Methode der teilnehmenden Beobachtung. Auch im Rahmen der Arbeit mit phänomenologisch orientierten Vignetten der Innsbrucker Vignettenforschung (s. IV.1.3) spielt die „teilnehmende Erfahrung“ eine Rolle in Bezug auf das Lernen. Ähnlich wie bei Beekman begleiten Forschende hierbei Schülerinnen und Schüler über einen längeren Zeitraum und versuchen so, deren Erfahrungen nachzuvollziehen. Die Methode der „Teilnehmenden Erfahrung“ bei Ton Beekman Ein essentieller Gedanke der „teilnehmenden Erfahrung“ ist, dass Forschende im Untersuchungsfeld immer als ganze Menschen anwesend sind und insofern nicht losgelöst von ihren Leiberfahrungen124 gedacht werden können. Der Aspekt des Leibes und der Leiberfahrungen ist für die Beschreibung der „teilnehmenden Erfahrung“ essentiell: Diese ist gebunden an ein Verstricktsein der Untersuchenden in einen Untersuchungsgegenstand und dessen Mit-erfahren als ein Ansprechen von etwas für jemanden (vgl. Agostini, 2016, S. 54). Forschende werden als Personen somit sehr stark in den Untersuchungsprozess einbezogen. Sie lassen hierbei als „leibliche Beteiligte die Atmosphäre sowie die Gestimmtheit der Situation unmittelbar auf sich übergreifen, wobei die pathische Struktur sinnlicher Wahrnehmung darin besteht, dass sie etwas affiziert, stimuliert, anzieht oder abstößt.“ (ebd., S. 49) Voraussetzung hierfür ist eine grundsätzliche Offenheit und Empfänglichkeit seitens der Forschenden. Erst dann ist eine gemeinsame Anwesenheit mit den Kindern zusammen möglich, erst dann entsteht eine „geteilte Welt“ (Beekman, 1984, S. 13). Es ist ein leibliches Respondieren, ein Nachhallen im eigenen Körper und damit einhergehend ein Nachspüren, Mit-hören und Mit-empfinden (vgl. Baur & Schratz, 2015, S. 165). Diese beschriebene spezifische Anwesenheit der Forschenden ist nach Beekman, gemäß philosophischer Auffassung, zunächst präreflexiv und damit notwendige Voraussetzung eines Menschen (vgl. ebd., 1984, S. 17). Weiter führt er aus: „Sie liegt vor jeder Spezifikation dieser Anwesenheit z.B. als – auch! – reflexiver. Reflexion ist nur ein Teilaspekt unseres Selbst. Anders gesagt: die prä-reflexive Anwesenheit ist umfassender als unsere reflexive.“ (ebd.) Die Haltung der Untersuchenden sollte hierbei weder neutral noch distanziert sein, sondern: Als teilnehmende Erfahrende sind die Forschenden stets umfassend im Untersuchungsfeld anwesend (vgl. Agostini, 2016, S. 49).125 Beekman spricht diesbezüglich von einer „lebendigen Erfahrung“ (Beekman, 1984, S. 17): „Als Anwesender erfährt man unmittelbar die Stimmung, die Gestimmtheit der Situation, das Pathische des Umgangs als ständig tragenden Grund jeder Interaktion. Damit meinen wir, dass es im Erfahrenen der Welt nicht nur ‚das Was des

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Zum Begriff des Leibes s. II.2.2 (Fußnote) und Glossar. Im Rahmen seiner „Aisthetischen Feldforschung“ als empirische Atmosphärenforschung betont auch Rauh (2012) das zwingende Involviertsein der Forschenden im Feld und gleichzeitig die „spezifischen Leiblichkeit“ im Wahrnehmungsprozess (vgl. ebd., S. 225 ff.): „Die Spezifizierung der Feldforschung als eine ‚aisthetische‘ soll ausdrücklich das Involviertsein des Untersuchenden in das von ihm thematisierte Wahrnehmungsfeld unterstreichen und auf die phänomenbezogene, qualitative Ausrichtung der empirischen Forschung hindeuten.“ (ebd., S. 226)

IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten

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gegenständlich Gegebenen‘ gibt, sondern – unlösbar damit verbunden – auch immer ‚das Wie des Gegebenseins‘ (Straus 1966, 151); die Welt ergreift uns, mutet uns auf eine bestimmte Art an. Man könnte davon sprechen, dass die Welt immer eine bestimmte Atmosphäre ausstrahlt, so wie wir, wenn wir einem Menschen begegnen, zuerst bevor wir ihn genauer kennen, schon einen Eindruck von ihm haben.“ (Beekman, 1984, S. 17)126 Diese präreflexive Form der leiblich-sinnlichen Anwesenheit kann als etwas Ursprüngliches angesehen werden, das deswegen der begrifflichen Erkenntnis nur schwer zugänglich ist, da „es selbst die unmittelbare – gegenwärtige, sinnlich-anschauliche, noch vorbegriffliche Kommunikation ist, die wir mit den Erscheinungen haben.“ (Straus, 1966; zitiert nach Beekman, 1984, S. 18) In diesen Grundgedanken wurzelnd charakterisiert Beekman die Untersuchung der „teilnehmenden Erfahrung“ im Allgemeinen mit folgenden Schlüsselbegriffen: kontextuell-hermeneutisch-longitudinal, kritisch-dialogisch und von einem praktischen Interesse an Verbesserung geleitet (vgl. Beekman, 1984, S. 22).127 Darauf basierend ergeben sich weiterführend elf Punkte, die die Untersuchungspraxis hinsichtlich folgender übergeordneter Aspekte beschreiben: Methodische Zu- und Vorgangsweisen, Ziele und Ergebnisse, mögliche Hilfsmittel, Untersuchungsfeld, die besondere Situation der Untersuchenden sowie deren innere Haltung und Fähigkeiten. Zunächst nennt Beekman (1) die Feldsensibilität: Forschende müssen mit dem Feld vertraut sein und sich dort „zu Hause“ fühlen (vgl. ebd., S. 18). Des Weiteren benötigen die Untersuchenden zugleich eine bestimmte Art von (2) Mitteilungsfähigkeit, müssen sie „gute Erzähler“ sein (vgl. ebd.). Diese Fähigkeit ist notwendig, um Beschreibungen „zum Sprechen zu bringen“, das Gespürte nachvollziehbar zu machen. Gerade beim Schreiben der aus der „teilnehmenden Erfahrung“ resultierenden Vignetten, wie sie in der vorliegenden Untersuchung verwendet werden, ist dieser Punkt von großer Bedeutung (vgl. Agostini, 2016, S. 50). Als weiteren Punkt nennt Beekman (3) das Engagement. Er bezieht sich damit auf die Rolle der Forschenden nicht nur als Beobachtende, sondern, für ein umfassenderes Verständnis, auch auf deren Rolle als Teilnehmende oder Handelnde (vgl. Beekman, 1984, S. 18). Als solche treten sie in Erscheinung und lassen sich von der (4) inneren Dynamik des Feldes führen (vgl. Agostini, 2016, S. 50). Mit der inneren Dynamik des Feldes ist ein weiterer Punkt benannt. Als Teil dieser Dynamik müssen Forschende darauf achten, wesentliche Momente nicht zu verpassen. Auch sollte deren Aufspüren nicht dem Zufall überlassen werden, weshalb Beekman empfiehlt, in möglichst vielen verschiedenen Situationen anwesend zu sein (vgl. Beekman, 1984, S. 21). Ein aktives Eingreifen ist hierbei möglich, jedoch unter Beachtung der eigenen Position innerhalb des Untersuchungsfeldes (vgl. ebd.). Dieser Aspekt hängt zusammen mit Punkt (5) der „Situation“ der Forschenden128 im Untersuchungsfeld: Diese sollte gut gewählt sein, um wie selbstverständlich in die „Landschaft“ zu passen (vgl. ebd., S. 19). Im Hinblick auf das Untersuchungsfeld ist weiter eine (6) sorgfältige Vorarbeit vor allem bezüglich Terrain-Kenntnis und Feld-Vertrautheit von Bedeutung. Beekman nennt hierbei aus eigener, direkter Erfahrung gewonnene Vertrautheit sowie aus einschlägiger Literatur angeeignete Vorkenntnisse bezüglich des Untersuchungsfeldes als unersetzliche Vorbedingungen (vgl. Beekman, 1984, S. 19). Diese Vorarbeit ist nicht ungefährlich, da der Punkt (7) des Offenhaltens weiterhin aufrechterhalten werden muss. Es ist der „Charakter eines Sich-selbst-beständig-Korrigierens und –Öffnens für das, was sich uns in der Welt darbietet“ (ebd., S. 20). Dies ist gebunden an ein Ablegen von Vorurteilen und Vorverständ-

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Dies vergleicht Beekman (1984) mit einem Gedicht, bei dem, obwohl beide Seiten nicht voneinander trennbar sind, das Expressive, die Intonation, oftmals bedeutsamer sind als der Inhalt (vgl. ebd., S. 17). Die Kontextualität als Selbstverständlichkeit des täglichen Lebens ist bei ihm in diesem Fall sowohl personal als auch sozial sowie kulturell. Weiter macht die genannte Kontextualität jede Interpretation – „als Teile eines dynamischen Ganzen“ (Beekman, 1984, S. 22) – notwendigerweise hermeneutisch. Der Schlüsselbegriff longitudinal hebt des Weiteren das Subjekt, in diesem Fall vor allen Dingen das Kind, als für die Untersuchung im Vordergrund stehend hervor (vgl. ebd. S. 23). Daran geknüpft liegt der Untersuchung im Hinblick auf ein besseres pädagogisches Verständnis eine praktische und kinderfreundliche Absicht zugrunde (vgl. ebd. S. 24). Die in der Untersuchung enthaltenen Deskriptionen entspringen einer normativen, wertorientierten, jedoch keiner deduktiven Herangehensweise. Gebunden an das grundlegende Prinzip der Offenheit steht diese Herangehensweise somit im Zusammenhang mit einem ständigen und kritischen Dialog, in dem Korrekturen und Belehrungen sowie eigene Wertungen Teil des Ganzen sind (vgl. ebd.). Beekman bezeichnet dies mit dem Begriff der „anthropologischen Reflexion“ (ebd.). Gemeint ist hierbei – in soziologischer Terminologie gesprochen – die „Rolle“ der Forschenden im Feld (vgl. Beekman, 1984, S. 19).

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IV Durchführung der Untersuchung

nissen und damit zusammenhängend an ein Fremdwerden der Erfahrung, um Neues ins Blickfeld geraten zu lassen (vgl. Agostini, 2016, S. 49). Jedoch gehen Forschende, so formuliert es Beekman, selbstverständlich naturgemäß nicht ungeschrieben ins Feld: „Schlicht ausgedrückt wir sind selber da, nur so begegnen wir den wirklichen anderen.“ (Beekman, 1984 S. 20) Ein weiterer Punkt ist schließlich der bereits angesprochene (8) Austausch mit den Beteiligten der Untersuchung auch außerhalb der Untersuchungssituation. Es wurde bereits die angestrebte Nachvollziehbarkeit hinsichtlich der angefertigten Beschreibungen erwähnt. Um diese zu erreichen, ist ein stetiger Austausch nötig mit denjenigen, an die sich die Berichterstattungen richten (vgl. ebd., S. 21). Die Beschreibungen zielen des Weiteren auch auf ein Wiedererkennen analoger Situationen. Beekman verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Transsituationalität“ (ebd.) und formuliert weiterführend: „Empirische Generalisierbarkeit erreichen wir […] auf diese Weise nicht. Weder sind uns Voraussagen möglich, noch handelt es sich um stets Wiederholbares und Gleichförmiges.“ (ebd.) Es sind Einzelfälle, Einmaliges. Aber: „Jeder von uns, der mit Kindern lebt und spricht, wird Vergleichbares erleben. Das alles hat seine Konsequenzen in der Berichterstattung. Man kann nie alles aufschreiben. Auswahl ist Teil der Analyse und Interpretation. In unserer Berichterstattung sind Selektionskriterien die Wiedererkennbarkeit der Situation nebst unserem Interesse an der Raumgestaltung. Wissenschaft ist reflexive Selektion des anfänglich Präreflexiven.“ (ebd., S. 21/22) Die Entscheidung dessen, was hierbei als Auswahl niedergeschrieben werden soll, orientiert sich an kontextspezifischen Elementen bezüglich einer Gewährleistung des Wiedererkennungswertes sowie am Forschungsinteresse (vgl. Agostini, 2016, S. 51). Diese Wahl ist hierbei bereits sowohl Festlegung als auch Auswahl, Unterscheidung (Analyse) und Zusammenführung (vgl. Beekman, 1984, S. 22), wodurch mit einer (9) Analyse zugleich auch eine Interpretation einhergeht und umgekehrt. Diese Wahl stellt eine in die Zukunft geöffnete und in sich nicht abgeschlossene Interpretation dar (vgl. ebd.): „Ergebnisse sind nicht endgültig, auch wenn man selbst den Eindruck hat, dass man jetzt etwas versteht, was man vorher nicht verstanden hat. Die Untersuchung ist nie wirklich abgeschlossen. Immer wieder ist die Interpretation durch neue Analyse zu korrigieren und zu ergänzen […].“ (ebd.) Abschließend können noch die beiden Punkte (10) Anthropologische Reflexion im Sinne eines ständigen und kritischen Dialogs (s. Fußnote S. 61) sowie, als mögliche Hilfestellung und Reflexionsebene, Beekmans Verweis auf die Führung eines (11) Logbuchs genannt werden (vgl. ebd. S. 20). Auch der Begriff der Haltung soll noch einmal aufgegriffen werden: Neben einer grundsätzlichen Haltung der Offenheit und Empfänglichkeit appelliert Beekman des Weiteren an eine positive innere Einstellung der Untersuchenden: „Wer in die Kindertagesstätte geht und die Kinder nicht gern hat, ist mit seiner Untersuchung fehl am Platz.“ (ebd., S. 18) „Teilnehmende Erfahrung“ – Teilnehmende Beobachtung In seinen Ausführungen über die „teilnehmende Erfahrung“, so formuliert es Stieve (2010), setzt sich Beekman bewusst von dem Begriff der teilnehmenden Beobachtung ab, um das eigene, präreflexive Verstricktsein der Forschenden hervorzuheben (vgl. ebd. S. 41). Eine konkretisierte Abgrenzung zur teilnehmenden Beobachtung ist von Beekman selbst nicht zu finden. Diese kann somit nur nachträglich und unter Einbezug von Sekundärliteratur vorgenommen werden, wobei auch hier die Unterscheidung teilweise nicht ganz klar ist. Es bleibt fraglich, ob eine inhaltlich scharfe Abgrenzung überhaupt möglich beziehungsweise von Beekman gewollt ist oder ob es ihm mit der Benennung seiner Methode schlichtweg und von anderen Methoden unabhängig um das Hervorheben der umfassenden, leiblichen und gleichzeitig körperlichen Anwesenheit der Forschenden und somit die Nähe zum Untersuchungsgegenstand durch den Begriff der Erfahrung als besonderes Merkmal geht. Beiden Ansätzen gemein ist das Eintauchen in das Untersuchungsfeld und dadurch, je nach Ausprägungsgrad, auch eine Einflussnahme auf die jeweilige Situation (vgl. Agostini, 2016, S. 52) sowie eine möglichst große Nähe zum Untersuchungsgegenstand (vgl. Mayring, 2002, S. 80/81). Eine klare Unterscheidung kann jedoch vorgenommen werden in Bezug auf die Traditionslinien, denen die beiden Methoden jeweils entspringen sowie in Bezug auf das Ziel ihrer Anwendung. Beide Methoden gründen auf unterschiedlichen theoretischen Ansätzen beziehungsweise sind verknüpft mit unterschiedlichen Ein-

IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten

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satzbereichen: Im Unterschied zur phänomenologisch ausgerichteten Methode der „teilnehmenden Erfahrung“ entspringt die teilnehmende Beobachtung den Gebieten der Ethnologie beziehungsweise der (Kultur-)Anthropologie (vgl. Lüders, 2010, S. 384 ff.). Bei diesen Ansätzen stehen, im Gegensatz zur „teilnehmenden Erfahrung“, vor allem die kulturelle Bedeutung und die Rekonstruktion sozialer Prozesse (vgl. Agostini, 2016, S. 52), Systeme und Situationen im Vordergrund (vgl. Lamnek, 2010, S. 498 ff.). Die „teilnehmende Erfahrung“ hingegen strebt keine Rekonstruktionen an, sondern das exemplarische Aufzeigen von etwas, das in leiblicher Responsivität Angesprochener in deren Bewusstsein und Handeln auf die Zukunft gerichtet ist. Agostini (2016) sieht eine weitere Unterscheidung beider Ansätze darüber hinaus bereits in den Begrifflichkeiten: „Während man […] bei der teilnehmenden Beobachtung beobachtend verfährt – was eine distanzierte Haltung bzw. einen distanzierten Blick der künstlichen Fremdheit zum Beobachteten impliziert (vgl. Hischauer & Amann, 1997, 12) –, spricht man aufgrund der Ansicht, dass es sich bei den teilnehmenden Erfahrenden um leibliche Wesen handelt, vielmehr von einem vorreflexivem Verstricktsein mit den Gegenständen des Interesses und beschreibt sich selbst damit als mit-erfahrend.“ (ebd., S. 54) Damit zusammenhängend nennt sie aus den beiden Traditionslinien resultierende Unterschiede bezüglich der Haltung und der Subjektivität der Forschenden beziehungsweise eines allgemeinen Subjektverständnisses: So „verbirgt sich hinter einer ethnographischen Herangehensweise ein der neuzeitlichen Tradition verpflichtetes Subjektverständnis, welches das souveräne Subjekt als Ausgangspunkt der Welt-Konstitution ansieht und sich somit auf konstruktivistische Denkweisen bezieht, wohingegen die Phänomenologie von einem leiblich-situierten, nicht autonomen, jedoch in der Welt verankerten, pathischen Wesen spricht, das sich affizieren lässt sowie aufgrund der Mehrdeutigkeiten der Erfahrung oftmals auch ein Verwirrtes ist.“ (Agostini, 2016, S. 52) Kritisch angemerkt werden kann jedoch, dass sich der Aspekt des leiblichen Verstricktseins, wie ihn Agostini der „teilnehmenden Erfahrung“ zuordnet, in einem aktuellen Text von Gugutzer (2017) auch im Zusammenhang mit der „enaktiven Ethnografie“ als Methode soziologischer Rekonstruktion finden lässt und damit ein Subjektverständnis benannt wird, das ebenfalls mit der Leiblichkeit – jedoch im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung – im Zusammenhang steht. Bezugnehmend auf Wacquant beschreibt Gugutzer diese Methode als „umfassende Feldforschung, in deren Zuge die [sic] Forscher das zu untersuchende Phänomen (beziehungsweise einige Elemente davon) selbst durchlebt, Schicht für Schicht dessen unsichtbare Eigenschaften freilegt und die hier wirkenden Mechanismen untersucht [haben]“ (Wacquant, 2015; zitiert nach Gugutzer, 2017, S. 383). Weiter schreibt er: „Die enaktive Ethnografie ist mit anderen Worten eine Forschungsmethode, die zu soziologischen Erkenntnissen gelangt, indem die Forscherin mit Haut und Haar in das Forschungsfeld involviert ist, mit Fleisch und Blut das sie interessierende wissenschaftliche Phänomen erlebt, spürt, in sich aufsaugt und bearbeitet […].“ (Gugutzer, 2017, S. 383) Hierbei bezieht sich Gugutzer auf Wacquant, der die volle Ausschöpfung der Potenziale der Ethnografie gerade darin sieht, die Tatsache anzuerkennen und methodisch umzusetzen, „dass [die Feldforschende/der Feldforschende], wie jedes handelnde Subjekt, den Untersuchungsgegenstand körperlich129 erfährt. […] Das heißt, wir können und sollten daran arbeiten, in der Praxis unserer Feldforschung zu ‚verwundbaren Beobachter_innen‘ zu werden“ (Wacquant, 2014, S. 97/98) – jedoch weiter mit Intention und Methode, denn: „[…] die leichtfertige Hingabe würde dazu führen, dass wir im bodenlosen Strudel der Subjektivität ertrinken.“ (ebd.) Es wird deutlich, dass eine Abgrenzung beider Methoden in vielen Punkten nicht trennscharf ist, sich beide in vielerlei Hinsicht sogar stark überschneiden. Als einander ergänzende Impulse beinhalten sie jedoch ein Potenzial für die wissenschaftliche Forschungsarbeit, gerade durch ihre jeweiligen Ziele und Absichten sowie durch ihre Betonung bestimmter Aspekte. „Teilnehmende Erfahrung“: „Methode“ nach Ton Beekman (1984) im Kontext phänomenologischer Forschung. Hervorhebung eines vorreflexiven/leiblichen und umfassenden Verstricktseins seitens der Forschenden im Untersuchungsfeld. Vs. Teilnehmende Beobachtung: Trennscharfe Unterscheidung 129

Wacquant trennt hierbei begrifflich nicht zwischen körperlich und leiblich. Da er von körperlichem Erfahren spricht, ist davon auszugehen, dass dies das Leibliche beinhaltet. Die Annahme entsteht auch im Hinblick auf den gesamten Text, wenn er davon spricht, Forschende müssen „mit Haut und Haar“ involviert sein und „mit Fleisch und Blut“ das Geschehen erleben (vgl. hierzu Waquant, 2014).

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IV Durchführung der Untersuchung

ist kaum möglich; Überschneidungen: Beide betonen z.B. die Bedeutsamkeit der Nähe zum Untersuchungsgegenstand, Abgrenzung: z.B. durch die jeweiligen Traditionslinien und deren Inhalte (jedoch: Auch in der ethnographischen Forschung findet sich verstärkt die Betonung des Einbezugs des Forscherleibs.). IV.1.2 Das Erkenntnispotenzial von Leib und Körper Ergänzend zum vorigen Abschnitt soll der Blick noch einmal auf eine der soziologischen Forschungsmethodik entspringende aktuelle Sichtweise gelenkt werden, die bereits mit Wacquant und Gugutzer angeklungen ist. Es handelt sich hierbei um eine für die vorliegende Untersuchung insofern relevante Sichtweise, weil sie zum einen den Aspekt des leiblichen Verstricktseins betont und zugleich aber auch, stärker als bei Beekman, die Bedeutsamkeit des Rationalen unterstreicht und damit die Verbindung von Leib und Körper hinsichtlich der Erkenntnisgewinnung noch einmal stärker hervorhebt. Den Körper nicht nur als Untersuchungsgegenstand anzusehen, sondern auch als Subjekt der Erkenntnisgewinnung, findet sich unter anderem bei Gugutzer (2017). Er sieht hierbei „in der Subjektivität des Leiblichen und Körperlichen ein bedeutendes Erkenntnispotenzial“ (ebd., S. 381), wodurch er sich gegen das traditionelle Wissenschaftsbild der Soziologie stellt, welche wissenschaftliche Erkenntnis als „Ergebnis einer bloßen Verstandesleistung“ betrachtet, die „mit leiblichen Regungen, Gefühlen, Stimmungen, körperlichen Performanzen etc. nichts zu tun [habe]“ (ebd.). Durch die Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und –objekt würde die Subjektivität der Forschenden aus dem Erkenntnisprozess des Weiteren ausgeklammert. Selten läge der Fokus eben auf der „Interaktion zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt und am wenigsten auf [dem] erkennende[n] Subjekt“ (ebd.). Dem gegenüber formuliert Gugutzer: Leib und Körper sind „nicht nur soziologische Forschungsobjekte […], worauf sich die Körpersoziologie hauptsächlich konzentriert, sondern gleichermaßen Forschungssubjekte. Ist der Forscherkörper dabei vorrangig ein Erkenntnisinstrument, das bewusst oder unbewusst zur Wissensgenerierung eingesetzt wird, so ist der Forscherleib primär eine Erkenntnisquelle, aus der geschöpft werden kann, sofern den spürbaren Empfindungen im Forschungsalltag, insbesondere den leiblich-affektiven Differenzerfahrungen, Aufmerksamkeit geschenkt und Bedeutung beigemessen wird.“ (ebd., S. 390) Hintergründe dieser Aussage stehen im Zusammenhang mit ethnografischen und phänomenologischen Begründungen, wie man sie diesbezüglich etwa bei Wacquant (2014), Hermann Schmitz (1990) oder Guido Rappe (2012) findet. Schmitz beispielsweise betrachtet Forschen als Situation, und Gugutzer Forschen im genannten Sinne als ein Geschehen „voller leiblich-aktiver Momente“ (Schmitz, 1990; nach Gugutzer, 2017, S. 384 und vgl. ebd.). Das bedeutet, leiblich-affektive Merkmale wie zum Beispiel Hunger, Angst, Müdigkeit oder Unsicherheit, sprich das „leiblich-affektive Sich-Befinden des Forschungssubjekts in der Forschungssituation“, nimmt auf irgendeine Weise Einfluss auf den Erkenntnisprozess und muss so notwendigerweise mitgedacht werden (Gugutzer, 2017, S. 385). Selbst beim „einsamen Denken, Lesen und Schreiben“ (ebd., S. 388) liegt dabei im Leib ein Erkenntnispotenzial. Essentiell im Hinblick auf den Forschungsprozess ist nun, zum einen die Leiblichkeit als „Erkenntnisquelle“, aus der zumeist unreflektiert geschöpft wird (Abraham 2002; nach Gugutzer, 2017, S. 385), mit einzubeziehen sowie zum anderen jedoch nicht dabei stehen zu bleiben. Denn: Um Erkenntnis verwirklichen zu können, bedarf es auch noch etwas an Rationalem, einer Reflexion hinsichtlich des Gespürten (vgl. Gugutzer, 2017, S. 385), einem „spürenden Verstehen“ (ebd., S. 387), wodurch sich möglicherweise keine komplett neuen Erkenntnisse, jedoch sicher „erweiternde […] Perspektive[n]“ (Demmer, 2016; zitiert nach Gugutzer, 2017, S. 387) ergeben. Der Forscherleib ist somit „eine wichtige Ergänzung zum dominanten rationalen Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion“ (Gugutzer, 2017, S. 390/391). Zur jeweiligen Ergänzung sowie zur Erweiterung der Perspektiven fungieren sowohl der Forscherleib als auch der Forscherkörper als essentielle Instrumente zur Erkenntnisgewinnung.

IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten

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IV.1.3 Exemplarische Deskription: Beispiele geben und nachvollziehen Der Begriff der „exemplarischen Deskription“ beziehungsweise des „Beispiels“ stellt im Kontext der Phänomenologie ein Verfahren dar, das unter anderem in pädagogischen Forschungen häufig als Methode der Präsentation eines Allgemeinen im Besonderen (vgl. Lippitz, 1984, S. 116) vorzufinden ist. Ziel der exemplarischen Deskription ist keine Definition, ist nicht die Präsentation der Wahrheit beziehungsweise ein jederzeit und an jedem Ort umsetzbares Ergebnis. Vielmehr sind die Beispiele als Deutungsvorschläge für Erfahrungen zu verstehen, die sich erst in ihrer praktischen Anwendung als eine Art Kompass und möglicherweise auch als eine Erfahrungsregel erweisen (vgl. ebd., S. 117). Beispiele fungieren hierbei als das Besondere, das zum Verständnis des Allgemeinen führt (vgl. Buck, 1989, S. 156). Das Allgemeine ist also nur im Besonderen fassbar (vgl. ebd.). Beispiele verweisen hierbei jedoch nicht auf ein eigenständiges Allgemeines, „sondern auf weitere Beispiele, durch deren Familienähnlichkeit das Gemeinsame gesichert wird.“ (Meyer-Drawe, 2012a, S. 15) Eigene Erfahrungen und Erlebnisse aus der Situation heraus werden zum Anlass genommen, um, von ihnen ausgehend, wesentliche Merkmale aufzuzeigen beziehungsweise zu erhellen. Dies macht die Deskription exemplarisch (vgl. Lippitz, 1984, S. 116). Subjektivität, jedoch im Sinne eines situierten, nicht auf das Subjekt zentrierten Bewusstseins, ist insofern konstitutiver Bestandteil der Methode (vgl. ebd.). In Form der Beispiele als „exemplarisches Bewusstsein“ schreibt Lippitz: „[…] greife ich die schon geknüpften Fäden vorreflexiven Sinns auf, die mein praktisches Tun und Denken unthematisch durchziehen und die praktisch fortgebildet werden.“ (ebd.) Beispiele können so verstanden werden als „reflexive ‚Zugriffe‘ auf Erfahrungsvollzüge, in denen eine bestimmte Struktur bzw. ein bestimmter Sinn plastisch vor Augen tritt.“ (ebd.) Lippitz betrachtet die exemplarische Deskription als „intersubjektiv prüfbaren Deutungsakt“ (ebd., S. 117). Als weiterer wesentlicher Aspekt ist damit zusammenhängend derjenige des Wiederkennungswerts beziehungsweise der Nachvollziehbarkeit zu nennen: Beispiele, ebenso wie die als Beispiele fungierenden Vignetten (s. IV.1.4 und IV.2.4.2), verweisen auf intersubjektive Erfahrungen, die nachvollzogen werden können (vgl. Agostini, 2016, S. 41). Der Aspekt der Nachvollziehbarkeit, des reflektierten Erkennens, beinhaltet die Möglichkeit, Verknüpfungen zu ähnlichen Situationen und Momenten herzustellen sowie passende Analogien und Bilder aufzufinden (vgl. ebd.). In der Nachvollziehbarkeit der beschriebenen Erfahrungen liegt die Überzeugungskraft von Beispielen (vgl. Lippitz, 1984, S. 17): „Sie weisen über sich hinaus, indem sie auf etwas zurückweisen.“ (Buck, 1989, S. 157) Es wird bei den Lesenden etwas angesprochen, das bereits präreflexiv vorhanden ist und wodurch ein Verstehen des Beispiels, ein Bewusstmachen und ein Selbstentdecken miteinhergeht (vgl. ebd., S. 159).130 Voraussetzung ist beim Beispielgeben und –verstehen also eine gewisse Vertrautheit, ein Vorverständnis hinsichtlich der Erfahrungsvollzüge (vgl. Brinkmann, 2010, S. 11). Ähnlich wie bei Agostini (2016) können, um Kapitel IV.2 bereits etwas vorzugreifen, auch für die vorliegende Untersuchung vor allen Dingen drei Aspekte hervorgehoben werden, die die Relevanz des Beispiels betonen (vgl. hierzu ebd., S. 43): (1) Zur erzielten Entwicklung eines Lehrkonzeptes wird das Allgemeine im Konkreten, in diesem Fall in „atmosphärischen Momenten“ (s. Glossar), aufgesucht. (2) Aufgrund der Intersubjektivität können Erfahrungen im Sinne einer Nachvollziehbarkeit erfahrbar sowie (3) bezüglich des Aspekts der Reflexivität auch lehr- und lernbar gemacht werden. Im Rahmen der exemplarischen Deskription wird in Form von Beispielen das Allgemeine im Besonderen präsentiert. Die Beispiele fungieren hierbei als Auf- und über sich Hinausweisendes und stehen im Zusammenhang mit den Aspekten der Wiederkennung und der Nachvollziehbarkeit.

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Bezugnehmend auf Buck (1967) formuliert Hilt (2015) ähnlich: „Beispiele werden zu exemplarischen Erfahrungen, insofern an ihnen intuitiv ein bislang latentes Vorverständnis manifest wird, das nur an Beispielen, mit denen etwas zur Aufmerksamkeit kommt, konkretisiert werden kann.“ (Hilt, 2015, S. 281) In diesem intuitiven Nachvollzug erschließt sich der Sinn eines Beispiels (vgl. Brinkmann, 2010, S. 11).

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IV Durchführung der Untersuchung

IV.1.4 Phänomenologisch orientierte Vignetten Der Begriff der Vignette Die Bedeutung des Wortes „Vignette“ leitet sich ab von französisch vigne, dt. Weinrebe, und lässt sich somit mit „Weinrebchen“ übersetzen (vgl. Meyer-Drawe, 2012a, S. 11) übersetzen. Vignetten kennzeichnen beispielsweise auf einer Weinflasche die Rebsorte. Des Weiteren findet der Begriff Anwendung als Bezeichnung für Verzierungen am Anfang oder Ende eines Buches oder als ästhetische Stilmittel in der Bibel (vgl. ebd., S. 11/12 und Robert, 1993). Auch im Straßenverkehr findet der Begriff Verwendung für Mautplaketten. Im Rahmen der empirischen Sozialforschung sind Vignetten sowohl im quantitativen als auch im qualitativen Bereich anzutreffen. Einzig hinsichtlich ihrer kurzen und prägnanten Form sowie bestimmter inhaltlicher Charakterisierungen – etwas „Entscheidendes, Einschneidendes, zuweilen Prekäres“ (Meyer-Drawe, 2012a, S. 12) wird fokussiert und dargestellt – enthält die Vignette in beiden Bereichen ähnliche Merkmale. Im Allgemeinen ergeben sich jedoch in der Bedeutung des Begriffs Unterschiede: Werden in der quantitativen Sozialforschung, im Sinne eines Experiments, Probanden Situationsbeschreibungen in Form von Vignetten vorgelegt, herrscht in der qualitativen Sozialforschung ein uneinheitliches Verständnis darüber, in welcher Form Vignetten verwendet werden können (vgl. ebd.). Im Allgemeinen werden sie hierbei jedoch weniger als analytisches Instrument eingesetzt, als vielmehr beispielsweise zur Sammlung eigener Gedanken im Sinne eines „Memos“ (Grounded Theory), als eine Art Zitat zum Belegen von Aussagen (vgl. hierzu Erickson, 1986: „narrative Vignetten“; nach Meyer-Drawe, 2012a, S. 13), als Fallbeispiel oder auch als verdichtete Erzählung bezüglich Sinnzusammenhängen des Untersuchungsfeldes (vgl. Schulz, 2010, S. 171). Im Falle der vorliegenden Untersuchung wurde, in Anlehnung an die Innsbrucker Vignettenforschung, mit phänomenologisch orientierten Vignetten gearbeitet. Im Folgenden werden eine kurze Charakterisierung sowie eine Darstellung des Verfassens und der Lektüre dieser Vignettenform vorgenommen. Phänomenologisch orientierte Vignette Phänomenologisch orientierte Vignetten stehen im Zusammenhang mit dem Erfassen und dem Nachvollzug (prä-)reflexiver Erfahrungsmomente. Aus Forscherperspektive ist es hierbei möglich, sich einem Untersuchungsgegenstand sowohl von einer leiblich spürenden als auch von einer beobachtenden Seite zu nähern und zu erforschen. Im Zusammenhang mit Vignetten dieser Art ist allen voran die Innsbrucker Vignettenforschung zu nennen: Von einer Forschergruppe wurden ab 2010 im Bereich der Lehrerbildung und der Lern- und Schulforschung an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck in Zusammenarbeit mit der phänomenologischen Erziehungswissenschaft131 Vignetten als „Klangkörper des Lernens“ (Schratz et al., 2012, S. 17) in Kohärenz zur phänomenologischen Methode der Deskription entwickelt (vgl. Agostini, 2016, S. 40). Ausgehend von dem Gedanken, Lernen als (bildende) Erfahrung zu verstehen (vgl. Schratz et al., 2012, S. 17 ff.; vgl. hierzu auch Meyer-Drawe, 2012b), werden die Vignetten dort als kurze und prägnante Erzählungen im Hinblick auf das Erfassen schulischer Erfahrungsmomente erstellt. Wie „Schnappschüsse“ illustrieren und veranschaulichen sie damit Momente, in denen sich das Lernen verkörpert (Schratz et al., 2012, S. 34 ff.). Durch das Benennen wird das Erfahren als Gegenstand greifbar und Unbekanntes und Überraschendes gerät ins Blickfeld (vgl. ebd., S. 35). Wie im Falle der vorliegenden Untersuchung sind die Vignetten auch bei der Innsbrucker Forschung geknüpft an eine spürende Anwesenheit der Forschenden als leibliche Personen im Feld. Zur Erfassung der Reichhaltigkeit der Erfahrungen der Kinder wurde seitens der Forschenden sowohl gespürt als auch beobachtet (vgl. ebd., S. 34). Ein Mit-hören, Mit-empfinden und ein Nachhallen im eigenen Körper: „Vignetten wurden zum Resonanzraum, in dem sich Lernerfahrungen, in Spuren zumindest, verkörpern, nachklingen und mitschwingen.“ (ebd.) In Struktur und Gehalt ähneln diese Vignetten dem Beispiel (s. IV.1.2): Als „skizzierter Erfahrungsreichtum“ verweisen sie hierbei auf andere Erfahrungen, die von Außenstehenden als bereits bekannte oder selbst durchlebte Erfahrungen intuitiv nachvollzogen werden können (vgl. ebd., S. 38/39).

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Hierbei ist allen voran Käte Meyer-Drawe aus dem Bereich phänomenologisch ausgerichteter Pädagogik zu nennen (vgl. hierzu auch Stieve, 2010, S. 23).

IV.1 Der Untersuchung zugrundeliegende Sichtweisen und Begrifflichkeiten

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Meyer-Drawe bezeichnet Vignetten dieser Art als „sprachliche Gestaltungen konkreter, sinnlicher Erfahrungen“ (Meyer-Drawe & Schwarz, 2015, S. 127). Weiter formuliert sie: „Die Vignette hat eine Genauigkeit eigener Art. Sie ist nicht präzis im Sinne definitorischer Ansprüche. Sie ist prägnant, d.h. trächtig. Sie begrenzt nicht, sondern verführt durch Üppigkeit, welche die bändige Macht der Sprache in Erinnerung hält.“ (ebd., S. 128) Nicht nur verbale Äußerungen werden somit rekonstruiert, sondern eine sinnliche Beteiligung wiedergespiegelt. Vignetten dieser Art sprechen die leibliche Responsivität der Lesenden an, reißen mit (vgl. ebd.): „Wir können etwa die Enttäuschung des zu Unrecht abgekanzelten Schülers empfinden oder uns durch das Strahlen des erfolgreichen anstecken lassen.“ (MeyerDrawe, 2012a, S. 14) Die Absicht der Vignette besteht somit nicht darin, tatsächliche Ereignisse detailgetreu abzubilden und damit etwas quantifizierbar zu machen (Schratz et al., 2012, S. 35), sondern: „Sie ist prägnant in dem Sinne, dass sie das Einprägsame, Eigentümliche, Erfreuliche, Verstörende, Neugierig-Machende eines bestimmten Moments in einer Weise darstellt, welche die Vielschichtigkeit, Fülle und Lebendigkeit solcher Erfahrungen, in Spuren zumindest, erhält. Die Vignette beschreibt nicht, sie behauptet nicht, sie zeigt. In diesem Zeigen wird sie anschaulich und verweist auf eine Fülle, einen Überschuss (MeyerDrawe, 2011), der auch in gelebter Erfahrung enthalten ist […].“ (Schratz et al., 2012, S. 35/36). Das Verfassen von Vignetten Wie bereits deutlich wurde, ergibt sich aus dieser Charakterisierung heraus eine besondere Art des Schreibens der Vignetten. Diesem liegt folgender Leitgedanke zugrunde: „Wir sehen immer mehr, als das, was wir sehen.“ (Waldenfels, 2000; zit. nach Schratz et al., 2012, S. 40). Gerade diesem Mehr wird beim Verfassen der Vignetten nachgegangen. Diesbezüglich geht es beim Schreiben weniger um eine am Maßstab orientierte begriffliche Präzision, als vielmehr um eine besondere Sprachkunst, die durch ihren besonderen Schreibstil die Lesenden zu Miterfahrenden der Untersuchungssituation werden lässt (vgl. Meyer-Drawe, 2012a, S. 14). Hierbei kann die Unterrichtssituation nicht einfach protokolliert, können sprachliche Aussagen nicht einfach rekonstruiert werden (vgl. Meyer-Drawe & Schwarz, 2015, S. 127/128). Es ist vielmehr ein erzählendes, verdichtetes Schreiben132, das phänomenologisch orientierten Vignetten ihren besonderen Charakter verleiht. Schratz et al. (2012) sprechen diesbezüglich von „sprachlichen Stimmungsbildern“: „Wir suchen nach Verben, die den Ton wiedergeben, in dem etwas gesagt wird, und den Klang, in dem es hörbar ist. Wird hier gebrüllt, geflüstert, gemurmelt, gestammelt oder geschwiegen?“ (ebd., S. 37) Aufgeschrieben werden kann hierbei nicht alles, sondern vor allen Dingen das in besonderer Weise Ansprechende, das, was staunen oder wundern lässt, neugierig macht und sich ins Blickfeld der Aufmerksamkeit drängt (vgl. Baur & Schratz, 2015, S. 166). Damit ähneln die Vignetten in ihrem Charakter und Aufbau einer Anekdote oder einer Kurzgeschichte: „Sie sind kurze Texte, aber das Prägende des Moments, Atmosphärisches, die Gestimmtheit der Situation ist dicht, in Fülle, ja, im Überschuss da und damit spürbar und von anderen nachzuvollziehen. In diesem Sinn sind Vignetten trächtig: Sie tragen Spuren des Durchlebten, Erfahrenen, Wahrgenommenen, Gespürten, Gehörten und Mit-Gefühlten in sinnlicher Fülle in sich.“ (Schratz et al., 2012, S. 38) Erfahrungsmomente werden hierbei auf besondere Art eingefangen: „Wir arbeiten den Kern eines solchen Erfahrungsmoments heraus, skizzieren das Geschehen, rahmen die Situation, stellen dar, lassen offen.“ (ebd.) Die Lebendigkeit der Erfahrung muss hierbei erhalten bleiben, „um dem Überschüssigen […] zum Ausdruck zu verhelfen“ (Baur & Schratz, 2015, S. 166). Gelungene Vignetten ergreifen die Lesenden, lassen sie die Lebendigkeit spüren, die Situation nachvollziehen, ohne anwesend gewesen zu sein. Damit haben Vignetten einen „zündenden Effekt“, dann wird bei den Lesenden die leibliche Responsivität angesprochen (vgl. Meyer-Drawe, 2012a, S. 14).

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Zur „dichten Beschreibung“ finden sich Ausführungen u.a. bei Clifford Geertz, unter Bezugnahme auf Gilbert Ryle, von dem dieser Ausdruck stammt und dessen Beispiel eines Augenzwinkerns die „dichte Beschreibung“ verdeutlicht: In einem Fall ist das Zwinkern beschreibbar als Auf- und Abheben des Augenlids, in einem anderen Fall im Sinne einer Mitteilung (vgl. Geertz, 1983, S. 10).

68

IV Durchführung der Untersuchung

Die Vignettenlektüre Die Vignettenlektüre kann in diesem Sinne verstanden werden als eine aufzeigende und enthüllende Geste. Der mögliche Wunsch, Bescheid zu wissen, bleibt hierbei unerfüllt (Schratz et al., 2012, S. 40 und 43). Vielmehr ist es ein offenes, eher auf- als beweisendes Geschehen, ein Hindeuten auf etwas, ein Sehen und Wiedersehen, Fragen und Weiterfragen (vgl. Agostini, 2016, S. 77/78). Vignettenlektüren ähneln somit weniger Festschreibungen als vielmehr Suchbewegungen – beginnend im Angesprochenund Betroffensein der Lesenden (vgl. ebd,. S. 80 und Schratz et. al, 2012, S. 39). Von den Lesenden wird hierbei eine „professionelle“ Haltung verlangt: Eine Lektüre in diesem Sinne „geht fragend an die Erfahrung, hält Offenes aus, ist nachdenklich und innehaltend gestimmt“ (Schratz et. al, 2012, S. 44). Es verbirgt sich darin die Chance, den Unterricht neu zu betrachten (vgl. ebd., S. 45 ff.) – nicht wertend oder deutend jedoch, sondern im Respektieren und im (intuitiven) Nachvollzug der dargestellten Situation (vgl. ebd., S. 38 ff.). Ob hierbei neue Einsichten gewonnen werden, hängt mit der Empfänglichkeit der Lesenden, mit deren Fähigkeit und Bereitschaft der (Selbst-)Reflexion und des Hinterfragens zusammen (vgl. ebd., S. 45 ff.). In dieser Hinsicht wirkt die Vignettenlektüre wie eine Aufforderung und Ermunterung, sich auf eine Spur bringen zu lassen (vgl. Buck, 1989; nach und vgl. Meyer-Drawe, 2012a, S. 15). Das Aufzeigen ermöglicht eine Bewusstmachung und Schärfung der Aufmerksamkeit im Hinblick auf Situationen und Momente, die sonst aufgrund des Verstricktseins innerhalb der Unterrichtspraxis weniger ins Blickfeld geraten können (vgl. Schratz et. al, 2012, S. 46).133 Phänomenologisch orientierte Vignetten: ähneln in Struktur und Gehalt dem Beispiel, spiegeln das atmosphärische „Mehr“ einer Situation wider, nicht Beweisen, sondern Aufzeigen steht im Vordergrund; Verfassen: „sprachliche Stimmungsbilder“ und damit einhergehender besonderer Schreibstil, verdichtete Form; Lektüre: „professionelle Haltung“ wird erwartet, Lektüre erzeugt Bewusstsein im Betroffensein bzw. Nachvollzug und fordert auf zum Weitersuchen. IV.2 Untersuchungsdesign Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit werden in diesem Kapitel der Untersuchungskontext sowie die Methoden in ihrer Anwendung auf die Untersuchung beschrieben. Die Methoden wurden hinsichtlich der Forschungsfrage, der Gegenstandsangemessenheit sowie einer anschließenden didaktischen Aufbereitung gewählt. Die sich daraus ergebende Relevanz der Methoden für die vorliegende Untersuchung wird in den entsprechenden Abschnitten jeweils erläutert. Zusammenfassend bildet die Teilnahme im Untersuchungsfeld und damit zusammenhängend die Arbeit mit den Videoaufnahmen die Grundlage der gesamten Untersuchung. Experteninterviews fungieren des Weiteren zur Ergänzung sowie zur kommunikativen Validierung. Im Sinne einer empirischen Illustration wurde das aufgearbeitete Untersuchungsmaterial in Form von Vignetten (und Fragmenten) zur Darstellung gebracht. IV.2.1 Allgemeine Merkmale: Induktion und Deduktion Der gesamte Untersuchungsprozess kann in folgende Bereiche untergliedert werden: angeeignetes Vorwissen und Vorerfahrungen, Erhebung (und ergänzende Nacherhebung) des Untersuchungsmaterials, Aufbereitung und Verdichtung des Materials, stetiges Reflektieren sowie fortwährender Bezug zur Unterrichtspraxis. Hierbei wurden theoretische Inhalte (bezüglich Atmosphären und Wertung s. II. und III.4) verknüpft mit einem empirischen Vorgehen zur Entwicklung des Konzepts des atmosphärischen Vermögens. Der Untersuchungsablauf ist im Allgemeinen somit als ein Pendeln zwischen Induktion und Deduktion zu verstehen, wobei dem Untersuchungsprozess im Hinblick auf das entwickelte Konzept im Allgemeinen ein induktives Prinzip zugrunde liegt (vgl. hierzu Lamnek, 2010, S. 222 ff.). Weiter konkretisierend kann, mit Weymann (2004) gesprochen, der Untersuchungsvorgang im Sinne eines fortschreitenden Abstraktionsvorgangs ferner als eine Art Spiralbewegung gedacht werden, „bei der jede neue Windung auf der früheren aufbaut, diese variierend und erweiternd.“ (ebd., S. 70) 133

Zur Darstellung verschiedener Methoden zur Vignettenlektüre sowie Anregung zum Selberschreiben vgl. Schratz et al., 2012, S. 51-54.

IV.2 Untersuchungsdesign

69

Der Theorie werden im Rahmen der Untersuchung in ihrer Funktion unterschiedliche Bedeutungen zuteil. Als deduktives Moment fungiert sie zum einen als die Untersuchung stetig „begleitend“, zum Beispiel zur Untermauerung und Objektivierung des empirisch erhobenen Materials, aber auch als „Sehhilfe“ (vgl. Sonntag, 2016, S. 61 ff.). Zum anderen stellt sie ein deduktives Moment dar im Hinblick auf die Bildung der Kategorie Wahrnehmen (s. Tabelle 1). Die Empirie bezieht sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf die Datenerhebung im Feld (u.a. mit Videokameras) sowie diese ergänzende Interviewerhebungen. Des Weiteren kann die Form der Darstellung des Materials als verdichtete Vignetten im Sinne einer empirischen Illustration verstanden werden. Betrachtet man die spiralförmige Bewegung des Untersuchungsprozesses im Sinne einer „lebendigen Beziehung“ (Alheit, 1999, S. 2) von Theorie und Empirie, die „geplante Flexibilität“ (ebd., S. 7) (Vorwissen und Vorannahmen, Offenheit und Flexibilität zugleich) sowie den kreativen Prozess des analytischen Vorgehens innerhalb der Untersuchung (vgl. Corbin, 2003, S. 71), weist die vorliegende Untersuchung methodologische Züge der Grounded Theory134 auf. Ebenso stehen die während des Prozesses entschiedene Beschränkung auf einige wenige Lehrpersonen sowie die Tatsache, dass die Datenerhebung nicht bereits zu Beginn abgeschlossen war, sondern Nacherhebungen und Ergänzungen (in Form der Interviews) selbst auch während des Auswertungsprozesses angestellt wurden, mit diesen Zügen im Zusammenhang (vgl. Alheit, 1999, S. 14; vgl. hierzu auch Corbin, 2003, S. 71 ff.). Die aus der gesamten Untersuchung heraus gebildete Theorie, das Konzept des atmosphärischen Vermögens, kann als materiale Theorie bezeichnet werden, die jedoch zum Beispiel mit der „Ästhetisierung des Lehrberufs“ auch Züge einer formalen Theorie annimmt. Ob sie sich auf die vorgenommene Untersuchung sowie auf die Unterrichtspraxis im Allgemeinen anwenden lässt (und damit eindeutig zur formalen Theorie wird), muss in der Anwendung selbst erprobt werden. Diesbezüglich sind ferner weitere Forschungen notwendig. Untersuchungsfrage: Was beinhaltet ein atmosphärisches Lehrvermögen im Hinblick auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre? Gesucht werden Momente, in denen sich etwas atmosphärisch ereignet, sich etwas aufdrängt, spürbar wird. Darauf bezogen wird eine konkrete Verbalisierung des Atmosphärischen angestrebt im Hinblick auf die Entwicklung eines Konzepts, das das Lehren auf atmosphärischer Ebene im Sinne eines positiven Vermögens begrifflich fasst und inhaltlich darstellt. Datenerhebung: • • •

Teilnahme im Untersuchungsfeld Videoaufnahmen Experteninterviews

Analyse und Aufbereitung der Daten: • • •

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Kategorisierung (Erstellung eines hierarchischen Kategoriensystems) Phänomenologisch orientierte Vignetten (Text und Bild) Interviews in Form eines Berichts

Etwas konkreter könnte man ferner von einer Reflexiven Grounded Theory sprechen. Diese betrachtet die Forscherperson als in die Erkenntnissituation oder den Erkenntnisprozess ganzheitlich involviert. Nicht nur Kognition und Rationalität liegen ihr zugrunde, sondern ebenso Leiblichkeit und damit Empfindung, Emotionalität und Sinnlichkeit (vgl. Breuer et al., 2018, S. 94).

70

IV Durchführung der Untersuchung

IV.2.2 Untersuchungsfeld und Teilnehmende Als Untersuchungsfeld dienten zwei unterschiedliche hessische Schulen. Die Auswahl dieser Schulen stand zum einen im Zusammenhang mit praktischen Überlegungen: der Möglichkeit zur Kontaktherstellung zum Untersuchungsfeld, einer möglichst interessensgeleiteten Teilnahmebereitschaft seitens der Schulen sowie, damit zusammenhängend, der Aussicht auf eine kooperative Zusammenarbeit auch im weiteren Forschungsverlauf. Inhaltlich orientierte sich die Auswahl zum anderen an der Frage nach möglichst umfassenden und vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten hinsichtlich der schulischen Gegebenheiten. Damit zusammenhängend standen folgende Vorüberlegungen: (1) Aus der theoretischen Aussage, dass Atmosphären an etwas und jemanden gebunden sind, resultierte die Annahme, dass durch eine möglichst große Vielfalt potentieller Erzeugender und Wahrnehmender die Möglichkeit der Erfahrung unterschiedlichster Atmosphärenmomente gegeben sein würde. (2) Die Untersuchung sollte deswegen zunächst möglichst offengehalten und nicht vorab durch beispielsweise die Beschränkung auf ein Schulfach eingegrenzt werden. Im Hinblick auf diese Vorüberlegungen wurden ein Gymnasium sowie eine kooperative Gesamtschule, die sich aus den drei Schulzweigen des Haupt-, Real- und Gymnasialbereichs zusammensetzt, ausgewählt. Diese Gesamtschule stellt mit ihrer großen Vielzahl an Lehrenden im Vorbereitungsdienst zugleich auch eine Ausbildungsschule für Schulanwärterinnen und Schulanwärter dar, wodurch ein grundlegendes Interesse bezüglich der Untersuchungsthematik gegeben war. Persönliche Kontakte sowie vergangene eigene Lehrtätigkeiten an der Gesamtschule vereinfachten den Zugang zum Untersuchungsfeld. Mit der Auswahl beider Schulen konnte darüber hinaus dem Aspekt der gewünschten Vielfältigkeit (s.o.) Folge geleistet werden: Die Untersuchungen wurden sowohl im Gymnasial- als auch im Hauptschulbereich, des Weiteren in verschiedenen Klassenstufen135, und damit einhergehend in Kurs- beziehungsweise Klassensystemen, sowie in unterschiedlichen Schulfächern und zu unterschiedlichen Wochentagen und Tageszeiten durchgeführt. Bezüglich der Lehrpersonen wurden sowohl Fach- als auch Klassenlehrerinnen und -lehrer unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten ausgewählt (insgesamt haben elf Lehrpersonen an der Untersuchung teilgenommen). Die Lehrpersonen waren den Untersuchenden teilweise bekannt, was eine kooperative Zusammenarbeit begünstigte. Vermeintliche positive Lehrqualitäten standen bei der Auswahl weniger im Vordergrund, da auch die Wertung einer positiven Unterrichtsatmosphäre nicht allein auf dem empirisch erhobenen Material basieren kann. Im Sinne eines angestrebten verallgemeinerbaren Fassens von Atmosphären waren somit sowohl positive als aber auch negative Beispiele willkommen. Im Hinblick auf die Teilnahme im Untersuchungsfeld wurde in der Untersuchungsvorbereitung die Frage der Beeinflussung der Situation durch die Anwesenheit und die Kameraausstattung der überdies den Schülerinnen und Schülern teilweise bekannten Untersuchenden diskutiert. Es ergaben sich jedoch keinerlei Argumente, die gegen eine Teilnahme und damit verbunden für eine Beeinflussung der Situation sprachen (vielmehr wurde eine Teilnahme im Feld als an die Thematik des Atmosphärenerfahrens gebundene notwendige Konsequenz angesehen). Folgende Grundgedanken hängen damit zusammen: (1) Auch mit der Anwesenheit der Untersuchenden ist eine Unterrichtssituation (wenngleich sie auch eine andere sein mag als sonst) vorhanden, was somit die Erfahrung einer Unterrichtsatmosphäre ermöglicht. Im Zusammenhang damit sollte nach den Unterrichtsstunden dennoch mit den Lehrpersonen kurz die Situation reflektiert werden.136 (2) Die Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler waren es gewohnt, im Unterricht von Außenstehenden beobachtet zu werden. Einigen Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern war darüber hinaus zumindest eine Untersuchende bereits als Hospitantin im eigenen Unterricht oder als Lehrerin bekannt und wurde somit nicht als „Fremdkörper“ angesehen.

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Die Bereiche der an der Untersuchung teilgenommenen Lehrpersonen sind jeweils in den Interviewberichten (s. Anhang) sowie in Tabelle 3 bzw. 4 vermerkt. In den Tabellen finden sich darüber hinaus jeweils auch die Klassenstufen. In den jeweils anschließenden Reflexionen versicherten die Lehrpersonen, dass sich die Unterrichtssituation kaum von anderen unterschieden habe. In manchen der Forscherin aus eigener Unterrichtserfahrung bekannten Klassen konnte dies durch sie bestätigt werden.

