Gegenseitigkeit und Recht: Eine Studie zur Entstehung von Normen [1 ed.] 9783428505364, 9783428105366

Warum gibt es Normen, ein doch recht unwahrscheinliches Phänomen, mit dem sich Menschen zu etwas »verbinden« (wie Kant f

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Gegenseitigkeit und Recht: Eine Studie zur Entstehung von Normen [1 ed.]
 9783428505364, 9783428105366

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Steffen

Weseke · Gegenseitigkeit und Recht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 206

Gegenseitigkeit und Recht Eine Studie zur Entstehung von Normen

Von Steffen Wesche

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wesche, Steffen: Gegenseitigkeit und Recht : eine Studie zur Entstehung von Normen / Steffen Wesche. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 206) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10536-2

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10536-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Darwins Evolutions- und Selektionstheorie ist weit mehr als ein Ansatz der Biologie, wo sie mittlerweile konkurrenzlos ist. Sie entwickelt sich darüber hinaus zu einem bedeutenden Paradigma (mit dem etwas modischen Begriff) diverser Disziplinen: Psychologie, Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Moraltheorie, Anthropologie, Ethnologie, um nur einige zu nennen. Die Disziplinen werden dann gelegentlich mit dem Attribut „evolutionär" versehen. Aber „evolutionäre Rechtswissenschaft"? Ein so großer Wurf ist hier nicht angezielt, die Fragestellung begrenzter. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Disziplinen der Rechtstheorie, -Soziologie und -anthropologie. Ihr Ausgangspunkt ist ein Staunen: Warum gibt es Normen, ein doch eigentlich recht unwahrscheinliches Phänomen, mit dem sich Menschen zu etwas „verbinden" (wie Kant formulierte), das ihnen gelegentlich gar nicht recht ist? Die Arbeit gibt sich nicht damit zufrieden, den Ursprung von Normen bei Parlamentariern, Religionsstiftern oder Philosophen, bei sozialen Gruppen oder in der Tradition zu orten. Sie fragt mindestens einmal mehr „warum" und gelangt in die menschliche Gattungsgeschichte: Was leistet die Evolutionstheorie für die Erklärung der (Rechts-) Normentstehung? Wie wirkt sich das gattungsgeschichtliche Erbe auf das menschliche Verhalten allgemein aus, im besonderen auf Normverhalten und hier speziell auf Gegenseitigkeitsnormen und Recht? Und inwiefern läßt sich Normverhalten als besonderer Fall des sozialen, d.h. zwischen Artgenossen stattfindenden Verhaltens begreifen? Die Ursprünge von Normen zu klären erscheint als vordringliche Aufgabe rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung angesichts der Tatsache, daß das Leben der Menschen durch und durch von Normen regiert wird. Gruppen von Menschen, die sich spontan zusammenfinden, etwa um gemeinsam zu verreisen, werden binnen kurzem Normen besitzen, die regeln, wann Fenster geöffnet oder Pausen eingelegt werden. Solche Normen entstehen und vergehen ad hoc. Es gibt auch erstaunlich konstante Normen, obwohl sie nie schriftlich fixiert wurden. In Krankenhäusern hat der Chefarzt an die nachgeordneten Ärzte zu zahlen, wenn diese gewisse Leistungen an seine Privatpatienten erbringen, ohne daß diese Regelung jemals tarif- oder einzelvertraglich festgelegt wurde. Solche Normen zeigen besonders deutlich die Normbezogenheit des Menschen. Doch besonders interessant sind solche Normen, die die Menschheit seit Urzeiten begleiten

8

Vorwort

und zugleich wichtige Lebensbereiche regeln: Tötungs-, Lüge-, Diebstahls-, Inzestverbote, Achtungs- und Rücksichtnahmegebote, Goldene Regel und einige mehr. Warum gibt es sie? Die positivistische Antwort, der Gesetzgeber habe sie erlassen, ist bei ihnen abgeschnitten, zu altehrwürdig ist ihr Auftreten. Auch die Philosophen kommen als Urheber nicht in Frage. Sie beziehen sich in ihren Werken bereits auf solche Normen, deren Rechtfertigung, Differenzierung oder Verwerfung sie betreiben. Bleibt der Verweis auf die Gesellschaft, auf Gott oder Götter oder andere „letzte Gründe", mit dem sich jedoch diese Arbeit nicht zufrieden geben will. Sie versucht sowohl hinter die Positivierung von Normen als auch hinter ihre Abschiebung in die Metaphysik zurückzugehen. Hinsichtlich des Einflusses der Evolution auf menschliches Verhalten scheiden sich die Geister. Was für den einen selbstverständlich ist und dringender Rehabilitation bedarf, erscheint dem anderen als verfehlter Biologismus. Das Interesse an evolutionären Wurzeln menschlichen Verhaltens hat vor allem im englischsprachigen Ausland zur Gründung mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften geführt, etwa der „Human Behavior and Evolution Society" (HBES), der „European Sociobiological Society" (ESS) und der „Society for the Evolutionary Analysis in Law" (SEAL). 1 Daneben existieren einschlägige wissenschaftliche Zeitschriften englischer Sprache. 2 Das „Gruter Institute" in Kalifornien, eine von der deutschen Emigrantin Margaret Gruter ins Leben gerufene Institution, erforscht ebenfalls seit vielen Jahren das Recht aus der Sicht der Verhaltenswissenschaften. Amerikanische Richter bis hin zu höchsten Bundesrichtern unterziehen sich regelmäßigen Trainingskursen in evolutionärer Verhaltensbiologie. Die evolutionstheoretisch fundierte Analyse menschlichen Verhaltens in seiner ganzen Spannweite muß vor dem Hintergrund jüngerer und jüngster Forschung als eines der vielversprechendsten wissenschaftlichen Projekte der nächsten Jahrzehnte gelten. In Deutschland steckt die Behandlung des Themas jedoch noch in den Kinderschuhen. Zwar hat sich seit den siebziger Jahren die Disziplin der Rechtsanthropologie eher vorsichtig etabliert. Die evolutionäre Perspektive ist der Rechtsanthropologie gleichwohl weitgehend fremd geblieben, nicht selten wird sie von überkommenen Dogmen der deutschen Geistesgeschichte überlagert. Von den 135 Projekten, die das För1

Allein 20% der Mitglieder der HBES (Gesamtzahl Ende 1998: 720) sind Studenten, was die Bedeutung der evolutionären Humanverhaltensforschung an den Universitäten widerspiegelt. Weitere Gesellschaften zur evolutionären Analyse von Verhaltensphänomenen sind die „Animal Behavior Society", die „International Society for Human Ethology" sowie die „Association for Politics and the Life Sciences". 2 Zu nennen sind insb. Human Nature , Human Behavior and Evolution (früher Ethology and Sociobiology) sowie Evolutionary Anthropology. Siehe i.ü. das Literaturverzeichnis.

Vorwort derverzeichnis der Volkswagen-Stiftung zum Förderschwerpunkt „Recht und Verhalten" Ende 1998 aufwies, griffen gerade 10 Projekte zumindest auch auf die Evolutionstheorie zurück. Ein Abgleich der in den Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaft und Philosophie verwendeten Theorien und Methoden mit dem Erkenntnisstand der Evolutionsbiologie und Verhaltensforschung wäre hingegen vordringlich. Leider trifft nicht zu, was Donald Elliott von der Yale Law School, selbst prominenter Vertreter einer biologisch inspirierten Rechtswissenschaft, seinen amerikanischen Kollegen vorhält: „Law and Biology is probably farther developed in Germany. Because there is a very strong tradition of ethology in Germany, they readily understand what we are doing. In fact, almost all German law professors incorporate ethological insights as a matter of course into their thinking about law." 3 Im Streit um den Nutzen der Evolutionstheorie werden die Positionen überraschend kategorisch und polarisierend bezogen. Offensichtlich sind tiefsitzende Empfindlichkeiten involviert, sicherlich auf beiden Seiten. M i t einer interdisziplinären Arbeit zu diesem Thema riskiert man, sich zwischen alle akademischen Stühle zu setzen: diejenigen vieler Juristen, Philosophen und Sozialwissenschaftler, welche traditionell die Argumente und Methoden der Naturwissenschaft für ihre Disziplinen ablehnen, und die vieler Naturwissenschaftler, welche einen Fachfremden in dem ihnen angestammten evolutionstheoretischen Terrain wildern sehen. Die Rechtswissenschaft müßte freilich ein erhebliches Interesse daran haben, eine adäquate Verhaltenstheorie zu besitzen. Sie ist durchweg mit Verhaltensphänomenen konfrontiert, in die einzugreifen sich das Recht mit mehr oder weniger Erfolg anschickt. Zwischen der Qualität der gesellschaftlich zugrunde gelegten Verhaltenstheorie und der Effektivität des Rechts dürfte ein enger Zusammenhang bestehen. Normative Entscheidungen benötigen profunde Faktenkenntnis, insbesondere Kenntnis über normbezogenes Verhalten. Die Rechtfertigung des Projektes muß freilich an dieser Stelle abgebrochen werden. Von einer Rechtfertigung würde sowieso nicht erreicht, wer jegliche Beschäftigung mit Evolution und Darwinismus im juristischen Zusammenhang ablehnt. Eine Entwarnung für diejenigen, die Biologismus befürchten, dürfte immerhin darin liegen, daß sich die Arbeit voreiliger normativer „Schlußfolgerungen" enthält, die manche aus der Evolution ziehen zu können meinten und meinen. Meine beiden Betreuer, Professor Fritjof Haft von der Juristischen und Professor Otfried Höffe von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, gaben mir größtmögliche Freiheit und Unterstützung in der selbständigen Bearbeitung des gewählten Themas. Ich bin ihnen zu großem Dank verpflichtet. 3

Elliott (1997), S. 619.

Vorwort

10

Die Arbeit entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes, das dankenswerterweise von der Volkswagen-Stiftung und ideell von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert wurde. Besonders danke ich Herrn Dr. Hagen Hof von der Volkswagen-Stiftung für seine Unterstützung und dafür, daß er mir die zusätzliche Möglichkeit gegeben hat, durch eine mit ihm und Prof. Haft gemeinsam organisierte Tagung (Reisensburg, 22.-24.04. 1999) der Frage der Verhaltensgrundlagen des Rechts weiter nachgehen zu können. Die Ergebnisse der Tagung sind unter dem Titel Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts erschienen. 4 Mein herzlicher Dank geht ferner an eine ganze Reihe von Freunden und Bekannten, Assistenten, Studenten und Professoren, Juristen, Philosophen, Biologen, Verhaltensforschern, Ökonomen und Soziologen. Sie taten durch lange Gespräche oder Kommentare zu früheren Versionen der Arbeit ihr möglichstes, etwa um mein defizitäres Verständnis der Nachbarwissenschaften aufzubessern oder den Fremdwörteranteil (terminorum frequentia technicorum) erträglich zu halten: Prof. Richard Alexander (University of Michigan), Maren Arzt, Prof. Robert Axelrod (University of Michigan), Prof. John H. Beckstrom (Northwestern University), Prof. E. Donald Elliott (Yale University), Prof. Eve-Marie Engels (Universität Tübingen), Andreas Engert, Prof. Richard Epstein (University of Chicago), Prof. Wolfgang Fikentscher (Universität München), Prof. Allan Gibbard (University of Michigan), Dr. Stefan Gosepath, Prof. Eric Hilgendorf (Universität Konstanz), Prof. William Irons (Northwestern University), Dr. Georgy Köntges (Harvard University), Prof. Ernst-Joachim Lampe (Universität Bielefeld), Prof. Roger Masters (Dartmouth College), Christoph Meier, Dr. Jean-Christophe Merle (Universität Tübingen/Georgetown University), Jens Newig, Prof. Thomas Pogge (Columbia University), Wolfgang Renner, Nico Scarano, Volker Schödel, Prof. Wolfgang Graf Vitzthum (Universität Tübingen) und Teilnehmer des Doktorandenkolloquiums bei Prof. Höffe sowie der von Prof. Haft und mir gemeinsam gegebenen Seminare. Meinen Eltern und meiner Frau danke ich für ihre vielfältige Unterstützung und für vieles Unsagbare mehr. Tübingen/Bayreuth, im Herbst 2000

4

Haft/Hof/Wesche (Hg.) (2001).

Steffen

Wesche

Inhaltsübersicht Teil I Einführung

19

A. Normentstehung und Normbegriff

19

B. Gene, Kultur, Koevolution

52

C. Methode und Forschungsstand

56 Teil II

Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

76

A. Charles Darwins Theorie

76

B. Neodarwinismus

90

C. Kritische Diskussion

106 Teil III Theorie der Koevolution

132

A. Methodenfragen

132

B. Kulturevolution

149

C. Koevolution

166

D. Umfeldbedingungen evolutionärer Angepaßtheit

196

E. Zusammenfassung

208 Teil IV Koevolutionäre Verhaltenstheorie

214

A. Der Nahbereich: Verwandtensolidarität

217

B. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

219

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung

273

D. Kritische Diskussion

281

E. Zusammenfassung und Ausblick

293

12

Inhaltsübersicht Teil V Die Entstehung von Normen und Recht

300

A. Die Evolution der Normativität

300

B. Normbedarf und -entstehungsbedingungen

306

C. Normbefolgung

341

D. Besonderheiten der Rechtsentstehung

359

E. Zusammenfassung

377

Literaturverzeichnis

382

Personen- und Sachverzeichnis

421

Inhaltsverzeichnis Teil I Einführung

19

A. Normentstehung und Normbegriff 1. Zusammenhänge von Normbegriff, Normentstehung, Recht und Verhalten 2. Geselligkeit, Konflikte und mangelnde Erwartungssicherheit 3. Normativität, Normbedarf und normative Erwartung 4. Wettbewerb, Konflikt und externe Effekte 5. Ökonomisches Verhaltensmodell und das Menschenbild im Recht 6. Funktion, Anerkennung und „Geltung" von Normen 7. Konfliktnormen und Sanktionen 8. Konfliktnormen, Konventionen, Verteilungsnormen 9. Begriff der Konfliktnorm 10. Verhaltensunsicherheit als normbildender Faktor 11. Gegenseitigkeit 12. Sein und Sollen

19 19 23 25 27 28 32 37 39 42 45 46 50

B. Gene, Kultur, Koevolution

52

C. Methode und Forschungsstand 1. Systematisches Vorgehen 2. Evolutionismus im 19. Jahrhundert 3. Recht und Evolution in der neueren Forschung 4. Normentstehungstheorien außerhalb der Rechtswissenschaft 5. Interdisziplinarität 6. Zum Gang der Arbeit

56 56 57 60 69 71 74

Teil II Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

76

A. Charles Darwins Theorie 1. Evolution und natürliche Auslese 2. The survival of the mediocre 3. Darwin und der „moral sense"

76 77 83 87

Β. Neodarwinismus 1. Gene und Genselektion 2. Verwandtschaftsselektion und Gesamtfitneß

90 90 96

14

Inhaltsverzeichnis 3. 4. 5. 6.

Soziobiologie Die Wirkweise genetischer Programme (Epigenese) Tierische Instinkte und menschliche Flexibilität Genetische Verhaltensdisposition

C. Kritische Diskussion 1. Zu Neodarwinismus und Selektionstheorie a) Unwissenschaftlichkeit? b) Adaptationismus und Optimalismus 2. Zum Konzept der Vererbung 3. Sind Disposition und Determinierung erschöpfende Alternativen? 4. Methodenprobleme der Analyse sozialer Phänomene a) Verstehen vs. Erklären b) Holismus (Emergentismus) vs. methodologischer Individualismus.... c) Die Werthaltigkeit der Gesellschaftswissenschaften 5. Leib und Seele, Intentionalität, Bewußtsein und das menschliche Gehirn. 6. Vergleichende Verhaltensforschung und menschliche Spezifika 7. Sozialdarwinismus? 8. Zusammenfassung

97 100 102 104 106 106 107 109 112 115 115 116 116 118 119 125 128 131

Teil III Theorie der Koevolution

132

A. Methodenfragen 132 1. Funktionalismus, ultimate und proximate Verursachung 132 2. Formaler evolutionstheoretischer Funktionalismus 135 3. Vielfaltig realisierte Funktionen und kulturell mitgestaltete Phänomene. . 139 4. Das Problem des Reduktionismus 144 a) Biologismus 144 b) Sozial wissenschaftlicher Reduktionismus 147 c) Theorie der Koevolution als Sozial- und Naturwissenschaft 148 B. Kulturevolution 1. Kultur und Tradigenese 2. Soziales Lernen und kulturelle Evolution 3. Sprache und Tradigenese 4. Wechselseitige Anpassung von Natur und Kultur 5. Kulturelle Autoselektion und versteckte Anpassungen

149 149 152 158 161 163

C. Koevolution 1. Funktionsbezüge von Kultur zu Natur 2. Das tabula-rasa-Argument 3. Exkurs zu Willensfreiheit und Sonderstatus des Menschen 4. Die genetische Beeinflussung kultureller Inhalte a) Evolutionäre Erfordernisse in der Koevolution

166 166 169 171 175 175

Inhaltsverzeichnis b) Ontogenese, Phylogenese, Lernfilter, Denkmodule und Daumenregeln c) Die durchschnittliche Passung von Kultur und Sprache d) Der Zusammenhang kultureller und evolutionärer Maßstäbe e) Einige Einwände 5. Die kulturelle Beeinflussung des Genoms

178 184 187 192 195

D. Umfeldbedingungen evolutionärer Angepaßtheit 1. Fehlanpassung 2. Veraltete Anpassungen

196 196 200

E. Zusammenfassung

208 Teil IV Koevolutionäre Verhaltenstheorie

214

A. Der Nahbereich: Verwandtensolidarität

217

B. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz 1. Grundlagen der Spieltheorie 2. Reziproker Altruismus 3. Evolutionäre Spieltheorie 4. Die Versuchung des Betrugs 5. Variationen des Gefangenendilemmas a) Verwandte Spieler b) Bekannte Spieldauer und Rückwärtsinduktion c) Mehrpersonen-Dilemma d) Koalitionenbildung e) Irrtum und Täuschung f) Differenzierung der Auszahlungsmatrix g) Begrenzte Ressourcen und kollektive Güter 6. Doppelte Moral und Ausblendung des Eigennutzes 7. Längerfristige Reziprozität 8. Vertrauen und guter Ruf a) Mangelnde Neuverhandlungsstabilität und menschlicher Gewohnheitscharakter b) Funktionen des Vertrauens c) Indirekte Reziprozität 9. Emotionale Strategien der Prosozialität a) Lust, Unlust und konkretere Gefühle b) Emotionale Selbstbindung c) Grenzen des Rationalismus 10. Gewissen, Schuldgefühle und besonders gut versteckte Anpassungen . . . . a) Nutzen für Dritte und „erweiterter Phänotyp" b) Nutzen der Gewissensbisse c) Das Risiko der Prosozialität

219 219 221 223 224 228 232 233 234 236 237 238 239 242 245 247 248 250 252 258 258 261 263 265 268 270 271

16

Inhaltsverzeichnis

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung 1. Reziproker Gruppenegoismus 2. Ausgrenzung und Konformismus 3. Weltumspannende Sympathie?

273 273 276 279

D. Kritische Diskussion 1. Selbstlosigkeit und Egoismus a) Wo bleibt die Gerechtigkeit? b) Wird Selbstlosigkeit auf Egoismus reduziert? 2. Wie universal ist Verhalten, und was folgt daraus? 3. Zum Verwandtschaftsbegriff

281 282 282 283 286 288

E. Zusammenfassung und Ausblick

293

Teil V Die Entstehung von Normen und Recht

300

A. Die Evolution der Normativität 1. Nicht-normative Verhaltenssteuerung 2. Die allgemeine Funktionalität von Normen 3. Protonormen bei nicht-menschlichen Primaten

300 300 301 303

B. Normbedarf und -entstehungsbedingungen 1. Normen im wechselseitigen Interesse: Das allgemeine Gesetz der Entstehung von Konfliktnormen 2. Universale Konfliktgefahren - universale Normen 3. Besonderheiten bei Nahbereichsnormen 4. Konkrete Gegenseitigkeit a) Vergeltungsprinzip b) Goldene Regel 5. Ungleiche Macht als Entstehungsbedingung von Normen a) Sicherung Revolutionärer Ungleichheit durch allgemeine Normen . . . b) Anerkennung und Anwendung ungleicher Normen c) Die Entstehung von Gleichheitsnormen d) Reziproke Hierarchie und Egalitarismus e) Staatsentstehung 6. Fernbereichsnormen? a) Normative Gruppenabgrenzung b) Menschenrechte und moralischer Universalismus 7. Kosten und Nutzen des Eintretens für Normen

306 307 308 312 313 314 316 321 321 323 326 327 331 334 334 337 339

C. Normbefolgung 1. Gründe für Befolgung und Mißachtung von Normen a) Befolgung b) Mißachtung

341 342 342 345

Inhaltsverzeichnis 2. Die Objektivierung der Normgeltung 349 3. Einflüsse des gesellschaftlichen Umfelds 354 4. Sanktionskosten und ihre Auswirkung auf die Entstehung von Normen . . 357 D. Besonderheiten der Rechtsentstehung 1. Verrechtlichung von Sozialnormen 2. Gesetzesflut 3. Gerichtliche und „alternative" Konfliktbeilegung 4. Verhaltensneigungen und Recht 5. Zum sog. Rechtsgefühl

359 359 365 367 370 374

E. Zusammenfassung

377

Literaturverzeichnis

382

Personen- und Sachverzeichnis

421

2 Wesche

Tabellen Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

1: 2: 3: 4: 5:

Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle

6: 7: 8: 9: 10: 11:

Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16:

Interessen bezüglich externer Effekte Faktoren der Normentstehung Kulturentwicklung des Menschen Sprache Beispiele für Passungskonsequenzen kulturell bedeutsamer Merkmale Natur, Kultur, Koevolution Rohmatrix des Gefangenendilemmas Grundform des Gefangenendilemmas Reines Koordinationsproblem Unreines Koordinationsproblem Wie Tabelle 8, aber unter Verwandten (Eltern-Kind oder Vollgeschwister) Wie Tabelle 11, aber mit gegenüber der Grundform erhöhtem Wert χ + 1 Wie Tabelle 11, aber mit gegenüber der Grundform erhöhtem Wert y + 1 Strafrechtsentwicklung Wie Tabelle 8, aber mit gegenüber der Grundform verringerten Werten w, y - 2 Problemkreise und Normtypen

28 43 157 159 169 212 226 226 227 228 232 233 233 317 344 381

Schaubilder Schaubild 1: Schaubild 2: Schaubild 3: Schaubild 4:

Gene, Kultur und Verhalten im Wechselspiel Kulturell bedeutsame Merkmale Biogenetische und kulturelle Evolution Faktoren prosozialen Verhaltens

143 152 211 297

Juristische Abkürzungen folgen H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. Berlin/New York 1993.

Teil I

Einführung Α. Normentstehung und Normbegriff Zunächst sollen das Phänomen der Norm und weitere Grundbegriffe der Normentstehungstheorie eingefühlt werden, ausgehend vom Diskussionskontext der Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Durch den Problemaufriß wird deutlicher, an welcher Stelle evolutions- und spieltheoretische Studien von Nutzen sein können. Der Charakter einer Einführung bringt es mit sich, daß viele Argumente, ebenso ausführliche Nachweise in Form von Fußnoten erst später im geeigneten Kontext folgen. Ein scheinbar unvollständiges Argument sollte also Anlaß sein, in späteren Teilen der Arbeit weiterzulesen. 1. Zusammenhänge von Normbegriff, Normentstehung, Recht und Verhalten Normbegriffe sind vielfältig. 1 Definitionen können bekanntlich nicht falsch oder richtig, sondern lediglich mehr oder weniger zweckmäßig sein. Die Zweckmäßigkeit aber wird in einer Theorie davon regiert, was die Theorie erklären möchte. 2 Wenn sich die folgenden Abschnitte einem Normbegriff annähern, so geschieht das im Zuge einer Exposition von Elementen der Normentstehungstheorie. Dem Normbegriff wird anhaften, was die Theorie sich anschickt zu sagen. Dem Vorwurf der Zirkularität wäre zu entgegnen, daß völlig neutrale Definitionen selten möglich sind. Man wird damit leben müssen, für unterschiedliche Zwecke - Rechtstheorie, (Rechts-) Soziologie, Rechtsauslegung etc. - mit unterschiedlichen, allerdings nicht widersprüchlichen Definitionen zu arbeiten. 3 Die Definition erweist sich als zweckmäßig, wenn nach der Erstellung der Theorie „über" diese Definition der Eindruck entsteht, die wesentlichen Sachverhalte seien theoretisch erfaßt worden. 4 1 Koller (1997), S. 66 ff.; Korthals-Beyerlein (1979), S. 60 ff.; Zippelius (1994), S. 2 ff. 2 Opp (1983), S. 2; Zippelius (1994), S. 2 ff. 3 Kritisch zu Versuchen einheitlicher Normdefinitionen Hill (1982), S. 12 ff.; Zippelius (1994), S. 4 f.

2*

20

Teil I: Einführung

Verankern wir die Theorie der Entstehung von Normen zunächst in Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Beide haben bereits vieles in der Erklärung des Auftretens und der Funktion von Normen geleistet. Entstehung und Funktion sind dabei in gesetzmäßiger Weise verbunden. Besteht ein Bedarf nach Normen, hätten also Normen eine Funktion (einen Zweck), ist unter geeigneten Bedingungen mit dem Entstehen von Normen zu rechnen. Der Begriff der Funktion ist der Soziologie ebenso vertraut wie der Biologie und Verhaltenswissenschaft; auch juristische Arbeiten stützen sich auf ihn. 5 Gegenüber einem absolut verstandenen Zweckbegriff weist er jedenfalls den Vorzug auf, die Wechselwirkungen zwischen Verhaltensziel und Situation zu erfassen. 6 Bei Funktionen ist stets zu fragen, für wen oder was sie bestehen. Der Bezugspunkt von Funktionen bedarf genauer Bestimmung, weil er darüber vorentscheidet, welche Normen prognostiziert werden können. Nimmt man beispielsweise an, Normen dienten „den Mächtigen", sind einseitige, ungleiche Normen zu erwarten; dienen Normen dem Erhalt des Gesellschaftssystems, sollten sie grundsätzlich gesellschaftserhaltend sein. Bei der Suche nach geeignetem analytischen Vokabular stoßen wir auf die rechtstheoretische Trias aus Norm, Wert (bzw. Wertung 7 ) und Interesse. Aus Rudolf v. Jherings Zweckanalyse des Rechts entwickelte Philipp Heck gegen Anfang des 20. Jahrhunderts die Interessenjurisprudenz. 8 Sie ist zugleich Theorie über die Entstehung von Normen aus dem Widerstreit der Interessen und eine juristische Methodenlehre. Ihr zufolge hat sich die Auslegung des Gesetzes an der Wertung zu orientieren, die der Gesetzgeber dem jeweiligen Interessenkonflikt zuteil werden ließ; im Falle einer Gesetzeslücke sollte der Richter die beteiligten Interessen selbst werten. Die Interessenjurisprudenz hat heute der Wertungsjurisprudenz als herrschender Auslegungslehre Platz gemacht.9 Letztere eignet sich besser zur Auslegung der gesamten, nicht nur der privaten Rechtsordnung. Zudem erscheint bei Heck die Rolle des Gesetzgebers auf ein Exekutivorgan gesellschaftlicher 4 Wer eine zirkuläre Definition vermeiden will, verfällt leicht einer tautologischen Begriffserklärung, die insofern nicht weiterhilft, als sie das Definiendum mit ebenso erklärungsbedürftigen Begriffen erläutert. Ein solcher Fall scheint bei Hofs Definition von Normen als Verhaltensvorgaben, die der Normgeber an die Normadressaten richtet, gegeben zu sein, siehe Hof (1996), S. 75. Festzuhalten ist hingegen an Hofs Postulat, der Normbegriff dürfe nicht nur Imperative, sondern müsse auch Bestimmungssätze oder Ordnungsmodelle erfassen können (ebd., S. 76). 5 Hill (1982), S. 21 ff.; Krawietz (1967), S. 39 ff.; Larenz (1991), S. 208 ff.; Pawlowski (1991), S. 171 ff., 341 ff. - In einem eigenen Kapitel wird seine Rolle in der koevolutionären Verhaltenstheorie zu untersuchen sein; vgl. Teil III A. 6 Hof (1983), S. 358 f. 7 Diese beiden Begriffe werden hier synonym gebraucht, insbesondere ohne platonistische Konnotationen („Werte als objektive Ideen gegeben und zu erschauen"). 8 Heck (1914). 9 Vgl. nur Larenz (1991), S. 119, 154 ff.; Pawlowski (1991), Rn. 119 ff.

Α. Normentstehung und Normbegriff

21

Interessen verkürzt. Eine Auslegungslehre muß auch der Tatsache Rechnung tragen, daß das Recht stets in der jeweiligen Auslegung durch Juristen gilt. Das Ablesen eines Normtexts liefert bei weitem nicht immer alle Informationen, die dazu nötig sind, einen Fall zu entscheiden. 10 Doch sind dies Komplikationen, die erst im modernen Rechtsstaat auftreten. Für die Entstehung von Normen überhaupt, unabhängig von einzelnen Paragraphen eines Gesetzes, sollte man statt auf Werte bzw. Wertungen auf Interessen abstellen. 11 Denn der Begriff des Wertes ist nicht grundlegend. Der Richter legt zwar Normen, also Wertungen des Gesetzgebers aus. Diese haben aber ihrerseits als Gegenstand und Quelle die in der Rechtsgemeinschaft vertretenen Interessen, oft gebündelt in Lobbys und Verbänden. Wertungen beruhen auf komplexen Voraussetzungen und würden bei jeweils geänderten Interessenlagen auch selbst anders ausfallen. Zwar lassen sich „objektive" Werte - Werte, nach denen man sich richten soll - genausowenig wie Normen aus Interessen ableiten. Doch geht es hier ja nicht um „objektive", sondern um „subjektive" Werte, solche, die das Individuum tatsächlich zu bestimmtem Verhalten bewegen. Und diese sind eben auf Interessen reduzibel. Auch diese These wird Widerspruch auslösen. Im Gang der Arbeit sollte aber deutlich werden, wie sehr angebliche Wertorientierungen letztlich in maskierten, häufig nicht einmal dem Akteur bewußten Interessen wurzeln können und somit als Analysewerkzeug ungeeignet sind. Unbeschadet bleibt die Möglichkeit, daß Werte bestimmten Interessen entgegengesetzt sind, doch besteht dann wiederum an der Einlösung eines solchen Wertes ein Interesse, das sich mit gegenläufigen Interessen desselben Akteurs messen muß. Interessen müssen im übrigen nicht egoistisch sein, so daß auch „wertvolle" Strebungen gut aufgehoben sind. Von der Methodenlehre des Rechts ist das hier verfolgte Projekt in mehrfacher Hinsicht unterschieden. Statt der Anwendung und Auslegung des Rechts wird dessen Entstehung thematisiert. Insoweit die Auslegung auf die Normentstehung rekurriert (historische Methode), beschränkt sie sich auf die in den Gesetzgebungsprozeß erkennbar eingegangen Erwägungen. Die Methodenlehre befaßt sich mit den Wertungsspielräumen der Rechtsauslegung, die vorliegende Arbeit mit den in die Normentstehung einfließenden Wertungen. Diese Wertungen können, müssen sich aber nicht decken. Schließlich spielen, anders als in der Rechtsauslegung, in der Normentstehungstheorie nicht Texte die entscheidende Rolle. Die Frage nach dem Ausgangsmaterial der Norm- und Rechtsentstehung ist eine Frage nach Verhaltensweisen und deren Ursachen. 10

Dazu Wesche (2000a), S. 269 ff. m.w.N. Ein Vorteil des Interessebegriffs besteht darin, daß er vielfältig Eingang in die Rechtspraxis vor allem des bürgerlichen und öffentlichen Rechts gefunden hat (interessengerecht, Restitutionsinteresse, positives und negatives Interesse). 11

22

Teil I: Einführung

Damit gewinnt der Begriff des Verhaltens zentrale Bedeutung. 12 Unter „Verhalten" werden aktive, äußerlich wahrnehmbare Körperbewegungen und Kommunikationsäußerungen von Organismen verstanden. 13 Eine Beschränkung auf bewußtes, intentionales, verantwortliches und/oder rationales menschliches Verhalten („Handeln") ist nicht angezeigt. 14 Denn weder ist alles menschliche Verhalten Handeln in diesem Sinne, noch kann ausgeschlossen werden, daß Handeln selbst wieder unbewußt-vorrationale Ursprünge besitzt. Gerade diese Ursprünge sind jedoch von Interesse. Der Begriff des Verhaltens wird deshalb in dieser Arbeit als Oberbegriff verwendet, der Handeln einschließt. Die Frage „Welche Funktionen erfüllen Normen?" erhält damit eine verhaltenswissenschaftliche Formulierung: Welche Funktionen erfüllt ein Verhalten, das auf Normen bezogen ist, sich auf sie beruft (kurz: Normverhalten)? Die beiden Fragen sind äquivalent, weil Normen nur als Verhalten existieren und daher nur als solches einer Erklärung zugeführt werden können; darauf ist zurückzukommen. Eine der wichtigsten Funktionen von Normen ist die Regulation des Zusammenlebens von Menschen. Normen entspringen aus Sozialverhalten} 5 Die Normentstehungstheorie muß daher in einer Verhaltensanalyse menschlicher Geselligkeit und zwischenmenschlicher Konflikte wurzeln. Daraus folgt zugleich, daß sich die Entstehung von Recht nur auf der Basis der Entstehung von nichtrechtlichen Sozialnormen (Sitte, Moral, Religion) verstehen läßt. 1 6 Daraus ergibt sich auch der Aufbau dieser Arbeit, in der den Besonderheiten des Rechts erst i m Anschluß an die allgemeine Theorie der Normentstehung nachgegangen wird. Recht seien solche Sozialnormen genannt, die institutionalisiert gesetzt 17 und durch einen Erzwingungsstab (Weber) durchgesetzt werden. 18 Der 12

Näher Wesche (2001b). Immelmann/Scherer/Vogel (1988), S. 5. 14 Vgl. zur Differenzierung von „Verhalten" und „Handeln" Eckensberger (1985), S. 93 ff. Da es, wie noch deutlich werden wird, in einer evolutionären Theorie auf die mit einer Handlung verfolgte Absicht meistens gerade nicht ankommt, ist die in den Sozialwissenschaften ausgearbeitete Differenzierung hier nicht von Belang. Daß Menschen absichtsvoll und abwägend handeln und in der Lage sind, bewußt über sich selbst nachzusinnen, sei nicht geleugnet. Wichtig ist jedoch, das theoretische Verständnis unbewußt gesteuerten Verhaltens nicht durch einen zu engen Handlungsbegriff abzuschneiden. Vgl. Korthals-Beyerlein (1979), S. 52 ff., mit einer ähnlichen Begründung ihrer Begriffswahl. 15 Sozial heißt in der Verhaltenswissenschaft: auf Artgenossen bezogenes Verhalten; eine positive Wertung ist nicht impliziert, „sozial" in diesem Sinne ist auch z.B. Aggression. 16 Lampe (1992b), S. 15. 17 Richterrecht ist in dieser Definition zwanglos erfaßt, Gewohnheitsrecht insofern, als dessen Geltung davon abhängt, daß gerade die zuständigen Organe von einer Geltung der entsprechenden Rechtssätze ausgehen. 13

Α. Normentstehung und Normbegriff

23

größte Teil der folgenden Überlegungen ist auf beide Normtypen anwendbar. Juristen sprechen meistens nur vom Recht, obwohl ihre Überlegungen grundsätzlich auch für andere Normtypen Geltung beanspruchen könnten. Im Gegenteil, Gründe für die spezifische Rechtsentstehung, also dafür, warum bloße Sozialnormen historisch anscheinend nicht genügt haben, werden kaum je angeführt. Sie sind eher in staatstheoretischen und anthropologischen Werken zu finden und stehen dort im Kontext der Frage der Staatsentwicklung. Auch heute noch stellt sich ja oft die Frage, ob man bestimmte Lebensbereiche nicht „rechtsfrei" belassen oder deregulieren sollte, um Entfaltungsmöglichkeiten für sozialnormative Selbstregulierung zu schaffen.

2. Geselligkeit,

Konflikte

und mangelnde Erwartungssicherheit

Das Sozialverhalten des Menschen ist von drei anthropologischen Konstanten geprägt. Menschen leben gesellig, als ammalia socialia. Ohne menschliche Geselligkeit käme es nie zu Konflikten, doch ungesellig könnte der Mensch nicht leben. Die Erörterung der beiden Pole des Verhaltens - Geselligkeit und Konflikt - hat eine lange Tradition in Anthropologie und Philosophie. Dabei hat die Geselligkeit zwei unterschiedliche Interpretationen erfahren. Ein Deutungsstrang macht sich fest an der Stoa und drückt sich aus in der Auffassung von Hugo Grotius, der Mensch habe einen „appetitus societatis". 1 9 Nach Aristoteles ist der Mensch ein zoon politikon, das von Natur aus vergesellschaftet lebt, dem dieses Leben als telos mitgegeben ist. 2 0 Der andere Strang betont eher das Angewiesensein des Menschen auf andere zur Erfüllung seiner Bedürfnisse. Ob es ihm recht ist oder nicht, ohne soziales Umfeld kann der Mensch nicht leben. Hobbes wendet gegen Aristoteles ein, das Gemeinwesen werde nicht durch Natur, sondern durch „Kunst" (art) geschaffen. 21 Der Mensch sei weniger Sozial- als Konfliktwesen. Kant spricht in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von der „ungeselligen Geselligkeit" des Menschen. 22 Die Natur des 18

Zum Rechtsbegriff siehe statt aller Koller (1997), S. 2 ff.; Röhl (1987), S. 212 ff.; zum Verhältnis von Rechts- und Sozialnormen siehe nur Raiser (1995), S. 203 ff. 19 Grotius (1712), Prol. 7. 20 Aristoteles, Politik, 1253a2 f. 21 Hobbes (1651/1991), Einleitung. 22 Kant (1784), Vierter Satz, A 392. Kant spielt mit einer doppelten Bedeutung von „Geselligkeit": Einmal geht es um das bloße Zusammenleben von mehr als einer Person, ein anderes Mal um eine gewisse prosoziale Einstellung und Bereitschaft, mit anderen zu kooperieren.

24

Teil I: Einführung

Menschen sei so beschaffen, daß er sich mit anderen vergesellschafte, „die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann". 2 3 Wie man die Geselligkeit auch deutet, unübersehbar ist, daß sie zwischenmenschliche Probleme nicht ausschließt. Der Mensch opfert seine je eigenen Interessen in der Regel nicht seinem sozialen Appetit, weil er, mit Kant, „in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen". 2 4 Nach Otfried Höffe hat der Mensch eine Sozial- und Konfliktnatur. 25 Bei John Rawls lesen wir: „... society ... is typically marked by a conflict as well as by an identity of interests. There is an identity of interests because social cooperation makes possible a better life for all ... There is a conflict of interests since persons are not indifferent as to how the greater benefits of their collaboration are distributed, for in order to pursue their ends they each prefer a larger to a lesser share." 26 Diesen beiden Polen ist eine weitere anthropologische Konstante beizugesellen, nämlich Erwartungsunsicherheit. Diese beruht wiederum auf zwei Voraussetzungen. Menschen antworten in höherem Grade als Tiere auf bestimmte Situationen und Reize in nicht eindeutig vorhersagbarer Weise. Ihr Verhalten ist offen, „frei". Für diese Feststellungen bedarf es keines starken (Willens-)Freiheitsbegriffes. Weiterführend ist vielmehr eine Orientierung am soziologisch-psychologischen Konzept der Erwartung. Das Handeln des Menschen steht in „doppelter Kontingenz" (Luhmann/Parsons). 27 Es ist nie vollkommen sicher, was der andere tun wird. Was er tun wird, hängt davon ab, was ich tun werde, was wiederum für ihn nicht sicher vorhersagbar ist. So entsteht erhebliche Komplexität. Komplexität ist hier ein Maß für die Zahl potentieller Beziehungen zu anderen Menschen und die Summe von Verhaltensoptionen des Akteurs und derer, mit denen er interagiert, einfacher ausgedrückt: ein Maß für die Summe von Möglichkeiten im zwischenmenschlichen Verkehr. Beim Menschen, der prinzipiell in der Lage ist, mit jedem anderen Menschen vielgestaltige Beziehungen einzugehen, und der ständig auf andere trifft, die zu ihm in vielgestaltige Beziehungen eintreten, ist diese Komplexität im Vergleich zu den Tieren enorm gewachsen.