IV.2 Untersuchungsdesign

71

Um den Untersuchungsteilnehmenden und auch den Untersuchenden selbst die Möglichkeit zu geben, sich auf die jeweilige Situation einzustellen beziehungsweise einzuspüren, wurden weitestgehend Doppelstunden gewählt.137 Ferner erhielten die Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler im Vorfeld ausschließlich eine kurze Information bezüglich der Thematik (um eine mögliche Beeinflussungsabsicht zu umgehen) sowie den Hinweis, dass keinerlei Wertungen vorgenommen würden und sich alle Beteiligten „normal“ verhalten könnten. Das Untersuchungsteam setzte sich aus drei Personen zusammen. Ihrer Ausbildung nach ist deren fachliches Wissen im Bereich der Musikpädagogik, der Instrumentalpädagogik sowie im Bereich des Lehramts zu verorten. Des Weiteren besaßen die Untersuchenden alle theoretisches Vorwissen bezüglich Böhmes Atmosphärenbegriffs. IV.2.3 Methodische Vorgehensweise und Datenerhebung Bisher gibt es zwar einige Versuche138, jedoch keine ausgearbeitete und konsensfähige Methode, Atmosphären empirisch erfassen zu können (vgl. hierzu Rauh, 2012, S. 206). Die Schwierigkeit, eine solche Methode zu entwickeln, liegt mit Blick auf den fragilen und flüchtigen Charakter von Atmosphären auf der Hand. Rauh (2012) verwendet diesbezüglich die Metaphorik des „Puddingnagelns“: „Die Atmosphäre mag wie ein Pudding erscheinen, etwas Amorphes und Abstraktes, das einem begrifflichen Zugang zu entgleiten droht wie der Pudding dem Nagel.“ (ebd., S. 204).139 Aufgrund dessen, aber auch im Hinblick auf den subjektiven Anteil des Zwischenphänomens und der allgemeinen Komplexität, kann eine qualitativ empirische Atmosphärenforschung nicht auf Repräsentativität, die Erstellung einer Art „Merkmalskatalogs“140 oder die Aufführung von Beweisen zielen (vgl. ebd., S. 206). Vielmehr ist das bereits genannte Ziel die „Exemplarik: Wenn Atmosphären die Wahrnehmung beeinflussen, dann ist es möglich, sie zu exemplifizieren durch Festhalten hervorstechender und scheinbar nebensächlicher Eindrücke, erweitert um ein reflexives Einholen ihrer Wahrnehmungsumgebung als deren Konstituenten, Förderer oder Unterdrücker“ (ebd., S. 209). Die Exemplarik stellt die Atmosphäre im „Hier und Jetzt“ vor, woraus sich dann das Ziel einer Atmosphäre im „Hier und Immer“ sowie weiter im „Immer und Überall“ entwickeln kann (vgl. ebd., S. 210)141. Im Sinne der Aisthetik gilt es also, sich vom quantitativen Sammeln von Mess- und Sinnesdaten zu distanzieren und sich vor allen Dingen der Atmosphärendeskription zuzuwenden (vgl. ebd, S. 209). Zusammenfassend formuliert Rauh: „Perspektive der Atmosphärenforschung ist es […], (exemplarische) Atmosphären nachzuvollziehen statt nachzuprüfen, Aussagen zu bewähren statt zu beweisen.“ (ebd., S. 210). Das folgende empirische Vorgehen ist – begleitet von der Theorie – in diesem Kontext zu sehen und steht damit auch im Zusammenhang zu den beschriebenen grundlegenden Begrifflichkeiten und Sichtweisen in Kapitel IV.1.

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Die Untersuchenden spürten in manchen Fällen, dass sich sowohl Lehrende als auch Lernende während einer Doppelstunde mit der Zeit entspannten und an die Situation gewöhnten. Zum Beispiel die Studie von Jürgen Hasse (2002): „Die Atmosphäre einer Straße. Die Drosselgasse in Rüdesheim am Rhein“ oder Jean-Paul Thibaud (2001): „La méthode des parcours commentés.“ (s. hierzu auch Rauh, 2012, S. 218 ff. und 223 ff.) Diese stehen jedoch eher im Rezeptions- und weniger im Produktionszusammenhang (vgl. ebd., S. 218). Rauh (2012) nennt hierbei weiterführend zwei mögliche Forschungszugangsarten: Gegenstandsfokus (hierbei erhält der Pudding eine dickere Konsistenz und wird damit eher mit Nägeln fassbar) sowie Methodenfokus (dieser richtet den Blick auf die Qualität und Anzahl der zum Festnageln benötigten Nägel) (vgl. ebd., S. 205). Des Weiteren kann der Pudding verspeist, analog dazu die Atmosphäre erfahren werden, wobei beides für einen Forschungsansatz nicht ausreichend wäre. Es ist nicht möglich, einen Katalog im Sinne von „Bewegung A erzeugt Atmosphäre B“ zu erstellen. Weitere Ausführungen hierzu s. Abschnitt III.3.1. Wobei hier fragwürdig bleibt, ob gerade im zwischenmenschlichen Handlungsraum ein absolutes „Immer und Überall“ überhaupt erreicht werden kann.

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IV Durchführung der Untersuchung

IV.2.3.1 Teilnahme im Untersuchungsfeld Die Teilnahme im Feld orientiert sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung methodisch an der teilnehmenden Beobachtung unter besonderer Hervorhebung des Aspekts des leiblichen Spürens. Diesbezüglich wurde die „teilnehmende Erfahrung“ in ihrem Grundgedanken als Impuls aufgefasst, ohne jedoch den Bereich des Rationalen auszuklammern (vgl. hierzu IV.1.1 und IV.1.2).142 Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden im Schulunterrichtskontext Momente gesammelt, in denen die Atmosphäre besonders stark spürbar war. Geleitet wurde dies von folgenden Fragen: Was passiert auf der Wahrnehmungsebene im Hinblick auf das Lehrverhalten? Was drängt sich den Untersuchenden während der Teilnahme im Feld auf? Was macht betroffen, ist atmosphärisch spürbar? Gibt es Momente, in denen sich die Atmosphäre deutlich artikuliert (z.B. durch Veränderung)? Und weiterführend: In welchem Verhältnis kann das Gespürte gesehen werden zum Sicht- beziehungsweise Beobachtbaren? Begründung der Methodenwahl Bezüglich der Methodenwahl der Teilnahme im Feld seien zunächst noch einmal ein paar Grundgedanken aufgegriffen: Atmosphären können erzeugt werden und sie werden durch das leibliche Betroffensein eines anwesenden Subjekts erfahren. Zumindest indirekt und vermutend kann man Atmosphären in ihrem Charakter auch beobachten: Auf einem Fest herrscht augenscheinlich eine fröhliche Stimmung: Die Gäste lächeln, unterhalten sich, sind offensichtlich gut gelaunt. Während einer Sportveranstaltung sind alle Blicke des Publikums gebannt auf die Sportlerinnen und Sportler gerichtet, die Münder leicht geöffnet oder die Arme nach oben gerissen – die Atmosphäre ist vermutlich spannungsgeladen oder gar ausgelassen. All das lässt sich beobachten, jedoch, und das ist der wesentliche Punkt, nicht jedes Subjekt erfährt diese Atmosphäre genau gleich und nicht jedes offensichtliche Indiz verweist auf einen entsprechenden Atmosphärencharakter. In Böhmes Worten formuliert: „Um zu sagen, was sie sind, oder besser: um ihren Charakter zu bestimmen, muss man sich ihnen aussetzen, man muss sie in der eigenen Stimmungslage erfahren. Ohne das empfindende Subjekt sind sie nichts.“ (Böhme, 2014, S. 103) Das bedeutet: Um diesem Grundgedanken gerecht zu werden, muss die methodische Vorgehensweise darauf angelegt sein, die subjektive Seite der Atmosphären miteinzubeziehen: „Eine Methode zur Beschreibung und Erfassung von Atmosphären ist auf das breite Feld einer Wahrnehmung qua Spüren gestellt, auf dem die Atmosphären durch Art, Zusammenspiel und Stimmigkeit von Wahrnehmungen in bestimmten Umgebungen Kontur annehmen.“ (Rauh, 2012, S. 206) Um Atmosphären möglichst genau erfassen zu können beziehungsweise um ihrem Charakter überhaupt erst gerecht zu werden, eignet sich somit zunächst eine Methode der Feldforschung und weiter: einer aisthetischen Feldforschung, in der die Untersuchenden auch bewusst als leiblich spürende Teilnehmende im Feld anwesend sind. So schreibt auch Rauh: „[…] die persönliche Beteiligung an einer Wahrnehmungssituation ist bei der Atmosphärenforschung explizit erwünscht – ohne sie könnten die Empfindungskategorien nicht benannt werden –, und somit besteht der Konflikt nicht, sich möglichst distanziert und neutral verhalten zu sollen, dabei aber die eigene Persönlichkeit nicht ausschließen zu können.“ (ebd., S. 221) Vorgehensweise im Feld Die Untersuchenden waren sechs Tage (Zeitraum: 04.02.-12.02.2016) mit drei Kameras im Untersuchungsfeld anwesend. Durch ein Wechselspiel von Empfänglich- beziehungsweise Offensein, Eintauchen, Spüren, aber auch Beobachten, Reflektieren und Benennen, wurde Atmosphärisches – im Allgemeinen stark Spürbares, „irgendwie“ Auffälliges sowie explizit der wahrgenommene Charakter der Atmosphäre (auch bereits im Zusammenhang mit der Annahme möglicher Erzeugender) – erfahren, be-

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Aufgrund der Tatsache, dass die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Untersuchung zwar gebunden ist an das Erfahren des Untersuchungsgegenstandes, jedoch gerade auch durch die nachträgliche Analyse und Aufbereitung von videobasierten Daten zur Herstellung von Vignetten im Zusammenhang steht mit einem reflektierten Beobachten, könnte die Vorgehensweise auch als „wahrnehmungsgeleitete Beobachtung“ bezeichnet werden: Ihren Ausgangspunkt findet die Beobachtung im Gespürten, ist daran geknüpft und wird hierdurch geleitet: Die im Untersuchungsfeld erspürten Momente werden nachgespürt und analytisch betrachtet.

IV.2 Untersuchungsdesign

73

nannt, gesammelt und (auf vorab angefertigten Schreibvorlagen) notiert. Da es sich um eine frühe Beobachtungsphase handelte, erfüllten die Feldnotizen zum einen die Aufgabe des Sammelns später eventuell wichtiger Informationen und ermöglichten darüber hinaus auch eine bewusstere Form der Wahrnehmung (vgl. hierzu Breidenstein, 2015, S. 86-89). Das Wahrnehmen der Umgebung im Zusammenhang mit dem Gespürten konnte damit dem „Und“ gerecht werden, handelt es sich eben nicht nur um ein rein intuitives und reflexives Sich-selbst-Spüren (vgl. Rauh, 2012, S. 228).143 Die im Vorfeld festgelegten Instruktionen – Gesamteindruck erspüren, mögliche Erzeugende benennen, als bedeutsam Erscheinendes notieren, möglichst „unsichtbar“ erscheinen – dienten vor allen Dingen als Handlungs- und Verhaltensorientierung im Feld. Sie sind im Zusammenhang zu sehen mit einem fortwährenden Offen-Halten im Hinblick auf eine innere Haltung sowie auf einen möglichst flexiblen Umgang mit der Situation und mit dem Untersuchungsgegenstand.144 Im Feld wählten die Untersuchenden ihre „Situation“ (s. IV.1.1) je nach eigenem Gespür und aus dem Moment heraus, weshalb sie sich im Laufe der Untersuchungseinheiten auch ändern konnte: Teilweise wurden die Untersuchenden durch Kommentare der Lehrpersonen oder der Schülerinnen und Schüler einbezogen und ließen sich davon führen. Teilweise versuchten sie sich möglichst „unsichtbar“ zu machen, um den Moment nicht zu stören. Im Allgemeinen wurde die Situation durch die bloße Anwesenheit der Untersuchenden naturgemäß mittangiert. Nach jeder Doppelstunde fand ein kurzer Austausch mit den jeweiligen Lehrpersonen (vereinzelt auch mit Schülerinnen und Schülern) sowie der Untersuchenden untereinander statt. Der Austausch mit den beteiligten, aber auch unbeteiligten Lehrpersonen wurde im weiteren Verlauf der Untersuchung aufrechterhalten. Hierdurch konnten Gedanken und gesammeltes Material kritisch hinterfragt oder ergänzt sowie weiterführende Beobachtungen und Ideen nachgetragen werden. IV.2.3.2 Videoaufnahmen Begründung der Methodenwahl Videoaufnahmen „konservieren“ im Allgemeinen Hör- und Sichtbares und erfassen darüber hinaus das Zusammenspiel von Ereignissen auf beiden Wahrnehmungsebenen (vgl. Dinkelaker, 2009, S. 15). Aus diesem Grund sind Videoaufnahmen im Allgemeinen sehr gut dazu geeignet, tiefe Einblicke in ein Interaktionsgeschehen zu erlangen und werden in der qualitativen Sozialforschung, neben der Methode der teilnehmenden Beobachtung, deshalb häufig im Zusammenhang mit der Interaktionsanalyse verwendet. Hierbei bieten Videoaufnahmen eine große Anzahl an Wahrnehmungsaspekten: „Neben der Rolle von Sprache, Gestik, Mimik sowie Körperhaltung und –formationen wird mit Videoaufzeichnungen ebenso die Rolle von Accessoires, Bekleidung, Prosodie und Geräuschen sowie Setting und sozialer Ökologie für die Interaktionsanalyse greifbar. Diese Elemente können mit Video in ihrem jeweiligen Zusammenspiel (synchron) wie auch in ihrer zeitlichen Abfolge, also diachron, betrachtet werden. […] Videos gestatten die Anfertigung überaus reichhaltiger und detaillierter Aufnahmen sozialer Prozesse.“ (Tuma et al., 2013, S. 31) Wahrnehmungsbereiche, wie beispielsweise Geruchs- und Temperaturwahrnehmungen, können jedoch nicht eingefangen werden, wodurch im Allgemeinen eine methodische Kombination mit der teilnehmenden Beobachtung angebracht ist (vgl. Dinkelaker, 2009, S. 15). Da auch Atmosphären unter letztgenannten Punkt fallen, wird hierbei deutlich, dass die Videokameras im Rahmen der Untersuchung nur als die Teilnahme im Feld begleitend, nicht jedoch als Haupterhebungsinstrument eingesetzt werden können. Die Kameras dienten zunächst dazu, möglichst viele unterschiedliche Situationen einzufangen, die für die spätere Analyse bedeutsam sein könnten. Hierbei fungierten sie als Hilfsinstrument, da die Untersuchenden damit nicht zwingend alles beobachten mussten und sich so freier auf das Spüren innerhalb der aktuellen Unterrichtssituation konzentrieren konnten. 143 144

Denn: als das „Und“ und nicht als „Oder“ muss sowohl die Subjektivität als auch die Umgebung einbezogen werden. Diese Vorgehensweise spiegelt den Grundgedanken der „teilnehmenden Erfahrung“ wider, umfassend und nicht unwissend, jedoch mit einer offenen Haltung, in der Situation anwesend zu sein sowie sich von der inneren Dynamik des Feldes führen zu lassen, um somit der „lebendigen Erfahrung“ (von einem Was und Wie) unmittelbar gerecht zu werden (vgl. hierzu IV.1.1).

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IV Durchführung der Untersuchung

Um eine größtmögliche Chance zu erzielen, wesentliche Momente einzufangen, stellten die Kameras des Weiteren eine wichtige Funktion des „Protokollierens“ im Sinne eines Memorierens dar. Damit zusammenhängend wurde das Erstellen der Videoaufnahmen auch im Hinblick auf die Verarbeitung und Aufbereitung der Daten gewählt, denn: Videos sind jederzeit und immer wieder zugänglich. Von den Erfahrungen aus dem Feld heraus geleitet konnten damit Beobachtungen auch im Nachhinein vorgenommen werden. Dieser Aspekt ist bedeutsam, ermöglicht er doch eine analytische Auseinandersetzungen mit der untersuchten Situation und damit eine allgemeine Steigerung an Beobachtungsmöglichkeiten (vgl. Dinkelaker, 2009, S. 14/15) beziehungsweise ein genaueres Hinsehen sowie ein gesteigertes Bewusstsein hinsichtlich des Gespürten. Die „Konservierung“ ermöglichte ferner auch die spätere Aufbereitung „atmosphärischer Momente“ (s. Glossar) zu Vignetten. Vorgehensweise im Feld Die Untersuchenden waren mit drei Kameras im Feld anwesend. Hierbei wurde den Untersuchenden jeweils eine Kameraperspektive zugeteilt, wodurch sie sich hauptsächlich auf ein Beobachtungsziel konzentrieren konnten. Eine unbewegliche Stativkamera diente zum Einfangen der gesamten Unterrichtssituation. Die beiden anderen Kameras waren perspektivisch zum einen auf die Lehrperson und zum anderen auf die Schülerinnen und Schüler gerichtet. Beide Kameras wurden hierbei flexibel eingesetzt, wodurch bedeutsam erscheinende Momente innerhalb der aktuellen Untersuchungssituation eingefangen werden konnten.145 Um einer allgemeinen Forschungsethik sowie den rechtlichen Grundlagen gerecht zu werden (vgl. hierzu Tuma et al., 2013, S. 67 ff.), wurden neben der Schulleitung sowohl die Lehrpersonen als auch die Schülerinnen und Schüler beziehungsweise deren Erziehungsberechtigte im Vorfeld über die Videoaufnahmen und die zugrundeliegenden Forschungsthematik informiert sowie deren Einverständnis zur freiwilligen Teilnahme schriftlich eingeholt. Manche Schülerinnen und Schüler erteilten ihr Einverständnis, gefilmt zu werden, nicht. Durch entsprechende Platzierungen im Klassenzimmer konnte diesem Wunsch Folge geleistet werden. Neben ethischen und rechtlichen Gründen stand durch den beidseitigen offenen und ehrlichen Umgang auch der Wunsch im Vordergrund, die Untersuchungsarbeit nachhaltig und erfolgversprechend durchführen zu können (vgl. ebd., S. 66). Den ethischen und rechtlichen Richtlinien folgend, wurde das erstellte Datenmaterial nur an in den Forschungsprozess Involvierte, nicht jedoch an Dritte weitergegeben. Im Sinne einer methodischen Triangulation bietet es sich an, Videoaufnahmen mit anderen Instrumenten zur Datenerhebung zu kombinieren (vgl. Dinkelaker, 2009, S. 15). Neben der Teilnahme im Untersuchungsfeld eignen sich vor allen Dingen Interviews zur Erlangung einer größtmöglichen Validität: Den Interviewten werden hierbei, unter anderem im Sinne einer kommunikativen Validierung, ausgewählte Videoausschnitte gezeigt zum Reflektieren und Kommentieren der von den Untersuchenden aufgestellten Interpretationen. Im Folgenden wird dieses Vorgehen genauer erläutert. IV.2.3.3 Experteninterviews Begriffliche Vorüberlegungen Experteninterviews finden in verschiedenen Einsatzbereichen sowohl als eigenständige Methode als auch als Teil eines Triangulationsdesigns Anwendung (vgl. Lamnek, 2010, S. 656). Dem „fundierenden“ Experteninterview kann mit seiner zentralen Funktion somit das „explorative“ Experteninterview gegenübergestellt werden, dem im gesamten Forschungsprozess eine ergänzende Funktion zuteil wird (vgl. Bogner, 2014, S. 22). Im Falle der vorliegenden Untersuchung wurde letztere Form des Interviews angewandt. Je nach Einsatzbereich und Forscherinteresse stehen Experteninterviews im Zusammenhang mit einer sachlichen Informationsgewinnung oder mit einer Reflexion und Rekonstruktion subjektiver Interpretationen und Deutungen im Hinblick auf eine Theoriegenerierung (vgl. Bogner, 2014, S. 22 ff.). Was die 145

Welche Momente als „bedeutsam“ angesehen wurden, lag in der Entscheidung der jeweiligen Untersuchenden.

IV.2 Untersuchungsdesign

75

Bezeichnung „Expertin“ oder „Experte“ bedeutet, ist teilweise diskussionswürdig und nicht ganz unstrittig (vgl. Lamnek, 2010, S. 655). Ist der Experten-Begriff eine gesellschaftliche oder durch die Forschenden vorgenommene Zuschreibung? Was unterscheidet Experten von Spezialisten? Kann nicht jeder Mensch in bestimmten Bereichen als Expertin oder Experte angesehen werden? Bogner (2014) beantwortet diese Fragen mit folgender Definition: „Experten lassen sich als Personen verstehen, die sich – ausgehend von einem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen, das sich auf einen klar begrenzbaren Problemkreis bezieht – die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren.“ (ebd., S. 13) Das Wissen, das Experten besitzen, ist somit nicht auf ein Fach- oder Spezialwissen begrenzt, sondern es steht auch im Zusammenhang mit einer Handlungskompetenz beziehungsweise mit einer praktischen Relevanz: „Das Besondere am Expertenwissen besteht nicht nur in dessen besonderer Reflexivität, Kohärenz oder Gewissheit, sondern auch insbesondere darin, dass dieses Wissen in besonderer Weise praxiswirksam und damit orientierungs- und handlungsleitend für andere Akteure wird.“ (ebd., S. 13/14) Nach Bogner definiert sich die Expertenfrage letztendlich sowohl über das der Forschung zugrunde liegende Interesse als auch zugleich über die Repräsentativität im Gesellschaftlichen und Sozialen, wodurch Experten „Konstrukte“ beider Bereiche sind (vgl. ebd., S. 11). Experteninterviews innerhalb der vorliegenden Untersuchung Für die vorliegende Untersuchung wurden Gespräche mit Ausbildenden von Lehrpersonen im Vorbereitungsdienst, Professorinnen und Professoren der Bereiche Musikpädagogik, Chorleitung, Klavierpädagogik und Musiktherapie geführt sowie in besonderem Maße mit den an der Untersuchung beteiligten Lehrinnen und Lehrern, zu deren Videoaufnahmen Vignetten angefertigt wurden. Die Gespräche dienten zum einen der inhaltlichen und methodischen Ergänzung sowie zur Überprüfung der Praxistauglichkeit des entwickelten Konzepts. In Kohärenz zu Bogners Definitionen können hinsichtlich der Untersuchungsfragen und des Untersuchungsgegenstands alle geführten Gespräche als Expertengespräche angesehen werden, denn: In ihren Professionen besitzen die hier Interviewten jeweils anerkanntes Fachwissen, geknüpft an eine praktische Handlungskompetenz zum Beispiel in Bezug auf ein Wissen über und im Umgang mit Atmosphären oder (Musik)Pädagogik. Im Hinblick auf das Interesse der vorliegenden Untersuchung sind vor allem die Befragungen der Lehrerinnen und Lehrer als Expertinnen und Experten sowie als in den Untersuchungsprozess Involvierte von Bedeutung. Mit deren Befragungen wurden drei Ziele verfolgt: (1) Sammeln von Atmosphärenbeispielen zur Ergänzung der gebildeten Kategorien und zur möglichen Weiterentwicklung des Kategoriensystems, (2) Kommunikative Validierung in Bezug auf gebildete Vignetten und hinsichtlich einzelner Videoausschnitte sowie (3) Überprüfung von Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit des entwickelten Konzepts. Die Interviews dienten somit nicht als primäre Quelle zur Datenerhebung, sondern vielmehr als methodische und inhaltliche Unterstützung, Ergänzung und Überprüfung und damit zur Schaffung einer Mehrperspektivität hinsichtlich des Materials auf verschiedenen Ebenen. Das Wissen, welches im Rahmen dieser Befragungen erhoben wurde, stellt weniger ein Fachwissen dar als vielmehr ein Prozess- beziehungsweise Erfahrungswissen sowie ein Deutungswissen146 seitens der Lehrenden. In der Vergangenheit stattgefundene Prozesse und Ereignisse, die nachträglich nicht mehr beobachtet werden konnten beziehungsweise Situationen, an denen den Untersuchenden durch die zeitliche Limitierung der Untersuchung keine Teilnahme möglich war, konnten hierdurch seitens der Lehrpersonen beschrieben werden (die genannte Mehrperspektivität bezieht sich somit auch auf die zeitliche Dauer). Dies steht im Zusammenhang mit deren reflexiven sowie auch impliziten Wissen: Manches war nicht im Bewusstsein der Lehrpersonen beziehungsweise ihnen fehlten die Begrifflichkeiten, um über etwas zu sprechen, das sie intuitiv bereits taten oder dachten. Die Interviews mit den Lehrpersonen wurden als Leitfadeninterviews geführt. Der Vorteil von Leitfadeninterviews besteht darin, dass Gesprächsführung und Konzentration auf ein bestimmtes Wissen die Interviewten anleiten, jedoch zugleich Freiräume geben für deren Sichtweisen und für Unerwartetes (vgl. Lamnek, 2010, S. 658). Die Interviews wurden in diesem Sinne von der Forscherin angeleitet, 146

Zu den Begriffen „Prozesswissen“ und „Deutungswissen“ s. Bogner, 2014, S. 18/19 und S. 22.

76

IV Durchführung der Untersuchung

nicht jedoch dominiert. Charakteristisch für ein qualitatives Interview fanden weder Fragebögen noch feste Frageschemata Anwendung. Die einzelnen Fragen wurden zielgerichtet und gleichzeitig offen gestellt (z.B. Frage nach weiteren atmosphärischen Momenten aus eigener Unterrichtserfahrung, s. Anhang). Sie wurden frei formuliert und durch spontane Zwischenfragen und eventuelle Hilfestellungen ergänzt (vgl. hierzu Lamnek, 2010, S. 672). Des Weiteren fanden die Interviews in Form von dialogischen Einzelbefragungen statt sowie mit Blick auf forschungsethische Gesichtspunkte freiwillig und unter Zusicherung der Anonymisierung (vgl. Bogner, 2014, S. 87 ff.). Die Lehrpersonen wurden im Verlauf der gesamten Untersuchung in unterschiedlichen Phasen teilweise bis zu zweimal befragt, wodurch eine fortwährende Orientierung der Untersuchungsinhalte an der Unterrichtspraxis gegeben war. Im Hinblick auf die verfolgten Ziele setzten sich die Interviews jeweils aus drei Teilen zusammen: (1) Darstellung der Thematik zur Überprüfung der allgemeinen Verständlichkeit von Begriffen, phänomenalen Benennungen sowie inhaltlichen Zusammenhängen. Dieser erste Teil steht im Zusammenhang mit den Aspekten der Adressatenorientierung sowie der damit einhergehenden Praxistauglichkeit des entwickelten Konzepts. (2) Gemeinsames Anschauen einzelner Videoausschnitte zur Reflexion und Überprüfung aufgestellter Interpretationserträge sowie das gemeinsame Betrachten darauf basierender Vignetten unter den Gesichtspunkten der Nachvollziehbarkeit und des Wiedererkennungswerts. Die Lehrerinnen und Lehrer bekamen hierbei die Aufgabe, sich noch einmal in die Situation einzuspüren und zu reflektieren (Was wurde in der Situation gedacht? Was gespürt?). In Teil (3) des Interviews wurden die Lehrpersonen darum gebeten, weitere Beispiele bezüglich atmosphärischer Gestaltungen aus ihrer Unterrichtspraxis heraus zu erzählen. In einigen Fällen fungierten hierbei bereits gesammelte Beispiele beziehungsweise die übergeordneten Kategorien als Hilfestellung für die Interviewten. Die Interviews fanden nicht direkt im Anschluss an die Aufnahme, sondern erst nach Sichtung und Aufbereitung des Materials in geschützten und den Befragten teilweise vertrauten Räume statt. Aufgrund des Mitschnitts durch ein Diktiergerät zum Zweck des Memorierens wurde hierbei auf eine ruhige Umgebung geachtet. IV.2.4 Analyse und Aufbereitung der Daten Im Hinblick auf die Untersuchungsfrage stand bei der Datenanalyse und –aufbereitung die Suche nach „atmosphärischen Momenten“ (s.u.) im Vordergrund, die zum einen dem Konzept als Beispiele dienen können sowie zum anderen eine ästhetische Lehrtätigkeit hinsichtlich positiver Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten (in Anlehnung an Kapitel III.4) näher beschreiben. Damit im Zusammenhang wurde hierfür methodisch eine Kategorisierung angestrebt. IV.2.4.1 Kategorisierung des Untersuchungsmaterials Vorüberlegung und Festlegung relevanter Kategorienmerkmale Die Analyse des Untersuchungsmaterials erfolgte durch Auffinden „atmosphärischer Momente“ (s.u.) und Erstellen darauf basierender Videosegmente sowie durch die Bildung eines damit im Zusammenhang stehenden Kategoriensystems. Wie im sozialwissenschaftlichen Kontext üblich, wird der Begriff Kategorie im Sinne von „Klasse“ verwendet, das heißt: „[…] eine Kategorie ist das Ergebnis der Klassifizierung von Einheiten.“ (Kuckartz, 2016, S. 31) Die Auswahl dieser Methode steht im Zusammenhang mit der der gesamten Untersuchung zugrunde liegenden Forschungsfrage (s.o). Das Ziel der Kategorisierung ist somit die konkrete Verbalisierung und Generalisierung hinsichtlich des Atmosphärischen sowie das Sammeln von Beispielen.147 In der Vorgehensweise orientiert sich die hier durchgeführte Kategorienbildung an Mayrings qualitativer Inhaltsanalyse148 (vgl. Mayring, 2015, S. 85 ff.) 147

148

Hinsichtlich des Abstraktionsniveaus der Kategorien wird damit auf eine konkrete sprachliche Benennung des Abstrakten, auf konkrete Möglichkeiten sowie weiterführend auf eine verallgemeinernde, jedoch weiterhin konkrete, Verbalisierung geachtet. In Bezug auf Paraphrasierung und Reduktionsschritte.

IV.2 Untersuchungsdesign

77

Während des gesamten Prozesses wurde eine fortwährende Verbindung zum theoretischen Hintergrund gehalten. Die Kategorienbildung ist deswegen zum einen als „theoriebegleitet“ (Sonntag, 2016, S. 62) sowie zum anderen als aus dem eigenen Spüren der anwesenden Forschenden im Feld beziehungsweise der davon geleiteten Videobearbeitung heraus zu verstehen. Die Verbindung zur Theorie (u.a. Literatur aus Philosophie und Pädagogik) ist insofern relevant, als sie dem eigenen Spüren etwas Rationales an die Seite stellt, was für den Untersuchungsprozess unumgänglich ist (s. IV.1.2). Im Allgemeinen erfolgte die Kategorienbildung somit sowohl deduktiv als auch induktiv: In Anlehnung an Gernot Böhme – er spricht von einer atmosphärischen Kompetenz, die er im Wesentlichen in die Bereiche „Wahrnehmen und Gestalten“ unterteilt (s. I.) – wurde die Kategorie Wahrnehmen bereits a priori (vgl. hierzu Kuckartz, 2016, S. 176 ff.) erstellt. Auch die darauf bezogenen Subkategorien Intuitiv Spüren und Reflektiert Spüren entstanden in Orientierung an der Theorie bereits im Vorfeld und konnten dann mit empirischen Beispielen ergänzt werden. „Gestalten“ wurde aus dem Material beziehungsweise aus der Teilnahme im Feld heraus weiter differenziert. Die an das Material herangetragene Fragestellung impliziert hierbei eine induktive Herangehensweise (vgl. Mayring, 2015, S. 88) und zeigt ein Interesse ausschließlich an bestimmten Aspekten des Untersuchungsmaterials: „atmosphärische Momente“ im Zusammenhang zum Lehrerhandeln. Da solche Momente hinsichtlich einer Aufbereitung naturgemäß schwer zu fassen sind, wurde nach möglichst stark spürbaren Momenten gesucht: beispielsweise, wenn sich die Atmosphäre durch eine Veränderung in ihrem Charakter oder in ihrer Intensität artikuliert.149 Für die Begriffsverwendung im folgenden Verlauf lässt sich diesbezüglich definieren: Als „atmosphärische Momente“ werden diejenigen Momente bezeichnet, die sich, im Zusammenhang mit der Atmosphärentheorie stehend, in Bezug auf Zwischenphänomenales oder bezüglich bestimmter Stimmungsqualitäten besonders stark und offensichtlich artikulieren, sodass in ihrer Darstellung eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit erreicht werden kann. Als vorab festgelegt können sie als deduktives Merkmal betrachtet werden. Erstellen und Analysieren der Videosegmente Nach Festlegung genannter Vorüberlegungen wurde das Videomaterial computergestützt150 analysiert. Hierfür diente das gesamte Material. In Rückbezug auf die Teilnahme im Feld (auch unter Einbezug der Feldnotizen) erfolgte dieses Vorgehen durch die Erfahrung geleitet (s. hierzu IV.1.1 und IV.1.2). Die hier vorgenommene Auswertung steht nicht im Zusammenhang mit einem interaktionsanalytischen Arbeiten (wenn überhaupt, dann nur sekundär), da dieses einem für die vorliegende Untersuchung wesentlichen Aspekt nicht gerecht werden kann: dem, was zwischen beispielsweise Gesten, Körperhaltung und Gesichtsausdrücken spürbar ist. Um einen Gesamtüberblick über das Material zu erhalten und sich damit vertraut zu machen, bestand der erste Schritt in einer allgemeinen Unterteilung des Materials in einzelne Abschnitte (Phasen- oder Interaktionswechsel) auf makroskopischer Ebene (vgl. hierzu Dinkelaker, S. 54 ff.). Auch als „irgendwie“ auffällig empfundene Stellen wurden markiert. In einer erneuten Sichtung erfolgte eine selektive Bearbeitung des Untersuchungsmaterials im Hinblick auf die (im Feld empfundenen beziehungsweise im Video spürbaren) „atmosphärischen Momente“. Sobald ein solcher Moment aufgefunden wurde und das Selektionskriterium somit erfüllt war, wurde daraus ein bedeutungstragendes Videosegment erstellt und dieses genauer untersucht. Ein kurzes Beispiel soll das beschriebene Vorgehen noch einmal verdeutlichen: Während der Teilnahme im Untersuchungsfeld empfanden die Forschenden einen bestimmten Moment als besonders intensiv. Dieser „atmosphärische Moment“ wurde in den Feldnotizen bezeichnet mit Stimmungsbild der Kinder, interessierte Atmosphäre, Betroffensein der Schülerinnen und

149

150

Zwar ist immer eine Atmosphäre vorhanden, jedoch: „Um eine Atmosphäre überhaupt als solche zu bemerken, braucht es eine besondere Atmosphäre.“ (Rauh, 2012, S. 203) Diejenigen Atmosphären, die nicht klar spür- beziehungsweise artikulierbar sind, bezeichnet Rauh als „Nullatmosphäre“ (ebd., S. 143) (quasi das vermeintliche Hier und Jetzt ohne Atmosphäre). Damit zusammenhängend konnten nicht von jeder Lehrperson Videoausschnitte verwendet werden, was jedoch nicht mit deren Lehrqualität, sondern eben mit der Tatsache im Zusammenhang steht, dass bei diesen kein greifbarer Atmosphärenmoment gefunden wurde. Hierfür wurde das Programm „Videograph“ verwendet.

78

IV Durchführung der Untersuchung

Schüler und Wie eine Beratungssituation. Selbst über die Videoaufnahmen war die Intensität des Moments sicht- und spürbar. In Bezug darauf wurde ein Videosegment erstellt, dessen Länge sich an diesem Moment orientierte: Beginnend mit der Frage „Wie geht´s euch?“ und endend mit dem gegenseitigen Sich-Anschauen, ergibt sich daraus eine logische Einheit.151 Zum genaueren Hinschauen sowie Reflektieren des Gespürten und hinsichtlich des Ziels der Aufbereitung in Form von Vignetten wurden innerhalb der Segmente Merkmale markiert, die mit der gespürten Atmosphäre im Zusammenhang standen: Zum Beispiel Lächeln – freundliche Atmosphäre, schnelle Bewegungen – hektische Atmosphäre, langer Blickkontakt – Gefühl der Verbundenheit etc.152 In dieser Untersuchungsphase wurde (vor allen Dingen bei V13) auch noch einmal deutlich, dass Atmosphären sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf strukturelle Merkmale (z.B. Unteratmosphären, Wechselseitigkeit) hin beschrieben werden können. Diesen beiden Richtungen wurde in einem erneuten Durchsehen beziehungsweise Bearbeiten nachgegangen.153 Im Allgemeinen ließen sich sowohl positive als auch als negativ empfundene Momente auffinden. Insgesamt konnten 17 Segmente erstellt werden. Erstellung des Kategoriensystems In einem nächsten Schritt wurden die einzelnen Segmente mit Hilfe eines Computerschneideprogramms154 aus dem Videomaterial herausgeschnitten. Weiter erfolgte eine Beschriftung dieser Segmente in Form einer zusammenfassenden Beschreibung (s. Tabelle 2). Anschließend folgte ein Ordnen der Videosegmente, ein Miteinander-Vergleichen, wodurch manches noch einmal sichtbarer wurde und wodurch manche Segmente erst versprachlicht werden konnten. Hierbei wurde auch deutlich, dass nicht jeder Moment sprachlich gefasst werden kann, denn: Nicht jede Situation war klar benennbar beziehungsweise manches wurde von den teilnehmenden Forschenden so unterschiedlich aufgefasst, dass es für eine Weiterverarbeitung als nicht geeignet erschien.155 Im Videomaterial wurden somit viele Momente markiert, jedoch nur solche zu Vignetten verarbeitet, die als besonders stark spürbar und klar benennbar empfunden wurden („atmosphärische Momente“). Im Sinne eines „aktiven Konstruktionsprozesses“ (Kuckartz, 2016, S. 73), der eine Systematisierung und Organisierung, eine Zusammenfassung und Bündelung, beinhaltet, erfolgte nach und nach die Erstellung eines hierarchischen Kategoriensystems. „Hierarchische Kategoriensysteme bestehen nicht nur aus einer […] einfachen Liste von Codeworten, sondern setzen diese in Beziehung zueinander, und zwar dergestalt, dass einzelne Konzepte […] in Form von Ober- und Unterkategorien erfasst werden.“ (Kuckartz, 1999, 200) Zum Teil unter Bezugnahme auf Literatur156 wurden im Sinne eines solchen Systems durch Reduktion und Generalisierung Sub- und Hauptkategorien gebildet bis hin zu einer Sättigung in Form von einigen wenigen Begrifflichkeiten (s. Tabelle 2). Die Sättigung steht im Zusammenhang mit dem angestrebten Ziel des Verbalisierens, Generalisierens und Klassifizierens: Im Zusammenhang mit dargestellten theoretischen Inhalten sind die erstellten Endbegriffe nicht weiter verallgemeiner- oder konkretisierbar beziehungsweise lassen sie sich hinsichtlich der Atmosphärentheorie nicht weiter voneinander isolieren.157

151 152

153

154 155

156

157

Je nach Situation unterscheiden sich die Segmente damit in ihrer Länge. Anfänglich wurde mit Kodierungen gearbeitet. Da dieses Vorgehen jedoch nicht vom Gespürten ausgeht, sondern das Videomaterial selbst bearbeitet, stellte sich schnell heraus, dass es sich zu stark von der Atmosphäre, die sich methodisch letztendlich nur über das Spüren erfassen lässt, entfernte und somit als nicht geeignet erwies. Hieraus entstanden später, auch unter Einbezug theoretischer Inhalte, die Hauptkategorien Stimmen und Verbinden sowie der Zusatz Aufrechterhalten und Verändern. Hier wurde mit dem Programm „Windows Movie Maker“ gearbeitet. Zum Beispiel bezüglich unterschiedlicher Auffassungen der empfundenen Stimmungsqualität. Hierbei wurde den Untersuchenden der subjektive Anteil in der Atmosphärenwahrnehmung noch einmal besonders bewusst. Der Einbezug von Literatur ist an dieser Stelle insofern unumgänglich, als nur hierdurch die Frage danach beantwortet werden kann, welche „atmosphärischen Momente“ repräsentativ sind für die Bildung eines Kategoriensystems, das einem positiven Lehrvermögen zugrunde liegt (s. hierzu III.4). Deutlich wird dies in der schematischen Darstellung in V.2.5.

IV.2 Untersuchungsdesign

79

Nach der Bildung des Kategoriensystems wurde unter erneuter Sichtung des Videomaterials Passendes subsumiert. Auch erfolgte an dieser Stelle die Einordnung der Interviewfragmente beziehungsweise die auf den Fragmenten basierende nachträgliche Bildung einer Subkategorie (s. Tabelle 2 und s. IV.2.4.3). Fortwährendes Reflektieren – Stehen die Kategorien mit dem Untersuchungsziel im Zusammenhang? Waren die Vorüberlegungen sinnvoll? Müssen manche Kategorien angepasst oder verändert werden? – begleiteten den weiteren Analyseprozess und die Bildung des Kategoriensystems. Das Kategoriensystem stellt den Ertrag der Untersuchung dar, auf dessen Basis das Konzept des atmosphärischen Vermögens als Endergebnis entwickelt wurde. Durch den Austausch mit den Lehrpersonen konnte das Kategoriensystem erfolgreich angewandt und bestätigt werden. Mit der Bildung der Endbegriffe wurde somit folgender Forderung Folge geleistet: „Die Begriffe in der Theorie sollen analytisch formuliert, d.h. hinreichend verallgemeinert sein, um die Eigenschaften von konkreten Entitäten (nicht die konkreten Entitäten selbst) zu bestimmen. Zum anderen sollen die Begriffe empfindsam machen, d.h., sie sollen ein sinnvolles Bild ergeben, angereichert mit zutreffenden Illustrationen, mit deren Hilfe beim Leser Bezüge zur eigenen Erfahrung hergestellt werden können.“ (Lamnek, 2010, S. 99/100) Prototypisch illustriert werden die Kategorien hierbei durch die jeweiligen Vignetten (s.u.) (zur Auswahl der Beispiele s. Kuckartz, 2016, S. 86). Tabellarische Darstellung der Kategorienbildung Darstellung der gebildeten Kategorien: Hauptkategorie

(perceiving)

! Intuitiv spüren ! Reflektiert spüren

Stimmen

! (Zwischen)menschlich wirken

(tuning)

! Gegenständliches wirken lassen**, wirkend machen

Verbinden (connecting)

! Kontaktieren !

Einkoordinieren

Aufrechterhalten und Verbinden

Wahrnehmen*

Subkategorien

! Gemeinsam agieren und koordinieren

Tabelle 1: Darstellung der Kategorien Anmerkung 1: *deduktiv gebildet, **durch Interviewfragmente gebildet Anmerkung 2: Die Darstellung der Kategorien folgt keiner festgelegten Reihenfolge (s. hierzu auch V.2.5). Bezüglich der Begriffe werden als Zusätze auch die englischen Übersetzungen hinzugenommen, um den Inhalt sprachlich noch einmal besser fassen zu können (zum Inhaltlichen s. V.2.4).

80

IV Durchführung der Untersuchung

Detaillierte Darstellung der Kategorienbildung basierend auf den Videosegmenten158: VS

Zusammenfassende Beschreibung

1. Reduktion

2. Reduktion (Subkategorie)

Generalisierung (Hauptkategorie)

1

L. stellt eine Frage, auf die die S. zunächst keine Antwort weiß. L. führt S. über diesen Moment hinweg, ist ihr stetig freundlich zugewandt, hält sie pädagogisch. Sie spürt hierbei den Druck, der für die S. entsteht und reagiert entsprechend.

L. spürt, ohne in dem Moment bewusst zu reflektieren.

Intuitiv spüren

Wahrnehmen

2

S. erzählen von ihren Ängsten, L. hört zu, spürt und fasst das Gesagte zusammen; L. fragt, ob die S. bei ihm auch Angst hätten.

L. spürt und reflektiert das Gespürte.

Reflektiert spüren

Wahrnehmen

3

L. verbessert („don´t worry!“) und hält S. pädagogisch. L. lächelt, ihre Mimik ist offen, ihr Stimmklang freundlich. Die Atmosphäre ist fehlerfreundlich.

L. stimmt den Raum durch Wortwahl, Stimmklang und Mimik.

(Zwischen)menschlich wirken

Stimmen

4

S. sagt, es ginge ihm nicht gut. L. kommentiert mit ernster Stimme, es sei schön, dass er trotzdem da sei und verweilt mit Blick und zugewandter Körperhaltung beim S. Es entsteht ein Gefühl der Wertschätzung.

L. stimmt den Raum durch Worte, Stimmklang, Blickkontakt und zugewandten Körper.

(Zwischen)menschlich wirken

Stimmen

5

Steht der L. vor den S., wirken diese angespannt, verlässt der L. diese Position, entspannen sich die S., lachen und lehnen sich zurück.

L. stimmt den Raum durch seine bloße Anwesenheit.

(Zwischen)menschlich wirken

Stimmen

6

L. stellt Regel auf: Jede/r dürfe drangenommen werden. Die Atmosphäre ist angstbeladen. Eine S. wird aufgerufen, L. ermutigt sie, lässt sie nicht fallen.

L. stimmt den Raum durch Wortwahl (Regel).

(Zwischen)menschlich wirken

Stimmen

7

Alle S. berichten über ihr Befinden, S1 sagt, ihr gehe es nicht gut und gibt das Wort schnell weiter, L. hakt nach und akzeptiert dann jedoch. S2 fährt fort mit ihrem Bericht, L. unterbricht und bittet um Wiederholung, weil er sich aufgrund des Nachdenkens über S1 nicht auf S2 hätte konzentrieren können. Es entsteht ein Gefühl der Wertschätzung und der Anerkennung.

L. stimmt den Raum durch seine Wortwahl.

(Zwischen)menschlich wirken

Stimmen

8

L. verändert seine Körperhaltung und seinen Stimmklang. Der Charakter der Atmosphäre ändert sich. Das an die Wand projizierte Foto wirkt in

L. verändert die Stimmung durch Körper und Stimme und lässt

Gegenständliches wirkend machen; Verändern der Stimmung

Stimmen und Verändern

158

Sowie in drei Fällen basierend auf den Interviews (in Tabelle 2 entsprechend gekennzeichnet: F7, F8, F9). Die Videosegmente werden in der Tabelle mit VS abgekürzt.

IV.2 Untersuchungsdesign

81

diesem neuen Kontext anders.

dadurch das Foto anders wirken.

9

L. spürt die vorherrschende Angespanntheit und löst diese durch deren Benennung.

L. löst durch Ansprechen bzw. Benennen die Anspannung.

Verändern der Stimmung

10

L. schaut zu Stundenbeginn die S. alle einzeln an. Dann sagt er, er freue sich, sie alle wieder zu sehen. (Die Atmosphäre bleibt auch in einem Diskoordinationsmoment bestehen.)

L. stellt über seinen Blick Verbindung zu den S. her.

Kontaktieren

11

L. greift die Äußerung einer S. imitierend auf.

L. stellt über Imitation Kontakt zur S. her.

Kontaktieren

Verbinden

12

L. schaut alle S. an, fragt, wie es ihnen gehe und fordert sie auf, dies mit dem Daumen anzuzeigen und sich dabei gegenseitig wahrzunehmen. Danach berichten alle S. von ihrem Befinden, am Ende auch der L.

L. bringt sich selbst und die anderen S. untereinander auf eine gemeinsame Ebene, stellt Verbindung her.

Einkoordinieren

Verbinden

13

Zwischen L. und S. ist keine Verbindung spürbar. S. sprechen untereinander, während L. spricht. S. und L. sind nicht auf einer Ebene, kein gegenseitiges Wahrnehmen und Verstehen, keine Wechselseitigkeit.

L. stellt keine Verbindung her.

Kein Kontaktieren, kein Einkoordinieren, kein Gemeinsames agieren und koordinieren

Kein Verbinden

14

L. initiiert gemeinsame Entspannungsübung. Es entsteht eine entspannte Atmosphäre. Alle nehmen daran teil. (L. spricht hierbei leise und mit sanftem Stimmklang.)

L. und S. handeln gemeinsam, sind gemeinsam in einer entspannten Atmosphäre.

Gemeinsam agieren und koordinieren

Verbinden

15

L. und S. führen zusammen eine gemeinsame Musikübung durch. Während der Übung ereignet sich ein Moment der Diskoordination, der jedoch den allgemeinen Fluss nur für einen kurzen Moment stört.

L. und S. handeln gemeinsam, sind gemeinsam in einer Atmosphäre;

16

S. stottert stark, L. hört ihm zu, mit seinem Körper und seinem Blick ist er ihm ununterbrochen zugewandt. Während eines Klassengesprächs stellt er über seine Bewegungen Verbindungen her und hält den Kontakt zum S. stetig aufrecht.

L. hält stotternden S. durch verbindende Bewegungen und zugewandte Körperhaltung.

Aufrechterhalten der Verbindung

Aufrechterhalten

17

S. spricht und L. hört ihm zu, ein anderer S. kommt zu spät und versucht mit L. zu kommunizieren. L. agiert mit diesem ausschließlich nonverbal (gestikulierend) und schaut den sprechenden S. währenddessen weiter ununterbrochen an.

L. hält Kontakt zum S. durch Blickkontakt und ihm zugewandte Körperhaltung stetig aufrecht (auch über den Diskoordinationsmoment hinweg).

Aufrechterhalten der Verbindung

Aufrechterhalten

F7

L. greift die Stimmung einer S., die durch die Kiste hervorgerufen wurde, auf und überträgt sie auf die

L. stimmt den Raum,

Gegenständliches wirken lassen

Stimmen

Verändern

Verbinden (Aufrechterhalten der Verbindung)

Gemeinsam agieren und koordinieren; Aufrechterhalten der Verbindung

Verbinden und Aufrechterhalten

L. hält die Verbindung über den Diskoordinations-moment.

82

IV Durchführung der Untersuchung ganze Klasse. Es entsteht eine geheimnisvolle Atmosphäre.

indem er die Kiste wirken lässt.

F8

L. lässt Musik laufen und erzeugt damit eine bestimmte Atmosphäre.

L. stimmt den Raum, indem er die Musik wirken lässt.

Gegenständliches wirken lassen

Stimmen

F9

Von den S. als bedeutsam empfundene Gegenstände werden im Klassenzimmer platziert. Es entsteht eine anerkennende und wertschätzende Atmosphäre.

L. stimmt den Raum, indem sie von den S. als bedeutsam empfundene Gegenstände wirken lässt.

Gegenständliches wirken lassen

Stimmen

Tabelle 2: Bildung der Kategorien Anmerkung: Die VS-Nummerierungen entsprechen den daraus aufbereiteten Vignetten. F7-F9 stellen die Interviewfragmente dar, aus denen heraus die Subkategorie Gegenständliches wirken lassen gebildet wurde.

IV.2.4.2 Die Vignette als Darstellung „atmosphärischer Momente“ Inhaltliche Darstellung Das Erfassen von Atmosphären beginnt im subjektiven Betroffensein und erhält eine Gestalt in Form einer Fixierung. Der methodische Einsatz von Vignetten als Darstellungsform „atmosphärischer Momente“ stellt hierbei eine angemessene Form dar, Gespürtes in Worte beziehungsweise in Bilder zu fassen und damit gleichzeitig greifbar zu machen. Wie bereits in IV.2.4.1 beschrieben, wurden hierfür einprägsame, aufmerksamkeitserregende Momente ausgewählt, in denen „etwas“ deutlich spürbar war. Diesbezüglich ähnelt die Aufarbeitung aufgespürter Erfahrungsmomente zu Vignetten dem phänomenologisch orientierten Design der Innsbrucker Vignettenforschung (s. IV.1.4). Bezüglich der Darstellungsform sowie in Bezug auf die Perspektive der Erfahrung, aus der die Vignetten heraus entstanden sind, ergeben sich jedoch auch Unterschiede: Keine Momente des Mit-erfahrens an der Seite Lernender im Hinblick auf ein Phänomen (Lernen) werden in den hier erstellten Vignetten artikuliert, sondern die direkte Erfahrung des Phänomens der Atmosphäre als solcher (s. hierzu IV.2.3.1).159 Die Vignetten fungieren auch in der vorliegenden Untersuchung als Beispiele im bereits beschriebenen Sinne (s. IV.1.3). Der beispielhafte Charakter ist dabei von essentieller Bedeutung, da Atmosphären als Phänomene aufgrund ihres subjektiven Anteils und ihrer Aktualitätsgebundenheit naturgemäß nie vollständig bewiesen oder in der Anwendung auf jede beliebige Situation übertragen werden können.. Unterrichtsatmosphären werden durch die Vignetten in einzelnen Merkmalen skizziert und damit fixiert und greifbar. Die einzelnen Vignetten dienen somit zur Sichtbarmachung, zum beispielhaften Aufzeigen und zielen auf einen Nachvollzug und ein Wiedererkennen seitens der Lesenden.160 Die Gestik der Lektüre verweist hierbei zum Beispiel auf atmosphärische Gestaltungsmöglichkeiten, auf Momente des Spannungshaltens sowie auf Momente verschiedener Intensitäten und Qualitäten. Mit der Involviertheit einhergehend ist es nicht möglich, Atmosphären in ihrer Ganzheit zu erfassen, weshalb hier nur Teilaspekte beschrieben werden können (vgl. hierzu auch Rauh, 2012, S. 229). Aufgrund dessen, aber auch aufgrund der allgemeinen Komplexität beispielsweise hinsichtlich möglicher (Mit-)Erzeugender, kann das Phänomen der Unterrichtsatmosphäre nicht restlos aufgeklärt werden. Die Vignetten laden jedoch ein zum intuitiven Nachvollzug und, im Sinne der beschriebenen Suchbewegung (s. IV.1.4), zum Weiterfragen und zum Wiederfinden ähnlicher Momente.

159

160

Die Atmosphärenerfahrung geschieht natürlich auch im Hinblick auf, nicht jedoch im Sinne eines Hineinversetzens in die Schülerinnen und Schüler. Rauh (2012) formuliert im Hinblick auf die empirische Atmosphärenforschung die Formel des „‘Bewährens statt Beweisens‘ in Ausrichtung auf Nachvollziehbarkeit und Wahrnehmungswirklichkeit“ (ebd., S. 216).

IV.2 Untersuchungsdesign

83

Form der Darstellung Unter Einbezug der Feldnotizen wurden die erfahrungsgeleiteten Videosegmente zu Vignetten verdichtet, wodurch somit jeder Vignette ein Segment zugeordnet werden kann.161 Da diese verschiedene Längen aufweisen, ergeben sich dadurch auch in den einzelnen Vignettenlängen Unterschiede, wobei durch die besondere Form der Aufarbeitung jeder Vignette letztendlich eine eigene Zeitlichkeit zugrunde liegt (dies wird vor allem deutlich in der gemalten Form). Im Allgemeinen wurde beim schriftlichen Verfassen auf ein angemessenes Verhältnis der charakteristischen Kürze einer Vignette bei gleichzeitiger Wiedergabe des wesentlichen Kerns geachtet. Die Darstellung der Vignetten erfolgt zur Verdeutlichung ferner in kommentierter Form. Hierzu sei angemerkt, dass die Kommentierungen primär im Hinblick auf die jeweilige Haupt- und Subkategorie (in manchen Fällen auch auf zwei) vorgenommen wurde. Sie beziehen des Weiteren aber auch die anderen Kategorien mit ein (kursiv gekennzeichnet), denn: Die „atmosphärischen Momente“ wurden zwar im Hinblick auf den am stärksten spürbaren Aspekt hin kategorisiert. Wenngleich auch weniger spürbar, beinhaltet jeder Moment jedoch gleichzeitig (meist) auch die anderen Aspekte. Zu einem besseren Verständnis beziehungsweise zur beidseitigen Ergänzung erfolgt die Darstellung der Vignetten sowohl in schriftlicher als auch zum Teil in gemalter Form. In beiden Fällen handelt es sich um verdichtete Skizzen, die das eingefangene „Mehr“ der Situation widergeben sollen. Es wurden hierbei bewusst keine Fotos eingesetzt, da Fotos einfache Momentaufnahmen im Sinne eines Abbildes einer beobachtbaren Situation darstellen (analog dazu können detailgetreue Beschreibungen wie zum Beispiel in Form eines Transkripts gesehen werden). Eine Wiedergabe des „Mehrs“ in Form einer Verdichtung beziehungsweise ein konkretes Aufzeigen des Phänomenalen kann hierdurch jedoch nur unzureichend erfolgen. Sowohl die schriftliche Form mit ihrem besonderen Schreibstil (s. IV.1.4) als auch die gemalten Bilder bieten hierbei die Möglichkeit, bewusst „Bedingungen“ zu setzen, die das Nachspüren einer speziellen Atmosphäre ermöglichen.162 Beispielsweise können als wesentlich empfundene Merkmale oder schwer Sichtbares, ein unscheinbares Lächeln etwa, hervorgehoben werden, um die Atmosphäre, auf die sich die Darstellung bezieht, spürbar werden zu lassen. Bei der Erstellung der Vignetten ist somit nicht nur von Bedeutung, den Kern der Situation erfassen zu können, sondern auch die Kunst, diesen in einer sprachlichen oder malerischen Darstellung verdichtet zu konkretisieren.163 Allgemeine Überlegungen Aus Gründen der Anonymisierung wurden im Rahmen der schriftlichen Vignetten die Namen der Lehrpersonen sowie der Schülerinnern und Schüler geändert sowie teilweise die Schulfächer durch andere Fachrichtungen ersetzt.164 Bei den gemalten Vignetten geht mit dem hohen Abstraktionsgrad automatisch eine Anonymisierung einher. Da nur stark spürbare Atmosphärenmomente zu Vignetten verarbeitet wurden, konnte aus dem Untersuchungsmaterial heraus nur eine begrenzte Anzahl an Vignetten gebildet werden. Bezüglich der Kategorie Wahrnehmen bestand aufgrund der Tatsache, dass Wahrnehmen rezeptiver Natur ist, des Weiteren eine generelle Schwierigkeit des Auffindens von Beispielen (dies erklärt die geringe Anzahl an erstellten

161

162

163

164

Im Hinblick auf eine Weitergabe, beziehungsweise einen möglichen Einsatz im Rahmen der Lehrerbildung, können die Videos aus Datenschutzgründen nicht verwendet werden (s.o.). Zur didaktischen Aufbereitung dienen hierbei die Vignetten. Bezüglich des Schaffens von Atmosphären geht es darum, so Böhme (2014), die richtigen Wahrnehmungsbedingungen zu setzen, die das Erscheinen der Atmosphäre ermöglichen (ebd., S. 105). S. hierzu Platons Theorie der Mimesis: Zweiteilung der darstellenden Künste in eikastike techne (Nachbildung eines Vorbildes) und phantastike techne (dies erlaubt Abweichungen vom Vorbild). Letztere berücksichtigt den „Blick des Betrachters und will das, was sie darstellt, so zur Erscheinung bringen, dass es der Betrachter ‚richtig‘ erkennt.“ (ebd.) Dazu sei angemerkt, dass das Schreiben und das Malen diesbezüglich ebenfalls ästhetische Tätigkeiten darstellen, geht es auch hier um das Machen von Atmosphären. In einem Fall wurde das Einverständnis eines Lehrers eingeholt, Material zu verwenden, das zwar im Hinblick auf die Namen, nicht jedoch hinsichtlich des Inhalts anonymisiert wurde und damit möglicherweise für andere erkenntlich ist.

84

IV Durchführung der Untersuchung

Vignetten). Sowohl zur angestrebten Begriffsfindung als auch zur beispielhaften Darstellung kann die Anzahl im Allgemeinen jedoch als ausreichend betrachtet werden.165 IV.2.4.3 Aufbereitung der Interviews in Form von Bericht und Fragmenten Die Experteninterviews mit den Lehrpersonen wurden weder vollständig transkribiert noch im Sinne einer Inhaltsanalyse aufbereitet, sondern ausschließlich in Form eines zusammenfassenden Berichts (im Hinblick auf die in IV.2.3.3 genannten Ziele).166 Das Kategoriensystem konnte diesbezüglich um Beispiele und die Subkategorie Gegenständliches wirken lassen ergänzt und ferner Nachvollziehbarkeit sowie Verständlichkeit seitens der Lehrpersonen bestätigt werden. Im Hinblick auf die angestrebte kommunikative Validierung, und da es sich bei den Interviews nur um eine Ergänzung handelt, wurde es des Weiteren als ausreichend betrachtet, ausschließlich die Interviews der Lehrpersonen aufzubereiten, die an der Untersuchung teilgenommen hatten und zu deren Videoausschnitten Vignetten angefertigt wurden (s. hierzu auch IV.2.3.3).167 Die Interviewberichte sind der Arbeit als Anhang beigefügt. Neben der sinngemäßen Zusammenfassung der Antworten (inhaltlich wurden diese sortiert und grob den Bereichen „Atmosphärenbeispiele“, „kommunikative Validierung“ und „Praxisbezug“ zugeordnet) enthalten sie einige Zitate seitens der interviewten Lehrpersonen. Ausschnitte dieser Berichte finden sich vereinzelt im Rahmen der Vignettenkommentierungen (bezüglich der kommunikativen Validierung) sowie, unter Verweis entsprechend gekennzeichnet, als Fußnoten oder an anderen Stellen im Gesamttext der Arbeit. Die den Interviews entnommenen beziehungsweise auf deren Grundlage erstellten Fragmente stellen ferner, analog zu den Vignetten, weitere Beispiele und somit den Hauptertrag der Interviewaufbereitung dar. Anders als die Vignetten sind diese weniger „atmosphärisch“ geschrieben, da das Gespürte hier nur über die Erzählungen der Lehrer und nicht durch die eigene Anwesenheit erfahren werden konnte und dienen vor allem zur Ergänzung der Kategorien beziehungsweise der Vignetten. Daher wurden sie weniger ausführlich kommentiert als letztgenannte. Während der Interviews wurde deutlich, dass die Vorarbeit innerhalb der Untersuchung hinsichtlich des Auffindens von Begrifflichkeiten notwendig war, um über Atmosphärenerfahrungen und -gestaltungen überhaupt erst sprechen zu können. Der Einsatz von Experteninterviews zur Erhebung „atmosphärischer Momente“ hätte somit nicht als alleinige Methode und nicht zu Beginn der Untersuchung stehen können. Hierin bestand gleichzeitig jedoch auch eine Bestätigung dessen, dass die Begrifflichkeiten konkret und das Atmosphärenphänomen umfassend gewählt sind. Das Verständnis seitens der Lehrenden spiegelt sich auch dahingehend wider, dass einige im Nachhinein berichteten, sie würden nun vieles bewusster sehen und wahrnehmen oder seien dankbar um Begriffe für etwas, das sie intuitiv schon immer gespürt hätten (vgl. Interviewbericht Frau Wieland). Des Weiteren konnten die Lehrpersonen im Verlauf des Interviews vermehrt Beispiele nennen, wodurch ein allgemeines Verständnis als gesichert betrachtet, aber auch die im Allgemeinen angestrebte Bewusstseinsbildung (zumindest in manchen Fällen) bestätigt werden kann. Generell wurde die Thematik der Unterrichtsatmosphären seitens der Lehrpersonen als äußerst positiv und notwendig in Bezug auf das Lehren aufgefasst. Zur Überprüfung einer möglichen Bewusstseinsschaffung wurden die Lehrpersonen gebeten, mit dem Schema des atmosphärischen Vermögens gedanklich in den Unterricht zu gehen und der Forscherin über die Zeit von weiteren Beispielen zu berichten. Eine Lehrperson wurde im weiteren Verlauf im Rahmen eines Interviews, die anderen in Form beziehungsweise im Rahmen eines Gesprächs168 ein zweites Mal befragt. Es wurde hierbei deutlich, dass einige im Unterricht vieles bewusster anwendeten 165

166 167 168

Die Begründung hierfür liegt in der Tatsache, dass die Kategorie bereits vorab gebildet wurde (deduktiv). Die im Rahmen der Untersuchung angestrebte Begriffsbildung war damit bereits gegeben und konnte mit der Empirie bestätigt beziehungsweise ergänzt werden. Eine solche Zusammenfassung ist ausreichend, da die Interviews nur zur Ergänzung dienten. Die anderen Experteninterviews dienten als Impulse sowie zur Überprüfung der Praxistauglichkeit. Diese Gespräche erfolgten zum Teil eher informell (zum Beispiel begann eine Lehrerin plötzlich während eines Privatgesprächs, von ihrer aktuellen Atmosphärengestaltung zu erzählen), weshalb hier keine Mitschnitte, teilweise jedoch als Schriftverkehr Fixierungen in eben dieser Form vorliegen.

IV.2 Untersuchungsdesign

85

und von weiteren Beispielen berichten konnten, andere sich in ihrem (bereits atmosphärischen Tun) bestätigt fühlten oder sich nun der Bedeutsamkeit der Atmosphäre stärker bewusst waren. Im Sinne der kommunikativen Validierung wurde außerdem eine Bestätigung seitens der Interviewten erzielt hinsichtlich der zur ihren Videosegmenten angefertigten Vignetten. Es sei jedoch angemerkt, dass es in einem Fall nicht zu einer Übereinkunft zwischen Lehrperson und Forscherin gekommen ist. Dies ist in der entsprechenden Vignette vermerkt (s. V6). Interpretationsfragen seitens der Forscherin wurden im Allgemeinen durch die Lehrpersonen beantwortet. IV.2.4.4 Tabellarische Aufführung der Vignetten (V) und Fragmente (F) Da die Vignetten und die Fragmente als Beispiele des entwickelten Konzepts dienen, werden diese im Rahmen des Kapitels V aufgeführt. Tabelle 3 gibt eine Übersicht und enthält eher für die Methodik interessante Informationen, weshalb die tabellarische Darstellung an dieser Stelle erfolgt. Beschriftung

Dauer Videosegment (mm:ss)

Klassenstufe/ Schulform

Wahrnehmen (perceiving)

V1

(0:48)

US/G

Intuitiv spüren

V2

(1:29)

MS/H

Reflektiert spüren

V3

(0:18)

OS/G

(Zwischen)menschlich wirken

V4

(0:17)

MS/H

(Zwischen)menschlich wirken

V5

(1:15)

OS/G

(Zwischen)menschlich wirken

V6

(1:27)

OS/G

(Zwischen)menschlich wirken

(1:42/

MS/H

(Zwischen)menschlich wirken

MS/H

Gegenständliches wirkend machen

V7

7:04)169 V8

Verbinden (connecting)

Aufrechterhalten und Verändern

Reflektiert spüren

F1

169

Stimmen (tuning)

(1:40)

F2

(Zwischen)menschlich wirken

F3

(Zwischen)menschlich wirken

F4

(Zwischen)menschlich wirken

F5

(Zwischen)menschlich wirken

Verändern der Stimmung

Der in der Vignette beschriebene atmosphärische Moment dauert 1:42 min. Es wird jedoch im letzten Absatz, um die beschriebene Atmosphäre zu unterstreichen, auch der Rest der Begrüßungsrunde zusammengefasst. Darauf basiert die Zeitangabe 7:04 min.

86

IV Durchführung der Untersuchung (Zwischen)menschlich wirken

F6

Gegenständliches wirken lassen, wirkend machen F7

Gegenständliches wirken lassen

F8

Gegenständliches wirken lassen

F9

Gegenständliches wirken lassen

F10

Gegenständliches wirkend machen

F11

Gegenständliches wirkend machen

V9

(0:39)

Eigene UE

OS/G

Verändern der Stimmung

OS/G

Verändern der Stimmung

V10

(0:30)

MS/G

Kontaktieren

V11

(0:20)

OS/G

Kontaktieren

V12

(1:03)

MS/H

Einkoordinieren

V13

(1:40)

OS/G

Kein Verbinden

V14

(6:10)

US/G

Gemeinsam agieren und koordinieren

V15

(1:57)

US/G

Gemeinsam agieren und koordinieren

V16

(2:01)

MS/H

Aufrechterhalten der Verbindung

V17

(0:23)

OS/G

Aufrechterhalten der Verbindung

F13

Gegenständliches wirkend machen

Einkoordinieren

F14

Einkoordinieren

F15

Einkoordinieren

F16

Gemeinsam agieren und koordinieren

F17

Gemeinsam agieren und koordinieren

Tabelle 3: Differenzierte Darstellung der Vignetten und Fragmente Anmerkung: US = Unterstufe, MS = Mittelstufe, OS = Oberstufe, G = Gymnasium, H = Hauptschule

Aufrechterhalten der Verbindung

IV.3 Gütekriterien

87

IV.3 Gütekriterien Es ist strittig, welche Gütekriterien als Maßstäbe zur sachgerechten Beurteilung qualitativer Forschung herangezogen werden können (vgl. Lüders, 2011, S. 80). Ein allgemeiner Grundkonsens herrscht jedoch darüber, dass die aus der quantitativen Forschung stammenden Kriterien der Objektivität, Validität und Reliabilität nicht einfach übernommen werden können, wobei es zahlreiche Versuche gibt, die qualitativen Gütekriterien entlang dieser drei Kriterien zu „reformulieren“ (vgl. ebd. und Mayring, 2002, S. 140). Dieser Gedanke steht auch im Zusammenhang mit einer Aussage von Lamnek (2010): „Weil die qualitative Sozialforschung sich auch in Absetzung von der quantitativen entwickelt hat, muss sie sich einerseits von den traditionellen Gütekriterien lösen, sich andererseits aber auf sie beziehen, vielleicht nur von der Wortwahl her, um die eigene Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen. Dies führt zu [einer] Begriffsverwirrung, die letztlich inhaltlich motiviert ist.“ (ebd., S. 131) Es stellt sich hierbei die Frage, ob eine Festlegung allgemeingültiger Kriterien hinsichtlich der großen Anzahl unterschiedlicher Forschungsprojekte mit unterschiedlichsten Zielsetzungen überhaupt gerecht werden kann oder ob hierdurch eine Einschränkung beispielsweise innerhalb des Forschungsprozesses erzeugt wird. Einen Ausweg aus der Diskussion darüber, welche Gütekriterien einer qualitativen Forschung gerecht werden beziehungsweise worauf sie sich beziehen sollten, bietet Lüders (2011): Dieser Ausweg könne nur darin bestehen, „sich von der auf Dauer vermutlich vergeblichen Suche nach den Gütekriterien für die qualitative Sozialforschung zu befreien und den Weg für verfahrens- und gegenstandsbezogene Kriterien zu öffnen.“ (ebd., S. 82) In diesem Kontext können die Gütekriterien von Mayring gesehen werden. Mayring (2002) empfiehlt für die qualitative Sozialforschung sechs Gütekriterien, die er hinsichtlich seines geforderten Grundsatzes einer Orientierung an den Methoden als „methodenspezifische Gütekriterien“ formuliert hat (vgl. ebd., S. 142). Auf die vorliegende Untersuchung angewandt kann diesen Kriterien Folge geleistet werden. Um das Ausmaß der Darstellung des Untersuchungsertrags zu strukturieren und hinsichtlich einer intersubjektiven Überprüfbarkeit zugänglich zu machen, werden diese im Folgenden nun dargestellt (vgl. hierzu auch Przyborski/Wohlrab-Sahr, 2009, S. 354). IV.3.1 Auf die Untersuchung angewandte Gütekriterien nach Mayring Verfahrensdokumentation. Qualitative Forschung kann nicht losgelöst vom Subjekt gedacht werden (s. hierzu auch IV.3.2), weshalb eine Offenlegung des Untersuchungsvorgehens zur allgemeinen Transparenz besonders wichtig ist. Im Sinne des von Mayring genannten Gütekriteriums der „Verfahrensdokumentation“ (ebd., 2002, S. 144 ff.) wurde das Untersuchungsverfahren hinsichtlich der geforderten intersubjektiven Nachprüfbarkeit des Untersuchungsprozesses detailliert dargestellt (vgl. Lamnek, 2010, S. 131 und Mayring, 2002, S. 144 ff.). Von der Darstellung der Vorüberlegungen und des Vorverständnisses ausgehend umfasst die Dokumentation des Weiteren die Beschreibung der Untersuchungsdurchführung sowie des Instrumentariums zur Datenerhebung und -auswertung. Argumentative Interpretationsabsicherung. In der Untersuchung vorgenommene Interpretationen müssen so begründet und dokumentiert werden, dass ein intersubjektiver Nachvollzug gewährleistet ist (vgl. Lamnek, 2010, S. 131). Im Rahmen der Vignettenkommentierungen sowie der Darstellung der einzelnen Reduktionsschritte (s. Tabelle 2) wurden die Interpretationen hinsichtlich des besonderen Status eines „atmosphärischen Moments“ sowie im Hinblick auf die Kategorien unter Bezugnahme auf das eigene Spüren begründet und dokumentiert. Dies dient der allgemeinen intersubjektiven Nachvollziehbarkeit. Regelgeleitetheit. Charakteristische Merkmale qualitativer Forschung wie Offenheit und Flexibilität sind zur Annäherung an den Untersuchungsgegenstand von großer Bedeutung. Trotzdem darf dieser Gedanke nicht zu einem unsystematischen Vorgehen führen: „Auch qualitative Forschung muss sich an bestimmte Verfahrensregeln halten, systematisch ihr Material bearbeiten.“ (Mayring, 2002, S. 145/146) Durch ein schrittweises, sowohl induktives als auch deduktives Vorgehen im Rahmen der Untersuchung wird diesem Kriterium Folge geleistet: Trotz Offenhalten und Flexibilität, war das Vorgehen im Feld zur allgemeinen Orientierung gebunden an ein gewisses Maß an Instruktionen. Diese standen im Zusammenhang mit inhaltlichen und methodischen Vorüberlegungen. Das Untersuchungsmaterial wurde hierbei systematisch und unter Berücksichtigung methodischer Regeln erhoben und ausgewertet. Des

88

IV Durchführung der Untersuchung

Weiteren wurde stetig darauf geachtet, theoretischen und definitorischen Ansprüchen (zum Beispiel hinsichtlich der Atmosphärentheorie) gerecht zu werden. Nähe zum Gegenstand. Ein weiteres wichtiges methodologisches Grundprinzip qualitativer Forschung besteht in der „Nähe zum Gegenstand“ (vgl. Lamnek, 2010, S. 132). Eine solche Nähe entsteht dadurch, dass Forschende, anstatt beforschte Personen in ihr Labor zu holen, sich in deren natürliche Lebenswelt, ins Feld, begeben und mit ihnen in ein dialogisches Verhältnis treten (vgl. Mayring, 2002, S. 146). Dieses Kriterium wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durch die Teilnahme im Untersuchungsfeld und in einem offenen Dialog mit den Untersuchungsteilnehmenden erfüllt. Kommunikative Validierung. Um die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse zu überprüfen, können diese den Beforschten noch einmal vorgelegt und im Sinne einer „Rückkoppelung der Interpretationen“ (Lamnek, 2010, S. 132) diskutiert werden (vgl. Mayring, 2002, S. 147). Die kommunikative Validierung darf nicht das einzige Kriterium zur Absicherung sein, jedoch können Forschende – „vor allem was die Absicherung der Rekonstruktion subjektiver Bedeutungen angeht – aus diesem Dialog wichtige Argumente zur Relevanz der Ergebnisse gewinnen.“ (ebd.) Es gilt hierbei jedoch zu beachten, dass eine Konfrontation der Beforschten mit den Untersuchungsergebnissen aus ethischer Sicht nicht immer angebracht ist (vgl. Lamnek, 2010, S. 139). Aus diesem Grund wurde im Falle einer Lehrperson komplett, und im Falle einer anderen Lehrperson in Bezug auf einen Videoausschnitt, von einer kommunikativen Validierung abgesehen (betrifft V5 und V13). Durch die gemeinsame Reflexion und Diskussion der einzelnen Videoausschnitte und der darauf basierenden Vignetten mit den anderen im Forschungsprozess involvierten Lehrpersonen konnte das Kriterium der kommunikativen Validierung erfüllt werden. Atmosphärisch benannte Erfahrungsmomente sowie eigene Interpretationen und aufgestellte Vermutungen seitens der Forscherin wurden durch die Lehrpersonen bestätigt und ergänzt sowie in einem Fall auch relativiert. Triangulation. Durch die Anwendung verschiedener Methoden auf unterschiedlichen Ebenen kann durch deren Kombination die Qualität der Forschung erhöht werden (vgl. Mayring, 2002, S. 147). Bezugnehmend auf Denzin (1978) umfasst die Triangulation als Gütekriterium das Heranziehen verschiedener Datenquellen, Theorieansätze, Methoden sowie den Einsatz unterschiedlicher Interpreten (vgl. Lamnek, 2010, S. 132 und 142). Triangulation stellt den Versuch dar, unterschiedliche Lösungswege für die der Forschung zugrunde liegende Fragestellung zu finden und die Ergebnisse zu vergleichen (vgl. Mayring, S. 147). Zur Erhöhung der Qualität der vorliegenden Untersuchung wurde darauf geachtet, im Sinne der Triangulation möglichst viele verschiedene Untersuchungsperspektiven einzubeziehen. Dies betrifft zum einen die Ebene der Datenquellen, die neben dem Unterrichtsfeld auch die interviewten Lehrpersonen beinhaltet, zum anderen die Ebene der Datenerhebung durch den Einsatz unterschiedlicher Instrumentarien (Teilnahme im Feld, Videoaufnahmen, Interviews) sowie, zumindest bezogen auf die Untersuchungsarbeit im Feld, die Teilnahme dreier Forschender. IV.3.2 Zum Verhältnis von Subjektivität und Objektivität „Objektivität ist nicht nur für die Durchführung einer Forschungsbemühung zu fordern, sondern sie ist das Zielkriterium wissenschaftlicher Arbeit schlechthin.“ (Lamnek, 2010, S. 156) Diese Forderung ist jedoch aus qualitativer Forschungsperspektive heraus kaum realisierbar (vgl. ebd., S. 226), denn: Der Untersuchungsgegenstand kann nicht vollständig losgelöst vom Kontext, kann nicht vollkommen entsubjektiviert gedacht und in Anwendung standardisierter Methoden erforscht werden. Eine solche Form der Objektivität wäre dem Untersuchungsgegenstand qualitativer Forschung nicht angemessen. Lamnek beschreibt stattdessen eine Objektivität, die „eben nicht durch Ausblendung der Subjektivität, sondern durch deren Berücksichtigung“ (ebd.) entsteht. Die Subjektivität erhält hierbei nicht nur eine Legitimität, sondern ist gleichzeitig geknüpft an ein Bewusstsein (s. hierzu auch IV.1.1 und IV.1.2). Wie bereits deutlich wurde, steht die vorliegende Untersuchung im Zusammenhang mit dem spürenden Subjekt. Gleichzeitig wurde darauf geachtet, eine Form der Objektivität zu finden, die sowohl dem Untersuchungsgegenstand als auch im Hinblick auf die Wissenschaftlichkeit der Arbeit angemessen erscheint. Diesbezüglich lässt sich zum Verhältnis von Objektivität und Subjektivität zusammenfassend

IV.3 Gütekriterien

89

formulieren: Die Untersuchung enthält so viel Objektivität wie möglich und gleichzeitig so viel Subjektivität wie nötig. Dies betrifft beispielsweise die Form der Darstellung des Untersuchungsertrags: Die Vignetten basieren auf subjektiven Wahrnehmungen, weshalb sie nicht darauf angelegt sind, etwas zu beweisen. Des Weiteren wurden die Vignetten in Zusammenhang gebracht mit bereits vorhandenen Wissensbeständen beispielsweise pädagogischer Forschung. Der Einbezug von Literatur steht im Zusammenhang mit einer Untermauerung beziehungsweise teilweise mit einer Ausklammerung des eigenen Gespürten (dies betrifft beispielsweise die in Kapitel III.4 vorgenommene Wertung einer positiven Unterrichtsatmosphäre).170 Durch die kommunikative Validierung seitens der Experten konnte eine weitere Möglichkeit der Objektivierung miteinbezogen werden. Überprüfbarkeit erhalten sie ferner durch den intersubjektiven Nachvollzug. Die Formulierungen der Endkategorien innerhalb des Konzepts (wahrnehmen, verbinden, stimmen) denken das Subjekt mit. Sie wurden jedoch nicht in Bezug auf ein bestimmtes Subjekt, wie beispielsweise einen bestimmten Lehrertyp oder bezüglich der vom Subjekt abhängigen Erzeugung bestimmter Stimmungsqualitäten hin entwickelt, sondern sind durch ihre begriffliche Verallgemeinerung universell einsetzbar. Es ist eine Form intersubjektiver Objektivität, die hierdurch erreicht wird (vgl. hierzu Lamnek, 2010, S. 161). Somit lässt sich zusammenfassen: Durch den Einbezug Böhmes theoretischer und analytischer Atmosphärenbetrachtung, (unter anderem) pädagogischer Literatur sowie durch eine kommunikative Validierung, und damit zusammenhängend unterschiedlicher Methoden, konnte der Untersuchungsgegenstand so weit wie möglich objektiv betrachtet werden – eben unter Berücksichtigung des theoriebegleitet spürenden Subjekts.

170

„Das einfache Wahrnehmen ist untrüglich; erst die Urteile, die sich daran knüpfen, können falsch sein.“ (Welsch, 1996, S. 185)

V Untersuchungsertrag und Darstellung des entwickelten Konzepts anhand von Vignetten Im Kontext der in Kapitel V.1 zunächst dargestellten Ästhetisierung des Lehrberufs wird in Kapitel V.2 die der Arbeit zugrunde liegende Forschungsfrage beantwortet, was das atmosphärische Lehrvermögen im Hinblick auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre beinhaltet. Im Rahmen des entwickelten Konzepts für Lehrende werden diesbezüglich nicht nur die einzelnen Bereiche genannt, sondern die Verbalisierung dient gleichzeitig auch – über die Bewusstmachung – zur Herausbildung dieses Vermögens. Das Konzept enthält somit sowohl eine aufzeigende sowie, damit einhergehend, eine bewusstseinsbildende und weiterführend eine befähigende Komponente. Kapitel V.3 beschäftigt sich abschließend mit der Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens. V.1 Ästhetisierung des Lehrberufs Spricht man von einer Ästhetisierung des Lehrberufs, ist es ein anderer Blick, mit dem man sich dem Unterricht nähert und der eine neue Sichtweise auf den Lehrberuf, die Lehrperson, das Lehren und den Schulalltag im Allgemeinen eröffnet. Es werden Dinge sichtbar, denen man sich sonst weniger zuwendet: Zwischenräume, Unsichtbares, Empfindungen. Hier fordert die Ästhetisierung auf zu einem mehrperspektivischen und sensibilisierten Sehen. Lehrende als Gestaltende von Atmosphären und damit deren Lehren im Sinne einer ästhetischen Tätigkeit, um das es in der Untersuchung vordergründig geht, sind in diesen Gesamtkontext einzuordnen. Im Folgenden werden einige Facetten der Ästhetisierung genannt. Ästhetisierung bedeutet grundsätzlich, Nichtästhetisches ästhetisch zu machen oder als solches zu begreifen (vgl. Welsch, 1996, S. 20/21). Etwas wird auf Wahrnehmungen und Empfindungen – auf die Herstellung von Atmosphären – hin ausgelegt. In Abschnitt II.1.2 wurde bereits ausführlich auf den Trend einer allgemein vorherrschenden Ästhetisierung der Lebenswelt sowohl hinsichtlich positiver, aber auch als kritisch zu betrachtender Aspekte eingegangen. Als positiv wurde beispielsweise die Verschönerung von Städten im Rahmen einer Oberflächenästhetik aufgeführt. Auch das Potenzial einer möglichen ästhetischen Reflexion und damit einhergehend die Bildung eines ästhetisch sensibilisierten Bewusstseins, das auch auf Lebensweltliches und soziale Fragen, nicht zuletzt auf das eigene Selbst, übertragen werden kann (vgl. ebd., S. 58 ff.), wurden genannt. Als kritisch wurde hingegen eingestuft, wenn Sein und Schein vertauscht werden, die Ästhetik zur Essenz, Oberflächliches gar zum Kern der Wahrheit und somit wirklichkeitskonstituierendes Merkmal wird. Kritisches Potenzial birgt auch in sich, wenn Ästhetisierung in Anästhetisierung umschlägt, die Sinnlichkeit entweicht, zur Desensibilisierung führt, und wenn eine sinnliche Überreizung mit einem gleichzeitigen Wahrnehmungsverlust einhergeht, mit einer Abstumpfung, einem Entschwinden des Bewusstseins für das „Irgendwie“ einer Wahrnehmung (s. II.1.2). Hinsichtlich der Wertung sei noch einmal hervorgehoben, dass zwar einzelne Aspekte benannt, eine Pauschalisierung aufgrund der unterschiedlichen Bereiche und der damit einhergehenden Komplexität jedoch nicht vorgenommen werden kann. Bei der Ästhetisierung des Lehrberufs handelt es sich zum Teil um eine Oberflächenästhetisierung, denkt man beispielsweise an die Verschönerung von Klassenzimmern oder Schulbauten. Diese kann jedoch auch geknüpft sein an einen tiefergehenden Kern: das Pädagogische, und betrifft somit grundlegende Strukturen des Unterrichts.171 In Bezug auf die Lehrperson steht die Ästhetisierung im Zusammenhang zu ihrer äußeren Erscheinung, sie betrifft aber auch, im Sinne von Welschs Tiefenästhetisierung, ihr Inneres: die Herausbildung eines „ästhetisch sensibilisierten Bewusstseins“ (ebd., S. 60) – auch im Hinblick auf eigene Gestimmtheiten –, sowie ein daran geknüpftes atmosphärisches Handeln. Allgemein formuliert Welsch diesbezüglich: „Wenn man eine Person als ‚ästhetisch‘ bezeichnet, so muss sich dies nicht […] auf deren Erscheinungsbild oder ästhetischen Habitus beziehen, sondern man kann damit auch meinen, dass diese Person in besonderer Weise ‚empfindungsfähig‘, eigentümlich ‚sensibel‘ 171

Eine Lehrerin sagte im Interview beispielsweise, bei ihr seien die „Wände voller Schüleranerkennung“ (s. Anhang: Interviewbericht Frau Wieland).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_5

92

V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

ist. Ein solcher Mensch vermag Dinge wahrzunehmen, die andere übersehen.“ (ebd., S. 32) Diese Sensibilisierung ist gerade auch im Hinblick auf die immer heterogeneren Klassenzimmer unumgänglich. Bezüglich der heutigen Konstellation der Wahrnehmung charakterisiert Welsch: „Die Wahrnehmung muss in einem offenen und vielfältigen Raum alternativenwach und als Sinn für das Besondere operieren.“ Unordnung, Unsicherheit, Schwebezustände und Unverbindlichkeiten, die einen Teil der heutigen Lebenswelt charakterisieren, verlangen geradezu „ein hohes Maß an Sensibilität, gerade auch an neuartiger Sensibilität für Andersartiges, für Brüche und Divergenzen sowie für Grenzen und Ausschlüsse“ (Welsch, 1996, S. 191/192). Als Teil der Lebenswelt ist dies übertragbar auf die Klassenzimmer beziehungsweise auf das gesamte Feld des Schulbereichs. Einhergehend mit einer Offenheit und Flexibilität bietet die Sensibilisierung des Weiteren eine Chance, die auch Herzog (2002) sieht. Bei der Lehrerausbildung bedürfe es, so schreibt er, „der Vorbereitung auf eine Tätigkeit, bei der Intuition und die Fähigkeit zur Improvisation von wesentlicher Bedeutung sind“ (ebd., S. 582/583). Die Ästhetisierung des Lehrberufs betrifft des Weiteren den Beruf als solchen: Lehrende werden als Pädagogen und Fachdidaktiker überdies zu (atmosphärischen) „Wahrnehmungskünstlern“, zu ästhetisch Arbeitenden (vgl. hierzu Böhme, 2014). Der Lehrberuf erhält dadurch, auch in seiner (gesellschaftlichen) Wirkung nach außen, eine künstlerische Komponente. Im Sinne einer Berufung geht eine solche Ästhetisierung des Lehrberufs dann tiefer, ist sie geknüpft an eine innere (Grund)Haltung: Gemeint ist eine pädagogische Haltung, mit der Lehrende in den Unterricht gehen und diese dann auch zum Ausdruck bringen (s. V.2.2). Der im Zusammenhang zur Lehrperson angesprochene Bereich ist ein durchaus persönlicher, ohne jedoch ins Persönliche einzugreifen: Lehrende im Kontext einer Ästhetisierung zu sehen bedeutet zunächst einmal nur, sie aufgrund ihrer stetigen Anwesenheit im Unterricht als Mit-erzeugende einer Atmosphäre zu sehen – und zwar hinsichtlich ihrer jeweiligen und einzigartigen Persönlichkeit.172 Mit der Lehrperson im Zusammenhang steht als weitere Facette die Tätigkeit, die Lehrende ausüben. Das Lehren verstanden als ästhetische Tätigkeit ermöglicht nicht nur viele und neue (Gestaltungs-)Möglichkeiten, sondern: „Die Lehrkompetenz als Gestaltung von Lernatmosphären zu definieren gibt viel Freiraum, ohne dass sie die Verantwortung des Lehrenden vermindert.“ (Spychiger, 2015b, S. 126) Studien wie diejenige von Prengel (2013) zur Anerkennungsforschung (s. III.4) verdeutlichen die Bedeutung des verantwortungsvollen Umgangs mit Unterrichtsatmosphären und unterstreichen somit die Aussage Spychigers. Nicht nur die ästhetische Tätigkeit des Lehrens an sich steht hierbei im Hinblick auf den Unterricht im Vordergrund, sondern auch der Inhalt, das, was gelehrt wird. Hier betrifft die Ästhetisierung den Unterrichtsinhalt. Die Tatsache, dass Atmosphären im Alltag stets vorhanden sind, oftmals gar manipulieren können, macht nicht nur die eigene Auseinandersetzung mit Atmosphären notwendig, sondern unterstreicht auch die Bedeutsamkeit einer Weitergabe: Atmosphären werden so im Rahmen einer ästhetischen Bildung zum Unterrichtsgegenstand (s. III.3.1). Lehrende sind dann nicht nur selbst „Wahrnehmungskünstler“, sondern bilden auch solche aus. Positive Eigenschaften ergeben sich des Weiteren auch, betrachtet man das „Nährende“ des Ästhetischen, das über das eigentliche Unterrichten hinausgeht, denn: Nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrenden beziehen Nahrung daraus, selbst wahrgenommen und anerkannt zu werden (s. III.4.1 und III.4.2). So verstanden steht eine Ästhetisierung des Lehrberufs im Zusammenhang mit der Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses.173 Unter das eigene Grundbedürfnis fällt diesbezüglich zum Beispiel auch das Bedürfnis, das Klassenzimmer nicht nur im Hinblick auf das Wohlbefinden der Heranwachsenden, sondern auch hinsichtlich eigener Bedürfnisse zu gestalten. Von großer Bedeutung ist, bezüglich der ästhetischen Betrachtungsform nicht den Anspruch einer Absolutheit zu erheben, sondern in der Ästhetik einen Aspekt zu sehen: Mit der Ästhetisierung wir die Ästhetik zur Teil-Essenz des Lehrberufs – Teil-Essenz in der Form, dass die Ästhetik nicht alles und in 172 173

Diese Miterzeugung bezieht sich natürlich auch auf Außerunterrichtliches, wie zum Beispiel das Lehrerzimmer. Dieser Aspekt ist insofern auch relevant, als das, was von „genährten“ Lehrerinnen und Lehrern ausgeht, anderer Qualität ist als von „ungenährten“ („bedürftigen“) Lehrpersonen.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

93

ihr hinsichtlich der Atmosphären als ihre primären Wahrnehmungsgegenstände doch Grundlegendes zu finden ist: Von ihrer stetigen Allgegenwärtigkeit ausgehend wird die Atmosphäre durch die bloße Anwesenheit oder das Handeln Lehrender immer und automatisch mittangiert, meist dominiert. Jedoch gilt es weiter zu denken: Gekoppelt an Nicht-Ästhetisches bildet das Ästhetische hierbei mal die Rück-, mal die Vorderseite. Entscheidend ist das Zusammenspiel: Das eine ist ohne das andere nichts beziehungsweise das eine ist ohne das andere nicht vollständig. Im Hinblick auf die Chance der Ästhetisierung bezüglich eines Sensibilisierungseffekts innerhalb der Gesellschaft formuliert Welsch folgendes Beispiel: „[Toleranz] wäre ohne Sensibilität bloß ein leeres Prinzip.“ (Welsch, 2017, S. 28) Weiter schreibt er: „Vermutlich leben wir in einer Gesellschaft, die zu viel von Toleranz redet und zu wenig Sensibilität besitzt.“ (ebd., S. 29) Betrachtet man seine erste Formulierung in Analogie zur Pädagogik, könnte man formulieren: Pädagogisches Handeln wäre ohne Sensibilität eine leere Disziplin. Und vielleicht wird auch hier oftmals zu viel vom pädagogischen Handeln geredet, ohne jedoch eine eigene Sensibilität herauszubilden. Beide Beispiele weisen nicht nur auf die Bedeutsamkeit beziehungsweise die Chance einer Ästhetisierung hin. Sie implizieren gleichzeitig auch, dass die Sensibilität geknüpft ist an etwas, das sie beinhaltet (moralische Prinzipien, pädagogische Disziplinen), wodurch das Zusammenspiel noch einmal deutlich wird. Den Lehrberuf im Kontext des Ästhetischen zu sehen, kann somit nicht alles sein und ist es auch nicht. Vielmehr ist es eine primär auf Empfindungen ausgerichtete Betrachtungsweise, ohne jedoch die dahinterstehende Realität zu vernachlässigen oder gar zu missachten.174 Mit der hier beschriebenen Ästhetisierung wurde das Verhältnis zwischen Lehrenden und Schülerinnen und Schülern, den Lehrenden und der Gesellschaft, die Lehrperson an sich, ihr Beruf beziehungsweise ihre Berufung, das Lehren sowie der Unterrichtsinhalt, in einem anderen Licht betrachtet. Kontextual gesehen könnte die Ästhetisierung überdies ausgeweitet werden auf das gesamte Feld Schule und somit zum Beispiel auch auf Lehrerzimmer oder auch auf die einzelnen Schulzweige. Bezüglich des letzten Aspekts sei abschließend das Interviewbeispiel eines Lehrers, der an der Untersuchung teilgenommenen hat, aufgegriffen (s. Anhang: Interview Herr Buber). Dieses Beispiel stellt eine Ästhetisierung der Hauptschule durch die Lehrperson dar: Herr Buber berichtet von einem T-Shirt, das er häufig im Unterricht trage – ein T-Shirt mit einem Totenkopf und der Aufschrift „Hauptschule“ darunter. Es sei das Logo von St. Pauli, er habe das T-Shirt selbst designt, erzählt er. Der Grund: Er möchte die Hauptschule damit in einem anderen, positiveren Licht erscheinen lassen: „Es gibt Kinder, auch jetzt in meiner Klasse, die haben geweint, weil sie in die Klasse kamen, weil sie in die Hauptschule kamen. Kinder sind unglücklich, Kinder werden gehänselt. Ich will es cool machen, ich will die Hauptschule cool machen. […] Da habe ich gesagt: ‚Okay, ich kopiere diesen Kult von Sankt Pauli. Ich mache einen Totenkopf und [schreibe] dann ´Hauptschule [darunter]‘.“ V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht V.2.1 Einleitendes zum Konzept Anmerkung zum Anwendungsbereich Das Konzept des atmosphärischen Vermögens sowie der Begriff des atmosphärischen Vermögens selbst wurden im Rahmen dieser Arbeit aus der Unterrichtsbeobachtung heraus und speziell für die Unterrichtspraxis und somit für den pädagogischen Raum entwickelt. Etwas allgemeiner formuliert kann dieser Raum als menschlicher Handlungsraum bezeichnet werden. In dieser Allgemeinheit betrachtet eignet sich das Konzept des atmosphärischen Vermögens in seiner Thematik und in seiner Anwendung auch für andere Bereiche: Gebunden an eine performative Atmosphärengestaltung kann das Konzept im Wesentlichen überall dort eingesetzt werden, wo es um eine atmosphärische Gestaltung im menschlichen Raum geht, wo etwas gemeinsam getan wird, wo ein Ergreifen und Ergriffensein beziehungsweise

174

Analog dazu schreibt Welsch (1996) in Bezug auf die Architektur: „Ästhetik ist eben nicht alles, und wenn man sie an die erste Stelle setzt, so bekommt das der Architektur schlecht und nicht einmal der Ästhetik gut.“ (ebd., S. 265)

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Reziprozität im Allgemeinen die Situation charakterisieren. Der Aspekt des menschlichen Handlungsraums schließt hierbei das Gegenständliche jedoch nicht aus, da Gegenstände natürlich Teil der Handlung beziehungsweise der Atmosphäre sein können. Als menschliche Handlungsräume seien beispielsweise die Chor- und Orchesterarbeit, Performances, das Konzertwesen oder aber auch der therapeutische Bereich genannt. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellten Kategorien und Vignetten beziehungsweise Fragmente sind spezifisch auf eine pädagogische Sicht- und Gestaltungsweise ausgelegt. In nicht pädagogischen Bereichen eingesetzt, stellt sich dann adressatenbezüglich notwendigerweise die inhaltliche Frage nach Qualitäten und Ausprägungen der einzelnen Facetten beziehungsweise deren Anpassungen. Ob und inwiefern das Konzept auf andere Räume übertragen werden kann, liegt damit letztendlich jeweils im eigenen Ermessen. Inhaltliche Darstellung Das Konzept des atmosphärischen Vermögens wird im folgenden Verlauf der Arbeit nun für die untersuchte Unterrichtspraxis vorgestellt. Es enthält aus der Untersuchung heraus gebildete Begrifflichkeiten (Haupt- und Subkategorien) sowie gesammelte Beispiele (Vignetten und Fragmente). Miteinher gehen einzelne Beschreibungen und Erläuterungen, teilweise in Bezug auf vorherige theoretische Inhalte (es werden jeweils Verweise angegeben). Das Konzept steht im Kontext der Ästhetisierung des Lehrberufs und muss verstanden werden im Zusammenhang mit einem vorausgehenden Verständnis der Kapitel II und III (Atmosphärenbegriff und Verknüpfung der Bereiche Ästhetik und Unterrichtspraxis) im Sinne eines theoretischen Wissensbestands. Ferner bezieht sich das Konzept auf die Seite der Lehrenden, sprich auf deren Handlungs-/Gestaltungsweisen und Wahrnehmungen, ohne jedoch den Blick auf die Schülerinnen und Schüler zu verlieren. Zusammengefasst beinhaltet es folgende Punkte: (1) Beschreibung einer den Handlungs- und Gestaltungsweisen vorausgehenden pädagogischen Grundhaltung, (2) Darstellung des Begriffs des atmosphärischen Vermögens, (3) Nähere begriffliche und inhaltliche Erläuterungen der Kategorien, jeweils unter Verweis auf die Vignetten (V) und Fragmente (F) in Abschnitt V.2.4.5 und (4) Schematische Darstellung des atmosphärischen Vermögens im Unterricht anhand eines zusammenfassenden Schemas. Ziele und Funktion Das Konzept wurde hinsichtlich verschiedener Aspekte entwickelt. Zunächst ist es daraufhin angelegt, ein Bewusstsein zu erzeugen beziehungsweise diesbezüglich bereits Vorhandenes anzusprechen. Hierfür dienen vor allen Dingen die Vignetten und Fragmente (Beispiele) als Mittel des Nachvollziehens und Wiedererkennens (s. IV.2.4.2). Des Weiteren werden sie eingesetzt, um einzelne Wahrnehmungsund Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen und zu einem besseren Verständnis beizutragen. Ferner fungieren sie als Einladung zum Reflektieren sowie als Anregung zum Suchen und Finden neuer oder ähnlicher Möglichkeiten. Der schematischen Darstellung des atmosphärischen Vermögens wird eine zusammenhaltende und veranschaulichende Funktion zuteil. Als etwas Greifbares und stets Darauf-Zugreifbares stellt das Schema darüber hinaus eine Gedächtnisstütze dar, die sowohl in der Unterrichtsvorbereitung als aber vor allen Dingen auch in der jeweiligen Unterrichtssituation Lehrende damit ausstattet, auf der Wahrnehmungsebene spürend zu handeln (und zu planen). Als eine Art „gekonnter Griff“175 kann das Schema dann in jeder Situation angewandt werden. Zusammengefasst enthält das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Hinblick auf seine Funktion somit (1) sowohl eine bewusstseinsbildende beziehungsweise –ansprechende Komponente (dieser Aspekt ist essentiell, da Lehren zu einem großen Teil situatives Handeln bedeutet176) als auch (2) die Kom-

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Buck verwendet diesen Ausdruck im Zusammenhang zum Begriff der Konzeption: Konzeptionen sind „Weisen des Umgehens mit den Dingen, und etwas zu erkennen heißt hier primär: mit ihm zurechtkommen. […] Sie sind eine Praxis, nämlich ‚gekonnte Griffe‘“. (Buck, 1967, S. 126) Hierzu sei auch auf Van Manen (1995) verwiesen. Er spricht von einem „pädagogischen Takt“ – keiner Taktik – und schreibt diesbezüglich: „Die Substanz des pädagogischen Handelns […] vollzieht sich auf dem Niveau des Augenaufschlags.“ (ebd., S. 69) Es handelt sich somit um ein unmittelbares Handeln: „Es bleibt keine Zeit, von einem bestimmten

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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ponente der Reflexion, des Weiterdenkens und damit einhergehend (3) einer Autonomisierung. Der Aspekt der Autonomisierung ist besonders hervorzuheben, denn: Das Konzept ist nicht darauf angelegt, vorgefertigte und auf bestimmte Unterrichtssituationen zugeschnittene Handlungsmuster darzubieten, die als Vorlage direkt übernommen werden können. Sehr wohl stellt es auf der Wahrnehmungsebene Unterricht eine Handlungsanweisung dar – jedoch im Sinne eines allgemeingültigen Gerüsts. Es soll dazu befähigen und auffordern, selbst aktiv und kreativ zu werden, auszuprobieren und zu reflektieren. Durch die angestrebte und miteinhergehende Sensibilisierung enthält das Konzept somit eine didaktische Komponente. In diesem Sinne kann es verstanden werden als etwas, das man vollzieht, anwendet, aber auch als etwas, das einen befähigt, etwas zu tun. Den Handlungs- und Gestaltungsweisen geht eine pädagogische Grundhaltung voraus. Auf den Begriff der Haltung, wie er hier verwendet wird, sowie im Zusammenhang zum atmosphärischen Lehrvermögen wird im Folgenden kurz eingegangen. V.2.2 Eine Grundhaltung: in der pädagogischen Haltung „musikalisch“ sein Unter anderem bei Bollnow findet sich eine klare Beschreibung dessen, wie der Begriff der Haltung in der vorliegenden Arbeit verstanden werden muss. Bollnow (2009/1941) versteht unter dem Begriff der Haltung eine Festigkeit des Selbst, eine innere, selbstgeprägte und selbstgewonnene Form oder Formung (vgl. ebd., S. 116 ff.). Es ist nichts von Natur Gegebenes, sondern: „Eine Haltung […] wird eingenommen. Das braucht nicht zu bedeuten, dass die Haltung dem Menschen bewusst ist. Sie ist nicht der ihm gegenständliche Inhalt, sondern der habituell gewordene, ihm selber in der Regel unbewusste Ausdruck seiner Stellungnahme.“ (ebd., S. 118) Damit im Zusammenhang steht der Haltungsbegriff, wie ihn Aristoteles verwendet: Aufgrund der Tatsache, dass die Haltung nicht angeboren, sondern erworben wird, wohnt ihr ferner das Moment der Entscheidung inne (vgl. Rese, 2003, S. 84). Um den Begriff der Haltung weiter zu beschreiben, finden sich bei Aristoteles weitere Merkmale: Eine Haltung stellt für ihn einen Dauerzustand dar (vgl. Rese, 2003, S. 87) und zeichnet sich des Weiteren aus durch ihre Standhaftigkeit gegenüber äußeren Einwirkungen (vgl. ebd., S. 84). Einmal gefestigt, ermöglicht diese Standhaftigkeit der Haltung, sich auf bestimmte Art und Weise zu etwas zu verhalten und nicht zufällig von etwas bewegt zu werden (vgl. ebd.). Es geht hierbei um ein Verhältnis des eigenen Selbst zu Menschen und Dingen (vgl. Bollnow, 2009/1941, S. 118), aber auch um eine bewusste Rückbezüglichkeit auf das eigene Selbst: „Eine Haltung zu den Dingen einzunehmen, bewirkt […] auch ein individuelles Bewusstsein von der eigenen Position inmitten der sich ständig in Bewegung befindlichen Wirklichkeiten.“ (De Ponte, 1996, S. 110) Die Standhaftigkeit inmitten eines flüchtigen Äußeren, die auch De Ponte beschreibt, unterstreicht noch einmal das Bild einer inneren Festigkeit, einer inneren Form. Mit der Beschreibung dieser Merkmale des Begriffs wird auch noch einmal deutlich, dass die Haltung überdies gebunden ist an äußere Qualitäten beziehungsweise an ein Nach-außen-Gehen: der Ausdruck einer Stellungnahme, das Sich-Verhalten zu etwas, aber auch die Unbeugsamkeit gegenüber äußerer Einwirkungen. In Bezug auf das Zwischenmenschliche formuliert Bollnow diesbezüglich: „Die Haltung legt von vornherein fest, wieweit und in welcher Art ich den andern Menschen an mich heranlasse, d.h. sie bestimmt schon von sich aus die Möglichkeiten menschlichen Kontakts.“ (Bollnow, 2009/1941, S. 118) Das Verhalten des Menschen wird geleitet von seiner Haltung. Bezugnehmend auf Lipps (1941) schreibt Bollnow weiter: „Die Haltung spannt […] den Raum um den Menschen, in dem die Begegnung mit dem andern Menschen allererst geschehen kann.“ (ebd.; nach Bollnow, 2009/1941, S. 118) Analog zum hier Beschriebenen kann die pädagogische Haltung als innere Form und im Sinne einer Grundhaltung als „generelle Art und Bereitschaft“177 pädagogischen Handelns gesehen werden. An ein Äußeres gebunden geht es somit zunächst darum, sich um das Wohlergehen der Heranwachsenden zu bemühen (vgl. hierzu Van Manen, 1984/1982, S. 132 ff.) und sich an deren Bedürfnissen zu orientieren.

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Augenblick zurückzutreten, um (rational, moralisch oder kritisch) zu überlegen, was man als nächstes tun oder sagen soll.“ (ebd., S. 66) In einer theoretischen Auseinandersetzung gesprächspsychotherapeutischer Inhalte findet sich in einer etwas älteren Ausgabe des Handwörterbuchs der Psychologie von 1980 ein Kapitel zur therapeutischen Grundhaltung, verstanden als eine „generelle Art und Bereitschaft therapeutischer Aktivität“ (Asanger & Wenninger, 1980, S. 172).

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Es ist weiter eine besondere Art, Heranwachsende zu leiten, ihnen die Welt zu zeigen, sie zu ermuntern und ihnen eine „fundamentale Garantie“ (ebd., S. 133) im Sinne eines stetigen Vertrauensvorschusses zu gewähren (vgl. ebd.). Ähnlich formuliert es Bollnow (2013/1964), wenn er von einer erzieherischen Haltung – eine „bestimmt geartete Form der menschlichen Zuwendung“ (ebd., S. 188) – spricht, die jedem Handeln vorausgeht (vgl. ebd.). Neben der Liebe und dem Vertrauen gehört zu einer solchen Haltung „dann weiterhin die überlegene, wissende Güte, die Menschlichkeit in der umfassenden Bedeutung, ferner die Hoffnung auf die günstige Entwicklung des Kindes und die unermüdliche Geduld bei allem Zurückbleiben hinter den Erwartungen und mancherlei andre Erfordernisse auf der Seite des Erziehers.“ (Van Manen, 1984/1982, S. 192/193) Hinsichtlich einer solchen Grundhaltung könnte man noch die eigene Begeisterung (für das Fachliche) und das Interesse an der Begeisterung anderer ergänzen. Mit dem Handeln einhergehend steht die Haltung auch der bewussten Erzeugung beziehungsweise Mitbestimmung einer Atmosphäre voraus. Wenn auch inhaltlich umfassender als Bollnows Bezeichnung der „Grundhaltung des Erziehers“, verwendet Friebel (1980) analog dazu den Begriff des „Stils“178. Sowohl Haltung als auch Stil sind nicht mit der Atmosphäre identisch, tragen aber zu ihrer Mitbestimmung und -gestaltung wesentlich bei, „oder umgekehrt: Atmosphäre wird in einem ihr entsprechenden Stil zum Ausdruck gebracht“ (ebd., S. 30). Die Unterrichtsatmosphäre kann somit verstanden werden als an die innere Haltung179 gebunden und, über die Artikulationsweisen, als deren (beider) Ausdruck. Um dies begrifflich etwas differenzierter zu fassen, wird die beschriebene pädagogische Haltung ergänzt um ein „Musikalisch-Sein“ beziehungsweise konkreter: um ein „musikalisch“180 Pädagogisch-Sein. Musiker sind Atmosphärenkünstler. Mit ihrer Musik, ihrer Art zu spielen, ihrem Dasein auf der Bühne erzeugen sie eine (meist starke) Atmosphäre. Selbst die Stille vor und nach dem Erklingen der Musik oder die Stille der Pausen innerhalb eines Musikstücks erscheint hierbei als besonders: spannungsvoll, „geladen“. Wenn man über jemanden sagt, er oder sie sei musikalisch, dann ist es nicht nur eine besondere Begabung, die hier angesprochen wird. Es ist auch eine besondere Empfindsamkeit, eine Sensibilität, ein emotionaler Ausdruck, ein Gestimmtsein, um das es hier geht. Die Bezeichnung eines Vortragsstils als „musikalisch“ bezieht sich weniger auf eine technische Perfektion als vielmehr darauf, dass etwas als besonders klangvoll, ausdrucksstark, gefühlsbetont, stimmungsvoll, kurz: als intensiv spürbar empfunden wird. Weiter bedeutet musikalisch zu sein, offen zu sein. Diese Offenheit geht einher damit, etwas zum Klingen zu bringen, Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig empfänglich zu sein für die Musik, auch die Musik anderer Musizierender wahrzunehmen und zu spüren.181 Führt man diesen Gedanken fort, ergeben sich somit zwei Seiten, die das „Musikalisch“-Sein beinhaltet: die Seite der Sensibilität, des Spürens, der Offenheit und des Sich-betreffen-Lassens und gleichzeitig die Seite des Nachaußen-Gehens, des Berührens und Mitreißens. Nun sind Lehrende in der Regel nicht unbedingt Künstler, sondern – je nach Fach und Selbstbestimmung – allen voran Fachdidaktiker und Pädagogen. Jedoch: Im Kontext der Ästhetisierung und somit mit 178

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Unter Stil versteht Friebel (1980) die „bewusste oder unbewusste Geprägtheit aller Lebensäußerungen, Gewohnheiten und Ausdrucksweisen einer Gruppe von Menschen, einer Epoche oder eines einzelnen“ (ebd., S. 30). Nicht allein eine emotionale Grundhaltung ist also in einem Stil verkörpert, „sondern zugleich auch eine ‚Weltsicht‘, die sich in meist nicht bewussten praktischen, aber ebenso in kognitiven Orientierungen äußert.“ (Schubert, 2004, S. 122) Dies betrifft überdies auch die äußere Haltung (Grenzen haben, eigene Form haben, mit der Körpersprache „bei sich“ sein), wobei beide letztlich zusammenhängen: „In den Erscheinungsformen körperlicher H. findet die Positionalität einer Persönlichkeit ihren Ausdruck.“ (Mields, 1971, S. 50) Es wird hierbei bewusst der Begriff „musikalisch“ verwendet und nicht von einer ästhetisch- oder atmosphärisch-pädagogischen Haltung gesprochen. Beide Begriffe wären dem Inhalt zwar angemessen, jedoch sind sie eher neutral gehalten und erlauben somit nicht die Spezifizierung und Konkretisierung, die die Konnotation des Begriffes „musikalisch“ mit sich bringt. Auch eine Bezugnahme auf andere Kunstformen oder auf das Künstlerische im Allgemeinen wäre nicht dienlich, da sich der Begriff „musikalisch“ in Bezug auf die Thematik als facettenreicher, spezifischer und zutreffender erweist (nicht jede Kunstgattung beinhaltet beispielsweise das Prozesshafte oder das „Klangvolle“ und Variationsreiche, das sich durch den Einsatz des gesamten menschlichen Körpers ergibt). Nicht nur nach außen Spürbares, sondern auch Stimmungen aufnehmend (z.B. in einer Konzertsituation oder beim gemeinsamen Üben). Wobei es hier anzumerken gilt, dass dies keine negative Wertung bezüglich eher introvertierter Lehrender darstellt. Das Beschriebene bezieht sich auf die pädagogische Haltung (diese gilt es, zum Klingen zu bringen), nicht jedoch auf die eigene Persönlichkeit.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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Blick auf die Wahrnehmungsebene steht ihre pädagogische Haltung im Zusammenhang mit den beschriebenen musikalischen Eigenschaften.182 Damit lässt sich formulieren: „Musikalisch“ pädagogisch sein bedeutet, mit einer pädagogischen Haltung in den Unterricht zu gehen und diese dann auch zum Ausdruck zu bringen, offen zu sein, nach außen gestimmt, klangvoll, spürbar zu sein (z.B. Begeisterung) und damit eine positive und der Situation angemessene Atmosphäre zu erzeugen (beziehungsweise mit-zu-erzeugen). Dem Handeln vorausgehend, steht die beschriebene Haltung im Zusammenhang mit dem atmosphärischen Vermögen, um das es im folgenden Kapitel geht. V.2.3 Der Begriff des atmosphärischen Vermögens In Anlehnung an Spychigers (2017) Begriff des ästhetischen Vermögens sowie Tellenbach (1986) und Böhme (2007) aufgreifend wird im Rahmen der Arbeit von einem atmosphärischen Vermögen gesprochen. Der Begriff des Vermögens findet sich bereits bei Hubert Tellenbach im Zusammenhang zur Atmosphäre. Tellenbach (1986) bezeichnet hierbei das Vermögen als „ein Spüren, ein Gespür für Atmosphärisches“ (ebd., S. 49). Bezugnehmend auf Minkowski (1936) greift er das französische Wort „aspirer“ auf und schreibt: „Es soll darin zum Ausdruck kommen, dass ich dem Atmosphärischen nicht nur ausgesetzt bin, sondern seiner Eindringlichkeit auch alle Poren meines Wesens (tous les pores de mon être) öffnen kann.“ (ebd.; zitiert nach Tellenbach, 1968, S. 49) „Aspiration“ ist in diesem Sinne „ein Phänomen des tätigen Ich (un phénomène du moi actif). Fehlen indessen nicht in aspirer die Momente von Wahl und Bewegung? Der Geist unserer Sprache weist uns das Wort ‚Spüren‘ an, worin auch die suchend erfassende Hinwendung begriffen ist.“ (Tellenbach, 1968. S. 49) Weitergehend formuliert er: „Im Gespür für Atmosphärisches besitzen wir ein Organ des Erfassens dessen, was Mitwelt und Umwelt ganz unmittelbar und einheitlich charakterisiert. Dem Spüren dieses Unwägbaren, Ungestaltigen entspringen einprägsame Vor-Urteile über mitmenschlich Begegnendes, entspringen Stimmungen, die primäre sympathetische Zustimmung oder ablehnende ‚Animosität‘ sein können.“ (ebd.) Tellenbachs Beschreibung des Vermögens steht im Zusammenhang mit einem aktiven Spüren, einer aktiven Empfänglichkeit. Dies zeigt jedoch nur eine Seite dessen, was das atmosphärische Vermögen, wie es im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendet wird, beinhaltet, betrachtet man Atmosphären nicht nur von der Rezeptionsseite her, sondern auch unter dem Aspekt der Atmosphärenerzeugung. Was hierbei fehlt, ist die Seite der nach außen gehenden Gestaltung, der Handlungsebene, auf der bestimmte atmosphärische Qualitäten und Intensitäten erst bewusst erzeugt werden können. Das Vermögen, um das es bei Spychiger (2017) geht, ist weniger geknüpft an ein Spüren. Bezugnehmend auf Bateson (1979) steht ihr Begriff des ästhetischen Vermögens vielmehr im Zusammenhang mit einer „allgemeinen kognitiven Fähigkeit, Ordnungen und Muster interpretierend wahrzunehmen, sie mental zu halten, zu bewegen und auch wieder auflösen zu können.“ (Spychiger, 2017, S. 37) Auch das Suchen nach solchen Mustern und das Balancieren einer damit einhergehenden grundsätzlichen Ungewissheit hängen damit zusammen (vgl. ebd., S. 54). Des Weiteren betrachtet sie als zugehörig, „dass das Individuum diese Vorgänge als sinnhaltig und sinnstiftend erlebt und ihnen handelnd Ausdruck und Gestalt geben kann.“ (ebd., S. 37)183 Neben der Wahrnehmung und einer allgemeinen Empfänglichkeit spielt hierbei somit auch die Handlungsebene eine entscheidende Rolle. Dies wird auch in ihrer Formulierung hinsichtlich einer ästhetisch kompetenten Person deutlich: „Eine ästhetisch kompetente Person ist nicht nur für ästhetische Einflüsse offen, sondern auch handelnd beweglich, sie gestaltet auf diesem 182

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Ein Beispiel hierfür stellt das „Pädagogische Halten“ (vgl. hierzu Spychiger, 2018) dar: Der Moment, in dem eine Lehrperson durch ihr aufmunterndes Lächeln einen Schüler oder eine Schülerin für ihn oder sie (unbewusst) spürbar hält, zum Beispiel, wenn die Antwort gerade nicht kommen mag. Ausgehend von dem Vertrauensvorschuss und der geduldigen Haltung der Lehrperson hat dieser Moment damit einen bestimmten „Klang“, eine bestimmte Qualität – tragend, stützend –, geknüpft an ein temporäres Spannung-Halten, so als würde man der Stille einer musikalischen Pause eine besondere Intensität verleihen. Eine „musikalisch“ pädagogische Haltung und ein daran geknüpftes „spürendes Handeln“. Als Beispiele nennt Spychiger, neben anderen, die musterbildende Ordnung von Sternen hin zu Sternenbildern, aus dem musikalischen Bereich das Blattspiel oder das ordnende und sinnstiftende Hören von Geräuschen und Tönen hin zu Musik, zu einem musikalischen Werk (vgl. ebd., 2017, S. 41).