23

Ebd., A 393 (Hervorhebungen i.O.). Ebd., A 392. 25 Vgl. Höffe (1992), S. 199 ff. („Kooperation plus Konflikt" als „erweiterte Sozialanthropologie", ebd., S. 201) in Fortführung von Höffe (1987), S. 277 ff., 289 ff., 322 ff. 26 Rawls (1971), S. 126. 27 Vgl. Luhmann (1969); (1984), S. 148 ff. 24

Α. Normentstehung und Normbegriff 3. Normativität,

25

Normbedarf und normative Erwartung

Was folgt aus diesen Umständen für die Entstehung von Normen? Geselligkeit, Konfliktneigung und Verhaltensoffenheit des Menschen produzieren einen allgemeinen Bedarf an normativer Verhaltenssteuerung. 28 Zu einer solchen Steuerung ist der Mensch auch kognitiv in der Lage. Nennen wir diesen Bedarf und diese Fähigkeit Normativität. Hinzu kommen muß sodann der Bedarf nach konkreten Regelungsinhalten (Regelungsinhaltsbedarf oder einfacher: Normbedarf). Dem Normbedarf entspricht im Fall einer vorhandenen Norm deren Normzweck oder Funktion. Normativität tritt stets in der Form eines konkreten inhaltlichen Regelungsbedarfs auf. Schließlich und drittens entsteht die Norm nur, wenn spezifische Entstehungsbedingungen gegeben sind, etwa wenn eine Mehrheit von Mitgliedern einer Gruppe ihren Wunsch nach einer Regelung äußert und gegen die Minderheit durchsetzt. 29 Was nun bildet den Anfang der konkreten Normentstehung, den Grundstock jeden Regelungsinhaltsbedarfs? Gesucht ist nach einer Größe, die verhaltensrelevant werden kann und für alle möglichen Inhalte offen ist. Betrachten wir als Ausgangspunkt der Entstehung von Normen die Interessen der beteiligten Individuen und Gruppen. Der Begriff des Interesses umfaßt in einem weiten Sinne bewußte und unbewußte, aktualisierte und latente, individuelle und kollektive, soziokulturell und/oder genetisch fundierte Wünsche und Neigungen, die sich auf die Erlangung von etwas (eines Gutes, einer Position, Anerkennung, ...) richten.30 Der Begriff des Weites fließt, wie oben dargelegt, in den Interessenbegriff ein. Man könnte einwenden, daß Normen nicht nur aufgrund von Interessen entstehen. Wenn dagegen Gottesgebote, reine Vernunft oder objektive (d.h. menschenunabhängig existente) Werte ins Feld geführt werden, steht das in offensichtlicher Spannung zu der hier vertretenen Ansicht. Solche angeblichen Normquellen beruhen auf nicht falsifizierbaren, daher nicht theorietauglichen Annahmen. Neben Interessen verdient hingegen eine andere Entstehungsbedingung von Normen später eigene Aufmerksamkeit, nämlich der Faktor Macht? 1 Macht steht dabei nicht im Gegensatz zu Interessen, sondern beeinflußt deren Durchsetzungsmöglichkeiten. 32 28

Noll (1969), S. 125 f. Vgl. Epstein (1996), S. 1. Ausführlich Teil III Α. 1. und Teil V B. 30 Zum ähnlichen Interessenbegriff der Interessenjurisprudenz bei Heck siehe Lampe (1991), S. 226 Fn. 15. Bei Dahrendorf ((1959), S. 173 ff.) und Robert Merton ((1957), Kap. 1) ist in ähnlicher Weise von „latenten" gegenüber „manifestierten" Interessen die Rede. 29

26

Teil I: Einführung

Oben war bereits von Erwartungsunsicherheit als anthropologischer Konstante die Rede. Der Begriff der Erwartung hat auch darüber hinaus große Bedeutung in der Normentstehungstheorie. Erwartungen entstehen aus der interessenabhängigen Bewertung von Situationen. Nicht alle Erwartungen sind freilich normativ relevant. Wenn ich davon ausgehe, daß es heute nachmittag regnen wird, und deshalb einen Schirm mitnehme, ist diese Erwartung kognitiv. Ich fordere nicht vom Wetter, es solle heute nachmittag regnen oder nicht regnen, sondern ich stelle mein Handeln darauf ein, bereit, meine Erwartung zu korrigieren. Auf das Verhalten anderer Menschen habe ich jedoch gewissen Einfluß. Meine Bewertung des Verhaltens anderer kann sich gegebenenfalls auf diese auswirken. 33 Ich erwarte z.B. von meinem Nachbarn, daß er nicht nachts um drei seinen Rasen mäht, sondern sich meiner Bewertung der Situation unterwirft. Diese Erwartung ist normativ oder, mit dem Sprachphilosophen R. M. Hare, präskriptiv. 34 Ich schreibe vor, sage nicht bloß voraus. Wenn mein Nachbar doch den Rasen mähen sollte, werde ich die Erwartung nicht aufgeben. Meine Erwartung ist enttäuschungsfest oder (mit Luhmann) kontrafaktisch stabilisiert. Deshalb werde ich wahrscheinlich versuchen, meinen Nachbarn zu erwartungsgemäßem Verhalten zu bewegen. Somit läßt sich formulieren, daß Interessen erst in Form normativer Erwartungen konkreten Normbedarf begründen. Gegenüber meinem Nachbarn habe ich es natürlich leicht, denn die Norm, die ihm sein Tun verbietet, existiert bereits. Zwei Elemente zeichnen also normative Erwartungen aus: der Präskriptions- oder Aufforderungscharakter und die Enttäuschungsfestigkeit (kontrafaktische Stabilität). 35 Der Aufforderungscharakter muß sich nicht in einem klassischen Imperativ äußern („tue dies!"; „du sollst nicht töten!"), sondern kann sich zum Beispiel darauf beschränken, mit bestimmten Handlungen bestimmte unerwünschte Regelungsfolgen zu verbinden. Dies ist der Normalfall einer Rechtsnorm („wer einen Menschen tötet, wird mit ... bestraft"; „ein unter Mißachtung der Formerfordernisse geschlossener Vertrag ist unwirksam"). 36 31

Siehe Raiser (1995), S. 282 ff. und unten, Teil V B. 5. Vgl. die Definition Max Webers (1921/1980), S. 28. 33 Vgl. zum Einfluß von Bewertungen auf die Normentstehung Hof (1996), S. 184 ff.; Opp (1983), S. 122 ff. 34 Hare (1961). 35 Siehe grundlegend Parsons (1951), S. 11 f.; außerdem Dux (1978), S. 32 ff.; Korthals-Beyerlein (1979), S. 143 ff.; Luhmann (1969), S. 30 ff.; (1983), S. 42 ff.; (1984), S. 453 f.; Röhl (1987), S. 239 ff. Beachte, daß hier die rechtssoziologische Normdefinition von Parsons und Luhmann nur für die Normerwartung verwendet wird. Diese ist nur eine Vorstufe zu Normen; dazu sogleich im Text. 32

Α. Normentstehung und Normbegriff 4. Wettbewerb,

Konflikt

27

und externe Effekte

„The qualities of the mind are selfishness and limited generosity. And the situation of external objects is their easy change, join'd to their scarcity in comparison of the wants and desires of men. " 37 Normative Erwartungen lassen sich nicht stets erfüllen. Denn den zugrundeliegenden Interessen ist eigen, daß sie mit den Interessen anderer kollidieren. In diesem Zusammenhang seien einige Begriffe eingeführt. Wird ein kollidierendes Interesse in die Tat umgesetzt, entstehen negative externe Effekte (inegative Externalitäten), 3S d.h. Kosten irgendwelcher Art für Dritte. Ein einprägsamer Standardfall ist, daß zwei Personen dieselbe knappe Ressource nutzen wollen. Die Nutzung durch den einen beschränkt oder verhindert die Nutzung durch den anderen. Unter Ressource wird dabei alles verstanden, was Nutzen stiftet. 39 Nutzen ist alles, was aus subjektiver Sicht irgendein Interesse des Akteurs befriedigt. Aus Knappheit resultiert Wettbewerb. Das ist ein Grundpfeiler der Theorie Darwins, bildet aber auch die Voraussetzung jeder Ökonomie, einen Gemeinplatz der Sozialpsychologie 40 und dürfte als allgemeine Anschauung zutage liegen. Wettbewerb ist durch potentielle, latente oder ausgebrochene Konflikte gekennzeichnet, weil nicht jeder jederzeit alles haben kann, was er gerne hätte. 41 Zugleich ist Wettbewerb ein Ansporn für die Beteiligten, die Konflikte durch Verbesserung der eigenen Wettbewerbsposition zu ihren Gunsten zu entscheiden, somit der Motor schlechthin für Weiterentwicklung in der Evolution. Konflikte können nicht nur auf negative, sondern auch auf positive Externalitäten zurückzuführen sein. Denn jede Art von externem Effekt wirft zwischen den Beteiligten die Frage auf, wie mit ihm zu verfahren ist. Denkbar ist, den Effekt ganz abzustellen (Eliminierung), seine Kosten oder seinen Nutzen beim Verursacher zu internalisieren (d.h. dafür zu sorgen, daß der Verursacher die Kosten einer negativen Externalität selbst trägt bzw. den Nutzen einer positiven Externalität für sich behält) oder den Effekt einfach nicht zu berücksichtigen. 42 Die Interessen von Verursacher und (Dritt-)Betroffenem sind dabei konträr. Das veranschaulicht Tabelle l : 4 3 36 Vgl. zu möglichen Gehalten auffordernder Rechtsnormen Hof (1996), S. 157 ff. 37 David Hume (1739/1978), book III part II section II, S. 494. 38 Zum Begriff Opp (1983), S. 67 ff. 39 Opp (1983), S. 13. 40 Vgl. Sherif (1967), S. 85. 41 Für das Recht siehe dazu Gessner (1976); Koller (1993), S. 271; zusammenfassend Röhl (1987), S. 443 ff.

28

Teil I: Einführung Tabelle 1 Interessen bezüglich externer Effekte Negative Externalität

Positive Externalität

Verursacher

Interesse daran, Externalität zu vernachlässigen

Interesse an Internalisierung bzw. daran, für die Externalität entschädigt zu werden

Betroffener

Interesse an Internalisierung oder Eliminierung bzw. daran, frei von Externalität zu sein oder entschädigt zu werden

Interesse daran, eine Entschädigung zu vernachlässigen

Für das Ressourcenbeispiel bedeutet das etwa: Der eine möchte die Ressource nutzen, ohne auf den anderen zu achten; dieser möchte, daß der Nutzer ihm die Ressource ersetzt oder ihn sonstwie entschädigt. Ein bekanntes weiteres Beispiel ist, die Kosten der Umweltverschmutzung bei den jeweiligen Verursachern zu internalisieren, anstatt sie in Form von Wiederaufforstung, Krankheitskosten, Verlust von Lebensqualität etc. von der Gesellschaft tragen zu lassen. 5. Ökonomisches Verhaltensmodell

und das Menschenbild im Recht

An dieser Stelle ist Mißverständnissen vorzubeugen, die sich aus der Verwendung ökonomischer Analysebegriffe und -methoden ergeben könnten. Das dieser Arbeit zugrundeliegende Menschenbild ist nicht das des Homo oeconomicus oder „resourceful, evaluative, maximizing man" (REMM). Die Arbeit geht einerseits von einem reformierten ökonomischen Modell aus, andererseits dient ihr dieses Modell nur als Bestandteil eines Menschenbilds, nicht als vollständiges Menschenbild. Die Diskussion um das ökonomische Modell menschlichen Verhaltens ist freilich zu komplex, um an dieser Stelle erschöpft werden zu können. 44 Einige Bemerkungen zu Leistungen und Grenzen des Modells erscheinen jedoch angebracht, weil es zu den Einwänden gegen die evolutionäre Verhaltenstheorie gehört, sie importiere eine realitätsferne ökonomische Annahme.

42

Opp (1983), S. 71. Abgewandelt nach Engel (1997), S. 95. 44 Vgl. G. S. Becker (1982), S. 4 ff., 167 ff.; J. Frank (1998); Kirchgässner (1991a), S. 12 ff.; ders. (1991b); Kirchner (2001); Opp (1983), S. 31 ff.; Schmidtchen (2001b). - Vgl. zur Kritik Fezer (1986), (1988); Kelman (1987), S. 150 ff.; differenzierend Eidenmüller (1995), alle m.w.N. 43

Α. Normentstehung und Normbegriff

29

Ein konkretes Verhalten - insofern dürfte kaum Streit bestehen - resultiert aus der Zusammenschau von Interessen bzw. Präferenzen einerseits und diversen Restriktionen (Verhaltensbeschränkungen inklusive Anreizen) andererseits. Das heißt, individuelle Präferenzen werden sich stets unter den gegebenen Situationsparametern auswirken, die für die Verwirklichung der Präferenzen die Rahmenbedingungen darstellen. Klarstellungsbedürftig sind insbesondere folgende Punkte: - Das ökonomische Modell des Verhaltens geht nach neuerer Ansicht davon aus, jeder Mensch versuche, seinen präferierten Nutzen unter den gegebenen Umständen zu maximieren. Es geht nicht davon aus, jeder maximiere auch tatsächlich seinen Nutzen. 45 So kann es zu suboptimaler Nutzenbefriedigung aufgrund von entgegenstehenden Restriktionen und widersprüchlichen Präferenzen kommen. - Das Modell ist offen für alle möglichen Nutzenfunktionen. 46 Das heißt, was jemand als individuell nutzenstiftend ansieht, ist ihm überlassen. Er kann zum Beispiel seinen Nutzen aus altruistischer Anteilnahme an anderen Kreaturen zu vermehren versuchen, indem er bei einer Dritte-WeltOrganisation arbeitet. 47 Homo oeconomicus heißt nicht Egoismus. Abgesehen davon geht die Nutzenverfolgung regelmäßig unbewußt und emotional gesteuert vonstatten. 48 Daß das Streben nach Nutzenmaximierung mit eigennützigen Absichten gekoppelt sein müßte, ist nicht gesagt. - Nutzen im ökonomischen Sinne ist nicht gleichzusetzen mit monetärem „Gewinn" oder „Profit". 4 9 So heißt es zu Recht: „The basic assumption at the heart of this mode of analysis is not that individuals are self-interested profit-maximizers or care only about money, but rather that they act in a way that is sensible for them given their own tastes and predilections."50 45

Vgl. etwa Schmidtchen (1994), S. 143 f. Kirchgässner (1991a), S. 45 ff.; Kirchner (1997), S. 13. 47 Ein Beispiel einer zu kurz gegriffenen Kritik stammt von Mark Kelman. Seine Behauptung trifft nicht zu, nach dem ökonomischen Modell des Verhaltens seien Menschen „basically selfish" (Kelman (1987), S. 155). Denn zunächst käme es darauf an zu klären, auf welcher analytischen Ebene „selfish" verwendet wird. Soll nur gemeint sein, Menschen würden stets ihre eigene Nutzenfunktion maximieren, nicht diejenige anderer, ist die Aussage trivial, da sie gegenüber dem Inhalt der Nutzenfunktion neutral ist. Soll gemeint sein, Menschen hätten stets eigennützige Motive für ihr Verhalten, trifft sie nicht zu, da dies vom Modell nicht impliziert ist. Kelman geht in seiner Kritik so weit zu unterstellen, daß eigennützige Personen im Sinne der ökonomischen Analyse unvermeidlich Dritte schädigen würden, gleich welcher gesellschaftlichen Mittel man sich zur Kanalisierung ihres Eigennutzes bediene (S. 151). Damit schließt er ohne weitere Begründung die Möglichkeit aus, daß Menschen sich im Einklang mit eventueller Eigennützigkeit prosozial verhalten. 48 Näher Teil II C. 5. und Teil IV B. 9. 49 Frank (1998), S. 90 f. Anders Hof (1996), S. 55 f. 46

30

Teil I: Einführung

Das ökonomische Modell beschränkt sich nicht auf Marktverhalten, nicht auf den Umgang mit Geld oder mit geldwerten Gütern. 51 Es beansprucht Geltung für jedwedes Verhalten. Mißverständlich ist insofern freilich die Bezeichnung als „ökonomisches" Modell. Doch ist einstweilen die Wirtschaftswissenschaft die einzige Wissenschaft menschlichen Verhaltens, die dieses Modell flächendeckend anwendet, ohne daß in irgendeiner anderen Wissenschaft gleichermaßen vorhersagemächtige Modelle existierten. 5 2 - Perfekte Rationalität meint, daß der Akteur vollständige Kenntnis aller Umstände besitzt, die für die Maximierung seiner klar definierten Nutzenfunktion relevant sind. Der orthodoxe Homo oeconomicus, wie er etwa von Gary S. Becker eingeführt wurde, besaß keine Restriktionen in Form von mangelndem Wissen. Statt von perfekter ist zunehmend von eingeschränkter Rationalität die Rede. 53 In ver„bounded rationality schiedener Hinsicht können Rationalitätsrestriktionen auftreten: Dem Akteur können Verhaltensalternativen oder deren Konsequenzen unbekannt sein oder es kann ihm an einer allgemeinen, konsistenten Nutzenfunktion fehlen. 54 Diese Restriktionen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel bei menschlichem Verhalten. Als „Restbegriff 4 von Rationalität verbleibt, den gewählten Nutzen und nicht subjektiv zweitrangige Interessen zu verfolgen. 55 Menschen werden stets von dem, was sie aktuell für erstrebenswert halten, eher mehr als weniger wünschen. 56 Demgegenüber wird nicht postuliert, Menschen lösten vor ihren Verhaltensentscheidungen Gleichungen mit mehreren Unbekannten, um den für sie optimalen Nutzen zu berechnen. 57 Doch desungeachtet kann auch sog. „spontanes" Verhalten aufgrund einer unbewußt ablaufenden, ungefähren Abschätzung der Chancen und Gefahren von Verhaltensalternativen nutzenoptimiert

50

Baird et al. (1994), S. 11. Anders auch hier Hof (1996), S. 350. 52 Engel (1997), S. 89 f.; J. Frank (1998), passim. 53 Kirchner (1997), S. 14; (2001), S. 448 f.; Schmidtchen (1994), S. 143 f.; Selten (1990); Young (1998), S. 5 ff. Kritisch J. Frank (1998), S. 85 ff. 54 Baird et al. (1994), Kap. 3; Vromen (1995), S. 116. 55 Die Definitionen innerhalb der Ökonomie sind hier freilich nicht einheitlich. So definiert etwa J. Frank (1998), S. 85, „rational" im Sinne der Ökonomie bedeute, widerspruchsfreie Ziele zu verfolgen und dafür aus subjektiver Sicht geeignete Mittel einzusetzen. Diese stärkere Definition soll hier nicht zugrunde gelegt werden. 56 McKenzie/Tullock (1984), S. 29; Baird et al. (1994), S. 11: „individuals are rational in the sense that they consistently prefer outcomes with higher pay-offs to those with lower pay-offs" - vorausgesetzt, die Individuen kennen überhaupt die alternativen Auszahlungen (zu diesem Begriff Teil IV B. 1.). 57 So auch J. Frank (1998), S. 87. 51

Α. Normentstehung und Normbegriff

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- Homo oeconomicus, auch in der modernen Variante bloß mit eingeschränkter Rationalität begabt, ist nicht mehr als ein Modell. Es erlaubt falsifizierbare Vorhersagen über menschliches Verhalten. Erweist sich, daß tatsächliches Verhalten anders ausfällt als prognostiziert, ist das konkrete Modell zu korrigieren. Die Vorhersagen werden möglich, das heißt, das Modell ist nicht tautologisch, weil immer nur eine Variable existiert, nämlich die Restriktionsseite. Die Präferenzen werden konstant gehalten. 5 9 Langfristige Aussagen sind vom ökonomischen Modell des Verhaltens allein nicht zu erwarten. Denn langfristig gesehen verändern sich auch die Präferenzen in Reaktion auf die Restriktionen. Verbreitet ist die Kritik, Homo oeconomicus sei mit dem Recht nicht vereinbar. So schreibt Karl-Heinz Fezer, stellvertretend für viele Juristen: „Das Menschenbild des geltenden Rechts ist zwar offen, aber nicht willkürlich. Es ist der Mensch der Grundrechtsdemokratie. Menschen- und Grundrechte, die Prinzipien des Grundgesetzes und der Länderverfassungen sowie die rechtserheblichen Vorgaben der internationalen Konventionen und Erklärungen bilden die rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb deren Aussagen über das Menschenbild einer pluralistischen Gesellschaft verbindlich zu treffen sind." 60 Diese Kritik erscheint fragwürdig, weil sie die normative und die empirische Ebene nicht auseinanderhält. Zwar ließe sich aus dem Grundgesetz ein Menschenbild destillieren, das den Staatsorganen als zu verwirklichendes Ziel, als Leitbild vorgegeben ist. Doch wenn dieser Gedanke gegen ein Verhaltensmodell vorgebracht wird, verkehrt er die Argumentationsrichtung. Warum Menschen Normen folgen, ist zunächst keine moralische oder rechtliche, sondern eine empirische Frage. 61 Moralisch oder rechtlich ist nur die Frage, warum Menschen Normen folgen sollen und was Normen fordern sollen. 62 Wenn etwa Ergebnis einer empirischen Untersuchung wäre, daß der Gesetzgeber gelegentlich von einer falschen Vorstellung vom Verhalten des Menschen ausgeht, so dürfte diese Erkenntnis nicht durch Verweis auf geltendes Recht abgeschnitten werden, weil ja gerade dieses der Kritik unterläge. Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich häufig mit den tatsächlichen Wirkungen des Rechts. Somit muß sie zu allererst zur Kenntnis nehmen, welche Wirkungen man auf welche Weise überhaupt erreicht. Dies aber hängt von menschlichem Verhalten ab. Es gehört zur Aufgabe einer Rechtskritik, die tatsächlichen Voraussetzungen normativer Urteile kritisch zu beleuchten. 63 58

Zu „Daumenregeln" für die Abschätzung siehe Teil III C. 4. b). Vgl. Opp (1983), S. 49 f. 60 Fezer (1988), S. 228. 61 Vgl. Koller (2001). 62 Diese beiden Ebenen gehen auch durcheinander, wenn Fezer (1986), S. 822, schreibt: „Die Ausrichtung der menschlichen Handelnsordnung an optimaler Ressourcenallokation offenbart das Menschenbild eines schieren Nutzenmaximierers." 59

32

Teil I: Einführung

Berechtigt wäre hingegen die Ermahnung, nicht vorschnell von einem „Menschenbild" zu sprechen. Das ökonomische Modell bleibt gegenüber einem zentralen Aspekt des Menschen agnostisch, nämlich gegenüber konkreten Nutzenfunktionen und deren Ursachen. Ohne eine gehaltvolle Position zur Frage des Inhalts und der Herkunft menschlicher Präferenzen/Interessen taugt das ökonomische Modell nicht als Menschenbild, sondern nur als Teil eines solchen. 64 6. Funktion, Anerkennung und „ Geltung " von Normen „Die vorhandene Gesamtheit von Rechtsnormen ... ist... wie andere Normen ohne Beteiligung rationaler Kontrolle aus dem unkontrollierten Verhalten vieler mehr oder weniger mächtiger Personen, ihren vielfältigen Erwartungen, Ansprüchen und Irrtümern entstanden. Gewiß ist der Umsetzungsprozeß, der Normen ins Staatliche überführt, wie der Staat selber ein Versuch zur Rationalisierung. Nur glaube man nicht, daß er vollständig geglückt sei, ja überhaupt immer ernsthaft unternommen werde. " 65 Zu den Restriktionen für menschliches Verhalten gehören - neben mangelndem Wissen, beschränkten Mitteln oder Fähigkeiten - insbesondere die gegenläufigen Interessen anderer. Aus der Kollisionsneigung von Interessen ergibt sich die Hauptfunktion von Normen: Konflikte zu entschärfen und den Boden für gedeihliches Sozialleben zu erhalten. Konflikte werden entschärft, indem durch normative Restriktionen für die Interessenverfolgung externe Effekte bedarfsgerecht internalisiert, eliminiert oder vernachlässigt werden. 66 Zu denken ist beispielhaft an Schadensersatzregelungen (zum Zwecke der Internalisierung negativer externer Effekte, gegebenenfalls mit abschreckender, dadurch eliminierender Wirkung), an das Urheber- und Patentrecht (zur Internalisierung positiver externer Effekte 67 ), Nachbarschutzvorschriften (Eliminierung), exklusive Verfügungsrechte bzw. property rights (welche besagen, daß niemand einen Gebrauch der Sache im Rahmen des Verfügungsrechts als Externalität verbieten kann 6 8 ), Grundrechte (die 63

In ähnlicher Tendenz Ott/Schäfer (1988), S. 218 f. In durchaus aufschlußreicher Weise versteht Fezer unter Rechtskritik eine Kritik seitens des Rechts (Genetivus subjectivus), nicht eine Kritik des Rechts (G. objectivus) bzw. am Recht. 64 Angesichts dessen sollte es auch fernliegen, aus der Ökonomie direkte Sollensanforderungen abzuleiten. Fezer ((1986), S. 823) meint zu Recht: „Dem Recht ist versagt, sich auf die Vorwegnahme der ökonomischen Wertung zurückzuziehen." Siehe auch ders. (1988), S. 225 ff.; Elliott (1997). 65 Noll (1969), S. 133. 66 Vgl. Opp (1983), S. 72. 67 Zur Normbildung bei positiven Externalitäten siehe Opp (1983), S. 78 f. 68 Property rights sind sanktionierte Verhaltensbeziehungen zwischen Menschen in Ansehung von Gütern und ihrer Nutzung. Zum Begriff siehe Fezer (1986),

Α. Normentstehung und Normbegriff

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dem einzelnen Freiheitsräume gegenüber negativen Externalitäten des Staatshandelns sichern), Strafrecht (Eliminierung) usw., kurz, an das ganze Kaleidoskop des Rechts und seiner sozialnormativen Vorgänger. Daß Konfliktlösung die Hauptfunktion von Normen sei, ist nicht unumstritten. Niklas Luhmann ist der Auffassung, Konflikte hätten die Funktion, unsichere durch sichere Erwartungen zu überformen. Denn der Konfliktgegner sei als solcher jedenfalls berechenbar, indem er sich einem Interesse entgegenstellt. 69 Damit steht das systemtheoretische Credo in Zusammenhang, Normen dienten in erster Linie der Erwartungserleichterung. 70 Dem ist in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Konflikte können zwar vielerlei Funktionen annehmen. Sie können etwa den Fortschritt der Gesellschaft beschleunigen oder Ungleichberechtigung abbauen. 71 Primär sind sie jedoch einfach unwillkommene Auswirkungen der Grenzen, an die die individuelle Interessenverfolgung unter Knappheitsbedingungen notwendig stößt; eine Funktion wird ihnen erst ex post zugeschrieben. Dementsprechend beschränkt sich die Funktion von Normen nicht auf Erwartungserleichterung. Wie noch auszuführen ist, ist im Gegenteil das Problem der Erwartungsunsicherheit für die Normentstehung von nur untergeordneter Bedeutung. Hinter dem, was eben mit „Regulierung von Externalitäten" umschrieben wurde, steht die vertraute Aufgabe des Rechts, Verantwortung zuzuschreiben. 7 2 Dem aus rechtsphilosophischer und rechtspraktischer Sicht nicht unproblematischen Verantwortungsbegriff entgehen allerdings positive Externalitäten, um deren Nutzung in der Rechtswirklichkeit häufig ebenso scharfe Konflikte ausbrechen wie um die Vermeidung oder Internalisierung negativer Externalitäten, auf die der Verantwortungsbegriff zugeschnitten ist. Die Funktion von Normen bedingt ihre Entstehung Ρ Allerdings handelt es sich weder um eine notwendige, noch um eine hinreichende Bedingung. Normen können funktionslos sein, z.B. wenn sich Wertmaßstäbe gewandelt haben und eine Norm nur noch als Hülle fortbesteht. 74 Umgekehrt muß eine bestimmte Funktion, die sich sehr wohl normativ erfüllen ließe (ein Regelungsinhaltsbedarf), nicht zwingend die Entstehung einer Norm nach S. 820 f.; Opp (1983), S. 11 ff. (mit dem richtigen Hinweis, daß nicht nur Rechte im juristischen Sinne gemeint sind) sowie Engel (1997), S. 87 Fn. 33. 69 Luhmann (1981b), S. 95 ff.; (1984), S. 529 ff. 70 So etwa J. F. K. Schmidt (1997), S. 437 unter Bezugnahme auf Luhmann. 71 Zur Funktion von Konflikten allgemein Coser (1956), passim, ν. a. S. 154 f. 72 Fezer (1986), S. 821. 73 Näher zum Verhältnis von Funktion und Struktur Teil III A. 74 Hingegen würde im Fall von symbolischen Normen oder Formelkompromissen keine Funktionslosigkeit vorliegen, da hier die Symbolik oder Streitbeilegung als (nicht aus dem Wortlaut der Norm ersichtlicher) Zweck anzusehen ist. 3 Wesche

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Teil I: Einführung

sich ziehen. Mit anderen Worten ist eine normative Erwartung nicht gleichbedeutend mit einer Norm. Dies widerspricht der Definition Niklas Luhmanns, derzufolge Normen kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen sind. 15 Normen und normativen Erwartungen ist zwar der präskriptive (vorschreibende) Charakter gemein. 76 Doch eine begriffliche Unterscheidung empfiehlt sich schon allein aufgrund der unterschiedlichen Weise, mit der wir über beide reden. Wenn wir sagen, daß es nach einer Norm Ν geboten oder verboten ist, χ zu tun, meinen wir nicht, irgend jemand erwarte, daß wir χ tun bzw. unterlassen. Eventuell meinen wir auch, daß jemand unsere Befolgung von Ν erwarte; diese Erwartung beruht dann aber wiederum auf N. Normen werden befolgt oder man beruft sich auf sie, Erwartungen werden befriedigt oder ihnen wird genügt. Das „Bestehen" oder die „Geltung" von Normen muß also von anderer Art sein als das rein empirische In-der-WeltSein einer normativen Erwartung, die jemand geäußert hat. Zu formulieren wäre also: Normen folgen aus normativen Erwartungen. Zu untersuchen ist später, welche weiteren Entstehungsbedingungen gegeben sein müssen. 77 Das Bindeglied zwischen Normerwartung und Norm in der Entstehung von Normen ist eine weitere Wertung - die nämliche Wertung, auf die sich die Wertungsjurisprudenz bezieht. Es handelt sich um eine (Be-)Wertung von Normerwartungen durch deren Adressaten. Ihr Ergebnis ist das Entstehen (oder Nichtentstehen) einer Norm bzw. deren Geltung. Indem Geltung von einer zustimmenden Wertung abhängig gemacht wird, kommt ein Moment der Anerkennung ins Spiel. 78 Geltung wird bestimmt als tatsächliche Anerkennung einer Norm im sozialen Kontext. Für die Anerkennung gibt es verschiedene Indizien. H. L. A. Hart etwa kombinierte hinsichtlich der Geltung der sog. Sekundärnormen psychologische und soziologische Kriterien. 79 Peter Koller stellt in ähnlicher Weise die tatsächliche Befolgung verbunden mit einer Billigung dieser Befolgung und Mißbilligung der Nichtbefolgung durch die soziale Umwelt in den Vordergrund. 80 Ohne Anerkennung ist die normative Erwartung nicht mehr als ein unverbindlicher Wunsch. Offen bleibt, welcher Prozedur die Anerkennung folgt, von wem oder von wie vielen der Adressaten oder Repräsentanten (z.B. Ältestenrat, Parlamentarier) sie ausgehen muß. 8 1 In jedem Fall aber muß sie von einer 75

Luhmann (1969), S. 30 ff., 37; (1983), S. 43 f. Auch stellen die meisten Normdefinitionen auf geäußerte Erwartungen als eines der Definitionsmerkmale ab; Lautmann (1969), Kap. 9; Opp (1983), S. 3 ff. 77 Luhmann selbst stellt auf die Stabilisierung normativer Erwartungen durch Dritte ab, die in der Institutionalisierung von Erwartungen resultiere; vgl. (1983), S. 64 ff. Dann aber muß der Einfluß Dritter m. E. auch in den Normbegriff eingehen. 78 Vgl. Hof (1996), S. 407 ff. 79 Hart (1961), S. 89 ff. Dazu Wesche (2000a), S. 257 f. 80 Koller (1993), S. 266 f. 76

Α. Normentstehung und Normbegriff

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ausreichend großen bzw. mächtigen Gruppe von Menschen oder von einflußreichen Einzelpersönlichkeiten ausgehen.82 Adressaten und Schöpfer von Normzumutungen können identisch sein, müssen es aber nicht. Nach der erstmaligen Entstehung einer Norm verliert die Dichotomie von Schöpfern und Adressaten an Bedeutung und weicht dem Verhältnis von Norm und Normunterworfenen. In der Tradition der Gesellschaftsvertragsentwürfe versuchte man, jene Dichotomie aufzuheben. Der Bürger sollte demzufolge nur solchen Normen unterworfen sein, denen er selbst - und sei es generell und antizipierend - zugestimmt hat. Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß Normen aufgrund von Interessenkonstellationen nicht nur entstehen, sondern auch fortbestehen. 83 Die Entstehungssituation wird lediglich entpersonalisiert. Eine weitere „Rolle" im Geschehen ist die des Normanwenders. 84 Auch Normanwender fallen häufig mit Normsetzern und/oder -adressaten zusammen, wobei hier offensichtlich der moderne Grundsatz der Gewaltenteilung hineinspielt. Auch wäre ein allgemeiner Begriff von Kontrolle einzuführen, der es erlaubt, formelle und informelle Verfahren der Normanwendung und -durchsetzung zu erfassen. 85 Normanwendung und Kontrolle bleiben in dieser Arbeit als Nachfolgephänomene der Normentstehung weitgehend ausgeblendet. Gleiches gilt für amorphe Normwirkungen wie die bloße (vorteilhafte oder nachteilige) Betroffenheit von Normen, ohne deren Adressat zu sein. 86 Normen sind Resultanten sozialer Prozesse. Sie sind weder metaphysische Entitäten, noch besitzen sie eigenständige kausale Macht, um das Verhalten von Menschen zu dirigieren. 87 Sie wirken nur über die Veränderung der voraussichtlichen Kosten/Nutzen-Bilanzen des Handelns von Individuen, indem es nämlich andere Individuen gibt, die sie durchzusetzen bereit 81

Vgl. Coleman (1986), S. 56. Die Berufung kann auch auf eine bloß angeblich schon bestehende Norm erfolgen. Nicht die Aufforderung „ich will nicht, daß du dies tust" erzeugt dabei eine Norm, sondern die Verallgemeinerung „das tut man nicht", obwohl in beiden Fällen die normative Erwartung identisch ist (daß du dies nicht tust). Daß die Norm noch gar nicht besteht, wenn die Berufung erfolgt, ist unerheblich. Normen entstehen hier, indem man sich auf sie beruft, indem man sozusagen den Schritt der Anerkennung stillschweigend voraussetzt. 83 Bicchieri (1993), S. 232. 84 Vgl. Hof (1996), S. 102 ff. 85 Ebd., S. 428 ff. 86 Ebd., S. 102 ff. („Betroffene" und „Nutznießer" von Normen). 87 Vgl. Ullmann-Margalit (1977), S. 8: „Norms do not as a rule come into existence at a definite point of time, nor are they the result of a manageable number of identifiable acts. They are, rather, the resultant of complex patterns of behaviour of a large number of people over a protracted period of time." Siehe auch ebd., S. 17. Ähnlich Bicchieri (1993), S. 229 ff. und passim. 82

3*

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Teil I: Einführung

sind (dies verweist auf die Problematik der Sanktionierung, auf die gleich zurückzukommen ist). Dementsprechend ist der hier verwendete Begriff von „Geltung" deskriptiv und empirisch: Es geht nicht um Legitimität, sondern um tatsächliche Anerkennung. Der Einfachheit halber ist hier von „Norm" die Rede, da eine Unterscheidung von Sozial- und Rechtsnorm - wie bereits angedeutet - insoweit erläßlich ist. Die Ausdifferenzierung von Rechts- aus Sozialnormen erfolgte historisch erst spät, jedenfalls erst, nachdem die zu regelnden Bedürfnisse im Grundsatz längst entstanden waren. 88 Den Bedürfnissen folgte nach, was wir heute als Gewohnheitsrecht bezeichnen: ungeschriebene Normen, die durch die stillschweigende, langandauernde Anerkennung eines normativen Sachverhalts durch die für die Anerkennung relevanten Personen oder Institutionen sich herauskristallisieren. 89 Normen reagieren auf Grundfunktionen menschlichen Zusammenlebens. Sie sind keine Erfindung von Philosophen, Religionsstiftern oder Parlamenten der letzten 2000 Jahre. Kodifizierungen waren meistens nichts anderes als die Ratifizierung und Absicherung, nur im engen Rahmen auch Modifizierung eingespielter normativer Praktiken. 90 Schon allein das Erfordernis einer ausreichenden Anerkennung der Kodifizierung garantierte deren Übereinstimmung mit dem „lebenden Recht" (E. Ehrlich). Einmal entstanden, unterlagen Gewohnheitsnormen einer laufenden Anpassung an geänderte Situationen. Friedrich August von Hayek bemerkt, daß „... even though order developed spontaneously because the individuals followed rules which had not been deliberately made but had arisen spontaneously, people gradually learned to improve those rules." 91 Erst später, unter veränderten soziokulturellen Bedingungen, entstand ein Bedarf nach den Spezifika des Rechts, insbesondere seiner institutionalisierten Sanktionsmacht und größeren Regelungssicherheit. 92 Damit eröffnete sich dem Recht eine dynamische Entwicklung, die es von seinen sozialnormativen Wurzeln entfernte. Doch jede Rechtsnorm ist, was ihren Inhalt angeht, als eine soziale Gewohnheitsnorm vorstellbar, wenngleich ihre (Rechts-)Form auf die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und in der Formulierung auf die bestehende Normsystematik zugeschnitten ist. 9 3 Ob eine Norm vertraglich vereinbart, parlamentarisch beschlossen 88

Luhmann (1981a); Röhl (1987), S. 213 ff.; Wimmer (1997), S. 215 ff. Hayek (1973), passim, und Opp (1983), S. 107, 205 ff., sprechen hier von „evolutionärer Normentstehung", Vanberg (1994), passim, von „evolutorischer Normentstehung". 90 Young (1998), S. 4. 91 Hayek (1973), S. 45. 92 Vgl. Hof (1996), S. 157. 93 Ähnlich Koller (1993), S. 266, 278. 89

Α. Normentstehung und Normbegriff

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oder autoritär oktroyiert wird oder auch spontan entsteht, ist unabhängig von der Frage, welchen Inhalts die Norm ist. Gegenstand dieser Arbeit sind nicht die Setzungsverfahren oder spezifischen Normkonstruktionen, sondern der inhaltliche Kern von Normen, der sich letztlich und bis heute auf menschliche Bedürfnisse und Interessen zurückführen läßt.