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Weg ihr Leben und nimmt Einfluss auf ihre Umgebung.“ (ebd.; vgl. hierzu auch Hechler & Spychiger, 2017)184 Hechler und Spychiger beziehen sich hierbei auf das Modell des Person-Welt-Bezugs des Psychologen Alfred Lang (1993) (vgl. Hechler & Spychiger, 2017, S. 39). Auf einer semiotischen Grundlage gesehen stellt dieses Modell einen Kreislauf dar: Eine Person wirkt über ihre Handlungen auf die Welt ein und verändert sie, „um dann wieder neue Eindrücke aus der Welt aufzunehmen.“ (ebd.) Als semiotische Prozesse werden dann die Beziehungen zwischen Person und Welt beschrieben (vgl. ebd.). Ästhetische Kompetenz bezieht sich nun auf Prozesse der Rezeption und der Produktion, unterteilbar in die beiden Teilkompetenzen: wahrnehmend-verarbeitend und planend-handelnd (vgl. ebd.). Folgt man der Theorie der neuen Ästhetik – Atmosphären sind primäre Gegenstände der Wahrnehmung – ergibt sich dadurch konsequenterweise eine Verbindung zwischen dem ästhetischen und dem atmosphärischen Vermögen. Trotz ihrer Familienähnlichkeit müssen sie voneinander unterschieden werden, ist das ästhetische Vermögen doch stärker auf das Form- und Musterbildende, auf das Kognitive gerichtet, wohingegen beim atmosphärischen Vermögen eine weniger distanzierte, unmittelbarere Erfahrung dessen, was dazwischen ist, im Vordergrund steht. Es sind dann Qualitäten, empfundene Stimmungen, die hierbei im Hinblick auf Wahrnehmung und Gestaltung vordergründig sind. Eine solche Trennschärfe ist weniger praxisnah und kann nur theoretisch vorgenommen werden, da in der Praxis das Ästhetische immer gleichzeitig auch an das Atmosphärische gebunden ist. Allerdings erlaubt eine Bewusstseinsverlagerung sowohl von einem ästhetischen als auch von einem atmosphärischen Vermögen zu sprechen. Der inhaltliche Fokus ist dann jeweils ein anderer beziehungsweise verschiebt sich jeweils. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: Auf einer Autobahn lassen sich im Dunkeln und in zwei Fahrtrichtungen rote und weiße Scheinwerferlichter erkennen. Betrachtet man diese ästhetisch, so ergibt sich daraus möglicherweise ein Lichtspiel: fließende Linien aus leuchtenden Farben, die zusammen eine kunstvolle Einheit bilden. Es ist eine kognitive und kontemplative Leistung (vgl. hierzu auch Seel, 1997), die hierbei vollzogen wird, eine andere Art sehend wahrzunehmen, ein ästhetisches Vermögen. Atmosphärisch wird es dann, wenn es um das Betroffensein, um die Empfindung geht, wenn die Lichter eine Atmosphäre erzeugen, wenn eine von ihnen ausgehende Wirkung erfahren wird. Der Fokus verlagert sich hier dann auf das „Innere“, auf das Gespürte. Beiden gleich ist, dass sie nicht nur die Wahrnehmungs-, sondern auch die Handlungs- und Gestaltungsebene beinhalten – im einen Fall im Hinblick auf Muster etwa, im anderen auf das Spürbare. Mit der Beschreibung einer „ästhetisch kompetenten Person“ ist bereits der Begriff der Kompetenz185 angeklungen. Spychiger verwendet den Begriff des ästhetischen Vermögens im Sinne einer ästhetischen Kompetenz, wobei der Begriff verstanden werden muss im Zusammenhang mit einer von ihr gewählten Definition von Schori Bondeli et al. (2017): „Kompetenz ist das Vermögen eines Individuums, eine bestimmte Lebenssituation bzw. eine bestimmte Aufgabe (oder einen bestimmen Typus von Lebenssituationen bzw. Aufgaben) effektiv und – falls geboten – eigen- und sozialverträglich zu bewältigen. Die Kompetenz basiert: a) auf Ressourcen, also auf relevantem situativem Wissen oder situationstypischem deklarativem Wissen sowie prozeduralem Wissen, und b) auf der Fähigkeit und dem Willen, die genannten Ressourcen in einer konkreten Handlungssituation lösungsorientiert zu aktivieren und zu organisieren.“ (ebd., S. 47) Obwohl das atmosphärische Vermögen durchaus Elemente einer solch beschriebenen Kompetenz beinhaltet, wird im Rahmen des hier entwickelten Konzepts für die Lehrerbildung bewusst kein Kompetenzbegriff verwendet. Der Grund hierfür liegt darin, dass das atmosphärische Vermögen nicht auf einer Stufe mit den bereits formulierten Kompetenzen der Lehrerbildung (2004/2014) stehen und mit ihnen verglichen werden kann. Denn: Diese Kompetenzen – elf an der Zahl – wurden zur allgemeinen Standardisierung und Überprüfung der Lehrtätigkeiten auszubildender Lehrpersonen formuliert und stellen somit ein Anforderungsprofil für Auszubildende dar, die diese im Rahmen des Vorbereitungsdienstes (und darüber hinausgehend) erfüllen sollen. Damit einher geht konsequenterweise eine Wertung. Versteht man Kompetenz im etymologischen Sinne – abgeleitet vom Grundverb „petere“ (lat.): „zu erreichen suchen, streben nach, einer Sache nachgehen“ (Stowasser 1969; zitiert nach 184

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Die beidseitige Betrachtung findet sich auch bei Böhme, wenn er in Bezug auf eine ästhetische Bildung von einer atmosphärischen Kompetenz spricht. Er meint hierbei die Fähigkeiten, Atmosphären wahrzunehmen und zu gestalten (vgl. Böhme, 2007, S. 40) (s. III.3.1). Für eine allgemeine Präzisierung des Kompetenzbegriffs s. auch Hartig & Klieme, 2006, S. 128-129.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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Losert, 2017, S. 96) – zielt der Begriff der Kompetenz im Prinzip nicht nur auf den Besitz einer Fähigkeit ab, „sondern auch auf das Streben, eine Fähigkeit zu erwerben. Ich besitze nicht eine Kompetenz, ich bemühe mich darum kompetent zu werden und zu bleiben.“ (Losert, 2017, S. 96) Diese Aussage ist dem Bildungsbegriff (vgl. ebd.), einem Prozessdenken, und damit auch dem atmosphärischen Vermögen in gewisser Hinsicht sehr nahe. Allerdings: Die Verwendung des Kompetenzbegriffes in der heutigen Zeit, gerade in der Pädagogik, steht im Zusammenhang mit operationalisierten Lernzielen, Kompetenzbeschreibungen werden gar mit ihnen gleichgesetzt (vgl. Losert, 2017, S. 96). Kompetenz wird zu etwas Messbarem, beschreibt etwas, das man am Ende eines Lernprozesses (vermeintlich) tatsächlich können sollte. Die atmosphärische Gestaltung im menschlichen Raum ist etwas Fragiles, gebunden an ein Sensorium und somit stark situations- und persönlichkeitsabhängig (schließlich tritt man auch selbst in Erscheinung, ist stets in der Situation anwesend). Dies erschwert eine Wertung oder macht sie gar unmöglich. Das atmosphärische Vermögen im Unterricht kann somit zwar als bei einem selbst ausbildbare Fähigkeit verstanden werden. Aufgrund der Subjektbezogenheit – subjektives Spüren, persönliche Wirkung – sowie in Bezug auf den fragilen Charakter von Atmosphären ist es jedoch kaum im Rahmen des Kompetenzprofils beziehungsweise im Begriff einer zu bewertenden, messbaren Kompetenz fassbar.186 Dies unterstreicht auch eine Formulierung von Böhme: „Weil Atmosphären weder Substanz noch Akzidens, weder rein objektiv noch rein subjektiv sind, fallen sie quasi aus dem vernünftig Sagbaren heraus.“ (Böhme, 2013, S. 25) Zwar ist es möglich, sich mit anderen über eine für alle spürbare Atmosphäre zu verständigen, jedoch: „Freilich nie vollständig und nicht schlechthin mit jedermann – es gibt offenbar bestimmte Voraussetzungen der Sensibilität, die die Verständigung ermöglichen.“ (ebd., S. 26) Dies schließt eine standardisierte Wertbarkeit auch auf Seiten der Wertenden aus. Fasst man Beschriebenes nun zusammen, lässt sich das atmosphärische Vermögen im Sinne einer vorläufigen und noch weniger spezifischen Definition folgendermaßen beschreiben: Das atmosphärische Vermögen meint die Fähigkeit, „spürend zu handeln“ und damit Atmosphären wahrzunehmen und zu gestalten. Diese Definition wird in Abschnitt V.2.5 noch einmal erweitert aufgefasst. V.2.4 Darstellung und Erläuterung der Kategorien anhand von Vignetten und Fragmenten Einleitendes „[…] Wahrnehmung von Einzelheiten, die man einzeln lässt – und der gleichzeitigen Bemühung, diese Einzeldinge zusammenzuhalten. Vorsichtig sein, damit nichts zerstört wird … Nicht zu wenig machen – es könnte – verstummen … Für sich bleiben – aber in Abstimmung mit den anderen, mit dem Ganzen sein […].“ (Deuter, 2005, S. 230) In Bezug auf das Improvisieren beschreibt Deuter hier eine Atmosphärengestaltung, ein „Atmosphärisches Spiel“ (ebd.): Geleitet von der Dynamik des Moments, ein ständiges Wahrnehmen, ein „Ausbalancieren der Situation“ (ebd.) – es wird spürend gehandelt. Eine Atmosphärengestaltung, die auch auf den Unterricht übertragen werden kann und die den Blick bereits in Richtung dessen wendet, was das atmosphärische Vermögen inhaltlich umfasst. Im Rahmen dieses Abschnitts wird die vorläufige Definition (s.o.) des atmosphärischen Vermögens im Unterricht spezifiziert durch die Begriffe Wahrnehmen (perceiving), Stimmen (tuning) und Verbinden (connecting) sowie die auf die beiden letztgenannten bezogenen Begriffe Aufrechterhalten und Verändern. Als Fähigkeit, auf der Wahrnehmungsebene „spürend zu handeln“ stellen diese Begriffe Handlungsweisen dar im Hinblick auf die Wahrnehmung beziehungsweise Gestaltung von Atmosphären. Gebunden an die Lehrperson wird damit die Unterrichtsatmosphäre auf der Rezeptions- und Gestaltungsebene in drei Hauptkategorien unterteilt. Hierdurch erhält das „diffuse Etwas“, oftmals Intuitive, eine konkrete Kontur. Angesprochen werden die Unterrichtsatmosphären dabei in all ihren Facetten – beispielsweise hinsichtlich ihrer Qualität, ihrer zeitliche Dimension (Aktualität und darüber hinausreichend), ihrer Konstellation (Haupt- und Unteratmosphären) und vor allem auf pädagogisch-menschli-

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Es sei noch einmal angemerkt, dass Böhme im Hinblick auf Atmosphären zwar den Kompetenzbegriff gebraucht, jedoch nicht in einem Lehr- und Bewertungskontext beziehungsweise im Hinblick auf menschliche Handlungsräume.

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

cher, aber auch auf fachlich-methodischer Ebene. Es wird somit das angesprochen, was zwischen Lehrenden und Lernenden liegt, zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander sowie zwischen diesen und Gegenständlichem (beinhaltet auch den Unterrichtsgegenstand). Die Kategorien beziehen sich ferner auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre (s. III.4). Der wertende Aspekt wird je nach Kategorie bereits durch die Begriffswahl deutlich: Stimmen beispielsweise ist zunächst ein nichtwertender Begriff. Erst durch die Ergänzung einer spezifischen Qualität – zum Beispiel „wertschätzend“ im Positiven oder „angstvoll“ im Negativen – entsteht dadurch eine Wertung.187 Die Kategorie Verbinden hingegen impliziert bereits hinsichtlich ihrer Begriffswahl keine neutrale gemeinsame Wirklichkeit mehr, sondern bereits eine, die geprägt ist von Resonanz, von Wechselseitigkeit, von beidseitigem Ergreifen und Ergriffensein. Wahrnehmen stellt im Sinne der Bezogenheit auf die Lehrperson wiederum einen nichtwertenden Begriff dar. Jedoch birgt er bereits den positiven Aspekt der Aufmerksamkeit in sich. Die drei Hauptkategorien Wahrnehmen, Stimmen, Verbinden überschneiden sich jeweils (s. V.2.5). Zwar können sie voneinander getrennt betrachtet werden, sie hängen letztendlich jedoch auch zusammen: Stimmen und Verbinden beispielsweise werden begleitet von einem (bewussten) Wahrnehmen. Gleichzeitig ist das, was wahrgenommen wird, eine Stimmungsqualität. Die Wahrnehmung wird zum Beispiel zur Verbundenheit, wenn es um das wahrgenommen werden geht. Das Verbinden erzeugt ferner eine Qualität beziehungsweise stellt als Verbundenheitsgefühl bereits eine Qualität dar. Es wird hierbei deutlich, dass Abgrenzungen der Kategorien untereinander teilweise nur theoretisch beziehungsweise mit einem bewusst analytischen Blick vorgenommen werden können. Bildlich kann man die Abgrenzung und das Zusammenwirken verstehen als eine Kordel: Eine Kordel ist ein Strang, der aus mehreren Garnen, die wiederum in sich gezwirnt sind, besteht. Dreht man die Kordel entgegen der gewickelten Richtung, kann man damit den gesamten Strang aufdröseln. Dieses Aufdröseln wird jedoch begleitet von einer stetigen Tendenz des Zurückdrehens: Die einzelnen Fäden und Garne tendieren dazu, sich wieder zu einem Gesamtgebilde zusammenfügen. Erst dann entsteht wieder eine Kordel. In diesem Sinne ist das „spürende Handeln“ zu verstehen: Man kann es aufdröseln in einzelne Kategorien und weiter in Subkategorien und die einzelnen Teile somit bis aufs Äußerste voneinander abgrenzen. In ihrer Anwendung sind sie jedoch in ihrem Zusammenklang zu sehen. Im vorliegenden Abschnitt werden die Bereiche nun einzeln dargestellt hinsichtlich ihres Inhalts und einer begrifflichen Erläuterung sowie ihrer Subkategorien.188 Ergänzt wird diese Darstellung durch die aus den beobachteten Unterrichtssituationen heraus gebildeten Vignetten sowie die aus den Interviews entnommenen Fragmente. Den Beschreibungen und Darstellungen vorangehend steht zunächst ein tabellarischer Überblick (Tabelle 4) über die Vignetten und die Fragmente sowie deren jeweilige Zuordnung. Zum besseren Verständnis wird empfohlen, aufgrund der Mehrfachkommentierung (Kommentierung nicht nur im Hinblick auf eine, sondern auf mehrere Kategorien, s. IV.2.4.2) vor dem Lesen der Vignetten und Fragmente zunächst die Kategorienbeschreibungen im Gesamten zu lesen. Eine abschließende Bemerkung zu den Begrifflichkeiten der Kategorien: Da der Umgang mit Unterrichtsatmosphären, gerade wenn es um den menschlichen Raum geht, stets sehr spezifisch ist und ferner viele Facetten und Gestaltungsmöglichkeiten aufweist, wurden die beschriebenen Bereiche hinsichtlich ihrer Begriffswahl möglichst allgemein gefasst. Sie stellen somit etwas Grundlegendes dar und sind damit auf unterschiedliche Situationen anwendbar. Gleichzeitig öffnen sie das Gestaltungsfeld: Sie laden ein, selbst kreativ zu werden, auszuprobieren und weitere Beispiele hinzuzufügen.

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Angemerkt sei jedoch, dass die Kategorie Stimmen als an die pädagogische Haltung gebunden automatisch positive Qualitäten beinhaltet. Sowohl Haupt- als auch Subkategorien folgen in ihrer Anwendung nicht zwingend der hier schriftlich fixierten Reihenfolge (s. V.2.5).

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

101

V.2.4.1 Hauptkategorie Wahrnehmen (perceiving) Ein Vierjähriger sagte: „Ich bin glücklich.“ – „Warum bist du glücklich?“ – „Weil ich die Welt spüre.“ (Kükelhaus, 1988)

Wie in Abschnitt II.2.2 bereits dargestellt, wird der Begriff des Wahrnehmens zunächst im Sinne eines Spürens, eines leiblichen Betroffenseins, verstanden. Weiterführend wurde auch die reflexive Seite hervorgehoben: In einem nächsten Schritt beginnt ein Ausdifferenzieren dessen, woran das Spüren geknüpft sein mag. Im Rahmen des Konzepts des atmosphärischen Vermögens wird der Begriff des Wahrnehmens in diesem zweiteilig vorgestellten Sinne verwendet. Hieraus ergeben sich die beiden Subkategorien Intuitiv spüren und Reflektiert spüren. Allem voran steht die Haltung der Lehrperson, offen zu sein und sich berühren zu lassen. Das Spüren kann hierbei jeweils, ähnlich wie beim Atmen, aktiv oder passiv sein. In Abgrenzung zu den anderen Kategorien ist die Kategorie Wahrnehmen auf der Rezeptionsebene zu sehen. Wenngleich sie auch Momente des Nach-außen-Gehens beinhaltet (z.B. Erfragen), ist die Kategorie jedoch vielmehr unter dem Aspekt des Rezeptiven, und damit rückbezüglich auf die Lehrperson, zu verstehen. Diesbezüglich sei betont, dass Wahrnehmen immer die Komponente der Subjektivität und damit der gesamten Persönlichkeit beinhaltet: „Der ästhetisch gestimmte Mensch [macht] keine bloßen Wahrnehmungen. Er sieht nicht nur mit dem Auge und nimmt im Hirne Notiz davon, sondern er sieht fühlend als ganze Persönlichkeit.“ (Vischer, 1927; zitiert nach Allesch, 2008, S. 6) Anders als Intuitiv spüren beinhaltet das Reflektiert spüren Momente der Bewusstmachung; Sehen und beobachten, verbalisieren und erfragen gehen damit einher. Intuitiv spüren endet somit dort, wo das Reflektieren beziehungsweise das (vermeintliche) Erkennen beginnt. Folgendes Zitat der PerformanceKünstlerin Marina Abramovic über ihre Aufführung „The artist is present“ verdeutlicht den Moment des Erkennens in Bezug auf das Gespürte: „Sehr schnell spürte ich, dass die Leute, sobald sie mir gegenüber Platz genommen hatten, unglaublich bewegt waren. Einigen kamen die Tränen – und mir ebenfalls. War ich ein Spiegel? Es fühlte sich an, als wäre es mehr als das. Ich konnte den Schmerz der Menschen sehen und spüren.“ (ebd., 2016, S. 396) Betrachtet man das atmosphärische Vermögen kurz als Fähigkeit, im Hinblick auf die Atmosphären „spürend zu handeln“, wird der Wahrnehmung in Bezug auf die beiden Kategorien Stimmen und Verbinden eine übergeordnete Rolle zuteil, wobei dies nicht im hierarchischen Sinne zu verstehen ist, sondern vielmehr im Sinne eines „Überwachens“. Als das Spürende eines „Irgendwie“ und das darauf bezogene Reflektieren begleitet sie jede Handlungs- und Gestaltungsweise: Werden die Lernenden mit dem eigenen Handeln erreicht? In welchem Zustand befinden sie sich? Müssen sie „gehalten“ oder „freigelassen“ werden? Wo bieten sich Anknüpfungspunkte, um eine gemeinsame Atmosphäre herzustellen, bestimmte Qualitäten zu erzeugen? Von wem geht die Atmosphäre aus und mit welcher Intensität? Gibt es jemanden, der oder die den Raum dominiert? Ist es gar die eigene Erscheinung oder darf man selbst präsenter sein? Wie ist das Zusammenspiel der einzelnen Atmosphären? Muss eine Spannung intensiviert werden, um die Atmosphäre aufrecht zu erhalten oder ist ein „Zurücklehnen und Laufenlassen“ möglich? „Die Übenden hören die Qualität ihrer Bewegungen“189, sagt Klaus Fessmann als Klangstein-Musiker über das Üben seiner Schülerinnen und Schüler. Ebenso wie die Übenden kann analog dazu somit auch die Lehrperson die Qualität ihres Handelns wahrnehmen. Sie kann spüren, sehen oder hören: Lächelnde Schülerinnen und Schüler bei einem lobenden Wort, ein erleichtertes Lachen als Folge einer gelösten Anspannung, vor Begeisterung und Interesse leuchtende, bei einem melancholischen Musikstück gar tränende Augen oder das plötzliche Verstummen bei einer allgemein traurigen Gestimmtheit stellen hierfür Beispiele dar. „Spürend zu handeln“ bedeutet überdies, dass die Wahrnehmung den Handlungs-/Gestaltungsweisen auch voranstehen kann: Beispielsweise betritt die Lehrperson das Klassenzimmer und spürt sofort die Stimmung, die ihr entgegenschlägt, sei es eine ausgelassene, heitere oder „irgendwie“ gedrückte Stimmung. Ferner sieht und hört sie in diesem Beispiel etwa das laute Lachen der Schülerinnen und Schüler oder traurig erscheinende Gesichter und ergänzt damit das Gespürte hin zu einer Gesamtwahrnehmung,

189

Hierzu liegt keine genaue Quellenangabe vor, da es sich um das Zitat eines sich ständig wandelnden Blogs handelt (s. hierzu https://klangsteine.com/).

102

V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

zu einem „Perzept“. Davon aus- und weitergehend wird die Lehrperson dann die Atmosphäre gestalten beziehungsweise entsprechend handeln. Sowohl als begleitend als auch dem bewussten Stimmen und Verbinden vorangehend umfasst die Kategorie Wahrnehmen den Bereich der Fremd- sowie den Bereich der Selbstwahrnehmung. Die Schnittstellen zu den anderen Kategorien lassen sich noch einmal anhand des Zitats von Abramovic verdeutlichen in der wahrnehmbaren Qualität des Schmerzes (der gestimmte Raum ihrer Gegenüber) sowie einer wahrnehmbaren (beidseitigen) Ergriffenheit und Bezogenheit aufeinander, einem Einander-Wahrnehmen, das einen unmittelbaren Zugang zur Anwesenheit ihrer Gegenüber legt (Verbinden). Die allgemeine Komplexität des Wahrnehmens birgt für den Unterricht die Bedeutung in sich, sich zum Wahrnehmen Zeit zu nehmen190, zu spüren und aber das Gespürte auch zu hinterfragen, gar zu verbalisieren, aufmerksam zu sein. ! Siehe hierzu V1, V2 und F1 Wahrnehmen (perceiving): Intuitiv spüren oder reflektiert spüren (aktiv/passiv), gebunden an die (aktive) Wahrnehmungseinstellung, rezeptiv, begleitend (Handlungen) oder vorangehend („Perzept“), Selbst- und Fremdwahrnehmung. V.2.4.2 Hauptkategorie Stimmen (tuning) „Ein verletzendes Wort kann, wie man sagt, die Atmosphäre vergiften, ein tröstendes sie wieder aufhellen.“ (Böhme, 2014)

Jede Lehrperson stimmt den atmosphärischen Raum durch ihre bloße Anwesenheit automatisch mit. Dieser Raum kann jedoch auch bewusst von ihr gestaltet werden. Stimmen als Handlungs- beziehungsweise Gestaltungsweise bedeutet, einen Raum zu „tönen“ 191, etwas zum Sprechen zu bringen, einen Ausdruck zu verleihen oder für sich wirken zu lassen. Es bedeutet weiter, auch selbst gestimmt zu sein und nach außen hin zu wirken. In der Kategorie Stimmen liegt der Fokus auf der Gestaltung der Qualität einer Atmosphäre. Menschliche und gegenständliche Artikulationsweisen werden im Rahmen dieser Kategorie somit als Erzeugende im Hinblick darauf betrachtet. Ein Lächeln kann eine freundliche, eine Geste eine wertschätzende, ein Plakat eine düstere, ein Musikstück oder ein gedimmtes Licht eine melancholische, die hastigen Bewegungen einer Lehrerin gar eine als stressig empfundene Atmosphäre erzeugen. In Kapitel III.3 wurden bereits einige menschliche, aber auch gegenständliche Artikulationsweisen sowie in Abschnitt III.4.1 einige positive Stimmungsqualitäten beispielhaft aufgeführt. Damit einhergehend wurde betont, dass die Wertung an sich (Welche Stimmungsqualität ist gut?) und in Abhängigkeit zu den Artikulationsweisen (Durch was wird diese erzeugt?) letztendlich jedoch aufgrund der beidseitigen Subjektivität192 und des Kontextes nicht vollständig und abschließend vorgenommen werden kann. Es ist deswegen wichtig, die Kategorie Stimmen auch im Zusammenhang zur Wahrnehmung zu sehen: Was brauchen die Schülerinnen und Schüler? Was ist der Situation angemessen? Hierbei ergibt sich eine Schnittstelle zur Kategorie Wahrnehmen. Eine weitere Schnittstelle ergibt sich dadurch, dass der Vorgang des Stimmens im Allgemeinen immer von der Wahrnehmung begleitet wird (s.o.): Welche Stimmung ist vorhanden? Welche Qualität erzeugt das eigene Tun, die eigene Erscheinung, der Unterrichtsgegenstand? Welche Wirkung sollte erzielt werden? Auch die Kategorie Verbinden weist eine Schnittstelle zur Kategorie Stimmen auf. Zwar liegt der Fokus bei erstgenannter mit der Herstellung einer Verbindung eher auf der strukturellen Seite als auf der qualitativen. Gleichzeitig erzeugt die Verbindung jedoch auch eine Qualität (zum Beispiel Sicherheit) beziehungsweise stellt als Verbundenheitsgefühl bereits eine Qualität dar.

190 191

192

S. hierzu auch Shulman (2004), S. 259 ff. Korrekter müsste man sagen: einen bereits vorhandenen „Raum“ zu verändern (s. hierzu V.2.4.4). Allerdings wird Stimmen hier als Gestaltungsweise und als solche unabhängig von bereits Vorhandenem betrachtet. Wirkung hängt ab von der Lehrperson – zum Beispiel erscheint bei einer etwas authentisch bei anderen wirkt es aufgesetzt – und von der subjektiven Wahrnehmung der Schülerinnen und Schülern.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

103

In der Beschreibung der Kategorie Stimmen wird deutlich, dass die Betrachtung menschlicher und gegenständlicher Artikulationsweisen im Hinblick auf die Erzeugung einer Stimmungsqualität sowohl die pädagogische als auch die fachliche sowie des Weiteren auch die methodische Ebene193 enthält. Aus der Untersuchung heraus lassen sich zwei Subkategorien bilden, die Beschriebenes noch einmal kategorisch abgrenzen: (Zwischen)menschlich wirken sowie Gegenständliches wirken lassen, wirkend machen. In zeitlicher Dimension kann das ein aktueller (situativer) Moment sein innerhalb der Unterrichtsstunde, der Beginn einer Stunde oder auch etwas, das als „atmosphärische Spur“ über die Unterrichtsstunde hinauswirkt: Wenn beispielsweise ein Schüler die gute Stimmung aus der Stunde mitnimmt oder die Wertschätzung einer Lehrerin einen Schüler auch in einer außerunterrichtlichen Situation stärkt. In struktureller Hinsicht betrifft die Kategorie die Unterrichtsatmosphäre im Gesamten sowie einzelne Unteratmosphären (z.B. ein kurzer Moment im Unterricht oder die Qualität zwischen vereinzelten Schülerinnen und Schülern). Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Mit der eigenen Wirkung begegnen Lehrpersonen Schülerinnen und Schülern (und andersherum) und färben den atmosphärischen Raum mit einer bestimmten Qualität: Ein Stirnrunzeln im Gespräch mit einem Schüler erzeugt möglicherweise einen Moment der Unsicherheit; ein lobendes Wort, begleitet von einem Lächeln, erzeugt etwa Wertschätzung und lässt wachsen; eine abgewandte Körperhaltung vermag Missachtung hervorzurufen, die bloße Anwesenheit eines Lehrers Unbehagen; eine sanfte Stimme schafft möglicherweise für die ganze Klasse eine Atmosphäre der Ruhe und Entspannung. Die Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken betrachtet somit menschliche Artikulationsweisen (verbal und nonverbal) im Hinblick auf die Erzeugung einer Qualität der gesamten Unterrichtsatmosphäre und einzelner Unteratmosphären. Hierbei muss differenziert werden: Die eigene Erscheinung wirkt zwischen menschlich, also zwischen Menschen, insofern sie immer jemandem als etwas erscheint. Sie wirkt jedoch nicht automatisch auch zwischenmenschlich im Sinne einer gemeinsamen Verbundenheit, einer Bezogenheit aufeinander. Das bedeutet, dass der Aspekt der Verbundenheit innerhalb dieser Subkategorie enthalten sein kann, jedoch nicht zwingend enthalten sein muss. Hier ergibt sich damit eine mögliche Schnittstelle zur Kategorie Verbinden. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: Eine Lehrerin betritt lächelnd den Raum, ohne den Blick zur Klasse zu wenden und stellt ihre Tasche neben dem Pult ab. Sofern dieses Lächeln von den Schülerinnern und Schülern wahrgenommen wird, vermag sie damit eine gute Stimmung zu verbreiten. Die Lehrerin wirkt damit zwischen menschlich: von ihr als Mensch ausgehend und von den Schülerinnen und Schülern als Menschen wahrgenommen. Ihr Lächeln kann jedoch auch den zwischenmenschlichen Bereich betreffen, dann nämlich, wenn sie die Schüler an-lächelt, wenn das Lächeln spürbar ihnen gilt. Das Lächeln fungiert dann als Kontaktaufnahme, es verbindet und stellt einen gemeinsamen Raum her (vor allen Dingen dann, wenn die Schülerinnen und Schüler zurücklächeln). Etwas Zwischenmenschliches baut sich auf. Ein anderes Beispiel, an dem die Differenzierung verdeutlicht werden kann, stellt eine situative Unteratmosphäre dar, die dem Zwischenmenschlichen ausgelagert ist, gleichwohl aber durch menschliche Artikulationsweisen geschaffen wird. Beispielsweise kann durch das Einführen einer strengen Regel seitens der Lehrperson während einer Unterrichtsphase eine für den Moment angstbeladene situative Atmosphäre geschaffen werden. Es ist dann jedoch nicht unbedingt die Angst vor der Lehrperson selber, als vielmehr vor der Situation als solcher (s. hierzu V6). Dieser Moment ist zwar mit der menschlichen Eigenwirkung verbunden, jedoch ist das Zwischenmenschliche hierbei ausgelagert. ! Siehe hierzu V3, V4, V5, V6, V7 und F2, F3, F4, F5, F6

193

Das Aufrufen von Schülerinnen und Schülern, die sich nicht gemeldet haben stellt diesbezüglich das Beispiel einer Methode dar, die zu einer angstvollen Atmosphäre führen kann. In Gruppen- oder Partnerarbeiten als methodischer Einsatz entsteht wieder eine andere Qualität.

104

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

Subkategorie Gegenständliches wirken lassen, wirkend machen „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.“ (Eichendorff)

Auf der Gegenstandsebene lassen sich aus der Untersuchung heraus und im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten zwei Gruppen bilden: (1) Etwas wirkt direkt, wirkt an sich oder (2) etwas wird wirken gemacht und wirkt insofern eher indirekt (s. III.3.2). Im ersten Fall könnte beispielsweise das Ticken einer Uhr eine als stressig empfundene Unterrichtsatmosphäre erzeugen (s. F6) oder ein melancholisches Musikstück eine entsprechende Atmosphäre hervorrufen. Im zweiten Fall würde man zum Beispiel das Licht dimmen, um damit das Musikstück stärker in Szene zu setzen, es in seinem Charakter stärker wirken zu machen oder, im wahrsten Sinne des Wortes, in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Ein anderes Beispiel wäre die Symbolisierung beziehungsweise das emotionale „Aufladen“ eines Gegenstands mit einer bestimmten Qualität, wodurch diesem ein gewünschter Ausdruck verliehen, der Gegenstand, wie bei Eichendorff, auf bestimmte Weise zum Sprechen gebracht und spürbar wird. Eine Schnittstelle zur Kategorie Wahrnehmen ergibt sich beispielsweise, möchte man sehen, ob die gewünschte Wirkung erreicht wurde, denn: „Solche Augenblicke haben etwas von dem Geiste an sich, der weht, wo er will. Manchmal kommt er und manchmal nicht, selbst angesichts ein und desselben Gegenstandes.“ (Dewey, 1995/1934, S. 169) ! Siehe hierzu F6, F7, F8, F9, F10, F11, F13 Stimmen (tuning): durch menschliche und/oder gegenständliche Artikulationsweisen Stimmungsqualitäten erzeugen (lassen), einen Raum (mit-)„tönen“; im Hinblick auf eine bestimmte Qualität selbst gestimmt sein. V.2.4.3 Hauptkategorie Verbinden (connecting) „Ein Lächeln ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen.“ (Victor Borge)

Im Rahmen der Kategorie Stimmen wurden menschliche und gegenständliche Artikulationsweisen im Hinblick auf die Erzeugung einer Qualität betrachtet. Sie können aber auch im Hinblick auf das Herstellen einer Verbindung zwischen Lehrenden und Lernenden, den Lernenden untereinander sowie zwischen den Lernenden und Objekten betrachtet werden. Eine solche Verbindung entsteht beispielsweise dann, wenn aus einem Lächeln ein An-lächeln (freundlich lächeln vs. jemanden freundlich anlächeln), aus einem Blick ein Blick-Kontakt, ein An-blicken oder auch Er-blicken wird, eine Geste etwas Verbindendes oder Einbindendes hat, Dinge jemandem bedeutsam erscheinen. Darauf bezogen lassen sich noch einmal Subkategorien unterscheiden (s.u.), immer geht es jedoch um eine Verbindung der oder mit den Lernenden durch die Lehrperson. Verbinden stellt die aktivste der Handlungs- beziehungsweise Gestaltungsweisen dar, fordert erhöhte Aufmerksamkeit und ein erhöhtes Bewusstsein, denn: Die Lehrperson stimmt den Raum bereits durch ihre bloße Anwesenheit, baut jedoch im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler nicht automatisch ein „Zwischen“ auf (s. V13). Etwas konkreter formuliert geht es in dieser Kategorie um das Herstellen eines Gemeinschaftsgefühls194, einer Verbundenheit, eines Eingebundenseins, um ein Miteinander-in-„Fühlung“-Gehen (natürlich immer im Bewahren einer professionellen Distanz); eine Atmosphäre, die geprägt ist von (dynamischer) Resonanz (s. III.4.2). Auf menschlicher Ebene bedeutet Verbinden somit ein „Sehen“ der Gegenüber und weiterführend ein gegenseitiges „Wahrgenommen werden und ‚Gemeint-Sein‘“ (Deuter, 2005, S. 225/226). Wichtig ist hierbei auch der Aspekt der Offenheit, dass eine Wechselseitigkeit überhaupt erst entstehen kann. Auf menschlicher Ebene entsteht dann eine gemeinsame Wirklichkeit, die als solche auch als gemeinsam empfunden wird.195 Weiter geht es darum, dass eine Stimmungsqualität ankommt, es geht um ein Ergreifen und Ergriffensein innerhalb der Situation. Auf der Gegenstandsebene ist es der 194

195

Zu betonen ist hierbei noch einmal, wie in Kapitel III.4 bereits dargestellt, dass Verbinden kein „Fusionieren“ bedeutet, sondern vielmehr, in der eigenen Individualität Teil zu sein. Gemeinsame Wirklichkeit als gemeinsames Miteinander vs. gemeinsames Nebeneinander (s. III.4.2).

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

105

Moment, wenn ein Gegenstand die Lernenden erreicht, sie emotional ergreift, eine Bedeutung für sie trägt. Sowohl auf menschlicher als auch auf gegenständlicher Ebene konnotiert der Begriff Verbinden ein Ansprechen beziehungsweise „Ergreifen“ des Subjekts und damit das Aufbauen eines Dazwischen. Hierbei gibt es verschiedene Ausprägungen: Bildlich ist es wie ein „Weben“ (s. I.): nicht von außen auferlegt oder umklammernd, sondern das Vorhandene mit einem selbst oder anderen verbindend. Die Verbindung kann dann ein dünner Faden sein oder ein dickes Seil; atmosphärisch gesprochen: das Dazwischen kann besonders intensiv geladen sein (wie es beispielsweise bei einander Liebenden der Fall ist) oder weniger, kann mager oder dicht sein; pädagogisch gesprochen: Es handelt sich um ein einfaches gegenseitiges Wahrnehmen bis hin zu einer pädagogischen Beziehung. Ferner konnotiert der Begriff Verbinden eine Durchlässig- und Beweglichkeit und somit auch ein „pädagogisches Freilassen“196 (s. Glossar). Eine negative Verbundenheit, die eher als Umklammerung verstanden werden kann, stellt die Autorität (verstanden im negativen Sinne) dar: Eine Verbindung wird dann von außen auferlegt, Reziprozität geschieht erzwungen.197 Beim Verbinden wiederum, vor allem beim Einkoordinieren, baut sich etwas zwischenmenschlich auf, entsteht und wächst eine Qualität „von innen“ heraus. Erst auf dieser Basis ist Erziehung möglich, kann man pädagogisch wirksam werden (s. III.4). Auch wenn in dieser Kategorie weniger die Qualität im Vordergrund steht, sondern vielmehr das Herstellen einer Bezogenheit aufeinander oder auf etwas, ergibt sich jedoch eine wesentliche Schnittstelle zur Kategorie Stimmen: Durch die Verbindung werden Qualitäten wie zum Beispiel Vertrauen oder Beziehungssicherheit erst erzeugt. Das heißt: Die Verbindung trägt zum Charakter der Atmosphäre und damit zur Qualität bei. Beispielsweise erzeugt der Vorgang des Einkoordinierens (aber auch des Kontaktierens) ein Gefühl von Wertschätzung und Anerkennung: ein Interesse am Gegenüber, ein gegenseitiges Sich-„Sehen“. Ein Unterrichtsgegenstand erzielt des Weiteren erst seine Wirkung, wenn er ankommt, die Schülerinnen und Schüler erreicht.198 Zum Wahrnehmen bildet die Kategorie Verbinden dann im Sinne eines Rückspürens – zum Beispiel: Wurden die Schülerinnen und Schüler erreicht? – eine Schnittstelle.199 Deutlich wird der Zusammenhang auch am Beispiel des Blickens: „Blicken ist leibliche Kommunikation. Wenn wir einen anderen erblicken, spüren wir durch die Resonanz am eigenen Leibe, wie es dem anderen geht.“ (Düweke, 2008, S. 124) Auch das Einander-Wahrnehmen fällt in den Bereich dieser Schnittstelle. Die Kategorie Verbinden ist stark pädagogisch (s. III.4.2 und III.4.3) beziehungsweise stark auf den menschlichen Handlungsraum ausgerichtet: Stimmen und Wahrnehmen können auch einseitig sein, Verbinden jedoch steht immer im Zusammenhang mit einem Miteinander beziehungsweise einer Bezogenheit aufeinander. Aus dem Untersuchungsmaterial heraus lassen sich bezüglich der beschriebenen Kategorie Verbinden drei Subkategorien bilden. Diese beschreiben noch einmal genauer, welche Facetten es enthält beziehungsweise welche konkreten Möglichkeiten es gibt, um eine Verbindung herzustellen: Kontaktieren, Einkoordinieren sowie Gemeinsam agieren und koordinieren. Analog zur Kategorie Stimmen bezieht sich das Verbinden auf einen aktuellen Moment oder reicht als „atmosphärische Spur“ – beispielsweise in Form einer Beziehung – über den Unterricht hinaus. Darüber hinaus beinhaltet die Unterrichtsatmosphäre auch im Hinblick auf den Aspekt des Verbindens verschiedene Unteratmosphären.200 196

197

198

199

200

Das pädagogische Freilassen steht einer Formulierung Herders (2017/1784) nahe, in der er den Menschen als den „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ bezeichnet. Durch die Freilassung wird dem Menschen ein freies Handeln ermöglicht (vgl. ebd., S. 89 und vgl. auch Spychiger, 2018). Schmitz (2008) beispielsweise versteht unter Autorität „die Eigenschaft, eine Macht zu sein, durch die [dem Subjekt] dann auf ihm unverkennbar menschliche Weise die verbindliche Geltung von Normen auferlegt wird.“ (ebd., S. 126) Eine Schnittstelle zwischen Stimmen und Verbinden ergibt sich diesbezüglich auch im pädagogischen Halten als ein von unter anderem Vertrauensvorschuss, Ermutigung und Sicherheit durchzogener Kontakt (s. III.4.1 und Glossar). Das Rückspüren ist generell wichtig, um überhaupt gestalten zu können, wird schließlich erst dann ersichtlich, ob und wie etwas ankommt. Unteratmosphären bilden sich in dieser Kategorie in Bezug auf die Struktur der Atmosphäre: Beispielsweise ist – dauerhaft oder situativ – zwischen zwei Schülerinnen oder innerhalb einer Schülergruppe eine stärkere Verbundenheit spürbar als zwischen anderen, in einem Gespräch mit einem Schüler ein anderes Aufeinander-Bezogen-Sein zwischen der Lehrperson und ihm als zwischen anderen.

106

V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Subkategorie Kontaktieren Diese Subkategorie stellt die am wenigsten persönliche dar. Es geht hierbei im Sinne einer einfachen Kontaktaufnahme um ein Sehen und Gesehenwerden, Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden. Das Wort Kon-takt enthält die Bedeutung der Berührung (Takt, lat. tactus) (vgl. Friebel, 1980, S. 35 ff.). Durch das Kontaktieren wird bereits eine gemeinsame Anwesenheit hergestellt, baut sich ein wechselseitiges Dazwischen auf: „Wenn man einen anderen Menschen sieht oder seine Stimme hört, wenn man einen Gegenstand anschaut oder in eine Landschaft blickt, wenn man ein Geschehen beobachtet oder einer Melodie lauscht, kurz, wenn man sich etwas oder jemandem zuwendet, wird damit eine Relation hergestellt und vollzogen." (Roselt, 2012, S. 265) So konnotiert beispielsweise das Wort Blickkontakt: Blicke bewirken Kontakt, bewirken ein Miteinander (vgl. hierzu Bender, 2014, S. 267). Eine zugewandte Körperhaltung, eine offene, verbindende Geste, ein direktes Ansprechen, ein adressiertes Lächeln. Diese Artikulationsweisen erzeugen nicht nur eine Qualität, sondern stellen des Weiteren eine Verbindung her („Ich sehe dich und du bist gemeint“). Auf der Gegenstandsebene ist es der Moment, in dem man zum Beispiel durch Aufzeigen beziehungsweise Aufmerksammachen eine Verbindung zwischen Objekt und Wahrnehmenden herstellt. ! Siehe hierzu V10, V11, V13 Subkategorie Einkoordinieren Der Begriff des Einkoordinierens (s. III.4.3) beschreibt das Auf-eine-gemeinsame-Ebene-Kommen: Hierbei begibt man sich in eine gemeinsame Atmosphäre – man koordiniert sich oder andere ein. Einkoordinieren bezieht sich auf einen Moment, beispielsweise anknüpfend an die jeweils aktuellen Gestimmtheiten der Schülerinnen und Schüler beziehungsweise der Unterrichtsstunde, oder aber auch tiefergehend und länger andauernd auf die Ebene einer pädagogischen beziehungsweise zwischenmenschlichen Beziehung. Es ergibt sich hierdurch eine starke Schnittstelle zur Kategorie Wahrnehmen, bedeutet Einkoordinieren – gerade als ein Miteinander-In-Beziehung-Treten – auch ein Einspüren und Einfühlen in die Gegenüber („Vorgang der spontanen sinnlichen Resonanz“ (Allesch, 2008, S. 7)). Einkoordinieren stellt somit eine intensivere Form des In-Kontakt-Tretens dar: Es wird etwas zwischen den Subjekten aufgebaut, das durchzogen ist von einer Beziehungsqualität. Es setzt in einem Bereich des Gegenübers an, wo er oder sie „fassbar“ ist. Ein Kontakt wird somit intensiviert. Dies geht gleichzeitig einher mit einem eigenen Öffnen. Der Vorgang des Einkoordinierens geschieht hierbei beispielsweise über die Sprache201: Miteinander ins Gespräch kommen, sich für die Gegenüber interessieren, nachfragen – Wer sind die Gegenüber? Wo lassen sich Anknüpfungspunkte finden? Hier wird der Vorgang im Sinne eines Erspürens wieder begleitet von der Wahrnehmung. Auch Gegenstände können einkoordiniert werden: Ähnlich wie im zwischenmenschlichen Bereich wird hier eine Verbindung zwischen Objekt und Wahrnehmenden hergestellt, die mehr ist als ein bloßer Kontakt: Gegenstände werden für jemanden bedeutsam gemacht, ein Gefühl der Verbundenheit wird hergestellt. Aus Dingen, die Schülerinnen und Schüler umgeben, werden damit Dinge, die ihnen wirklich begegnen (vgl. hierzu Liessmann, 2010, S. 33). Deutlich wird das anhand des aus der Untersuchung entnommenen Beispiels eines im Klassenzimmer aufgehängten Tigerbildes (s. F13 und analog dazu F10): Das Bild eines Tigers wird emotional aufgeladen durch die Worte „Der Tiger steht für Stärke“ (Gegenständliches wirkend machen). Eine Verbundenheit entsteht durch die ergänzenden Worte: „Der Tiger steht für Stärke. Ich möchte, dass ihr euch stark fühlt.“ ! Siehe hierzu V2, V13, F13, F14, F15

201

Herr Buber berichtete im Interview, er würde (unter Beachtung der Authentizität) schülernahe Sprache verwenden, um den Heranwachsenden näher zu sein (s. Anhang: Interviewbericht Herr Buber). Frau Wieland berichtet, sie würde oftmals die Mimik dem Verständnis der Schülerinnen und Schüler anpassen (s. Anhang: Interviewbericht Frau Wieland).

107

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

Subkategorie Gemeinsam agieren und koordinieren Durch gemeinsames Agieren, zum Beispiel im Sinne einer gemeinsam ausgeführten Musik- oder Entspannungsübung (s. V14, V15), entsteht ein Gefühl der Verbundenheit, der Einheit, es herrscht Koordination. Gegenseitiges Anstecken und einander mitreißen gehen damit einher (s.III.4.3). ! Siehe hierzu V14, V15 und F16 Verbinden (connecting): Etwas zu jemandem/Sich bzw. andere zueinander in Beziehung setzen (InBeziehung-Treten), Kontakt oder stärkere Verbundenheit herstellen, (dynamische) Resonanz herstellen. V.2.4.4 Kategorie Aufrechterhalten und Verändern „Atmosphären entwickeln sich nicht im eigentlichen Sinne, ihre Veränderungen ereignen sich eher wie der Lichtwechsel auf einer Bühne, sie diffundieren in einen anderen Zustand oder sie verflüchtigen sich und geben damit einer anders getönten Umgebungsqualität Raum.“ (Deuter, 2005)

Die Kategorie Aufrechterhalten und Verändern beinhaltet eine etwas kleinschrittigere beziehungsweise weitergehende Betrachtung der Atmosphärengestaltung. Aufrechterhalten und Verändern bezieht sich hierbei auf die beiden Hauptkategorien Stimmen und Verbinden (einschließlich Subkategorien), konkret auf die damit erzeugte, vorhandene, klar artikulierbare Unterrichtsatmosphäre – auf Stimmungsqualitäten und Verbindungen. Zum Beispiel: Durch Verändern des Charakters der Atmosphäre wird der Raum neu gestimmt, durch das Aufrechterhalten – wenn man „in der Stimmung bleibt“ – beibehalten. Durch das Verändern der Verbundenheit intensiviert sich der Kontakt oder er bricht ab, durch das Aufrechterhalten bleibt er bestehen. Auch Aufrechterhalten und Verändern sind als weiterführende Handlungsbeziehungsweise Gestaltungsweisen geknüpft an menschliche und gegenständliche Artikulationsweisen. Da jedes Verändern eines Atmosphärencharakters immer zugleich auch bedeutet, einen Raum neu zu stimmen, muss an dieser Stelle eine begriffliche Präzisierung dieser beiden Begriffe erfolgen: Stimmen bezieht sich eher darauf, eine sogenannte „Nullatmosphäre“ (Rauh, 2012, S.143 ff.) zu „färben“. Damit ist diejenige Atmosphäre gemeint, die kaum wahrnehmbar ist beziehungsweise die aufgrund ihrer nicht klaren Spür- und Benennbarkeit oftmals – fälschlicherweise202 – als nicht vorhanden empfunden wird. Die Gestaltungsweisen Aufrechterhalten und Verändern beziehen sich hingegen auf etwas, das eben klar spür- und benennbar ist (z.B. weil es gerade selbst erzeugt worden ist). Es ist hauptsächlich der prozessuale Verlauf der Unterrichtsstunde, der hierbei angesprochen wird. Ein paar Beispiele aus der Unterrichtsbeobachtung203 heraus sollen dies verdeutlichen: Ein Schüler droht sich der Aufmerksamkeit der Lehrerin zu entziehen. Durch Verstärkung ihres Blickkontakts und Aufrichten ihrer Körperhaltung intensiviert sie die Verbindung, wodurch sie die allgemeine Atmosphäre aufrechterhalten kann. Eine andere Lehrerin lehnt sich in einem Moment zurück, zieht sich aus der Situation heraus und „lässt den Unterricht laufen“. Sie verändert hierdurch die Verbindung. In einer anderen Unterrichtsstunde nimmt ein Lehrer eine andere Körperhaltung ein, sein Stimmklang erhält eine andere Farbe, er hält in seiner Bewegung inne – damit verändert er schlagartig den Charakter der Atmosphäre (s. V8). Wieder ein anderer Lehrer führt ein Schülergespräch und hält die gemeinsame Atmosphäre, die Verbindung der Schülerinnen und Schüler untereinander, mit einer verbindenden Geste aufrecht (s. V16). Durch ein verbindendes „mhm“ hält ein Lehrer in einer anderen Situation die Verbindung zu seinem Schüler, der Kontakt reißt nicht ab (s. V16). Kurz vor Beginn einer Klassenarbeit spürt eine Lehrerin plötzlich die Angespanntheit ihrer Schülerinnen und Schüler, die Atmosphäre ist angstbeladen. Durch Verbalisieren dieses Gefühls und ihren gleichzeitig freundlichen Blick löst sie die Angespanntheit und verändert das Angstgefühl hin zu einer allgemein positiv gestimmten Gelassenheit (s. V12). ! Siehe hierzu V8, V9, V16, V17 und Beispiel aus eigener Unterrichtserfahrung 202 203

Fälschlicherweise deswegen, weil es immer eine Atmosphäre gibt (s. III.3.1). Diese Beispiele stammen zum Teil aus der Empirie (als „V“ gekennzeichnet) und zum Teil aus früheren Unterrichtsbeobachtungen.

108

V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Aufrechterhalten und Verändern: Eine vorhandene Stimmungsqualität oder Verbindung halten oder verändern (zum Beispiel: intensivieren, lösen). V.2.4.5 Darstellung der Vignetten und Fragmente Den Vignetten und Fragmenten vorangehend wird zur besseren Übersicht hier noch einmal Tabelle 3 aus Abschnitt IV.2.4.4 aufgegriffen: Beschriftung, Klassenstufe/

Wahrnehmen (perceiving)

Stimmen (tuning)

Verbinden (connecting)

Aufrechterhalten und Verändern

Schulform

V1 (US/G)

Intuitiv spüren

V2 (MS/H)

Reflektiert spüren

F1

Reflektiert spüren

V3 (OS/G)

(Zwischen)menschlich wirken

V4 (MS/H)

(Zwischen)menschlich wirken

V5 (OS/G)

(Zwischen)menschlich wirken

V6 (OS/G)

(Zwischen)menschlich wirken

V7 (MS/H)

(Zwischen)menschlich wirken

V8 (MS/H)

Gegenständliches wirkend machen

F2

(Zwischen)menschlich wirken

F3

(Zwischen)menschlich wirken

F4

(Zwischen)menschlich wirken

F5

(Zwischen)menschlich wirken

F6

(Zwischen)menschlich wirken Gegenständliches wirken lassen, wirkend machen

F7

Gegenständliches wirken lassen

F8

Gegenständliches wirken lassen

F9

Gegenständliches wirken lassen

Verändern der Stimmung

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht F10

Gegenständliches wirkend machen

F11

Gegenständliches wirkend machen

109

V9 (OS/G)

Verändern der Stimmung

Eig. UE (OS/G)

Verändern der Stimmung

V10 (MS/G)

Kontaktieren

V11 (OS/G)

Kontaktieren

V12 (MS/H)

Einkoordinieren

V13 (OS/G)

Kein Verbinden

V14 (US/G)

Gemeinsam agieren und koordinieren

V15 (US/G)

Gemeinsam agieren und koordinieren

Aufrechterhalten der Verbindung

V16 (MS/H)

Aufrechterhalten der Verbindung

V17 (OS/G)

Aufrechterhalten der Verbindung

F13

Gegenständliches wirkend machen

Einkoordinieren

F14

Einkoordinieren

F15

Einkoordinieren

F16

Gemeinsam agieren und koordinieren

F17

Gemeinsam agieren und koordinieren

Tabelle 4: Darstellung der Vignetten und Fragmente Anmerkung: US = Unterstufe, MS = Mittelstufe, OS = Oberstufe, G = Gymnasium, H = Hauptschule

110

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

V1: Hauptkategorie Wahrnehmen (perceiving), Subkategorie Intuitiv spüren Matheunterricht, 5. Klasse. Frau Wieland, die sowohl Fach- als auch Klassenlehrerin dieser Klasse ist, hat viele Fragen gestellt und von den Schülerinnen und Schülern viele richtige Antworten erhalten. Der Unterricht verläuft zügig, koordiniert, alle sind gemeinsam in einem Fluss. Die Atmosphäre ist spürbar freundlich und konzentriert. Aus diesem Geschehen heraus stellt Frau Wieland nun eine weitere Frage und ruft dazu eine Schülerin auf, die sich gemeldet hat: „Anuk?“ Ihre Stimme ist sanft und freundlich. Anuk ist sich nicht ganz sicher und antwortet deswegen in einem fragenden Ton: „Ähm, Multiplikation und Addition?“ Frau Wieland bejaht ihre Antwort mit „aha, ok.“, und dreht sich zur Tafel, um die Antwort anzuschreiben. Sie verweilt nur kurz in dieser Schreibposition, tritt zur Seite und wendet sich schnell wieder der Klasse zu, so dass sie mit der ganzen Klasse im Kontakt bleibt. Dann fragt sie Anuk in derselben freundlich-erwartenden Stimmlage: „Und? Was würden wir dazu sagen? Könntest du das ähnlich wie da jetzt ausführen?“ Sie zeigt auf die Tafel und wendet sich zu Anuk. Der Arm einer anderen Schülerin schnellt in diesem Moment nach oben. Dann wechselt sie den Arm, streckt diesen noch höher in die Luft und beugt sich nach vorne. Sie möchte die Antwort geben. Anuk überlegt kurz und antwortet in der gleichen Stimmlage: „Ähm…. also… die sind auch gleich?“ Der Fluss bleibt bestehen. Die Lehrerin bestätigt die Antwort und fragt: „Mmh, warum sind sie Zwillinge?“ Anuk überlegt. Ein anderer Schüler streckt die Hand nach oben. Frau Wieland ist Anuk zugewandt und schaut sie geduldig an. Nach kurzem Warten lächelt Frau Wieland ihr für einen Moment aufmunternd zu, mit dem Kreidestift in der Hand beginnen sich ihre Hände ein wenig zu bewegen. Noch immer meldet sich die andere Schülerin eifrig. Man spürt, dass der Fluss auf einmal unterbrochen wird. Das Überlegen, die ausstehende Antwort von Anuk – das Zeitgefühl verlangsamt sich. Man spürt, wie zwischen der Lehrerin und Anuk etwas entsteht, sich intensiviert, etwas gehalten wird. Es vergehen ein paar Sekunden, die sich sehr lange anfühlen. Stille. Innerhalb dieser Zeit schnellen außenherum nach und nach immer mehr Finger nach oben, vier, schließlich fünf Schüler melden sich. Die Lehrerin ist geduldig, wartet und hält, sie ist nun ganz auf Anuk konzentriert und bildet mit ihr eine Einheit. Es ist, als wären sie in ihrer eigenen Zeit, während die Schülerinnen und Schüler um die beiden herum eifrig darauf bedacht sind, die Antwort geben zu wollen. Man spürt deren Unruhe, zurückgehalten und gemäßigt zwar, aber ihre gespannten Körperhaltungen und in die Luft gestreckten Finger lassen deutlich werden, dass sie die Antwort wissen und gerne geben möchten. Man spürt auch, dass Anuk die Antwort nicht weiß, dass sie unter Druck gerät, weil sich um sie herum inzwischen viele Schüler melden. Sie murmelt ein leises „Ich verstehe es nicht“ vor sich hin und fasst sich verlegen lächelnd an den Kopf. Frau Wieland spürt auch etwas. Sie neigt den Kopf zur Seite und macht freundlich lächelnd einen Ausfallschritt in Richtung Anuk, beugt sich in ihre Richtung und löst durch die Bewegung die aufgebaute Spannung. Währenddessen fragt sie Anuk: „Was sind denn Zwillinge, was ist das Besondere an Zwillingen.“ Ihre Stimme ist sehr weich und sanft. Zum Satzende geht ihre Stimme nach unten, so als würde sie sagen: „komm, du weißt das doch, ich weiß das“. Noch immer melden sich die anderen Kinder. Die Lehrerin bleibt in Bewegung und geht vorsichtig auf Anuk zu. Während dieser Bewegung antwortet Anuk nun wieder mit kräftigerer Stimme: „Ähm – die sind gleich.“ „Ah!“ sagt Frau Wieland freudig, öffnet ihre Körperhaltung zur Klasse und blickt aber weiterhin in Richtung Anuk. „Sie sind gleich!“ Und weiter mit sanfter und etwas leiserer Stimme: „Nicht ganz gleich“, und wieder kräftiger, begleitet von einem bestätigenden Kopfnicken: „aber ziemlich ähnlich, ne?“ Anuk nickt, man spürt, jetzt hat sie verstanden. Frau Wieland ist schließlich neben Anuk angekommen, ihr Körper ist nun auch verstärkt der Klasse zugewandt. Damit endet das, was zwischen den beiden spürbar war. Frau Wieland öffnet ihre Körperhaltung, wirft kurz ihre Arme nach oben und zeigt dann auf die Tafel: „Also was ist denn ähnlich zwischen diesen beiden?“. Sie blickt zunächst zu Anuk und wendet sich dann aber der ganzen Klasse zu. Es befinden sich wieder alle zusammen in einer Einheit.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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Kommentierung: Wie im Gespräch mit der Lehrerin nachträglich deutlich wurde, war das Spüren, mit dem sie in der gesamten Situation ihr Handeln begleitet, intuitiv: Während der Situation spürt sie, dass sich eine Anspannung seitens der Schülerin aufbaut, dass Druck entsteht, dass die Schülerin hierbei ihre Unterstützung (pädagogisches Halten) braucht. Sie spürt die sich ausbreitende „starre“ Angespanntheit und löst diese (verändern), intuitiv handelnd, durch Bewegungen ihrer Hände, durch einen Schritt, ein Beugen Richtung Anuk. Des Weiteren stimmt sie den Raum: Der sanfte Klang ihrer Stimme und ihr Lächeln erzeugen im Allgemeinen eine freundliche, wohlwollende, jedoch auch konzentriert-ruhige Atmosphäre. Ferner verbindet sie sich stark mit Anuk, hält diesen Kontakt aufrecht. Diese Verbindung wir im Laufe der Situation immer stärker und hebt sich in ihrer Intensität von der Verbindung zur Klasse ab. Trotzdem ist eine allgemeine Einheit spürbar, denn: Von der Lehrerin breitet sich eine Präsenz aus, die den Rest der Klasse auch ohne Blickkontakte oder allgemein körperliche Zugewandtheit einhüllt. Anmerkung: Hinsichtlich des entstehenden Drucks kommentiert sie, es gäbe inzwischen zur Entlastung eine besondere Melderegel (weitere Ausführungen dazu s. Anhang: Interviewbericht Frau Wieland).