7. Konfliktnormen

und Sanktionen

Würden Normen durchweg aus völlig übereinstimmenden Erwartungen aller Beteiligten entstehen, wären sie aus sich heraus wirksam. Mehr noch: Sie wären überflüssig oder bestenfalls symbolisch. Es wäre auch sinnlos, „du sollst oft genug Atem holen!" für eine Norm zu halten. Denn zum Atmen muß niemand aufgefordert werden. Zudem droht kein Interessenkonflikt: Wer sollte durch die Norm wovon abgehalten werden? Ohne reale Möglichkeit und eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Nichterfüllung einer normativen Erwartung besteht kein Normierungsbedarf, ja der Begriff der normativen Erwartung wäre gegenstandslos. Umgekehrt gilt das Entsprechende: Eine Norm, die nie befolgt wird und deren Einhaltung nie gefordert wird, weil sie in niemandes Interesse liegt, besteht ebenfalls nicht. Zweifelsfälle und fließende Übergänge sind allerdings häufig. So tendieren sanktionslose Normen zum Verschwinden, etwa wenn sich Wertmaßstäbe in einer Gesellschaft geändert haben und bestimmte Übertretungen nicht mehr als problematisch angesehen werden. 94 Der hier interessierende - knappheitsbedingte - Regelfall ist jedoch, daß normative Erwartungen im menschlichen Verkehr kollidieren. Daraus hervorgehende Normen heißen Konfliktnormen. Weil der Konflikt bewirkt, daß sie nicht freiwillig eingehalten werden, bedürfen sie der Sanktionierung. 95 Sanktionierung ist eine besondere Form von Verhaltensrestriktion. Sie verändert die Nutzen/Kosten-Bilanz eines geplanten Verhaltens, wozu die Norm allein nicht in der Lage ist. Es gibt sie in mehreren Formen: - Negative Sanktionen sind Strafen jeglicher Art, positive Sanktionen meinen Belohnungen und Anreize. Wirksam bei der Verhinderung von Normbrüchen ist in der Regel schon die Androhung von negativen Sanktionen, also Prävention. Müßte eine Norm ständig durch tatsächliche Vollstreckung der Sanktion gesichert werden, würde sie in vielen Fällen reformiert oder abgeschafft, weil sie zu hohe gesellschaftliche 94 Man denke an das Beispiel des Kuppeleiparagraphen des Strafgesetzbuches; vgl. BGHSt GrS 6, 46. 95 Siehe Hart (1961), S. 84 f.; Ullmann-Margalit (1977), S. 12 f.; Korthals-Beyerlein (1979), S. 147 f.; ausführlich noch V. C. - Luhmann ((1969), S. 39) hält Sanktionen nicht für ein taugliches Definitionsmerkmai von Normen.

Teil I: Einführung

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Kosten verursachte. Positive Sanktionen sind vermutlich seltener als negative. Denn es gilt als „normal", Normen einzuhalten. 96 Außerdem sind positive Sanktionen teurer, denn gerade wenn sie funktionieren, muß die ausgesetzte Belohnung (Steuervergünstigung, Subvention, Prämie) gewährt werden. Allerdings werden in der Demokratie gerne mittels Positivsanktionen „Geschenke" an die Wählerklientel gemacht. Verbreitet sind auch kostenlose Positivsanktionen wie Lob. 9 7 An den Beispielen wird deutlich, daß hier genauer nach Norm und Lebensbereich zu differenzieren wäre. - Eine weitere Unterscheidung betrifft soziale und rechtliche Sanktionen. Soziale Negativsanktionen reichen von der Verbreitung eines schlechten Rufs über Ausgrenzung bis zu Vertreibung und todbringenden Strafen. Rechtliche Negativsanktionen unterscheiden sich grundsätzlich nicht in der Schwere der Sanktion, sondern dadurch, daß erstens feste Rechtsfolgen (z.B. Strafrahmen) an rechtlich umschriebene Tatbestände geknüpft und so sozialer Beliebigkeit entzogen werden, zweitens diese Rechtsfolgen gegebenenfalls in formalisierten Verfahren ausgesprochen werden. Entsprechendes gilt für Positivsanktionen. - Schließlich kann man Sanktionen in extrinsische und intrinsische unterscheiden. Extrinsische Sanktionen werden von außen über den Akteur verhängt, während intrinsische Sanktionen im Innern der Psyche des Akteurs ausgelöst werden. Intrinsische Sanktionen fallen aus dem herkömmlichen Sanktionsbegriff heraus, werden aber von Sozialpsychologen und Ökonomen gerne hinzugezählt. 98 Es handelt sich um das „gute Gefühl", das sich bei Normkonformität, und den „Gewissensbiß", der sich bei Normbruch einstellt. Das gute Gefühl muß nicht von der Konformität als solcher ausgehen, sondern kann etwa auf den Vorteil zurückzuführen sein, den man sich von der Normbefolgung verspricht. Intrinsische Sanktionen können von der Angst vor Bestrafung oder vom Streben nach Belohnung herrühren, also in der Sozialisation durch extrinsische hervorgerufen worden sein. Wie steht es mit Verhaltensregeln, deren Einhaltung uns gar nicht bewußt wird, die wir wie selbstverständlich befolgen? 99 Manche Höflichkeits- oder Hygienevorschriften etwa gehören in diese Gruppe. Hier scheinen Konflikte und Sanktionen keine Rolle zu spielen. 100 Auszuscheiden sind allerdings 96

Röhl (1987), S. 205. Raiser (1995), S. 245. 98 Vgl. Coleman (1986), S. 56; Bierhoff (1998), S. 93 ff. 99 Zur Abgrenzung des Regelbegriffs Lewis (1969), S. 101 ff. 100 Manche wollen auch den Begriff des Brauches mit solchen Regeln verbinden, etwa Röhl (1987), S. 200 f. 97

Α. Normentstehung und Normbegriff

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zunächst solche Regeln, die nur Gewohnheiten bezeichnen. Es geht hier nicht darum, daß man „ i n der Regel", „regelmäßig" etwas tut, sondern daß man es tun soll, weil es von einer Regel verlangt w i r d . 1 0 1 Eine weitere Gruppe von „Regeln" - Gebrauchsanweisungen, Schaltregeln beim Auto etc. - sind ebenfalls keine Normen im vollen Wortsinne, sondern technische Anweisungen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie selbst gesetzten Zwecken Mittel zuordnen. Jeder, der Auto fahren will, wird sich, Befähigung vorausgesetzt, den Schaltregeln unterwerfen. Ob der Zweck jedoch gesetzt werden muß, ist nicht vorgeschrieben. Des weiteren kann es für die Klassifikation einer Norm oder Regel als Konfliktnorm nicht darauf ankommen, ob bei der Befolgung das Bewußtsein beteiligt ist. Wenn eine Norm unbewußt befolgt wird, kann das z.B. an entsprechender frühkindlicher Sozialisation liegen. Gleichwohl sind solche „Gewissensnormen" sanktioniert, im Fall ihrer Befolgung positiv durch Belobigung und das angenehme Gefühl der Normkonformität und im Fall ihrer Mißachtung negativ durch Bestrafung und Gewissensbisse. 102 Zweifelhaft ist schließlich, ob es viele Normen gibt, die man „selbstverständlich" befolgt. Eine solche Befolgung wird zwar aus erzieherischen Gründen immer wieder angemahnt. Doch zeigt dies gerade, daß sie sich nicht von selbst versteht. Zum einen bestehen durchaus unterschiedliche Ansichten darüber, was höflich ist, sich ziemt oder wie sauber man zu sein hat. Diese Ansichten variieren in der Zeit und im kulturellen Vergleich. Zudem handelt es sich auch nicht um „interessenfreies Gebiet": M i t der Beachtung solcher Normen werden Gruppen- und Schichtenzugehörigkeit, Statusunterschiede und Wohlwollen signalisiert. Mißachtungen unterliegen sozialer Sanktionierung. 103

8. Konfliktnormen,

Konventionen,

Verteilungsnormen

Was das Recht anbelangt, gehen viele Stimmen davon aus, daß Konflikt und Macht die Ursachen von Normen sind. Hobbes unterstrich den Machtaspekt mit seinem „non Veritas sed auctoritas facit legem". 1 0 4 Rudolf v. Jhering stellte fest: „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht ... setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus. Das Recht ist kein logischer, sondern ein Kraftbegriff." 105 101 102 103 104

Dazu Hart (1961), S. 9 ff. Zum Gewissen noch Teil IV B. 10. Ausführlich Teil V B. 6. a). Hobbes (1651/1991), Kap. 26 u.ö. Dazu Höffe (1987), S. 130 ff.

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Auch Rechtsanthropologen, 106 -verhaltensforscher, 107 -Soziologen108 und -ethnologen 109 betonen die Rolle des Konflikts in der Rechtsentstehung. Sogar die Grundrechte werden als Konfliktnormen angesehen. Der Staatsrechtler Ekkehard Stein warnt, vom Wortlaut einer Norm dürfe man sich nicht ablenken lassen, etwa wenn dieser wie im Fall der Grundrechte eher auf absolute Garantien von Weiten hinweist: „Alle Normen dienen der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Ein Ordnungsbedürfnis besteht nur für Konfliktsfälle. So enthalten alle Rechtssätze Maßstäbe für die Entscheidung von Konflikte(n) im Zusammenleben der Menschen."110 Trotz dieser Einhelligkeit quer durch die Disziplinen erscheint prüfenswert, wie weit ein Ansatz trägt, der im Interessenkonflikt entscheidende Wurzeln von Normen ausmacht. 111 Gerade im außerrechtlichen Bereich scheinen Normen zu bestehen, die nicht auf reziproke Konfliktlösung im Sinne einer beiderseits akzeptablen Verhandlungslösung zielen, sondern auf Rücksichtnahme gerade gegenüber solchen Mitgliedern der Gesellschaft, die in Konflikten keine starke Position haben. Religiöse Nächstenliebegebote ebenso wie die Moralphilosophie Kants und anderer etwa sehen von der Gewichtung von Interessen ab und verweisen auf die bloße Tatsache des Menschseins als Anknüpfungspunkt von Respekt und Achtung. Allerdings bleibt zunächst offen, ob diese Normen nicht doch letztlich im Konflikt insofern wurzeln, als mittels ihrer soziale Konflikte entschärft werden sollen. Des weiteren fragt sich, ob die Normen auch wirklich erfüllt werden. Außerdem kann es Teil einer Machtstrategie sein, sich zu moralischen Normen zu bekennen und ihre Einhaltung (von anderen!) zu fordern. Es ist - auch im Fortgang dieser Arbeit - stets auf mittelbare Normwirkungen zu achten, zwischen dem Normtext und der Normwirklichkeit zu unterscheiden und das Eintreten für eine Norm als eigenständiger Faktor zu würdigen. Eine Gruppe von Normen wird von einem konfliktuellen Ansatz tatsächlich nur am Rande eifaßt. Das Rechtsfahrgebot in Deutschland etwa ist eine 105

Jhering (1872), S. 22. Die von Jhering betonte Opposition ist allerdings zu stark. Das Recht existiert sowohl als logischer als auch als Kraftbegriff, nämlich einmal zur Abgrenzung von anderen Formen von Norm(-system)en, zum anderen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und im Entstehungszusammenhang. 106 Siehe nur Lampe (1992b), S. 7. 107 Siehe nur Hof (1996), S. 183. 108 Siehe nur Opp (1983), S. 59. 109 Siehe nur Schott (1970), S. 144 m.w.N. 110 E. Stein (1998), S. 212. 111 Zur Reichweite von Normtheorien siehe Eichner (1981), S. 130 ff.; Opp (1983), S. 22.

Α. Normentstehung und Normbegriff

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reine Konvention} 12 Man hätte sich genauso gut auf Linksfahren einigen können. Wichtig war nur, daß man sich überhaupt einigte. 1 1 3 Ein weiteres Beispiel ist: Auf welchen Industriestandard legen sich verschiedene Hersteller von solchen Produkten fest, die untereinander kompatibel sein sollten? Hier muß man Verhalten koordinieren, 114 Interessenkonflikte bestehen insoweit nicht unbedingt, sind aber auch nicht ausgeschlossen. Wenn meine Frau und ich heute abend ausgehen wollen, sie aber ins Kino und ich ins Theater möchte, 1 1 5 haben wir zwar keinen Interessenkonflikt, insofern wir überhaupt etwas gemeinsam unternehmen wollen. Unsere Koordination leidet aber unter unterschiedlichen Vorlieben. Auch im Rechtsfahrbeispiel sind divergierende Interessen denkbar. Beispielsweise könnte ein Autohersteller, der auch in England Autos verkauft, das Interesse haben, nur einen Typ Autos mit Steuer auf der rechten Seite zu bauen. Auch Industriestandards sind hart umkämpft, wenn die beteiligten Unternehmen bereits in bestimmte Systeme investiert haben und deswegen „ihr" System als marktbreiten Standard durchsetzen wollen. Solche Koordinationsprobleme können „unrein" heißen. Sie ziehen zwar eine Konvention nach sich, die aber zur Gruppe der Konfliktnormen zu zählen ist und unreine Konvention genannt werden soll. Daß Konfliktnormen zustande kommen, kann selbstverständlich auch auf eine spezifische gegenseitige Interessenkongruenz zurückgehen, z.B.: ich verzichte auf die Aneignung deiner Güter, weil und insofern du dies bezüglich meiner Güter tust. Doch geht dieser Kongruenz eine Interessenkollision voraus, nämlich in diesem Fall das unvereinbare Habenwollen möglichst vieler Güter. Dieses Zusammenspiel von Interessenkollision und -kongruenz kann in seiner Bedeutung für menschliches Zusammenleben gar nicht überschätzt werden. Die theoretischen Konsequenzen sollen im weiteren Verlauf der Arbeit erörtert werden. Koordinationsnormen entstehen besonderes oft durch stillschweigende Übereinkunft, „gewohnheitsrechtlich". 116 Hierbei geht der expliziten oder 112

Zum Begriff der Konvention siehe Hume (1739/1978), book III part II section II, S. 490; Lewis (1969), Kap. I 4 und passim. 113 Vgl. zu diesem Beispiel Young (1998), S. 16 ff. Bei ihm wird deutlich, wie komplex die Einführung bzw. das Einspielen einer Konvention in der Realität sein kann. 114 Ullmann-Margalit (1977), S. 10 und Kap. III. - Ein weiteres klassisches Beispiel für ein Koordinationsproblem ist: Wie schaffen wir es, nachdem wir uns auf dem Markt aus den Augen verloren haben, uns wiederzutreffen, wenn es mehr als einen möglichen Ort dafür gibt? Vgl. Rieck (1993), S. 43 ff.; Schelling (1960), S. 83 ff., 291 ff. - Zur Formalisierung von Koordinationsspielen siehe Teil IV B. 4. 115 Beispiel nach Thibaut/Kelley (1959). Es hat in der spieltheoretischen Literatur den Namen „Kampf der Geschlechter" („battle of the sexes") erhalten. Siehe Luce/Raiffa (1957), S. 90 ff.

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Teil I: Einführung

explizierbaren Konvention ein eingespieltes Verhaltensmuster voraus, das sich bewährt hat und an das sich ausreichend viele Personen halten, um es nachahmenswert zu machen. Darin liegt allerdings höchstens ein gradueller Unterschied zu Konfliktnormen, die, wie erwähnt, ebenfalls aus Gewohnheiten erwachsen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Normtypen besteht aber darin, daß jeder der Beteiligten einen hinreichenden Grund hat, Konventionen tatsächlich zu befolgen} 11 Sie sind bereits dadurch sanktioniert, daß bei Nichtbefolgung das erstrebte gemeinsame Ziel nicht erreicht wird. Bei umeinen Konventionen ist der Abweichungsanreiz zwar nicht gleich Null, wird aber in der Regel durch erhebliche Kosten aufgewogen. Obwohl sie zu den Konfliktnormen zählen, erreichen unreine Konventionen ohne weitere Sanktionsmechanismen eine weitgehende Befolgung. Schließlich sei ein weiterer Typus von Konfliktnormen erwähnt: Verteilungsnormen. Sie beziehen sich darauf, wie eine Ressource unter Interessenten aufzuteilen ist. Bei Verteilungsproblemen handelt es sich um ein Nullsummenspiel: Was die einen gewinnen, verlieren die anderen. Der Gesamtnutzen aller Beteiligten ist immer gleich N u l l . 1 1 8 Normen können hier jedoch zusätzlichen Nutzen schaffen, indem sie Streitigkeiten verhindern. Beispiele für Verteilungsprobleme sind die Aufteilung einer Erbschaft, die Gewinnaufteilung aus einer Gesellschaft oder „das alljährliche Gerangel der Zweige der öffentlichen Verwaltung um die Verteilung des Staatshaushalts". 1 1 9 Allerdings liegen hierbei keine reinen Verteilungsprobleme vor. In allen Fällen mischen sich weitere Kriterien hinein, die über die Verteilung bestimmen sollen. Ist das nicht der Fall, bieten sich Verfahrenslösungen an, wie etwa: Der eine teilt, der andere wählt. Oder man läßt unabhängige Dritte die Verteilung vornehmen (vgl. § 317 BGB). Da Verteilungsnormen offensichtlich Konfliktnormen sind, erübrigt sich im übrigen eine abgesonderte Behandlung. 9. Begriff

der Konfliktnorm

Eine Konfliktnorm entsteht bzw. gilt nach dem bisher Gesagten, wenn folgende Umstände zusammenkommen (Tabelle 2): 116

Koller (1993), S. 282 f.; Ullmann-Margalit (1977), S. 83 ff. - Konventionen müssen nicht einmal explizierbar sein. Ein Beispiel für ein Regelwerk von Konventionen, das nur Fachleute explizieren können, ist die jeweilige Muttersprache. Vgl. Lewis (1969). 117 Koller (1993), S. 278. 118 Luce/Raiffa (1957), S. 158 f. Voraussetzung ist, daß der enttäuschte Nutzen der „Verlierer" mit negativen Auszahlungen quittiert wird. 119 Koller (1993), S. 271.

Α. Normentstehung und Normbegriff

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Tabelle 2

Faktoren der Normentstehung a) Es besteht ein Interesse an einem bestimmten Verhalten bzw. an einer bestimmten Regulierung von Externalitäten; b) dieses Interesse führt zu bestimmten Situationsbewertungen und wird als normative Erwartung geäußert; c) die Erwartung wird aufgrund konfligierender Interessen anderer nicht mit Sicherheit erfüllt; d) ein bestimmter, ggf. typisierter Abgleich der Erwartungen mit dem Verhalten erfährt hinreichende gesellschaftliche Unterstützung bzw. Anerkennung und wird e) mit positiven Sanktionen (Anreizen jeder Art) versehen oder mit negativen Sanktionen (Strafen, Ausgrenzung etc.) gegen die konfligierenden Interessen durchgesetzt.

Regelungsinhaltsbedarf (Normbedarf)

Entstehungsfund Fortbestands-) Bedingung

Aus diesen Elementen der Normentstehung ergibt sich zwanglos eine Arbeitsdefinition: Konfliktnormen sind hinreichend anerkannte sowie sanktionierte Bewertungen ggf. typisierter Sachverhalte zum Zwecke des Abgleichs konfligierender normativer Erwartungen. 120 Zu erinnern ist daran, daß Konfliktnormen den überwiegenden Bestand von Normenordnungen und des Rechts ausmachen. Die Definition bezieht sich nur deswegen nicht auf „Normen" allgemein, weil reine Konventionen unberücksichtigt bleiben. Soweit im folgenden von „Norm" die Rede ist, sind, soweit nicht anders vermerkt, Konfliktnormen gemeint. Während in der Theorie der Normentstehung allen diesen Elementen ein hervorgehobener Rang zukommt, werden einige von ihnen charakteristischerweise in der Normformulierung unterdrückt, um erst in der Normauslegung wieder zum Vorschein zu treten. 121 Nur die abstrahierten Erwartungen und die Sanktionen fließen regelmäßig in die Formulierung ein. Die juristischen Kategorien von Tatbestand und Rechtsfolge werden jedoch durch Wertungen verklammert und von komplexem Interessenausgleich unterfangen. 122 120

Ähnliche Definitionen bei Opp (1983), S. 6 f.; Röhl (1987), S. 201. Ähnlich Hof (1996), S. 77. 122 Nach Lampe (1991), S. 228 ff., entspricht der juristischen Unterscheidung von Tatbestand und Rechtsfolge die Gefühlsdimension von Erregung vs. Beruhigung. Vgl. zur Kritik an Normbegriffen, die der Rolle von Wertung nicht gerecht 121

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Teil I: Einführung

Dies begründet zugleich die Relevanz der Normentstehungstheorie für Rechtstheorie und juristische Auslegung.123 Der hier vertretene Konfliktnormbegriff ist an die Rechtstheorie problemlos anschlußfähig. Eine der einflußreichsten Rechtstheorien der Gegenwart, die sich als bloße Bestimmung des Rechtsbegriffs versteht, fußt auf empirischen Elementen wie sozialen Praxen und der Anerkennung von Normzumutungen. In seinem The Concept of Law entwickelt H. L. A. Hart einen gemäßigt positivistischen Begriff des Rechts. Das Recht wird, anders als bei Kelsen, nicht als rein logisches Konstrukt verstanden, sondern als gesellschaftlich-psychisches Produkt. 124 Recht ist nach Hart ein System sozialer Regeln. Sie sind sozial, indem sie sowohl das Sozialverhalten der Rechtsunterworfenen regeln als auch aus sozialen Verhaltensweisen heraus entstehen.125 Dementsprechend beziehen die Regeln ihren Inhalt aus sozialen Funktionen. Daraus erklärt sich der „minimale naturrechtliche Gehalt" des Rechts („minimum content of natural law"). 126 Insoweit fehlt den Regeln jedoch noch ihre normativpräskriptive Qualität. Diese liegt in der Gültigkeit, die eine bestimmte „primäre Regel" (primary rule) innerhalb eines Rechtssystems besitzt. Welchen Regeln wiederum diese Gültigkeit zukommt, bestimmt sich in Anwendung der „Anerkenntnisregel" (rule of recognition). 127 Diese grundlegende Regel selbst ist dann in Geltung, wenn die offiziellen Rechtsanwender sie als bindend betrachten. Die Rechtsunterworfenen demgegenüber müssen die Primärregeln im großen und ganzen beachten, andernfalls wird deren Geltung zweifelhaft. Wenn also Hart Recht als intrinsisch normatives Konstrukt betrachtet, schneidet er sich, anders wiederum als Kelsen, nicht den Weg zu einem empirischen Verständnis der Rechtsquellen und Ursachen der Rechtsbefolgung ab. 128

werden, Engisch (1983), S. 33 f.; Larenz (1991), S. 253 ff.; Wesche (2000a), S. 269 ff.; auch Hof (1983), S. 362 ff. sowie (1996), S. 76 ff. 123 Hof (1983), S. 358: „Auch bei der Normauslegung legt der Jurist damit Verhalten aus." 124 Hart (1961), S. 89 ff. 125 Ebd., S. 27 ff., 38 ff. 126 Dazu ebd., S. 189 ff. Wenn damit auch alle Normsysteme, rechtliche wie moralische, bestimmte inhaltliche Überschneidungen aufweisen, beharrt Hart gleichwohl auf einer begrifflichen Unterscheidung von Recht und Moral; ebd., S. 181 ff. 127 Ebd., S. 92 ff. Zur Kritik der Konzeption der Anerkenntnisregel Dworkin (1978), Kap. „The Model of Rules II"; Wesche (2000a), S. 262 ff. 128 MacCormick (1981), S. 26: „ . . . in this respect Hart is a Humean where Kelsen is a Kantian".

Α. Normentstehung und Normbegriff

10. Verhaltensunsicherheit

als normbildender

45

Faktor

Der Faktor der Offenheit des menschlichen Verhaltens scheint im Verlaufe dieser Exposition verlorengegangen zu sein. Tatsächlich haben Normen und andere Institutionen wohl unbestritten auch zum Ziel, die für das Zusammenleben notwendige Verläßlichkeit wiederherzustellen. 129 Zwar können mangelnde Information über das Verhalten des Gegenüber auch durch wechselseitiges Vertrauen ausgeglichen werden. 130 Doch Vertrauen muß berechtigt sein. Je geringer der Einfluß enger persönlicher Beziehungen (Verwandtschaft oder Freundschaft), desto weniger berechtigt ist Vertrauen und desto größer die Notwendigkeit für Normen. 131 Diese kompensieren die mangelnde strikte Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens durch die „weiche" Vorhersagbarkeit normkonformen Verhaltens. Damit reduzieren sie nach Luhmann (doppelte) Kontingenz und Komplexität.132 Die Kontingenz wird gemindert durch die geringere Gefahr enttäuschter Erwartungen, die Komplexität durch die Selektion gebotener (damit wahrscheinlicher) und verbotener (damit unwahrscheinlicher) Handlungen aus der Gesamtsumme möglicher Handlungen.133 Mit Arnold Gehlen und Theodor Geiger „entlasten" Normen von den Unsicherheiten mangelnder Instinktbindung. 134 Doch wird die Bedeutung der normativen Entlastung von Verhaltenskontingenzen häufig überschätzt. Eine weitgehende Kontingenz- und Komplexitätsreduktion durch Normen scheitert oft daran, daß Normen entweder in ihrer Tatbestandsbeschreibung oder in ihrer Normfolgenanordnung oder in beidem nicht sehr präzise, außerdem in ihrer Anwendung elastisch sind. Zudem kann man sich gegenüber Normen, gleich wie präzise sie formuliert sind, wiederum in bestimmter Weise verhalten. Man kann sich ihnen fügen oder ihnen zuwiderhandeln. Weil Normgehorsam nicht garantiert ist, heben Normen die Offenheit menschlichen Handelns nicht auf. Auch Sanktionsdrohungen können normkonformes Verhalten in der Regel nicht sicher herbeiführen. Der Hauptgrund, weshalb der Verhaltensoffenheit keine eigenständige theoretische Rolle zukommt, ist schließlich, daß sie unspezifisch ist. Die Unsicherheit von Erwartungen an das Verhalten anderer kann prinzipiell 129

Vgl. Koller (1997), S. 54 m.w.N. Zum Phänomen des Vertrauens Teil I V Β. 8. 131 Ullmann-Margalit (1977), S. 47. 132 Luhmann (1969). 133 Vgl. auch Kappelhoff (1995), S. 11. 134 Gehlen (1964), S. 70 ff., versteht Institutionen als Entlastung für mangelnde „Erbfestigkeit" von Verhalten beim Menschen. Vgl. auch Th. Geiger (1949/1987), S. 35. 130

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Teil I: Einführung

durch jede beliebige normative Festlegung gemindert werden. 135 Ähnlich Konventionen wären Normen, die nur dieses Ziel verfolgen, inhaltlich überhaupt nicht festgelegt. Die Verhaltensoffenheit ist daher als Normgenesefaktor nur insofern interessant, als sie den Bedarf nach Normen unterstreicht. 11. Gegenseitigkeit Spezielles Augenmerk soll auf der Entstehung von Gegenseitigkeit und Gegenseitigkeitsnormen liegen. Bei ihnen handelt es sich zum einen um eine besonders wichtige Gruppe von Konfliktnormen, solche nämlich, die Probleme im gegenseitigen zwischenmenschlichen Verkehr betreffen. Zum anderen beschreibt Gegenseitigkeit einen allgemeinen, d. h. für alle Norminhalte gültigen normbildenden Faktor im Interessengefüge des Menschen.136 Die Synonyme „Reziprozität" und „Gegenseitigkeit" bezeichnen als soziologische Kategorie menschliche Sozialbeziehungen des wechselseitigen Gebens, Nehmens und Einwirkens. 137 Es kommt begrifflich nicht darauf an, ob materielle Güter und Dienstleistungen oder immaterielle Werte (wie emotionale Unterstützung, soziale Anerkennung) ausgetauscht werden, oder ob das Ausgetauschte angenehm oder unangenehm (Vergeltung) ist. 1 3 8 Der reziproken Sozialbeziehung entsprechen psychische Neigungen auf Seiten des Gebenden wie des Nehmenden. Wer gibt, erwartet meistens früher oder später eine Gegenleistung; wer nimmt, betrachtet sich oft zur Gegenleistung verpflichtet. 139 Auch moralisch imprägnierte Selbstbeschreibungen und personale Konzepte wie Selbst- und Fremdachtung kommen ins Spiel. Es gehört sich und drückt Respekt aus, Leistungen zu erwidern. Daran erkennt man, daß Gegenseitigkeit auch eine normative Färbung besitzt. Wenn davon die Rede ist, daß ein reziprokes Verhältnis unterhalten wird, meint das häufig nicht nur, daß die Beteiligten überhaupt eine Austauschbeziehung haben, sondern daß sie eine (nach welchem Maßstab kom135

Ähnlich Opp (1983), S. 129 f. Siehe Teil V B. 1. 137 Vgl. Mühlmann (1969), S. 328; Ritter (1974), Sp. 119; auch Sprenger (1992) und allgemein L. C. Becker (1986). - Bei Wesel (1985), S. 88 f., wird der Begriff der Gegenseitigkeit für das Zivilrecht reserviert, der Begriff der Reziprozität hingegen auf archaische Gesellschaften angewendet. Das hat seinen Grund in Wesels Annahme, zwischen heutiger Gegenseitigkeit und früherer Reziprozität bestünde ein substantieller Unterschied. Dazu noch Fn. 35 zu Teil V. 138 Dazu Gehlen (1964), S. 45 mit einem ähnlich weiten Reziprozitätsbegriff, der bei ihm ebenfalls als Grundkategorie der Geselligkeit fungiert (s. S. 46 ff.). Die Kategorisierung als „angenehm" oder „unangenehm" könnte als unwissenschaftlich erscheinen (so auch Davis (1992), S. 24). Doch fällt es nicht schwer, Vergeltung von herkömmlichem Austausch von Gütern oder immateriellen Werten zu unterscheiden. 139 Hof (1996), S. 347. 136

Α. Normentstehung und Normbegriff

47

mutativer Gerechtigkeit auch immer) ausgeglichene Beziehung haben. Gegenseitigkeit läßt sich mit dem Soziologen W. E. Mühlmann bestimmen als „allgemeinstes Prinzip des sozialen Handelns, das auf der Erwartung einer »adäquaten4 Gegenleistung beruht." 1 4 0

Der Soziologe Alvin Gouldner unterscheidet: „ I n sum, beyond reciprocity as a pattern of exchange and beyond folk beliefs about reciprocity as a fact of life, there is another element: a generalized moral norm of reciprocity which defines certain actions and obligations as repayments for benefits received." 1 4 1

Gegenseitigkeit ist auch staatsphilosophisch relevant. Bereits Aristoteles stellte in der Nikomachischen Ethik einen Zusammenhang zwischen Gegenseitigkeit und Gruppenzusammenhalt her: „ I n der Gemeinschaft des Austausches ... umfaßt das entsprechende Gerechte die Wiedervergeltung, und zwar nach Proportionalität und nicht nach der Gleichheit. Denn durch die proportionale Vergeltung bleibt der Zusammenhang des Staates gewahrt. Denn teils sucht man das Schlechte zu vergelten, und wenn man das nicht täte, hätte man eine Art von Sklaverei; teils w i l l man das Gute vergelten, und wenn es das nicht gäbe, so gäbe es keinen Austausch von Leistungen, durch den doch die Gemeinschaft beisammenbleibt." 142

Und ebenso heißt es in der Politik: „... daher bewahrt die ausgleichende Gerechtigkeit den Staat .. . " 1 4 3 Nicht der unwichtigste Aspekt für das Funktionieren von Gesellschaften ist, wie Aristoteles klar sah, eine effektive Konfliktbeilegung. Gegenseitigkeit kommt hier zum Zuge als normativer Maßstab, der den häufigen Fall gestörter Beziehungen ins Lot rücken soll. In der Theorie des Gesellschaftsvertrages markieren Reziprozitätserwägungen die vielleicht bedeutendste staatsphilosophische Tradition des Abendlands, von Hobbes bis Rawls und Höffe. 144 In der Tradition der Vertragstheorie waren empirische und normative Erwägungen anfangs schwer zu trennen. Während vor allem Locke auch in historischen Kategorien dachte (Naturzustand und Vetragsschluß als Beschreibung vergangener Zustände), handelt es sich jedenfalls seit Kant (nur noch) um die Rechtfertigung einer 140

Mühlmann (1969), S. 328. Gouldner (1960), S. 170 (kursiv i.O.). 142 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch, 1132 b 33 ff. Siehe auch 1131 b 24 ff., 1133 b 15 ff. 143 Aristoteles, Politik, 1261 a 29 f. Dabei darf allerdings die umfassende Teleologie nicht vergessen werden, in die Aristoteles den Gruppenzusammenhalt stellt, nämlich die des glückseligen und edlen Lebens i m Rahmen des Staates. Vgl. ebd., 1280 b 39 ff. 144 Auch Autoren vor Hobbes wären zu nennen, Althusius und Grotius etwa, möglicherweise auch antike Vorläufer. Siehe Höffe (1987), S. 442 f. m.w.N.; (1991), S. 24 ff.; zu letzterem Kersting (Hg.) (1997). Vgl. auch Kappelhoff (1995), S. 3 ff. 141

48

Teil I: Einführung

bestimmten staatlichen Herrschaft. Auch David Hume akzeptierte Naturzustandskonstruktionen nur als philosophische Fiktion. 145 Der legitimatorische Gedanke des Gesellschaftsvertrages, so interessant er ist, ist nicht unser Thema. Gefragt ist nach Hypothesen über die tatsächliche Entstehung von Normen. Leistungen ohne die normative Erwartung zumindest späterer Gegenleistung sind selten, jedenfalls außerhalb der Familie. Der Ethnologe Richard Thurnwald brachte 1934 die zentrale Rolle des Prinzips der Reziprozität auf den Punkt: „Wenn man aus allen Regelungen zwischenmenschlicher Verhaltensweisen und deren Umrankung mit religiös-magischen Phantasien den innersten Kern herauszuschälen sucht, so gelangt man zu der Erkenntnis, daß Reziprozität das ist, was die Waage des Rechts einspielen läßt, sei es als Vergeltung ... oder (auf wirtschaftlichem Gebiet) als Erwiderung eines Geschenkes, als angemessene Bezahlung, oder (auf dem Gebiete der persönlichen Beziehungen) als Töchtertausch unter Gemeinden, als Heiratsordnung unter Gruppen, als Brautkauf ... oder (im Obligationsrecht) in der Bezahlung von Kreditierungen u s w . " 1 4 6

Marcel Mauss beschrieb bereits 1924 in seinem Essai sur le don die Reziprozität als Organisationsprinzip („phénomène social total") primitiver Gesellschaften. 147 Das „Totale" daran ist, daß Reziprozität nicht nur als Maßstab des Austauschs fungiert, sondern Religion, Gesellschaft, Magie und Ökonomie, Verstand und Gefühl, Recht und Moral durchzieht. Mauss interessierten vor allem die Prinzipien, die kulturell verwurzelten Schenkungsriten zugrunde liegen. Mauss isolierte aus ihnen „ . . . den sozusagen freiwilligen, anscheinend selbstlosen und spontanen, aber dennoch zwanghaften und eigennützigen Charakter dieser Leistungen." 1 4 8

Weitere Gewährsmänner für die Bedeutung der Reziprozität sind Legion: Cicero, 149 Kant, 150 Adam Smith, 151 Edward Westermarck, 152 Nietzsche,153 145

Hume (1739/1978), book I I I part I I section II, S. 493 f. Thurnwald (1934), S. 5; siehe auch Ritter (1974), Sp. 127. 147 Mauss (1924/1990), S. 17 und passim. 148 Ebd., S. 18. 149 Cicero, De officiis, 1. Buch, X V I I . 150 Kant (1797), Rechtslehre, Staatsrecht, Allgemeine Anm. E zum Wiedervergeltungsrecht im Strafrecht. Eine bedeutende, jedoch weniger klare Rolle spielt die Gegenseitigkeit in der übrigen Rechtslehre Kants. Die berühmte Definition, Recht sei „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (§ B), setzt zwar die Willkür (mindestens) zweier Interakteure in ein reziprokes Verhältnis. Doch wirkt dieses als anthropologische Voraussetzung, nicht als Begründung des Rechts. Begründungsrelevant scheint hingegen die Gegenseitigkeit in der Erläuterung der „angeborenen Freiheit" des Menschen zu sein (an der Stelle „Das angeborene Recht ist nur ein einziges"; vgl. auch § 8), wo es heißt, 146

Α. Normentstehung und Normbegriff

49

Claude Lévi-Strauss, 154 George Homans155 und Arnold Gehlen,156 um nur einige zu nennen.157 In der Entwicklungspsychologie (Jean Piaget, Lawrence Kohlberg u.a.) markiert die Gegenseitigkeit das erste Auftreten von Moral. 158 Allerdings soll deren volle Entfaltung nach Lawrence Kohlberg das Absehen von reziproken Erwartungen zugunsten einer universell-ethischen Perspektive implizieren. 159 In den sechziger und siebziger Jahren formierte sich in der Soziologie und Sozialpsychologie eine ökonomisch beeinflußte Tauschtheorie zur Erforschung der Stabilität sozialer Ordnung auf der Grundlage von Tauschbeziehungen.160 Der Zusammenhang von Gegenseitigkeit mit sozialer Ordnung ist von zwei Seiten zu komplementieren: Woher kommt es überhaupt, daß Menschen ein so großes Interesse an Austauschbeziehungen haben? Und wie schlägt sich dies, über Sozialverhalten, in Normen nieder? 161 Eine ReziprozitätsStörung liegt vor, wenn Geben und Nehmen nach einem hinzuzudenkenden Gegenseitigkeitsmaßstab außer Relation geraten. Das ist, wie Mühlmann schreibt, nicht selten der Fall, weil „in den wenigsten sozialen Rollen die Erwartung der Gegenseitigkeit voll erfüllt werden Gleichheit (sie) sei „die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann". 151 Smith (1776). 152 Westermarck (1908), Band 2, S. 154. 153 Nietzsche (1887a), 8. Abschnitt. 154 Lévi-Strauss (1949/1993). 155 Homans (1958). 156 Gehlen (1964), S. 45 ff., bezeichnet Reziprozität als „Sozialzement" (S. 46) und hält sie für einen „wesentlichen Zug des Menschseins", was er mit Beispielen aus primitiven Kulturen untermauert. 157 Siehe schließlich zur universalen Verbreitung von Gegenseitigkeitsverhältnissen und -normen aus ethnologischer Sicht noch D. E. Brown (1991), Eibl-Eibesfeldt (2001) und Triandis (1978). 158 Piaget (1932/1973), S. 91 f., 118 ff., 132 f., 239 ff. 159 Das hat im wesentlichen zur oft kritisierten Folge, daß „normale" Menschen die entsprechende Stufe der moralischen Entwicklung gar nicht erst erreichen. Die Gegenseitigkeit findet ihren Platz bereits auf der zweiten von sechs Stufen; vgl. Kohlberg (1982); Kohlberg et al. (1983). Dazu Eckensberger (1985), S. 80 ff. und Alexander (1987), S. 130 ff. 160 Vgl. Blau (1964); Homans (1974), S. 97 und passim; Emerson (1976) (dazu Kappelhoff (1995), S. 4 ff.), außerdem Thibaut/Kelley (1959), Kap. 8. 161 Die soziologische Tauschtheorie ist nicht unproblematisch, etwa was die dort in gänzlich rationalistischer Manier angewendeten ökonomischen Methoden angeht (R. H. Frank (1988), S. 185 ff.). Eine ausführliche Kritik muß an dieser Stelle unterbleiben. Siehe dazu Cook/Hegtvedt (1992), S. 189 f.; Opp (1983), S. 31 ff. - Zur Frage der Stabilität einer Gesellschaft dank ihrer „fairen" Verfassung siehe insbesondere Rawls (1993), S. X V ff. und passim, außerdem Coser (1956), S. 154 ff.; Gouldner (1960), S. 172 ff. 4 Wesche

Teil I: Einführung

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kann". 162 Allerdings ist zu differenzieren: Reziprozität ist nur gestört, wenn eine ausreichende Gegenleistung nicht mehr zu erwarten ist. Hingegen ist es lediglich ein Fall zeitlich versetzter (längerfristiger) Gegenseitigkeit, wenn die Gegenleistung später als die Leistung erfolgt. Doch allgemein macht die von Mauss benannte Mischung von Eigen- und Fremdnutz die Reziprozität instabil. Unsicherheiten und Konflikte über Art, Maß und Zeitpunkt von Leistung und Gegenleistung treten auf. Daher mußte sich der Erhalt reziproker Strukturen in besonderer Weise in Normen niederschlagen, heute so wie in archaischen Kulturen. 163 Gegenseitigkeitsnormen machen einen erheblichen Teil des Rechts wie auch sozialer Normierungen

12. Sein und Sollen „ Der Ursprung der Norm liegt im Ursprung der Interaktion. " 165 Der normative Charakter der Gegenseitigkeit stellt vor ein methodologisches Problem: Können Normen überhaupt mit deskriptiv-explikativen Mitteln, gestützt auf empirische Daten, untersucht werden, oder liegt darin ein Kategorienfehler? Viele Tatsachen sind im Alltag mit bestimmten Bewertungen verbunden: verschmutzte Kleidung mit Attributen wie „nachlässig", aufrechter Gang mit „Rückgrat haben" oder Stolz, Gegenseitigkeit mit Gerechtigkeitsmaßstäben. Auf der anderen Seite sind Normen von faktischen Voraussetzungen durchzogen und von ihnen abhängig. Rein analytisch sind Tatsachenaussagen und Werturteile zwar auseinanderzuhalten, in praxi hingegen nur schwer. 166 162

Mühlmann (1969), S. 329. Ebd. - Nach Mauss ((1990), S. 119) ist die Gegenseitigkeit als soziales Totalphänomen beschränkt auf primitive Gesellschaften ohne Geldwirtschaft. Damit möchte Mauss jedoch ihre Relevanz für die Gegenwart nicht ausschließen, i m Gegenteil. Er ist der Meinung, daß die archaische Moral und Ökonomie „unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken" (ebd., S. 19). 164 Zur Bedeutung des Reziprozitätsprinzips für das Recht siehe Schott (1970), S. 129 ff.; Sprenger (1992); Wesel (1985), S. 85 ff. - Reziprozität ist selbst wohl kein Rechtsbegriff, anders als von ihr abgeleitete und inhaltlich konkretere Begriffe wie Synallagma, Verwaltungskooperation oder Täter-Opfer-Ausgleich. Reziprozität ist eine soziologisch-anthropologisch-psychologische Kategorie, die erst der Umsetzung ins Recht bedarf. 165 Dux (1980), S. 60 (gekürzt). 166 Eine angemessene Auseinandersetzung mit dieser Frage ist hier nicht möglich. Kritik an einer kategorischen Trennung von Tatsachen- und Weitaussagen findet sich etwa bei Bernard Williams ((1985), S. 129), der die Einheit von beiden Arten von Aussagen in der Alltagssprache betont: „What has happened is that the theorists have brought the fact-value distinction to language rather than finding it revealed there." Warum aber sind Sprache und Theorien so wertdurchzogen? Allan 163

Α. Normentstehung und Normbegriff

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In irgendeiner Weise muß es freilich möglich sein, wissenschaftlich über Normen zu sprechen. Was einem methodologischen Dualismus, der Fakten und Werte streng getrennten Sphären zuweist,167 als unüberwindliches Problem erscheinen muß, ist geradezu eine Bedingung für die Fruchtbarkeit dieser Studie. Freilich: Die empirischen und normativen Dimensionen sind, soweit unterscheidbar, deutlich herauszustellen. Ebenso praktisch unumstritten ist seit David Hume die Unableitbarkeit von Sollen aus Sein. 168 Statt vom Sein-Sollen-Fehler ist heute häufig vom „naturalistischen Fehlschluß" die Rede. Die Benennung dieses Fehlschlusses und die Kritik an ihm gehen freilich auf G. E. Moore zurück. Moore legte dar, daß man die Eigenschaft „gut" nicht durch andere, natürliche Eigenschaften definieren kann. 169 In Piatons Politeia unterläuft der Fehler, das Gesollte mit dem Seienden gleichzusetzen, dem Trasymachos, der gegen Sokrates behauptet, das Gerechte sei nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren. 170 Aus der Unableitbarkeit des Sollens aus dem Sein wollen viele die Irrelevanz empirischer Wissenschaften für Moral und Recht herleiten. Dies ist jedoch ein non sequitur. Hume bezog sich auf die logische Deduktion im Sinne des aristotelischen Syllogismus.171 Darum geht es hier selbstverständlich gar nicht. Empirische Tatsachen sind für normative Erwägungen relevant, weil letztere nicht bloß normativ sind. Mit anderen Worten: Sobald man die irreale Sphäre reiner Vernunft, platonischer Ideen oder göttlicher Ratschlüsse verläßt, kommen handfeste empirische Fakten ins Spiel, die normative Entscheidungen beeinflussen. Will der Gesetzgeber etwa Jugenddelinquenz bekämpfen, braucht er, um problemadäquate Lösungen zu finden, Datenmaterial über Altersgruppen, soziale Brennpunkte, Einfluß von Schulbildung und Polizeitaktik usw. Ob er dann zum Beispiel das StrafGibbard meint ((1990a), S. 106): „Beliefs and norms color experience, experience presses on our beliefs and norms without forcing them - and so, in the end, nothing in their tie to experience sharply marks off norms from beliefs." Keiner dieser Autoren möchte die Humesche Erkenntnis der Unableitbarkeit von Sollen aus bloßem Sein in Frage stellen. Es ist aber gleichwohl auffällig, wie groß die Rolle von Tatsachenaussagen in normativen Diskussionen ist und umgekehrt. 167 Dazu noch Teil I I C. 4. 168 Diese Erkenntnis von Hume (1739/1978), book I I I part I section I, S. 469 f., wurde freilich verschiedentlich formallogisch in Zweifel gezogen. Die Literatur zum Problem von Sein und Sollen ist bibliothekenfüllend; siehe nur Höffe (1988b); Hoerster (1969); Hudson (Hg.) (1969); Stuhlmann-Laeisz (1983) und Schurz (1995). 169 Moore richtete sich gegen den Naturalismus, den er etwa bei J. St. M i l l am Werke sah (siehe Moore (1903/1993)), während sich Hume gegen den nicht weiter begründeten Übergang von Seinssätzen zu Sollenssätzen wandte. Zusammenfassend Harrison (1967). 170 Platon, Politeia 338. 171 Diese Interpretation Humes ist nicht unumstritten. Siehe die Aufsätze im ersten Teil von Hudson (Hg.) (1969). 4*

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Teil I: Einführung

recht bemüht oder Bildungschancen verbessert, ist eine normative Entscheidung. Sie wird aber von den Daten mitbestimmt. Genauso können gesetzliche Grenzwerte für Gefahrstoffe oder Emissionen erst festgelegt werden, wenn deren Gefährlichkeit im Wege einer Risikoabschätzung ermittelt wurde. Hier nun geht es um die Aufklärung der tatsächlichen Wurzeln von Normen. Damit werden zugleich die Bedingungen erfaßt, denen eine Norm unterliegt, will sie in realen Interessen- und Machtkonstellationen wirksam werden (Entstehungs- und Fortbestehensbedingungen von Normen sind weitgehend identisch). Unbefriedigend wäre es, die Studie mit den Eingebungen des Gesetzgebers beginnen zu lassen, als wenn dieser nicht in einem vielgestaltigen Geflecht von Tatsachen (insbesondere in Form diverser Interessen) stünde. Noch unbefriedigender ist es, das Sollen dem Sein strikt dichotomisch entgegenzusetzen, wie es sich infolge der Zweiweltenlehre Kants v.a. im Neukantianismus und der Wertphilosophie eingebürgert hat und bis heute, vor allem in der Nachfolge Kelsens, in der Rechtsphilosophie verbreitet ist. 1 7 2 Sollen entsteht aus Sein. 173 Es wurzelt im Wollen von Menschen. Dabei bleibt die Möglichkeit unbeschadet, das aus Wollen erwachsene Sollen einer weiteren Bewertung im Hinblick auf seine moralische, rechtsphilosophische oder rechtspolitische Rechtfertigung zuzuführen. 174 Der Weg vom Wollen zum Sollen verläuft nicht über eine formallogische Ableitung, sondern über reale Vorgänge der Interessenkonkurrenz und -kongruenz, der Erwartungs- und Normbildung. Auch historisch müssen den Normwelten der Gegenwart und der wenige Tausend Jahre umfassenden Vergangenheit bloße Seinszustände vorausgegangen sein. Diese Position vermeidet den Sein-Sollen-Fehler, ohne das Sollen zu mystifizieren. B. Gene, Kultur, Koevolution Nach diesen normtheoretischen und -soziologischen Überlegungen ist es Zeit für den Brückenschlag zur Evolutionstheorie. 172

Vgl. nur Rottleuthner (1985), der sich damit zufrieden gibt, aufgrund der Humeschen Lehre die normative Irrelevanz der Biologie zu behaupten, ohne das komplexe Verhältnis von Sein und Sollen zu würdigen. Differenzierend zur Verbindung von Werten und Fakten in wissenschaftlicher Theoriebildung R. D. Masters (1993), Kap. 8 und S. 144 ff. 173 So auch Lampe (1997), S. 12. 174 Damit wird in der Tradition Moores eine Spielart des Naturalismus abgelehnt, nach der Aussagen darüber, was gut oder gesollt ist, nichts anderes als Aussagen über Fakten sind, und zwar nicht normative Fakten (das wäre Moralobjektivismus; dazu Teil V C. 2.), sondern empirische Fakten.

Β. Gene, Kultur, Koevolution

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Zunächst zum Begriff der Evolution: 115 Der lateinische Stamm bezeichnet das Aus-sich-heraus-(Ent-)Wickeln. Nicht begriffsimmanent ist Fortschritt oder Verbesserung, auch nicht Darwins Theorie über die Ursachen und Mechanismen von Evolution oder gar eine Beschränkung auf genetische Prozesse. Sozialwissenschaftler haben den Evolutionsbegriff für Entwicklungen benutzt, die weder auf biologische Ursprünge zurückgeführt werden (Homologie), noch nach Gesetzmäßigkeiten ablaufen, die zu denen der biotischen Evolution in Analogie stehen.176 Einigkeit scheint in der Begriffsverwendung quer durch alle Disziplinen darin zu bestehen, daß evolutionäre Entwicklungen solche sind, die auf der Basis jeweils bereits erreichter Ist-Zustände stattfinden. Evolution meint also nicht die bloße Entfaltung von bereits anfänglich vorgegebenen Eigenschaften etwa gemäß einem Schöpfungsplan. 177 Evolution bezeichnet in dieser Arbeit die Weiterentwicklung von organischen Merkmalen und Verhaltensmerkmalen bei Lebewesen. Schon Darwin stellte fest, daß nicht nur organische Merkmale wie Schwimmhäute oder opponierte Daumen auf natürliche Auslese zurückzuführen sind, sondern auch Verhaltensmerkmale. 178 Das gilt nicht nur für Tiere. Bereits Darwin selbst, mehr noch Konrad Lorenz und seine Schule, schließlich die Soziobiologie haben gezeigt, daß auch menschliches Verhalten phylogenetischen (evolutionär bzw. stammes-/gattungsgeschichtlich erworbenen) Einflüssen unterliegt} 19 Phylogenetische Einflüsse sind genetische Einflüsse. Denn Gene können die in der natürlichen Auslese erfolgreichen organischen und verhaltenslenkenden Programme von Individuen über Jahrmillionen konservieren und immer wieder neu dem evolutionären Wettbewerb aussetzen. Freilich kann menschliches Verhalten nicht allein durch genetische Einflüsse erklärt werden. Der Mensch ist ohne Zweifel das in seinem Verhalten am wenigsten genetisch vorbestimmte Lebewesen. Er besitzt Kreativität, Verhaltensoffenheit und Kultur und greift in die Natur mindestens so viel ein, wie diese ihm Beschränkungen auferlegt. In der Untersuchung von Sozial- und Normverhalten spielen die Gene nur eine von drei Rollen. Die anderen 175

Vgl. dazu Durham (1991), S. 21 ff. Vgl. den Abschnitt „Evolutionäre Rechtstheorien" in Raiser (1995), S. 318 ff., in dem von Biologie und Rechtsanthropologie nur einmal und ohne inhaltliche Relevanz die Rede ist. 177 Vgl. etwa Elliott (1985), S. 39; Maine (1861), Kap. 5; P. Stein (1981), S. 123; Vromen (1995), S. 118 m.w.N. 178 Ausführlich mit Nachweisen unten, Teil I I A. 1. und 3. 179 Darwin (1871/1974) (näher Teil I I A. 3., B. 4.-6.); Konrad Lorenz etwa in (1973/74), Bd. 2, S. 150 ff.; Wickler/Seibt (1977), S. 43 ff. Zur Soziobiologie unten, Teil I I B. 3. 176

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Teil I: Einführung

Rollen kommen der Kultur bzw. Gesellschaft und der (sonstigen) Umwelt zu. Die Frage: Natur oder Kultur, ist falsch gestellt. Überhaupt von „Natur" und „Kultur" zu sprechen, ist bereits eine fragwürdige Façon de parier. Reduktionismus, sei es naturwissenschaftlicher, sei es sozialwissenschaftlicher, ist abzulehnen.180 Dagegen setzt die vorliegende Arbeit die Theorie der Koevolution. Unter Koevolution können wir vorläufig verstehen, daß sich Natur und Kultur ineinander verschränkt entwickeln und wechselseitigen Einflüssen ausgesetzt sind. 181 Doch wann können wir davon ausgehen, daß überhaupt ein genetischer Anteil an einem Verhalten gegeben ist? Wann ist ein Verhalten ein Produkt der Koevolution und nicht bloß rein soziokulturell bedingt oder eine Erfindung des Individuums? Um diese schwierige Frage zu beantworten, bedarf es heuristischer Kriterien, da ein alle Zweifel beseitigender Test nicht verfügbar ist. Verhaltensweisen können unter drei (später näher zu diskutierenden) Bedingungen als genetisch mitverursacht gelten: Sie müssen a) historisch - in evolutionär langen Zeiträumen - einigermaßen konstant und b) interkulturell verbreitet sein, zudem c) einen Beitrag zum Fortpflanzungserfolg des Erbguts derer leisten können, die die Anpassungsfunktion gut erfüllen. Die evolutionstheoretische Fragestellung hat eine funktionalistische Stoßrichtung: Warum hat ein Verhalten Eingang in die Geschichte der Menschen und ihrer hominiden Vorgänger, vielleicht sogar schon der soziallebenden Tiere gefunden? Was an dem Verhalten zeichnet es aus, daß es sich als Muster festsetzen konnte, von Menschen immer wieder und überall gewählt wird, sei es mit kulturell unterschiedlichen Akzenten? Wozu dient es? Dies sind Fragen nach der Funktion eines Verhaltens. Sie unterliegen in der Evolutionstheorie einer einfachen Voraussetzung: Verhaltensmerkmale müssen letztlich der genetischen Fortpflanzung dienen, sonst verschwinden sie langfristig. Wenn z.B. die Regulation des Zusammenlebens ein bedeutender Normzweck ist, müßte sich das in einer funktionalen Verbindung zur natürlichen Auslese niederschlagen, unbeschadet diverser Zwischenfunktionen, die sich etwa auf der gesellschaftlichen Ebene befinden. Mit anderen Worten, auch Normverhalten sollte evolutionäre Wurzeln aufweisen, falls seine soziokulturellen Funktionen positive Auswirkungen auf genetische Reproduktion besitzen (das heißt nicht einfach, viele Kinder zu haben, wie es gelegentlich entstellend simplifiziert dargestellt wird). Dieser Zusammen180

Näher Teil I I I A. 4. Der Begriff der Koevolution wird in der Biologie für die Evolution zweier oder mehrerer Arten als Folge ihrer Interaktion miteinander benutzt, man denke an den Anpassungswettlauf von Freßfeinden und Freßopfern; siehe Dawkins (1997); Slatkin (1983), S. 339. Dieser Vorgang ist evolutionär bedeutsam, aber hier insofern nicht gemeint, als er keine kulturellen Aspekte aufweist. 181

Β. Gene, Kultur, Koevolution

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hang ist sehr schwer zu verstehen und wird noch ausführlich besprochen werden. Soweit die natürliche Auslese auf die Normbildung Einfluß nimmt, greift sie selbstverständlich nicht unmittelbar an den Normen an. Menschen bzw. deren genetisches Material sind ihr Ziel, 1 8 2 und Menschen verhalten sich auf bestimmte Weisen - Normverhalten Inbegriffen - , durch die sie (bzw. ihr genetisches Material) mehr oder weniger fit im soziokulturellen und dadurch auch im biogenetischen Wettbewerb sind. Zugleich steht das menschliche Sozial- und Normverhalten in einer Entwicklungskontinuität mit seinen vorrationalen Wurzeln bei Tieren: „ . . . there was morality before the Church; trade before the state; exchange before money; social contracts before Hobbes; welfare before the rights of man; society before Greece; self-interest before Adam Smith; and greed before capitalism. These things have been expressions of human nature since deep in the huntergatherer Pleistocene. Some of them have roots in the missing links with other primates. Only our supreme self-importance has obscured this so f a r . " 1 8 3

Zu erwarten ist, daß manche dem hier gewählten Vorgehen „Biologismus" vorwerfen. Der Vorwurf wäre jedoch unberechtigt. Klären wir zunächst den Namen „Biologie". Viele verstehen unter Biologie, so man diese auf menschliches Verhalten anwendet, die Wissenschaft von der physiologischen und genetischen Ausstattung des Menschen als (bloßer) organischer Voraussetzung von Verhalten. 184 Diese fehlsame Vorstellung dürfte in der Entzweiung der Natur- und Sozial-(Geistes-)wissenschaften wurzeln. Denn nur dank ihrer konnte es hoffähig werden, alles, was angeblich typisch menschlich sei, ausschließlich den Sozial- und Geisteswissenschaften zuzuweisen. Biologie ist tatsächlich die Wissenschaft vom Leben und damit im Prinzip aller Determinanten des Lebens. Zu diesen gehören Umwelt, Kultur, Erziehung. Für diese Determinanten sind Biologen natürlich keine Spezialisten. Doch sie können zeigen, warum solche Determinanten überhaupt in die Lage kamen, auf das Verhalten Einfluß nehmen zu können. Damit korrespondiert zweierlei. Zum einen besteht unter Biologen Einigkeit, daß Gene immer in Interaktion mit Umwelten ausgeprägt werden. 185 Zum zweiten erweist sich die Theorie der natürlichen Auslese als Drehund Angelpunkt der Analyse. Sie erlaubt Prognosen über Verhaltenswahrscheinlichkeiten, wenn Gründe angegeben weden können, weshalb bestimmte Verhaltensweisen evolutionär erfolgreicher waren bzw. sind als andere. Nur die erfolgreicheren Verhaltensweisen überlebten in Form von verhaltensdisponierenden genetischen Programmen. Genetische Disposition 182 183 184 185

Zur komplizierten Frage der Selektionseinheit Teil I I B. 1. Matt Ridley (1997), S. 249 f. Alexander (1986a), S. 20 ff. Ebd. und ausführlich unten, Teil I I B. 4.

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Teil I: Einführung

meint nicht genetische Determinierung. Weil die Theorie der natürlichen Auslese auf Selektionsbedingungen abstellt, bezieht sie von vornherein Umweltbedingungen ein; dies wird ausführlich darzustellen sein.

C. Methode und Forschungsstand 1. Systematisches Vorgehen Die Methode dieser Arbeit ist größtenteils deskriptiv (phänomenbeschreibend) und explikativ (begriffs- und sacherklärend). Sie entwirft theoretische Hypothesen auf der Grundlage empirisch ermittelter Fakten.186 Die Fakten stammen aus Feldforschung und Fragebögen der Ethnologie und Soziologie, aus entwicklungs- und sozialpsychologischen Experimenten, aus Computersimulationen der Spieltheorie und aus Beobachtungen und Versuchen von Biologen und Verhaltensforschern. Aufgabe ist es, solche Daten zu gewichten und auf ihre Brauchbarkeit für eine rechtswissenschaftliche Normentstehungstheorie hin zu bewerten. Dazu sind gelegentlich quantitativ-empirische Analysen in qualitativ-theoretische Aussagen umzumünzen. Theorien anderer Disziplinen wie der (Rechts-)Soziologie, Rechtstheorie, Biologie oder Psychologie dienen als Ausgangspunkt für eine Theorienzusammenführung mit dem Ziel, die übergreifende Fragestellung der Entstehung von Normen zu erhellen. Im Vordergrund steht die Beschäftigung mit den strukturellen und funktionellen Gründen, warum Normen entstanden sind. Man könnte ähnliche Fragen auch historisch stellen. Dazu würde sich die Untersuchung früher Normenordungen wie des Codex Hammurabi oder der Zwölftafelgesetze anbieten. Doch würde man schwerlich eine Antwort auf die Frage nach dem Warum der Normentstehung erhalten, jedenfalls keine Antwort, die über eine Beschreibung der speziellen soziokulturellen Bedingungen im Zweistromland oder Palästina hinausginge. Zudem waren die ersten schriftlich fixierten Normen mit Sicherheit nicht die ersten Normen überhaupt. Doch die soziokulturelle Situation derjenigen Völker, die als erste Normen kannten, allein mit historiographischen Mitteln zu rekonstruieren, wäre rein spekulativ. 187 Hinzu kommt, daß Normen nur allmählich aus den Sozial Verhältnissen von Hominidengesellschaften, aus gewohnheitsmäßigen Interessenausgleichen herausgewachsen sein dürften. Es gibt also gar nicht die erste Norm - von Protonormen bei nichtmenschlichen Primaten ganz zu schweigen. Die Kontinuität der Entstehung von Normen gehört zu den inhaltlichen 186

Zum Verhältnis von Empirie und Theorie in der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung siehe auch Hof (1996), S. 16 ff. 187 Lampe (1997), S. 13.

C. Methode und Forschungsstand

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Prämissen dieser Arbeit. Ihr methodisches Korrelat ist die evolutionär ausgerichtete Forschung, die den Menschen und seine Kultur als in der Natur und in einer Linie mit den Tieren stehend sieht. Die systematisch-funktionalistische Methode schließt aufgrund von Hypothesen über das Sozialverhalten auf die Entstehung von Normen zurück. Dabei geht sie von empirisch prüfbaren (falsifizierbaren) Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens aus. 188 Einzelne Merkmale von bestimmten Normen zu einer bestimmten Zeit können allerdings funktionalistisch nicht rekonstruiert werden. Ebenso lassen sich die Ergebnisse nicht unmittelbar in Rechtsdogmatik übersetzen.189 2. Evolutionismus

im 19. Jahrhundert

Während sich die oben dargelegte Normtheorie (Kap. A.) auf Rechtssoziologie und -theorie sowie Ökonomie und philosophische Metaethik stützen kann, ist der Zusammenhang zwischen Rechtsentstehung und Evolution des Menschen bislang nur in Ansätzen und fehlerbehaftet erörtert worden. Das 19. Jahrhundert sah eine Hochkonjunktur evolutionär inspirierter Theoriebildung. Die Rechtswissenschaft war dabei nicht ausgeklammert. Bisweilen wurde eine Analogie zur Theorie Darwins angestrebt, teilweise bediente man sich lediglich darwinistischer Metaphern, 190 selten ging man von Homologie (gemeinsamen Ursprüngen) zwischen Natur und Kultur aus. Friedrich Carl von Savigny etwa nahm an, das Recht sei kein bloßes Konstrukt der Vernunft. Es ließe sich daher nicht so behandeln, wie es jahrhundertelang die Naturrechtsschule getan hatte. Das konkrete Ethos historischer Gesellschaften sei es vielmehr, das in das Recht eingehe und dieses, nunmehr durch „innere stillwirkende Kräfte", weiterentwickele. 191 In der Bewegung der sog. Evolutionisten wurde nach Grundprinzipien der Veränderung des Rechts gesucht. Leitidee war dabei für einen der Protagonisten, den Bremer Richter Albert Hermann Post, die Deutung des Rechts als „na188 Das theoretische Ergebnis dieser Methode kann nie eine sichere Feststellung über historische Abläufe, sondern nur eine plausible Vorstellung darüber sein, „wie es gewesen sein könnte"; vgl. Vollmer (1997), S. 59. 189 Vgl. aus philosophischer Sicht Habermas (1996), S. 28 ff. 190 Kritisch zur Übertragung biologischer Metaphern auf die Gesellschaft Bayertz (1988), S. 290 f.; Behrends (1993), S. 12 Fn. 9.; Rottleuthner (1985), S. 107 f.; Zemen (1983), S. 40 ff. Vgl. auch die Arbeit von Luhmann (1970), der die darwinschen Theorieelemente Mutation, Kampf ums Dasein und Reproduktion auf das Recht überträgt, dabei aber m. E. über bloße Metaphorik ebenfalls nicht hinauskommt. Zu den Möglichkeiten einer analogen Anwendung der Evolutionstheorie siehe Elliott (1997), S. 599 ff. 191 Savigny (1814), Kap. 2, 4. Vgl. dazu auch P. Stein (1981), S. 124 ff.

Teil I: Einführung

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turgesetzlicher Entwicklungsvorgang", 192 als einer „unendlich langen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Entwickelung".193 Die wohl bekannteste evolutionistische These ist diejenige von Henry Maine, die Gesellschaften hätten sich progressiv „from status to contract" entwickelt, also vom absoluten Recht des pater familias zum privatautonomen Vertragsrecht beliebiger Individuen.194 Interessant ist hierbei nicht zuletzt, daß eine Entwicklung der Gesellschaft beschrieben wird, nicht bloß des Rechts. Es dürfte ein unbestrittenes Verdienst evolutionistischer Jurisprudenz sein, den Blick weg von idealistischen, naturrechtlichen, apriorischen und hin zu soziologischen Gesetzmäßigkeiten gelenkt zu haben.195 Das Recht ist das Endprodukt einer langen Reihe gesellschaftlicher Ursachen. Indem diese sich entwickeln, muß das Recht ihnen folgen. Auch wurden psychische Rechtsquellen einbezogen.196 Doch kannte das 19. Jahrhundert weder Soziologie, noch Psychologie im wissenschaftlichen Sinne. Auch ethnologische Daten waren praktisch nicht vorhanden. Wie daher gesellschaftliche und psychische Ursachen tatsächlich wirkten und wie universal die behaupteten Entwicklungslinien wirklich waren, war dem laienhaften Urteil des einzelnen Wissenschaftlers anheim gestellt. Das Hauptproblem evolutionistischer Sozialwissenschaft und Jurisprudenz besteht darüber hinaus darin, daß die Menschheitsgeschichte als gesetzmäßig determiniert angesehen wird, als bloße Entfaltung von bereits Festgelegtem. Diese Sicht mag Verdienste in der Beseitigung spekulativen Naturrechts besitzen. Doch verfehlt sie die Dynamik und Eigengesetzlichkeit menschlicher Interaktion. Mit gutem Grund zwar werden biologische, psychische und soziale „Anlagen" des Menschen gesucht, diese aber erstens zu sehr als fixiert und zweitens als zu determinierend für die Rechtsentwicklung gedeutet.197 Jede Art von Evolutionismus erhielt Vorschub durch die rasante Verbreitung und Anerkennung darwinistischen Gedankenguts nach 1859. Gesetzgeberische Tätigkeit konnte nach damaliger Anschauung 192

Post (1894/95), Bd. 1, S. 5. Post (1884), § 6. Siehe auch Post (1867). 194 Maine (1861), am Ende des fünften Kapitels. 195 P. Stein (1981), S. 131 f.; Elliott (1985), S. 40. 196 So schreibt Post ((1884), S. 51) von den gewohnheitsrechtlichen und Gesetzesnormen seiner Zeit: „Man darf aber nicht vergessen, dass diese Obersätze ursprünglich aus dem Unbewussten herausgeboren sind, und das richterliche Urtheil daher nur insoweit ein bewusstes ist, als es sich auf einen gegebenen Satz des positiven Rechts stützt. Die Entstehung der Obersätze aber beruht ursprünglich auf unbewussten Thätigkeiten, gerade so wie ein bewusst und unabhängig vom positiven Rechte gefälltes individuelles Rechtsurtheil zwar auf einem dem Individuum zum Bewusstsein gelangten Obersatz beruht, letzterer aber im Unbewussten entsteht und als fertige Bildung ins individuelle Bewusstsein gelangt." 197 Vgl. auch Oeser (1990), S. 123 f.; Rottleuthner (1985), S. 107 f. 193

C. Methode und Forschungsstand

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nicht viel ausrichten; das Recht evoluierte zwangsläufig in Richtung auf das Recht der jeweiligen Gegenwart, in dem die Spitze der Entwicklung gesehen wurde, genauso wie für den populär simplifizierten Darwinismus im Menschen die oberste Sprosse der natürlichen Evolution liegen sollte. Wenn sich Darwinismus mit einem mechanistischen (und ethnozentristischen) Weltbild verschwistert, müssen geradezu, so wenigstens scheint es, großangelegte Theorien über endogene Entwicklungslogiken das Ergebnis sein. Auch der allgemeine Fortschrittsglaube jener Zeit, verbunden mit der historizistischen Teleologie Hegels und des Christentums, mag das Seine dazu beigetragen haben. Ein angemessenes Verständnis der Theorie Darwins trägt solche entstellenden Weiterungen nicht. Historizistische Evolutionsgesetze sind genau das Gegenteil von dem, was Darwins Theorie aussagt. Denn die tatsächliche Entwicklung der Arten ist nicht von vornherein festgelegt, sondern Ergebnis eines Zusammenspiels von Zufall und Entwicklungsmechanismen. Nur der Prozeß unterliegt Gesetzmäßigkeiten, nicht dessen Ergebnisse. Selbst wenn man also Darwins Theorie wörtlich auf die Entwicklung von Gesellschaften übertragen wollte, bliebe Historizismus ausgeschlossen.198 Franz Wieacker hat die Selbstwidersprüchlichkeit dieses Abschnitts der Ideengeschichte am Beispiel Rudolf von Jherings nachgewiesen.199 Demzufolge hat Jhering zwar Darwins Theorie nur aus populären Zeugnissen und den Hinweisen seines Sohnes, des Zoologen Hermann Jhering, gekannt. Er stellte aber weitgehende Überschneidungen fest, nicht ohne für seinen Entwicklungsgedanken zeitliche Priorität zu beanspruchen. Doch zugleich findet reinste Teleologie im Begriff des Zweckes Eingang: „Ich meinerseits maße mir kein Urteil über die Richtigkeit der Darwinschen Theorie an, obschon gerade die Resultate, zu denen ich meinerseits in bezug auf die historische Entwicklung des Rechts gelangt bin, sie auf meinem Gebiete i m vollsten Maße bestätigen. Selbst wenn die Richtigkeit derselben mir auch felsenfest stünde, ich wüßte nicht, wie mich dies in meinem Glauben an einen göttlichen Zweckgedanken nur im geringsten beirren sollte." 2 0 0

Naturgesetzliche Kausalität und menschlich-autonome oder göttliche Zwecksetzung bezüglich derselben Naturwirklichkeit vertragen sich schlecht. Jhering stellt zwar sein „Zweckgesetz des menschlichen Handelns" neben das Kausalgesetz. Doch sind die Zwecke, die er im Auge hat, psychologischer Natur, damit Motive, die menschliches Handeln determi198

Hayek (1973), S. 35 f.; Popper (1969). Vgl. Wieacker (1973). Es interessieren dabei Jherings Anschauungen nach seiner „Wende" der frühen 60er Jahre. Ob Jhering freilich vor der Wende strikter Begriffsjurist war, wird von Wieacker mit erwägenswerten Argumenten bezweifelt (ebd., S. 67 f.). Zu Jhering auch Lampe (2001). 200 Jhering (1877-83), Vorrede zur ersten Aufl., S. IX. 199

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Teil I: Einführung

nieren. Doch als solche unterfielen sie eigentlich wieder dem allgemeinen Kausalgesetz.201 Ein aufgestülpter, nicht mit der Naturgesetzlichkeit vermittelter Zweck widerspricht auch der Theorie Darwins, die lediglich eine Quasi-Teleologie annimmt, also eine Entwicklung, die nur ihrem Ergebnis nach so aussieht, als ob ein Zweck gewirkt hätte (Ernst Mayr spricht von „Teleonomie"). Als nächstes fragt sich, wer denn für Jhering Zwecksetzer sein sollte. Jhering wollte dem Individuum die Rechtsbehauptung als freie Tat belassen, dies in Anlehnung an seinen Wiener Vortrag Der Kampf ums Recht von 1872. Doch woher sollte in der Welt insgesamt und im Recht der Zweck stammen? Weil „die Gesellschaft" ihm nicht faßlich erschien, verfiel Jhering, wie obiges Zitat zeigt, letztlich auf Gott. Nach den Worten Wieackers muß hier „der persönliche Schöpfer oder Weltenbaumeister zur Rettung der Teleologie der Welt herhalten". 202 3. Recht und Evolution in der neueren Forschung Diese Arbeit versucht eine Nutzbarmachung der Darwinschen Theorie für die Erklärung sozialer Phänomene über eine bloße Analogie hinaus und unter Vermeidung teleologischer Fehldeutungen. Die Tradition eines solchen Unterfangens ist deutlich kürzer als die des Evolutionismus. Ernst zu nehmende Versuche in den USA datieren zurück in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. 203 Sie agierten in einem geistigen Klima, in dem das Recht als soziales Faktum und nicht bloß als logisches Konstrukt angesehen wurde, wie Oliver Wendell Holmes' Passage aus The Common Law deutlich macht: „The life of the law has not been logic: it has been experience. The felt necessities of the time, the prevalent moral and political theories, intuitions of public policy, avowed or unconscious, even the prejudices which judges share with their fellow-men, have had a good deal more to do than the syllogism in determining the rules by which men should be governed." 2 0 4

Evolutionäre Ansätze wurden dann jedoch durch die Assoziation mit Laissez-faire-Kapitalismus und Sozialdarwinismus (etwa nach Art Spencers) generell in Mißkredit gebracht. 205 Seitdem sind Publikationen zum Thema Rechtswissenschaft und Biologie (Verhaltensforschung, Anthropolo201 Wieacker (1973), S. 78 f.: „Aber in der Sache war dieser indeterministische Vorbehalt ein Systembruch in der naturalistischen Rechtserklärung . . . " 202 Ebd., S. 81. Vgl. zur Interpretation Jherings auch Behrends (Hg.) (1996). 203 Siehe Keller (1919); W. J. Brown (1920). Zu beiden Elliott (1985), S. 72 ff.; zu Keller auch Durham (1991), S. 177. 204 Holmes (1963), S. 5. Dazu auch Elliott (1985), S. 50 ff. 205 Elliott (1985), S. 76; van den Berghe (1979), S. 33 f. Zum Sozialdarwinismus noch Teil I I C. 7.

C. Methode und Forschungsstand

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gie) rar. Hans Kelsen wollte, bis in die Formulierung hinein von Kant beeinflußt, eine „von allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte Rechtstheorie" entwickeln.206 Wenn neuerdings Jherings evolutionärer Ansatz für die Privatrechtsdogmatik fruchtbar gemacht werden soll, 207 so zielt dieses Unterfangen nach Worten von Okko Behrends ausdrücklich gegen die biologische Vereinnahmung kultureller Fakten, hält sich also im Rahmen der von Jhering verfolgten Vorform von Kulturanthropologie. 208 Wo sich Juristen doch mit Evolutionstheorie oder Biologie beschäftigen, überwiegt ein kritischer Tenor. Das von der Biologie gezeichnete Bild ist dabei meistens verzerrt oder veraltet. So wird von der Art (Spezies) als Selektionseinheit ausgegangen, als Gegenstand der Humanbiologie gilt die Untersuchung ausschließlich der organischen Ausstattung des Menschen (s.o.), das Schreckgespenst eines „genetischen Determinismus" wird an die Wand gemalt, schließlich heißt es, Verhaltensforschung suche nach verhaltensrelevanten Resten von Invarianz beim Menschen.209 Daß all dies unzutreffend ist, soll zumindest im Laufe dieser Arbeit deutlich werden. Die meisten, die einer Verwendung von Naturwissenschaft in der Jurisprudenz ablehnend gegenüberstehen, melden sich erst gar nicht zu Wort, persistierend im hermetischen Rechtssystem. In neuerer Zeit haben sich einige Arbeiten des Themas „Recht, Biologie, Evolution" angenommen. Deren Zahl ist recht überschaubar, doch zu groß, als daß alle bereits hier erwähnt werden könnten; im übrigen sei auf den weiteren Verlauf der Arbeit verwiesen. Die Rechtsanthropologie oder „Lehre vom Menschen", selbst eine Orchidee im rechtswissenschaftlichen Fächerkanon, hat sich nur langsam aus metaphysischen Spekulationen gelöst. Erik Wolf war noch 1966 auf der Suche nach einer theologischen Anthropologie, einer „Theanthropologie" des Rechts, schließlich einer „Rechtseschatologie".210 Thomas Würtenberger erinnerte demgegenüber zu Recht, wenn auch mit nur milder Kritik an seinem Lehrer Wolf, an den empirischen Gehalt einer Rechtsanthropologie. 206 Kelsen (1934), Vorwort, S. 1. Die Verbannung der Naturwissenschaft trifft freilich bei Kelsen alle Tatsachenwissenschaften, weil Kelsen als Neukantianer streng zwischen Sein und Sollen trennt und die Rechtswissenschaft allein der Sollenssphäre zuweist. Daß das „reine Sollen" nur um den Preis völliger Inhaltsleere denkbar ist, wurde von Kelsen erkannt; vgl. ebd., S. 104 u.ö. 207 Dazu Behrends (Hg.) (1993) und (1996). 208 In diesem Sinne Behrends (1993), S. 9 ff. unter zustimmendem Verweis auf Sahlins (1977) und andere Kritiker der Soziobiologie. Die Zitate (vgl. Behrends (1993), S. 11 Fn. 8) sind leider teilweise unglücklich gewählt, da wissenschaftlich unhaltbar, wie sich noch zeigen wird. 209 So bei Rottleuthner (1985), S. 106, 116 f. Kritik an der fehlsamen Rezeption der Biologie in der Rechtswissenschaft bei O. Jones (1994), S. 270 ff. 210 E. Wolf (1966), S. 148, 152.