V2: Hauptkategorie Wahrnehmen (perceiving), Subkategorie Reflektiert spüren Bald steht ein Schulpraktikum in einem Betrieb an. Die Schülerinnen und Schüler erzählen von ihren Ängsten und Sorgen, die sie dabei haben: Zu spät zur Arbeit zu kommen, nicht gut zu sein, allein zu sein. Herr Buber trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Tigers“, dem Klassensymbol. Er sitzt auf dem Pult und hört zu, fragt manchmal nach. Jede und jeder darf erzählen. Als sie fertig sind, ergreift Herr Buber das Wort. Er schaut alle an, als er spricht. Es ist sehr still. „Gut. Jetzt hab´ ich rausgehört, dass die meisten von euch Angst haben, oder Sorgen haben, dass sie Fehler machen, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen – ähm… vielleicht reden wir da später nochmal drüber, in der 5. Stunde, ob ich, ob ihr das Gefühl auch bei mir habt.“ Seine Hände gehen an die Brust und er macht eine kurze Pause, bevor er weiterspricht: „Und dann hab ich rausgehört, dass ihr Angst habt, nicht beachtet zu werden. Oder dass man es euch nicht erklärt, oder dass man euch alleine lässt.“ Er schaut die Schüler kurz alle einzeln an. „Mhm.“, fügt er nachdenklich hinzu. Kommentierung: Der Lehrer spürt etwas („rausgehört“) und möchte nun herausfinden, ob dieses Gefühl richtig war. Durch das Ansprechen und Nachfragen, das Erzählen von Befindlichkeiten und einem gegenseitigen Sich-Öffnen stimmt er gleichzeitig den Raum: Es entsteht eine offene, vertrauensvolle, wertschätzende und anerkennende Atmosphäre, die ferner auch durchzogen ist von einer allgemeinen Verbundenheit. Die Gestimmtheiten der Schülerinnen und Schüler werden aufgefangen. Ein intensives Gemeinschaftsgefühl, auch unterstützt durch die T-Shirt-Aufschrift „Tigers“ und durch den Blickkontakt.

F1:204 Hauptkategorie Wahrnehmen (perceiving), Subkategorie Reflektiert spüren „Ich weiß nicht, wie man es spürt. Durch die ganze Körperhaltung [der Schülerinnen und Schüler], durch die Aufgeregtheit oder Nicht-Aufgeregtheit, vor allem Körperhaltung. Natürlich, wenn die Kinder ruhig sind und du kennst deine Klasse – eigentlich sind die aufgeweckt –, dann kann man merken, ja irgendwas muss irgendwo sein, oder irgendwas wird vielleicht nicht erzählt. Oder wenn ein Kind ruhig ist, kann auch an dem Kind selber was – Also ich werde immer belagert von den 5.-Klässlern, aber mein Blick schweift trotzdem auch woanders hin. Ich höre denen dann zwar zu, aber ich gucke dann auch, was woanders noch passiert. Das ist so die Wahrnehmungsseite, und da kann ich, glaub ich, viel schon 204

Es sei noch einmal angemerkt, dass die Fragmente (F) auf Erzählungen der Lehrpersonen basieren, deren Gültigkeiten somit nur durch die Lehrenden selbst bestätigt werden können.

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

abpuffern.“ Manchmal sei einfach nur ein Gefühl da, ein anderes Mal denke er darüber nach, was hinter diesem Gefühl stehen könnte, erzählt Herr Schneider. Hierbei halte er es für richtig, sollte etwas nicht stimmen, diesem unguten Gefühl nachzugehen, es aufzugreifen und zu einem guten Gefühl zu wenden. Kommentierung: Der Lehrer spürt nicht nur „irgendwo“ und „irgendwie“, sondern geht diesem Gefühl häufig auch nach, versucht zu erkennen, was sich dahinter verbergen mag. Er spürt reflektiert.

V3: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken „Stefan?“ Frau Seelinger lächelt Stefan an. Ihre Mimik ist offen: ihre Augen strahlen erwartungsvoll, die Augenbrauen sind nach oben gezogen, ihr Mund ist leicht geöffnet, ihr Gesicht etwas nach oben geneigt. Sie schaut Stefan an und fährt sich mit der rechten Hand durch die Haare. Ihre Hand bleibt schließlich an ihrem Schal hängen. Stefan beginnt: „Ja, Nelson Mandela was the first president“, sie begleitet seine Aussage lächelnd mit einem ermutigenden Nicken, „…of USA“ – „South Africa“, korrigiert ihn Frau Seelinger schnell mit etwas leiserer Stimme und noch immer mit gleicher Mimik. Mit einem weiteren Nicken fordert sie Stefan auf, sich nicht irritieren zu lassen und einfach direkt fortzufahren. „Oh“, sagt Stefan jedoch und muss lachen. Die Schülerinnen und Schüler um ihn herum steigen in das Lachen mit ein. „Ich weiß, ich weiß…“ Stefans Worte gehen im Lachen unter. Frau Seelinger zwinkert kurz, lächelt intensiver und nickt, hält den Kontakt zu ihm, lässt sich nicht von dem Lachen um sie herum irritieren, wirft nur für einen kurzen Moment einen Blick zum Rest der Klasse. Sie bleibt bei Stefan. „Ja“, sagt Stefan belustigt. Frau Seelinger schüttelt den Kopf, schiebt die Oberlippe etwas nach vorne und macht eine beschwichtigende Handbewegung. „Don´t worry!“, ruft sie freudig bestimmt und nickt. „Ja“, sagt Stefan. Sie wirft, noch immer lächelnd, einen kurzen Blick zur Klasse und ist sofort wieder bei Stefan, hebt ihr Gesicht noch etwas höher zu ihm, ist ganz bei ihm, vielleicht sogar noch mehr als zuvor. „Yeah…“, Stefan spricht nun weiter. Kommentierung: Von der Lehrerin geht eine positive Stimmung aus. Mit ihrer offenen Mimik, dem Lächeln, dem geneigten Kopf und ihrer allgemein zugewandten Art erzeugt sie eine positiv gestimmte, fehlerfreundliche Atmosphäre. Ihre Art der Fehlerkorrektur (sie verbessert wie nebenbei, bleibt in der positiv „haltenden“ Stimmung) trägt hierzu bei. Darüber hinaus verbindet sich die Lehrerin sowohl mit Stefan als auch mit den anderen Schülerinnen und Schülern: kurzes Augenzwinkern, Blickkontakt und Mitlächeln. Sie hält ihn pädagogisch. Darüber hinaus findet die ganze Zeit über ein Aufrechterhalten der Verbindung sowie der allgemeinen Stimmung statt: Die Lehrerin geht nur kurz auf das allgemeine Lachen ein und ist dann sofort wieder bei Stefan, hält den Kontakt zu ihm noch stärker. Sie spürt, dass sie nicht auf das Lachen eingehen darf und mit Stefan den Kontakt halten muss, um in der Atmosphäre zu bleiben und den Ablauf nicht zu stören (s. Anhang: Interviewbericht Frau Seelinger).

V4: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Am Ende der Begrüßungsrunde erzählt Markus leicht in sich versunken: „Mir geht´s nicht so gut, weil ich Schnupfen und Kopfschmerzen habe. Ähm… Gestern, ich bin weit gekommen, hab´ gut gearbeitet, ähm… ja.“ „Ok. Schön, dass du trotzdem da bist“, sagt Herr Buber mit bedeutungstragender, ernsthafter Stimme. Er sitzt auf dem Pult, seine Körperhaltung ist Markus zugewandt, er schaut ihn an. Dann beendet er den Kontakt zu ihm und wendet sich der ganzen Klasse zu. Kommentierung: Der Lehrer wirkt (zwischen)menschlich: Durch seine Worte erzeugt er dem Schüler gegenüber ein Gefühl der Wertschätzung (die Ernsthaftigkeit in seinem Stimmklang unterstreicht dies). Darüber hinaus verbindet er sich durch seine zugewandte Körperhaltung, den Blick, seine Wortwahl

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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sowie durch seinen Stimmklang (greift hier die Gestimmtheit des Schülers auf) mit dem Schüler und hält diese Verbindung zu ihm aufrecht.

V5: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Herr Neitzel lehnt sich an den Tisch zwischen einer Gruppe arbeitender Schüler. Seine bloße Anwesenheit erzeugt sofort eine Wirkung: Einige sehen plötzlich sehr konzentriert aus, zwei andere halten ihre Hand vor ihr Gesicht, einer stützt dabei seinen Kopf auf und schaut nach unten. Einmal hebt er kurz seinen Blick, als würde er schauen, ob Herr Neitzel noch immer vor ihm steht, und lenkt seinen Blick dann sofort wieder nach unten auf sein Blatt. Drei der Schüler wirken angespannt. Herr Neitzel verharrt, schaut einmal kurz nach rechts zu den anderen Schülerinnen und Schülern des Kurses, dann wieder zurück zur kleineren Gruppe. Dann erhebt er sich und verlässt diese Schülergruppe. Sofort scheinen sich die Schüler zu entspannen: Zwei der Schüler nehmen die Hände vor dem Gesicht weg, lehnen sich zurück, einer fängt an, mit seinem Nachbarn zu reden, lacht kurz. Aufatmen. Als Herr Neitzel nach kurzer Zeit wieder zurückkommt und die gleiche Position wie zuvor einnimmt, geht die Hand des Schülers wieder vor sein Gesicht. Sein Nachbar hebt auch die Hand an und führt sie vor seine Brust fast bis an den Hals. Seine Beine kippeln, sein Blick schweift mehrmals nach links, weg von Herr Neitzel. Er wirkt angespannt, man spürt sein Unwohlsein, es wirkt, als würde er der Situation gerne entfliehen. Kommentierung: Durch seine bloße Anwesenheit wirkt der Lehrer (zwischen)menschlich (ersichtlich aus der Reaktion der Schüler): Ist es echte Konzentration oder möchten die Schüler nur konzentriert erscheinen? Ihrer spürbaren Angespanntheit, der Abgrenzung zum Lehrer hin folgt durch dessen Weggehen eine sofortige Entspannung: Die Schüler lehnen sich zurück, sprechen miteinander, lachen und lösen ihre abgrenzende Geste. Mit der Rückkehr des Lehrers macht sich erneute Anspannung breit, die gleichen Haltungen wie zuvor werden eingenommen beziehungsweise verstärkt. Es ist zu vermuten, dass der Lehrer spürt, mit seiner Anwesenheit ein scheinbar konzentriertes Arbeiten zu erzeugen. Es bleibt jedoch fraglich, ob er auch die Angespanntheit spürt. Anmerkung: Aus forschungsethischen Gründen hat hier keine kommunikative Validierung stattgefunden.

V6: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Aus einer Partnerarbeit werden Ergebnisse vorgestellt und kommentiert. Herr Willensinn ruft Marcel auf und stellt gleichzeitig eine Art Regel auf: „Marcel, Sie dürfen. Und Sie dürfen alle drannehmen, auch die, die sich nicht melden, weil, Sie haben die Aufgabe alle gemacht und wir vergleichen.“ Marcel kommentiert zunächst die Antwort des vorigen Schülers: „Also ich find´ Daniels sehr gut, weil er wirklich alles genannt hat. Wenn er vorliest, dann hört es sich wie viele Informationen auf einmal an, aber im Großen und Ganzen hat er alles genannt, alle Kriterien wurden auch erfüllt – “ Herr Willensinn: „Was sind denn alle Kriterien?“ Marcel: „Dass er wirklich alles genannt hat. Er hat wirklich alles genannt.“ Herr Willensinn dreht fragend die Handflächen nach oben. „Also wo´s erschienen ist, wann´s erschienen ist, wer das alles behauptet im Text“, redet Marcel weiter, „er hat wirklich alles genannt.

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Und er hat sogar genannt, dass er Mathematiker war, also… Wirklich alles (allgemeines Schmunzeln), hat nichts ausgelassen, und das finde ich auch gut, und ja.“ Herr Willensinn und einige Schülerinnen und Schüler lachen leise, Marcel schmunzelt selber auch. Herr Willensinn wird wieder ernst und fordert Marcel auf: „Geben Sie weiter.“ Marcel: „Ich glaube, ich bin mal so ´n Arschloch. Ich glaube, ich nehm´ mal jemanden dran, der sich nicht meldet.“ Herr Willensinn schmunzelt, schaut Marcel aus einer Mischung aus Tadel und Befürchtung an. Die Atmosphäre hat in dem Moment etwas Bloßstellendes, Angstbeladenes. Marcel ruft Lara auf. Herr Willensinn verweilt noch kurz mit diesem Blick bei Marcel, dann wendet er sich schnell Lara zu. Lara sitzt am Rand. Sie hat noch immer ihre Jacke an. Die Haare hängen ihr vor das Gesicht, sie wirkt abgegrenzt, sehr für sich, auf sich bezogen, ihr Blick ist die ganze Zeit nach unten gerichtet, als sie mit leiser Stimme antwortet. In einer Hand hält sie ihren Stift, die andere Hand ist vor ihrer Wange in Richtung des Lehrers, als stütze sie ihren Kopf auf. Als sie endet, schaut sie kurz zur Herr Willensinn auf. Fragend. „Was sprechen Sie gerade an?“, fragt Herr Willensinn, „Welchen Aspekt? Es ist richtig!“ Lara antwortet genauso leise wie zuvor. Herr Willensinn bejaht ihre Antwort und fordert sie schließlich auf weiterzugeben. „Maria“, sagt Lara leise. Ihre Hand geht kurz nach unten, dann wieder hoch vor das Gesicht. Kommentierung: Durch Einführung der Regel schafft der Lehrer eine situative Unter-atmosphäre, deren Charakter angstbeladen und angespannt ist (Angst vor möglicher Bloßstellung, vor möglichen Fehlern), er wirkt damit (zwischen)menschlich. Mit der Ausführung der Regel durch den Schüler spürt der Lehrer deren negative Wirkung. Seine Befürchtung bewahrheitet sich mit dem Aufrufen der stillen Schülerin. Er spürt aber auch, dass er diese Schülerin nun ermutigen muss („Es ist richtig!“). Und er spürt, dass er ihre Antwortzeit nicht verlängern sollte. Der Lehrer hält überdies fortwährend den Kontakt zur Klasse aufrecht, verweilt nie lange in einer Stimmung. Es entsteht daraus ein zügiger Unterrichtsfluss. Anmerkung: Der Lehrer relativiert im Interview die Wahrnehmung der Forscherin in einigen Punkten (s. Anhang: Interviewbericht Herr Willensinn).

V7: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Es ist der Beginn der Stunde. Die Schülerinnen und Schüler erzählen nacheinander von sich, wie es ihnen geht und wie ihr Wochenende war. Es ist spürbar Zeit, alle dürfen erzählen, so lange und so viel sie möchten. Sie hören einander zu, es ist sehr still im Klassenzimmer. Herr Buber sitzt auf dem Pult. Es haben bereits einige Schüler etwas erzählt, jetzt ist Erhan dran: „Mir geht´s gut, ähm… ja, weil, weil´s mir einfach gut geht, und am Wochenende war ich, ah…. (er überlegt kurz) Gestern habe ich zu viele [unverständlich] gefuttert, dann hatte ich Bauchweh, ähm, ja. Ich gebe das Wort weiter an –“ Herr Buber schmunzelt: „Warte, ganz kurz, wie viele hast du denn gefuttert?“ „Mehr als vierzig Stück.“ Einige Schüler ziehen die Luft ein. „Ich hoffe, du hast deine Zähne geputzt“, sagt Herr Buber belustigt. Erhan grinst und nickt. Einige Schüler lachen. Es geht weiter mit Erhans Sitznachbarin: „Mir geht´s gut, ich war auch viel draußen, mit Freunden, ja… Ich gebe das Wort weiter an Lara.“ Lara: „Mir geht´s nicht so gut und ich gebe das Wort weiter an Marie.“ „Willst du kurz sagen, warum ´s dir nicht gut geht.“, fragt Herr Buber vorsichtig. „Nein.“, sagt Lara. „…was sicherlich an der Situation hier liegt, oder?“, fragt Herr Buber. Lara verneint. „Nicht, ok.“ Marie fährt fort: „Mir geht´s gut“, sagt sie sehr leise, „das Wochenende war schön und ich gebe das Wort weiter an Daniel.“ Daniel: „Das Wochenende war – mir geht´s gut, und das Wochenende war schön und gestern“, sagt er gut gelaunt, „da hab ich einen Polizisten gesehen –“ „Ähm“, unterbricht ihn Herr Buber, „warte, ich war grade – Marie, kannst du´s noch mal sagen? Ich weiß, du willst es ganz schnell weitergeben, weil´s dir unangenehm ist. Aber ich hab´ grad noch über Lara nachgedacht und hab´ gar nicht richtig aufpassen können. Gut, jetzt kann ich mich auf dich konzentrieren.“, sein Tonfall ist bestimmt. „Mir geht´s gut, das Wochenende war lang und schön.“, wiederholt Marie. „Ich gebe das Wort weiter an Daniel.“ Nacheinander erzählen alle von sich. Herr Buber sitzt auf dem Pult und hört zu. Zuletzt berichtet auch Herr Buber von seinem Wochenende.

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Kommentierung: Durch seine Wortwahl („[…] ich hab´ grad noch über Lara nachgedacht und hab´ gar nicht richtig aufpassen können. Gut, jetzt kann ich mich auf dich konzentrieren.“) erzeugt der Lehrer ein Gefühl von Wertschätzung und Anerkennung gegenüber beiden Schülerinnen und wirkt damit (zwischen)menschlich: Dass es Lara schlecht geht, beschäftigt ihn und ist ihm nicht gleichgültig. Ebenso zeigt er ein wirkliches Interesse an Maries Befinden. Sein Tonfall ist bestimmt, was seinen Worten noch einmal mehr Gewicht verleiht. Er greift die von Lara ausgehende Stimmung auf. Darüber hinaus verbindet sich der Lehrer: Er koordiniert sich ein durch das Erfragen des jeweiligen Befindens der Schülerinnen und Schüler, durch Nachhaken und durch gleichzeitiges Öffnen seiner selbst. Es entsteht eine gemeinsame Ebene. Auch das Auffangen der jeweiligen Gestimmtheiten seitens der Schülerinnen und Schüler und Widerspiegeln im eigenen Stimmklang erzeugen ein Gefühl der Verbundenheit (wird während der gesamten Begrüßungsrunde aufrechterhalten). Im Interview kommentiert er diesbezüglich: Er versuche hierbei zum einen die einzelnen Schülerinnen und Schüler aufzuwerten, indem er etwas Positives zu ihnen sage. Zum anderen versuche er gleichzeitig ganz bewusst, etwas aus ihnen „rauszuholen“. Das sei jedoch schwierig, sage ein Schüler ausschließlich „mir geht´s gut, ich gebe weiter“. Es wird deutlich, dass der Lehrer hierbei seine Schülerinnen und Schüler wahrnimmt, sie „sieht“. Ferner spürt er, dass er bei Lara nicht weiterfragen sollte, belässt es schließlich dabei und geht weiter.

V8: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirkend machen und Kategorie Verändern der Stimmung Das Thema der heutigen Stunde: „Aufmachung von Werbeplakaten“. Die Schülerinnen und Schüler sitzen an U-förmig gestellten Tischen. Die Jalousien sind zur Hälfte heruntergelassen, der Raum leicht abgedunkelt. Herr Buber projiziert mit dem Beamer ein Werbeplakat für Bikinimoden an die Wand. Es zeigt eine Frau, die einen Bikini trägt. Die aktuelle Stimmung ist heiter und ausgelassen: die Jugendlichen lachen und murmeln [teilweise beschämt?] vor sich hin, sie rufen Dinge und sprechen, ohne sich zu melden. Auch Herr Buber ist weniger ernst und redet laut, in seinem Gesicht spiegelt sich die Belustigung der Jugendlichen wider. Alle im Raum Anwesenden sind in einer gemeinsamen Atmosphäre. Herr Buber und seine Klasse sprechen zunächst über die Namen der einzelnen Bikiniteile. „Wie das unten heißt, das weiß ich nicht.“ Herr Buber spricht über das Schülerlachen hinweg und tippt mit einem großen Lineal auf die Bikinihose. Einige Schüler murmeln etwas und lachen laut vor sich hin. „Schhhhht!“, Herr Buber versucht seine Klasse etwas zu bändigen, ist jedoch selbst belustigt und unternimmt keinen erneuten Versuch, für Ruhe zu sorgen. „Jetzt weiß ich´s!“, ruft ein Schüler. Herr Buber geht nicht auf ihn ein und fährt fort: „Ja, wenn man, wenn man den, wenn man beides haben will, dann zahlt man wahrscheinlich –“ Er wird von einem Schüler unterbrochen: „Ah, Herr Buber!? Herr Buber!“ Und ein anderer Schüler: „Häääää?“ „– das Doppelte.“, beendet Herr Buber seinen Satz und wendet sich dem ersten Schüler zu: „Ja?“ „Ich glaub´“, antwortet dieser Schüler, „da wo Bikini draufsteht, ist extra klein gemacht, damit man nur noch den Preis sieht.“ „Ja.“, pflichtet ihm Herr Buber bei. Er hat sich hingesetzt. „Und man denkt, dass man beides kriegt!“, fährt der Schüler fort. Herr Buber erhebt sich wieder und sagt: „Und das hatte ich eben gedacht. Ich dachte, Aufmerksamkeit auf – also ich bin jemand“, Herr Buber hält in seiner Zeigebewegung inne, geht in die Mitte des Halbkreises, stützt sich auf das Lineal und bleibt kurz stehen, „ich bin äh, ich bin preisbewusst.“ Er wendet sich dem Plakat zu, gerät wieder in Bewegung. „Ja, ich bin preisbewusst, mich hätte jetzt auch das hier angelockt.“ Er zeigt mit dem Lineal auf das Plakat. Die Jugendlichen lachen und murmeln vor sich hin. Herr Buber lässt sich nicht beirren und fragt in das Gemurmel hinein: „Wo bekommt man so günstige Preise?“ Einige Schüler tauschen sich bereits lautstark aus. „In welchen Läden?“, fragt er und wendet sich der Klasse zu. Ein paar der Schüler nennen einige Geschäfte, Herr Buber bejaht: „Mmh“, und die Schüler zählen, vor sich hinmurmelnd, weitere Geschäfte auf. Herr Buber lässt es geschehen und geht indes zurück zum Beamer. Er sagt: „Ich möchte euch jetzt direkt ein“, seine Hand geht nach unten, er senkt seine Stimme und fährt fort: „…anderes Foto zeigen.“ „Simpsons!“ ruft ein Schüler laut. Und ein anderer Schüler: „Jetzt kommt´s.“ Weitere Schülerinnen und Schüler sprechen miteinander, murmeln erneut vor sich hin und warten darauf, was geschieht. Herr Buber projiziert nun ein anderes Foto an die Wand. Zu sehen

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

ist eine Frau. Sie ist sehr dünn und steht vor einem Spiegel, in dem sie um einiges dicker abgebildet ist. Man hört von einigen Schülern „Oooooooh!“, „Iiiiiiiih!“ und ein allgemeines, heiteres, lautes Lachen. „Guck, des is mal ein –“ „Schhhhht!“ Die Schülerinnen und Schüler werden von Herr Buber unterbrochen. Er dreht sich zur Klasse, hebt die Hand, macht eine beschwichtigende Handbewegung von oben nach unten und sagt mit lauter Stimme: „Seid mal ganz leise.“ Die Jugendlichen sind für einen Moment still und reden, sobald Herr Buber seinen Satz beendet hat, sofort wieder laut vor sich hin. Herr Buber blickt zum Plakat. „Schhhhht!“ wiederholt er. Ein Schüler ruft etwas. „Nein! Leise!“ Herr Buber spricht jetzt mit lauter und bestimmter Stimme, seine Hand ist noch immer gehoben. Ein anderer Schüler lacht sehr laut auf und ruft: „Oh leck, oh yo!“. Andere Schüler lachen. Herr Buber wendet sich zur Klasse, lässt die Hand langsam sinken und steht nun ganz gerade und still. Er strahlt plötzlich etwas anderes aus als zuvor. Man merkt, dass das Foto für ihn eine emotionale Bedeutung hat, ihm wichtig ist. Seine Stimme ist laut und bestimmt: „Äh … welchen …“, und leiser, „Part von dem Wort ´leise´ versteht ihr nicht.“ Die Schülerinnen und Schüler verstummen abrupt. Geladene Stille. Pause. Herr Buber verharrt für einen Moment in seiner Position. Als er weiterspricht, hat sich seine Stimme geändert: Sie ist leise, hörbar emotional getönt, trauriger, ernster. Er bewegt sich etwas, erwacht aus der Starre und bleibt aber auf seinem Platz stehen. Um ihn herum ist nun alles still. Er sagt: „Ich finde nicht, dass das ein Thema ist zum Lachen.“ Kurze Pause, seine Stimme wirkt nach. Dann wendet er sich dem Plakat zu und gibt nun in einem wieder etwas nüchternen Tonfall eine Anweisung: „Jeder schaut jetzt mal zwei Minuten drauf. Schaut´s euch gut an, und danach stelle ich euch die Frage, was dieses Foto denn mit dem Plakat tun hat. Zwei Minuten betrachtet ihr das, jeder für sich, und dann dürft ihr auf meine Frage eingehen.“ Der Lehrer setzt sich nun hin. Es herrscht absolute Stille. Ich traue mich kaum, zu atmen. Ich fühle mich auf einmal auch betroffen. Kommentierung: Der Lehrer spürt, dass das Foto zunächst nicht die gewünschte Atmosphäre erzeugt und handelt entsprechend: Er verändert den Charakter der Atmosphäre und setzt damit das Foto in Szene, macht es wirkend. Im Interview kommentiert der Lehrer diesbezüglich: „Ich wollte, dass die Atmosphäre ganz ernst ist, dass sie es [das Foto] ernst betrachten.“ Diese Veränderung führt der Lehrer zum einen durch seine Wortwahl herbei, indem er die Schülerinnen und Schüler ermahnt. Auch sein Stimmklang spielt eine große Rolle: Seine Stimme ist auf einmal leise, emotional, traurig und ernst. Zum anderen ist das Nonverbale in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung: Der Lehrer unterbricht seine Bewegung, bleibt plötzlich stehen. Aus dieser Position heraus verlangsamt er dann seine Handbewegung nach unten, steht gerade und ruhig. Von einem Moment auf den anderen geht damit schlagartig etwas anderes von ihm aus. Die heitere und entspannte Stimmung schlägt um in eine traurige, emotional geladene, ernsthafte. Diese neue Stimmung wiederum hält der Lehrer, verharrt in ihr, hält sie über die Stille hinweg aufrecht. Es entsteht hierdurch eine „geladene Stille“. Erst durch seine erneute Bewegung wird diese Spannung wieder gelöst. Nicht nur die Stimmungsqualität ändert sich, sondern auch die Verbindung aller untereinander: Bestehen zunächst viele einzelne Unteratmosphären – viele Schülerinnen und Schüler sind für sich oder reden mit den Nachbarinnen und Nachbarn, sind „freigelassen“ – entsteht mit der Veränderung schlagartig ein gemeinsames und fokussiertes „Atmen“. Im Allgemeinen verbindet sich der Lehrer durch seinen Blickkontakt sowie die zugewandte Haltung mit den Schülerinnen und Schülern. Anmerkung: Dies ist ein schönes Beispiel für Koordination/Diskoordination (s. III.4.3): Zu Beginn sind alle gemeinsam in dieser heiteren Stimmung, stecken sich gegenseitig an (Koordination). Dann verlässt der Lehrer plötzlich diese Stimmung (Diskoordination) und erzeugt eine neue (wieder Koordination): „Geladene Stille“ breitet sich aus. Dieses Mal ist die Einheit stärker spürbar, ist sie fokussierter.

F2: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Herr Buber erzählt, er teile manchmal Zettel aus, die die Schülerinnen und Schüler jeweils mit ihren Namen beschriften würden. Gegenseitig schrieben sie sich dann untereinander ein Lob auf den Zettel. Ein ernstgemeintes, betont Herr Buber. Das sei wichtig. Hierbei beobachte er: „[Nach dem ersten Mal]

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spüren sie es selber, dass es schön ist jemanden zu loben. Weil, wenn man jemanden lobt, dann ist man ja auch jemand. Weil jemand der lobt, der ist auch jemand, der was kann. […] Und die lieben das, da rumzulaufen und draufzuschreiben. Und der schönste Moment für mich ist – man muss sie dann echt zurückhalten und sagen ‚Okay jetzt dürft ihr!‘ - der Moment, wo sie dann [wieder] zu ihrem Platz […] gehen und der Moment, wo sie das Blatt anheben und ihre Augen darauf richten. Und dann haben sie Glanz in den Augen. Und das ist wunderschön, dieser Moment. Da ist dann absolutes Schweigen im Raum.“ Eine Schülerin aus einer anderen Klasse (sie wurde nie von ihrer Lehrerin gelobt) durfte auch einmal daran teilnehmen. Später habe sie ihm erzählt, das sei der schönste Moment für sie gewesen, den sie jemals in der Schule gehabt hätte. Sie war so dankbar, sagt Herr Buber. „Ein Zettel voller Lob.“ Kommentierung: Durch das gegenseitige, persönliche und ernstgemeinte Loben wird im zwischenmenschlichen Bereich eine wertschätzende und anerkennende Atmosphäre erzeugt. Anmerkung: Übungen wie diese zielen auf die Herausbildung einer „atmosphärischen Spur“. Ähnliches findet sich auch zum Beispiel bei V12 und F13.

F3: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Frau Seelinger erzählt: „Für mich ist das Schlimmste, wenn ich merke, dass ein Schüler aufgeregt ist oder wenn er gerade nicht da vorne stehen will […] – Dann gucke ich den, glaube ich, schon ganz anders an. Und ich lobe auch anders und mehr. […] Ich kenne das Gefühl in mir und denke ‚Oh Gott‘ – er tut mir in dem Moment leid, aber ich denke ja auch, gut, wir sind ja bei uns im Klassenraum, ist nicht schlimm. Deshalb würde ich ihn nicht davon abhalten, und ihn unterstützen und ich glaube ich schaue ihn anders an. […] Auch wenn er dann fertig ist, dann zwinkere ich ihm zu […].“ Kommentierung: Die Lehrerin wirkt in der Situation über ihre Mimik (besondere Art des Anschauens, Augenzwinkern) und über lobende Worte (zwsichen)menschlich. Begleitet wird dies von der Wahrnehmung (Schüler ist aufgeregt, fühlt sich unwohl) und einem entsprechenden Handeln: Sie unterstützt ihn „haltend“ und schafft einen schützenden Raum.

F4: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken Frau Wieland erzählt, je nach Situation würde sie verschiedene Stimmklänge einsetzen, um damit eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Vor der Klassenarbeit sei das ihre „sanfte Stimme“ und wenn jemand ausgelacht würde: „Dann hole ich immer meine zackige Stimme raus“, sagt sie. Kommentierung: Durch verschiedene Stimmklänge erzeugt sie entsprechende Atmosphären, sie wirkt (zwischen)menschlich.

F5: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken „Fehler sind schön“, erzählt Frau Wieland. Sie sagt, sie gebe gerne ihre Fehler zu. Beispielsweise bemängele sie stets ihre eigenen Malkünste. Die Klasse wisse darum und auch, dass sie darüber schmunzeln dürften. Sie erzählt, sie würde das merken, dann immer lachen und eine lustige Bemerkung dazu machen. Ihr sei es wichtig, dass Lehrende Fehler zeigten, damit die Schülerinnen und Schüler dadurch entlastet würden. Weil sie dann sähen, dass auch sie Fehler machen dürften. Und es funktio-

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

niert: Ihre Schüler freuten sich, sagt sie, Fehler machen zu können. Und wenn jemand etwas nicht verstehe: „Komm, wir machen es zusammen an der Tafel“, sage sie dann. „Dann führe ich sie so, dass sie es selbst lös[en]. Dann [sind] sie stolz wie Oskar. Ich strahle sie dann an. Ich habe ja immer so eine Freude, die ist immer da. Ich klatsche dann.“ Kommentierung: Die Lehrerin schafft eine fehlerfreundliche Atmosphäre durch eigenes Wirken, sie wirkt (zwischen)menschlich (gibt selbst Fehler zu, strahlt die Kinder an, lobt und klatscht). Im Falle des Nichtverstehens hält sie die Kinder pädagogisch (verbinden). Lehrerin, Schülerinnen und Schüler agieren und koordinieren auf der Fehlerebene gemeinsam.

F6: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie (Zwischen)menschlich wirken und Gegenständliches wirken lassen, wirkend machen Frau Wieland erzählt, sie erzeuge bewusst eine Wohlfühlatmosphäre, in der Angstgefühle keinen Platz hätten. Hierfür betrete sie das Klassenzimmer zunächst mit einem großen Lächeln. Gerade vor Klassenarbeiten, um deren Stellenwert für die Schülerinnen und Schüler sie wisse (Notendruck, Druck durch Eltern etc.), sei dies wichtig. Deshalb habe sie sich ein „Drumherum“ überlegt, wie sie ihnen helfen könne: Zum Beispiel würden lustige Spruchrituale eingesetzt, um die Angst zu nehmen. Damit die Schülerinnen und Schüler die Klassenarbeit entspannt beginnen könnten, schaffe sie des Weiteren während des Austeilens der Arbeit eine „Schlafatmosphäre“, eine Art Tiefenentspannung: Die Kinder legten den Kopf auf den Tisch und Frau Wieland erzähle ihnen – je nach Jahreszeit – eine Geschichte vom Meer, von den Bergen, von Zimtschnecken oder Vanillekipferln. Oder von goldenen Blättern, durch die die Sonne scheint. Von ihrer Klasse bekomme sie dann des Öfteren die Rückmeldung: „Ach, es hat richtig nach Zimt gerochen!“ Alles sei währenddessen ruhig, sagt Frau Wieland: ihre Stimme sehr leise, das Licht ausgeschaltet, ihre Schritte bewusst langsam und vorsichtig. Nach dem Austeilen setze sie sich kurz hin, sage für einen Moment nichts und dann mit munterer Stimme: „Und wir wachen auf und freuen uns auf die Arbeit, die wird toll!“ Des Weiteren achte sie darauf, kein Stressgefühl durch Uhrticken zu erzeugen. Eine Zeitangabe während der Arbeit sei trotzdem wichtig, sagt sie, deshalb male sie eine lustige Uhr mit Händen und Füßen an die Tafel, schreibe die Uhrzeit an und lese sie mit heiterer Stimme vor. Während der Klassenarbeit trage sie des Weiteren eine „Glückskette“. Diese erzeuge bei den Schülerinnen und Schülern Heiterkeit, erzählt sie (weil die Schülerinnen und Schüler wüssten, dass sie ihnen viel Glück wünsche). An die Tafel schreibe sie „Viel Glück!“, „Gutes Gelingen“, male Smileys und nach oben zeigende Daumen. Dies mache sie aufgrund folgender Beobachtung: „Mir ist aufgefallen, dass viele Schüler während der Arbeit verzweifelt aufschauen. Dann starren sie nach vorne zur Tafel. Und dann sehen sie die ganzen Sprüche, und dann lächeln sie und dann geht´s wieder weiter.“ Und es wirkt: Früher hätten die Schülerinnen und Schüler vor der Arbeit gezittert, aber das sei nun weg. So empfinde sie das zumindest. Inzwischen gestalte Frau Wieland diese Phase sehr bewusst. Sie habe unbewusst gestartet, dann aber gemerkt, es funktioniere und setze diese Gestaltung nun ganz bewusst ein. Bei den Schülerinnen und Schülern würde es gut aufgenommen – diese forderten nun auch von anderen Fachlehrerinnen und – lehrern entspannende Geschichten vor der Klassenarbeit. Kommentierung: Mit Gegenständen (etwas wirken lassen) und eigenem Wirken ((zwischen)menschlich wirken) schafft die Lehrerin eine Situation, gestaltet sie bewusst eine Wohlfühlatmosphäre, in der Angstgefühle keinen Platz haben sollen: Sie betritt den Raum mit großem Lächeln, lustige Spruchrituale dienen dazu, Angst zu nehmen, sie spricht mit munterer Stimme. Die Glückskette ist für die Schülerinnen und Schüler als emotional bedeutsam spürbar, ebenso die Aufschrift auf der Tafel („Viel Glück!“). Sie erzählt eine Geschichte, um eine entspannte „Schlafatmosphäre“ zu schaffen, und gestaltet auch

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hierbei den atmosphärischen Boden dafür: Das Licht wird ausgeschaltet, ihre Schritte sind bewusst langsam und leise. Die Geschichte wird dadurch so lebendig, dass sie für die Kinder sogar riechbar wird. Es wird eine Situation geschaffen, eine entspannte Wohlfühlatmosphäre, aus der heraus dann im weiteren Verlauf eine Klassenarbeit geschrieben wird (man könnte auch sagen, sie macht die Klassenarbeit wirkend). Um ein Stressgefühl in dieser Situation zu umgehen, gibt es im Klassenraum keine Uhr, die laut tickt (lässt die Uhr nicht wirken). Die Uhrzeit liest sie mit heiterer Stimme vor – auch hier liegt das Augenmerk wieder auf der Gestaltung einer angstfreien Wohlfühlatmosphäre. Die Gestaltung der Lehrerin wird hierbei stets begleitet vom Wahrnehmen sowohl in Bezug auf die Bedürfnisse und den momentanen Zustand der Schülerinnen und Schüler (z.B. Zittern, Angstgefühl) als auch im Hinblick auf die Wirkung ihrer Gestaltung. Sie nimmt wahr, dass und wie ihr Handeln ankommt. Die Stimmung wird in den einzelnen Phasen aufrechterhalten, mit den Veränderungen entstehen Phasenwechsel: zum Beispiel spricht sie aus der „Schlafatmosphäre“ herausgehend mit munterer, freudiger Stimme und ändert damit den Charakter der Atmosphäre.

F7: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirken lassen Herr Schneider erzählt von einer besonderen Stunde: Auf dem Pult steht eine geschlossene Kiste. Sie enthält Bücher. Die erste Schülerin betritt das Klassenzimmer und verstummt plötzlich, da sie denkt, ein Tier sei in der Kiste. Herr Schneider greift diesen Moment sofort auf und geht mit ihr in diese geheimnisvolle Stimmung: Plötzlich auch leise sprechend gibt er ihr den Auftrag, den anderen zu sagen, ebenfalls leise zu sein. Es funktioniert: Die sonst so quirlige Klasse verstummt, es ist „mucksmäuschenstill“ im Klassenzimmer. Die ganze Stunde über bleibt dieser Moment erhalten – vielleicht liegt etwas Geheimnisvolles in der Luft, vielleicht etwas Aufregendes. Erst am Ende der Stunde ändert sich dieser Charakter, als Herr Schneider das Geheimnis lüftet: Statt eines Tieres nimmt er ein Buch aus der Kiste. Alle lachen, das Geheimnisvolle weicht einer heiteren Stimmung. Kommentierung: Der Lehrer spürt die Gestimmtheit der Schülerin, greift den Moment sofort auf und lässt das Geheimnisvolle, das der Kiste anhaftet, wirken (man könnte auch sagen, die Schülerin habe die Kiste wirkend gemacht). Er übernimmt hierbei die Gestimmtheit der Schülerin und koordiniert des Weiteren den Rest der Klasse über sie ein. Ferner hält er diese Stimmung die ganze Schulstunde über aufrecht, bis er sie am Ende mit dem Herausnehmen des Buches verändert.

F8: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirken lassen Vor Beginn der ersten Stunde lasse Herr Buber Musik laufen, berichtet er. Die Tür des Klassenzimmers sei dabei geöffnet, sodass die Musik nach draußen klingen könne. Es sei „angesagte“ Musik, er wisse, dass sie den Schülerinnen und Schülern gefalle. Er erzeuge damit eine besondere Atmosphäre, die das laute Stimmengewirr am Morgen zu übertönen und Vorübergehende regelreicht in den Raum hineinzuziehen vermöge. Manche Schülerinnen und Schüler aus der Klasse, aber auch aus anderen Klassen, kämen vorbei, erzählt er – teilweise auch schon lange vor Unterrichtsbeginn, um in diesem Moment sein zu können. Kommentierung: Der Lehrer lässt die Musik wirken. Er erzeugt damit eine für die Schülerinnen und Schüler als positiv empfundene Atmosphäre, die „anziehend“ wirkt.

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V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

F9: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirken lassen Von ihrer Klasse habe Frau Wieland Blumensamen zum Geburtstag geschenkt bekommen, erzählt sie. Nun würden die Samen im Klassenzimmer in Blumenkästen ausgesät. Der Grund hierfür bestehe darin, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu geben, gesehen und wahrgenommen zu werden und ihr Handeln als bedeutsam zu empfinden. Auch eine von der Klasse geschenkte Kette trage sie deswegen immer wieder. Im Klassenzimmer achte sie des Weiteren generell darauf, dass alles stets voller Schüleranerkennung sei: Seien die Kinder stolz auf etwas, werde es aufgehängt. Ferner gebe es eine „Geburtstagsuhr“, damit jede/r den Geburtstag der/des anderen kenne und niemand vergessen werde. „Bei uns sind die Wände voller Schüleranerkennung.“, sagt sie. Kommentierung: Die Lehrerin erzeugt durch die Wirkung von Gegenständen eine anerkennende und wertschätzende Atmosphäre: Geschenkte Blumensamen (Blumenkästen), geschenkte Kette, Geburtstagsuhr, Dinge, auf die die Schülerinnen und Schüler stolz sind – diese Gegenstände werden nicht wirkend gemacht, sprich emotional aufgeladen, sondern wirken gelassen in ihrer Bedeutung, die sie bereits an sich haben. Sie gibt damit den Schülerinnen und Schülern das Gefühl, gesehen und wahrgenommen zu werden.

F10: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirkend machen Im Klassenzimmer hängt ein Papierhandtuchspender. Herr Buber sagt, er habe den Schülerinnen und Schülern dazu eine Geschichte erzählt: Von seiner monotonen Arbeit in einer grauen Fabrik, in der diese Spender hergestellt wurden – Fließbandarbeit. Und von der Begegnung mit einer Frau, die dort nicht mehr lange zu arbeiten hatte, weil ihr bereits gekündigt worden sei. Diese Frau hatte keinen Schulabschluss und kaum eine Perspektive, wie es für sie nach der Kündigung weitergehen sollte. „Scheiß Schule, ich hatte keinen Bock da drauf. Ich habe nach der achten abgebrochen.“, hatte sie zu Herr Buber in der Fabrik gesagt. Der Papierhandtuchspender ist im Klassenzimmer für alle sicht- und spürbar. Seit kurzem hängt sogar ein Foto der Fabrik daneben. Damit erzeuge er bewusst „Existenzängste“: „Wenn du die Schule abbrichst, ergeht es dir vielleicht wie der Frau.“ Gleichzeitig gebe er den Schülerinnen und Schüler jedoch auch immer das Gefühl, nicht fallengelassen zu werden, sofern man sich selbst anstrengt und versucht, das Ziel „Schulabschluss“ zu erreichen. Ein Gefühl der Sicherheit, das die vom Handtuchspender ausgehende Atmosphäre legitimiert und relativiert. Kommentierung: Der Lehrer macht mit der Geschichte den Papierhandtuchspender wirkend und stellt eine emotionale Verbindung zwischen seinen Schülerinnen und Schüler und ihm her, koordiniert den Gegenstand auf deren Ebene ein. Der Spender ist im Klassenzimmer präsent und somit für alle spürbar. Im Interview erklärt er diesbezüglich: „Das ist für sie so emotional auf dieser Ebene verbunden, mit diesem Spender.“

F11: Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirkend machen Frau Bahrens erzählt von einem Herz – sie nennt es „Motivationsherz“ –, das sie für ihre Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf folgende Qualitäten emotional aufgeladen habe: Freude, Glück, Wohlempfinden. Wenn es ihr richtig gut gehe, sie Spaß und Freude am Unterrichten habe, an dem „Zusammen“, dem Interagieren mit den Heranwachsenden, an dem „Team“, wenn die Heranwachsenden verstanden hätten, angekommen sei, was sie gesagt habe, dann sei ihr Ziel erreicht, dann gehe es ihr gut, dann freue sie sich. Diese Freude zeige sie den Heranwachsenden sofort: Sie male ein Herz an die Tafel und sie lächle dabei. Das übertrage sich auf die Klasse, sagt sie. Wie ihr Empfinden könne hierbei auch das Herz wachsen, könne es größer werden oder sich verdoppeln, manchmal male sie gar einen (traurigen) Smiley hinein. Über das Herz würden Empfindungen visualisiert. Neben genannten Qualitäten stelle

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das Herz auch eine Motivation für die Schülerinnen und Schüler dar, denn hätten sie 15 Herzen gesammelt, würden sie alle etwas zusammen unternehmen. Kommentierung: Die Lehrerin macht das Herz wirkend, emotionalisiert es zunächst in Bezug auf ihr eigenes Befinden, trägt diese Qualitäten gleichzeitig aber an die Schülerinnen und Schüler heran. Es entsteht des Weiteren eine gemeinsame Verbindung (gerade auch weiterführend in Bezug auf die angestrebte gemeinsame Unternehmung). Begleitet wird dies von einer stetigen Wahrnehmung.

V9: Kategorie Verändern der Stimmung Stundenbeginn. Ich habe meine Kamera aufgebaut und warte darauf, dass Frau Seelinger ihren Unterricht beginnt. Alle Schülerinnen und Schüler sitzen an ihrem Platz, die Tische sind als Gruppentische im Raum aufgestellt. Frau Seelinger steht vorne, stützt sich auf die Stuhllehne und schaut in die Klasse. „Wir warten auf Stühle.“, sagt sie und schiebt den Stuhl etwas nach vorne. Zuvor wurde ein Schüler losgeschickt. Keiner spricht. Eine Schülerin zieht leise ihre Jacke aus. Stuhlknarzen. Die Atmosphäre ist spürbar geladen, angespannt, dicht, steigert sich in ihrer Intensität. Einige Schüler sitzen einfach da, trauen sich nicht, sich zu bewegen, andere rutschen etwas auf ihrem Stuhl hin und her, wissen nicht wohin schauen, trauen sich nicht zu sprechen. Auch Frau Seelinger ist verlegen, weiß nicht so recht wohin, schaut mal hier- mal dorthin, klammert sich weiterhin an ihren Stuhl. Ich ertrage die Spannung kaum noch und spreche schmunzelnd in die Stille hinein: „Also Sie können völlig normal sein, […], ruhig auch sprechen, das ist alles (ich muss lachen) – verhalten Sie sich wie immer. Das ist keine Wertung. Weder für Frau Seelinger noch für Sie.“ Frau Seelinger hat nun auch angefangen zur Klasse zu sprechen: „Ja, eine Minute Pause, wir warten auf seinen Stuhl.“ Die Schülerinnen und Schüler bewegen sich, lachen nun auch, beginnen laut miteinander zu sprechen. Eine Schülerin erhebt sich und läuft an einen anderen Tisch. Frau Seelinger löst sich von ihrem Stuhl und fährt sich lachend mit der Hand durch die Haare. Kommentierung: Die zunehmend angespannte Atmosphäre205 wird gelöst durch Ansprechen, durch Benennen der Situation. Auch das Lachen trägt zum Ent-spannen der Situation bei. Die Stimmung verändert sich damit. Dies wird deutlich in der allgemeinen Klassenlautstärke, die Bewegungen werden schneller, werden nicht mehr so vorsichtig ausgeführt, und auch die Lehrerin wird nun „beweglicher“, löst sich aus ihrer Starre, hält sich nicht mehr am Stuhl fest und agiert freier. Beispiel aus eigener Unterrichtserfahrung: Kategorie Verändern der Stimmung Ich betrete den Unterrichtsraum. Es sind bereits einige Schülerinnen und Schüler anwesend, sitzen leise auf ihrem Platz. Sie sind früh da, weil in der heutigen Stunde eine zweistündige, wichtige Klausur geschrieben werden soll. Die Tische sind auseinandergeschoben worden. Ich setze mich hinter das Pult und lege die Klausuren bereit. Inzwischen ist der Kurs komplett, es sitzen alle auf ihrem Platz. Die Atmosphäre ist intensiv geladen. Ich spüre deutlich die Angespanntheit der Schülerinnen und Schüler. Absolute Stille. Ich traue mich kaum, mich zu bewegen, bin fast selbst etwas nervös. Ich habe das Gefühl, dass einige bereits sehr konzentriert sind, und andere aber Angst haben, (zu) stark aufgeregt sind. Ich möchte dem entgegenwirken und benenne in einem schmunzelnden Tonfall meine Wahrnehmung, versuche damit, die Anspannung zu lösen: „Sie können ganz entspannt sein.“, sage ich lächelnd und so beruhigend wie möglich. „Ich spüre, dass Sie sehr aufgeregt sind, aber alles ganz entspannt, es kann Ihnen nichts passieren, vertrauen Sie mir, Sie sind gut vorbereitet.“, rede ich ihnen ermutigend zu. Es wirkt: Die Schülerinnen und Schüler entspannen sich sichtlich, beginnen, sich auf dem Stuhl zu bewegen, schauen einander an, einige lächeln und atmen laut aus, lehnen sich zurück. Man merkt, sie fühlen 205

Strenggenommen handelt es sich hierbei natürlich noch nicht um Unterricht und damit weniger um eine Unterrichtsatmosphäre. Das Beispiel wurde trotzdem ausgewählt, da sich ähnliche Situationen auch während des Unterrichts abspielen können.

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

sich sichtlich wohler. Die angespannte Atmosphäre weicht einer entspannteren. Nun kann ich die Klausuren austeilen. Kommentierung: Durch Ansprechen der Stimmungsqualität (aufgeregt, angstvoll) löst sich die Atmosphäre. Durch das Lächeln, die Wortwahl und den beruhigenden, schmunzelnden Tonfall weicht die angespannte einer entspannteren Stimmung, sie verändert sich. In dieser Situation spürt die Lehrerin die Angespanntheit der Schülerinnen und Schüler und nimmt auch wahr, dass sie durch ihr eigenes Wirken diese Anspannung lösen konnte.

V10: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Kontaktieren Herr Schneider steht hinter dem Pult. Er hält eine geschnürte Mappe in der Hand, steht aufrecht und lächelt. Es ist der Beginn der Stunde. Hinter ihm sind zwei Schüler damit beschäftigt, die Tafel gewissenhaft mit einem Schwamm zu säubern. Während Herr Schneider mit einer Hand den Knoten seiner Mappe löst, schaut er lächelnd im Raum umher. Seine Blicke bleiben für einen kurzen Moment an den Schülerinnen und Schülern haften. Man spürt, dass er sie wahrnimmt, dass er sie sieht. „Guten Morgen alle zusammen!“, sagt er dann in einem freudigen und motivierenden Ton. „Guten Morgen, Herr Schneider!“, antwortet die Klasse langsam im Chor. Einige Schüler lachen dabei – Herr Schneider schmunzelt auch und fährt fort: „Es ist schön, euch wiederzusehen [er hatte diese Klasse bereits an diesem Tag]. Ähm, heute geht es in der Stunde um –“, er bricht mitten im Satz ab. Er hat in diesem Moment gemerkt, dass sich hinter ihm noch immer die zwei Schüler an der Tafel zu schaffen machen und dreht sich zu ihnen um. „Leute, klappt´s? Werdet ihr heute noch fertig?“, fragt er schmunzelnd. Die zwei Schüler halten für einen Moment inne, wenden sich zur Klasse und grinsen. Vereinzelt lachen auch andere Schüler. Auch Herr Schneider ist etwas belustigt, hält jedoch nur kurz in dieser Stimmung inne und dreht sich dann schnell wieder zurück in seine vorige Position, richtet sich etwas auf, streckt die Ellenbogen nach außen. „Ok“, sagt er und klatscht so mit erhobenen Armen mit den Händen gegeneinander, hält diese Position, und fährt mit etwas höherer Stimme fort: „Ähm, Organisatorisches zuerst […].“, der Kontakt zur Klasse bleibt bestehen. Einer der beiden Schüler an der Tafel wendet sich noch einmal grinsend zur Klasse, kann damit aber die Stimmung nicht an sich reißen. Kommentierung: Durch seinen Blick und die offene Körperhaltung stellt der Lehrer einen Kontakt zu seinen Schülerinnen und Schülern her. Auch die Wortwahl („Es ist schön, euch wieder zu sehen.“) ist adressatenorientiert und erzeugt auf wertschätzende Art und Weise einen Kontakt. Das gemeinsame Lachen erzeugt ebenfalls das Gefühl einer Verbundenheit. Besonders hervorzuheben ist auch das Aufrechterhalten der Atmosphäre (Stimmung und Verbindung) im Moment der Diskoordination (lustige Tafelsituation): Der Lehrer ist wieder in der Ausgangsstimmung, bevor die Tafelsituation den Charakter der Gesamtatmosphäre zu übernehmen droht. Durch stärkere Präsenz – leicht angehobene Brust, zusammengeklatscht gehaltene Hände – hält er den Kontakt zur Klasse aufrecht. Im Interview berichtet Herr Schneider: „Mit dem Klatschen ist klar, jetzt geht´s wieder weiter mit dem Unterricht, es war so ´n Ausstieg, aber jetzt. […] Ist ein klares Zeichen mit dem Händeklatschen: Jetzt geht´s wirklich los.“ Während der gesamten Situation wird seine Handlung begleitet von einem Spüren. Ferner stimmt er den Raum durch Wortwahl, freundlich-motivierenden Stimmklang

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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und Lächeln. Er erzeugt damit eine nette, motivierende und zugleich entspannte Atmosphäre. Das gemeinsame Lachen unterstützt diesen Charakter und stellt ein Gefühl von Unbefangenheit her.