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Teil I: Einführung

Daraus folgt unmittelbar der Einbezug der Tatsachenwissenschaften vom Menschen, wie Psychologie, Biologie und Soziologie. Würtenberger verweist auch bereits auf die interdisziplinäre „Symbiose" der Rechtsanthropologie mit anderen Fachgebieten.211 Im frühen Werk von Ernst-Joachim Lampe, seiner Rechtsanthropologie von 1970, läßt sich der schwierige Weg ablesen, auf den sich diese Disziplin vor rund 30 Jahren begeben hat. Lampe erkennt trefflich den überzeitlichen Gehalt der Rechtsanthropologie. Die Suche nach einem allgemeinen Menschentypus erlaubt jedoch eine Schwankungsbreite für Individualmerkmale. Darin liegt zugleich eine entscheidende methodische Weichenstellung. Rechtsanthropologie steht unter dem Vorbehalt individueller Abweichungen von den Typusbestimmungen. Das nimmt ihr nicht die Möglichkeit, rechtsrelevante Tendenzen auszumachen. Denn auch das Recht typisiert. Wenn es etwa Regeln des Vertrauensschutzes zur Verfügung stellt, sieht es vom übermäßig Mißtrauischen genauso ab wie vom Leichtgläubigen.212 Es legt einen allgemeinen Menschentypus, ein Menschenbild zugrunde. Die Schwierigkeit des von Lampe in seiner Pionierleistung beschrittenen Weges tritt dort plastisch ans Licht, wo man von einer empirischen, zumindest empirisch fundierten Wissenschaft falsifizierbare Aussagen erwarten würde. Lampe umgeht jedoch sowohl die Sozial- wie die Naturwissenschaften. In seinem Vertrauen auf Autoren wie Hegel, N. Hartmann, Piaton oder Stammler verlegt er die gerade erst der Metaphysik entrungene Rechtsanthropologie wieder dorthin, daneben in den Bereich faktenneutraler begrifflicher Systeme. Eine Ausnahme machen psychologische Theorien, die bei Lampe durchweg und bis heute Eingang gefunden haben.213 Dementsprechend sieht sich Lampe vor der Aufgabe, insbesondere die Soziologie auszugrenzen. Dies gelingt nur noch mit einer expliziten Beschränkung auf die physische und psychische Natur des Menschen.214 Doch die Sozialnatur des Menschen, seine Geselligkeit und Konfliktneigung, ist in die menschliche Psyche tief eingelassen. Nur in der Interaktion mit Artgenossen entwickelte der Mensch seine artspezifischen, psychisch verankerten Muster sozialen Verhaltens. Eine Thematisierung der menschlichen „Natur" ist also jederzeit zugleich eine Thematisierung seiner sozialen, kulturellen, psychischen und biologischen Bedingungen. Spätere Beiträge Lampes haben die Öffnung gegenüber empirischen Daten der verschiedensten Wissenschaften konsequenter vollzogen.215 Auch 211

Würtenberger (1972), S. 5 f. Lampe (1970), S. 31. 213 Vgl. ebd., S. 201 ff.; auch ders. (1991); ders. (Hg.) (1985b), (Hg.) (1997). 214 Vgl. Lampe (1970), S. 7 ff. 215 Vgl. Lampe (1987), (1988a, b, c), (1991), (1992a, b), (1996), (1997) sowie die von ihm herausgegebenen Bände Lampe (Hg.) (1985a, b), (1987), (1997). 2,2

C. Methode und Forschungsstand

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Wolfgang Fikentscher, zugleich anerkannter Rechtsethnologe, kommt eben dieses Verdienst zu. 2 1 6 Gehen wir nochmals zu den Anfängen der Rechtsanthropologie zurück. Bei Peter Noll folgt die naturwüchsige Interdisziplinarität des Gegenstands bereits aus einer vergleichenden Betrachtungsweise menschlichen und tierischen Verhaltens.217 Noll nimmt von den Stereotypen Abstand, die bis heute das Motiv des Menschen als Krone der Schöpfung variieren. Er versteht die staatlichen Gesetze als nur einen von vielen möglichen Ausdrükken gewillkürter überindividueller Verhaltensmuster. 218 So können sie als Sonderfall sozialer Normierung verstanden und insofern in deren jahrtausendealte Traditionslinie gestellt werden. 219 Hervorzuheben ist weiterhin ein Beitrag von Helmut Schelsky aus dem Jahre 1970, der mit seinen Überlegungen zur Methodik der Rechtssoziologie das Tor zu einer interdisziplinären empirischen Rechtsanthropologie weit öffnet. 220 Erwin Quambusch versucht 1984, den Naturrechtsgedanken durch Überlegungen zur Genetik neu zu beleben.221 Der Befund, der ihn dazu motiviert, dürfte zutreffend erhoben sein: Das herkömmliche Naturrecht entbehrt einer sicheren Grundlage. Schon die Konkurrenz der naturrechtlich vertretenen Obersätze macht deren Verwendung in der Rechtsprechung problematisch. Das Bundesverfassungsgericht sieht aus eben diesem Grunde weitgehend davon ab, 222 während der Bundesgerichtshof diesbezüglich geringere Hemmungen besitzt.223 In der biologischen Anthropologie und Verhaltensbiologie entdeckt Quambusch nun die Chance, das Naturrecht erstmals und mit überhistorischer Verbindlichkeit auf eine sichere Basis zu stellen.224 Deshalb greift er den Gedanken einer „naturbestimmten Verhaltensnormierung" auf. 225 Zu bedenken gegeben sei, daß Sein und Sollen nicht einfach 216 Ygi Fikentscher (1992), (1995) m.w.N. auch zu Fikentschers eigenen Forschungen mit den Indianern Nordamerikas. 217

Noll (1969). Ebd., S. 129. 219 In den Bereich einer Normentstehungstheorie gelangt Noll mit seinen Bemerkungen zu den Normfunktionen. Neben der meistens angeführten, allzu harmonistisch klingenden Koordinationsfunktion erwähnt er die Funktion, Gruppenbildung und -abgrenzung zu ermöglichen. Ebd., S. 134 f. Zu dieser Normfunktion noch Teil V B. 6. a). 220 Schelsky (1970). Siehe noch unten, Teil I I I A. 2. 221 Quambusch (1984). 222 BVerfGE 10, 59, 81 gegenüber E 1, 14, 51; vgl. auch BVerfG DÖV 1968, S. 317. 223 BGHSt 2, 234, 237 ff.; 20, 342, 356. 224 Quambusch (1984), S. 18 f. 225 Ebd., S. 19. 218

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ineinander überführt werden können. Quambusch läßt hier nur geringe Vorsicht walten. 226 Er teilt dieses Problem mit diversen anderen Autoren. 227 Herausgegriffen seien Helmut Helspers Vorschriften der Evolution für das Recht. 228 Nach dem Gesagten muß schon der Titel verwundern. Weder das Faktum der Evolution, noch die Evolutionstheorie enthalten normative Vorschriften. Damit soll nicht gesagt sein, daß nicht eine Rechtswissenschaft, die tatsachenwissenschaftlich informiert ist, Reformvorschläge für das Recht unterbreiten kann. Helsper beabsichtigt genau dies. 229 Doch ist die Evolution weder ein Fundus fixer Vorgaben, wie Helsper anzunehmen scheint, noch, wie viele Kritiker meinen dürften, eine beliebig variable Knetmasse für menschlich-autonome Zielsetzung. Ein anderes Programm verfolgt Ernst-Joachim Lampe mit zwei weiteren Untersuchungen. In seiner Genetischen Rechtstheorie von 1987 lotet er zunächst aus, ob sich die Fortentwicklung des Rechts in Analogie zur biotischen Evolution verstehen läßt. 230 In einem zweiten Teil geht es darum, inwieweit schon die Entstehung des Rechts überhaupt mit der biotischen Evolution zusammenhängt, ob also biotische und rechtliche Evolution homolog sind. Interessant sind insbesondere Ausführungen zur Selbstorganisation des Rechts aus Einzelwillen und sozialer Neigung. Lampe greift dazu auf die Theorie des Hyperzyklus nach Manfred Eigen zurück. 231 Zweierlei 226

Ebd., etwa S. 58: den „sich aus dem genetischen Programm ergebende(n) Pflegeanspruch des Kindes gegenüber seiner Mutter ... in die Rechtsordnung aufzunehmen, bedeutet nicht mehr, als ein Faktum zu deklarieren", und: „ . . . das Recht, das die Natur für das Rechtstier fordert"; auch S. 110, 152. Einem rechtsphilosophischen Lehrbuch wirft Quambusch vor (ebd., S. 18 f. m.w.N.), den Einsatz des Geschlechtstriebes zur Lustgewinnung (und nicht zur Fortpflanzung) als Mißbrauch gebrandmarkt zu haben, wo doch die Verhaltensforschung diese Annahme längst falsifiziert habe. Nun liegt in der Behauptung des Lehrbuchs überhaupt keine Annahme, sondern ein sittliches Werturteil, über dessen Berechtigung freilich gestritten, das aber überhaupt nicht falsifiziert werden kann. Darin liegt ja gerade die Gefahr unreflektiert verwendeten Naturrechts: daß es prinzipiell nicht widerlegbar ist und doch überzeitliche und überindividuelle Geltung beansprucht. Ein weiteres Problem der Ausführungen Quambuschs ist die Orientierung am veralteten Arterhaltungskonzept der Verhaltensforschung (dazu Teil I I B. 1.); vgl. ebd., S. 27. 227 Für einige wenige „Gebote unbedingten Sollens", was auch immer dies sein soll, vermutet Hirsch ((1979), S. 68) eine hirnphysiologische Anlage im Zwischenhirn. Vgl. auch Schurig (1983), S. 65 Fn. 8; Rodgers Jr. (1982), S. 211: „biologically-justified property"; man wird bestenfalls mit Elliott ((1985), S. 91) von einem „strong normative appeal of evolutionary models" sprechen können. 228 Helsper (1989). Siehe auch ders. (1986). 229 Helsper (1989), S. 239 ff. 230 Lampe (1987), S. 41 ff. Lampe formuliert teleologisch (zur Kritik der Naturteleologie Teil I I A. 2.), „Zweck der Evolution" sei die „Herstellung einer optimalen Homöostase zwischen Organismen und Umwelt" (ebd., S. 34).

C. Methode und Forschungsstand

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wäre allerdings zu bedenken: Zum ersten wäre zu klären, wie die durch einen Hyperzyklus entstehende Eigengesetzlichkeit (Emergenz) auf der höher organisierten Ebene mit kausaler Verursachung durch die niedrigere Ebene vereinbar ist. Wollte Lampe die Kausalität hier völlig leugnen, würde er sich nicht nur in den Bereich des Unerklärlichen (Metaphysischen), sondern sich auch jeder Möglichkeit begeben, die Analogie von Rechts- und Naturentwicklung zu rechtfertigen. Zweitens muß ohne theoretisch durchdrungene Berücksichtigung der kulturellen Entwicklung des Menschen der Aufweis einer Homologie von rechtlicher und biotischer Evolution zweifelhaft bleiben. Die Homologie wäre dann an einer historischen Chimäre befestigt: Recht dürfte nie direkt aus der biotischen Evolution entsprungen sein, sondern vermittelt durch Sozialverhalten, soziokulturelle Gewohnheiten und Bräuche. In Grenzen des Rechtspositivismus äußert sich Lampe zu Recht kritisch zu den geradezu tautologischen Versuchen der Kulturanthropologie, auf Basis eines Natur-Kultur-Dualismus das Projekt einer Suche nach der Natur des Menschen zu diskreditieren. 232 Universelle Züge des Menschen können selbstredend niemals in seiner kulturellen Formensprache gefunden werden. Lampe hält den Dualisten entgegen, das Recht sei an programmierende Verstandesgesetze gebunden, insbesondere an Sprach- und Denkgesetze.233 Diese Bindung ist aber, wie Lampe erkennt, abstrakt-strukturell. Anders als den Neo-Naturrechtlern geht es Lampe nicht um detaillierte Naturrechtsnormen, sondern um einige Essentialia, die gegenüber den Inhalten des Rechts weitgehend neutral sind. Darin trifft er sich mit dem Anliegen von Herbert Zemen. 234 Allerdings ist daran festzuhalten, daß die biotische Evolution nicht nur die kognitiven Fähigkeiten des Menschen begrenzt, sondern auch und gerade Bedürfnisse erzeugt, die sich letztlich in Normen niederschlagen werden. Die Ethologie, zu Deutsch: Verhaltenswissenschaft oder Verhaltensforschung,235 ist durch die Arbeiten von Konrad Lorenz, Niko Tinbergen und Irenäus Eibl-Eibesfeldt bekannt geworden. Häufig wird sie „vergleichende" Verhaltensforschung genannt, weil sie den Tier-Mensch-Vergleich als ihre Hauptmethode ansieht. Sie krankte lange Zeit an dem Konzept des artdienlichen Verhaltens: Lebewesen würden sich so verhalten, daß ihre Art erhalten werde. Dieses Konzept kann als überholt gelten, wie noch auszuführen 231

Ebd., S. 69 ff. Lampe (1988c), S. 35 ff. 233 Ebd., S. 56 ff. 234 Zemen ((1983), S. 110 ff., 117 ff.) erörtert etwa die Gesetzesflut und die Entwicklung des Sonderprivatrechts unter dem Gesichtspunkt, daß allgemeine Denkund Regelungsgesetzlichkeiten systemwidrig ausgehöhlt werden. 235 Zur Abgrenzung von der Anthropologie Hof (1996), S. 9. 232

5 Wesche

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Teil I: Einführung

ist. 2 3 6 Ungeachtet der breiten ethologischen Literatur sind bis heute nur drei Werke erschienen, die die Verhaltensforschung systematisch in ihrer Bedeutung für die Rechtswissenschaft ausloten. Zunächst ist eine ethologische Bestandsaufnahme zu nennen. Frank-Hermann Schmidts Ethologische Materialien zu einer Rechtsanthropologie 237 erwähnen daneben die modernen Erkenntnisse der Soziobiologie. Allerdings bleibt es bei einer Gegenüberstellung der Positionen und bloßem Referieren der Lorenzschen Thesen, so daß auch hier überholte Vorstellungen einfließen. 238 Eine Theorie der Entstehung von Normen wird bei Schmidt nicht versucht. Doch eröffnet Schmidt am Ende eine Perspektive, die auch der vorliegenden Arbeit als Leitfaden dient, nämlich „die Lösung von einer Sicht, die Normen allzu einseitig nur als Produkt verstandesmäßiger, an Gerechtigkeitsprinzipien orientierter Setzung sieht, und eine stärkere Wahrnehmung dessen, daß sie funktional auf menschliche Grundbedürfnisse bezogen und durch diese bestimmt s i n d . " 2 3 9

Die vergleichende Verhaltensforschung wird auch von Klaus Goutier ausführlich rezipiert, der dabei auf die Ergebnisse der evolutionären Erkenntnistheorie 240 abstellt. Leider kommt auch Goutier zu dem Ergebnis, als oberstes Ziel der Rechtsordnung sei von der Evolution deren Ziel vorgegeben, nämlich der Arterhalt. 241 Das ist dreifach unzutreffend, weil die Evolution selbst kein Ziel besitzt (das wäre vordarwinische Teleologie), keine Ziele vorgeben kann und schon gar nicht den Arterhalt. 242 Hagen Hof setzt in seiner Rechtsethologie verschiedene Topoi menschlichen Verhaltens in Beziehung zu Recht, Politik, Religion, Ethik und Er236 y o n jhm gehen auch Rechtswissenschaftler in der Regel aus: Goutier (1989), S. 206; Quambusch (1984), S. 27; Rottleuthner (1985), S. 116. Für Dux (1980), S. 56 f. ist die Evolution durch eine Höherentwicklung dank Autonomie gekennzeichnet, an deren Spitze der Mensch stehe, wobei Autonomie mit Selbstorganisationsfähigkeit gleichzusetzen sei. Dazu kritisch noch Teil I I I C. 3. 237 238

So der Untertitel von F.-H. Schmidt (1982). Vgl. das Abstellen auf den Arterhalt ebd., S. 19 f., 31, 111, 142 f., 156 f.,

166 f. 239

Ebd., S. 176. Vgl. Engels (1989); Lorenz/Wuketits (Hg.) (1983); Riedl/Wuketits (Hg.) (1987); Vollmer (1990), jeweils m.w.N. Ein früher Vorläufer ist Konrad Lorenz (1941/42). Dazu Engels (1989), S. 42 ff., 346 ff. 241 Goutier (1989), S. 206. 242 Goutier begeht nicht den Humeschen Sein-Sollen-Fehler, sondern den Mooreschen naturalistischen Fehlschluß, indem er das oberste Ziel des Rechts als dasjenige definiert, welches auch das „Ziel" der Evolution sei. Goutier meint (ebd., S. 208), denen, die anderer Meinung sind, nahelegen zu müssen: „Wer indes nicht bereit ist, die Erhaltung des Lebens, insbesondere der menschlichen Art, als oberstes Ziel anzunehmen und als Grundlage, als , Axiom 4 seines Denkens sowie als Grundnorm allen Rechts hinzunehmen, der sollte überhaupt aufhören, sich mit Fragen der Rechtsphilosophie zu befassen . . . " 240

C. Methode und Forschungsstand

67

ziehung.243 Dadurch erreicht er eine Gesamtschau der ethologisch erklärbaren Probleme, die sich dem Recht stellen, wenn es Verhalten regeln will. Auch kommt Hof das Verdienst zu, besonders nachdrücklich auf die zentrale Bedeutung des Verhaltens in der Rechtsgrundlagenforschung hingewiesen zu haben. Hof geht den vielfältigen Modi der Entfaltung von Verhaltenstendenzen (wie dem Streben nach Achtung, Freiheit, Gleichbehandlung, Sicherheit oder Distanz244) nach. Gegenseitigkeit als Verhaltensphänomen, dem in der vorliegenden Arbeit besondere Beachtung zuteil wird, nimmt bei Hof nur geringen Raum ein. 245 Bei jedem Modus wird der Bogen vom Verhaltensmerkmal zur rechtlichen Regelung gespannt. So wird deutlich, daß letztlich das gesamte Recht (und daneben auch andere Regelungsinstanzen wie Religion etc.) in Verhaltenstatbeständen wurzelt und auf sie bezogen ist. Hof steht in der Tradition der vergleichenden Verhaltensforschung. Er widmet sich daher mehr der Frage des Wie als der des Warum: Warum Menschen überhaupt nach Achtung, Distanz, Bindung usw. streben, erfährt wenig Klärung. Von Hof referierte Begriffe wie Appetenzverhalten,246 Höchstwertdurchlaß 247 oder Intentionsbewegung248 helfen heuristisch und bei der Kategorisierung, sind jedoch selbst erklärungsbedürftig, insofern offen bleibt, warum Menschen oder Tiere überhaupt mit den entsprechenden Mechanismen ausgestattet sind. Die geeignete Methode für die Warum-Frage ist evolutions-, genauer selektionstheoretisch.249 Eine weitere Abgrenzung der hier vorgelegten Überlegungen zur Rechtsethologie, wie sie in Hofs Werk exemplarischen Ausdruck gefunden hat, besteht in der Fragerichtung. Während Hof primär an der Auswirkung von Recht sowie Religion, Politik, Ethik und Erziehung auf Verhalten interessiert ist, wird hier die Richtung umgekehrt. Es soll er243 Hof (1996), S. 183 ff. Vgl. auch Hof et al. (Hg.) (1994) mit Besprechung von Wesche (1996). 244 Hof spricht hier plastisch von „Schlüsselwertungen"; Hof (1996), S. 185. Zur Achtung speziell noch Hof (1999). 245 Hof (1996), S. 350. 246 Vgl. etwa Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 114 f. 247 Vgl. Hassenstein (1973), S. 186 ff. 248 Vgl. Lorenz/Leyhausen (1973), S. 24, 84, 259 u.ö. 249 Mayr (1961), (1993). Zur Abgrenzung von Evolutions- und Selektionstheorie unten, Teil I I A. 1. Bei Hof erfolgt eine Abschichtung der evolutionären Fragen durch die Ablehnung der Soziobiologie (Hof (1996), S. 9). Hof trifft jedoch mit seinem Determinismusvorwuf bestenfalls den frühen E. O. Wilson, nicht die gesamte Forschungsrichtung. Möglicherweise verweist Hof die Evolutionstheorie auch deshalb in die zweite Reihe, weil er den Begriff der Anpassung nicht in der Nachfolge Darwins, sondern lerntheoretisch belegt (ebd., S. 64). Während für Darwin wie auch für die vorliegende Arbeit gattungsgeschichtliche Anpassungsvorgänge der entscheidende Schlüssel für die Verhaltenserklärung sind, dient die Anpassung nach Hof der Feinabstimmung des Verhaltens auf die jeweilige Situation.

5*

68

Teil I: Einführung

forscht werden, w i e aus Verhalten zuerst Normen, dann speziell Rechtsnormen e r w a c h s e n . 2 5 0 Implikationen für die Frage der Verhaltensregelung spielen keine hervorgehobene Rolle, doch sie bestehen: I n der Erkenntnis der Ursprünge des Rechts liegt zugleich die Erkenntnis seiner gegenwärtigen W i r k u n g s k r ä f t e . 2 5 1 D a das Recht z u m Z i e l hat, auf das Verhalten der Rechtsgenossen Einfluß zu nehmen, muß es auch ein Interesse daran haben, eine zutreffende Verhaltenstheorie zu b e s i t z e n . 2 5 2 I n explizitem R ü c k g r i f f auf Evolutions- und Verhaltensbiologie bemüht sich Margaret Gruter, deutsche Emigrantin i n den U S A und Gründerin des Gruter Institute for L a w and Behavioral Research, u m eine Integration v o n Rechtswissenschaft und Biologie. Seit 1976 lotet sie sowohl aus ihrer eigenen, juristischen Sicht als auch i n Zusammenarbeit m i t Anthropologen, B i o logen, Politologen und Soziologen das Erklärungspotential biologischer Verhaltensforschung für das Recht a u s . 2 5 3 Gedanken zur Entstehung von Normen sind verschiedentlich zu finden, doch entbehren sie noch einer integrierten Theorie und beziehen sich auf Teilbereiche des R e c h t s . 2 5 4 B l i c k e n w i r nach diesem rechtswissenschaftlichen A b r i ß zur Philosophie, ist der Name Otfried Höffes zu erwähnen. Höffe hat m i t seiner Integration anthropologischer, häufig durch Aristoteles und Hobbes inspirierter A r g u mente i n die politische Philosophie eine lange bestehende Leerstelle aufgefüllt. I h m geht es freilich u m die Rechtfertigung von Rechten und staatlicher Z w a n g s g e w a l t . 2 5 5 Seine Argumente können für die hier verfolgte Analyse der Entstehung von N o r m e n nur nach einer „Übersetzung" i n die explikativ-empirische Sphäre Bedeutung erlangen. Etwas näher an dieser Sphäre bewegt sich die Theorie normativer Urteile von A l l a n Gibbard von der University o f Michigan. Gibbard ist der Auffassung, menschliche moralische Intuitionen seien i n der Evolutionsgeschichte vorgeprägt worden. Darin liege zwar für sich genommen kein Grund, diese Intuitionen für moralisch richtig zu halten. D o c h könne die Evolutionstheo250

Bei Hof finden sich nur Andeutungen zur Frage der Rechtsentstehung (ebd., S. 81 ff.). Hof differenziert hier die Entstehungsarten von Normen in evolutive, geplante und vereinbarte Normen. Da jedoch jede Norm prinzipiell auf eine beliebige dieser drei Arten entstehen kann, bleibt die Entstehungstheorie insoweit unbestimmt. 251 Ebert (1987), S. 417. 252 Elliott (1999); Ο. Jones (1997), S. 167 f., 202 f f ; Zippelius (1994), S. 52 f f , v.a. 56 f. 253 Gruter (1976), (1977), (1979), (1980), (1991), (1992), (1993) sowie Gruter/ Rehbinder bzw. Bohannan (Hg.) (1983), Gruter/Masters (Hg.) (1986) und Masters/ Gruter (Hg.) (1992). 254 Zum Familien- und Umweltrecht siehe Gruter (1991), Kap. 5, 6; (1993). 255 Vgl. Höffe (1987); (1988b); (1990), S. 90-125; (1991); (1992); (1994b); (1995).

C. Methode und Forschungsstand

69

rie Wurzeln und soziokulturelle Bedingungen von Prosozialität aufdekken. 256 Normative Urteile sind für Gibbard ausgedrückte Präferenzen. 257 Diese naturalistische Analyse reduziert trotzdem Normen nicht auf Tatsachenurteile. 258

4. Normentstehungstheorien

außerhalb der Rechtswissenschaft

Normentstehungstheorien sind, abgesehen von der Rechtssoziologie, prominent zunächst in der Wirtschaftswissenschaft. Als Zugangsweise wird dort meistens die Spieltheorie gewählt. 259 Auch die Neue Institutionenökonomik ist einschlägig.260 Die entsprechenden Theorien und Modelle werden uns verschiedentlich beschäftigen. Zu nennen sind weiter die Disziplinen der Sozialpsychologie und Soziologie. Dort finden sich Normentstehungstheorien vereinzelt neben einer umfangreichen Literatur über die Definition und Kategorisierung von Normen sowie über Normwirkungen in der Gesellschaft oder ihren Subsystemen.261 Häufig ist der Bezugsrahmen dabei explizit oder implizit die Gesamtgesellschaft. Dies bewirkt ein Problem, wenn sich nicht erweisen läßt, daß individuelles Handeln tatsächlich das Gemeinwohl im Auge hat. Mit anderen Worten besteht die Gefahr, voreilig von der gemeinwohlorientierten Wünschbarkeit oder Nützlichkeit von Normen auf deren Entstehung zu schließen.262 Dank des Revolutionären Ansatzes läßt sich ein weiteres Problem vermeiden, das sozialpsychologischen oder soziologischen Normtheorien strukturell anhaftet: Um verständlich zu machen, warum Menschen Normen befolgen, greifen solche Theorien letztlich auf Sanktionen und Sanktionslernen zurück. 263 Doch diese untere Grenze ist nicht naturgegeben. Was in das Blickfeld des Soziologen oder Psychologen fällt, könnte selbst wieder 256

Gibbard (1990a), S. 327 u.ö. Ebd., S. 7 f. 258 Ebd., S. 34 f. u.ö. 259 Vgl. Axelrod (1984), (1997a); G. S. Becker (1982); Benson (1989); Binmore (1994); Binmore/Samuelson (1994); Diekmann/Mitter (Hg.) (1986); Duxbury (1997); Engel (1997); R. H. Frank (1992); Hayek (1973); Hirshleifer/Martinez Coli (1988); Martinez Coll/Hirshleifer (1991); Opp (1983); Sigmund (1993); Vanberg (1994); Vromen (1995). 260 V g l vromen (1995) m.w.N. 257

261 262

b).

Opp (1983), S. 24 m.w.N. Vgl. Schelsky (1970), S. 39. Näher Teil I I I A. 1. sowie Teil V B. 5. a) und

263 Vgl. etwa Blau (1964), S. 230 ff.; Eichner (1981), S. 147 ff. (der den Wunsch nach sozialer Anerkennung als allgemeinen Normentstehungsgrund ausmacht).

Teil I: Einführung

70

bedingt sein, und zwar durch Faktoren außerhalb dessen, was den jeweiligen Wissenschaften methodisch zugänglich ist. Die Existenz von extrinsischen Sanktionssystemen etwa verweist auf soziokulturelle Strukturen, auf Erziehung, Religion und Recht. Doch warum sind diese Strukturen, ist die Kultur so beschaffen? Hier bricht die Erklärung ab oder wird zirkulär. 264 Diese Kritik trifft allgemein alle Versuche, soziale Phänomene allein mit den Mitteln und Analysekategorien zu erklären, die von einer einzelnen Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden. Jede Wissenschaft nimmt grundlegende Einheiten an, deren Quelle oder Wurzel nicht mehr weiter untersucht, vielmehr als gegeben hingenommen wird, sei es die Gesellschaft, das Individuum oder sonstige Systeme und Entitäten. Damit kann es nicht sein Bewenden haben, weil solche Analysekategorien über die jeweils überhaupt erreichbaren Methoden und Theorien vorentscheiden bzw. manche Zugänge von vornherein abschneiden. Schließlich ist an soziologischen Studien über Normen zu kritisieren, daß sie sich häufig auf Begriffe und Ideen statt auf Verhalten konzentrieren. 265 Wie noch zu begründen sein wird, führt die Orientierung an dem, was Menschen von sich sagen und glauben, häufig in die Irre. Für die Methode der Revolutionären Verhaltensforschung gilt hingegen die biblische Devise: An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen! Im Verhalten schlagen sich die gattungsgeschichtlichen Einflüsse nieder, die in der Selbstbeschreibung der Akteure - aus phylogenetisch erklärbaren Gründen - verloren gehen. Vergleichbares gilt für entwicklungspsychologische Normtheorien, 266 soweit sie nicht evolutionär unterfangen sind. 267 Sie beschränken sich in der Regel auf eine Erläuterung, in welcher Reihenfolge und aufgrund welcher frühkindlichen Sozialisationsbedingungen Normen internalisiert werden. Bekannt sind etwa die Stufentheorien Piagets und Kohlbergs. 268 Warum es Normen unter Menschen überhaupt gibt, bleibt im dunkeln. Ursache dafür ist die Ausblendung der Phylogenese, also der Stammesent264

Ullmann-Margalit (1977), S. 9. Vgl. Gruter (1992), S. 98. 266 Vgl. Kreppner (1997); R. H. Frank (1988), Kap. 8, mit einschlägigen Ergebnissen der Entwicklungspsychologie (Fn. 267) und w. N. 265

267

Zur evolutionären

Entwicklungspsychologie

vgl. Charles worth (1992) (mit

ausführlicher Kritik der evolutionstheoretischen Abstinenz der konventionellen Entwicklungspsychologie, S. 256 ff.); Hammer/Keller (1997); Chasiotis/Keller (1993); Cosmides/Tooby (1992); Immelmann/Keller (1988); Tooby/Cosmides (1989), (1992); Lampe (1991), S. 221 ff., jeweils m.w.N. Zur evolutionären Psychologie allgemein R. Wright (1994); Barkow et al. (Hg.) (1992); Tooby/Cosmides (1989), (1990b), (1992); Weingart (1993), S. 35 f. Statt von evolutionärer Psychologie ist gelegentlich von Psychobiologie die Rede. Vgl. Immelmann et al. (Hg.) (1988); Hammer/Keller (1997). 268 Piaget (1932/1973); Kohlberg (1982); ders. et al. (1983).

C. Methode und Forschungsstand

71

wicklung, in Verbindung mit einer Beschränkung auf die Ontogenese, die Individualentwicklung des Organismus. 269 Ungeachtet ihrer inhärenten Beschränkungen wohnt Soziologie und Psychologie ein bedeutendes Veranschaulichungspotential inne, auf das in dieser Arbeit häufig zurückgegriffen wird. Auch darf keine Normentstehungstheorie mit dem Datenmaterial in Konflikt geraten, das jene beiden Disziplinen erhoben haben.270 Das Desiderat der Forschung dürfte nach diesen Andeutungen offensichtlich sein. Erstens ist der Erklärungsanspruch der modernen Form der Darwinschen Theorie für soziale Strukturen inklusive des Rechts systematisch zu beleuchten. Dabei sind die Fehler früherer Verhaltensforschung zu vermeiden. Zweitens sind die biologischen Erkenntnisse in einen Rahmen mit den soziologischen und psychologischen zu stellen. Die Disziplinen treffen sich, bildlich gesprochen, in der Mitte, um von dort aus die Entstehung von Normen als „interdisziplinäres" Phänomen zu erklären. Jüngste Ansätze zu einer Revolutionären Theorie bedürfen dabei der Verfeinerung und Übertragung auf die Normentstehung. Die rechtstheoretisch und rechtssoziologisch ausgefeilte Normtheorie muß Berücksichtigung finden und in eine Erklärung eingebettet werden, die die natürlichen Wurzeln des Menschen nicht vernachlässigt.271 Neben dem modernen Darwinismus ist es insbesondere die evolutionäre Spieltheorie, die der Fragestellung Impulse verleiht. 272 5. Interdisziplinarität Die Selbstbeschränkung der Wissenschaften ist nicht sachangemessen in einer Welt, die sich den künstlich gezogenen Fachgrenzen nicht unterordnet. 273 Gleichwohl geht allzuoft die Überschätzung des je eigenen Zugangs mit Antipathien gegenüber anderen Wissenschaften und Zerrbildern von deren Theoriematerial einher. Ganze Theorienbestände werden mit einem 269

Zu diesen Begriffen Immelmann/Scherer/Vogel (1988), S. 35 ff. Schließlich wäre aus der eher skeptischen Betrachtung Karl-Dieter Opp auszunehmen. Seine Entstehungstheorie sozialer Normen (Opp (1983)), die soziologische, sozialpsychologische und ökonomische Erklärungen integriert, hat die vorliegende Arbeit an verschiedenen Stellen befruchtet. 271 Wie Erik Wolf zu Recht betonte, sind irgendwelche subjektiven Vorannahmen des Forschenden dabei nie ganz auszuschließen (E. Wolf (1966), S. 133). Spekulative Festlegungen auf ein metaphysisches Menschenbild sollten gleichwohl unterbleiben. 272 Zur evolutionären Spieltheorie Teil I V Β. 3. 273 Vgl. O. Jones (1997), S. 169 f.; R. D. Masters (1993), Kap. 9; Vollmer (1997), S. 63 ff.; Wesche (2001a). 270

72

Teil I: Einführung

Handstreich vom Tisch gewischt, letztlich wohl, weil man die enorme Arbeit scheut, ein wirkliches Verständnis der anderen Disziplin zu erwerben. 274 Beliebt, doch schon wissenschaftstheoretisch verdächtig ist auch die Immunisierung der eigenen Disziplin durch die Behauptung irgendwelcher „genuin" juristischer oder philosophischer oder sonstiger „Erkenntnisbereiche". 275 Zwar bedarf die Rechtfertigung normativer Entscheidungen spezifisch juristischer oder moralischer Argumente. Auf der Ebene der empirischen Grundlagenwissenschaft ist die Abschottung jedoch unhaltbar. Dieter Grimm schreibt in der Vorrede zu den von ihm herausgegebenen Sammelbänden Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften: „Der politisch-soziale Begründungszusammenhang, in dem das Recht steht, wurde für seine wissenschaftliche Behandlung bedeutungslos. Die Autarkie der Rechtswissenschaft galt als Bedingung für die Objektivität ihrer Resultate. M i t den Nachbarwissenschaften verkehrte man n i c h t . " 2 7 6

Die Feststellung stammt von 1973 und bezieht sich auf die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Doch hat sie nichts an Aktualität verloren. Es bedarf alldieweil kaum der Erwähnung, daß Grimm die Biologie und Verhaltensforschung nicht zu den rechtsrelevanten Nachbarwissenschaften zählt. Die Folgen des Nichtwissens und Nichtwissenwollens sind einschneidend. 277 Gefordert sind exakte naturwissenschaftliche genauso wie problembewußte rechtstheoretische und sozialwissenschaftliche Studien. Dazu kann, methodisch wie inhaltlich, eine Revolutionäre Perspektive dienen, die sowohl biogenetischer als auch kultureller Evolution einen Einfluß auf den Menschen und seine Normen zugesteht. Doch kommt offensichtlich ein einzelner bei der Erfüllung interdisziplinärer Ansprüche an seine Grenzen, trotz diverser fachkundiger Ratgeber. Interdisziplinäre Forschung kann grundsätzlich zwei Wege einschlagen. Manche Sammelbände beleuchten aus der Sicht mehrerer Experten eine einheitliche Fragestellung. Nicht selten mutiert freilich die Fragestellung im Zugriff der Experten zu einer nur noch schwer rückübersetzbaren Privatangelegenheit der jeweiligen Disziplin. Herausgebern ist es zu danken, wenn trotzdem übergreifende Linien sichtbar werden, wie in den von Lampe, 278 Gruter (mit verschiedenen Koeditoren) oder Hof et al. vorgelegten 274

R. D. Masters (1993), S. 143. Siehe auch Frank (1998), S. 96 für die Auseinandersetzung der Juristen mit der Ökonomie. 275 Vgl. Ott/Schäfer (1988), S. 213 f. 276 Vorwort, S. 7, zu Grimm (Hg.) (1973). 277 Vgl. Lehmann (1986). 278 Lampe (Hg.) (1985a, b, 1987, 1997). 279 Gruter/Bohannan bzw. Rehbinder (Hg.) (1983); Gruter/Masters (Hg.) (1986); Masters/Gruter (Hg.) (1992).

C. Methode und Forschungsstand

73

Bänden. Der zweite Weg interdisziplinärer Forschung wird in der vorliegenden Arbeit beschritten. Seine Stärken liegen dort, wo die Schwächen des ersten Weges liegen, und umgekehrt. Er verlangt notwendig nach einer größeren Studie, weil er die Forschungen verschiedener Disziplinen vereint. Ihm ist es beschieden, daß zu jeder einzelnen der behandelten Fragen besser informierte Fachleute existieren. Gleichzeitig fühlen sich viele für die verfolgte Fragestellung kompetent, weil sie weniger Tiefen- als Breitenwissen erfordert, weniger Detailkenntnisse als einen synthetisierenden Überblick. Diese Art von Wissen wird leider leicht mit Allgemeinwissen verwechselt und geringgeschätzt. Gelegentlich wird auch vergessen, daß gerade die Übersetzung von Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen, also Interdisziplinarität als solche, ihre eigenen Schwierigkeiten hat. 281 Was Lampe schreibt, gilt für beide Wege gleichermaßen: „Interdisziplinäre Arbeiten erfordern gegenüber anderen Disziplinen Offenheit mehr noch ein Sich-Hineindenken in die anderen Disziplinen, damit aus der Summe der disziplinären Einzelerkenntnisse eine fächerübergreifende Gesamterkenntnis entsteht. Angesichts der immer stärkeren Auffächerung der Wissenschaften und der immer höheren Komplexität ihrer Methoden und Erkenntnisse fehlt heute vielen Wissenschaftlern der Mut dazu. Die Gefahr, von den Vertretern der anderen Wissenschaften des Dilettantismus gescholten zu werden, ist allzu groß , . . " 2 8 2

Freilich kann die Schelte auch von den eigenen Fachkollegen herrühren. Sie mag dann etwa durch die Unterschätzung der Komplexität und inneren systematischen Geschlossenheit der beteiligten Einzelwissenschaften hervorgerufen sein. Zum einen genügt dem Nicht-Biologen oder Nicht-Spieltheoretiker eine Lektüre von wenigen Wochen nicht, um Inhalt, Methode und Reichweite der Evolutionstheorie oder Spieltheorie so zu verstehen, daß er daraus ein Urteil über deren Relevanz für das Recht abzuleiten in der Lage wäre. Es besteht zum zweiten die große Gefahr von Mißverständnissen, wenn begriffliche oder theoretische Analogien zur je eigenen Wissenschaft gezogen werden, die aber nicht unbedingt so bestehen. Eine weitere Schwierigkeit ist die Sprache der Darstellung. Weil interdisziplinäre Studien ihre Daten aus verschiedenen Einzelwissenschaften entnehmen, laufen sie Gefahr, entweder viele verschiedene Codes und Fachtermini für Dritte unverständlich zu kopieren oder unter einheitlichen Begriffen Uneinheitliches zu führen und damit die Übersetzbarkeit in die Einzelwissenschaften bloß vorzutäuschen. Dieses Problem zeigt sich immer wieder in Übersetzungen englischsprachiger interdisziplinärer Werke ins Deutsche. Die Kenntnisse des Übersetzers reichen im allgemeinen nicht 280 281 282

Hof et al. (Hg.) (1994), besprochen von Wesche (1996). Vgl. Weingart (1993). Lampe (1997), S. 7.

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Teil I: Einführung

aus, die aus verschiedenen Wissenschaften stammenden Theorieelemente durchweg mit den richtigen deutschen Begriffen zu verknüpfen. Die vorliegende Arbeit stützt sich daher fast ausschließlich auf original-, meistens englischsprachige Literatur. Eine Vielzahl englischer Zitate war deshalb unvermeidlich. Es dürfte inzwischen einer unseligen Vergangenheit angehören, Menschen nur als solche und niemals auch und zugleich als Tiere zu betrachten, eine Betrachtungsweise, die mit kulturellem Relativismus, sozialwissenschaftlichem Reduktionismus, Antievolutionismus und spezialwissenschaftlicher Zersplitterung einherging. Dieser Vergangenheit sei ein (einmal mehr: englisches) Zitat entgegengesetzt, das aus der interdisziplinären Zusammenarbeit Wolfgang Fikentschers mit Michael McGuire, einem amerikanischen Psychiater und Verhaltensforscher, erwachsen ist und sich als Programm dieser Untersuchung lesen läßt: „Our's (sic) is a time in which the natural sciences, the social sciences, and the humanities are moving towards one another both in their interests and methodologically. It is a time in which legal scholarship cannot ignore those biological findings that explain human behavior and its normative regulations. And, it is a time in which we should not allow previous abuses to inhibit impartial research." 283

6. Zum Gang der Arbeit Die Interdisziplinarität der Perspektive könnte zwei Arten von Aufbau der Arbeit nach sich ziehen. Die hier nicht gewählte Art wäre, hintereinander rechtssoziologische, psychologische, biologische usw. Daten und Theorien zu diskutieren und daraus gegen Ende eine Summe zu ziehen. Vorzugswürdig erscheint, von vornherein eine rechtstheoretisch inspirierte inhaltliche Leitfrage zu verfolgen und die gesamte Arbeit in den Dienst der Beantwortung dieser Frage zu stellen. Die Arbeit ist dementsprechend als Argument konstruiert. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einer Darstellung dessen, was zu dem Thema bereits gesagt wurde. Vielmehr wird eine bestimmte Hypothese, besser: ein ineinander verschränktes Gerüst von Hypothesen, auf dem Hintergrund von Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen diskutiert. Wegen dieser Argumentstruktur besteht die Hoffnung, die einzelnen Teile mögen schlüssig auseinander hervorgehen. An dieser Stelle sei daher nur ein kurzer Ausblick gegeben. Teil II führt zunächst in die Evolutions- und Selektionstheorie Darwins (A.) und seiner Nachfolger (B.) ein und behandelt verschiedene Kritiken, die gegen den Darwinismus sowie seine Verwendung außerhalb der Biologie erhoben worden sind (C.). Bezweckt ist hier, den Leser mit den neue283

Fikentscher/McGuire (1994), S. 294.