V11: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Kontaktieren Frau Seelinger hat zwei Fotos mitgebracht. „One person is…“, sagt sie, “Or maybe I don´t tell you the names, maybe you know them!“ Sie hängt die Fotos an die Tafel, die Schülerinnen und Schüler murmeln, sie dreht sich um: “Who are they?” fragt sie lächelnd und tritt einen Schritt zur Seite. Die Schülerinnen und Schüler murmeln weiter, Stefanie scheint eine Person auf dem Foto zu erkennen und gibt ein leises „Aaaaah!“ von sich. „Aaaaah!“, fängt Frau Seelinger die Äußerung auf und schaut Stefanie kurz lächelnd an. „Jacob?“ ruft sie dann einen anderen Schüler auf, der sich meldet. Jacob antwortet, der Unterricht geht weiter. Kommentierung: Die Lehrerin imitiert die Schülerin und stellt damit eine Verbindung zu ihr her, nimmt Kontakt zu ihr auf. Ihre Mimik ist freundlich, sie lächelt und stimmt damit positiv den Raum. Ferner hält die Lehrerin den Kontakt zur Klasse aufrecht (geht nur kurz auf die Schülerin ein), der Unterrichtsfluss bleibt bestehen.

V12: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Einkoordinieren Stundenbeginn. Die Schülerinnen und Schüler sitzen an U-förmig angeordneten Tischen. Herr Buber steht in der Mitte. Er trägt Jeans, Turnschuhe und ein weißes T-Shirt, auf dem ein Totenkopf abgebildet ist, unter dem das Wort „Hauptschule“ zu lesen ist. Er strahlt eine gewisse Ernsthaftigkeit aus, eine Art sanfte Autorität, ein Gefühl der Sicherheit und Zugewandtheit. Sein Körper ist gerade, sein Oberkörper leicht angespannt und etwas nach oben angehoben. Er bereitet den Beamer vor, prüft kurz, ob er funktioniert und schaltet ihn dann hörbar mit einem Klicken wieder aus. Noch während seine Hand den Schalter betätigt, dreht sich sein Kopf bereits zur Klasse. Sein ganzer Körper folgt dieser Bewegung. Er geht ein paar Schritte zurück zum einen U-Ende. Seine Körperhaltung ist offen, sodass er nun beide UEnden spürbar verbindet. Aus dieser Bewegung heraus fragt er mit einem bedeutungstragenden, bestimmten Ton: „Wie geht´s euch?“ Seine Stimme geht nach unten. Man spürt, dass ihm dieser Moment wichtig ist, dass er sich aufrichtig für die Gemütslage seiner Schülerinnen und Schüler interessiert. Die Art wie er spricht, verleiht jedem Moment eine große Wichtigkeit. Man hat das Gefühl, jedes seiner Worte berge eine enorme Bedeutsamkeit in sich. Die Atmosphäre im Raum ist emotional geladen, äußerst intensiv und dicht, sie hat etwas Ernsthaftes, ja, fast Feierliches. Man kann fühlen, dass die Jugendlichen und er auf einer Ebene sind, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen und spüren. Auch ich bin komplett von der atmosphärischen Intensität eingenommen, traue mich kaum, ein Geräusch zu machen, atme leise, um den Moment nicht zu stören. „Zeigt mal mit dem Daumen, wie´s euch geht“, sagt er und hebt dabei seinen Daumen, dreht ihn immer wieder nach oben und unten. Die Schülerinnen und Schüler tun es ihm nach und strecken die Hände nach oben. Manche Daumen zeigen aufwärts, andere zur Seite, vereinzelte nach unten. Herr Buber geht zunächst ein paar Schritte zurück, gibt den Jugendlichen damit Raum und signalisiert ihnen, dass es nun um sie gehe, dass sie sich nun äußern dürften. Er schaut einmal von links nach rechts, lässt kurz den Blick über alle schweifen. Dann lässt er den Arm

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

sinken, macht wieder ein paar Schritte nach vorne und fährt fort: „…und schaut euch bitte gegenseitig an. Versucht mal jeden hier im Raum wahrzunehmen (kurz ermahnend: ‚Melanie, jetzt nicht‘)“. Seine Worte begleitet er mit einer bekräftigenden Geste seiner Hand. Er bleibt in Bewegung und schaut. „Samuel, zeig´s mal“, flüstert er kurz einem Schüler zu. Die Schülerinnen und Schüler haben die Arme noch immer erhoben. Herr Buber geht nun in den Halbkreis hinein und schaut alle an, geht auf jeden kurz zu. Sein Blick bleibt an jeder einzelnen Schülerin und an jedem einzelnen Schüler für einen kurzen Moment haften. Auch die Jugendlichen schauen sich gegenseitig an. Ihre Arme sind dabei weiterhin erhoben. Manche beugen sich nach vorne, um einander besser sehen zu können. Es vergehen ungefähr 20 Sekunden in Stille. Man spürt den gemeinsamen Raum. Es ist keine leere Stille, sie ist gefüllt von einer wechselseitigen Intensität, von sensibler, fein gesponnener Resonanz. Nachdem Herr Buber alle angeschaut hat, unterbricht er diesen Moment mit leiser Stimme: „Danke.“ Die Schüler nehmen die Arme wieder nach unten. „Mir ist es wichtig“, seine Worte werden begleitet von einer bekräftigenden Hand- und Armbewegung, „dass ihr versucht, jeden anzuschauen. Weil das,“ er winkelt nun beide Arme vor seiner Körpermitte locker an und führt die Hände ineinander in eine nach oben hin geöffnete Handhaltung, „ja, weil das ist einfach ein schönes Gefühl, wenn man weiß, alle anderen haben sich informiert, wie´s einem geht.“ Auch hier werden seine Worte begleitet von seinen Händen, die, vor seinem Körper in geöffneter Haltung jedes Wort nach unten gehend bekräftigen, den Worten ein Gewicht verleihen. Seine Stimme ist sanft, aber bestimmt. Danach dürfen alle erzählen. Kommentierung: Der Lehrer verbindet sich und die Schülerinnen und Schüler untereinander: durch seine Wortwahl, aber sehr stark auch durch den intensiven Blickkontakt (er sieht jede/n kurz einzeln an), seine offene, zugewandte Körperhaltung und Handbewegungen sowie seine Bewegung im Raum (er geht auf die Schülerinnen und Schüler zu). Die Verbindung geht über das Kontaktieren hinaus: Der Lehrer koordiniert sich und die anderen ein (durch Erfragen und gleichzeitiges sich Öffnen, mit dem Aufdruck seines T-Shirts,), ein gegenseitiges Sich-„Sehen“ und Einander-Wahrnehmen. Lehrer, Schülerinnen und Schüler sind auf einer Ebene, es entsteht ein „Wahrnehmungsnetz“. Im gesamten Raum ist eine starke Wechselseitigkeit spürbar. Besonders hervorzuheben ist auch der Stimmklang des Lehrers: ein bedeutsamer, ernsthafter, sehr emotionaler, sanft autoritärer Klang. Er stimmt hiermit den Raum, erzeugt einen fast feierlichen, „bedeutungsschwangeren“ Atmosphärencharakter. Ferner hält der Lehrer durchweg sowohl die Verbindung als auch die Stimmung aufrecht. Zwei Beispiele verdeutlichen dies: (1) Er ermahnt eine Schülerin, ist aber sofort wieder mit dem Blick bei den anderen, (2) Samuel wird in einem Flüsterton aufgefordert, auch den Daumen zu zeigen. Der Lehrer bleibt damit in der gemeinsamen „feierlichen“ Stimmung. Anmerkung: Im Interview unterstreicht der Lehrer das Gefühl einer Einheit. Ein Gefühl, zusammen auf der Bühne zu stehen. Dies sei ihm wichtig, das Gegenteil wäre kontraproduktiv. Er möchte das Gefühl erzeugen: „Wir gehen füreinander durchs Feuer“, „wir kämpfen füreinander“. Auch das Einander-Anschauen und -„Sehen“ sei ihm sehr wichtig. Es gebe täglich eine solche Wahrnehmungsrunde.

V13: Hauptkategorie Kein Verbinden Frau Hillmann betritt den Klassenraum. Die Schülerinnen und Schüler sitzen bereits an ihrem Platz, einige unterhalten sich, lachen miteinander. Frau Hillmann ist hinter dem Pult angekommen: „Gut, guten Morgen alle zusammen“, sagt sie, schaut kurz nach unten und dann zu vereinzelten Schülern. Ihre Stimme wirkt etwas genervt. „Guten Morgen“, sagt ein Schüler laut, die anderen sprechen weiter vor sich hin, sind sehr bei sich. „Guten Morgen, ja.“, antwortet Frau Hillmann und geht vor das Pult, lehnt sich an. Ihre Körperhaltung ist etwas gekrümmt. Keinerlei Begeisterung geht von ihr aus. Sie ist sehr bei sich, wenig präsent, wenig nach außen hin spürbar. „Guten Morgen!“, ruft eine andere Schülerin. „Heute haben wir Besuch von einer Lehrerin, die ihr kennt“, sagt sie und schaut in die Runde. Einige Schüler reden weiter miteinander, eine Schülerin macht „schhhht“. Es ist keine Verbindung zwischen der Lehrerin und den Jugendlichen spürbar, keine Resonanz, kein gegenseitiges Verstehen. Frau Hillmann spricht weiter. „Frau Jung, sie wird heute den Unterricht filmen, ja?” Frau Hillmann geht wieder

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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hinter das Pult. „Aber vorher, oder währenddessen, werde ich schauen, äh… (seufzt), wer da ist und wer nicht. Ja?“ Sie achtet nicht auf Reaktionen auf ihre Fragen. Es gibt auch keine. Während sie spricht, schiebt sie ihren Stuhl zurück, stellt den Rucksack auf den Boden und setzt sich hin. Sie schiebt den Schlüssel auf dem Pult zur Seite, schaut nach unten und kramt in ihrem Rucksack. Einige Schüler reden weiterhin miteinander, andere schauen nach vorne. Sie beginnt die Anwesenheitsliste durchzugehen. Man hat das Gefühl, was sie sagt, erreicht die Schülerinnen und Schüler nicht, und was zurückkommt, nimmt sie nicht wahr. Keinerlei Wechselseitigkeit. Kommentierung: In dieser Situation findet kein Verbinden statt – weder zwischen ihr und den Schülerinnen und Schülern, noch zwischen den Jugendlichen im Gesamten untereinander. Sie kontaktiert nicht und koordiniert sich oder andere nicht ein, ist (auch aufgrund ihrer Körperhaltung) sehr bei sich. Es herrschen einige Unteratmosphären vor, man spürt keine Einheit (der Unterricht hat keine Form). Auch spürt man keine Wechselseitigkeit, keine Resonanz, kein gegenseitiges Sich-„Sehen“, keinen gemeinsamen Fluss. Sie wirkt nett; leicht gekrümmte und unterspannte Körperhaltung, langsame und monotone Sprechstimme stimmen einen Raum ohne jegliche Begeisterung. Anmerkung: Aus forschungsethischen Gründen hat hier keine kommunikative Validierung stattgefunden.

V14: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Gemeinsam agieren und koordinieren „Wir sind jetzt bei den Öhrchen angelangt. Und zwar is´ es genau ein Zeichen dafür, dass wir wieder aktiv werden, uns entspannen – die Denkmütze benutzen wir jetzt. Also, wir haben´s gelernt. Daumen und die zwei Fingerchen an die Ohren und wir kneten die Öhrchen. Von innen, nach außen. Schön massieren, bis die rot und warm werden.“ Frau Bahrens spricht mit sanfter und langsamer Stimme, sie lächelt. Es geht ein Gefühl der Entspannung von ihr aus, als sie die Übung vormacht. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen die Übung – manche schließen die Augen, andere schauen zu Frau Bahrens – fangen an, mit den Fingern ihre Ohren zu massieren. „Und von oben nach unten. Damit alles schön…, schön warm und entspannt wird.“ Ihre Stimme ist nun nur noch ein Flüstern. Alle führen die Übung gemeinsam durch, man spürt eine starke Einheit. „Und auch mal den Nachbarn fragen: ‚Sind meine Öhrchen rot geworden?‘ Schaut euch gegenseitig an, wie sieht das aus“, spricht Frau Bahrens weiter. Die Schülerinnen und Schüler flüstern und schauen sich um. Dann fragt Frau Bahens etwas lauter: „Seh´ ich auch wie´ n Hahn aus? An der falschen Stelle, ich hab´ keine rote Nase, ich hab´ rote Öhrchen, stimmt das?“ Ihre Stimme hat einen freudigen Klang angenommen. „Ja!“, rufen die Schülerinnen und Schüler. Frau Bahrens klatscht einmal kurz in die Hände und sagt: „Super, dann haben wir´s geschafft!“ Im weiteren Verlauf folgen noch weitere gemeinsame Übungen. Man sieht, dass es den Schülerinnen und Schüler gut tut und dass sie es ernst nehmen: Manche atmen bei den Übungen die Luft ganz tief ein, legen dabei ihren Kopf zurück und halten die Augen geschlossen. Bevor es in die Pause geht, werden noch weitere Ideen für Entspannungs- und Konzentrationsübungen gesammelt, die die Schülerinnen und Schüler in der nächsten Stunde während des Arbeitens anwenden können. Kommentierung: Lehrerin, Schülerinnen und Schüler sind auf einer Ebene, man spürt eine Einheit: Sie agieren gemeinsam, sie koordinieren miteinander. Die Lehrerin verbindet sich währenddessen mit den Schülerinnen und Schülern („Sind meine Öhrchen rot?“) sowie diese untereinander.

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Besonders hervorzuheben ist auch die Stimmung, die hierbei im Raum entsteht: Zu Beginn der Übung spricht die Lehrerin mit leiser und weicher Stimme und in einem ruhigen Sprechtempo. Sie lächelt die Schülerinnen und Schüler freundlich an. Von ihr geht ein Gefühl der Entspannung aus – sie stimmt den Raum und schafft eine Art Wohlfühlatmosphäre. Des Weiteren spürt sie die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler und reagiert entsprechend – in diesem Beispiel mit Entspannungs- und Konzentrationsübungen. Anmerkung: Im Interview berichtet sie, dass sie des Öfteren solche Übungen im Unterricht einsetze. Wie es gerade passe, sagt sie. Zum Beispiel wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht mehr konzentrieren könnten; aktuell gebe es häufig einige, die Bauch- und Kopfschmerzen hätten. Sie dürften sich dann zwischendurch ein bisschen zurückziehen. „Du hast deine Auszeit“, sage sie ihnen dann, „das ist absolut in Ordnung.“ Auch Wasser trinken, kurz aus dem Fenster „schnuppern“ oder aufstehen, wenn sie nicht mehr sitzen können, dürften sie. Sie nehme deren Bedürfnisse wahr, und manchmal würden sie es auch von sich aus sagen, wenn es ihnen nicht gut gehe.

V15: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Gemeinsam agieren und koordinieren, Kategorie Aufrechterhalten der Verbindung Musikunterricht. Es ist der Stundenbeginn. Herr Willensinn steht vor der Klasse und klatscht etwas vor, die Schülerinnen und Schüler stehen ihm zugewandt und klatschen den Rhythmus gemeinsam nach. Herr Willensinn agiert und kommuniziert ausschließlich nonverbal (gestikulierend), er spricht kein einziges Wort. Während er die einzelnen Figuren vorklatscht, läuft Herr Willensinn hin und her. Es entsteht sofort ein stark spürbarer gemeinsamer und koordinierter Fluss. Plötzlich ereignet sich eine Störung: Einzelne Schülerinnen und Schüler konnten eine Rhythmusfigur nicht nachklatschen und bleiben hängen. Kurzes Lachen. Auch Herr Willensinn lacht für einen kurzen Moment, ist dann aber noch präsenter im Raum: Er bleibt breitbeinig stehen, hält starken Kontakt zur Klasse und agiert heftig gestikulierend mit schnellen Anweisungen über Zeichensprache. Die Aufmerksamkeit der Klasse ist komplett bei ihm, er hält sie stärker als zuvor. Herr Willensinn geht aus dem Tempofluss raus, verlangsamt die Rhythmusfigur und ergreift die Schülerinnen und Schüler, als sie es verstanden haben, nimmt sie mit, beschleunigt und beginnt, sich wieder zu bewegen. Es ist das gleiche Tempo wie zu Beginn der Übung. Als die gesamte Übung zu Ende ist, macht er ein paar langsame Schritte auf die Klasse zu, hält aber weiterhin die gemeinsame Atmosphäre aufrecht. Den Finger hat er als Stillezeichen auf den Mund gelegt. Ein einzelner Schüler bewegt sich ganz langsam nach unten Richtung Stuhl, als würde er sich in Zeitlupe hinsetzen, den Blick weiterhin auf Herr Willensinn gerichtet. Ein langsames, vorsichtiges Ziehen aus der gemeinsamen Atmosphäre heraus. Erst als Herr Willensinn das erste Mal spricht – „Leute, nehmt Platz!“ – lässt sich der Schüler vollends auf den Stuhl fallen. Auch die anderen Schülerinnen und Schüler setzen sich und beginnen vereinzelt miteinander zu sprechen. Kommentierung: Durch die gemeinsame Rhythmusübung sind alle in einem Fluss, es herrscht Koordination, eine Einheit ist spürbar, der Unterricht hat Form. Besonders hervorzuheben ist hierbei auch der Aspekt des Aufrechterhaltens: Der Lehrer hält die Verbindung – auch über den Diskoordinationsmoment hinaus – fortwährend aufrecht. Mit dem Gestikulieren erzeugt er Aufmerksamkeit, er ist stark präsent, während der Störung hält er den Kontakt noch stärker: stabilere Körperhaltung, stärkere Bewegungen mit seinen Händen (Zeichensprache), präsentere Erscheinung. Dass da etwas gehalten wird, artikuliert sich zum Beispiel, als sich der Schüler langsam aus der gemeinsamen Atmosphäre „herauszieht“.

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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Mit dem Sprechen ändert der Lehrer schließlich die Atmosphäre, löst das Gehaltene, lässt die Schülerinnen und Schüler für einen Moment frei. Sein Handeln wird ferner begleitet von einem fortwährenden Spüren.

V16: Kategorie Aufrechterhalten der Verbindung Mehmet stottert sehr stark. Während unserer Anwesenheit mit den Kameras lässt er sich jedoch nicht im Geringsten irritieren oder verunsichern – im Gegenteil: Mehmet spricht selbstbewusst, sein Kopf ist leicht erhoben, seine Arme sind vom Körper abgewinkelt. Wenn er spricht, dann nimmt er den Raum ein, als würde er bewusst für sich Platz beanspruchen und als wäre er stolz darauf, was er sagt. Er lässt sich Zeit. Sein Klassenlehrer, Herr Buber, erzählt mir, dass er heute so viel gesprochen habe wie sonst nicht. Mehmet hat (neben Herr Buber) den höchsten Redeanteil dieser Stunde [manchmal spricht er 2:30 Min. am Stück]. Während er spricht, hören ihm alle zu. Niemand wirkt ungeduldig oder macht sich gar über ihn lustig. Ein paar Schülerinnen und Schüler wirken nach einer langen Sprecheinheit etwas gelangweilt, aber sie unterbrechen ihn nicht, geben ihm weiterhin das Gefühl, dass er sich den Raum und die Zeit nehmen darf. Eine Schülerin, sie sitzt rechts von Mehmet, sieht müde aus, richtet sich jedoch auf und dreht ihren gesamten Körper zu ihm, als er spricht. Sie schaut ihn an. In der Stunde geht es um die Besprechung einer Simpsons-Folge. Mehmet erzählt gerade von einer Szene. Während er spricht, schaut Mehmet die ganze Zeit hinüber zu Herrn Buber. Dieser sitzt auf dem Pult und lächelt ihn an, hält den Kontakt zu ihm immer aufrecht, ist ihm stets zugewandt. „…und in der Sch-schule, d-da müssen sie einen W-Wurm sezieren…“ „Mhm.“, bestätigt Herr Buber, „…u-u-und Lisa konnte das nicht machen, w-weil sie hatte Mitleid“, „Mhm.“, bestätigt Herr Buber erneut, „…uund da h-hat sie´s der Lehrerin gesagt und, und, und die hat so, so einen Knopf (ein paar andere S. melden sich), wo sie, wo sie dann draufgedrückt hat, und –“ Herr Buber unterbricht kurz, neigt sich zu den anderen vor: „Das habt ihr aber nicht verstanden mit dem Knopf, oder?“ „Doch, doch!“ ruft ein Schüler. „Also ich hätte es nicht verstanden in eurem Alter.“ Die Schülerinnen und Schüler murmeln vor sich hin. „Willst du was dazu, willst du kurz was –“, Herr Buber streckt seinen Arm in Richtung Mehmet, zeigt mit der Hand in seine Richtung. „Da stand Freidenkeralarm.“ „Ja“, sagt Mehmet. „Was bedeutet das?“ „Weiß ich nicht.“, sagt Mehmet. „Weißt du nicht.“, wiederholt Herr Buber. „Weiß das jemand?“, fragt er in die Klasse. Und zu Mehmet gewandt: „Ganz kurz, dann kannst du weitermachen.“ Herr Buber hält, während er spricht, den Arm erhoben in Richtung Mehmet. Gleichzeitig hebt er den anderen Arm und zeigt in Richtung eines anderen Schülers: „Ja?“ Er nimmt beide Arme herunter, wobei der Arm, der zu Mehmet zeigte, etwas länger oben bleibt. Er hört nun Daniel zu, der jetzt dran ist. Herrn Bubers Körperhaltung (er sitzt noch immer) ist zu Daniel gewandt und geöffnet und neigt sich gleichzeitig Richtung Mehmet. Er hält dadurch beide. Daniel spricht: „Des ist, des is einer, der seine eigene Meinung hat und dann [unverständlich], der seine eigene Meinung äußern möchte.“ Herr Buber bekräftigt seine Aussage: „Ja. Ja, der nicht einfach sagt ‚Ok‘ - der, der das in Frage stellt, ja? Und des is, des is natürlich nicht erwünscht, dass jemand sich beschwert oder was kritisch sieht, sondern alle sollen das so nehmen wie´s is.“ Er sitzt nun wieder mittig, zur Mitte hin geöffnet. Als er fertig ist, zeigt er kurz auf Mehmet und fordert ihn auf: „Ja? Weiter?“ Mehmet spricht weiter, als wäre nichts gewesen. Seine Körperhaltung ist die gleiche wie zuvor. „Und dann, und dann, w-waren, s-sie in der Caf-Caf-Cafeteria, u-u-und dann wollte Lisa was Vegetarisches h-haben. Es, es g-gab aber keins, k-kein Vegetarisches, und dann, und dann h-h-hat die ein Brot bekommen, vom, vom, vom Hotdog, und danach h-h-h-hat die Frau au-auch [unverständlich].“ Herr Buber zeigt auf einen anderen Schüler: „Ganz kurz dazu, Sami, du meldest dich schon die ganze Zeit, möchtest du auch noch etwas dazu sagen?“

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Kommentierung: In der Einzelaktion verbindet sich der Lehrer mit Mehmet. Diese Verbindung hält er geduldig aufrecht durch seinen Blickkontakt, die zugewandte Körperhaltung und verbal durch die „Mhm“-Äußerungen. Im Klassenkontext hält der Lehrer die Verbindung sowohl zu Mehmet als auch zu den anderen Schülerinnen und Schülern die ganze Zeit über aufrecht. Dies wird besonders deutlich im Rahmen des Klassengesprächs: durch die verbindende Bewegung des Lehrers bleibt der Kontakt sowohl zu Mehmet (er verweilt bei ihm mit seiner Haltegeste einen Moment länger als bei den anderen und signalisiert ihm damit, dass eigentlich noch er das Wort hat) als auch zwischen den sprechenden Schülern bestehen. Ferner stimmt der Lehrer den Raum: In der Einzelaktion erzeugt er bei Mehmet ein Gefühl der Beziehungssicherheit. Man spürt in der Situation etwas Unterstützendes, der Lehrer hält Mehmet pädagogisch. Im Fall des Sprechens wird hier deutlich, dass Mehmet diese Sicherheit frei sein lässt. Anmerkung: Bezüglich des Aufrechterhaltens berichtet der Lehrer im Interview, er spüre in solchen Situationen, ob er mehr verbinden, sich stärker zurücklehnen und die anderen freilassen, weniger oder stärker adressieren oder fokussieren müsse (genauere Ausführungen dazu s. Anhang: Interviewbericht Herr Buber).

V17: Kategorie Aufrechterhalten der Verbindung Lukas spricht gerade. Es geht um die Beschreibung eines an die Wand projizierten Bildes. Herr Willensinn steht auf der anderen Raumseite Lukas gegenüber mit den Händen hinter dem Rücken an ein Regal gelehnt. Man spürt, dass er den ganzen Kurs im Blick hat, obwohl er gerade nur zu Lukas schaut. Sonst spricht keiner, die Atmosphäre ist konzentriert, ein anderer Schüler meldet sich. Herr Willensinn steht mit Lukas im Kontakt und nickt ab und zu kurz, während Lukas spricht: „…haben sie Gewänder an, denk´ ich mal, bin mir aber nicht sicher, und, halt… “ Die Tür öffnet sich in dem Moment, ein Schüler, Marius, kommt zu spät in den Unterricht, ein paar Schülerinnen und Schüler drehen ihren Kopf. Herr Willensinn schaut auch, nickt kurz dem Schüler zu, dreht seinen Kopf aber schnell, und vor den anderen, wieder zurück, fokussiert Lukas, er ist sofort in der gleichen Position wie zuvor. Lukas spricht ungestört und ohne Pause weiter: „…in der Mitte von dem Bild ist, äh…, ganz in der Mitte is´ die Erde, glaub´ ich, und unter der Erde sind, jeweils…“ Marius murmelt beim Hereinkommen etwas in Richtung Herr Willensinn, dieser ignoriert ihn jedoch, geht nicht darauf ein, fokussiert weiter Lukas. Marius verstummt. Herr Willensinn macht einen Schritt nach vorne, weil er Marius hinter sich vorbeilassen möchte, Marius hält ihm jedoch einen Zettel hin. Herr Willensinn sieht das, greift nach dem Zettel und schaut, sobald er den Zettel mit den Fingern berührt, direkt wieder zu Lukas, macht stumm einen Schritt nach vorne, verschränkt die Arme und lässt den Zettel in dieser Haltung verschwinden. Lukas fährt währenddessen die ganze Zeit über ungestört fort: „…verschiedene Sachen aufgeschrieben, …“ Ohne Marius anzusehen, gibt Herr Willensinn ein Zeichen, hinter ihm vorbeizugehen. Er hält fortwährend Blickkontakt zu Lukas. „…und drumrum sind Sternenbilder,…“ Als Marius verstanden hat, läuft er hinter Herrn Willensinn vorbei. Dieser geht zurück, steckt mit einer fast unmerklichen Bewegung den Zettel in die Hosentasche und nimmt die gleiche Position wie zu Beginn der Situation ein. Noch immer schaut er zu Lukas „…und unter den Sternenbildern sind jeweils nochmal ein Mond,…“ Nach einem kurzen Moment sinkt Herr Willensinns Körper ein klein wenig nach unten, löst nun etwas die Spannung „…die Sonne und…“ Herr Willensinn wendet seinen Kopf nun in Richtung Bild. „…vier Sterne, fünf Sterne…“ „Mmh“, Herr Willensinn bejaht. Kommentierung: Der Lehrer hält die ganze Zeit über die Verbindung zu Lukas über seinen Blick, das ihm zugewandte Gesicht und die zugewandte Körperhaltung aufrecht. Er fixiert ihn regelrecht, vor allem während des Diskoordinationsmoments (Marius kommt zu spät und kommuniziert mit dem Lehrer): Er ist hierbei nur kurz bei Marius (kommuniziert ausschließlich nonverbal mit ihm), seine Aufmerksamkeit gilt weiterhin Lukas. Der Lehrer selbst ist in diesem Moment durch seine aufgerichtete, gespannte Kör-

V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

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perhaltung stark präsent. Erst als Marius an seinem Platz angekommen ist, lockert er diese Körperspannung, wendet schließlich den Blick von Lukas ab hin zur Tafel und löst damit schließlich das starke Halten etwas.

F13: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Einkoordinieren und Hauptkategorie Stimmen (tuning), Subkategorie Gegenständliches wirkend machen „Stark wie ein Tiger“ steht an der Wand. Überall im Klassenraum finden sich Tigerbilder: Als Wandgestaltung (sogar ein Gemälde ist dabei), als Aufkleber auf den Ordnern der Schülerinnen und Schüler, auf einem von Herrn Bubers T-Shirts. Bekommen die Schülerinnen und Schüler eine Karte (zum Geburtstag etwa), dann mit einem Tiger darauf. Die Buchstaben T-I-G-E-R-S (= engl. Tigers, dt. Tiger) fungieren – für alle sichtbar, groß geschrieben – als Anfangsbuchstaben für angestrebte Persönlichkeitsziele, für ihre Stärken: Teamfähig, Interessiert, Geduldig, Emotional, Reflektiert, Selbstbewusst. Herr Buber erzählt dazu, die Schülerinnen und Schüler würden, um die Begriffe mit allen Sinnen wahrzunehmen, diese malen, Fotografien dazu machen, Filme drehen, Tagebucheinträge und Geschichten schreiben. Er nehme auf diese Stärken immer wieder Bezug, mache sie für seine Schülerinnen und Schüler bedeutsam. Die Pflanze im Raum stelle des Weiteren, passend zum Tiger, den Urwald dar. Der Blumentopf ist orange – wie ein Tiger. Herr Buber erzählt, der Tiger symbolisiere Stärke: „Ich möchte, dass meine Schüler sich stark fühlen“, sagt er. Stärke sei, was die Schülerinnen und Schüler bräuchten (bei seiner letzten Klasse war es ein Wolf, er emotionalisiere entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse, berichtet er). Der Tiger sei hierbei allgegenwärtig – sicht- und spürbar. Und seine Schülerinnen und Schüler spürten das, wüssten das, verwendeten sogar selbst das Tigersymbol (z.B. in Whatsapp-Nachrichten). Manchmal spreche er sie einzeln mit „Tiger“ an. Es sei ein gemeinsames Starksein, ein „Wir sind stark-Gefühl“. Es gebe sogar eine „Tigermama“ – die Sozialpädagogin der Klasse. Kommentierung: Der Lehrer symbolisiert den Tiger, lädt ihn emotional auf mit der Qualität „Stärke“, er macht ihn wirkend und stimmt, auch mit der Klassenzimmergestaltung im Ganzen, damit den gesamten Raum. Es bleibt jedoch nicht beim wirkend machen, sondern geht weiter: Das Gefühl der Stärke erreicht die Schülerinnen und Schüler. Nicht nur die Qualität (Stärkung) kommt hierbei an, sondern es entsteht damit auch ein Wir-Gefühl. Der Lehrer verbindet sowohl den Gegenstand mit den Jugendlichen, als auch sich selbst sowie die Jugendlichen untereinander (einkoordinieren). Im Interview betont der Lehrer, die Verbundenheit sei klar da und betont des Weiteren die Gesamtwirkung seines Klassenzimmerkonzepts, die Bedeutung dessen, dass alles miteinander verbunden sei (weitere Ausführungen zum Raumkonzept s. Anhang: Interviewbericht Herr Buber).

F14: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Einkoordinieren Frau Seelinger erzählt, in den Pausen versuche sie immer mit den Schülerinnern und Schülern zu reden. Sie gehe auf sie zu, um ihnen zu signalisieren: „Hey, ich bin nicht nur Lehrerin, sondern auch Mensch.“ Sie merke hierbei, wie sich die Heranwachsenden nach und nach im Gespräch entspannten und schließlich einiges von sich erzählten. Wichtig sei ihr hierbei, dass die Schülerinnen und Schüler sehen, dass sie wahrgenommen werden. Auch auf dem Schulhof versuche sie immer offen zu sein, winke den Schülerinnen und Schülern zu. Sie wolle signalisieren, dass sie nicht nur zum Arbeiten in die Schule komme. Gleichzeitig sei ihr ein wechselseitiges Verhältnis wichtig: Auch ihr sei es ein Anliegen, begrüßt und als Mensch gesehen zu werden. Generell achte sie, statt einer strengen Miene, deswegen auf einen offenen und freundlichen Gesichtsausdruck. Kommentierung: Durch ihre eigene Offenheit, mit der sie sich den Schülerinnen und Schülern nähert, das Auf-sie-Zugehen und durch das Sprechen mit ihnen über deren persönliche Dinge koordiniert sich

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

die Lehrerin ein. Bewusst tritt sie als Mensch auf, möchte auch gesehen werden, bewusst stellt sie damit ein wechselseitiges Verhältnis her. Bewusst achtet sie auch darauf, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu geben, wahrgenommen zu werden. Um Beschriebenes zu erreichen, achtet sie auf ihre Wirkung nach außen: offener und freundlicher Gesichtsausdruck statt strenger Miene. Ferner wird ihr Handeln begleitet von ihrer Wahrnehmung.

F15: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Einkoordinieren Herr Schneider erzählt: „Also ich erzähle relativ gerne von mir, also Geschichten, die man auch erzählen kann natürlich, nicht groß privat, aber – also meiner Ansicht nach, […] also ich hab´ an ihrem Leben [Schüler sind gemeint] die ganze Zeit teil. Ob sie wollen oder nicht. Und selbst, wenn ich über ihre Eltern gehe. Also, und um diese Situation, um diese extreme Hierarchie von Lehrer zu Schüler ein bisschen aufzubrechen, erzähle ich auch öfter mal was über mich, so indirekt, so dass die Schüler quasi das Gefühl haben, sie kennen mich vielleicht ein bisschen besser, können mich dadurch vielleicht auch ein bisschen besser einschätzen […]. Ja, also das ist jetzt nicht immer geplant, aber ich weiß, dass Schüler auch total drauf stehen, mal was anderes über Lehrer zu erfahren als das, was da die ganze Zeit vorne rumhampelt. Und im Grunde genommen will ich denen auch klar machen, dass ich auch nur ein Mensch bin, ja, und ich auch […] einkaufen gehe und sie mich da treffen, ja. Und wir sprechen auch mal gerne über die Eintracht, kurz. Aber das ist halt wichtig für die Jungs, für die Bindung mit den Jungs, oder mit denen, die halt Eintracht-Fans sind, sind nicht immer nur Jungs […]. Also ich hab zum Beispiel einen Schüler gehabt letztes Jahr aus der Klasse […] und der war einfach extrem schwach, aber ich hab nie die Bindung zu ihm verloren, gefühlt, und ich hab´ bis heute – wir unterhalten uns gerne, weil wir einfach ein paar Themen haben, wo wir uns austauschen.“ Generell würde er sich hierbei nie mit ihnen auf die gleiche Stufe stellen, schließlich sei er deren Lehrer und nicht deren Freund, sagt Herr Schneider, jedoch versuche er möglichst nah dranzukommen. Kommentierung: Der Lehrer nimmt am Leben der Schülerinnen und Schüler teil, lässt sie aber auch an seinem Leben teilhaben: Er öffnet sich ihnen gegenüber, erzählt von sich, erscheint ihnen als Mensch, nicht nur als Lehrer. Gleichzeitig spricht er auch Themen an, die die Heranwachsenden interessieren, begibt sich mit ihnen auf eine gemeinsame Ebene, er koordiniert sich ein. Ferner spürt er die Verbindung zum Schüler.

F16: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Gemeinsam agieren und koordinieren Das tägliche Begrüßungsritual bestehe aus einem Lied, bei dem geklatscht und gesungen wird, erzählt Frau Wieland. Hierbei gehe es nicht nur um das Lied, sondern vor allem um die Tatsache, dass sich alle zusammen begrüßen. In diesem Moment seien sie eine Einheit und mit nichts anderem beschäftigt als mit dem „Wir begrüßen uns“, denn es würde nicht nur gesungen, sondern auch geklatscht. Es müssten sich insofern alle auf das gemeinsame Lied konzentrieren. „Dann strahle ich sie immer an. So beginnt unsere Stunde. Das schafft so eine Atmosphäre.“, erzählt sie. Kommentierung: Durch das gemeinsame Agieren wird eine Verbindung hergestellt, Lehrerin, Schülerinnen und Schüler koordinieren miteinander, sie sind in einer Einheit. Gerade das Konzentrieren auf das gemeinsame Singen und Klatschen erzeugt ein Einander-Wahrnehmen. Die Lehrerin stimmt ferner durch ihr „Strahlen“ den Raum.

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V.2 Das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Unterricht

F17: Hauptkategorie Verbinden (connecting), Subkategorie Gemeinsam agieren und koordinieren Herr Schneider erzählt, er setze im Sprachunterricht häufig „Chorisches Sprechen“ ein. Das mache er ganz gezielt, um eine gute Stimmung zu erzeugen, um alle zum Sprechen zu bringen und um alle mitzureißen. Keiner könne sich dabei rausstehlen, sagt er. Des Weiteren sei es eine Gemeinschaftssache, es habe „einfach einen anderen ‚Wums‘“, mehr Volumen. Kommentierung: Durch das gemeinsame Agieren („Chorisches Sprechen“) wird eine Verbindung hergestellt, Lehrer, Schülerinnen und Schüler koordinieren miteinander, sie sind in einer Einheit.

V.2.5 Zusammenfassende Darstellung und Definition des atmosphärischen Vermögens Die einzelnen Bereiche, die das atmosphärische Vermögen beinhaltet, wurden im vorhergehenden Abschnitt ausführlich und anhand von Beispielen näher erläutert. Der vorliegende Abschnitt beschäftigt sich nun mit deren Zusammenfassung in Form einer schematischen Darstellung. Diese Darstellung bildet das Endprodukt des Konzepts und soll darüber hinaus einen möglichst einfachen und schnellen Zugriff für Lehrende bieten. In V.2.4 wurde in Bezug auf die Kategorien das Bild einer Kordel gewählt. Um bei diesem Bild zu bleiben, zeigt das folgende Schema (Abbildung 2) von links nach rechts gehend die „Aufdröselung“ des einzelnen Strangs in drei Garne. Dass diese Garne zusammenhängen, wird schematisch noch einmal deutlich durch die Schnittstellen, die die Kreise zueinander bilden: Nicht nur jeweils zum anderen Bereich zeigen sie diese auf, sondern sind in einem Punkt gar alle gemeinsam verankert. Nach außen hin können sie nicht weiter voneinander entfernt werden, ohne auseinanderzureißen. Wie bei der Kordel streben die einzelnen Bereiche nach innen: Schiebt man die drei Kreise Richtung Mitte, ergibt sich somit das spürende Handeln auf der Wahrnehmungsebene im Ganzen.

Abbildung 2: Schematische Darstellung des atmosphärischen Vermögens (Schnittstellen)

Die schematische Darstellung der Kategorien kann schrittweise im oder gegen den Uhrzeigersinn sowie als Ganzes gelesen werden. Je nach Situation (zum Beispiel Unterrichtsbeginn, erstes Kennenlernen, Stundenverlauf) wird man sich auf einen Begriff mehr konzentrieren beziehungsweise betritt man mit einer Handlungs-/Gestaltungsweise automatisch auch die anderen Bereiche innerhalb des Schemas. An dieser Stelle sei noch einmal die vorläufige Definition des atmosphärischen Vermögens aus Abschnitt V.2.3 aufgegriffen: Das atmosphärische Vermögen meint die Fähigkeit, „spürend zu handeln“ und damit Atmosphären wahrzunehmen und zu gestalten. Bezieht man das atmosphärische Vermögen speziell auf den Unterricht und weiter auf die bewusste Herausbildung dieses Vermögens, ist es jedoch wichtig, die vorläufige Definition noch zu ergänzen um

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

einen allgemeinen Wissensstand in Bezug auf die dem Konzept zugrunde liegende Atmosphärentheorie. Denn: Abgesehen von einem besseren Verständnis des Konzepts vor dem Hintergrund theoretischer Inhalte, knüpft das Schema teilweise an ein Vorwissen an (z.B. Was ist eine gute Unterrichtsatmosphäre? Welche möglichen Erzeugenden gibt es?). Die zu Beginn der Arbeit vorgestellte Theorie Böhmes sowie die Verknüpfung beziehungsweise Weiterentwicklung seiner Inhalte in Bezug auf die Schulpraxis bilden somit einen Teil des Konzepts des atmosphärischen Vermögens. Miteinhergehend stehen die theoretischen Inhalte auch im Zusammenhang mit der inneren Haltung, die in Abschnitt V.2.2 näher beschrieben wurde. Ergänzt man die vorläufige Definition um diese Aspekte, ergibt sich somit folgende abschließende Definition des atmosphärischen Vermögens im Unterricht:

Abbildung 3: Schematische Darstellung des atmosphärischen Vermögens

V.3 Gedanken zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens Aus der empirischen Untersuchung und der Theorie heraus lässt sich von der Möglichkeit eines Erwerbs des atmosphärischen Vermögens ausgehen. Im Hinblick auf diese Annahme werden im Folgenden einige Gedanken aus Empirie und Theorie zusammengetragen. Allem voran steht zunächst, sich auf die Thematik einzulassen und offen zu sein, woraus sich dann ein Gespür entwickeln kann. Diesbezüglich schreibt Tellenbach: „[Die Gegebenheiten des Atmosphärischen] zu erfassen ist selbst […] eine Frage eines mehr oder minder entwickelten Gespürs, d.h. eines Sensoriums, das wir nicht erwerben und haben können wie ein Wissen aus allgemeinen Prinzipien, sondern durch eine geduldig dienende, sich in der Empfänglichkeit übende Einstellung.“206 (Tellenbach, 1968, S. 60) Auch Böhme betont hinsichtlich des Wahrnehmens von Atmosphären den Aspekt der Offenheit im Sinne eines Bereitseins, sich berühren zu lassen: „Atmosphären wahrnehmen zu lernen heißt

206

Weiter schreibt er: „Gleichwohl resultiert hieraus ein Vermögen, eine Urteilskraft, die wir selbst dann, wenn sie ihrem Wesen nach jenseits allen Suchens nach Gründen und aller Begründbarkeit in Gründen liegen, sicherlich als eine Erkenntnisweise bezeichnen können.“ (Tellenbach, 1968, S. 60)

V.3 Gedanken zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens

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sich emotional zu öffnen. Damit wird die Veräußerlichung der Umwelt aufgehoben und der Kontaktlosigkeit, der Coolness des modernen Menschen gegengesteuert.“ (vgl. Böhme, 2007, S. 41) Die eigene leibliche Anwesenheit – und damit das Spüren – können so überhaupt erst entdeckt werden (vgl. ebd.). Die „übende Einstellung“, von der Tellenbach spricht, führt nicht nur zur Herausbildung eines Gespürs. Der Aspekt des Übens erweitert ferner auch das eigene Tun: Auf der Handlungsebene bietet er die fortwährende Chance, neue – atmosphärische – Gestaltungsmöglichkeiten kennenzulernen sowie auch den kritischen Blick zu schärfen (vgl. ebd., S. 42 und Deuter, 2005, S. 235). Das Üben steht also im Hinblick auf die Sensibilisierung nicht nur mit der Möglichkeit einer Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens im Zusammenhang, sondern überdies auch damit, es inhaltlich mit einem „Wie“ zu füllen. 207 Damit einhergehend ist auch das Reflektieren essentiell, da es das Potenzial der Entwicklung eines sensibilisierten Bewusstseins in sich birgt (vgl. Welsch, 1996, S. 58ff).208 Mit dem Reflektieren klingt das Rationale an. Dessen müssen sich zum Erwerb des atmosphärischen Vermögens sowohl die Seite der Wahrnehmung als – und vielleicht gerade – auch die Seite der Gestaltung bedienen. Damit im Zusammenhang steht nicht nur die reflektierte, sondern auch die theoretische Auseinandersetzung mit einem Wissensbestand. Im Hinblick auf die Erwerbbarkeit kann die Theorie hierbei die Augen öffnen im Hinblick auf etwas, das oftmals intuitiv getan wird, ohne jedoch darin eine bewusste Gestaltungsmöglichkeit zu sehen. Sie kann das Reflektieren begleiten und ein „kritisches Potenzial zur Verfügung stellen“209, mit dem umzugehen dann jede und jeder selbst verantwortlich ist. Ein solches Sich-Bedienen an theoretischen Inhalten beziehungsweise explizitem Wissen seitens der Praktiker, sprich der Herstellerinnen und Hersteller von Atmosphären, ist, mit Böhme gesprochen, „zum Teil [sogar] durchaus wünschenswert“ (Böhme/Weymann, 2005b). Zum Erwerb des atmosphärischen Vermögens braucht es somit ein Zusammenspiel von Reflexion, Theorie und Praxis, und damit ein rationales Bewusstsein für Intuitives.210 Im Zusammenhang mit den beschriebenen Aspekten – Einstellung, Üben, reflektierte Auseinandersetzung und theoretisches Bewusstsein – seien abschließend noch einige Aussagen der Lehrkräfte aufgegriffen, die an der Untersuchung teilgenommen haben. Aus schulpraktischer Sicht spiegeln sie diese Aspekte zum Teil wider beziehungsweise ergänzen sie: Nicht alle Lehrpersonen sind sich einig, dass das atmosphärische Vermögen ausnahmslos von jeder Lehrperson erworben werden kann. Auch für sie hänge es zunächst vor allen Dingen von deren Einstellung ab, von ihrer Haltung, mit der sie sich der Thematik näherten, von ihrer Offenheit. Ein Lehrer jedoch ist sich sicher, das Vermögen sei – zumindest für ihn selbst – erwerbbar: Durch Erfahrung und Nachahmung, durch aufmerksames Beobachten und bewusstes Wahrnehmen habe er über die Zeit hinweg nicht nur eine entsprechende Haltung, sondern auch eine gewisse Sensibilisierung im Hinblick auf Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären herausgebildet – gerade auch im Hinblick auf Außerschulisches, um es dann auf den Unterricht zu übertragen. Er selbst habe sich damit eine bestimmte 207

Weiterführend könnte man diesem Zusammenhang außerdem Peirces Kategorien Firstness (qualitative Erfahrung), Secondness (Reaktion darauf), Thirdness (Verarbeitung, Reflexion) aufgreifen: Die Lehrperson nimmt die Gestimmtheiten der Lernenden wahr (Firstness), reagiert in ihrer weiteren Atmosphärengestaltung entsprechend darauf (Secondness) und reflektiert, bildet mit der Zeit Handlungsmuster heraus (Thirdness) (vgl. hierzu Campbell, 2016). 208 Hierfür dienen beispielweise reflektierte Auseinandersetzungen mit ästhetisch-atmosphärischen Inhalten (z.B. Kunst, Alltagsästhetik). Das hier entstandene Bewusstsein kann dann auch auf den lebensweltlichen, sozialen und damit auch unterrichtspraktischen Bereich übertragen werden und Anwendung finden (vgl. Welsch, 1996, S. 58 ff.). Eine schöne Wahrnehmungsübung findet sich ferner auch bei Weymann (2005) beziehungsweise Deuter (2005). Sie beschreiben diesbezüglich ein durchgeführtes Experiment zur Reflexion der Wahrnehmungseinstellung im Hinblick auf einen „angenehmen Ort“ (Deuter, 2005, S. 228; Weymann., 2005, S. 241). 209 So meint Böhme diesbezüglich: „Ich würde sagen, dass der Theoretiker, der sich mit Ästhetik explizit befasst, hier nur die Aufgabe hat, den Menschen die Augen zu öffnen und ihnen ein kritisches Potenzial zur Verfügung zu stellen.“ (ebd./vgl. Weymann, 2005b) 210 Es braucht also die Theorie, um ein Bewusstsein herauszubilden und um sich orientieren zu können (vgl. hierzu auch Herzog, 2002, S. 585) und es braucht die Praxis, um sich selbst zu üben, zu sensibilisieren und Gestaltungsmöglichkeiten auszuprobieren.

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Rolle – eine „Rolle mit Herzblut“ – angeeignet, eine Art professionalisiertes, jedoch weiterhin authentisches Selbst (s. Anhang: Interviewbericht Herr Buber). Seine Arbeit stellt diesbezüglich ein Beispiel dar, atmosphärisch kreativ zu werden, hierbei auch über das Schulische hinauszuschauen und sich mit der Zeit selbst zu sensibilisieren. Beispielhaft sei an dieser Stelle ein kleiner Einblick in seine Vorgehensweise gegeben: Werbung, Bildzeitung, Entertainer, Wrestling211 – überall, wo es um eine Inszenierung geht, und darum, Leute zu erreichen, sie zu berühren, emotional gar zu manipulieren, daran orientiert sich Herr Buber in seiner Unterrichtsarbeit und letztendlich hinsichtlich der Atmosphäre. Er analysiert diese Inszenierungen, beobachtet und nimmt wahr, probiert Dinge aus, überträgt außerschulische Beispiele – positiv eingesetzt – auf den Unterricht. Das Ergebnis hierbei ist interessant, beschreibt er mit seinem Vorgehen letztendlich das, was das atmosphärische Vermögen beinhaltet: Ein „spürendes Handeln“. Beispielhaft berichtet er von seiner Orientierung am Wrestling bezüglich der Fähigkeit, andere erreichen zu können. Dort beschäftige er sich mit Fragen wie: Wie wird im Wrestling das Publikum durch die bloße Rede am Mikrofon, und nicht etwa durch Kampftechniken, erreicht und dazu gebracht, einen auszubuhen oder zuzujubeln? Kurz: Eine Rede zu halten, die auf Resonanz stößt? Übertragen auf den Unterricht stelle er sich dann die Frage: Wie kann im Klassenzimmer eine „Rede“ gehalten werden, die ankommt, die die Schülerinnen und Schüler erreicht? Durch ein bewusstes Nach-außen-„Klingen“, beschreibt er sein Handeln dann. Durch ein Sich-Offenbaren, Sich-Öffnen (zum Beispiel „Mir geht´s schlecht“), ein allgemeines Nach-außen-Gehen – auch im Sinne einer Bewegung: sich in Richtung der Schülerinnen und Schüler zu bewegen, durch Blickkontakte. Ein Wechselspiel aus Offensein und Grenzen haben. Und: Er erreicht damit die Schülerinnen und Schüler. Das Beispiel lädt regelrecht dazu ein, atmosphärisch selbst kreativ zu werden, die Augen offen zu halten, aufmerksam zu sein, ein Bewusstsein zu entwickeln und sich in der Wahrnehmung zu üben. Und es lädt ein, den Blick zu schärfen auch für Außerschulisches, sich im Alltag mit Atmosphären zu beschäftigen, auch dort eine Sensibilisierung hinsichtlich Atmosphären zu erwerben und auf den Unterricht zu übertragen. Darüber hinaus verdeutlicht das Beispiel, dass es durchaus möglich ist, ein Bewusstsein herauszubilden und das atmosphärische Vermögen zu erwerben. Dies unterstreicht auch die Tatsache, dass manche Lehrpersonen im zweiten Gespräch berichteten, vieles im Hinblick auf den Umgang mit Unterrichtsatmosphären bewusster umgesetzt und angewandt zu haben. Wenn Frau Wieland in einem Gespräch betont, endlich sei für sie benannt worden, was sie intuitiv schon immer gespürt habe, dann verdeutlicht das außerdem, dass, gerade wenn bereits etwas vorhanden ist, dieses angesprochen werden kann, es möglich ist, eine Bewusstmachung des intuitiv Gespürten – in diesem Fall zum Beispiel durch die Vignetten und die Begrifflichkeiten – zu erreichen.212 Folgt man dieser Annahme, unterstreicht das die Bedeutsamkeit, das Konzept des atmosphärischen Vermögens im Rahmen der Lehrerbildung zu etablieren und in wirksamer Form zu vermitteln. Frau Bahrens schlägt diesbezüglich – wie auch mit dem Konzept angedacht – vor, im Rahmen von Workshops und intensiven Coachings Atmosphärenbeispiele zu zeigen, Material zu analysieren und darüber zu sprechen (s. Anhang: Interviewbericht Frau Bahrens). Hinsichtlich der Erwerbbarkeit schließe sie hierbei nicht aus, dass auch diejenigen Lehrpersonen sensibilisiert werden könnten, die zunächst keinen Zugang zur Thematik besitzen. Man müsse nur entsprechend daran arbeiten, meint sie. Wichtig sei jedoch eine „sanfte“ Vermittlung, eine allgemeine Sensibilisierung. „Und dann werden veränderte Leute hier in der Schule sein“, sagt sie, „und dann können [sie] Erfolg haben.“ (ebd.)