C. Methode und Forschungsstand

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sten Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und Genetik, aber auch deren Beschränkungen vertraut zu machen, soweit sie für die Frage der Normentstehung relevant sind. Sodann ist in Teil III eine Würdigung des anderen „Pols" der Theorie, nämlich der Rolle der Kultur vorzunehmen (B.). Inwiefern Kultur und Natur eng miteinander verwoben sind, ist Gegenstand von Kapitel C. Die Diskussion beruht auf einer funktionalistischen Methodik (Α.). Abschließend geht es um die Frage, ob Revolutionäre Einflüsse auch noch unter den Bedingungen moderner Zivilisation wirksam sind (D.). Nach diesem eher theoretischen Teil folgt in Teil IV die etwas griffigere Anwendung der Ergebnisse auf menschliches Verhalten. Der Revolutionäre Ansatz, demzufolge Kultur und Natur gemeinsam betrachtet werden müssen, wird dabei besonders am Beispiel der Gegenseitigkeit fruchtbar gemacht. Erörtert wird zunächst menschliches Zusammenleben im verwandtschaftlichen Nahbereich (Α.), dann detailliert im sog. Mittelbereich, also zwischen Nichtverwandten, die freundschaftlich oder etwa im Wege von Geschäftskontakten miteinander zu tun haben (B.), schließlich im Fernbereich, jenseits der Gruppengrenzen zwischen „Fremden" (C.). Eine kritische Diskussion beschließt auch diesen Teil (D.). Die Perspektive verengt sich in Teil V auf Revolutionäre Elemente der Normentstehung. Die Basis der Normentstehung bilden nicht-normative und protonormative Arten der Verhaltenssteuerung (Α.). Kapitel B. analysiert typische Normentstehungskonstellationen. Ist eine Norm einmal entstanden, heißt das noch nicht, daß sie auch befolgt wird (C.) Bis hierhin wird meistens die Rede von „Norm" sein, obwohl bereits viele Beispiele aus dem Recht stammen. Das Recht als Sonderfall eines Normensystems wird in Kapitel D. daraufhin untersucht, inwiefern es ebenfalls in Revolutionär erworbenen Verhaltensneigungen wurzelt. Für den hauptsächlich an der Entstehung von Normen interessierten Leser empfiehlt es sich nicht, direkt zum gleichnamigen Teil der Arbeit zu springen. Normen entstehen aus Sozialverhalten. Jede Analyse, die die Grundlagen des Umgangs der Menschen miteinander überspränge, griffe zu kurz. Die Analyse der Normgenese setzt deshalb neben dem Einführungsteil den Teil über Revolutionäre Verhaltenstheorie voraus. Das Verständnis des letzteren beruht wiederum auf Neodarwinismus und Theorie der Koevolution.

Teil II Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie A. Charles Darwins Theorie Wenn i m folgenden die Theorie Darwins (1809-1882) i n Erinnerung gerufen wird, so soll nicht beansprucht werden, der genauen Entstehungsgeschichte der Theorie gerecht zu werden. Gelegentlich werden daher Erkenntnisse einfließen, die früher oder später gemacht wurden. Wissenschaftshistorische Genauigkeit würde es eigentlich auch erfordern, die Quellen zu würdigen, aus denen D a r w i n schöpfen konnte. Dabei wären etwa zu nennen Carl von L i n n é (1707-1778), auf den die auch heute noch weitgehend gültige Tier- und Pflanzensystematik zurückgeht und der den Menschen als Homo sapiens i n die Ordnung der „Herrentiere" stellte; JeanBaptiste de Lamarck (1744-1829), der den Gedanken der E v o l u t i o n (er reicht i n die A n t i k e zurück: Empedokles, Anaximander von M i l e t , D e m o krit) gegen das religiöse D o g m a der Unveränderlichkeit der Arten propagierte, dessen Theorie der Vererblichkeit erworbener Eigenschaften freilich widerlegt ist; 1 schließlich der Landpfarrer Thomas Robert Malthus ( 1 7 6 6 1834), dessen Werk Über die Bedingungen und Folgen der Volksvermehrung D a r w i n i m Jahre 1838 studierte und ihn darauf brachte, daß die Evolution durch einen „ K a m p f ums Dasein" (struggle for life) bestimmt werde, der aus der Überproduktion v o n N a c h k o m m e n resultiere. I m übrigen waren der Evolutions- und der Auslesegedanke bereits i m 18. Jahrhundert durch die schottischen Moralphilosophen (Mandeville, Hume, Smith) vorgedacht worden. Z u erinnern ist insbesondere an die auf A d a m Smith zurückgehende Idee der „unsichtbaren H a n d " des Marktes. 2 Diese tritt an die Stelle von Planung und zeitigt g l e i c h w o h l Ergebnisse, die so aussehen, als ob sie geplant wären. 3 D a r w i n bezog also entscheidende Anregungen für seine Theorie nicht etwa von naturwissenschaftlichen Vorgängern, sondern von Sozial- und Geisteswissenschaftlern.

1

Zu letzterem noch B. 1. Smith (1776). 3 Dies hat etwa Hayek verschiedentlich betont (etwa (1971), S. 73 ff.; (1973), S. 30 ff.). 2

Α. Charles Darwins Theorie

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1. Evolution und natürliche Auslese Evolution 4 meint die generationenübergreifende Veränderung der Merkmale in der belebten Natur. Daß die heute existierenden Formen der Lebewesen im Verlauf der erdgeschichtlichen Entwicklung aus einfacher organisierten Vorfahren entstanden sind, ist Inhalt der Evolutionstheorie oder Deszendenztheorie. Evolution ist nur mit Schwierigkeiten aus dem fossilen Material ablesbar. Deshalb konnte der Glaube aufkommen, die Arten seien durch göttliche Schöpfung in einem einzigen Akt geschaffen worden. Dieser sog. „Kreationismus" ist so gut wie sicher falsch. 5 Auch wenn angeblich 44% der U.S.-Amerikaner an ihn glauben, was sich in entsprechenden Unterrichtsplänen in mehreren amerikanischen Bundesstaaten niederschlägt,6 soll eine Auseinandersetzung mit ihm an dieser Stelle unterbleiben.7 Darwins theoretischer Beitrag liegt wesentlich in der Theorie der natürlichen Auslese oder Selektionstheorie, die er 1859 in The Origin of Species vorlegte. Die Theorie erklärt, wie es zur Ausdifferenzierung aller existierenden Arten aus einer gemeinsamen Urstammform und zur differentiellen und kumulativen Ausbildung von organischen Merkmalen und Verhaltensmerkmalen bei Lebewesen kommen konnte.8 Der Leser, der mit Darwins Theorie hinreichend vertraut ist, mag die folgenden Ausführungen dieses Abschnitts überspringen. Zu einer Art gehören nach dem biologischen Artbegriff 9 alle Individuen, die unter natürlichen Bedingungen eine tatsächliche oder potentielle Fortpflanzungsgemeinschaft bilden, die von anderen Fortpflanzungsgemeinschaften getrennt ist. Dem Auge des Laien in der Regel offenkundig ist nur die Verwandtschaft zwischen Artgenossen, nicht aber die zwischen Arten. 4

Zum Begriff schon Teil I B. Vgl. statt vieler Mayr (1994), S. 57 ff.; Mark Ridley (1993), S. 323 f.; Dawkins (1986); Ruse (1986). 6 FAZ vom 20.08.1999. 7 Interessanter wäre die Frage, welche Rolle sprunghafte Entwicklungen in der Evolution spielten; vgl. etwa Gould (1987 a). Es scheint, daß viele Entwicklungen in relativ kurzer Zeit erreicht wurden, gefolgt von langen Perioden ohne nennenswerte genetische Veränderungen. Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Gradualität der Auseinanderentwicklung, d. h. daran, daß jede Entwicklung auf vorhergegangenen aufbaut. 8 Darwin (1859/1964), S. 484. Näher zur Evolutionstheorie Erben (1988); Mayr (1979), (1985); Mark Ridley (1993); Slewing (Hg.) (1987); Wieser (Hg.) (1994). Speziell zur Evolution des Menschen Kuli (1979); Lewin (1995); Osche (1987); Steitz (1993). 9 Zurückgehend auf Mayr (1967); vgl. H. Winkler (1994), S. 211 ff. Zur Unterscheidung vom morphologischen Artbegriff vgl. Engels (1989), S. 141. 5

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Trotzdem behauptete Darwin, alle Lebewesen seien miteinander verwandt. Man muß danach nur weit genug in der Erdgeschichte zurückgehen, um zwischen jedem Organismus, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, eine Verwandtschaftsbeziehung mit einem beliebigen anderen Organismus festzustellen. Schlüssel zu dieser These ist die komparative Beobachtung von Ähnlichkeiten und Entwicklungskontinuitäten. 10 In Frage kommen funktionale und morphologische Ähnlichkeiten. Beide sind allerdings keine untrüglichen Indikatoren für Verwandtschaft. Merkmale mögen die gleiche Funktion erfüllen, aber unabhängig voneinander entstanden sein („konvergente Anpassung"). Genauso kann sich die Natur in morphologischer Hinsicht mehr als einmal dasselbe „einfallen" lassen, statt es jeweils auseinander hervorgehen zu lassen („parallele Evolution").11 Zwischen den ähnlichen oder gleichen Merkmalen besteht in den beiden letztgenannten Fällen nur funktionale Analogie, nicht evolutionäre Homologie} 2 Der Unterschied läßt sich an einem Beispiel erläutern: Die Flügel der Vögel und die der Wespen dienen gleichermaßen zum Fliegen. Trotzdem sind sie nicht homolog, weil sie sich nämlich nicht auseinander oder gemeinsam aus einer Urstammform von Rügein oder Flügel-Vorgängern entwickelt haben. Sie sind unabhängig voneinander entstanden, jeweils in Anpassung an vermutlich ähnliche Selektionsherausforderungen. Vogelschwingen sind umgebildete Vordergliedmaßen von Wirbeltieren, Wespen gehören zur Ordnung der Hautflügler. Ein positives Beispiel, das auf homologe Verwandtschaft zurückzuführen ist, lautet so: Vögel benutzen ihre Flügel zum Fliegen, oder sie besitzen noch verkümmerte Flügel, aber fliegen nicht oder kaum mehr, wie etwa die Pinguine, bei denen die Vorderflügel zu Flossen umgebildet sind. Die funktionale Gleichheit des „Fliegens mittels Flügeln" deutet auf Verwandtschaft zwischen Vögeln hin, ebenso die morphologische Ähnlichkeit von ausgebildeten und sekundär zurückgebildeten Flügeln. Deshalb zählt der Pinguin zu den Meeresvögeln. In den Vogelschwingen lassen sich auch stark reduzierte Finger erkennen, die morphologisch auf eine Verwandtschaft mit anderen Wirbeltieren verweisen, welche statt dessen Vörderläufe besitzen. Das wirft die Frage des Stammbaumes auf: Welche Art stammt von welcher ab, welche stammen gemeinsam von welcher anderen ab? Und es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Lebensraum und Umweltbedingungen einer Art einerseits und deren organischen Merkmalen andererseits. Diese Fragen sind schwer zu entscheiden. Ob Analogie oder Homologie vorliegt, kann nur aus Indizien geschlossen werden, etwa aus atrophierten 10 11 12

Dazu Alexander (1979), S. 11 ff.; Vogel/Eckensberger (1988), S. 566 ff. Vgl. zu diesen Begriffen Horan (1989), S. 148. Vgl. Wieser (1994), S. 25 f.; Vogel/Eckensberger (1988), S. 568 ff.

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Organen.13 Die Schwierigkeiten liegen auch darin begründet, daß Arten evoluieren, sich in der Zeit verändern. Falls Homologie vorliegt, kann der Forscher Erkenntnisse über genetisch nahe verwandte Arten auf die in Frage stehende Art übertragen. Er kann z.B. aus dem Verhalten von nichtmenschlichen Primaten auf die Ursprünge menschlichen Verhaltens schließen.14 Im Fall von Analogie ist nur ein indirekter Schluß möglich: Im Tierreich entwickelte Antworten auf Problemstellungen, wie sie vergleichbar auch beim Menschen gegeben sind, lassen vermuten, daß auch die phylogenetischen Vorfahren des Menschen entsprechende Antworten entwickelt haben. Diese können als genetische Programme Eingang in das menschliche Erbgut gefunden haben.15 Alle Arten konservieren bei jeder Fortpflanzung weitestgehend ihren Bauplan. Das ist auch bei geschlechtlicher Vermehrung so, obwohl sich dabei die Erbinformationen zweier Individuen mischen. Auf der anderen Seite sind sich selbst Individuen derselben Art bloß ähnlich, nicht identisch. Aus einem Organismus entsteht immer nur ein sehr ähnlicher neuer Organismus, nicht etwas völlig anderes. Es muß also einen Spielraum für Variation geben. Darwin beobachtete, daß mehr Organismen entstehen, als selbst ins reproduktionsfähige Alter gelangen.16 Vermehrung geht regelmäßig über die Tragekapazität des Habitats hinaus. Daraus entwickeln sich Hungersnöte, Epidemien, Migrationen und Verteilungskämpfe. Darwins Beobachtungen bestätigten somit die Thesen von Malthus, vom Wettbewerb um knappe Ressourcen.17 Aus ihm folgt ein evolutionärer Wettbewerb um bestmögliche Fähigkeiten in der Ausnutzung der Ressourcen, ein „evolutionärer Rüstungswettlauf' (evolutionary arms race), wie es in der englischsprachigen Literatur gelegentlich heißt. Diejenigen Individuen haben die größte Chance zu reproduzieren, die aufgrund ihrer organischen Ausstattung und ihres Verhaltensrepertoires mit den Umweltbedingungen am besten zurechtkommen. Mit diesen Beobachtungen Darwins ist der Interpretationsbedarf eingekreist, dem sich Darwin gegenübersah: Warum entwickeln sich Arten auseinander? Wie kommt Neues in die Evolution? Warum kann nur manches davon bestehen, während anderes sofort (bevor es selber reproduziert) oder nach einiger Zeit (durch Aussterben) wieder verschwindet? Und wonach richtet sich, daß Neues auch entstehen kann, das überlebt, ohne Altes zu verdrängen? Eine Theorie muß dazu drei Prinzipien liefern: eines für die Neuentstehung, eines für die Bewährung bzw. das Scheitern von 13 Vgl. Vogel/Eckensberger (1988), S. 570 ff.; F.-H. Schmidt (1982), S. 35 f., 51 ff. m.w.N. 14 E. O. Wilson (1975), S. 551. 15 Wickler (1975), S. 42 ff. 16 Darwin (1859/1964), S. 53 ff. Siehe auch Mayr (1988b), S. 225. 17 Darwin (1859/1964), S. 63.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Entstandenem, eines für den Erhalt der Information Generation.

von Generation zu

Darwin trug den Prinzipien Rechnung, indem er postulierte, daß sich die Arten durch das Zusammenspiel von Variation, Auslese, Anpassung, Isolation und Vererbung entwickeln.18 - Variation meint die Entstehung von immer neuen phänotypischen Merkmalen. Neben den zufälligen Mutationen ist die ebenfalls zufällige genetische Rekombination bei geschlechtlicher Vermehrung besonders bedeutsam.19 Doch Darwin konnte nur das Phänomen beschreiben, die Mechanismen blieben ihm zeit seines Lebens ein Rätsel. Er wußte nicht, daß Gregor Mendel 1866 den Schlüssel zum Verständnis der Gene gefunden hatte. Dessen Studien wurden erst 1900 „wiederentdeckt". 20 - Natürliche Auslese (Selektion) ist der Mechanismus der Bewährung und des Scheiterns der so entstandenen Merkmale im Kampf ums Dasein (struggle for life). Sie bildet ein Pendant zur Züchtung durch den Menschen. Darwin hatte im Vorfeld seines Origin lange Zeit die Züchtung von Hunden und Pferden studiert und daran erkannt, daß positive Merkmale verstärkt reproduziert werden können und für folgende Generationen erhalten bleiben. Das erste Kapitel des Origin heißt denn auch „Variation under Domestication". Exkurs: In Bezug auf das Überleben von Merkmalen aufgrund natürlicher Selektionsbedingungen spricht man von natürlicher Auslese, in Bezug auf die Fortpflanzungschancen, die von der Wahl des Sexualpartners abhängen, von geschlechtlicher Selektion (sexual selection)? 1 Fitneß (zu diesem Begriff siehe sogleich) im Wettbewerb um Geschlechtspartner hat positive Auswirkungen auf die natürliche Selektion eines Individuums. Die Auslesekriterien sind identisch, soweit fitte Individuen größere Chancen bei der Partnerwahl haben. Doch können natürliche und geschlechtliche Selektion in Widerspruch geraten. Denn bei gleicher Überlebenstauglichkeit zweier Organismen kann sich aufgrund von Partnerwahl-Konkurrenz unter Gleichgeschlechtlichen ein differentieller Fortpflanzungserfolg einstellen. Zwar wird die Partnerwahl und damit der Maßstab des Wettbewerbs häufig mittelbar von Faktoren abhängen, die Überlebenstauglichkeit widerspiegeln. So wählen Weibchen kräftig aussehende und mutige Männchen, weil sie sich von ihnen kräftigen Nachwuchs und die beste Verteidigung desselben erwarten. Aber warum wählen Weibchen besonders hübsche Männchen, wenn deren 18 19 20 21

Lewontin (1970). Mayr (1979), S. 2 ff.; (1994), S. 160 ff. Mayr (1994), S. 144 f.; Wieser (1994), S. 17. Darwin (1859/1964), S. 87 ff.; (1871/1974), Teil II, zusammenfassend S. 583.

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Schönheit nicht einfach auf Fitneß zurückgeht (wie wenn kräftiger Körperbau als schön gilt), sondern fitneßindifferent ist? Die Frage stellt sich erst recht, wenn die Schönheit mit erheblichem Ressourceneinsatz „erkauft" ist, wie wenn Pfauen Körperenergie in die Ausbildung ihrer Federn investieren. Denn dann bedeutet der Wettbewerbsvorteil auf dem „Partnermarkt" eine Einbuße an Fitneß, ein Handicap (sog. „costly signaling ")! Geschlechtliche Auslesekriterien können „außer Rand und Band" geraten (sog. „runaway selection "). So entstehen Merkmale, die, isoliert betrachtet, unter Gesichtspunkten der natürlichen Selektion nachteilig sind.22 Solche Merkmale „bezwecken" nichts anderes, als potentiellen Geschlechtspartnern zu imponieren. Dies gelingt möglicherweise dadurch, daß zum Beispiel das besonderes aufwendige Federkleid des Pfaus signalisiert, daß die Fitneß seines Trägers so groß ist, daß dieser sich sogar noch übergroße Federn „leisten" konnte. Das Handicap indiziert „gute Gene" („good genes theory"). Damit wirkt es sich aber auf dem Umweg über vorteilhafte Partnerwahl wieder positiv auf die darwinische Fitneß aus. Die Übertragbarkeit dieser Überlegungen auf menschliches Verhalten ist differenziert zu beurteilen. Falls Partner nach Kriterien ausgewählt werden, die von Fitneßkriterien abweichen, fragt sich, wie es evolutionär dazu kommen konnte und welchen Einfluß das auf die weitere Evolution des Menschen hat. Immerhin lassen sich diverse Merkmale von „Attraktivität" in der menschlichen Kultur leicht als Fitneßindikatoren verstehen, etwa hoher gesellschaftlicher Status und kräftiger Körperbau bei Männern, runde Körperformen und mütterliche Wärme bei Frauen.23 Eine vollständige Rückführung von kultureller „Attraktivität" auf natürliche Auslese ist hingegen nicht zu erwarten. Nicht nur die Eigenarten geschlechtlicher Selektion verhindern dies, auch diejenigen der menschlichen Kultur. Nicht auszuschließen ist jedoch, daß fitneßhinderliche Verhaltensweisen auch kulturell (unbewußt) deshalb Unterstützung erfahren könnten, weil sie einen Fitneßüberschuß des Handelnden offenbaren. Ende des Exkurses. - Passung (Adaptivität) bezeichnet den Maßstab der Selektion. Sie beschreibt die tatsächlichen Möglichkeiten eines Organismus, in seinem Lebensraum bei spezifischen Selektionsdrücken bzw -bedingungen unter Ausnutzung derselben zu reproduzieren. Angepaßte (adaptive) Merkmale haben eine Chance von > 50 %, positiv selektiert zu werden (sich repro22

I m einzelnen ist hier vieles umstritten. Vgl. D. Jones (1996), S. 107 f.; Parish/ Voland (2001); Mark Ridley (1993), Kap. 11; Sosis (2000); Voland (1993), S. 120 ff.; H. Winkler (1994), S. 204 ff. 23 D. Jones (1996), S. 105 f. 6 Wesche

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duktiv verbreiten zu können), fehlangepaßte (maladaptive) Merkmale haben eine Wahrscheinlichkeit von > 50%, negativ selektiert zu werden.24 Passung ist eine steigerbare Eigenschaft. Die Annäherung von Merkmalen an größere Passung heißt Anpassung (Adaptation). Der gleiche Begriff bezeichnet auch ein angepaßtes Merkmal: „Schwimmhäute sind eine Anpassung an die Fortbewegung im Wasser; sie sind durch Anpassung an diesen Lebensraum entstanden". Darwinsche Fitneß bezeichnet das Maß der Überlebens- und Fortpflanzungschance des Organismus als ganzen. In diesem Sinne ist die (nicht von Darwin, sondern von Herbert Spencer stammende) Formel des „survival of the fittest" zu verstehen. Darwin übernimmt sie in die späteren Auflagen seines Origin of Species und verwendet sie gleichbedeutend mit „natural selection".25 Es ist wichtig, auf die Chance des Überlebens abzustellen. Denn sonst wäre das Schlagwort tautologisch: „survival of that which survives". 26 Die Fortpflanzung ist nur dann relevant, wenn die Nachkommen selbst das reproduktionsfähige Alter erreichen. Fitneß beinhaltet also auch, den Nachkommen genau dies ermöglichen zu können.27 Statt darwinscher Fitneß ist mittlerweile die sog. Gesamtfitneß zur entscheidenden Größe aufgestiegen, auf die zurückzukommen sein wird. - Isolation meint die teilweise oder vollständige Unterbindung der Paarung zwischen Individuen einer Art oder zwischen verschiedenen Populationen.28 Sie ermöglicht die Konservierung von Merkmalen, die ohne Isolation im Kampf ums Dasein ausgestorben wären. Darwin konnte die Auswirkungen der Isolation während seiner Reise mit der „Beagle" auf den Galapagosinseln beobachten. Es handelte sich dabei um geographische Isolation. Von ihr ist die biologische I. zu unterscheiden, die es räumlich nicht getrennten Individuen unmöglich macht, gemeinsam Nachkommen zu haben. - Das konservative Prinzip der Evolution konnte Darwin nur postulieren. Er spricht von „Vererbung", 29 ohne den zugrundeliegenden Mechanismus zu kennen. Auf ihn werden wir bald zu sprechen kommen. Die Theorie Darwins ist probabilistisch, funktionalistisch und nicht-teleologisch: probabilistisch, weil die Variation Zufallsprodukte erzeugt und 24

Differenzierend zum Begriff der „Passung" in der Biologie Engels (1989), S. 134 ff. m.w.N. 25 Vgl. dazu ebd., S. 75 f. 26 Ebd., S. 139 f.; Sober (1984). 27 Voland (1993), S. 73. 28 Population ist eine Vielheit von Organismen, die nahe beieinander leben und sich tatsächlich miteinander paaren können; H. Winkler (1994), S. 211 f. 29 Siehe beispielsweise Darwin (1871/1982), S. 135.

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nicht vorhersagbar ist, außerdem nur über Reproduktionschancen, nicht über tatsächliche Reproduktion Aussagen getroffen werden; funktionalistisch, weil diese Produkte in der Selektion auf ihre Passung, d.h. ihre Funktionalität unter gegebenen Umweltbedingungen geprüft werden; nichtteleologisch, weil der zugrundeliegende Vorgang nicht zweckgerichtet ist. Darwins Leistung bestand darin, eine Erklärung gefunden zu haben, warum die Natur so aussieht, als ob sie einem Plan gehorchen würde („QuasiDesign"). In Wirklichkeit reduziert er aber Teleologie auf Kausalität, ebenso wie die schottischen Philosophen des 18. Jahrhunderts: 30 „Die natürliche Zuchtwahl wirkt nur in der Weise eines Versuchs."31 Wie gut der Versuch ist, bestimmt sich im Kampf ums Dasein: „Owing to this struggle for life, any variation, however slight and from whatever cause proceeding, i f it be in any degree profitable to an individual of any species, in its infinitely complex relations to other organic beings and to external nature, w i l l tend to the preservation of that individual, and w i l l generally be inherited by its offspring. The offspring, also, w i l l thus have a better chance of surviving, for, of the many individuals of any species which are periodically born, but a small number can survive." 3 2

2. The survival of the mediocre Darwin selbst war gelegentlich ambivalent gegenüber den nicht-teleologischen Konsequenzen seiner Theorie. 33 Zwar lehnt er einerseits jedes „Gesetz notwendiger Vervollkommnung" 34 strikt ab und stellt fest, wir seien „leicht geneigt, die fortschreitende Entwickelung als das Normale in der Geschichte der Menschheit anzusehen. Die Geschichte selbst widerlegt diese Annahme." 35

Andererseits heißt es auch: „Es ist begreiflich, daß der Mensch einen gewissen Stolz empfindet darüber, daß er sich, wenn auch nicht durch seine eigenen Anstrengungen, auf den Gipfel der organischen Stufenleiter erhoben hat .. , " 3 6

Dabei mischen sich freilich Glaube und Wissen, wie das folgende Zitat zeigt: 30

Dazu Vanberg (1994), S. 8 ff. Darwin (1871/1982), S. 181. 32 Darwin (1859/1964), S. 61. 33 Vgl. dazu auch Engels (1989), S. 86 f.; Ghiselin (1994); Mayr (1994), S. 143; Ruse (1988), Kap. 5. 34 Darwin (1859/1964), S. 351. 35 Darwin (1871/1982), S. 170. 36 Ebd., S. 274. 31

6*

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„Es ist offenbar eine richtigere und tröstlichere Annahme, daß der Fortschritt bei weitem den Rückschritt überwiegt, daß der Mensch, wenn auch langsam und in Unterbrechungen, sich aus dem niedrigsten Zustand zur heutigen Höhe seines Wissens, seiner Sittlichkeit und Religion erhoben habe." 3 7 Darwins eigentliche Theorie ist jedoch kompromißlos nicht-teleologisch, i n normativer w i e i n deskriptiver Hinsicht. E v o l u t i o n ist erstens kein Fortschritt sprojekt im wertenden Sinne. 38 Der Sozialdarwinismus hat Unrecht, wenn er kurzerhand die Ergebnisse der Selektion m i t dem moralisch Guten oder Überlegenen gleichsetzt. Kann man aber nicht evolutionsimmanent einen B e g r i f f des Guten definieren, einen evolutionären Eigenwert? Z u denken ist an die Zunahme von Komplexität, w i e sie sich i n der Evolution, bezogen auf die j e w e i l i g e Gesamtheit der existierenden Spezies, beobachten l ä ß t . 3 9 Aber K o m p l e x i t ä t kann kein letzter „ W e r t " der E v o l u t i o n sein. M a n c h m a l ist Komplexität „ s i n n v o l l " , manchmal nicht. D i e alles andere als komplexen Bakterien überdauern das Werden und Vergehen v o n M i l l i o n e n von Arten nicht aufgrund großer, sondern geringer Komplexität. Denn gerade dadurch sind sie an ihre Umweltbedingungen angepaßt. M i t gutem Erfolg: Die meisten Organismen sind B a k t e r i e n . 4 0 Ob die extreme K o m p l e xität menschlicher Industriegesellschaften eine geeignete Anpassung an globale Bedingungen darstellt, w i r d hingegen i m m e r zweifelhafter. Stellt also Passung den letzten „ W e r t " der E v o l u t i o n dar? A u c h Passung ist nur „ g u t " für etwas, nämlich das Überleben, und dieses ist nur gut für die Fortpflanzung. U n d wofür ist Fortpflanzung gut? D i e E v o l u t i o n hat keinen letzten Wert. Sie hat nur ein „ g u t für". E v o l u t i o n ist zweitens kein Fortschrittsprojekt im deskriptiven Sinne. Z w a r ist der E v o l u t i o n eine Ausrichtung auf i m m e r bessere Anpassung eigen. Das ist aber nicht von einem optimierten Endergebnis aus betrachtet, sondern quasi von innen her („teleonomisch" m i t dem B e g r i f f Mayrs), d. h. von den Bedingungen, unter denen das Überleben stattfinden m u ß . 4 1 D i e Bedingungen, an welche die Anpassung erfolgt, heißen Selektionsdruck. Sie repräsentieren die Problemstellungen der U m w e l t , i n der ein Organismus lebt. I m theoretischen Idealfall werden diejenigen genetischen K o m b i n a t i o nen reproduziert, die eine optimale Lösung für die selektive Aufgabe bereitstellen. 4 2 Die Annahme, dies sei auch tatsächlich allgemein der Fall, heißt optimalistisch (auch: panadaptationistisch). Der Optimalismus behauptet also, bestehende M e r k m a l e seien schon allein deswegen anpassungsopti37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 188. Vgl. Wuketits (1993), S. 126 ff. Dazu Gell-Mann (1994), v.a. S. 60 ff., 344 ff. Gould (1996). Ghiselin (1994), S. 489 f. Vgl. Horan (1989), S. 142 m.w.N.

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miert, weil sie ja offensichtlich fortbestehen. Wären sie suboptimal, hätten sie irgendwann besser angepaßten Konkurrenten weichen müssen. Diese Annahme ist irrig. Die Geschichte der Evolution ist eine Geschichte unvollkommener Anpassung.43 Ein rationaler Konstrukteur würde vieles anders machen.44 In der Natur ist dieser teleologische Weg verbaut. Dafür gibt es diverse Gründe: - Zwar sorgt die natürliche Auslese langfristig dafür, daß fehlangepaßte Merkmale aussterben. Doch hat sie keinen Einfluß darauf, welche Merkmale zunächst per Mutation oder Rekombination zufällig entstehen. Wenn kein optimal angepaßtes Objekt der Auslese vorhanden ist, produziert die Evolution eben keine Optimalitäten. - Die Passung eines Organismus bestimmt sich relativ zu konkurrierenden Lösungen anderer Organismen desselben Lebensraumes. Haben die anderen Organismen auch nichts Besseres zu bieten, genügt eine mediokre Lösung. Das ist allerdings kein wesentlicher Einwand gegen den Optimalismus. Im Vergleich zu den Lösungen anderer Organismen kann es sich um die „beste" Anpassung handeln, auch wenn man sich noch effizientere oder einfachere Lösungen vorstellen könnte. Zum Beispiel ist im Urwald ein hochgewachsener Baum vergleichsweise gut angepaßt, weil er viel Licht absorbieren kann. Natürlich „hätte es etwas für sich", alle Pflanzen im Urwald wären niedrig, so daß weniger Energie auf Stämme und Wurzeln verwendet werden müßte. Doch so funktioniert natürliche Auslese nicht. Denn sobald eine Mutation einen längeren Stamm zur Folge hat, entsteht ein Anpassungswettlauf um Licht 4 5 - Verschiedene Selektionsdrücke wirken simultan auf Organismen ein. 46 Der eine mag das Zulegen eines Fettpolsters für den Winter favorisieren (geringe Wintertemperaturen und mangelnde Nahrungsquellen), der andere jederzeitige Fluchtfähigkeit (Gegenwart von Feinden). Deshalb bleibt zum Beispiel der Verdauungstrakt bezüglich jedes einzelnen Selektionsdrucks suboptimal, während er bezüglich der Summe der Selektions43 Dawkins (1982), Kap. 3; (1986), S. 86 ff; (1995), Kap. 4; Gell-Mann (1994), S. 203 f., 323 ff.; Holcomb I I I (1993), S. 89 f.; Konrad Lorenz (1978a), S. 20 ff.; Markl (1983a), S. 72; Kitcher (1985), Kap. 7; Mark Ridley (1993), S. 332 ff.; Vromen (1995), S. 90 f. 44 Zu diesem Vergleich Koslowski (1990), S. 36 f. 45 Dawkins (1995), S. 141 f. - Übrigens läßt sich das „Problem" der Pflanzen als Gefangenendilemma modellieren (dazu ausführlich Teil I V B. 4.): Alle Pflanzen könnten mehr Energie auf Fortpflanzung verwenden, würden sie sich auf eine maximale Wuchshöhe „einigen". Doch weil dies nicht geht, ist es für alle vorteilhafter, sich in den „sinnlosen" Wettlauf um größtmögliche Höhe zu begeben. So Matt Ridley (1997), S. 56. 46 Mark Ridley (1993), S. 346.

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drücke möglicherweise optimiert ist - aber nur solange diese sich nicht ändern. Das führt auf den nächsten Punkt: - Endgültige Passung kann es nicht geben: Ändern sich die Selektionsbedingungen, gilt etwas anderes als angepaßt. Weil die Selektionsbedingungen ständig im Fluß sind - Klimawechsel, Bevölkerungsüberhänge, Aussterben von Freßfeinden oder Freßopfern etc. - , gibt es zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur wenige vollkommen angepaßte Merkmale. 47 - Allgegenwärtig ist, was die Ökonomen Pfadabhänigkeit (path dependence) nennen;48 der Physiker und Komplexitätsforscher Murray GeliMann spricht von „frozen accidents":49 Ein einmal eingeschlagener Weg wird trotz nur mäßiger Passung beibehalten, weil eine Änderung erhebliche Kosten (Fitneßverlust) verursachen würde. Die Evolution stabilisiert bzw. fixiert daher vorhandene Morphologien. 50 Zwar erlauben Mutationen eine prinzipiell grenzenlose Vielfalt an Neuentwicklungen. Doch hat sich die Evolution mittlerweile auf spezifische Entwicklungsrichtungen festgelegt. Für ein völlig neuartiges Atmungssystem beispielsweise wäre in einer Umwelt kein Platz, in der konkurrierende Organismen mit herkömmlicher Atmung bereits hinreichend angepaßt sind. - Manchmal kann eine vorteilhafte Entwicklung nicht eintreten, weil sie nicht auf einmal fertig vorliegen kann, die Zwischenstadien aber fehlangepaßt sind. Ein gerne bemühtes Beispiel sind Vogelschwingen. Sie entstanden aus den Vordergliedmaßen der Wirbeltiere. Doch wie? Zum Fliegen reichen ja nicht ein paar Federn, sondern es sind derer viele sowie ein veränderter Muskelapparat nötig. Allerdings sind Entwicklungen häufig auch schon angepaßt, bevor das adaptive Ergebnis erreicht wird. Ursache dafür sind Funktionsänderungen. Vorgänger der Vögel konnten dank leicht veränderter Gliedmaßen immerhin auf potentielle Geschlechtspartner Eindruck machen, schneller rennen, nach Sprüngen weicher landen oder gleiten.51 - Manche an sich fehlangepaßte Merkmale können fortexistieren, weil der Organismus ausreichend viele andere angepaßte Merkmale besitzt, die kompensierend wirken. Hierhin gehört auch das Phänomen der sog. paired characteristics. Enten haben orange Füße, obwohl graue Füße für Freßfeinde weniger leicht sichtbar wären. Doch ist das Material orange, aus dem die im übrigen hochangepaßten Füße der Enten bestehen. Seine 47 48 49 50 51

Vgl. ebd., S. 333 f.; E. O. Wilson (1975), S. 144. Vgl. Roe (1996). Geli-Mann (1994), S. 323 ff. Wieser (1994), S. 26; G. Β. Müller (1994), S. 180 f. Mark Ridley (1993), S. 328; Alexander (1979), S. 9 f.