211 212

Inszenierte Schaukampf-Sportart, die dem Ringen ähnelt. Dies steht im Zusammenhang zu einer Aussage Tellenbachs: „Das hier mögliche Erkennen ist hinsichtlich seiner Mittelbarkeit an eine Deskription gebunden, die, indem sie das Atmosphärische gleichsam zurückstrahlt, im Leser eine unmittelbare Gewissheit richtigen Erfassens weckt – in einem Leser freilich, der in sich selbst die Fähigkeit zu einem solchen erfassen ausgebildet hat.“ (Tellenbach, 1968, S. 60)

VI Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassung Mit der theoretischen Verknüpfung ästhetischer und unterrichtspraktischer Inhalte sowie der empirischen Untersuchung im Unterricht konnte im Rahmen der Arbeit die Frage danach, was ein atmosphärisches Lehrvermögen im Hinblick auf die Gestaltung einer positiven Unterrichtsatmosphäre beinhaltet, beantwortet werden. Damit zusammenhängend wurde auch (ansatzweise) eine Wertung hinsichtlich einer positiven Unterrichtsatmosphäre vorgenommen. Teil I beinhaltete zunächst eine zusammenfassende Einleitung sowie ein Überblick zum Aufbau der Arbeit, eine Darstellung der Forschungsfrage, des Forschungsstands und der Relevanz der Thematik sowie eine kurze Erläuterung hinsichtlich des Titels der Arbeit. In Teil II wurden mit dem Atmosphärenbegriff von Gernot Böhme im Kontext einer neuen Ästhetik zunächst die für die vorliegende Arbeit relevanten theoretischen Grundlagen gelegt: Atmosphären als Zwischenphänomene, als das „Und“ zwischen äußeren Gegebenheiten und wahrnehmendem Subjekt, als primäre Wahrnehmungsgegenstände. Auch die Relevanz des Begriffs, wie ihn Böhme verwendet, wurde hierbei hervorgehoben: Seine Bezüge zum Unterricht – Unterricht als Atmosphäre, Lehren als ästhetische Tätigkeit, atmosphärische Kompetenz im Rahmen einer ästhetischen Bildung – sowie die Betrachtung von Atmosphären gerade auch seitens der Produktion schufen hierbei einen ersten Zugang und legitimierten die Durchführung der vorliegenden Untersuchung. Diese Grundlagen konnten in Teil III mit der Unterrichtspraxis verknüpft und weiterentwickelt werden. Im Rahmen dieses Teils wurde der Begriff der Unterrichtsatmosphäre eingeführt und näher erläutert: Unterricht als gemeinsame Wirklichkeit von Lehrenden und Lernenden, als deren „Und“ und somit gedacht als Atmosphäre, als gestimmter Raum und – aufgrund dessen, dass Unterricht gebunden ist an menschliche Vollzüge – als performativer Zeitspielraum. Hierbei wurde auch hervorgehoben, dass Unterrichtsatmosphären immer auch zahlreiche Unteratmosphären beinhalten beziehungsweise sich aus diesen zusammensetzen und zwar in der Aktualität existieren, den Moment einer Unterrichtsstunde als „atmosphärische Spuren“ jedoch auch überdauern können (z.B. in Form von Beziehungsqualitäten). Überdies beinhaltete dieser Teil die beispielhafte Benennung möglicher (Mit-)Erzeugender einer Unterrichtsatmosphäre (menschliche und gegenständliche Artikulationsweisen). Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde abschließend auf eine positive Unterrichtsatmosphäre eingegangen, auch unter Verweis auf die Schwierigkeit einer allgemeinen und objektiven Wertung. Als positiv wurden Unterrichtsatmosphären dargestellt, denen grundlegende pädagogische Qualitäten wie Wertschätzung, Anerkennung, Vertrauen oder Beziehungssicherheit zugrunde liegen, die geprägt sind von Wechselseitigkeit, Momenten des Ergriffenseins und, als eine „Einheit in der Vielheit“ (Dewey), von einer Abgestimmtheit aufeinander, einer allgemeinen Verbundenheit. Diesbezüglich wurden die Begriffe der (dynamischen) Resonanz, der Koordination (beziehungsweise Diskoordination) und der (ästhetischen) Form hinzugezogen. Dieser Teil diente zum einen dazu, eine Brücke zu schlagen zwischen Ästhetik und Unterrichtspraxis. Zum anderen sollte eine geschaffen werden im Hinblick auf die Forschungsfrage beziehungsweise zunächst auf das Lehren als ästhetische Tätigkeit, dessen Inhalt die Gestaltung der hier näher beschriebenen Unterrichtsatmosphären darstellt. In Teil IV erfolgte eine Darstellung des methodischen Vorgehens der Arbeit, der Datenerhebung sowie deren Analyse und Aufbereitung. Hierbei war es notwendig, zunächst einige Begrifflichkeiten beziehungsweise methodische Sichtweisen – teilnehmende Erfahrung, exemplarische Deskription, Erkenntnispotenzial von Leib und Körper, phänomenologisch orientierte Vignetten – zu erläutern. Darauf aufbauend schloss sich eine Beschreibung des konkreten Vorgehens in der Arbeit an, das als solches ein empirisches und theoriebegleitetes darstellt, sowie eine jeweilige Begründung der gewählten Methodik. Während der Teilnahme im Feld ging es um ein Spüren sowie ein Sammeln „atmosphärischer Momente“ (auch mithilfe von Videokameras). Mit der Erstellung eines hierarchischen Kategoriensystems wurden diese Momente geordnet und benannt sowie überdies, als Beispiele fungierend, zu Vignetten (in schriftlicher sowie vereinzelt in gemalter Form) aufbereitet. Zur Ergänzung dieses Vorgehens dienten Experteninterviews. Analog zu den Vignetten erfolgte hier eine Verarbeitung erzählter Beispiele seitens der Lehrpersonen zu Fragmenten. Im Rahmen dieses Kapitels wurde auch in Bezugnahme auf die Aspekte

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3_6

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V Ertrag der Untersuchung und Darstellung des entwickelten Konzepts

Aktualität, Subjektivität und Komplexität auf die Schwierigkeit des empirischen Erfassens von Atmosphären hingewiesen, jedoch gleichzeitig auch eine Möglichkeit der Untersuchbarkeit aufgezeigt und unter Anwendung der Gütekriterien in ihrer Wissenschaftlichkeit begründet. Basierend auf den empirischen Untersuchungsergebnissen sowie der theoretischen Verknüpfung in Teil III wurde das Konzept des atmosphärischen Vermögens entwickelt, formuliert als an eine Haltung gebundene Fähigkeit Lehrender, auf der Wahrnehmungsebene „spürend zu handeln“ und damit Atmosphären wahrzunehmen und zu gestalten. In Teil V erfolgte die Darstellung dieses Konzepts a) im Hinblick auf dessen Inhalt mit der Beschreibung der einzelnen Kategorien (sprich den Bereichen des atmosphärischen Lehrvermögens: Wahrnehmen (perceiving), Stimmen (tuning), Verbinden (connecting)), b) im Hinblick auf die Funktion sowie c) auf die mit dem Konzept beabsichtigten Ziele hinsichtlich des Herausbildens beziehungsweise Ansprechens eines Bewusstseins. Die Erläuterung der Kategorien erfolgte hierbei unter Verweis auf die im Rahmen dieses Kapitels dargestellten Vignetten und Fragmente. Es wurde auch hervorgehoben, dass das Konzept aus der Unterrichtspraxis heraus und für eben diese entwickelt wurde, jedoch auch auf andere menschliche Handlungsbereiche übertragen werden kann. Ferner wurde mit der beschriebenen Ästhetisierung ein Gesamtzusammenhang des Konzepts, aber auch des Lehrberufs sowie der Schule im Allgemeinen, mit der neuen Ästhetik hergestellt. Basierend auf einzelnen Beispielen von Lehrpersonen und Autoren wie Tellenbach bildete sich außerdem die Annahme heraus, dass das atmosphärische Vermögen erworben werden kann. Angemerkt sei jedoch, dass diese Annahme aufgrund der geringen Anzahl an befragten Lehrpersonen weiterer Forschungen bedarf (s.u.). Die gesamte Arbeit unterlag dem Versuch, der schmalen Gradwanderung zwischen Konkretem beziehungsweise Praxisbezogenem und Phänomenalem sowie der allgemeinen Komplexität gerecht zu werden. Mit der begrifflichen Fassung der Kategorien beziehungsweise der allgemeinen Versprachlichung wurde deswegen auf eine möglichst einfache und klare Begriffswahl geachtet, ohne jedoch jemals den Bereich des Atmosphärischen (vollständig) zu verlassen. Im Hinblick auf das Abstrakte beziehungsweise Phänomenale erfolgte somit eine sprachliche Konkretisierung. Damit sollte auch – unter Bewahrung der Komplexität der ästhetischen Betrachtung – ein möglichst großes Verständnis und damit eine allgemeine Zugänglichkeit hergestellt werden. Ausblick Die Thematik der Atmosphären stellt, gerade im schulischen Kontext, noch einen weiter zu erforschenden Bereich dar. Durch die Verknüpfung ästhetischer und unterrichtspraktischer Inhalte ergeben sich hierbei nicht nur viele Forschungsmöglichkeiten, es wird auch ein kritisches (zum Teil auch gesellschaftskritisches) Potenzial zur Verfügung gestellt (zum Beispiel hinsichtlich staatlicher Schulbauten, Klassengröße, Schulsystem etc.), dessen Weiterverarbeitung von großer Notwendigkeit ist. Auf einige mögliche Ansatzpunkte für weitere Forschungen wird im Folgenden kurz eingegangen. Da mit der hier vorgenommenen Ästhetisierung eher ein umfassender Blick auf den Unterricht und das Lehrerhandeln geworfen wurde, wäre es im Rahmen weiterer Forschungen interessant, sich mit den einzelnen Phänomenen, wie zum Beispiel dem „pädagogischen Halten“ oder dem Aspekt des Wahrnehmens, konkreter auseinandersetzen (hier befinden sich aktuell Forschungsprojekte in Vorbereitung, vgl. Spychiger, 2018). Auch besteht, mit dem umfassenden Blick zusammenhängend, weiterer Forschungsbedarf darin, das Konzept fachspezifisch auszuarbeiten. Die hier gebildeten Kategorien könnten hierfür ergänzt werden um Beispiele aus dem jeweiligen Fachunterricht (zum Beispiel: Zusammenhang zwischen Vorspielen am Instrument beziehungsweise von CD und Atmosphäre im Musikunterricht). Weiterführend ergibt sich außerdem eine Notwendigkeit, im Rahmen weiterer Forschungen explizit auch die Schülerseite (etwa im Hinblick auf die Wahrnehmung der Unterrichtsatmosphäre oder mögliche Erzeugende) aufzugreifen und zu evaluieren. Beispielsweise bietet die Wirkung der Klassenzimmergestaltung (z.B. Beleuchtung) oder der architektonischen Gegebenheiten auf die Schülerinnen und Schüler Möglichkeiten zum Weiterforschen. Auch könnten einzelne Schülerinnen und Schüler über einen längeren Zeitraum begleitet und deren Erfahrung von Unterrichtsatmosphären näher untersucht werden. Hierdurch ließe sich das entwickelte Konzept weiter ausbauen beziehungsweise ergänzen durch weitere Beispiele (hierzu befindet sich bereits eine Dissertation in Vorbereitung). Die Bedeutsamkeit,

V.3 Gedanken zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens

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sich auch von der Schülerseite mit der Thematik von Atmosphären im Sinne eines Unterrichtsgegentandes auseinanderzusetzen, wurde bereits in der Einleitung angesprochen. Von Böhmes Begriff der atmosphärischen Kompetenz im Rahmen einer ästhetischen Bildung ausgehend (vgl. hierzu Böhme, 2007) könnte dahingehend ferner ein didaktisches Konzept entwickelt werden, das die Atmosphäre als zu vermittelnden Unterrichtsgegenstand in den Vordergrund rückt. Da mit der vorliegenden Arbeit ein starker Praxisbezug zum Unterricht hergestellt wurde, wäre es natürlich außerdem von großem Interesse, sich im Rahmen weiterer Forschungen mit der Anwend- und Erwerbbarkeit des Vermögens näher auseinanderzusetzen beziehungsweise diese Aspekte konkreter zu untersuchen. Auch die Erfassung eines Ist-Zustandes von Lehrpersonen, die bereits ein Bewusstsein im Hinblick auf die Atmosphärengestaltung ausgebildet haben, wäre diesbezüglich interessant. Ein kritischer Blick könnte weiterführend – unter dem Aspekt der Ästhetisierung – auf das Schulsystem im Gesamten geworfen werden. Hierbei wäre es nicht nur – gerade auch im Hinblick auf stets anhaltende Diskussionen zu Klassengröße und Schulformen – interessant, die Unterrichtsatmosphären verschiedener Schulformen, Altersstufen, sowie das Unterrichten im Klassen- oder Kursverband explizit zu untersuchen. Es wäre auch von großer Wichtigkeit, sich mit der Lehrperson im Rahmen des Beamtensystems kritisch auseinanderzusetzen. Auf persönlichen Beobachtungen im Rahmen der Untersuchung sowie der eigenen Arbeit an Schulen gründend lässt sich an dieser Stelle die provokante Frage stellen nach einer Abhängigkeit vom System und einer oft resignierten Ausstrahlung seitens der Lehrperson.213 In der Betrachtung der Lehrperson als (Mit-)Erzeugende von Atmosphären – eben gerade über ihre Ausstrahlung – birgt diese Frage damit ein kritisches Potenzial in sich. Mit den genannten Forschungsmöglichkeiten geht außerdem ein allgemeiner Forschungsbedarf im Hinblick auf die Entwicklung gängiger Methoden zur Erfassung von Atmosphären im schulischen Kontext einher. Die vorliegende Arbeit berührt eine grundlegende Ebene des Unterrichts und dringt damit tief ein in den schulischen Kontext. Mit der Darstellung des weiteren Forschungsbedarfs wird jedoch auch deutlich, dass die Arbeit überdies ein breites Feld öffnet und auffordert zum Weiterforschen, Konkretisieren, Ergänzen und auch Übertragen auf andere Bereiche. Mit dem Eröffnen des Feldes einher geht außerdem die Notwendigkeit, die Thematik nach außen zu tragen und, zum Beispiel in Form von Workshops in der Lehrerbildung, anzuwenden

213

Natürlich trifft dies nicht auf alle Lehrerinnen und Lehrer zu. Diese Aussage basiert auf häufigen Beobachtungen, ist jedoch keine allgemeingültige Aussage und bedarf genauerer Untersuchungen.

Glossar der Begrifflichkeiten Ästhetik als Aisthesis: Lehre von der Wahrnehmung mit den Atmosphären als Grundthema Ästhetische Form: wahrnehmbare Ganzheit von Relationen, „Einheit in der Vielheit“ (Dewey, 1995/1934) Ästhetisierung: Nichtästhetisches wird ästhetisch gemacht, etwas wird auf Empfindungen hin ausgelegt (vgl. hierzu Welsch, 1996 und 2017) Artikulationsweisen: gegenständliche oder menschliche Erscheinungsformen; das, wodurch etwas/jemand auf bestimmte Art und Weise für andere spürbar wird, nach außen wirkt (z.B. Gestik, Mimik, Worte, Farben, Material); ursprüngliche Bedeutung „Weise“ von u.a. „weisen“, „sich zeigen“, „darstellen“ (Adelung, 2014b, S. 457); entspricht den „Ekstasen“ bei Böhme (s.u.) Atmosphäre: • • • •

• •

Atmosphäre: Zwischenphänomen, das „Und“ (Böhme, 2014), „räumlich ergossene Stimmungen“ (ebd.), gestimmter Raum (ebd.; Ströker, 1965) Atmosphärenerfahrung: 1. Leibliches Betroffensein, 2. Reflexive Verarbeitung; „Ingressionsund Diskrepanzerfahrung“ (Böhme, 2014) Charakter einer Atmosphäre: ihr „Was-Sein“ (Böhme, 2014); hier: setzt sich zusammen aus Qualität und Strukturellem wie z.B. Vertrauen und Resonanz „Nullatmosphäre“: „unklare“ Atmosphäre; Atmosphären sind allgegenwärtig – weil sie sich jedoch nicht immer klar artikulieren, würde man in solchen Fällen davon sprechen, dass keine Atmosphäre vorhanden sei, Rauh verwendet hierfür den Begriff der „Nullatmosphäre“ (ebd., 2012); vs. „atmosphärischer Moment“ (s.u.) Unteratmosphäre(n): Atmosphäre(n), die unter der allgemeinen Unterrichtsatmosphäre spürbar ist/sind (Atmosphären im Unterricht): z.B. während einer Gruppenarbeit, Einzelinteraktionen; kann/können über die Aktualität der Schulstunde hinausreichen Unterrichtsatmosphäre: die Atmosphäre, die man während des Unterrichts im Klassenzimmer spürt, die Relation/das „Und“ zwischen Lehrenden und Lernenden im Gesamtkontext Unterricht (Unterricht im Sinne eines Zwischenphänomens als Atmosphäre); beinhaltet beziehungsweise setzt sich zusammen aus zahlreichen Unteratmosphären; kann über die Aktualität der Schulstunde hinausreichen; vs. Unterrichts- bzw. Schulklima: Klima als länger anhaltender Zustand, weniger facettenreich und umfassender als die Unterrichtsatmosphäre, weniger auf den aktuellen Moment bezogen

„Atmosphärische Momente“: Momente, in denen sich die Atmosphäre stark spürbar artikuliert (Begriff wird v.a. im Rahmen der vorliegenden Empirie verwendet) „Atmosphärische Spur“: Atmosphärisches wirkt nach, hinterlässt Spuren (auch über den Unterricht hinausgehend, z.B. Vertrauen der Lehrperson wirkt in verschiedenen Situationen nach) (vgl. hierzu auch Rauh, 2012) Atmosphärisches Vermögen: Fähigkeit, „spürend zu handeln“ und damit Atmosphären (bewusst) wahrzunehmen und zu gestalten. Zusammenhängend mit einem Wissensbestand (im Sinne einer Ressource) sowie gebunden an eine pädagogische Haltung umfasst es im Wesentlichen die Bereiche Wahrnehmen (perceiving), Stimmen (tuning) und Verbinden (connecting). Diskoordination: Störung (z.B. Beziehungsstörung, Störung des Unterrichtsflusses, Fehler), auch positiv: z.B. aufmerksamkeitsfokussierende Funktion eines Fehlers, Teil des Koordinationskonzeptes (Spychiger, 2008) Einkoordinieren: Einfühlen, Erspüren eines Gegenübers/mehrerer Gegenüber und gleichzeitiges InKontakt-Treten; auf eine Ebene kommen, der Weg in die gemeinsame Wirklichkeit Ekstase: Art und Weise des Aus-sich-Heraustretens von Subjekt und Objekt, des Sich-Artikulierens im Raum; Art und Weise, in der Subjekt und Objekt für andere spürbar werden (Böhme, 2014)

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Glossar der Begrifflichkeiten

Emotionales „Aufladen“/Emotionalisierung, auch Symbolisierung: Etwas wird eine (emotionale/symbolische) Bedeutung verliehen, etwas wird wirkend gemacht Innere Haltung: innere Form/Festigung Koordination: reibungslos funktionierende Abläufe; im zwischenmenschlichen Bereich: Beziehung; interpersonale (mehrere Menschen betreffend)/intrapersonale Koordination (sich selbst betreffend) beziehungsweise allg.: Inter- und Intra-Koordination; formbildende, systembildende, mitreißende Kraft (Spychiger, 2008) Ko-Präsenz: Böhme (u.a. 2001) verwendet den Begriff im Zusammenhang mit der Atmosphäre: die Atmosphäre als gemeinsame Wirklichkeit, als aktuelle Einheit von Subjekt und Objekt, als deren KoPräsenz. Leib: flächenloser Raum, nicht messbar, Leib vs. Körper: z.B. Freude als leibliche Empfindung vs. schnellerer Herzschlag als körperliche Reaktion (Schmitz, 2014) Lehren als ästhetische Tätigkeit: Unterrichten auf der Wahrnehmungs- beziehungsweise Atmosphärenebene Pädagogisches Halten: Situation (kurzer Moment oder längerer Zeitraum), in der sich eine Lehrperson intensiv einem Kind zuwendet und es für einen bestimmten Zeitraum „hält“ (weil Lernprozess oder persönliche Integrität dies erfordern); die Lehrperson gibt dem Kind einen Vertrauensvorschuss, Ermutigung, Sicherheit; Halten wird hier verstanden als etwas Unterstützendes (vs. z.B. Aufmerksamkeit halten, Spannung halten); geht von der erziehenden Person aus, die Lernenden sind (zumindest zu Beginn der Interaktion) auf der Seite der Empfangenden (Spychiger, 2018). Damit im Zusammenhang stehend kann man von einem Pädagogischen Freilassen sprechen, bei dem die Lehrperson sich zurückzieht und die Lernenden dadurch „freilässt“ (und ihnen dadurch autonomes Handeln ermöglicht). Performativer Raum: atmosphärischer Raum; durch Handlungen tingiert, dadurch, dass sich etwas vollzieht bzw. etwas vollzogen wird (Fischer-Lichte, 2004) Perzept: Begriff aus der Wahrnehmungspsychologie; das subjektive und bewusste Resultat eines Wahrnehmungsprozesses (vgl. Stangl, o.J.) Physiognomik: 1. Ursprüngliche Bedeutung: Durch äußere Züge wird auf ein Inneres geschlossen. 2. Im Rahmen der neuen Ästhetik: Äußere Züge werden im Hinblick auf ihre Erscheinung betrachtet Raum: 1. Atmosphärischer Raum (auch performativer Raum), 2. Geometrischer/Physischer Raum (als solcher entsprechend gekennzeichnet beziehungsweise aus dem Kontext heraus verständlich) Resonanz: Moment des Ergriffenseins und der Wechselseitigkeit (dynamische Resonanz) Allesch, 2008) Reziprozität: Wechselseitigkeit Stimmung: 1. Eigene Befindlichkeit, eigene Gestimmtheit, 2. Äußerlich anmutende Qualität, Atmosphäre, bestimmt durch ein Subjekt; auch: Stimmungsqualität Vignette: kurze, in sich abgeschlossene Texte, Erzählungen, (Fall-)Beispiele, auch Memos; phänomenologisch orientierte Vignetten als „sprachliche Stimmungsbilder“ (Schratz et al., 2012) Wahrnehmen: 1. Spüren, 2. „Erkennen“ im Sinne eines „Für-wahr-Nehmens“ Wirklichkeit und Realität: das „in aktueller Wahrnehmung Gegebene“ (Wirklichkeit) und das, „was dinglich dahinter stehen mag“ (Realität) (Böhme, 2001)

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Anhang i.

Interviewberichte

Interviewleitfaden: Interview mit: … Datum/Ort: …; Anwesende Personen: … (Ziel: weitere Beispiele sammeln, durchsprechen, Videos/Vignetten anschauen) Material: Videoaufnahmen/-ausschnitte, Schema + Beispiele/Kategorien, jeweilige Vignette(n) ______________________________________ Erklären/Durchgehen: 1. Theoretischer Hintergrund: a. Wahrnehmungsebene b. Primärer Gegenstand: Atmosphären c. Atmosphären sind: i. Zwischenphänomen ii. „Gestimmter Raum“ iii. Gebunden an Dinge/Menschen als Erzeugende und Wahrnehmende 2. Methodische Vorgehensweise: a. Videos geschnitten b. Beschrieben und benannt c. Kategorisiert d. Vignetten als Beispiele (besondere Lesart, verdichtete Videoausschnitte) 3. Ergebnis: übergeordnetes Schema " zeigen + Zuordnung der Beispiele 4. Videoausschnitte/Vignetten lesen lassen 5. Fragen (s.u.) _____________________ Fragen: -

Zum Konzept: Ist es nachvollziehbar? Ist etwas unverständlich? Generelle Meinung dazu? Pädagogisch wertvoll? Vermisst du etwas? Zeigt dir das etwas? Ist es etwas Neues für dich?

-

Kannst du aus deiner eigenen Unterrichtspraxis heraus noch weitere Atmosphärenbeispiele nennen? (Können auch noch nachgetragen werden.)

-

Zur Raumgestaltung: Wie gestaltest du sie? Oder ist sie dir eher nicht so wichtig?

-

Zum Videoausschnitt/zur Vignette: Was hast du in dem Moment empfunden? (Nach der Konfrontation mit meiner Interpretation:) Ist meine Interpretation für dich nachvollziehbar/schlüssig?

-

Raum für Weiteres/für aufkommendes Gespräch

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Jung, Stimmungen weben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26582-3

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Anhang

Interview Herr Schneider Ort/Datum: Frankfurt am Main, 18.09.2017 Anwesende Personen: Herr Schneider (Bereich: Gymnasium) und Forscherin (1) Atmosphärenbeispiele Generelles Herr Schneider erzählt von einer Szene, wie sie sich einmal bei ihm im Unterricht ereignet habe: Zu Beginn der Stunde habe er eine Kiste mit Büchern auf den Tisch gestellt. Die Kinder näherten sich bereits dem Klassenraum. Eine Schülerin, die zuerst den Raum betreten habe, dachte, es sei ein Tier in der Kiste, und sie wurde plötzlich ganz leise. Herr Schneider habe diesen Moment sofort aufgegriffen, das Stillezeichen gegeben und mit gedämpfter Stimme zur Schülerin gesagt: „Sag allen, dass sie ganz leise sein sollen.“ Das habe sie getan und die ganze Klasse – normalerweise eine sehr unruhige Klasse – sei „mucksmäuschenstill“ in den Klassenraum gekommen. Das sei bis zum Ende der Stunde so geblieben. Herr Schneider habe gefragt, wie sie sich dabei fühlten und es hätten alle positives Feedback gegeben. Erst am Schluss habe er die Kiste geöffnet und aufgelöst, dass es sich nicht um ein Tier, sondern um Bücher handele. Alle hätten dann gelacht. Es sei schön gewesen, eben auch für die Kinder, sagt er, dass es die ganze Stunde über so leise war. Zur Kleidung: Er achte darauf, „nicht ganz verlottert“ auszusehen. In der Oberstufe würde er gerne manchmal ein Hemd tragen, um seriöser zu wirken. Lockerheit bei gleichzeitiger Seriosität, das sei die Wirkung, die er anstrebe, auch um seinen Fächern gerecht zu werden. Zur Atmosphäre sagt er im Allgemeinen, diese würde sich auch verändern und es würden sich Unteratmosphären [Herr Schneider verwendete die Begrifflichkeit bereits in seinem eigenen Sprachgebrauch], bilden: „Der hat mir heute ´ne Fünf gegeben, aber eigentlich komme ich gut mit ihm klar.“ Klassenzimmergestaltung Der Klassenraum sei Herr Schneider besonders wichtig, „weil – und das hat manchmal gar nichts mit den Schülern zu tun, aber ich möchte mich schon mal da wohlfühlen. Und wenn ich meinen Klassenraum habe und meinen Raum gestalten kann, dann ist der erstmal bunt.“ Weiter sagt er: „Und ich weiß halt […], der Raum ist ganz entscheidend und trägt zum Lernen bei. Und wir sind in Räume eingepfercht, die meistens zu klein sind, eine extrem schlechte Akkustik haben, weiße Wände haben.“ Vor allen Dingen bei den jüngeren Schülerinnen und Schülern halte er das für wichtig: „Da wirkt es total. Und es wirkt auch bei Kollegen. Das merkt man. Wenn die in einen Raum reinkommen, oder ich auch – [erzählt kurz von einem sehr schön gestalteten Raum, den er einmal betreten habe] also ich bin einfach gern in den Raum reingegangen.“ Herr Schneider beschreibt seine Raumgestaltung: bunt laminierte Stundenpläne (die Wand sei dadurch bunt), eine Fahne (damit schaffe er eine Verbindung zum Unterrichtsfach Fremdsprache), Unterrichtsmaterial (es solle einfach nicht so kahl sein, sagt er). Verschiedene Uhren im Raum zeigten des Weiteren verschiedene Zeitzonenuhren auf. Er versuche damit eine verbindende Atmosphäre herzustellen, einen Bezug zur Welt zu schaffen. Generell sei die Gestaltung bei ihm ausgerichtet auf Farbe und Fremdsprache. Lebhaft, bunt – das sei sein Ziel, damit die Schülerinnen und Schüler angeregt würden, aktiver würden (das sei ihm lieber als eine müde Klasse). Die Kinder seien bei ihm an der Mitgestaltung des Raumes beteiligt. Jedes Kind habe außerdem ein „Postfach“. Beziehungsebene/Verbindendes Die Forscherin erklärt den Begriff des Einkoordinierens und fragt Herrn Schneider um seine Meinung dazu. Herr Schneider erzählt, das sei wichtig und führt aus: „Also ich erzähle relativ gerne von mir, also Geschichten, die man auch erzählen kann natürlich, nicht groß privat, aber – also meiner Ansicht nach, wenn […] also ich hab´ an ihrem Leben [Schülerinnen und Schüler sind gemeint] die ganze Zeit teil.

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Ob sie wollen oder nicht. Und selbst, wenn ich über ihre Eltern gehe. Also, und ähm, um diese Situation, um diese extreme Hierarchie von Lehrer zu Schüler ein bisschen aufzubrechen, erzähle ich auch öfter mal was über mich, so indirekt, so dass die Schüler quasi das Gefühl haben, sie kennen mich vielleicht ein bisschen besser, können mich dadurch vielleicht auch ein bisschen besser einschätzen, und ähm… Ja, also das ist jetzt nicht immer geplant, aber ich weiß, dass Schüler auch total drauf stehen, mal was anderes über Lehrer zu erfahren als das, was da die ganze Zeit vorne rumhampelt. Und im Grunde genommen will ich denen auch klar machen, dass ich auch nur ein Mensch bin, ja, und ich auch beim REWE einkaufen gehe und sie mich da treffen, ja. Und wir sprechen auch mal gerne über die Eintracht kurz. Aber das ist halt wichtig für die Jungs, für die Bindung mit den Jungs, oder mit denen, die halt Eintracht-Fans sind, sind nicht immer nur Jungs, aber... […] Also ich hab zum Beispiel einen Schüler gehabt letztes Jahr aus der Klasse […], und der war einfach extrem schwach, aber ich hab nie die Bindung zu ihm verloren, gefühlt und ich hab´ bis heute – wir unterhalten uns gerne, weil wir einfach ein paar Themen haben, wo wir uns austauschen.“ Im Sprachunterricht setze er häufig „Chorisches Sprechen“ ein. Das mache er ganz gezielt, um eine gute Stimmung zu erzeugen, um alle zum Sprechen zu bringen und um alle mitzureißen. Keiner könne sich dabei rausstehlen, sagt er. Des Weiteren sei es eine Gemeinschaftssache, es habe „einfach einen anderen ‚Wums‘“, mehr Volumen. Ihm sei zunächst wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler bei ihm wohlfühlten. Das versuche er als Erstes zu erreichen – unabhängig vom Lernen, das wäre nicht unbedingt gleichzusetzen. Die Schülerinnen und Schüler dürften bei ihm lachen, dürften auch über ihn lachen und sie wüssten, dass auch er sich über sie „lustig machen“ dürfe (nicht im negativen Sinne, betont Herr Schneider), wenn es situativ gerade passe und er sich sicher sei, dass es das Kind vertragen könne. Manchmal mache er mit manchen Kindern, die bereits in ihrer Entwicklung weiter seien als andere, Witze auf einer anderen Ebene. Da würde er dann immer eine Verbindung, quasi eine Unter-atmosphäre [s.o.] spüren. Es sei nicht schwierig zu erkennen, wo er wie weit gehen könne. Und bei den älteren Schülerinnen und Schülern sei es noch einmal etwas ganz anderes. Da kämen die Aspekte Coolnessfaktor und Genderaspekt hinzu. Herr Schneider sagt, er rede viel mit den Schülerinnen und Schülern. Er halte es für wichtig, eine Beziehung aufzubauen. Wobei das nicht immer vorteilhaft sei, gibt er zu bedenken, und er sich manchmal fragen würde, ob er sich zu viel einkoordiniert habe. Schließlich sei er nicht deren Freund, sondern ihr Lehrer. Generell würde er sich nie mit ihnen auf die gleiche Stufe stellen, versuche jedoch möglichst nah dran zu kommen. Ihm sei beispielsweise auch wichtig, die Schülerinnen und Schüler zu grüßen. „Egal wo ich laufe. Auch wenn sie nicht immer zurück grüßen. Weil ich finde, das ist ´ne Wahrnehmung. Einfach, dass man wahrgenommen wird als Mensch. […] Nicht unbedingt als Schüler. Also er kann ja ´ne Fünf haben oder ´ne Sechs, aber trotzdem bleibt er ja ein Mensch. Das ist halt sehr wichtig.“ Wahrnehmen Herr Schneider sagt, er gehe stets mit offenen Augen durch die Schule, schaue sehr viel, wisse sehr vieles, was die Schülerinnen und Schüler machten, „sähe“ sie, sagt er. Er könne sich auch gut Namen merken, versuche die Schülerinnen und Schüler wahrzunehmen und mit Namen zu begrüßen. Auch in der Klasse: Seiner Meinung nach sehe und merke er sehr viel, beispielsweise wenn etwas nicht stimme. Er halte es für wichtig, das dann aufzugreifen und zu bearbeiten. Zum Spüren sagt er, er wisse nicht genau, wie man spürt, ob es vielleicht die Körperhaltung der Schülerinnen und Schüler sei, an der sich etwas ablesen lasse? „Ich weiß nicht, wie man es spürt. Durch die ganze Körperhaltung, durch die Aufgeregtheit oder Nicht-Aufgeregtheit, vor allem Körperhaltung. Natürlich, wenn die Kinder ruhig sind und du kennst deine Klasse, eigentlich sind die aufgeweckt, dann kann man merken, ja irgendwas muss irgendwo sein, oder irgendwas wird vielleicht nicht erzählt. Oder wenn ein Kind ruhig ist, kann auch an dem Kind selber was – Also ich werde immer belagert von den 5.-Klässlern, aber mein Blick schweift trotzdem auch woanders hin. Ich höre denen dann zwar zu, aber

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ich gucke dann auch, was woanders noch passiert. Das ist so die Wahrnehmungsseite und da kann, ich glaub´ ich, viel schon abpuffern.“ „Es gibt auch Phasen im Unterricht, wo ich dann sage ‚ok, irgendwie, merk´ ich, das läuft gerade so überhaupt nicht in die Richtung, das macht euch vielleicht keinen Spaß oder ihr versteht es nicht‘ – also, das ist ja auch so eine Art Kompetenz, die wir als Lehrer haben sollten, zu sehen ‚kommt da jetzt überhaupt was an, haben die es verstanden?‘ und nicht einfach weiterzugehen. Und dann vielleicht nochmal ´nen anderen Ansatz zu wählen.“

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung) Zu V10: Herr Schneider greift zwei Momente aus dem Videoausschnitt heraus: Die Begrüßung und die Tafelszene. Zur Begrüßung sagt er: Zunächst begrüße er die Schülerinnen und Schüler, frage, wie es ihnen gehe und sage, er hoffe, es gehe ihnen gut und es sei alles in Ordnung. Das sei eher eine Kleinigkeit, was vielleicht nicht so sehr auffalle, er halte es aber für sehr wichtig. „Auch bei meinen Kleinen, da mache ich das immer (auch wenn sie meist sagen, ‚mir geht´s gut‘) – ähm, weil ich glaube, dass das eine Wirkung hat.“ Zur „Tafelszene“ erzählt er: „Ich weiß noch, da hatte ich das Gefühl ´die wischen ewig´ und dann hab ich immer schon von mir innen heraus das Gefühl, ok, ich muss mal gucken, muss mal kurz einen Spruch sagen: ´Jungs, läuft´s noch? Seid ihr noch wach?´ Ja, ich denke, das sind die beiden Momente, die in dieser Szene vielleicht eine gewisse Atmosphäre schaffen oder ´ne Bindung zwischen den Schülern.“ Die Forscherin weist ihn anschließend auf seine präsentere Körperhaltung hin. Das würde er nicht sehen (die Forscherin wirft ein, sie habe dazu ein spezielles Computerprogramm verwendet), könne ihre Empfindung jedoch nachvollziehen. Das sei eine unbewusste Sache, sagt er, und fügt hinzu: „Mit dem Klatschen ist klar, jetzt geht´s wieder weiter mit dem Unterricht, es war so ´n Ausstieg, aber jetzt. […] Ist ein klares Zeichen mit dem Händeklatschen: Jetzt geht´s wirklich los.“ Im Allgemeinen hält er die Kommentierung der Forscherin für sehr schlüssig und ergänzt: „Es ist eigentlich so, wie ich es auch, ähm – Also ich mache sehr viele Witze und unterbreche meinen eigenen [Unterricht]“ Das sei eine seiner Schwächen, sagt er und verweist hierbei auf den bekannten Satz „Der Lehrer stört seinen eigenen Unterricht“. Er schaffe es seiner Meinung nach aber gut, dann wieder in den Unterrichtsfluss zu kommen. Es sei ihm wichtig, weil es eine gute Stimmung bringe. Er führt das Beispiel eines Liedes an, das ihm manchmal spontan einfalle und das er dann summe. Die Kinder würden es erkennen und alle seien dann kurz raus aus der Arbeitsatmosphäre, die Bindung jedoch, die sei viel höher, weil dann alle im gleichen Moment seien, sagt er.

(3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit nung)

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Seiner Meinung nach seien manche Fächer prädestinierter für eine Atmosphärengestaltung, andere weniger. Es komme außerdem auch auf die Lehrerpersönlichkeit an und wie viel Zeit man habe zur Vorbereitung.

Interview Frau Bahrens Ort/Datum: Frankfurt am Main, 28.09.2017 Anwesende Personen: Frau Bahrens (Bereich: Gymnasium) und Forscherin (1) Atmosphärenbeispiele

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Generelles Frau Bahrens erzählt von einem Herzen – sie nennt es „Motivationsherz“ –, das sie für ihre Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf folgende Qualitäten emotional aufgeladen habe: Freude, Glück, Wohlempfinden. Sie erzählt, wenn es ihr richtig gut gehe, sie Spaß und Freude am Unterrichten habe, an dem „Zusammen“, dem Interagieren mit den Heranwachsenden, an dem „Team“, wenn die Heranwachsenden verstanden hätten, angekommen sei, was sie gesagt habe, dann sei ihr Ziel erreicht, dann gehe es ihr gut, dann freue sie sich. Diese Freude zeige sie den Heranwachsenden sofort, sie male ein Herz an die Tafel und sie lächle dabei. Das übertrage sich auf die Klasse, sagt sie. Wie ihr Empfinden könne das Herz auch wachsen, könne es größer werden oder sich verdoppeln, manchmal male sie sogar einen (traurigen) Smiley hinein. Über das Herz würden Empfindungen visualisiert. Neben genannten Qualitäten stelle das Herz auch eine Motivation für die Schülerinnen und Schüler dar, denn hätten sie 15 Herzen gesammelt, unternähmen sie alle etwas zusammen. Raumgestaltung sei für sie nicht wirklich wichtig. Oftmals seien die Räume dreckig oder unaufgeräumt, dann würde sie das ansprechen, um eine Sensibilisierung, eine Bewusstmachung bei den Schülerinnen und Schülern zu erzeugen. Wichtiger als die Raumgestaltung sei ihr, die Atmosphäre „aus dem Inneren“ heraus zu kreieren. Einmal habe sie trotzdem den Klassenraum gestaltet. Ihre Schülerinnen und Schüler sollten sich darin wohlfühlen, würden sie sich doch schließlich den ganzen Tag darin aufhalten. Aber bei der Gestaltung war ihr auch klar, dass sie möglicherweise Dinge anders wahrnehme als die Heranwachsenden, deshalb habe sie das thematisiert, über ihre eigenen Gefühle gesprochen und auch gesagt, sie möchte auch etwas von sich in dem Raum haben. Daraufhin hätten sie dann alle gemeinsam dekoriert und somit etwas Gemeinsames an der Wand geschaffen. Allgemein sei ihr Flexibilität sehr wichtig. Sie habe immer verschiedene Pläne dabei, um möglichst flexibel nach dem, was ihre Schülerinnen und Schüler in dem Moment bräuchten, handeln zu können. Vom Bauchgefühl, vom Inneren heraus, sagt sie. Hier habe sie sehr viel Empathie, sehr viel Bewusstsein in diesem Bereich. Generell müsse man als Lehrperson viel mit Mimik, Gestik und mit der Stimme arbeiten. Und auch das Gespürte konkret benennen, denn für jüngere Schülerinnen und Schüler sei es oft schwierig, Gefühle „abzulesen“. Resonanz Ihr sei Wechselseitigkeit sehr wichtig, Resonanz: Gegenseitige Bestätigung, gegenseitiges Voneinander-Lernen zum Beispiel. Die Beziehungsarbeit halte sie hierbei für sehr bedeutsam. Auch sei ihr wichtig, alles mit positiven Emotionen zu verbinden, um sich Dinge merken zu können und im Leben in jeder Situation anwenden zu können. Manche bräuchten es mehr, andere weniger. Manchmal, erzählt sie, betrete sie den Raum und es gehe ihr nicht gut, weil sie spüre, es herrsche eine negative, drückende Atmosphäre. Vielleicht hätten die Heranwachsenden zuhause oder in der Pause Streit gehabt, das würde man spüren. Und es sei dann schwierig, sich nicht davon beeinflussen zu lassen. In solchen Momenten versuche sie dann eine andere Stimmung zu vermitteln, in der Hoffnung, dass sich diese übertrage. Das sei wichtig, um überhaupt unterrichten zu können.

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung) Zu V14: Sie berichtet, dass sie des Öfteren Entspannungs- und Konzentrationsübungen im Unterricht einsetze. Wie es gerade passe, sagt sie. Zum Beispiel wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht mehr konzentrieren könnten oder es gäbe aktuell auch Einige, die Bauch- und Kopfschmerzen hätten. Sie dürften sich dann zwischendurch ein bisschen zurückziehen. „Du hast deine Auszeit“, sage sie ihnen dann, „das ist absolut in Ordnung.“ Auch Wasser trinken oder kurz aus dem Fenster „schnuppern“ dürften sie. Sie nehme deren Bedürfnisse wahr und manchmal würden sie es auch von sich aus sagen, wenn es ihnen nicht gut gehe.

156 (3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit nung)

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Zur Erwerbbarkeit sagt sie, es sei wichtig, zu reflektieren, Beispiele zu zeigen, Workshops zu geben. Dann könne man sehen, wie es gehe, man könne analysieren und darüber sprechen. Entweder man habe es drin, sagt sie, oder nicht. Und dann müsse man entsprechend daran arbeiten. Man müsse es jedoch sehr sanft vermitteln, eine allgemeine Sensibilisierung des Körpers erreichen (sie nennt ergänzende Beispiele wie Yoga und Meditation). Beispielsweise wenn man selber sehr gestresst sei, sagt sie, negativ eingestellt sei, und man nicht wisse, dass man das auch ausstrahle – das bekäme man dann ja zurück. Und ohne Sensibilisierung würde man sagen: „Meine Klasse ist so Scheiße.“ Deshalb seien Module oder Workshops wichtig. „Und dann werden veränderte Leute hier in der Schule sein“, sagt sie, „und dann können sie Erfolg haben.“ Generell rede man ja schon viel von Lehrerpersönlichkeit und davon, wie man wahrgenommen würde. Aber dahin gecoacht würde man nicht.

Interview Frau Seelinger Ort/Datum: Frankfurt am Main, 20.03.2017 Anwesende Personen: Frau Seelinger (Bereich: Gymnasium) und Forscherin (1) Atmosphärenbeispiele Generelles Um eine Atmosphäre zu kreieren, mache sie beispielsweise immer irgendeinen Witz, habe einen lustigen Spruch parat, bringe Süßigkeiten mit oder komme mit einem Lächeln in den Unterricht. Um eine allgemeine Offenheit zu schaffen, erzähle sie auch viel von sich selbst. Klassenzimmergestaltung Passend zum Fach seien einige Flaggen aufgehängt worden. Sie schaffe hierbei bewusst eine positive Atmosphäre in Kombination mit dem Fachlichen, damit das Fach an sich mehr Spaß mache. Hierfür nehme sie sich nun viel intensiver Zeit. Schöne Dinge würden hervorgehoben: Beispielsweise würden die Wände gestaltet mit von den Schülerinnen und Schülern geschriebenen Texten oder Fotos eines gemeinsamen Frühstücks („Das Persönliche kommt durch: Das war unser gemeinsames Erlebnis.“). Basierend auf einer Modenschau im Unterricht habe sie für jede und jeden eine Fotocollage angefertigt. Tafelbilder würden ins Internet gestellt und dazu schreibe sie: „Danke für die schöne Stunde, wir sehen uns morgen.“ Ein virtueller Klassenraum, in den jede/r etwas hochladen oder schreiben könne. Beziehungsebene In der Klassenleiterstunde erkundige sie sich danach, ob ihre Schülerinnen und Schüler Probleme oder Anliegen hätten. Hier dürfe jede/r loswerden, was sie/er möchte. Ein solches privates Verhältnis habe sie vor allen Dingen zu ihrem Kurs. Andere Klassen würde man nicht so oft sehen und überhaupt glaube sie, eine Klasse brauche nicht mit jeder Lehrperson ein etwas privateres Verhältnis. In den Pausen versuche sie immer mit den Schülerinnern und Schülern zu reden. Sie gehe auf sie zu, um ihnen zu signalisieren: „Hey, ich bin nicht nur Lehrerin, sondern auch Mensch.“ Man merke, wie sich die Heranwachsenden nach und nach im Gespräch entspannten und auftauten und schließlich einiges von sich erzählten. Die jüngeren Schülerinnen und Schüler müsse man oftmals fast bremsen, da sie stets viel erzählten. Frau Seelinger sage dann: „Ich höre dir jetzt zu, aber dann müssen wir auch gleich wieder aufhören.“ Wichtig sei ihr hierbei, dass die Schülerinnen und Schüler sähen, dass sie wahrgenommen würden. Auch auf dem Schulhof versuche sie immer offen zu sein, winke den Schülerinnen und Schülern zu. Sie wolle damit signalisieren, dass sie nicht nur zum Arbeiten in die Schule komme. Gleichzeitig sei ihr ein wechselseitiges Verhältnis wichtig: Auch ihr sei es ein Anliegen, begrüßt und

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als Mensch gesehen zu werden. Generell achte sie statt einer strengen Miene deswegen auf einen offenen und freundlichen Gesichtsausdruck. Ihrem Wesen nach besitze sie eine professionelle Distanz: Sie sei persönlich, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Fehlerfreundlichkeit Im Hinblick auf Wissen und Können möchte Frau Seelinger selbst nicht als perfekt erscheinen. „Für mich ist das Schlimmste, wenn ich merke, dass ein Schüler aufgeregt ist oder wenn er gerade nicht da vorne stehen will […] – Dann gucke ich den, glaube ich, schon ganz anders an. Und ich lobe auch anders und mehr. […] Ich kenne das Gefühl in mir und denke „Oh Gott“ – er tut mir in dem Moment leid, aber ich denke ja auch, gut wir sind ja bei uns im Klassenraum, ist nicht schlimm. Deshalb würde ich ihn nicht davon abhalten, und ihn unterstützen und ich glaube ich schaue ihn anders an. […] Auch wenn er dann fertig ist, dann zwinkere ich ihm zu […].“

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung) Zu V3: Zur Vignette ergänzt sie: Sie habe in der Situation (sie bezieht sich auf den Blick, den sie kurz den lachenden Schülerinnen und Schülern zuwirft) gedacht „Da haste jetzt kurz gelacht, aber jetzt reicht´s!“. Zu V9: Ihre Wahrnehmung stimmt mit derjenigen der Forscherin überein.

(3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit nung)

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Sie sagt, es sei schwierig, im Unterricht beispielsweise zusätzlich auch noch auf die eigene Wirkung zu achten. Die Forscherin betont diesbezüglich noch einmal, dass es sich nicht um eine Kompetenz handeln solle, sondern um ein Bewusstsein. Frau Seelinger fügt hinzu: „Ich denke sogar manchmal an dich [die Forscherin] im Unterricht! Wie du das gemacht hast mit der Lautstärke. Manchmal denke ich: Ok, du verkrampfst, aber du liebst ja eigentlich deinen Job. Lächeln.“

Interview Herr Willensinn Ort/Datum: Frankfurt am Main, 29.09.2017 Anwesende Personen: Herr Willensinn (Bereich: Gymnasium) und Forscherin (1) Atmosphärenbeispiele Generelles Herr Willensinn berichtet, er habe einen Raum, den er nicht möge, in dem er sich nicht gut fühle und in dem er selbst nicht unterrichten möchte. Denn: Dieses Negative könne dann Auswirkungen auf die Lernprozesse haben.

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung)

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Zu V6: Der Lehrer relativiert die Wahrnehmung der Forscherin in einigen Punkten und erklärt: Marcel und Maria hätten viele Fächer zusammen und seiner Meinung nach sei sich Marcel der Tatsache bewusst, dass Maria sehr vieles wisse. Maria beschreibt er als eine sehr ruhige Schülerin, die jedoch „liefern kann“. Marcel sei ein Schüler, der gerne (lustige) „Sprüche macht“. Auch damit lasse sich die Schüleraussage seiner Meinung nach wieder relativieren. Er habe die Szene nicht als für die Schülerin unangenehm oder „gemein“ wahrgenommen, sonst wäre er dazwischen gegangen. Inzwischen gebe es die Regel nicht mehr, sagt Herr Willensinn. Zuvor war sie allseits bekannt und wurde im Hinblick auf die Vignette nicht zum ersten Mal angewandt. Die Schülerinnen und Schüler selbst wollten diese Regel nicht, der Lehrer habe sie trotzdem aus folgenden Gründen verwendet: Manchmal habe man einen Gedanken im Kopf, man traue sich aber nicht, sich zu melden. Außerdem kämen dadurch auch andere Schülerinnen und Schüler zu Wort als üblich. Des Weiteren ergebe sich daraus auch ein nachhaltiger Effekt, die Hemmschwelle (nach einer erfolgreichen Antwort) im Nachhinein abzusenken und sich dann auch aus eigenen Stücken zu melden. Es würde dadurch eine in die Zukunft gerichtete Atmosphäre eröffnet. Zu V15: Der Lehrer kommentiert in Bezug auf das „Herausziehen aus der Atmosphäre“ kurz vor Ende der Situation kritisch, es gebe auch sehr viele andere Gründe, diesen Moment zu interpretieren. Zu V17: Aufgrund Zeitmangels im Rahmen der Interviewzeit wurde diese Vignette nicht mehr kommentiert.

(3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit und Meinung) Zur Erwerbbarkeit (er fände es besser, von „erwerbbar“ statt von „erlernbar“ zu sprechen) äußert sich Herr Willensinn dahingehend, dass man seiner Meinung nach vieles nicht im Vorneherein planen könne. Vieles geschehe intuitiv und aus der Situation heraus. Er wirft die Frage auf, ob man nicht automatisch innerhalb eines sozialen Feldes durch Wahrnehmung lerne? Es sei außerdem stark typengesteuert. Ferner bestätigt er die Aussage der Forscherin, man könne das Modell auf vieles übertragen, auf unterschiedliche menschlicher Handlungsräume.

Interview Frau Wieland Ort/Datum: Frankfurt am Main, 16.03.2017 Anwesende Personen: Frau Wieland (Bereich: Gymnasium) und Forscherin (1) Atmosphärenbeispiele Schaffung einer Wohlfühlatmosphäre Frau Wieland möchte eine Wohlfühlatmosphäre erzeugen, eine Atmosphäre, in der die Schülerinnen und Schüler keine Angst hätten. Zur Erzeugung dieser Atmosphäre nennt sie folgende Beispiele und Beobachtungen: ! Sie beobachte, dass Hemmungen durch das Wohlfühlen verringert würden. ! Sie wisse um den Stellenwert von Klassenarbeiten für die Schülerinnen und Schüler (Notendruck, Druck durch Eltern etc.). Deshalb habe sie sich ein „Drumherum“ überlegt, wie sie ihnen helfen könne: • Sie betrete das Klassenzimmer mit einem großen Lächeln. • Gemeinsame lustige Spruchrituale würden vor Klassenarbeiten eingesetzt, um die Angst zu nehmen.

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Während der Klassenarbeit trage sie eine „Glückskette“. Wenn die Schülerinnen und Schüler diese Kette sähen, dann würden sie lachen, weil sie wüssten, dass Frau Wieland ihnen viel Glück wünsche. An die Tafel schreibe sie „Viel Glück!“, „Gutes Gelingen“, male Smileys und nach oben zeigende Daumen. Hierzu erzählt sie von einer Beobachtung: „Mir ist aufgefallen, dass viele Schüler während der Arbeit verzweifelt aufschauen. Dann starren sie nach vorne zur Tafel. Und dann sehen sie die ganzen Sprüche, und dann lächeln sie und dann geht´s wieder weiter.“ Frau Wieland berichtet von einer weiteren Beobachtung: Früher hätten die Schülerinnen und Schüler vor der Arbeit gezittert, aber das sei nun weg. So empfinde sie das zumindest. Ein weiteres Beispiel, das den Schülerinnen und Schülern helfe („Ich habe mich da wirklich sehr vertieft!“): Sie schaffe während des Austeilens der Arbeit eine „Schlafatmosphäre“, eine Art Tiefenentspannung, damit die Schülerinnen und Schüler die Arbeit entspannt beginnen könnten: Hierbei würden die Kinder den Kopf auf den Tisch legen und Frau Wieland erzähle ihnen – je nach Jahreszeit – eine Geschichte vom Meer, von den Bergen, von Zimtschnecken oder Vanillekipferln. Oder von goldenen Blättern, durch die die Sonne scheine. Von ihrer Klasse bekomme sie dann des Öfteren die Rückmeldung: „Ach, es hat richtig nach Zimt gerochen!“ Alles sei währenddessen ruhig, ihre Stimme sehr leise, das Licht aus, ihre Schritte seien bewusst langsam und vorsichtig. Nach dem Austeilen setze sie sich kurz hin, sage für einen Moment nichts und dann mit munterer Stimme: „Und wir wachen auf und freuen uns auf die Arbeit, die wird toll!“ Des Weiteren achte sie darauf, kein Stressgefühl durch Uhrticken zu erzeugen. Eine Zeitangabe während der Arbeit sei trotzdem wichtig, sagt sie, deshalb male sie eine lustige Uhr mit Händen und Füßen an die Tafel, schreibe die Uhrzeit an und lese sie mit heiterer Stimme vor.

Inzwischen gestalte Frau Wieland diese Phase sehr bewusst. Sie habe unbewusst gestartet, dann aber gemerkt, dass es funktioniere und setze solche Dinge nun ganz bewusst ein. Bei den Schülerinnen und Schülern würde es gut aufgenommen, diese forderten nun auch von anderen Fachlehrerinnen und -lehrern entspannende Geschichten vor der Klassenarbeit. Klassenzimmergestaltung Von ihrer Klasse habe Frau Wieland Blumensamen zum Geburtstag geschenkt bekommen. Nun würden die Samen im Klassenzimmer in Blumenkästen ausgesät. Der Grund hierfür bestehe darin, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu geben, gesehen und wahrgenommen zu werden und ihr Handeln als bedeutsam zu empfinden. Auch eine von der Klasse geschenkte Kette trage sie deswegen immer wieder. Frau Wieland bezeichnet das Klassenzimmer als „Vormittagswohnzimmer“. Es sei ihr sehr wichtig, dass sich die Kinder dort wohlfühlten. Sie achte hierbei darauf, dass es ordentlich und die Helligkeit angemessen (nicht zu dunkel, nicht zu hell) sei. Es gebe im Raum außerdem eine dem Alter der Kinder angemessene Spiel- und Leseecke (hierfür habe sie Bücher von zu Hause mitgebracht). Die Schülerinnen und Schüler könnten sich hier in den kleinen Pausen aufhalten. Belustigt erzählt sie, sie habe eine Beschwerde bekommen, weil ihre Klasse nie in den Pausenhof gehen würde, da sie sich im Klassenzimmer so wohl fühlten. Des Weiteren achte sie darauf, dass im Raum stets alles voller Schüleranerkennung sei: Wenn sie sehe, dass die Kinder stolz auf etwas seien, würde es aufgehängt. Es gebe eine „Geburtstagsuhr“, damit jede/r den Geburtstag der anderen kenne und damit niemand vergessen werde. „Bei uns sind die Wände voller Schüleranerkennung“, sagt sie. Es gebe außerdem Plakate mit Fotos gemeinsamer Situationen (z.B. Ausflüge).

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Beziehungsebene Frau Wieland sieht sich mit den Schülerinnen und Schülern auf einer Beziehungsebene, auf einer menschlichen Ebene. Sie signalisiere den Kindern beispielsweise, dass es sie traurig mache, wenn sie laut seien. Bei Disziplinierungsmaßnahmen versuche sie, nicht streng zu sein, sondern die Kinder mit der Sprache der Schüler (z.B. Schmollmund) zu erreichen. Außerdem kämpfe sie für ihre Schülerinnen und Schüler. Diese wüssten, wenn sie ein Problem hätten, dann könnten sie zu Frau Wieland gehen und sie würde es dann lösen. „Sie glauben, ich könnte alles lösen. […] Es wird immer alles berichtet.“ Sie erzählt diesbezüglich auch von „Laufgesprächen“ – Gespräche, die im Laufen (z.B. beim Klassenraumwechsel) stattfänden. „Eigentlich, im Grunde genommen versuche ich sie nur zu verstehen. Das ist mir wichtig. Dass sie eine schöne Schulzeit haben. Ich sage es ihnen ständig: Ihr werdet acht bis neun Jahre hier die meiste Zeit am Tag sein. Das muss schön sein, das habt ihr euch verdient, das muss so sein. Wir müssen aber alle etwas dafür tun. Und dann sage ich immer: Ich werde euch alle beschützen. […] Hier geht es nicht um mich.“ Gemeinschaftsgefühl/Einheit Das tägliche Begrüßungsritual bestehe aus einem Lied, bei dem sowohl gesungen als auch geklatscht würde. Frau Wieland gehe es hierbei nicht nur um das Lied, sondern vor allem um die Tatsache, dass sich gemeinsam begrüßten. In diesem Moment seien sie alle eine Einheit, alle zusammen, und mit nichts anderem beschäftigt als mit dem „Wir begrüßen uns“, denn es würde nicht nur gesungen, sondern auch geklatscht. Alle müssten sich auf das gemeinsame Lied konzentrieren. Und Frau Wieland: „Dann strahle ich sie immer an. So beginnt unsere Stunde. Das schafft so eine Atmosphäre.“ Das Gemeinschaftsgefühl ist Frau Wieland wichtig. Natürlich gebe es innerhalb der Klasse beste Freundinnen und Freunde, aber trotzdem würden alle zusammenhalten, aufeinander aufpassen, füreinander einstehen. Hierfür tue sie einiges: zum Beispiel gemeinschaftsbildende Spiele oder Reflexionsspiele. Sie suche bewusst nach diesen Dingen und habe sich hierfür ein Buch gekauft. Auch Spiele zur Rückmeldung setze sie oft ein. Hierbei sei es essentiell, dass niemand das Gesicht verliere. Fehler würden aufgezeigt, jedoch ohne dass es die entsprechende Person zu sehr treffe oder diese bloßgestellt würde. Ein weiteres Spiel sei, dem/der Tischnachbar/in spontan ein nettes Wort zu sagen. Dies dauere nur ein paar Sekunden, dann würden sie strahlen und alles sei gut. Auch sage sie ihrer Klasse oft, sie sei toll – und dadurch sei die Klasse auch gerade so geworden. Hinsichtlich des Aufrechterhaltens der Einheit erzählt Frau Wieland: „Ich gucke sie mir immer alle an. Und das ständig. Also ich gucke sie mir wirklich an. Ich habe sie immer im Blick.“ Dadurch müsse sie ihren eigenen Unterricht nicht stören. Manchmal setze sie bewusst eine „Schnute“, einen „Schmollmund“ dazu ein. Mit dieser Mimik möchte sie den Kindern zum einen zeigen, sie sei keine Autoritätsperson und zum anderen wolle sie ihnen auf ihrer Ebene näher kommen: „Und darauf reagieren sie toll, weil sie kennen ja den Schmollmund. Das verstehen sie. Und das funktioniert gut.“ Umgang mit Fehlern Sie gebe gerne ihre Fehler zu, sagt Frau Wieland. Das würde die Schülerinnen und Schüler sehr entspannen. Beispielsweise bemängele sie stets ihre eigenen Malkünste. Die Klasse wisse darum und auch, dass sie darüber schmunzeln dürften. Sie erzählt, sie würde das merken, dann immer lachen und eine lustige Bemerkung dazu machen. Ihr sei es wichtig, dass Lehrende Fehler zeigten, damit die Schülerinnen und Schüler dadurch entlastet würden. Weil sie dann sähen, dass auch sie Fehler machen dürften. Was ihr stark missfalle („dann hole ich immer meine zackige Stimme raus“) sei jedoch, wenn über andere gelacht würde. Sie schildert eine Situation, in der Schüler über andere gelacht hätten. Sie habe zu ihnen gesagt: „So geht das nicht. Jeder von uns macht Fehler und so kommen wir auch voran. Und das will ich nicht, dass ihr dann Angst habt, etwas zu sagen, weil man vielleicht ausgelacht wird.“ Daraufhin habe sie gesagt, sie würde sich freuen, wenn diejenigen Schüler, die gelacht hätten, sich melden würden. Tatsächlich hätten sich einige gemeldet. Dann habe sie sie gefragt, was jetzt gerecht wäre, und sie hätten geantwortet: „Geben Sie uns eine schwere Aufgabe aus dem Buch, die machen wir dann.“

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Und wenn jemand etwas nicht verstehe: „Komm, wir machen es zusammen an der Tafel. Dann führe ich sie so, dass sie es selbst löst. Dann ist sie stolz wie Oskar. Ich strahle sie dann an. Ich habe ja immer so eine Freude, die ist immer da. Ich klatsche dann.“ Professionalität/Nähe-Distanz Eine menschliche Ebene sei wichtig, aber nur in Verknüpfung mit wirklich gutem Unterricht: Für die Schülerinnen und Schüler sei es wichtig, die Lehrperson zu verstehen und zu erkennen, dass diese ihren Stoff beherrsche und eben auch vermitteln könne. Man brauche sowohl Professionalität als auch das „Menschliche“. Des Weiteren sei ein ausgewogenes Verhältnis professioneller Nähe und Distanz wichtig: „Ich sage nie, auch wenn ich sehr darauf bedacht bin, auf emotionaler Beziehungsebene mit ihnen zu sein, ich sage nie, mir geht es heute schlecht oder ich bin krank oder müde. Manchmal merken sie es von sich aus und fragen danach. [Einmal ging es mir nicht gut.] Aber ich habe es ihnen nicht gesagt. Ich finde, man darf sich nicht zu sehr verlieren, irgendwo muss da die Grenze sein.“

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung) Zu V1: Zur Vignette kommentiert sie, es gebe eine neue Regel in der Klasse: Wenn jemand dran sei, müssten alle anderen Finger nach unten gehen. Der Grund hierfür liege in der Vermeidung von Stress, Druck und Gedränge. „Es drängelt eigentlich das Außenrum. Statt nachzudenken über das Thema, denkt sie die ganze Zeit, wer meldet sich… Deshalb: Das gibt es bei mir nicht mehr. […] Damit, wer dran ist, der weiß, er kann ganz entspannt sein.“ (3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit, Meinung) Frau Wieland betont, sie empfinde diese Unterrichtsbetrachtung als sehr wichtig und gut. Zum Konzept sagt sie, endlich würden für sie Dinge benannt, die sie intuitiv immer gespürt habe.