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Farbe erfüllt keine Anpassungsfunktion, seine Fehlanpassungswirkung wird überkompensiert. 52 Kurz gesagt: Evolution favorisiert „brauchbare" Lösungen.53 Optimale Lösungen sind nicht garantiert. Die Merkmale konkurrierender Organismen und die Selektionsdrücke entscheiden über das notwendige relative Maß der Anpassung.54 3. Darwin und der „moral sense " Wenn Organismen um Ressourcen im evolutionären Wettbewerb konkurrieren, tun sie das nicht nur mit ihren organischen Merkmalen. Gerade im Wettbewerb zwischen organisch ähnlich ausgestatteten Organismen (ähnlichen Arten oder Angehörigen derselben Art) zählt etwas anderes: adaptives Verhalten. 55 Ein weiterer Tatbestand katapultiert förmlich die Entwicklung adaptiven Verhaltens nach vorne, nämlich das Anpassungswettrennen zwischen Freßfeinden und Freßopfern. Darwin hat dies bereits erkannt. Er kann als erster Vertreter der evolutionären Verhaltenstheorie betrachtet werden. Allerdings sind seine Andeutungen recht spekulativ, wie er selbst zugibt.56 In seinem Descent of Man von 1871 vergleicht Darwin die Geisteskräfte des Menschen mit denen der Tiere und stellt fest, daß nur graduelle, keine fundamentalen Unterschiede bestehen („of degree and not of kind"). 57 Gemeinsam ist Menschen und Tieren insbesondere der soziale Instinkt. 5* Darunter versteht Darwin in etwa das, was oben Geselligkeit genannt wurde, nämlich „Vergnügen an der Gesellschaft seiner Artgenossen", einen „gewissen Grad von Sympathie mit ihnen" und „die Bereitwilligkeit ..., den Genossen allgemein zu helfen". 59 Dabei „besteht das eigentliche Wesen des 52

Beispiel nach Elliott (1997), S. 613. Weitere Ursachen dafür bei Mark Ridley (1993), S. 334 ff. 54 Alexander (1979), S. 17; G. C. Williams (1966). Ob lang- oder kurzfristig in der Evolution ein Fortschritt in der Angepaßtheit bestimmter oder aller Spezies ausgemacht werden kann, ist Thema eines Streits zwischen dem Paläontologen Stephen Jay Gould (1996) und dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins (1997). Er rekurriert auf einen weiteren Streit, der i m Zusammenhang mit der Bedeutung von Pfadabhängigkeit und „punctuated equilibria" in der Evolution steht; dazu Dawkins (1995) vs. Gould (1987 a). 55 Dabei bleibt unbenommen, daß organische Fähigkeiten und das Verhaltensrepertoire eng zusammenhängen. Wenn ein arttypisches Verhalten darin besteht, Termitenbaue aufzugraben, sind die zu Grabwerkzeugen umgebildeten Vordergliedmaßen unmittelbar verhaltensrelevant. 56 Darwin (1871/1974), Kap. X X I . 57 Darwin (1871/1982), S. 78 ff., 160 bzw. (1871/1974), S. 126. 58 Darwin (1871/1982), S. 125 ff., 136 f. 59 Ebd., S. 123. 53

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Instinkts ... darin, daß er ohne Überlegung befolgt wird". 60 Der soziale Instinkt wird gekräftigt durch Gewohnheit und natürliche Zuchtwahl: „Wir können bemerken, daß ein instinktiver Antrieb, wenn er in irgend einer Weise für die Art vorteilhafter ist als ein ähnlicher oder entgegengesetzter Instinkt, durch natürliche Zuchtwahl der stärkere von beiden wird; denn diejenigen Individuen, welche ihn im stärksten Grade besitzen, überleben in größerer Anzahl." 6 1

Das moralische Gefühl, den „moral sense", reserviert Darwin allerdings für den Menschen, wenn auch in für Darwin typischer vorsichtiger Formulierung: „Moralisch nennen wir ein Wesen, das imstande ist, seine früheren und künftigen Handlungen zu vergleichen und sie zu billigen oder zu verwerfen. Wir haben keinen Beweis zugunsten der Annahme, daß irgend ein Tier diese Fähigkeiten besitzt." 62

Darwin reserviert das moralische Gefühl, er isoliert es aber nicht. So wird er nicht müde, die Entstehung des moralischen Gefühls evolutionär zu verankern, indem er es in die Nähe der sozialen Instinkte rückt: „Aber ... ich (habe) mich bemüht, zu zeigen, daß das moralische Gefühl entspringt: erstens aus der dauernden und immer gegenwärtigen Natur der sozialen Instinkte; zweitens aus der Bewertung der Anerkennung oder des Tadels (seitens; S. W.) der Mitmenschen; drittens aus der großen Aktivität der geistigen Fähigkeiten und äußerster Lebendigkeit früherer Eindrücke. Und in dieser Hinsicht ist (der Mensch) von den tiefer stehenden Tieren verschieden. M i t dieser Beschaffenheit seines Geistes kann der Mensch nicht umhin, rückwärts und vorwärts zu blicken und frühere Eindrücke miteinander zu vergleichen." 63

In dieselbe Richtung geht dieser interessante Brückenschlag zu den Tieren: „Es scheint mir im hohem Grade wahrscheinlich zu sein, daß jedwedes Tier mit wohlausgebildeten sozialen Instinkten ... unausbleiblich ein moralisches Gefühl erlangen würde, sobald sich seine intellektuellen Kräfte so weit oder nahezu so weit wie beim Menschen entwickelt hätten." 64

Sogar moralfähig wären also die Tiere, wenn sie nur ausreichende intellektuelle Kräfte hätten. Das heißt: Kommt zum sozialen Instinkt die intellektuelle Fähigkeit hinzu, entsteht Moral. Dann aber ist auch in Darwins Augen von einer Kontinuität des Sozial- und Moralverhaltens des Men60

Ebd., S. 154 f. Ebd., S. 135 f. 62 Ebd., S. 140; siehe auch S. 121, 161. 63 Ebd., S. 269. 64 Ebd., S. 122. Allerdings würde nicht jedes sozial lebende Tier inhaltlich dasselbe moralische Gefühl entwickeln: Der Inhalt der Moral hängt von den evolutionären Umständen ab. Siehe ebd., S. 124. 61

Α. Charles Darwins Theorie

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sehen mit dem Sozialverhalten der Tiere auszugehen. Allerdings differenziert Darwin teilweise zwischen den „Wilden", die er recht nahe bei den Tieren ansiedelt, und dem „zivilisierten" Menschen.65 An entscheidenden Punkten wird jedoch die Unterscheidung von „Wilden" und „Zivilisierten" gerade nicht gezogen. Es ist dann nur noch vom „Menschen" die Rede. So, wenn Darwin die Herkunft der Goldenen Regel, des „foundation-stone of morality", 66 aus dem verfeinerten sozialen Instinkt behauptet: „Das moralische Gefühl bildet vielleicht die beste und höchste Unterscheidung zwischen dem Menschen und den anderen Tieren; ich brauche wohl aber diesen Punkt nicht wieder zu erwähnen, da ich mich eben erst bemüht habe, zu zeigen, daß die sozialen Instinkte - die elementarste Grundlage der sittlichen Beschaffenheit des Menschen - mit Hilfe aktiver intellektueller Kräfte und der Wirkungen der Gewohnheiten zu der goldenen Regel führen: ,Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen.' Dies ist die Grundlage der Sittlichkeit." 6 7

Darwin bleibt nur noch zu erklären übrig, wie die natürliche Auslese auch das moralische Gefühl erfassen kann. In derselben Weise, wie er die Verbreitung von Instinkten der Selektion unterwirft, tut er es schließlich auch mit der Moral: „ . . . die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen ... sind variabel, und wir haben allen Grund anzunehmen, daß diese Variationen zur Vererbung neigen. Daher folgt, daß diejenigen (Fähigkeiten; S. W.) durch natürliche Zuchtwahl in hohem Maße vervollkommnet und weiterentwickelt worden sind, die dem Urmenschen und seinen affenähnlichen Vorfahren von großem Nutzen waren. Über die hohe Bedeutung der intellektuellen Fähigkeiten kann wohl kein Zweifel bestehen, da ihnen der Mensch seine hervorragende Stellung auf der Erde verdankt. Wir sehen, daß auf einer sehr niedrigen sozialen Stufe die größte Zahl von Nachkommen von denjenigen Individuen hervorgebracht werden (sie), die mit dem größten Scharfsinn begabt sind, die besten Waffen und Fallen erfinden und benutzen und sich am wirksamsten zu verteidigen verstehen. Die Stämme, welche die größte Anzahl so begabter Menschen umfaßten, mußten an Größe zunehmen und andere bald überragen. (...) Es ist nach allen diesen Erwägungen höchst wahrscheinlich, daß sich die intellektuellen Fähigkeiten in der Menschheit durch natürliche Zuchtwahl stufenweise entwickelt haben." 68

Bezüglich der moralischen Fähigkeiten geht Darwin von den gleichen Selektionsgesetzen aus: „Wenn zwei im selben Gebiet lebende Stämme von Urmenschen in Wettbewerb traten, von denen der eine bei sonst gleichen Verhältnissen eine große Zahl mutiger, einander ergebener und treuer Mitglieder umfaßte, die in Not und Gefahr 65

Vgl. die auf Tiere gemünzten Stellen ebd., S. 123, 133 f., die auf S. 136 fast wortgleich bezüglich der Wilden wiederholt werden. 66 Darwin (1871/1974), S. 500 bzw. („Eckstein aller Sittlichkeit") (1871/1982), S. 169. Zur Goldenen Regel noch Teil V B. 4. b). 67 Darwin (1871/1982), S. 161. 68 Ebd., S. 163 f.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

stets bereit waren, einander zu warnen, zu helfen und zu verteidigen, so ging schließlich dieser Stamm als Sieger aus dem Wettstreit hervor." 6 9 „Es darf nicht übersehen werden, daß ... eine Vermehrung der Zahl gutbegabter Menschen und ein Fortschritt der Sittlichkeit doch dem ganzen Stamm eine ungeheure Überlegenheit über alle anderen Stämme verleiht." 7 0

Wichtig ist aus der Sicht heutiger evolutionärer Verhaltenstheorie, daß diese Argumente und Beobachtungen Darwins in keiner Weise zwingend auf Urmenschen und Wilde beschränkt bleiben müssen. Das liegt schon daran, daß zwischen sozialen Instinkten und moralischem Gefühl die von Darwin beschriebene, von intellektuellen Fähigkeiten vermittelte Kontinuität besteht.71 B. Neodarwinismus 1. Gene und Genselektion Der Neodarwinismus geht auf August Weismann (1834-1914) zurück. Der Freiburger Zoologe integrierte die Mendelschen Vererbungsgesetze in den Darwinismus. Er gelangte so zu der gegen Lamarck gerichteten Einsicht, daß erworbene Merkmale nicht vererbt werden. 72 Die in den Körperproteinen enthaltenen Informationen können niemals auf die Nukleinsäuren übertragen werden. Soma und Keimbahn sind streng getrennt. Übrigens war auch Darwin noch von der Vererblichkeit erworbener Eigenschaften überzeugt.73 69

Ebd., S. 166. Ebd., S. 169 f. 71 Dementsprechend finden sich noch heutzutage Zeugnisse von archaischen kulturellen Merkmalen jedweder Art, die Sittlichkeit eingeschlossen (ebd., S. 185): „Beweise dafür, daß alle zivilisierten Völker Nachkommen von Barbaren sind, bilden die deutlichen Spuren ihres früheren primitiven Zustandes in noch bewahrten Gebräuchen und Ansichten, in der Sprache usw.; andererseits sind Wilde fähig, selbständig eine Stufe in der Zivilisation emporzusteigen und haben es tatsächlich getan." 72 Vgl. Mayr (1988a), S. 491 ff.; (1994), S. 155 ff.; Mark Ridley (1993), S. 324 f. 73 Deshalb spielt bei Darwin „ererbte Gewohnheit" verschiedentlich eine Rolle. Vgl. z.B. (1871/1982), S. 163 f., 166. Ausdrücklich heißt es später (S. 264): „ W i r können versichert sein, daß die vererbten Wirkungen des lange andauernden Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der (Körper-; S. W.) Teile viel getan haben und in derselben Richtung wie die natürliche Zuchtwahl." Oder auch (S. 267 f.): „ . . . denn der beständige Gebrauch der Sprache wird auf das Gehirn zurückgewirkt und eine vererbliche Wirkung hervorgebracht haben . . . " Und schließlich (S. 271): „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß tugendhafte Neigungen nach einer langen Ausübung auch vererbt werden." Siehe zu dieser Frage auch Engels (1989), S. 72 f. 70

Β. Neodarwinismus

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Die nächste Weiterentwicklung im Rahmen des Neodarwinismus war die sog. „synthetische Theorie". Sie entstand durch Kombination der Selektionstheorie mit der seit Weismann weiter verfeinerten Genetik und Molekularbiologie. 74 Als Architekten der Synthese gelten R. A. Fisher, J. B. S. Haidane, S. Wright, H. Muller, T. Dobzhansky und E. Mayr. 75 Die Errungenschaft von Neodarwinismus und synthetischer Theorie liegt darin, daß sie den Mechanismus benennen, der einerseits das konservative, andererseits das innovative Prinzip der Evolution ermöglicht: die Kopie von Genen. Denn Organismen als solche können nicht reproduziert werden, auch nicht Zellen. Nur das Erbgut wird reproduziert. Auf seiner Grundlage entwickeln sich wiederum neue Zellen und Organismen. Was sind Gene? Gene sind kleinere Abschnitte auf der DNA (Desoxyribonukleinsäure), dem Bauplan des Lebens.76 Die DNA trägt die Erbinformation. Sie besteht aus zwei spiralig angeordneten Molekülketten (Doppelhelix), die durch zweimal zwei komplementäre verschiedene Basen über Wasserstoffbrücken vielfach miteinander verbunden sind.77 Insgesamt enthält die menschliche DNA 3,2 Milliarden solcher Basenpaare. Es gibt vier verschiedene Basen, Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Jeweils drei von ihnen, die in der Helix aufeinanderfolgen, bilden eine Informationseinheit. Sie codieren eine von 20 möglichen Aminosäuren, die die Bausteine komplexer Eiweißstrukturen und damit der Grundbestandteile der Lebewesen darstellen. Die Proteine setzen sich um in Hormone, Enzyme und Neurotransmitter. Die Zuordnung von Basen-Tripletts und Aminosäuren ist universell, d.h. für alle Lebewesen dieselbe. Die Doppelhelix kann sich aufspalten, indem sich die Stränge voneinander trennen. Beide Stränge dienen dann als Matrize für die Synthese eines komplementären Stranges. Der Bauplan eines Organismus gelangt nie ganz identisch von einer Generation in die nächste. Erstens kann es zu „Kopierfehlern" bei der Synthese (Mutationen) kommen.78 Zweitens findet (bei geschlechtlicher Vermehrung) immer eine Rekombination statt, d.h. eine Verbindung des Erbguts zweier Individuen. Die Vielfalt der Arten und Individuen ist in dem reproduktiven Mechanismus, der DNA-Replikation, bereits angelegt. „Gen" ist eine Einheit für die Erbinformation. Ein Gen entspricht einem Abschnitt auf der DNA, der eine abgrenzbare Information, einen Erbfaktor enthält. Wegen der Befähigung der Gene zur Selbstverdoppelung ist auch 74

Siehe Barash (1982), S. 22; Mayr (1994), S. 176 ff. Wieser (1994), S. 18. 76 Die deutsche, weniger gebräuchliche Abkürzung lautet DNS. 77 Dazu Gottschalk (1994), S. 12 ff.; Hennig (1995). 78 Mutationen werden beispielsweise durch atmosphärische Strahlung oder chemische Substanzen, sog. Mutagene, bewirkt. Alexander (1979), S. 16. 75

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

die Rede von genetischen Replikatoren. Replikatoren sind Größen, von denen Kopien hergestellt werden. 79 Die Gesamtheit der Gene eines Individuums heißt Genom. Allele sind die einander entsprechenden, aber in unterschiedlichen Zustandsformen vorliegenden, daher beim Organismus zu unterschiedlichen sichtbaren Merkmalen führenden Gene homologer Chromosomen. Zu unterscheiden ist ferner der Genotyp, also die Gesamtheit der genetischen Programme, vom Phänotyp, also der Gesamtheit der Beschaffenheit und Merkmale eines Organismus unter jeweiligen Umweltbedingungen.80 Aufgrund der Entdeckung der Gene wird „Evolution" im Sinne der Populationsgenetik mittlerweile definiert als Änderung der relativen Häufigkeit von Allelen. Als nächstes erhebt sich die Frage nach der Selektionseinheit. Auf welche Einheit oder Organisationsebene des Lebens fällt es letztendlich zurück, wenn ein der Selektion unterliegendes Merkmal angepaßt oder fehlangepaßt bzw. ein Organismus mehr oder weniger fit ist? Kurz: Survival of the fittest whatl SÌ Die Frage ist bedeutsam. Denn mit ihrer Beantwortung wird darüber vorentschieden, welche Verhaltensweisen von Organismen erwartet werden können. Soweit sich Verhalten nach den Imperativen der Evolution richtet, wird es zum Nutzen der Selektionseinheit unternommen werden. Was als angepaßt „gilt", bestimmt sich danach, was dieser Einheit nützt. Wäre beispielsweise die Art die Selektionseinheit, würde eine Optimierung der Fitneß der Art zu deren optimierter Fortpflanzung, zum Arterhalt führen. Adaptives Verhalten wäre dann Verhalten, das die Art fördert, und es wäre das Wohl der Art, von dem sich evolutionär funktionales Verhalten leiten ließe. Das ist zugleich die Anschauung von Konrad Lorenz, 82 die über ihn in der deutschsprachigen Ethologie, ja sogar in der allgemeinen Anschauung herrschend wurde. 83 Darwin favorisierte als Selektionseinheit das Individuum,84 besonders im Descent of Man aber auch, wie die obigen Zitate demonstrieren, die Gruppe oder „Stämme".85 Dem schließt sich Irenäus Eibl-Eibesfeldt an. 86 Die moderne Evolutionsbiologie hält teilweise ebenfalls die Gruppe,87 aber vor allem die Gene für die maßgebliche Selektionseinheit.88 79

Dawkins (1988), S. 64. Siehe Hennig (1995), S. 8. 81 Alexander (1979), S. 22 f.; Mark Ridley (1993), Kap. 12. 82 Konrad Lorenz (1973), S. 14, 36, 148 u.ö.; (1978a), S. 25; (1978b), S. 290 f. Lorenz' Theorie geht wiederum auf August Weismann zurück. 83 Vgl. z.B. Erben (1988), S. 355, 367, 369, 375 u.ö. 84 Darwin (1859/1964), S. 60 ff. und passim. 85 Siehe die Zitate aus Darwin (1871/1982) im obigen Abschnitt A. 3. 86 Eibl-Eibsfeldt (1997), S. 136 ff., v.a. 143, 149. 87 Grundlegend Wynne-Edwards (1962), (1978). Siehe auch D. T. Campbell (1983), S. 161 f.; Sober (1984); D. S. Wilson (1975), (1992); D. S. Wilson/Sober (1994). 80

Β. Neodarwinismus

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Die Klärung dieser komplexen Frage würde einen Nichtbiologen überfordern. Glücklicherweise hat sich mittlerweile bei den Fachwissenschaftlern, bei verbliebenen Divergenzen im Detail, ein weitgehender Konsens durchgesetzt: Selektion wirkt auf der untersten Ebene, derjenigen der Gene, am stärksten.89 Der Hauptgrund dafür ist, daß als Selektionseinheit nur eine Größe in Frage kommt, die in der Zeit hinreichend stabil ist, so daß natürliche Auslese mit dauerhaften Folgen auf sie wirken kann.90 Nur so entsteht eine Evolution mit Entwicklungskontinuitäten und langfristigen Veränderungen hin zu relativen Anpassungsoptima. Gene sind, mehr als alle anderen Organisationsebenen, eine solche Größe. Sie sind prinzipiell unsterblich: Als Informationseinheiten überdauern sie das Werden und Vergehen von Organismen. Wie der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins sagt, sind Organismen „Vehikel", mit denen Gene, also Replikatoren, durch Raum und Zeit reisen. 91 Auch Gene sind freilich nur prinzipiell unsterblich: Sie verschwinden gelegentlich zufällig durch genetische Drift. 92 Die Gendrift beruht auf einem Zufallseffekt: Weil eine Population etwa aufgrund klimatischer Einflüsse plötzlich ausgestorben ist, entsteht für eine andere Population eine günstige Überlebensmöglichkeit. In der neuen Population erhalten Genotypen und Mutanten eine Reproduktionschance, die an sich keinen Selektionsvorteil hatten. Der Effekt kann vor allem bei kleinen Populationen zum Tragen kommen, weil die genetischen Eigenarten hier weniger leicht in einem großen Genpool verlorengehen. Genetische Drift hat also zur Folge, daß Merkmale von Organismen nicht auf Selektion zurückgeführt werden können. Gene gehen auch dann unter, wenn die DNA zusammen mit den Vehikeln ausstirbt, ohne daß eines der Vehikel vorher so reproduziert hat, daß das Gen in der nächsten Generation fortexistiert. Wenn aber Gene die Chance hatten, sich selektiv zu bewähren, können sie immer neue Generationen von Organismen nach ihren Programmen einrichten. Selektive Bewährung heißt: Die Passung der Merkmale eines Organismus (seine Fitneß) wirkt sich auf die Reproduktion seiner genetisch angelegten Merkmale aus, mittelbar auch auf Erhalt oder Aussterben von 88

Gundlegend G. C. Williams (1966), Kap. 4. Siehe auch G. C. Williams (1986) als Entgegnung auf Sober (1984). Weitere Vertreter der Genselektionstheorie sind u.a. Dawkins (1988), ν.a. S. 63 ff., (1989); Barash (1982), S. 70-103; Alexander (1979), S. 28 f., 36 ff.; Wickler/Seibt (1977), S. 52 f., 83 ff. Kritisch Gray (1992), S. 184 ff. 89 Zusammenfassend Mark Ridley (1993), S. 310 ff.; Engels (1989), S. 141 ff.; Holcomb I I I (1993), S. 211 ff.; Matt Ridley (1997), S. 175 ff. 90 Dawkins (1988), S. 58 f.; Mark Ridley (1993), S. 315 ff. 91 Dawkins (1988), S. 64 f.; (1989), S. 33 ff., 254 f. Siehe auch die Zusammenfassung der Replikator-Vehikel-Theorie auf S. 264 ff. Eine ähnliche Unterscheidung macht Hull (1980) (Replikatoren und Interaktoren). 92 N. A. Campbell (1997), S. 459; Alexander (1979), S. 16.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Arten. Die Theorie der Genselektion wird von dem Göttinger Anthropologen Christian Vogel so zusammengefaßt: „Natürliche Selektion ... arbeitet über differentiellen Reproduktionserfolg von individuellen Populationsmitgliedern, und das ist zugleich der ... Grund, weshalb alle Organismen (Homo sapiens eingeschlossen) via natürliche Selektion seit Jahrmilliarden programmiert sind, mit ihren je benachbarten Artgenossen um einen relativ höheren Reproduktionserfolg zu konkurrieren. ,Nutznießer 4 dieses Prozesses ist primär also nicht die Art, aber auch nicht das ... Individuum selbst, sondern es sind dessen ... genetische Programme (Gene, Allele), die eine proportional höhere Vermehrungsrate innerhalb der Population gewonnen haben als die Allele von ... weniger erfolgreichen Konkurrenten." 93

In der Genselektionstheorie liegt kein wirklicher Gegensatz zu Darwins Vorstellung des Individuums als Selektionseinheit.94 Man könnte sagen, daß Gene und Individuen, Genotyp und Phänotyp als zeitgebundene Selektionseinheit aufzufassen sind - zeitgebunden, weil sich die prinzipiell unsterblichen Gene nur auf kurze Zeit in einem Individuum befinden. Während dieser Zeit ziehen aber Individuum und Genom „an einem Strang": Der Wettbewerbserfolg des Individuums fällt auf die genetischen Programme zurück, die es auf den Wettbewerb vorbereitet haben. Worauf es hingegen ankommt, ist eine Abgrenzung zur Arterhaltungstheorie von Konrad Lorenz u. a. Die Art ist keine kausale Kraft, sondern ihr Erhalt ist gegebenenfalls Ergebnis der Selektion auf individueller und genetischer Ebene.95 Das ergibt sich schon daraus, daß Arten keine fixen Gebilde, keine in der Natur tatsächlich vorkommenden Dinge sind, sondern eine kategorisierende Einteilung.96 Etwas schwieriger ist die Beurteilung des Konzepts der Gruppenselektion. Würde die Selektion maßgeblich auf der Ebene von Gruppen wirken, setzte dies die différentielle Reproduktion ganzer Gruppen voraus. Dazu ge93

Vogel (1989a), S. 75 (kursiv i.O.). Dawkins (1988), S. 57 f.; Ruse (1988), S. 17 f.; Wieser (1994), S. 34 f. 95 Nicht vorenthalten sei dem Leser folgendes Zitat von Barash (1982), S. 4 m.w.N., das durch die bestechende Aneignung deutschen Märchenguts überzeugt: „But classic European ethology fell prey to the Rumplestiltskin effect ..., the beguiling notion that if we name something, it w i l l go away. Thus early ethology generated such phrases as ,fixed action pattern', ,innate releasing mechanism', and ,action specific energy'. These notions may be of considerable heuristic value ... but they don't really explain very much." (Hervorhebungen i.O.) Der Rumpelstilzchen-Effekt ist, so könnte man hinzufügen, vom Rotkäppchen-Fehlschluß zu unterscheiden: „Warum hat die Giraffe so einen langen Hals? Damit sie hochhängende Blätter besser fressen kann." Der Fehlschluß liegt in der Annahme einer adaptationistischen Teleologie. 96 Vgl. G. C. Williams (1966), S. 252: „The species ... has no special significance for the study of adaptation. It is not an adapted unit and there are no mechanisms that function for the survival of the species." 94

Β. Neodarwinismus

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hörte, daß fixe Gruppen evolutionär lange Zeiträume überdauern, in dieser Zeit genetische Unterschiede entwickeln, sodann aufeinandertreffen und aufgrund der genetischen Unterschiede unterschiedlich angepaßt sind, so daß die eine Gruppe reproduktive Nachteile erleidet. Diese kumulativen Anforderungen sind so streng, daß sie selten erfüllt sind.97 Nun beobachtet man in der Realität, daß Individuen sich für das Gemeinwohl aufopfern oder ihr Eigeninteresse zumindest erheblich zurückstellen. Diese Beobachtung wurde auch als Beleg für das Arterhaltungskonzept herangezogen. Ist für solche Verhaltensweisen, wenn schon nicht Artselektion, so doch wenigstens Gruppenselektion erforderlich? Auf den ersten Blick erscheint plausibel, daß Gruppen dadurch einen Vorteil gegenüber anderen Gruppen haben, daß ihre Mitglieder am Gemeinwohl mitarbeiten. Die Mitglieder sollten daran ein Interesse haben, weil sie am Gemeinwohl partizipieren. Doch übersieht die Theorie der Gruppenselektion einen Umstand: Die gemeinwohlorientierten Strategien der Individuen sind nicht gewappnet gegen eigennutzorientierte Eindringlinge, sog. Trittbrettfahrer oder free rider. 98 Diese hätten den gesamten Vorteil des Gruppenzusammenhalts ohne individuelle Kosten. Dadurch würde das System zusammenbrechen, damit natürlich auch der kollektive Gruppenvorteil. 99 Gruppen agieren insgesamt suboptimal, weil Selektionsdrücke, durch die gruppenschädliches Verhalten belohnt wird, auf den Individuen und ihren genetischen Verhaltensprogrammen liegen. Aus der allgemeinen Vorteilhaftigkeit eines bestimmten gemeinwohlorienterten Verhaltens ist nicht darauf zu schließen, daß die beteiligten Individuen tatsächlich Opfer dafür aufbringen. 100 Unterstützung für kollektive Ziele muß und kann anders erklärt werden als über das Modell der Gruppen- und Artselektion. Es sind individuelle, genetisch induzierte und unter jeweiligen Umweltbedingungen je andersartig aktualisierte Interessen, die zu gemeinschaftsförderlichem Verhalten drängen. Solches Verhalten nützt aber zugleich dem Individuum oder dessen Genpool: „... adaptations that have evolved for the benefit of one level of organisation can incidentally benefit higher levels." 101 Es ist zuzugeben, daß hinsichtlich Gen- und Gruppenselektion das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Nicht auszuschließen ist, daß kollektive 97

Alexander (1979), S. 41; Matt Ridley, S. 179. Bischof (1985), S. 185 f.; Mark Ridley (1993), S. 311. Dieser Umstand wird als mangelnde evolutionäre Stabilität unter Teil I V Β. 3. näher erläutert. 99 Entsprechendes wäre gegen die Arterhaltungstheorie vorzubringen. 100 Zu den Konsequenzen der Theorie der Genselektion für praktische Philosophie und Rechtswissenschaft, die beide häufig auf den Nutzen bestimmter Gruppen abheben (Bsp. Utilitarismus) siehe Epstein (1980), S. 679 ff.; Alexander (1983), S. 105 ff. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht R. H. Frank (1988), S. 37 ff. 101 Mark Ridley (1993), S. 311. 98

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Prozesse im engen Rahmen gruppenselektionistisch interpretiert werden können. Kultur zeichnet den Menschen auch insofern aus, als kulturelle (nicht genetische!) Unterschiede zwischen Gruppen, die durch Konformitätsdruck verstärkt werden, unter geeigneten Bedingungen direkte Gruppenkonkurrenz mit der Folge differentieller Fortpflanzung bewirken. 102 Dabei handelt es sich jedoch nicht unbedingt um Gruppenselektion. Gruppenförderliche Verhaltensweisen können aufgrund von individuellem und genetisch induziertem Eigeninteresse entstehen, gleich ob es sich um kulturelles oder akulturelles Verhalten handelt. Wenn im folgenden von „Gruppe" die Rede ist, so ist das ein Stellvertreterbegriff für eine Vielzahl von Kollektiven: abgrenzbaren und (minimal) organisierten Einheiten, die in der Regel kleiner sind als die von Lorenz ins Feld geführte Art. Je nach Kontext geht es um die Großfamilie, den Freundeskreis, die Jagdgemeinschaft, soziale Schichten oder die Nation. 103 2. Verwandtschaftsselektion

und Gesamtfitneß

Fitneß ist nach der Theorie der Genselektion nicht definiert als Reproduktionschance des Organismus, sondern als Reproduktionschance des Genpools des Organismus. Zweigeschlechtliche Fortpflanzung hat die Kopie eines Gens des einen Geschlechtspartners nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% zur Folge. Durchschnittlich die Hälfte der Erbinformation stammt vom anderen Partner. Für die optimale Strategie eines Gens heißt dies: Es sollte daraufhin programmiert sein, daß seine Kopien in anderen Trägern, v.a. in eigenen Nachkommen, bessere Fortpflanzungschancen haben. Das ist der Hauptgedanke der Untersuchungen des Genetikers W. D. Hamilton. 104 Neben den eigenen Nachkommen kommen noch andere Verwandte in Frage. Je nach Verwandtschaftsgrad ist die Wahrscheinlichkeit von Genidentität unterschiedlich; im Fall von Vollgeschwistern und eigenen Nachkommen beträgt sie 50%. Somit läßt sich ein Verwandtschaftsgrad definieren als wahrscheinliche différentielle Genpoolidentität. Der Verwandt102

Dawkins, eloquenter Verfechter der Genselektionstheorie, hält in der Neuauflage seines The Selfish Gene diese u.a. von J. L. Mackie ((1978), S. 461 ff.) vorgeschlagene Variante von Gruppenselektion für denkbar ((1989), S. 185 f. mit Anmerkung). Ähnlich D. S. Wilson/Sober (1994); Matt Ridley (1997), S. 179 ff. Dabei ist allerdings zu beachten, daß dafür lange Zeiträume (500 bis 1000 Jahre) erforderlich sind. Vgl. Soltis et al. (1995). 103 Mechanismen, die die Gruppe involvieren, müssen nicht Gruppenselektion bedeuten. Denn in gewisser Weise richtet sich die Überlebenschance von Individuen stets nach der Fitneß der Gruppe, wenn es sich um sozial lebende Organismen handelt. Das ist aber zunächst nur ein Sonderfall der „normalen" Selektion auf individueller und genetischer Ebene. Das übersieht m. E. Eibl-Eibsfeldt (1997), S. 149; zutreffend Bowles/Gintis (1998), S. 22 f. 104 Hamilton (1964). Dazu Bischof (1985), Kap. 11; Michod (1984).

Β. Neodarwinismus

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schaftsgrad r liegt immer zwischen Null (keine Verwandtschaft) und 1 (genetisch identisch, z.B. eineiige Zwillinge). Er beträgt z.B. Vi für Vollgeschwister und Eltern-Kinder, V A für Nichten und Neffen, Halbgeschwister oder Großeltern-Enkel. Selektion wirkt auf Genpoole, an denen mehrere genetisch verwandte Individuen teilhaben. Das nennt man Verwandtschaftsselektion („kin selection"). Die relevante Fitneß eines Organismus ist dementsprechend nicht nur seine eigene, individuelle, sondern auch die aller Individuen seines Genpools in Abstufungen gemäß der genetischen Überschneidung, kurz seine Gesamtfitneß („inclusive fitness"). 3. Soziobiologie „A hen is only an egg's way of making another egg. " (Samuel

Butler)

105

„ The organism is only DNA 's way of making more DNA. " (Edward

O. Wilson)

106

Die von Darwin begründete evolutionäre Verhaltenstheorie wurde später bekannt, ja geradezu populär unter dem Namen „Soziobiologie". Die Bezeichnung stammt aus dem Jahre 1946,107 konnte sich aber erst in den siebziger Jahren durchsetzen, als der Insektenforscher Edward O. Wilson sein Sociobiology: The New Synthesis herausbrachte. Das Buch gab der evolutionären Verhaltenstheorie freilich einen biologistischen Zungenschlag, der vielfältige, später noch zu würdigende Kritik auf sich gezogen hat. Den größten Anstoß erregte das Schlußkapitel. Es wendet die Evolutionstheorie auf das kulturelle Verhalten des Menschen an (Humansoziobiologie).108 Soziobiologie ist eine neodarwinistische Theorie, die insbesondere auf Evolutions- und Populationsbiologie,109 Verhaltensforschung, Anthropologie, 110 105

Butler (1877/1923). E. O. Wilson (1975), S. 3. 107 Die Idee einer Soziobiologie entstand auf einer New Yorker Konferenz von Verhaltensforschern 1948. Der Name wurde erstmals in einer Publikation des Jahres 1946 erwähnt. Siehe E. O. Wilson (1979), S. 3. 108 E. O. Wilson (1978), S. 8. 109 Evolutionsbiologie ist die Untersuchung der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebewesen mit Hilfe der Darwinschen und neodarwinistischen Evolutionstheorie. Sie erstreckt ihre Forschungen heute wesentlich auf molekulare und genetische Gesetzmäßigkeiten. Populationsbiologie fokussiert auf das Schicksal von Populationen von Lebewesen hinsichtlich der Verbreitung von organischen Merkmalen und Verhaltensmerkmalen, wobei unter einer Population eine Vielheit von Organismen zu verstehen ist, die nahe beieinander leben und sich tatsächlich miteinander paaren können (H. Winkler (1994), S. 211 f.). Populationsgenetik, als Unterfall der Populationsbiologie, erforscht die Regeln für die Verbreitung von Genen in Populationen. Vgl. Wieser (1994), S. 20; Ruse (1988), Kap. 2. 106

7 Wesche

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Physiologie und Ökologie zurückgreift. 111 Weil das Verhalten gesellig lebender Organismen stets Sozialverhalten in einem weiten Sinn ist, läßt sich Soziobiologie definieren als „... the systematic study of the biological basis of all forms of social behavior ... in all kinds of organisms, including humans."112 Was soll es heißen, Gene seien die Basis des Sozialverhaltens, seien wirksam, einflußreich oder disponierend? Wie wirksam sollen die Gene sein? An einem Ende der Skala möglicher Positionen steht die Determinismustheorie. Ihr zufolge ist das gesamte oder überwiegende Verhalten genetisch vorbestimmt. 113 Kulturelle Einflüsse sind selbst wieder Produkte der Gene. Ob Wilsons Soziobiologie auf der Determinismustheorie beruht, sei dahingestellt, da die vorliegende Arbeit nicht bezweckt, Wissenschaftsgeschichte zu betreiben. Jedenfalls aber wird die frühe Soziobiologie von vielen als deterministisch eingestuft. Sie stützen sich dabei auf Formulierungen Wilsons wie, die Kultur werde von den Genen „an der Leine gehalten" („the genes hold culture on a leash" 114 ). Wilson vertrat übrigens zugleich die Möglichkeit rein biologisch begründeter Normen. 115 Er verkündete: „Ethical philosophy must not be left to the merely wise. (...) ... only hard-won empirical knowledge of our biological nature w i l l allow us to make optimum choices among the competitive criteria of progress." 116 Die Anthropologie ist in sich ein vielfältiges Unternehmen, das in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgerichtet ist. Während in Deutschland in der Tradition der philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) das Wesen des Menschen als solchen, seine „Natur", gesucht wird, stehen in den englischsprachigen und den meisten anderen Ländern empirische ethnologische Forschungen im Vordergrund (Boas, Malinowski, Radcliffe-Brown). Ähnliches gilt für die Rechtsanthropologie; siehe Lampe (1996), S. 55 f. Die biologische Anthropologie unterteilt sich in die evolutionstheoretisch und vergleichend arbeitenden Verhaltensforscher der deutschsprachigen Tradition (Lorenz, Eibl-Eibesfeldt) und die aus den USA stammende Soziobiologie mit der ihr nachfolgenden evolutionären Verhaltenstheorie. ^fw/taranthropologie und Soziologie schließlich weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Ihr Unterschied dürfte allein darin bestehen, daß die zentrale Analyse-Einheit für erstere das Individuum, für letztere die soziale Beziehung (in der Systemtheorie: das soziale System) ist. Da aber der Mensch auch von der Anthropologie als soziales Wesen begriffen wird, ergeben sich wohl nur terminologische Unterschiede. Dazu Lampe (1996), S. 58 f. Beide letztgenannten Disziplinen grenzen sich aber von der biologischen A. durch ihre rein sozialwissenschaftliche Herangehensweise ab. 111 Zusammenfassend Wuketits (1990), S. 24; Gibbard (1993). 112 E. O. Wilson (1979), S. 2. 113 Zum Determinismus-Begriff siehe Holcomb I I I (1993), S. 275 ff., 281 ff. sowie unten Teil I I I C. 3. 114 E. O. Wilson (1978), S. 167. 115 Siehe v.a. E. O. Wilson (1975), letztes Kap.; ders. (1978). 116 E. O. Wilson (1978), S. 7. 110

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„ . . . the time has come for ethics to be removed temporarily from the hands of philosophers and biologicised." 1 1 7

Wie eine wohl deterministische Theorie des Verhaltens mit einer Rechtfertigung von Normen für dieses Verhalten einhergehen soll, bleibt im dunkeln, ebenso, ob aus dem empirischen Wissen die Maßstäbe für Verhaltensentscheidungen direkt ableitbar sein sollen. 118 Wir wollen es hier mit einem Hinweis auf den „Sein-Sollen-Fehler" bewenden lassen.119 Von der Determinismustheorie ist die (im folgenden zu thematisierende) Dispositionstheorie zu unterscheiden.120 Nach ihr hat das Verhalten biologische Wurzeln. Diese legen einen gewissen Rahmen für jeweilige Verhaltensweisen fest. Innerhalb des Rahmens ist der Mensch von Kultur- und Umwelteinflüssen geprägt. Kultur und Umwelt wirken dabei als weiterer Rahmen. In dem so entstehenden doppelten Rahmen ist der Mensch flexibel und finden individuelle Verhaltensentscheidungen statt. Der Name der Soziobiologie ist mittlerweile in Mißkredit geraten, dies angesichts der deterministischen Tendenzen nicht ganz zu Unrecht. 121 Die Determinismustheorie bzw. frühe Soziobiologie wird jedoch unzutreffenderweise von vielen Kritikern mit der gesamten evolutionären Verhaltenstheorie gleichgesetzt.122 Neben Wilson ist auch Richard Dawkins hoch umstritten, der den Ausdruck des „egoistischen Gens" prägte. Dabei entsteht freilich der Eindruck, Dawkins' gleichnamiges Buch, 123 das diverse Relativierungen der Aussagekraft der Soziobiologie enthält, sei von der Mehrzahl der Kritiker gar nicht gelesen worden.

117

E. O. Wilson (1975), S. 562. Vgl. Singer (1981), S. 80. E. O. Wilson war allerdings von Anfang ambivalent gegenüber der normativen Relevanz seiner Forschungen. Solange die Biologie nur dazu dienen soll, daß man sich auf ihrer Grundlage für einen gründlicher durchdachten und dauerhafteren Kodex moralischer Werte entscheiden kann (so E. O. Wilson (1980a), S. 184), ist das ein unbedenklicher Anspruch. 119 Kritik an E. O. Wilson kommt auch von evolutionsbiologischen Kollegen. Siehe Alexander (1987), S. 165 ff. 120 Ähnliche Unterscheidung bei Bayertz (1993b), S. 146 ff. m.w.N. Die Dispositionstheorie wird explizit oder implizit vertreten u.a. von Alexander, Cosmides, Durham, Irons, Mohr, Tooby, Voland, Wuketits. 121 Damit ist nicht gemeint, daß die gesamte an Wilson vorgebrachte Kritik berechtigt sei. Manche nur als politisch motiviert verständliche Vorwürfe bleiben i m folgenden unberücksichtigt. 122 Näher O. Jones (1994), S. 270 ff. 123 Dawkins (1989), in erster Auflage schon 1976. Zum Begriff des egoistischen Gens noch Teil I V D. 1. b). 118

7*

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4. Die Wirkweise

genetischer Programme (Epigenese)

Wie die Erbinformation in den Phänotyp einfließen, kurz die sog. Epigenese, ist ein komplizierter Vorgang. Eine l:l-Übersetzung findet nicht statt, sondern nur unterschiedliche Grade der genetischen Beeinflussung. 124 Genetischer Determinismus ist, nach allgemeiner Meinung unter Genetikern und Evolutionsbiologen, eine Chimäre. 125 Gene und Umwelt wirken stets in unterschiedlichen Anteilen zusammen: „All phenotypes, be they physiological, morphological or behavioural, are jointly determined by both genes and the developmental context." 126 Wohlgemerkt: alle Phänotypen aller Organismen. Bakterien z.B. besitzen eine genetische Codierung für bestimmte Verdauungsenzyme, die erst dann synthetisiert werden, wenn die passenden organischen Materialien aus der Umwelt aufgenommen werden können.127 Ist der Anteil der Umwelt an der Ausbildung eines Merkmals sehr gering oder beschränkt sich wie in diesem Beispiel auf das Anschalten eines dann selbständig ablaufenden Vorgangs, spricht man (mit E. Mayr) von geschlossenen, ansonsten von offenen genetischen Programmen. 128 Ein geschlossenes Programm steuert etwa die Augenfarbe; nur extreme Umweltbedingungen können hier entgegengesetzten Einfluß nehmen.129 In der Theorie der Entstehung von Normen hingegen haben wir es durchweg mit offenen Programmen zu tun.