Interview I und II Herr Buber Ort/Datum: Frankfurt am Main, 24.06.2016 und 20.09.2017 Anwesende Personen: Herr Buber (Bereich: Hauptschule) und Forscherin (bei Interview I noch eine andere Forscherin) (1) Atmosphärenbeispiele Generelles Sprache und Kleidung/Erscheinungsbild: Herr Buber zeigt unter anderem über die Wörter Emotionen. Ihm sei wichtig, dass die Wörter ausdrückten, was er an Emotionen zeigen wolle. Er verwende deshalb oft starke Wörter (z.B.: „verarschen“, „abfucken“; statt „ein schlechtes Gefühl“ sage er „ein scheiß Gefühl“; statt „ich bin sauer“; „ich bin abgefuckt und angepisst“; statt „es nervt mich“, „es geht mir auf den Sack“, „es geht mir auf den Zeiger“). Die Schülerinnen und Schüler wüssten hierbei, dass sie die Wörter in manchen Situationen nicht verwenden dürften. Er autonomisiere sie damit im Hinblick auf die Wirkung der Wörter, mache sie unabhängiger, verschaffe ihnen ein „Selbstständigkeitsgefühl“. Selbiges geschehe auch mit der Kleidung: Er spreche die Schülerinnen und Schüler darauf an, dass sie in manchen Situationen auf diese, in anderen auf andere Art wirken müssten. Beispielsweise sage er ihnen: „Wenn du so rumläufst, denken manche, du bist ein Assi.“ Auch passe er sich mit der Sprache

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den Schülerinnen und Schülern an, um mit ihnen auf einer Ebene zu sein, um lustig zu sein, und lerne hierbei von ihnen die neuesten Sprachtrends. „Papierhandtuchspender“ und „Quadratmeter“: Im Klassenraum hängt ein Papierhandtuchspender. Herr Buber erzählt dazu, er haben dem Spender eine Wirkung verliehen, indem er den Schülerinnen und Schülern eine Geschichte dazu erzählt habe. In dieser Geschichte beschreibe er ihnen, wie er einmal in den Ferien in einer Fabrik gearbeitet habe, in der diese Tuchspender hergestellt würden. Es sei für ihn eine schlimme Arbeit gewesen, wobei er betont: „Und ich schäme mich ein bisschen zu sagen, dass ich es als schlimm empfinde. Weil es waren so viele Menschen da, die haben sich nicht beschwert.“ Viele hätten dort keinen Schulabschluss gehabt. Dort habe er eine Frau getroffen, ohne Ausbildung und eben auch ohne Schulabschluss (Sie habe zu ihm gesagt: „Scheiß Schule, ich hatte keinen Bock da drauf. Ich habe nach der Achten abgebrochen.“). Der Vertrag der Frau sei befristet und ihr sei bereits gekündigt worden. Sie habe sich deshalb auf eine Stelle als Putzkraft in einem Krankenhaus beworben. Für die Toiletten, fügt Herr Buber dazu, und: „Sie hat sich ganz sehnlich gewünscht, dass sie diesen Job bekommt und die Toiletten putzen darf.“ Mit dieser Geschichte verfolge er nun die Absicht, „Existenzängste“ bei den Heranwachsenden zu erzeugen: „Das ist für sie [für die Schülerinnen und Schüler] so emotional auf dieser Ebene verbunden, mit diesem Spender. Wenn sie den sehen, sehen sie ‚Okay, wenn ich jetzt alles abbreche und keinen Bock mehr habe, dann muss ich irgendwie hoffen, dass ich Toiletten putzen darf.‘“ Vor kurzem sei er sogar extra noch einmal zur Fabrik gefahren, erzählt Herr Buber, und habe ein Foto gemacht, das er nun neben den Papierspender im Klassenraum gehängt habe. Auch die graue Farbe der Fabrikhalle habe Herr Buber ihnen beschrieben, die Monotonie (seitdem würden sie das Wort „monoton“ kennen und benutzen): „Es war eine Halle, ganz grau. Auch die Maschinen waren grau, es war alles grau. Es war keine Farbe. Und die Arbeit war so monoton. […] Es war so monoton, es war acht Stunden am Stück immer derselbe Prozess. Aber immer nur fünf Sekunden und dann wieder und wieder und wieder. Und das hat mich so unglücklich gemacht […].“ Daher erzähle er seiner Klasse auch, dass man sich seinen Lebensraum kreativ gestalten müsse, so, dass man sich darin wohlfühle – „Weil das irgendwie[, das] kann einen glücklich machen.“ Auch seine Schülerinnen und Schüler würden nun sagen, man müsse kreativ sein, es sei bei ihnen angekommen. Ähnliche Absichten wie mit dem Papiertuchspender verfolge er mit dem Malen eines Quadratmeters an die Tafel. Die Schülerinnen und Schüler müssten erraten, dass es sich hierbei um Wohnraum handle. Manche würden zu viert auf einem Zimmer leben, kein eigenes Zimmer besitzen. Und dann sage er: „Genau deswegen geht ihr hier [gemeint ist die Schule] hin und je ernster ihr das nehmt, je mehr ihr hier rein investiert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr euch später mehr Wohnraum leisten könnt.“ Und weiter sage er: „Und immer dann, wenn ihr euch […] schlecht fühlt, guckt ihr an diese Tafel, der Witz wird gleich weggewischt, wenn ich weggehe. Aber ihr seht dieses Quadrat jetzt immer da. Ihr werdet [es] sehen.“ Und das sage er „mit einer Leidenschaft, wo ich dann glaube, dass sich das dann einbrennt.“ T-Shirts: Herr Buber designt teilweise seine eigenen T-Shirts für den Unterricht. Eines dieser T-Shirts zeige einen Totenkopf mit der Aufschrift „Hauptschule“ darunter. Damit wolle er zum einen provozieren und zum anderen stecke die Idee dahinter, Hauptschule “kultiger“ – in diesem Fall in Anlehnung an den Kult von St. Pauli (Hamburg) mit dem Logo eines Totenkopfes – erscheinen zu lassen: „Es gibt Kinder, auch jetzt in meiner Klasse, die haben geweint, weil sie in die Klasse kamen, weil sie in die Hauptschule kamen. Kinder sind unglücklich, Kinder werden gehänselt. Ich will es cool machen, ich will die Hauptschule cool machen. Und ich spiele mit den Vorurteilen ‚Hauptschüler sind dumme [unverständlich]‘, ich sage dann: ‚Es stimmt doch gar nicht.‘ Die sind doch nicht nur irgendwie Puppen. […] Da habe ich gesagt: ‚Okay, ich kopiere diesen Kult von Sankt Pauli. Ich mache einen Totenkopf und dann ‚Hauptschule‘. Und dieses T-Shirt kommt so gut an, gerade bei Leuten, die total so stocksteif sind: ‚Oh, das ist ja cool.‘“ Nicht nur durch T-Shirts, sondern auch durch Worte lässt er die Hauptschule damit in einem anderen Licht erscheinen, versuche er dem allgemein vorherrschenden Hauptschuldenken entgegenzuwirken. Herr Buber erzählt von einem Kollegen, der gesagt habe: „Bloß nicht in die Hauptschule, weil dann haben sie ja verloren.“ Dem habe er „ganz selbstbewusst“ entgegen gesetzt: „Wenn sie zu mir kommen, dann wird was aus ihnen.“

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Ein anderes T-Shirt, das er trägt, zeigt das Logo einer Eishockeymannschaft: „Tigers“. Das T-Shirt fungiere zum einen als Symbol für Stärke, als gleichzeitiges Klassensymbol erzeuge es ein Gemeinschaftsgefühl und darüber hinaus sei die Sportmannschaft angesagt, wodurch eine entsprechende positive Wirkung erzeugt würde. Soundbox: Des Öfteren lasse er zum Beispiel vor Beginn der ersten Stunde die Tür des Klassenraums offen, sodass von innen heraus die Musik seiner Soundbox nach außen klingen könne. Auf dieser Soundbox habe er stets die aktuell angesagte Musik. Er erzeuge damit eine besondere Atmosphäre: Man würde regelrecht in den Raum hineingezogen. Herr Buber habe nicht nur das Gefühl, dass seine Schülerinnen und Schüler deswegen absichtlich schon früher kämen, dass es ihnen gefalle, auch fremde Schülerinnen und Schüler kämen vorbei. Am Ende lasse er die Musik noch einmal laufen. Die Schülerinnen und Schüler hätten ihn nach dem Warum gefragt und er habe geantwortet, dass Musik anziehend sei. Und wenn etwas schön sei, dann betrete man gerne einen solchen Raum. Um die Atmosphären aufzuwerten, erklärt er. Es mache vieles schöner und würde auch das allgemeine Stimmengewirr in der Schule übertönen. Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler: Herr Buber arbeite mit den Schülerinnen und Schülern zusammen an deren Wahrnehmung, daran, ihre eigene Wahrnehmung zu reflektieren und auch die der anderen zu sehen. Sie dürften immer einen Tagesbericht schreiben, in dem es um ihre Gefühle und Empfindungen, um eigene Sichtweise gehe: „Wie fühlst du dich auf dem Schulweg? Wie, wenn du die Schule betrittst (wie fühlt sich das an und warum?), wenn du den Raum betrittst (auch den Lehrer wahrnehmen, ´Wie geht´s dem, wie ist der drauf?´)? Wie wirkt die Klasse generell auf dich? Wie empfindest du den Unterricht? Bist du gelangweilt etc., was fühlst du? Wie ist die Stimmung?“ Zur Hilfe gebe er ihnen hierbei eine große Auswahl an Adjektiven. Aufsicht in der Cafeteria: Während seiner Aufsicht in der Cafeteria hat Herr Buber den Anspruch, überall und zu jederzeit wahrgenommen zu werden, berichtet er. Darüber hinaus inszeniere er diese Zeit regelrecht: Er bringe eigene „Securities“ aus seiner Klasse mit, baue „Stuhlbarrikaden“ auf und versuche, Humor mit hineinzubringen: „Du bringst mir ein Bigmacmenü mit“, sage er dann beispielsweise belustigt zu den Schülerinnen und Schülern. Auch in Richtung der Schülerinnen und Schüler arbeite Herr Buber mit Atmosphären: Beispielsweise spreche er mit ihnen über emotionale Manipulation durch Versicherungen oder Werbeplakate. Klassenzimmergestaltung Hinter Herrn Bubers Klassenzimmergestaltung steht ein von ihm bewusst ausgearbeitetes Gesamtkonzept. Vieles davon gebe er selbst vor – er müsse den Schülerinnen und Schülern erst einmal etwas geben, damit sie dann selbst damit weitermachen könnten, sagt er. Beispielsweise habe er die Stärken zu den T-I-G-E-R-S-Buchstaben, die an der Wand hingen, selbst vorgegeben und seine Schülerinnen und Schüler würden nun dazu Tagebucheinträge oder Geschichten schreiben, Filme drehen, Bilder malen oder andere kreative Dinge tun. Hierzu erklärt Herr Buber: „Sie sollen diese Stärken am besten irgendwie mit allen Sinnen wahrnehmen“ – deshalb die Vielfalt an Weiterverarbeitungsmöglichkeiten. Auf diese Stärken nehme er dann oft Bezug und mache sie für die Schülerinnen und Schülern bedeutsam. Das aktuelle Motto seiner Raumgestaltung sei „Stark wie ein Tiger“ (zuvor seien es Wölfe gewesen). Wichtig sei ihm, alles im Raum zu verknüpfen, eine Gesamtwirkung zu erzeugen, weshalb auch nicht jede Lehrperson, die in diesem Raum möglicherweise unterrichte, einfach etwas aufhängen dürfe, sondern ihn vorher fragen müsse. „Es darf nicht gestört werden“, sagt er. Oft würde etwas aufgehängt, dass nicht zur Gesamtgestaltung passe, Dinge, die keine Bedeutung hätten – sie hätten sein Konzept nicht durchdrungen, sagt er, „und das halte ich schlecht aus, weil ich so das Gefühl habe, die Atmosphäre wird dadurch gestört und auch so der rote Faden und der Zusammenhang.“ Einmal hätte eine Lehrerin einen Blumentopf mit einer Pflanze darin aufgestellt, diese hätte jedoch gepasst: Im Raum sei vieles in den Farben orange und schwarz gestaltet und der Topf habe eine orangene Farbe gehabt – orange wie der Tiger. Und die Pflanze: „Der Tiger ist auch im Dschungel“, fügt Herr Buber hinzu.

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Als Vorbild hätten ihm die Chicago Bulls und auch wieder Wrestling gedient: Teambildung/-geist, Einzugsmelodien, Symbole und Logos – damals noch mit der Abbildung eines Wolfes darauf. Das Tolle dabei sei diese Gemeinsamkeit, sagt Herr Buber, dieses „gemeinsam stark zu sein“. Ein tolles Vorbild und übertragen auf den Unterricht: Ein „tolles pädagogisches Konzept“. Es sei eine Art Gruppierung, die hierbei im Sport entstehe und was er auf den Unterricht übertrage. Und: Jede/r wolle zu einer Gruppierung dazu gehören, man würde sich damit identifizieren. Seinen Schülerinnen und Schülern hätte er sein gesamtes Konzept erklärt und verraten, was er damit vorhabe. Beispielsweise wisse seine Klasse, dass der Tiger für Stärke stehe, für ein gemeinsames „Wirsind-stark-Gefühl“. Überall im Klassenraum (auch im virtuellen Raum) fänden sich diese Symbole und Aufschriften. „Stark wie ein Tiger.“, überall und immer wieder tauche das auf (Wanddekoration, Geburtstagskarten etc.). Es gebe sogar eine „Tigermama“ – die Sozialpädagogin der Klasse. Des Weiteren ist es Herrn Buber wichtig, für die Schülerinnen und Schüler eine Art „Nest“ zu bauen. Am liebsten wäre ihm ein allgemeingültiges Konzept, bei dem Lehrende, bevor sie eine Klasse übernähmen, Hausbesuche vornehmen würden. Es seien viele Problematiken zu Hause verankert, sagt Herr Buber. Er selbst habe einige Hausbesuche vorgenommen und gesehen: „Das ist kein warmes Nest gewesen.“ Herr Buber erzählt von einem Projekt, das er einmal mit seinen Schülerinnen und Schülern durchgeführt habe: „Gute Orte – Schlechte Orte“, lautete das Thema. Die Lernenden sollten hierfür Fotos machen: Welche seien für sie gute, welche schlechte Orte. Herr Buber berichtet zu den Ergebnissen: „Und es war ganz wenig das Zuhause. Wenn überhaupt war es ein Bild vom Fernseher. Und was sie aber alle hatten, war das Foto von der Klasse. Und das war schön.“ Man sähe daran, dass der Klassenraum für die Schülerinnen und Schüler sehr wichtig sei. Dies unterstreicht er auch noch einmal mit einer anderen Geschichte: Einmal hätte eine andere Klasse darin Unterricht gehabt – Herr Buber bezeichnet diese Klasse als „konzeptlos“, sie hätten „wenig Liebe bekommen, wenig Wertschätzung, wenig Aufmerksamkeit“. Möglicherweise aus Eifersucht und vielleicht Wut, denkt Herr Buber, hätten sie im Raum alles zerstört und vollgekritzelt: Zum Beispiel hätten sie einen selbstgebastelten Adventskalender der „Tigermama“, das ein Geschenk für die Schülerinnen und Schüler gewesen sei, kaputt gemacht. Herr Buber erzählt, er sei außer sich gewesen. Auch die Klasse sei wütend gewesen, berichtet er: „Und ich habe auch gemerkt, wie wichtig ihnen der Raum ist. Die Klasse, die waren so sauer. Und die haben direkt sich Putzsachen geholt, während ich, ich war so sauer, ich war irgendwie handlungsunfähig.“ Die Schülerinnen und Schüler hätten dann alles, was kaputt war, entfernt und den Raum wieder hergerichtet, ohne dass er nur irgendetwas dazu habe sagen müssen. Um die Bedeutsamkeit des Klassenraums für die Schülerinnen und Schüler zu respektieren, sagt Herr Buber, müssten andere Lehrpersonen, die den Raum gerne leihen würden, zunächst seine Klasse fragen. Einmal hätten seine Schülerinnen und Schüler darauf geantwortet: „Nein, das ist unser Raum. Unser Zuhause.“ Und: „Nein, […] das ist unser Raum, was haben die mit unserem Raum zu tun? Die sollen in ihren Raum gehen!“ Er habe versucht, sie zu überzeugen: „Guckt doch mal, was das für eine Wertschätzung ist […]“. Erst nach langer Überzeugungsarbeit hätten sie dann doch eingewilligt. Viele Lehrende, erzählt Herr Buber, würden nun sowieso nicht mehr in diesem Raum unterrichten wollen, da sie nun wüssten, am Ende müsse alles sauber sein, die Stühle hochgestellt, die Tafel gewischt und alles wieder am rechten Platz stehen. Einmal hätte eine Lehrerin das alles nicht erkannt und er habe sich dabei gefragt: „Wo ist da der pädagogische Blick, die pädagogische Wahrnehmung?“ Die Bedeutsamkeit einer positiven Raumwirkung beziehungsweise die Auswirkung einer negativen auf die Klasse unterstreicht Herr Buber durch eine andere Geschichte: Er habe eine andere Klasse von einem Kollegen übernommen, deren Klassenraum keine positive Wirkung gehabt hätte: „Ich weiß noch, wie ich da reinkam und ich hätte fast geheult. Ich wäre am liebsten wieder raus. Die Fenster waren voller Dreck. […] Also überall mit Edding auf den Tischen: ‚Fotze‘, ‚Schlampe‘. Auf dem Boden, der Boden war zugemüllt. Halbe Saftflaschen auf dem Boden. Der Schrank, da war Müll drin. Da war ein Bügeleisen drin. Ich weiß nicht, was noch alles. Unter dem Lehrerpult waren Sachen drin. Fotos von vor drei Jahren, die nicht zurückgeschickt wurden an diesen Fotoversand. Und die Schüler dieses Lehrers, die habe ich später auch unterrichtet und ich habe das gemerkt. Das habe ich gemerkt. [Forscherin: Was hast du da gemerkt?] Ich habe gemerkt, dass die Schüler irgendwie so emotional verwahrlost waren. Und dass die auch keine Wertschätzung für die Schule hatten. Das war ihnen alles egal.“

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Beziehungsebene/Zwischenmenschliches Auf eine Ebene kommen: Um auf eine Beziehungsebene mit den Schülerinnen und Schülern zu kommen, versuche er zunächst einmal zu provozieren, sagt Herr Buber, Leute zum Lachen zu bringen. Er erzählt, dass er beispielsweise zu fremden Schülerinnen und Schülerin sage: „Hallo Fans.“ Dann gehe er an ihnen vorbei: „Tut mir leid, aber sind keine Autogrammkarten mehr da. Selfie können wir gerne machen, aber…“ Die Schülerinnen und Schüler würden lachend zu ihm sagen: „Oh, Sie sind so eingebildet.“ Der Kontakt sei somit hergestellt. Inzwischen seien sie wirklich sein Fanclub, schmunzelt er. Stärken: Herr Buber erzählt, seine Intention, sein Ziel, sei immer, Kinder zu stärken. Sie ein Stück stärker aus dem Raum rausgehen zu lassen, als sie ihn betreten haben. Mit einem guten Gefühl den Raum zu verlassen. „Ja und jetzt, wenn das so stressig ist oder wenn ich mich so unprofessionell verhalte, dann merke ich auch, dass das überhaupt nicht funktioniert. Da muss ich nochmal zwei, drei Gänge zurückschalten, und ähm… weil das überträgt sich total auf die Kinder. Also ich mach´, ich sag auch gerne am Unterrichtsende, ähm, ‚denkt an eure Stärke‘ oder wir reflektieren ‚Was war heute euer Highlight?‘ oder ‚Was war die Woche –?‘“ Und dann sage er zu ihnen: „So, und wenn ihr aus dem Raum rausgeht und auch nochmal, wenn ihr aus der Schule rausgeht, denkt ihr ganz fest, so fest ihr könnt, an dieses Highlight. Und wenn ihr morgen wiederkommt, wenn ihr die Schule betretet und den Klassenraum, dann denkt ihr wieder an das Highlight.“ Persönliche Ebene schaffen: Jedes Kind bekomme bei ihm Obst, das er selbst geschnitten habe. Dies sei ihm wichtig, denn die Kinder würden dabei spüren: „Ich habe [es] für euch bearbeitet.“ Das sei persönlicher, sagt er. Gemeinsames Tun: Herr Buber erzählt, er unternehme viele gemeinsame Aktionen zusammen mit seiner Klasse: Bewegungsaktionen, zusammen einkaufen gehen, Tisch decken und gestalten, zusammen essen und kochen. „Da geht dann jeder raus und sagt, das war ein schöner Tag.“ Beziehungsarbeit, Unterricht als familiärer Halt: • •



Eine Schülerin habe ihm geschrieben: „Ich fühle mich bei ihnen wohler als zu Hause.“ Herr Buber sagt, er wisse, dass seine Schülerinnen und Schüler bei ihren Eltern nicht erführen, was sie fürs Leben brauchten. Er beschreibt deren Umfeld, manche habe er zu Hause besucht: Teilweise lebten sie wie in Höhlen, rieche es nicht gut. Ein Schüler habe beispielsweise zusammen mit seiner Mutter im Obdachlosenheim gelebt. Es sei ein sehr intelligenter Schüler gewesen, deswegen habe er ihn Stück für Stück gefördert, sodass er am Ende einen Abschluss mit der Note 1,1 machen konnte. Herr Buber habe ihm die Beziehung gegeben, die er von seiner Mutter nicht bekommen konnte, ihn unterstützt, wo er konnte, ihm zu einem Praktikumsplatz verholfen. Bei der Zeugnisverleihung habe Herr Buber gewollt, dass seine Note besonders hervorgehoben würde, „weil das macht was mit einem!“. Herr Buber erzählt von einer Schülerin: Zwischen ihr und ihm gebe es oft Streit, sie würden dann aber darüber sprechen und „irgendwie mögen wir uns trotzdem total“. [Anmerkung der Forscherin: Eine Beziehung, die über den Moment hinausgeht, die bestätigt ist.]

Wertschätzung und Anerkennung: Herr Buber berichtet davon, dass jede Schülerin und jeder Schüler seiner Klasse zum Geburtstag ein Namensplakat bekäme und eine von ihm selbst gestaltete Geburtstagskarte. Auf letztgenannter sei das Logo des Tigers abgebildet sowie die Aufschrift „[Name des Schülers/der Schülerin] ist stark wie ein Tiger, Happy Birthday!“ und darin stehe dann etwas ganz Persönliches. Das Namensplakat sei laminiert und darauf stehe zu jedem Buchstaben des Namens der Schülerin oder des Schülers eine positive Eigenschaft. Er habe hierbei nie gelogen und immer gemeint, was er geschrieben hätte. Herr Buber erzählt dazu: „Die [Schülerinnen und Schüler] freuen sich, und ich mache das auch ganz wertschätzend, also [der Schüler] kommt dann nach vorne und ich erkläre auch warum. Und ich finde dann auch konkrete Beispiele, woran ich das festmache.“ Ein paar Schüler seiner vorigen Klassen hätten ihm später erzählt, sie hätten die Karten noch alle in ihrem Zimmer hängen. „Es ist ihnen […] ganz wichtig“, sagt Herr Buber. Er mache das, weil er aus einer Situation heraus gemerkt habe,

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welche „Macht“ dies habe. Deswegen würde er nun auch außerhalb von Geburtstagen etwas Ähnliches machen: Er teile Zettel aus, die Schülerinnen und Schüler beschrifteten die Zettel mit ihren Namen, und jede und jeder würde sich dann gegenseitig ein Lob auf das Blatt schreiben. Ein ehrliches, fügt Herr Buber hinzu. Er erzählt: „Und nach dem ersten Mal spüren sie es selber, dass es schön ist jemanden zu loben. Weil, wenn man jemanden lobt, dann ist man ja auch jemand. Weil jemand, der lobt, der ist auch jemand, der was kann. […] Und die lieben das, da rumzulaufen und draufzuschreiben. Und der schönste Moment für mich ist, man muss sie dann echt zurückhalten und sagen ‚Okay jetzt dürft ihr‘. Der Moment, wo sie dann zu ihrem Platz wieder gehen und der Moment, wo sie das Blatt anheben und ihre Augen darauf richten. Und dann haben sie Glanz in den Augen. Und das ist wunderschön, dieser Moment. Da ist dann absolutes Schweigen im Raum.“ Eine Schülerin aus einer anderen Klasse, die nie von ihrer Lehrerin gelobt werde, habe das auch einmal mitmachen dürfen. Später habe sie ihm dann in einem Brief geschrieben, das sei der schönste Moment für sie gewesen, den sie jemals in der Schule gehabt hätte. Sie sei so dankbar gewesen, erzählt Herr Buber. „Ein Zettel voller Lob.“ Und dann habe sie ihm eine Karte gebastelt, auf die sie „Danke“ in über fünfzig Sprachen in jeweils einer anderen Farbe geschrieben habe. Herr Buber sagt: „Und da habe ich auch noch mal gespürt, wie wichtig es ist, wertzuschätzen und zu loben.“ Das Lob müsse jedoch echt sein, authentisch sein. Davon könne es dann, auch seitens der Lehrperson, nie genug geben. Eigene Wirkung: Zur eigenen Wirkung berichtet er davon, dass es in seiner Klasse immer Schülerinnen oder Schüler gebe, die glauben würden, dass er sie nicht möge. Zum Beispiel wenn er streng sei. Aber sie würden es ihm dann direkt sagen. Sie hätten das Gefühl, er wolle sie ärgern oder könne sie gerade nicht leiden. Er greife das dann auf und gebe manchmal sogar zu, dass seine Reaktion vielleicht nicht richtig war und erkläre ihnen: „Ich fühle mich manchmal hilflos. Ich will unbedingt, dass ihr erfolgreich seid, und ich merke, ich schaffe es nicht. Und dann bin ich hilflos. Und dann bin ich wie so ein Tier, das angefallen ist. Und dann mache ich irgendwelche Sachen so unkontrolliert und ich schreie. Einfach weil ich hilflos bin. Weil ich nicht weiß, wie ich euch da gerade helfen kann, oder so.“ Dann würden sie verstehen. Fehlerfreundlichkeit Manchmal sage er: „Alles, was ihr falsch macht, ist super! Ich finde das klasse, wenn ihr Fehler macht. Ihr sollt Fehler machen. Ich will euch jeden Fehler, den ihr habt, will ich euch zeigen.“ [Ergänzung und Anmerkung durch die Unterrichtsbeobachtung: Manchmal sagt Herr Buber auch: „Das ist falsch.“ Da er es ist, der das sagt, erzeugt er damit keine negative Atmosphäre.]

(2) Kommentierung der Vignette(n) (Kommunikative Validierung) Zu V2: Herr Buber stimmt mit der Wahrnehmung der Forscherin überein. Zu V4: Herr Buber ergänzt, dass er bei diesem Schüler nie ganz offen sein könne, dass die Beziehung zu ihm teilweise sehr schwierig sei. Immer habe Herr Buber beispielsweise Angst, etwas Falsches zu sagen, müsse mit seiner Wortwahl bei ihm sehr aufpassen. Zu V7: Herr Buber ergänzt, er versuche bei dieser Blitzlichtrunde die einzelnen Schülerinnen und Schüler aufzuwerten, möchte etwas Positives zu ihnen sagen. Ganz bewusst versuche er, etwas bei ihnen „rauszuholen“. Sage ein Schüler ausschließlich „Mir geht´s gut, ich gebe weiter.“, finde er das schwierig, da er dann nicht weiter bei ihm andocken könne. Zu V8: Herr Buber stimmt mit den Wahrnehmungen der Forscherin überein. Er ergänzt und beschreibt des Weiteren seine Wahrnehmung von sich selbst, als er den Videoausschnitt sieht: Er versuche, selbst Entertainer zu sein. Seine eigene Bewegung, das ständige Hin-und-Herlaufen, empfinde er als unangenehm: „Ich bewege mich wirklich ganz, ganz viel, ich halte das nicht aus. Dieses Rumgehampel macht mich nervös.“ Als Schüler, sagt er, hätte ihn so ein Lehrer äußerst nervös gemacht. „Der Typ ist total on fire, […] der soll mal herunterkommen“, hätte er gedacht. Zum Foto an sich beziehungsweise zur starken Wirkung, die plötzlich von ihm ausgeht und mit der er den Charakter der Atmosphäre verändert, erklärt

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er, das Foto habe für ihn eine persönliche Bedeutung. Deshalb seien die von ihm ausgehenden Emotionen so stark spürbar. Weiter kommentiert er: „Ich wollte, dass die Atmosphäre ganz ernst ist, dass sie es ernst betrachten.“ Die Forscherin äußert des Weiteren ihre Wahrnehmung, die Schülerinnen und Schüler würden bei ihm im Unterricht sehr leise, zugleich jedoch auch sehr intensiv sprechen. Nicht aus Angst vor Fehlern zum Beispiel, vielmehr scheine es für sie so, als habe die Situation etwas Feierliches. Herr Buber sagt, das sei ihm jetzt auch gerade aufgefallen. Einer der Schüler würde sonst sehr viel und sehr laut sprechen, in der Klasse jedoch sei seine Sprache leise, langsam und vorsichtig. Er sei sich auch ziemlich sicher, dass es sich hierbei nicht um Angstgefühle oder Unsicherheit handle, wolle jedoch trotzdem mit dem Schüler darüber sprechen. Zu V12: Herr Buber stimmt mit der Wahrnehmung der Forscherin überein. Er fügt hinzu, eine solche Wahrnehmungsrunde schaffe ein Gemeinschaftsgefühl. Ein Gefühl, zusammen auf der Bühne zu stehen. Ein Wir-Gefühl, Einheit, ein Teamgefühl. Dies sei ihm wichtig, denn das Gegenteil, wenn sich keiner leiden könne, sei sonst kontraproduktiv. Er möchte das Gefühl erzeugen „Wir gehen füreinander durchs Feuer“, „Wir kämpfen füreinander“. Herr Buber kommentiert die Szene weiter. Zum Handzeichen (Stillezeichen) sagt er zunächst: „Also es ist irgendwie – das bedeutet mir ganz, ganz viel, da zu stehen. Und ich achte auch in der Regel [darauf], dass ich jeden dabei anschaue, also dass mein Blick rundgeht und ich jeden einmal angeschaut habe. Mache ich nicht immer, aber manchmal.“ Die Wahrnehmungsrunden mache er jedoch täglich. Als ähnliche Methode nennt er die „5-Finger-Methode“. Einmal ermahne er eine Schülerin deswegen, sich richtig hinzusetzen, weil das eine Wirkung habe: „Das ist hier Arbeit, also es ist nicht chillen“. Zu V16: Herr Buber ergänzt die Vignette beziehungsweise die Hintergründe dazu. Er erzählt, er habe dem stotternden Jungen angeboten, einen Vortrag vor zwei Klassen zu halten, und dieser habe sehr gerne eingewilligt. Zur Stärkung habe Herr Buber kurz davor zu ihm gesagt (und es auch so gemeint): „[…] wenn ich an Selbstbewusstsein denke, bist du mein Vorbild. Du bist mein Vorbild. Und zwar das beste, was ich mir vorstellen kann.“ Und das sei wahr. Er selbst sei bei Vorträgen immer stark nervös und denke dann darüber nach, wie Mehmet es mache. Und er sage zu ihm: „Mehmet, echt Wahnsinn. Also du weißt, dass du stotterst und du ziehst es trotzdem durch.“ Niemand würde sich über ihn lustig machen. „Niemand. Von Anfang an.“ Die Forscherin spricht ihn darauf an, dass er im Unterricht oft etwas tue (z.B. aus der Flasche trinken, Fenster öffnen, Blick schweifen lassen), und äußert ihre Meinung, dass er dadurch eine zu starke Fixierung/Fokussierung der Schülerinnen und Schüler, gerade beispielsweise des stotternden Jungen, umgehe. Herr Buber äußert sich dahingehend folgendermaßen: „Das mache ich auch bewusst, manchmal setze ich mich sogar ganz an den, auf die Fensterbank, so, wenn ich das Gefühl habe auch, die schauen zu sehr mich an, dann gucke ich sie gar nicht mehr an. Und wenn ich auf den Boden gucke, dann schauen sie dann auch automatisch die anderen im Raum an. Oder ich mache irgendwie so und sage – Und mach´ es zu allen.“ Herr Buber sagt jedoch auch, dass er viel Energie aufbringen müsse, um die Geduld der anderen aufrecht zu erhalten. Zwar würde keine/r lachen, jedoch wisse er, dass die anderen Schülerinnen und Schüler ohne seine Energie anfangen würden zu reden. Er halte deswegen stets auch den Kontakt zu den anderen, sehe es bewusst als seine Aufgabe an, die Verbindung zu den anderen nicht abrechen zu lassen. Das empfinde er jedoch auch als sehr anstrengend. Manche Lehrende säßen hinter dem Pult. Er möge das nicht, denn: „Das ist mir irgendwie, das ist mir irgendwie zu viel Distanz, das ist so, ich sitze hinter meiner Schutzmauer irgendwie und ich will ganz nah –. Ich gehe, wenn ich etwas erkläre und so, einem Schüler, so das ist mir ganz wichtig, dass du das jetzt verstehst, gehe ich ganz nah auf ihn zu und sag so, ja.“ Auf dem Tisch zu sitzen, das habe er bei einem anderen Lehrer gesehen und folgendermaßen empfunden: „Das schafft irgendwie so eine Lockerheit, das schafft auch so eine, auch so, der hat das im Griff, der ist ganz locker, der ist souverän, irgendwie so hat das auch mich gewirkt.“ Das mache er oft selbst.

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(3) Generelles zum Konzept (Nachvollziehbarkeit/Verständnis, Erwerbbarkeit und Meinung) Zur Erwerbbarkeit des atmosphärischen Vermögens: Herr Buber sieht zum einen die Möglichkeit, ein solches Vermögen zu erwerben („total lernbar“), da er es sich selbst auch in Teilen – über Erfahrung, Nachahmen und Beobachten – angeeignet und seine Wahrnehmung damit geschult habe. Aber er sehe auch nicht bei jeder und jedem die Möglichkeit. Sein Vorbild, seine Orientierung zur Gestaltung der Atmosphäre: Bei bekannten Entertainern wie Thomas Gottschalk („Was ist es, das sie zu Entertainern macht?“, frage er sich) oder auch beispielsweise bei der Bildzeitung, der Werbung oder bei der Inszenierung des Wrestlings würde er vieles analysieren im Hinblick auf deren bewusste emotionale Manipulation, die sie bei den Leuten erzeugten. Teilweise übertrage er diese Konzepte dann – positiv eingesetzt – auf den Unterricht. Beispielsweise bezüglich des Wrestlings: Eine Rede zu halten, die ankommt – und übertragen: die Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Erfolg sei beim Wrestling nicht nur mit den besten „Moves“ oder Techniken zu erreichen, sondern wichtiger sei das „Micwork“: Mit dem Mikrofon bringe man alle dazu, einen auszubuhen oder einem zuzujubeln, bringe man die Leute dazu, den Fernseher einzuschalten. „Catchphrases“, sagt Herr Buber. Hoher Wiedererkennungswert. Daran habe er sich immer wieder orientiert. Eine Art Show, um eine Menschenmenge emotional erreichen zu können. Übertragen auf den Unterricht berichtet er, es geschehe durch ein Nach-außen-Gehen, dadurch, dass man auch auf die Schülerinnen und Schüler zugehe, sich in deren Richtung bewege, durch Blickkontakt. Er selbst lege außerdem generell viele Emotionen rein, klinge bewusst nach außen, sagt er, offenbare sich, öffne sich (z.B. „Mir geht´s schlecht“ etc.) Er würde jedoch hierbei niemals unauthentisch. Zwar spiele er im Unterricht eine Rolle, jedoch eine „Rolle mit Herzblut“, eine Art professionalisiertes Selbst.

ii.

Transkript: Gespräch über die Atmosphäre in der Klasse und die Wirkung des Lehrers

Die im Folgenden beschriebene Situation wurde durch die Forscherin initiiert, indem der Lehrer gebeten wurde, mit den Schülerinnen und Schülern (7. Klasse, H) über die aktuelle Atmosphäre im Raum sowie seine eigene Wirkung zu sprechen. Nur die Forscherin und der Lehrer wussten Bescheid. Der Lehrer konnte die Fragen passend in seinen Unterricht platzieren, sodass die Schülerinnen und Schüler nicht darüber verwundert waren und die Antworten (auch dem Lehrer nach) als authentisch betrachtet werden können. Diese Szene stellt ein kommentiertes Transkript der Situation dar und findet hier aus zweierlei Gründen Erwähnung: Erstens spiegelt es wider, wie viel seitens der Schülerinnen und Schüler gespürt wird. Zweitens zeigt es auf, dass sich manch eigene Wahrnehmung nicht mit der Wahrnehmung anderer deckt. Herr Buber sitzt auf dem Pult. Er trägt ein T-Shirt mit einem Totenkopf und dem Aufdruck „Hauptschule“ darunter. Herr Buber: „Und jetzt würde ich gerne von euch wissen, weil irgendwie hab ich, spür ich, die Atmosphäre, die ist so…“ Mario: „Schlapp!“ Herr Buber: „Ja, so, niedergeschlagen, energielos…“ Leon: „Müde!“ Herr Buber: „So, wie nehmt ihr die Atmosphäre heute im Klassenraum wahr? Beschreibt mal. Ganz offen! Ganz offen. Wie nehmt ihr, wie nehmt ihr das heute wahr im Klassenraum. Emotional (zeigt auf das TIGERS-Bild), Emotionen.“ Einige Finger gehen nach oben. Nils: „Heute, also… ich glaub fast jeder ist müde oder hat keine Lust, vermute ich.“

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Herr Buber: „Du hast, was ist jetzt bei dir, du hast keine Lust? (zu allen:) Ist vollkommen in Ordnung! Seid bitte ehrlich.“ Nils: „Ich hab Bauchschmerzen und ich bin müde.“ Herr Buber: „Und die Themen auch bei dir, eher keine Lust, oder…“ Nils lacht. Herr Buber: „Du darfst ehrlich sein, Nils. Ist schon in Ordnung.“ Nils: „Also nein, war schon interessant.“ Herr Buber: „Aber du selber, dir ging´s heute nicht so gut, sozusagen. Nils bejaht. Abdul: „Ich bin müde. Ich glaub, viele aus der Klasse auch und dann haben viele nicht Lust zuzuhören, weil sie noch müde sind und dann lenken sie sich lieber mit was anderem ab.“ Herr Buber: „Ist das montags generell so bei dir, oder…?“ Alle: „Dienstags!“ Herr Buber: „Ja, aber ihr wisst, was ich mit Montag meine, ja. Heute, weil wir jetzt aus ´nem Woch– Ist das generell so nach einem Wochenende bei dir?“ Abdul: „Nein, nicht immer. Es kommt drauf an. Aber manchmal stehe ich auf und bin direkt happy, aber heute –“ Herr Buber: Wie hast du dich heute gefühlt im Klassenraum?“ Abdul (überlegt kurz): „Ich fühle mich immer wohl hier, aber… ich weiß nicht, heute bin ich müde.“ Herr Buber: „Aber du hast dich auch nicht richtig wohlgefühlt, ne.“ Abdul: „Es geht.“ Herr Buber: „Es geht. Cem, wie hast du dich heute gefühlt hier im Klassenraum. Und vielleicht auch wie es generell ist.“ Cem: „Also, montags bin ich meistens auch müde, aber nicht so wie heute, weil heute ich kam voll schwer aus dem Bett. Ich glaube, es liegt irgendwie daran, dass das Fenster offen ist, es ist so kalt.“ Herr Buber: „Dann machen wir zu.“ Einige Schüler lachen. Einer sagt: „Hier ist warm!“ Herr Buber macht das Fenster zu. Herr Buber: „Ok, und wie wirkt die Atmosphäre heute auf dich? Wie fühlt sich es für dich an?“ Cem: „So schlapp und heute [unverständlich] geschlafen, sage ich mal. Und, ja.“ Herr Buber: „Woran könnte das liegen?“ Cem: „Weil ich müde bin.“ Herr Buber: „Nur deswegen? Oder auch, weil´s zu schwer war oder weil es zu viel war.“ Cem: „Kann sein, [unverständlich], ich weiß nicht, ja.“ Herr Buber: „Ok. Lena.“ Lena: „Also…“ Herr Buber ermahnt kurz einen anderen Schüler, hält aber die Verbindung zu allen aufrecht.

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Lena: „Ich bin müde, deswegen… (anderer S. gähnt, darauf bezogen:) Yorin auch. Fast alle sind müde! Und wir können nicht gut mitarbeiten, weil wir nur ans Schlafen denken.“ Herr Buber: „Mhm.“ Lena: „Und, Kaffee. Ich hätte gerne ´nen Kaffee. Und… ist so kalt.“ Herr Buber: „Sag was.“ Lena: „Was denn?“ Herr Buber: „Wenn dir kalt ist. Sag was.“ Lena: „Soll ich sagen ‚mir ist kalt‘?“ Herr Buber: „Ja. Wie wirkt das auf dich heute, wie fühlt sich das an, heute Schüler der Klasse zu sein? Wie wirkt diese Stimmung auf dich?“ Lena: „Ähm, nicht so gut, aber heute [unverständlich] Wir waren leise, oder.“ Herr Buber: „Ok. Dennis.“ Dennis: „Ich bin müde, weil ich gestern Abend nicht schlafen konnte. Es liegt daran, dass ich zu viele [unverständlich] gegessen habe und da war einer, der war mit Kaffee und nach dem konnte ich dann nicht mehr einschlafen.“ Einige Schülerinnen und Schüler schmunzeln, Herr Buber auch. Herr Buber: „Deswegen bist du jetzt müde. Wie wirkt sich so das Klassengefühl auf dich aus? Wie hast du das heute empfunden?“ Dennis: „Alle sind müde…“ Herr Buber: „War das motivierend, demotivierend…“ Dennis: „Nein, demotivierend. Und draußen ist auch bewölkt, es regnet, es sieht nicht gut aus, draußen fühlt man sich nicht wohl… ja.“ Herr Buber: „Jonas.“ Jonas: „Ich bin auch müde. Bin später eingeschlafen als immer, um zwölf Uhr erst. Weil ich, glaub´ ich, ich bin am Montag erst so um zwölf Uhr erst aufgewacht […]. Ich bin müde, weil ich hatte nur sieben Stunden dann Schlaf. Ja… Ich brauch jetzt eigentlich so Ruhe und ja. Ja, ich [unverständlich], wenn jetzt jemand so Geräusche macht, macht mich irgendwie so aggressiv, aber ich will nicht so aggressiv sein (macht Gesagtes vor, alle lachen). Ich bin müde, aber melde mich, als ich mich immer melde, wenn ich nicht müde bin.“ Herr Buber: „Also hast du dich heute angestrengt, obwohl du müde bist, ja.“ Jonas: „Ja.“ Herr Buber: „Gut. Was mich noch interess- Mesut (meldet sich)!“ Es klingelt. Herr Buber: „Schenkt ihr mir noch fünf Minuten?“ Alle: „Ja!“ Herr Buber: „Wir gucken dann auch in der äh… in der sechsten Stunde, wir gucken dann in der sechsten Stunde noch eine Simpsons-Folge, passend zum kaufmännischen Beruf.“ Einige (erfreut): „Ja!!!“ Herr Buber zeigt auf Mesut. Mesut: „Also, ich bin auch müde. Also mir kommt es so vor, als wären alle irgendwie müde oder irgendwie vielleicht gelangweilt. Einige haben auch kein Bock. Sind abgefuckt. Ich bin auch sehr müde,

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bin gestern um halb elf schlafen gegangen (Herr Buber ermahnt eine Schülerin: „Anita, nein.“, ist sofort zurück bei Mesut). Bin gestern erst um halb elf schlafen gegangen, weil meine Brüder so lange wach geblieben sind und ich musste denen die ganze Zeit sagen, dass sie jetzt schlafen gehen sollen. [unverständlich] Deshalb konnte ich nicht schlafen.“ Herr Buber: „Was mich noch abschließend interessiert ist – ihr habt gesagt, ihr schenkt mir noch fünf Minuten, ja?“ Einige Schüler: „Ja.“ Herr Buber: „…wir gucken nachher ja auch noch ne Simpsons-Folge. Ähm – Wie habe ich heute auf euch gewirkt?“ Sofort gehen einige Finger nach oben. Herr Buber: „Was kam da heute an von mir? Habe ich euch unter Druck gesetzt? War ich irgendwie schlecht gelaunt, war ich irgendwie zu streng? Habe ich euch irgendwie zu sehr unter Druck gesetzt oder war ich nicht aufmerksam genug, oder wart ihr nervös durch mich oder aggressiv oder demotiviert? Was hat irgendwie so, was kam da bei euch an?“ Sarah: „Ich finde, Sie waren heute motiviert und irgendwie, sie waren aufmerksam, ich weiß nicht wie ich… aber Sie waren motiviert, finde ich.“ Herr Buber (spürt wohl, dass das möglicherweise keine offene Antwort war): „Ihr dürft, danke (zu Sarah), ihr dürft, ihr sollt (er streckt seinen Arm aus, Richtung Klasse) ehrlich sein, gerne auch kritisch. Ja? Nicht irgendwie, weil hier Kameras laufen, deswegen sollt ihr mich hier abfeiern, so wie das bei meiner Lebenszeitstunde war. Klar, da verkaufen wir uns. Oder wenn wir hier UBs214 haben. Aber jetzt, ganz ehrlich, ganz offen.“ Es gehen noch mehr Finger nach oben. Herr Buber: „Willst du noch was sagen, Sarah?“ Er streckt den Arm zu ihr hin. Sarah: „Nein.“ Herr Buber: „Ok, Marina.“ Marina: „Ähm, ich fand, Sie haben heute auf mich irgendwie auch müde gewirkt. Ich weiß nicht, ob Sie müde sind, aber es kam bei mir so an. Ähm, Sie haben ein bisschen [unverständlich] als sonst. Ich weiß nicht.“ Herr Buber: „Ja, ich bin müde, ich bin wie gesagt, musste ich heute um vier schon aufstehen, weil ich am Wochenende zu faul war. Ähm, Lena.“ (zeigt zu ihr) Lena: „Ich find´, Sie waren heute unmotivierter als an den anderen Tagen, da wo wir Sie hatten.“ Herr Buber: „Ich hab´ nicht so positiv irgendwie… kam ich an, oder?“ Lena (überlegt, kurze Pause, dann): „Mhm.“ Herr Buber: „Ich war nicht so… ich… warum hab´ ich nicht motiviert gewirkt? Hab´ ich nicht gelacht, oder…“ Lena: „Nein, es war so lustlos.“ Herr Buber: „Ok. Gut, danke. Marco.“ Marco: „[unverständlich] gestresst, oder stressig, genervt irgendwie so."

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UB = Abkürzung für Unterrichtsbesuch

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Herr Buber (überlegt kurz, hält Kontakt zu ihm, wartet auch, ob noch etwas kommt, dann): „Ja, ich war gestresst, auf jeden Fall. Ja?“ (ruft Jan auf) Jan: „Sie waren heute nicht so motiviert wie die anderen Tage im Unterricht. Sie haben anders gewirkt, also, kamen anders rüber.“ Herr Buber: „Mhm. Wahrscheinlich auch weil ich nicht so viel gelacht habe auch, weil ähm, das – da kann ich jetzt noch was zu sagen: Ich war heute sehr motiviert. Bin immer motiviert und hab´ auch richtig Lust mit euch zu arbeiten. Aber ich hab´ das Gefühl gehabt die ganze Zeit, ich tue euch gerade nicht gut (er schaut in die Runde). Oder ich langweile euch. Oder ich überfordere euch. Und deswegen hab´ ich mich die ganze Zeit auch so gestresst gefühlt, weil ich dachte, ok das – ich tu´ euch grad nicht gut. Und irgendwie ich sorg´ dafür, dass ihr irgendwie schlechte Laune habt, oder so. Habt ihr das, kam das auch so an, was ich grad gesagt hab´, bei euch?“ (Hände und Arme gehen von seiner Brust zur Klasse, hin und her) Schüler/innen: „Doch, bisschen.“ Herr Buber: „Will noch jemand was sagen? Wie ich heute auf euch gewirkt habe? Yonis, wie hab´ ich auf dich gewirkt heute.“ Yonis: „Ich weiß nicht… Ich fand, Sie war´n irgendwie zu ernst, Sie haben gar nicht gelacht.“ Herr Buber: „Ich mach´, wenn keine Kameras da sind, mach´ ich mehr Quatsch, ne?“ Herr Buber grinst. „Ja“ sagen die Schüler und lachen. Herr Buber: „Ok. Das wirkt sich, wirkt sich das auf die Klassenatmosphäre aus? Isses dadurch irgendwie zu angespannt?” Yonis bejaht dies. Herr Buber: „Ok. Abdullah, wie hab´ ich heute auf dich, auf euch gewirkt?“ Abdullah: „[unverständlich] Ich bin […] Ich weiß nicht, vielleicht liegt´s an Ihnen oder an mir selber oder–“ Herr Buber: „…am Wochenende.“ Abdullah: „Ich weiß nicht. [unverständlich]“ Herr Buber: „Hat, haben die Kameras irgendwas damit zu tun? Hatte, hat das irgend´nen Einfluss auf euch?“ Schüler verneinen (ein Schüler: „Ich bin dann richtig motiviert!“). Herr Buber: „Gut. Dann dürft ihr jetzt in die wohlverdiente Pause gehen, kommt bitte pünktlich zurück!“ Zusammenfassung: Die Schülerinnen und Schüler benennen den Charakter der Atmosphäre: schlapp, müde (Herr Buber: niedergeschlagen, energielos). Dann sprechen sie über ihr Empfinden, darüber wie sie sich fühlen (müde, Bauchschmerzen, kalt, geht nicht gut, keine Lust, vielleicht zu schwerer Unterrichtsstoff, gelangweilt), über Außenliegendes (draußen bewölkt, sieht nicht gut aus, fühlt man sich nicht wohl) und sie nehmen auch die anderen um sich herum wahr (alle sind müde oder irgendwie vielleicht gelangweilt, haben „keinen Bock“, sind „abgefuckt“). Die Schülerinnen und Schüler beschreiben dann die Wirkung des Lehrers auf sie: hat auf sie auch müde gewirkt (eine Schülerin differenziert: „Ich weiß nicht, ob Sie müde sind, aber es kam bei mir so an.“), heute unmotivierter als an anderen Tagen, lustlos, gestresst/genervt, nicht so motiviert wie sonst, „anders gewirkt“/„kamen anders rüber“, irgendwie zu ernst/nicht gelacht. Zwischen der Wirkung von Herrn Buber und der Klassenatmosphäre sehen sie einen Zusammenhang.

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Herr Buber spricht dann über seine Empfindung: Er habe sich gestresst gefühlt, weil er die ganze Zeit Gefühl hatte, den Schülerinnen und Schülern nicht gut zu tun oder sie zu langweilen, sie zu überfordern oder dafür zu sorgen, dass sie schlechte Laune hätten. Kommentierung: Die Atmosphäre wird hier in verschiedener Hinsicht beschrieben und differenziert betrachtet. Nach den Aussagen der Schülerinnen und Schüler wird deutlich: (1) Das eigene Empfinden spielt in Bezug auf die Atmosphärenwahrnehmung eine große Rolle. (2) Ebenso die nach außen gehende Wirkung der eigenen Person sowie der anderen (z.B. untereinander anstecken, eine Gestimmtheit überträgt sich). (3) Auch von außen können Dinge in die Atmosphärenerzeugung mithineinspielen (Beispiel Wetter). (4) Es wird auch deutlich, dass die Wirkung, die von jemandem ausgeht, nicht unbedingt identisch ist mit dem, was die Person in dem Moment tatsächlich empfindet (eine Schülerin erkennt diese Möglichkeit bereits): Herr Buber war tatsächlich sehr motiviert, auch wenn er unmotiviert wirkte. Wiederum waren viele Schülerinnen und Schüler einfach nur müde, weil sie wenig geschlafen hatten, und es war eben nicht so, wie Herr Buber wahrzunehmen glaubte, dass er ihnen nicht gut tue oder dafür sorgte, dass sie schlechte Laune hätten. (5) Ebenfalls wird deutlich, dass es, um Missverständnissen vorzubeugen beziehungsweise um manches erst zu erkennen (z.B. gegenseitige Wahrnehmung oder auch Kältegefühl), oftmals äußerst sinnvoll sein kann, zum Beispiel über die eigene Wirkung oder im Allgemeinen über die Atmosphäre zu sprechen.

iii.

Anwendung des atmosphärischen Vermögens auf eine außerschulische Situation

Um die Möglichkeit der Übertragung des Konzeptes auch auf den nichtschulischen Kontext noch einmal hervorzuheben, wird abschließend noch ein fiktives Konzertbeispiel aufgeführt im Hinblick auf das „spürende Handeln“ beziehungsweise das spürende Musizieren einer Musikerin. Ihre Handlungen unterliegen hierbei einem atmosphärischen Vermögen, mit dem sie eine dem Musikstück und der Situation entsprechende Atmosphäre erzeugt. Man sieht hierbei auch den Unterschied zum atmosphärischen Vermögen im Unterricht: Es sind beispielsweise andere Stimmungsqualitäten, die hier im Vordergrund stehen, eine andere innere Haltung, eine andere Art von Verhältnis zwischen Musizierender und Publikum. Bereits die Vorbereitung auf das Konzert enthält viel Atmosphärisches: Welche Stimmung soll transportiert werden? Auf welche Art wird der Konzertraum gestaltet? Welche Atmosphäre – auch seitens des Publikums – wird einen erwarten? Und das eigene Erscheinungsbild? Wie möchte man selbst auf der Bühne wirken? Die Musikerin betritt die Bühne, wirft einen kurzen Blick ins Publikum (kontaktieren) und setzt sich an den Flügel. Sie ist bereits in der Stimmung des Musikstücks, transportiert diese Stimmung schon vor dem Spielen nach außen ((zwischen)menschlich wirken). Kurz vor Beginn des Spielens ein kurzes Innehalten, ein Sich-Sammeln und Konzentrieren auf das, was man vortragen möchte ((zwischen)menschlich wirken). Das Publikum mit all seinen Gedanken und Stimmungen, mit denen sich die Leute im Konzertsaal versammelt haben, bemerkt die Anwesenheit der Musikerin. Vielleicht sind die Gedanken auch noch bei Dingen, die nach dem Konzert erledigt werden müssen, ein anderer schaut sich um, ob er jemanden im Publikum kennt, wieder ein anderer ist bereits voller freudiger Erwartung. Die Musikerin wartet, bis sie spürt, dass das Publikum bei ihr ist, sich auf sie konzentriert (reflektiert wahrnehmen). Es entsteht eine Stille – spannungsvoll, intensiv, geladen. Die Musikerin beginnt nun zu spielen, versucht ihre Musik nach außen zu tragen, hin zum Publikum (kontaktieren). Sie kann plötzlich spüren, wie sie die Menschen mit ihrer Musik ergreift, sie berührt (reflektiert wahrnehmen), dass sie ganz bei ihr sind, sich nun vollends auf sie und auf die Musik konzentrieren. Plötzlich ist kein Husten mehr zu vernehmen, es knistert (wahrnehmen), es kehrt eine spannungsgeladene Stille ein, in der auf einmal alle „gemeinsam atmen“, sich gegenseitig in der Stimmung anstecken und anstecken lassen (gemeinsam

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agieren und koordinieren). Eine Stille, die so stark ist, dass sie keine Geräusche zulässt. Sie spürt hierbei das Publikum als Ganzes (wahrnehmen). Es ist eine Verbindung der besonderen Art, eine wechselseitig stark spürbare Atmosphäre. Bei manchen Phrasen schließt sie kurz die Augen. Sie verliert sich in der Musik und die Musik verlebendigt sich in ihren sanften Bewegungen, verdichtet sich, intensiviert sich ((zwischen)menschlich wirken). Im Fernen hört die Musikerin eine Tür auf- und zu gehen. Sie intensiviert den Gedanken des Berührens, adressiert ihre Musik noch stärker Richtung Publikum und hält die Spannung damit über die Störung aufrecht (aufrechterhalten: Verbindung). Vielleicht ist die Atmosphäre so stark, dass sie nun auch die letzten Alltagsgedanken einsammelt, dass sie jede und jeden mitreißt. Die Atmosphäre erhält in dem Moment eine Form, sie wird räumlich spürbar, man kann in sie hineintreten, ohne sie zu zerstören. Das Spiel ist vorüber, die Musikerin wird die Spannung nach dem letzten Ton noch kurz halten, wird noch kurz in der Stimmung verharren (aufrechterhalten: Stimmung), bis sie sich schließlich mit dem Applaus durch das Publikum und durch ihre herabsinkenden Arme löst (verändern: Stimmung). Ein gemeinsames Aufatmen, Durchatmen, hörbare Freude (gemeinsam agieren und koordinieren.).