Das Programm der Gene in Bezug auf sie selbst ist simpel: Autoreproduktion, d.h. Selbstkopie. Dieses selbstbezügliche Programm kennt nur einen „Zweck", der sich aus dem Grundproblem der Evolution ergibt: Erfolgreicher Wettbewerb um knappe Ressourcen ist Voraussetzung für das Überleben des Genpools. 130 Jedes Gen hat eine „Umwelt", die aus den anderen Genen des Organismus und aus dessen phänotypischem Verhalten gebildet wird. 131 „Umwelt" muß hier in Anführungszeichen gesetzt werden, weil ansonsten darunter die Umwelt des Phänotyps verstanden wird. Erbin124

Vgl. Dawkins (1995); Wieser (1994), S. 36. Vgl. nur Alexander (1979), S. 98 ff.; Holcomb I I I (1993), S. 276, jeweils m.w.N. 126 Gray (1992), S. 175. Ebenso Alexander (1979), S. 87. 127 Boyd/Richerson (1985), S. 4. 128 Mayr (1994), S. 171 ff.; ders. (1979). 129 Es ist keineswegs selbstverständlich, warum äußere Merkmale von Personen genetisch fixiert werden, und zwar bei jeder Person eine individuelle Kombination. Selektion scheint hier zugunsten der Erkennbarkeit von Verwandtschaft gewirkt haben. Siehe Alexander (1987), S. 8. 130 Konkurrenz existiert nicht erst zwischen Organismen, sondern bereits auf molekularbiologischer Ebene. Vgl. Matt Ridley (1997), S. 27 ff.; Milinski/Parker (1991); Voland (1996a), S. 94 m.w.N. 131 Dawkins (1987), S. 204. 125

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formationen werden reproduziert, wenn es ihnen gelingt, die „Umwelt" für sich zu optimieren. Dies ist eine direkte Folge aus der Genselektion. Dabei wirken viele Gene zusammen, soweit sie sich in demselben Organismus befinden, denn sie werden auch zusammen repliziert. Ähnliches gilt für die „Zusammenarbeit" von identischen Genen in verschiedenen Individuen, die am selben Genpool beteiligt sind. Dementsprechend lag ein positiver Selektionsdruck auf untereinander kompatiblen und komplementären Genprogrammen, jeweils bezogen auf ein und denselben Genpool.132 Das Genom ist nicht einfach eine Ansammlung von Genen.133 Wenig erfolgversprechend ist schon allein deswegen die Suche nach dem einen Gen, das ein bestimmtes Verhalten codieren soll. Die Zusammenarbeit der Gene eines Organismus bezieht sich auf dessen Erfolg in seiner Umwelt. Das genetische Autoreproduktionsprogramm übt seinen Einfluß auf Verhalten und organische Eigenschaften vermittels diverser komplexer Programme aus. Der evolutionäre Wettbewerb verlängert sich von der Ebene der Genome in die der Individuen und drückt sich als Interessengegensatz aus.134 Individuelles Verhalten hat als Folge davon in umgekehrter Richtung einen statistisch beschreibbaren Einfluß auf den differentiellen Reproduktionserfolg des Genpools. Wenn durch Mutation oder Rekombination eine neue genetische Information entsteht, ist nicht sicher, ob sie sich überhaupt auf den Phänotyp auswirkt. Die meisten phänotypisch wirksamen Mutationen sind unbrauchbar, gleich ob sie sich auf Verhalten oder andere Merkmale beziehen. Wenn fehlangepaßte Mutationen besonders einflußreich sind, sind sie für das Individuum fatal. Ist dies der Fall, verschwinden sie über kurz oder lang durch Negativselektion aus dem Genpool. Des weiteren sind viele Mutationen selektiv neutral. Aber auch nützliche Mutationen werden in den wenigsten Fällen beibehalten. Sie sind in der weiteren Reproduktion nicht stabil und kollabieren in ihren vorherigen Zustand, oder sie weichen bei der zweigeschlechtlichen Vermehrung dem Erbgut des Geschlechtspartners. In diesen Abläufen liegen die unvorstellbaren Zeitdimensionen begründet, die die Evolution in Anspruch nimmt. Gelingt ausnahmsweise einer brauchbaren neuen Information die Reproduktion, hat sie gewisse Chancen, zum Fortpflanzungserfolg des Individuums und damit ihrer selbst beizutragen. 135 132

Dawkins (1989), S. 181 ff.; (1988), S. 73. Diese Kooperation ist freilich auch unter Genen nicht uneingeschränkt. Virusgene etwa können entstehen, wenn einzelne Gene qua Mutation aus der Kooperation ausbrechen. Siehe Dawkins (1989), S. 234 ff. Gleichwohl fehlt die Konfliktträchtigkeit der Kooperation unter Individuen bei den Genen weitgehend, da diese nur aufgrund des Erfolges des Individuums, welches sie gemeinsam codieren, überhaupt repliziert werden können. 133 Wieser (1994), S. 34 f. 134 Alexander (1979), S. 183 ff.; (1983), S. 104 ff.; (1988); Voland (1996a).

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Auf diese Weise setzt sie sich langsam durch und wird Teil des Erbguts vieler oder aller Organismen einer Art, soweit diese nicht voneinander isoliert sind. Richard Dawkins bringt dies auf die folgenden prägnanten Worte: „Not a single one of our ancestors died in infancy. They all reached adulthood, and every single one was capable of finding at least one heterosexual partner and of successful copulating. Not a single one of our ancestors was felled by an enemy, or by a virus, or by a misjudged footstep on a cliff edge, before bringing at least one child into the world. (...) Since all organisms inherit their genes from their ancestors, rather than from their ancestors' unsuccessful contemporaries, all organisms tend to possess successful genes. (...) The world becomes full of organisms that have what it takes to become ancestors. That, in a sentence, is Darwi-

5. Tierische Instinkte und menschliche Flexibilität Im Tierreich dominiert eine Art und Weise der genetischen Verhaltensbeeinflussung, die der Determination relativ nahe kommt. Tiere verhalten sich größtenteils instinktiv. Der Begriff des Instinktes ist vor allem in der vergleichenden Verhaltensforschung 137 geprägt und angewandt worden. Er meint einen hierarchisch organisierten nervösen Mechanismus, der auf bestimmte vorwarnende, auslösende und richtende Impulse anspricht und sie mit wohlkoordinierten lebens- und arterhaltenden Bewegungen beantwortet. 138 Eine Instinktbewegung setzt einen Auslösereiz voraus. Kommt der Reiz, kommt es auch zu der Bewegung, indem die zentralnervöse aktionsspezifische Energie die Handlungsbereitschaft freisetzt. 139 Geschieht diese Freisetzung ohne Auslösereiz, spricht man von einer Leerlaufhandlung. Die Zuordnung bestimmter Bewegungen zu bestimmten Auslösereizen geschieht aufgrund angeborener Auslösemechanismen. Ist das Tier zwei oder mehr konträren Motivationen und dementsprechend aktionsspezifischen Energien ausgesetzt, kann es zu Übersprungshandlungen kommen. 140 Tiere zeigen auch Appetenzverhalten, das ist die aktive Suche nach Auslösesituationen, wie wenn eine Katze auf die Suche nach Beute geht. Sieht sie eine Maus, läuft das Fangverhalten instinktiv ab. 141 Instinktverhalten ist vererbt und angeboren. Denn es bedarf keiner Lernerfahrungen, um es zu entwickeln. Zu ihm kann allerdings gelerntes Ver135 Eine Mutation mit einem Selektionsvorteil von 1 % breitet sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 2 % in der Population aus; vgl. Wieser (1994), S. 21. 136 Dawkins (1995), S. 1 f. 137 Zu ihr allgemein Franck (1985). 138 Tinbergen (1972), S. 102 ff.; H. Winkler (1994), S. 196 f. 139 Konrad Lorenz (1978a), S. 145 ff. 140 Franck (1985), S. 14 ff. 141 Konrad Lorenz (1973/74), Bd. 2, S. 341; (1978a), S. 94 ff.

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halten hinzukommen, oder Instinktverhalten kann durch Lernen an jeweilige Umwelten angepaßt werden. 142 Gelerntes Verhalten ist im Zentralnervensystem programmiert. 143 Als Formen des Lernens werden in der vergleichenden Verhaltensforschung Prägung, Habituation, Konditionierung und höhere Lernleistungen unterschieden. Prägung meint relativ schnelle Lernvorgänge während einer sensiblen Phase mit stabilem bis irreversiblem Ergebnis.144 Bekanntes Beispiel ist die Nachfolgeprägung frisch geschlüpfter Enten. Habituation ist die Anpassung der Reaktionsintensität bei wiederholtem Auslösen einer Verhaltensweise.145 Ohne Belohnung nimmt die Reaktion in der Regel ab. Konditionierung entsteht aufgrund der Verbindung von Wiederholung eines Auslösereizes mit Belohnung oder Bestrafung, wie im bekannten Experiment Pawlows.146 Höhere Lernleistungen sind höheren Wirbeltieren inklusive des Menschen vorbehalten. Besonders die Primaten (Affen, Halbaffen und Menschen) weisen sie auf. Zu denken ist hier an Generalisierungsvermögen, Nachahmung, Spracherwerb und „Einsicht". 147 Die evolutionäre Linie des Menschen zweigte vor etwa 4 Millionen Jahren aus der Linie der Australopitheciden ab, welche im Tier-MenschÜbergangsfeld stehen, also affenartige und hominide Merkmale verbinden. Die Hominisation (Menschwerdung) verlief über den Homo habilis (älteste Funde datieren rund 2 Mill. Jahre zurück), den Homo erectus (1,6 Mill. Jahre) und den Homo sapiens (500.000 Jahre) zum Homo sapiens sapiens (25.000 Jahre). 148 Seine Klassifikation ist: Reich der Tiere, Klasse der Säuger, Ordnung der Primaten, Familie der Hominiden, Gattung Homo, Art sapiens, Unterart sapiens. 149 Der Mensch ist daraufhin selektiert, in verschiedenen Umwelten als Anpassungskünstler zu überleben. Er ist Generalist: Während ihm viele Tiere als Spezialisten in bestimmten Fähigkeiten überlegen sind, kann er vieles einigermaßen gut. Er ist nicht für eine bestimmte ökologische Nische geschaffen, sondern muß sich diese immer wieder selbst erzeugen, indem er flexibel bleibt. Geschlossene genetische Programme, aber auch die Anlage für leichte Konditionierbarkeit, sind für den Menschen nur ausnahmsweise adaptiv.150 Mit Nietzsche ist der Mensch das „noch nicht festgestellte 142

Konrad Lorenz (1973/74), Bd. 1, S. 133 ff. Franck (1985), S. 96 ff. 144 Ebd., S. 100; Immelmann (1982), Stichwort „Prägung"; Immelmann/Keller (1988), S. 135 ff.; Konrad Lorenz (1973/74), Bd. 1, S. 139 ff. 145 Franck (1985), S. 113 ff. 146 Ebd., S. 117 ff. 147 Ebd., S. 122 ff. 148 Knußmann (1996), S. 402 f.; Lewin (1995); Steitz (1993). 149 Knußmann (1996), S. 404. 150 Alexander (1987), S. 8 f., 22. 143

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Tier". 151 Der Genotyp des Menschen übersetzt sich, im Vergleich zu anderen Organismen, weit weniger geradlinig in seinen Phänotyp. 6. Genetische Verhaltensdisposition Die Forschungen der vergleichenden Verhaltensforschung konzentrieren sich auf Instinktverhalten. Doch beim Menschen liegt eine „Mischung" vor: Einige Verhaltensweisen sind zwar unter jedem beliebigen Selektionsdruck angepaßt, wie die Suche nach Nahrung oder Sexualpartnern. Doch bleibt das Wie ihrer Umsetzung, etwa was als Nahrung verzehrt oder wie Partner gewählt werden, weitgehend soziokulturellen Bedingungen überlassen. Menschliches Verhalten ist nicht völlig, aber relativ offen, als Disposition oder Tendenz angelegt. Damit ist gemeint, daß die DNA erstens die Möglichkeit für das entsprechende Verhalten schafft, also die erforderlichen Fähigkeiten oder die zum Erwerb der erforderlichen Fähigkeiten nötige Kompetenz, zweitens eine mehr oder weniger starke Neigung, das Verhalten im Laufe der Ontogenese (Individualentwicklung) tatsächlich auszubilden. Der Neigungsbegriff wird hier genauso verwendet wie in der Ökonomie derjenige der Präferenz: Er beschreibt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem bestimmten Verhalten kommt. Es handelt sich also um einen probabilistischen Begriff, der insofern grundsätzlich empirischer Überprüfung zugänglich ist. Dabei werden freilich die Wahrscheinlichkeiten, wie sie vom genetischen Programm vorgegeben sind, durch individuelle und situative Komponenten modifiziert. Die Vielfalt der Ausgangsbedingungen macht es in praxi schwierig, Wahrscheinlichkeiten für ganz bestimmt umrissene Verhaltensweisen anzugeben. Die evolutionäre Verhaltenstheorie behilft sich hier a) mit einer eher qualitativ als quantitativ angelegten Untersuchung152 und b) mit einer funktionalistischen Methodik, die spezifischen Dispositionen jeweils ein Bündel von funktional äquivalenten Realisationsmöglichkeiten zuweist.153 Neigungen liegen als psychische Mechanismen vor. Sie können z.B. durch hormonelle Belohnungsmechanismen realisiert sein. 154 Diese erzeugen ein Wohlgefühl (Lust), wenn das geeignete Verhalten erfolgt. Umgekehrt stellt sich Unlust, Schmerz ein, wenn ein Verhalten gewählt wird, das mit einer Abneigung versehen ist. Lust und Schmerz sind die psychischen Korrelate zu evolutionär und durch Sozialisation hervorgerufenen Neigungen und Abneigungen.155 Wichtig ist, daß die Evolutionstheorie Lust- und 151 Nietzsche 1886, Aphorismus 62. Fast wörtlich ebenso bei Gehlen (1971), etwa S. 32 und allg. Kap 3 ff. 152 Dazu noch C. 2. 153 Dazu Teil I I I A. 1.-3. 154 McGuire (1992), S. 38 u.ö.

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Unlustgefühle nicht als gegeben hinnimmt und auch nicht ausschließlich der frühkindlichen Erfahrung zuschreibt, sondern (auch) als Anpassungen erklärt. 156 Im Fall der Partnerwahl und Nahrungsaufnahme etwa ist die Neigung besonders nachdrücklich. Dem Sexualtrieb oder Hunger können wir uns auf längere Zeit nur schwerlich oder durch intensive Übung entziehen; die Gefühle der Befriedigung oder Sättigung belohnen uns auf das angenehmste, wenn wir die Dispositionen umgesetzt haben. Gleichwohl liegt der Schwerpunkt der Begriffsbildung „Neigung" für unsere Zwecke nicht auf dem psychischen Mechanismus, auch nicht auf dem hormonellen. 157 Es kommt darauf an, daß genetische Programme überhaupt die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, daß bestimmte Verhaltensweisen in gegebenen Si tuationen eher gewählt werden als andere. Nicht nur ein einziges Verhalten erfüllt eine angelegte Disposition. Die Genetik spricht von der Reaktionsnorm, die die Spannbreite der aufgrund von (Kombinationen von) genetischen Informationen potentiell auszubildenden Merkmale beschreibt. 158 Typisch für den Menschen ist das offene genetische Dispositionsprogramm, das Flexibilität erlaubt, diese aber vorstrukturiert. Weitere Strukturierung entstammt dem soziokulturellen Umfeld, insbesondere der Erziehung. Aus dem wechselseitigen Zusammenhang von evolutionärem Wettbewerb und Verhaltensentwicklung ergibt sich das Forschungsprogramm der evolutionären Verhaltenstheorie. Ihr Ausgangspunkt ist das beobachtbare Verhalten, das sodann evolutionstheoretisch integriert wird. Dabei kann es sich um tierisches (zuständig: vergleichende Verhaltensforschung; Ethologie) oder menschliches Verhalten (zuständig: Ethnologie; Anthropologie) handeln. Aus tierischem Verhalten kann auf menschliches geschlossen werden, soweit es in einer evolutionären Linie steht. Dies kann dann angenommen werden, wenn drei Voraussetzungen kumulativ erfiillt sind: - weite Verbreitung, - Kontinuität des menschlichen mit tierischem Verhalten, - Passung von menschlichem Sozialverhalten.159 Mit anderen Worten, sind alle drei Bedingungen hinsichtlich einer Verhaltensweise gegeben, ist eine evolutionäre Mitgift in Form von genetischen Verhaltensprogrammen zu erwarten, die durch Anpassung entstanden sind. 155

Zu Begriff und Erforschung des Gefühls siehe Lampe (1991), S. 221 ff.,

233 ff. 156

Alexander (1976), S. 280 f. Und zwar deshalb, weil es sich bei beiden um proximate Mechanismen handelt; dazu Teil I I I Α. 1. und 2. 158 Vgl. Gottschalk (1994), S. 60. Kritisch Gray (1992), S. 172 ff. 159 E. O. Wilson (1979), S. 4 ff. Siehe auch Gould (1978), S. 345 ff. 157

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

C. Kritische Diskussion Neodarwinismus und Soziobiologie sind außerordentlich umstritten, sowohl hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Aussagen als auch ihrer Verwendung in einer „Evolutionären Ethik" und ihrer politischen Wirkungen. 160 Bei der „Evolutionären Ethik" handelt es sich um eine Unterdisziplin der Ethik, die die Relevanz der Evolutionstheorie für ethische und Gerechtigkeitsfragen thematisiert. 161 Sie würde eine eigene Auseinandersetzung erfordern, die hier erläßlich ist, weil es um die empirische Frage der Entstehung von Normen, nicht um deren normative Rechtfertigung geht. Die folgende Diskussion berücksichtigt die gesamte in der Literatur geäußerte und einige darüber hinausgehende Kritik an Neodarwinismus und Soziobiologie mit Ausnahme der Problematik der „Evolutionären Ethik". Die konkreten Aussagen des Neodarwinismus zum menschlichen Sozialverhalten werden hingegen erst nach ihrer Darstellung in Teil IV diskutiert. An dieser Stelle seien untersucht 1. Probleme von Neodarwinismus und Selektionstheorie, 2. der Vererbungsbegriff, 3. das Verhältnis von genetischer Disponierung vs. Determinierung, 4. methodische Probleme in der Untersuchung sozialer Phänomene, 5. der zugrundeliegende Leib-Seele-Monismus, 6. die Rolle von Intentionen und Bewußtsein, 7. der Nutzen der vergleichenden Verhaltensforschung, 8. angebliche sozialdarwinistische oder politisch reaktionäre Konsequenzen. 1. Zu Neodarwinismus

und Selektionstheorie

Eine Alternative zum Neodarwinismus mit vergleichbarem Explikations-, Integrations- und Prognose wert ist nicht in Sicht. 162 Trotzdem müssen wir 160

Zur Kritik an der Soziobiologie siehe etwa Caplan (Hg.) (1978); Dennett (1995); Ehalt (Hg.) (1985); Gould (1976), (1981); Gregory et al. (Hg.) (1979); Hemminger (1983); Kitcher (1985), (1987); Koslowski (1990); Rose et al. (1984); Löwstedt (1993); Montagu (Hg.) (1980); Sahlins (1977); Spaemann et al. (Hg.) (1984). Weitere Nachweise bei den einzelnen Kritikpunkten. Die meisten Kritiken richten sich gegen die deterministische Frühform der Soziobiologie. 161 Vgl. neuerdings die instruktive Habilitation von Gräfrath (1997) m.w.N. sowie Bayertz (1988); (1993b); Mohr (1987); weiterhin die Sammelbände von Bayertz (Hg.) (1993); May et al. (Hg.) (1989) und (1990); Nitecki & Nitecki (Hg.) (1993); Lütterfelds (Hg.) (1993) sowie Heft X X der Zeitschrift conceptus. 162 Mayr (1994), S. 183 ff. m.w.N.

C. Kritische Diskussion

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einige Problembereiche im Auge behalten, die allerdings derzeit auch von keiner anderen Theorie behoben werden. a) Unwissenschaftlichkeit? Ein verbreiteter Einwand 163 lautet: „Die evolutionäre Verhaltenstheorie liefert Hypothesen, die im Grunde jedes Verhalten inklusive sich widersprechender Verhaltensweisen erfassen können. Dahinter steckt das Problem, daß der Darwinismus zu allgemein ist und zu wenige theoretische Ausgrenzungen bereitstellt. Der Darwinismus ist nicht mehr als eine Metatheorie, die weitere Theoriebildung ermöglicht, für sich genommen aber auf Individualverhalten unanwendbar. Wendet man ihn doch an, erzeugt er banale ,just-so stories' (so der Paläontologe Stephen Jay Gould in Anlehnung an R. Kipling), d. h. Hypothesen, die ad hoc alles erklären können und deshalb gar nichts wirklich erklären. Dadurch wird er zugleich unwissenschaftlich, weil er sich gegen empirische Widerlegung immunisiert." Eine Theorie, die nicht falsifizierbar ist, ist tatsächlich keine, zumindest keine wissenschaftliche. Die Frage ist nur, ob die evolutionäre Verhaltenstheorie unter dieses Verdikt fällt. Gehen wir zurück zu Darwin. Schon er wurde von seinen Zeitgenossen angegangen, seine Selektionstheorie sei tautologisch und daher unwiderlegbar. 164 Dieser Vorwurf hat sich als unhaltbar erwiesen. Rufen wir uns die grundlegenden Prinzipien von Darwins Theorie in Erinnerung: Variation der Phänotypen, unterschiedliche Passung an Umwelten, Selektion mit der Folge unterschiedlicher Vermehrungsraten in Abhängigkeit von Passungsgraden, Erblichkeit fitneßdefinierender Merkmale. Alle diese Prinzipien sind beobachtbar und wurden unzählige Male beobachtet.165 Daß nie alle Prinzipien bezüglich jedes beliebigen Merkmals bewiesen sein werden, ist unvermeidlich. Darwin selbst übrigens wies den Weg zur möglichen Widerlegung seiner Theorie: „ I f it could be demonstrated that any complex organ existed, which could not possibly have been formed by numerous, successive, slight modifications, my theory would absolutely break d o w n . " 1 6 6

Ein solches Organ wurde noch nicht gefunden. Natürliche Selektion kann prinzipiell alle Anpassungen erklären. 167 Eine andere Frage ist, ob konkrete 163 Vgl. Gould (1980b), S. 267; Gould/Lewontin (1979); Rose et al. (1984), S. 260 ff. 164 Vgl. Caplan (1989), S. 264 f.; Wieser (1994), S. 16 f. Zur angeblichen Tautologie der Formel „survival of the fittest" schon Α. 1. 165 Alexander (1979), S. 8. 166 Darwin (1859/1964), S. 189. 167 Mark Ridley (1993), S. 326 f.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Beispiele von adaptiven Merkmalen durch Selektion entstanden sind (dazu sogleich). Der obige Einwand hat Recht, insoweit er eine methodische Forderung aufstellt: Erklärungen müssen so beschaffen sein, daß sie sich widersprechendes Verhalten auch als solches würdigen. Nun kann es gelegentlich sein, daß sowohl ein Verhalten als auch sein genaues Gegenteil angepaßt ist. Dann muß aber hinzugefügt werden, unter welchen Bedingungen und wodurch die jeweiligen Verhaltensweisen angepaßt sind. 168 Nun geht die moderne Evolutionsbiologie über Darwin hinaus. Insbesondere analysiert sie den Mechanismus der Vererbung. Doch von den Genen wissen wir vieles noch nicht. Die Wirkkraft des Genoms auf Verhalten kann nur postuliert werden. Ein direkter Beweis ist zumindest bislang nicht erhältlich, auch wenn die Kartierung des menschlichen Genoms im Rahmen des „Human Genome Project" mittlerweile abgeschlossen ist. Nun droht ein Dilemma mit der Folge einer argumentativen Pattsituation. Soll der Neodarwinismus erst dann angewendet werden dürfen, wenn genetische Grundlagen erwiesen sind - oder unabhängig davon, so daß sein Erklärungserfolg ein Argument für genetische Grundlagen abgäbe? Der Preis dafür ist eine gewisse Spekulativität und Gefahr von Zirkularität. 169 Doch fällt die Entscheidung leicht, diesen Preis hinzunehmen. Es erschiene voreilig, einer vielversprechenden Theorie nur aufgrund des heutigen Wissensstands eine bestimmte Extension vorzuschreiben. Warum genau sich die Himmelskörper um die Sonne bewegen und nicht diese und die Himmelskörper um die Erde, konnte Kopernikus nicht angeben. Trotzdem war sein Weltbild dem des Ptolemäus überlegen, weil es auf einfachere Weise bereits bekannte Daten zu integrieren erlaubte. Dabei lag die Stärke der Idee des Kopernikus keineswegs in harter quantitativer Vorhersagbarkeit. Kepler und Galileo haben sich hierin größere Meriten erworben, doch nur deshalb, weil sie die qualitative Überlegenheit des kopernikanischen Weltbildes erkannt hatten. Ebenso ist Kants „kopernikanische Wende" in der theoretischen Philosophie der ersten Kritik nicht mehr (und nicht weniger) als eine radikale Neuinterpretation. Theoretische Fortschritte werden erreicht durch ein Zusammenspiel von detaillierten phänomenologisch-induktiven Ansätzen (wie in Ethnologie, Anthropologie, Genetik) und rahmenhaften gesetzmäßig-deduktiven Ansätzen (wie in der Evolutionstheorie und in philosophischen Theorien). 170 Beispielsweise ist es für Genetiker wichtig, brauchbare Hypothesen darüber, welche Wirkungen von Genen zu erwarten sind, schon vor einer empirischen Analyse zu besitzen.171 168 169 170

Caplan (1989), S. 265 f. Gould (1978), S. 345 f.; Rose et al. (1984), S. 251; Ruse (1978), S. 368 ff. Boyd/Richerson (1985), Kap. 2.; Margolis (1982), S. 10 f.

C. Kritische Diskussion

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b) Adaptationismus und Optimalismus Fragen zum Problemkreis der Anpassung machen einen Gutteil der aktuellen evolutionstheoretischen Kontroversen aus. Die erste Frage ist: Kann man bei allen Merkmalen deren Passungsgrad bestimmen? Die Antwort ist: nein. 172 Möglich ist aber ein Rückschluß aus dem Überleben und der Verbreitung von Merkmalen. Der Schluß wird gestützt, wenn die theoretische Integration in die Evolutionstheorie ergibt, daß das jeweilige Merkmal besser angepaßt sein dürfte als verschiedene Alternativen. Angepaßtheit fungiert dabei als Forschungshypothese.173 Nimmt man jetzt nur Merkmale, die allem Anschein nach gut angepaßt sind, ergibt sich folgendes Problem: Die Evolutionstheorie gibt sich nicht damit zufrieden, von diversen angepaßten Merkmalen zu zeigen, daß sie durch natürliche Auslese entstanden sein können. Sie behauptet, daß dies auch tatsächlich der Fall ist. Dahinter steht die Hypothese: Wenn ein Merkmal überlebt hat, dann aufgrund seiner Passung; es wurde positiv selektiert, weil es bestimmte erbliche Kennzeichen aufwies. Zwingend ist diese Annahme nicht. Zwar kann, wie eben erläutert, natürliche Selektion prinzipiell alle Anpassungen erklären. Was aber, wenn ein Merkmal zufällig angepaßt ist, ohne daß es durch Selektion gegenüber anderen Merkmalen bevorzugt worden ist? 174 Oder wenn Selektion nur eine untergeordnete Rolle in der Formung des Merkmals spielte? Oder wenn die Evolution eines Merkmals eher durch ontogenetische Zwänge („developmental constraints") denn durch Anpassung bestimmt war? 175 Wir können immerhin vermuten, daß weit verbreitete und adaptive Merkmale wahrscheinlich auf natürliche Selektion zurückgehen. Diese adaptationistische Hypothese läßt für den Regelfall zuverlässige Aussagen zu. 1 7 6 Ihre empirische Überprüfung geschieht auf dreierlei Weise: durch einen Vergleich des beobachteten Organs oder Verhaltens mit theoretischen Vorhersagen, durch experimentelle Veränderung des Organs und/oder durch einen Vergleich des Organs oder Verhaltens mit den entsprechenden Merkmalen anderer Arten. 177 Dabei spielt ein Kriterium die entscheidende Rolle, das 171

Lumsden/Wilson (1981), S. 351 f. Mark Ridley (1993), Kap. 11, insb. S. 300. 173 Wickler (1988), S. 78. 174 Ebd.; Mayr (1994), S. 211. 175 G. B. Müller (1994), S. 158 , 177 ff.; Wieser (1994), S. 36 f. Ontogenese Teil I I I C. 4. b). 176 So auch Barash (1982), S. 62; Borgerhoff Mulder (1993), S. I I I (1993), S. 89 f., 359 ff.; Mayr (1983); Mark Ridley (1993), (1978), S. 365 f.; (1988), S. 69. Kritisch Gould/Lewontin (1979); S. 46 ff.; gegen Gould Alcock (1998). 172

Zum Begriff der 18 ff. ; Holcomb S. 347 f.; Ruse Resnik (1997),

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der Biologe George Williams „evidence of special design" nannte. Es ist erfüllt, wenn ein Merkmal ein oder mehrere spezifische Anpassungsprobleme so gut (sparsam, effektiv, präzise, spezialisiert und verläßlich) löst, daß zufällige Passung unwahrscheinlich wird. 178 Beispielsweise ist das menschliche Auge für die Aufnahme von Lichtwellen bestimmter Länge hervorragend geeignet und spezialisiert. Es ist jedoch nicht auf die Entdeckung von Raubtieren spezialisiert. Zwar liegt darin einer seiner nützlichen Einsatzgebiete, doch um eine spezifische Anpassung an die Bedrohung durch Raubtiere zu sein, müßte es für diese Aufgabe besser als für andere Aufgaben, nämlich andere Objekte zu sehen, gerüstet sein. So läßt sich genau umschreiben, worauf die Selektion in bezug auf die Aufnahme von Lichtwellen hingearbeitet hat. Daraus ergibt sich, daß das menschliche Auge eine sicherlich nicht optimale, aber vergleichsweise sehr gute Anpassung ist. Es ist wenig nutzbringend, statt empirischer Einzelfall-Studien allgemeine Vorbehalte gegenüber dem Forschungsprogramm der Evolutionstheorie zu pflegen. 179 Solche Vorbehalte laufen ihrerseits auf just-so stories hinaus, wenn sie Zufälle als Quelle von Evolutionsschritten ins Feld führen. 180 Wie in der Kritik am Adaptationismus verschiedene Mißverständnisse ineinanderlaufen, wird in der folgenden Einlassung des Biologen und Soziobiologie-Kritikers Richard Lewontin sichtbar: „ I call that approach to evolutionary studies which assumes without further proof that all aspects of the morphology, physiology, and behavior of organisms are adaptive optimal solutions to problems the adaptationist program. It is not a contingent theory of evolution or hypothesis to be tested since adaptation and optimality are a priori assumptions."1 1

Dagegen ist einzuwenden: Erstens ist Adaptationismus von Optimalismus zu unterscheiden. Die Annahme, nach der die Produkte der Evolution stets optimale Lösungen für die gestellten Aufgaben darstellten, wurde bereits zurückgewiesen.182 Zweitens unterstellt Lewontin den Verfechtern des von ihm kritisierten Adaptationismus, sie würden sämtliche Merkmale aller (?) Organismen für (optimiert?) adaptiv halten. Das ist abwegig, weil es nach allgemeiner Meinung selbstverständlich neutrale und fehlangepaßte Merkmale gibt; anders ließe sich der Begriff der Passung gar nicht definieren. 183 177

Mark Ridley (1993), S. 347 f. Vgl. Cosmides/Tooby (1992), S. 168. Nicht kriterial relevant ist hingegen das Vorhandensein eines Merkmals bei Geburt (siehe C. 2.), die Unabhängigkeit des Merkmals von Lernen oder die vollständige Vererblichkeit (ebd., S. 183). 179 G. Geiger (1990), S. 75 ff. 180 Boyd/Richerson (1985), S. 282 f. 181 Lewontin (1979), S. 6. 182 Entgegen Sober (1993), S. 121 f., folgt aus der Möglichkeit mehr oder weniger „zufälliger" Passung nicht notwendig, daß die adaptationistische Hypothese den Fehlschluß des Optimalismus begeht. Vgl. Sterelny (1996), S. 196 f. 178

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Drittens trifft es, wie wir soeben sahen, nicht zu, daß der Adaptationismus unüberprüfbar wäre. In diesem Punkt geht Lewontins Kritik in diejenige an darwinistischen just-so stories über. Gould und Lewontin sind hier noch expliziter: „ . . . the criteria of acceptance of a story are so loose that they may pass without proper confirmation. Often, evolutionists use consistency with the data as the sole til 84 cntenon ...

Was klingt wie ein Postulat an gute Wissenschaft im Geiste Poppers, ist in Wirklichkeit ein unerfüllbarer Anspruch. Verifikation einer Theorie ist nie möglich, weil Induktionsschlüsse eine ungewisse Sache sind. Wenn eine Theorie nicht falsifiziert ist und plausible Hypothesen mit weitem Anwendungsbereich liefert, ist das Äußerste erreicht. 185 Beim Menschen ist allerdings der Einfluß der Kultur zu berücksichtigen. Gehen wir davon aus, Regentanz sei ein evolutionär angepaßtes Verhalten, nützlich für den Gruppenzusammenhalt. Anzunehmen ist, daß der Regentanz aufgrund solcher kultureller Selektionsmechanismen gepflegt wird, die unbewußt evolutionären Imperativen folgen (dies wird noch ausführlich dargelegt werden). Doch könnte es sich auch um eine kontingente, rein innerkulturelle Erfindung von Buschleuten handeln. Die empirische Testung adaptationistischer Hypothesen für menschliches Sozialverhalten steht und fällt damit, daß in die Fragestellung die Möglichkeit kultureller Einflüsse integriert wird. William H. Durham, Anthropologe aus Stanford, betont: „Until we have direct and compelling evidence that a given human behavior has a discrete genetic basis, the demonstration that such behavior has adaptive functions does not by any means prove it to be the product of natural selection. Chances are good that it is partly, largely, or even entirely a product of cultural selection. (...) Consequently I suggest that models for the evolution of human social behaviors should explicitly integrate both the genetic and cultural inheritance mechanisms." 1 8 6

Ohne Revolutionäre Erwägungen, so Durhams Argument, ist der Adaptationismus nicht gerechtfertigt. Zu Unrecht hat es vor allem die frühe Soziobiologie unterlassen, ihre Anwendung des Adaptationismus auf menschliches Verhalten mit besonderer Vorsicht zu begleiten.187 Die eigenständige 183

Holcomb I I I (1993), S. 87 f. Gould/Lewontin (1979), S. 587 f. 185 Holcomb I I I (1993), S. 90 ff. Siehe auch S. 100: „ A sociobiological explanation is an acceptable scientific explanation only of it is plausible, where plausibility is faithfulness to past and future observations as filtered through the criteria of conservatism, modesty, simplicity, generality, and disconfirmability." 186 Durham (1978), S. 441. Ähnlich auch D. Jones (1996), S. 105 f.; Sterelny (1996), S. 196 ff. m.w.N. 187 In die gleiche Richtung Gould (1980b), S. 259; Kitcher (1985), Kap. 7; Sociobiology Study Group (1976), S. 183 ff. 184

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Rolle der Kultur wurde nicht ausreichend gewürdigt. Auch wird immer wieder die optimale Passung diverser menschlicher Verhaltensmerkmale vorausgesetzt.188 So schreibt Eckart Voland, biologisch betrachtet sei das Leben ein ständiges, „jeweils bestmögliches Lösen" der Grundprobleme von Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Dies sei eine „zwangsläufige Folge" der natürlichen Selektion.189 2. Zum Konzept der Vererbung Der Begriff der Vererbung und verwandte Begriffe bedürfen vorsichtiger Verwendung. 190 Zunächst ist eine Differenzierung vonnöten: - vererbt - durch Rekombination des Erbgutes der Eltern weitergegeben; - genetisch angelegt = aufgrund der genetischen Information des Individuums entwickelt (entweder vererbt oder nicht, d.h. nicht bei einem der Elternteile schon vorliegend; im letzteren Falle Mutation); - angeboren = bei Geburt zumindest potentiell vorhanden (dabei kann es sich um vererbte, angelegte oder um pränatal gelernte Merkmale handeln). Mit „genetisch beeinflußt/disponiert" ist gemeint: sowohl genetisch angelegt als auch vererbt. Jedes einzelne beobachtbare Merkmal ist allerdings nur zum Teil vererbt - der andere Teil verdankt sich soziokulturellen Bedingungen und der sonstigen Umwelt, in jeweils individueller Verbindung. Was es heißt, „zum Teil" vererbt zu sein, wird uns noch beschäftigen. Die Existenz von Merkmalen, die im Mutterleib aufgrund von individueller Erfahrung entstanden sind, zeigt die Schwierigkeit einer empirischen Abgrenzung des genetischen Anteils. Eine Theorie menschlichen Verhaltens muß daher erstens koevolutionär und zweitens eher qualitativ als quantitativ sein. 191 Die zweite Feststellung folgt aus der ersten: Man kann die Natur-Kultur-Gemengelage genau deshalb nicht säuberlich in naturbedingte und kulturbedingte Merkmale auflösen, weil sie koevolutionär entstanden ist. 1 9 2 Es ist daher nur im Sinne 188

Koslowski (1990), S. 34 ff.; Rose et al. (1984), S. 262 ff.; Sahlins (1977), S. 75 ff. 189 Voland (1997), S. 111. - Vgl. auch Vogel (1989b), S. 75 f., der an keiner Stelle für die tatsächliche Optimalität der Anpassungen argumentiert. 190 Vgl. Alexander (1979), S. 100 f. 191 Siehe Boyd/Richerson (1985), S. 2; Eibl-Eibsfeldt (1997), S. 42 ff.; Gray (1992), S. 171 ff.; O. Jones (1997), S. 203; Konrad Lorenz (1978a), S. 31 ff. 192 So auch Boyd/Richerson (1985), S. 283; Markl (1983a), S. 79: „unauflösbares Gewebe aus Anlagen und Erfahrungen"; R. D. Masters (1993), Kap. 9; Voland (1993), S. 12; Wickler (1996), S. 77. Ausführlich zur Koevolution Teil III.

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einer begrifflichen Distinktion zutreffend, wenn Ε. E. Hirsch in seiner Untersuchung zur juristischen Dimension des Gewissens schreibt: „Man muß deshalb zwischen biologischen, d.h. ererbten, vorgegebenen, angeborenen Formen und Normen des Verhaltens, und kulturellen, d. h. dem Menschen im Wege der Internalisierung sozialer Werte und Normen zugewachsenen, anerzogenen oder durch eigene Erfahrung erworbenen Formen und Normen des Verhaltens unterscheiden." 193

Gerne wird das Bild eines Kuchens bemüht, dessen Zutaten nach dem Backen auch nicht mehr einzeln herausgeschmeckt werden können und doch alle irgendwie wirksam waren. 194 Qualitatives Vorgehen heißt, logische und evolutionstheoretisch plausible Verbindungen zwischen Kultur (Normen) und Natur zu knüpfen. Auf dieser Basis können empirische Daten erhoben werden, die die Theorie stützen oder falsifizieren. „Qualitativ" heißt also keineswegs „unüberprüfbar", sondern bezieht sich auf den gesetzmäßigen, rahmenhaften Charakter der Theorie der Koevolution. Empirische Studien, die in dieser Arbeit an den geeigneten Stellen angeführt werden, machen durchweg Gebrauch von quantitativen Modellen. Nur liefern sie keine Angaben über die prozentualen Anteile genetischen und soziokulturellen Einflusses. Ein weiteres folgt nicht aus dem qualitativen Charakter der Theorie: „Deshalb verliert die Frage, wie angeborene Menschennatur normenbezogenes Verhalten des Menschen beeinflußt, fast jeden präzisen Sinn . . . " 1 9 5 Dies ist, entgegen Hubert Markl, nicht der Fall. Zwar kann man bei einem gegebenen Verhalten dessen Quellen in Natur und Kultur nicht mehr entwirren. Das ist aber auch nicht das Ziel. Man abstrahiert vielmehr von individuellem und stützt sich auf statistisch verbreitetes Verhalten. Auf biologische Miturheberschaft schließt man nicht durch Aufteilung von Anteilen, sondern durch theoretische Integration in die Evolutionstheorie. Deren Relevanz für Normtheorie und Recht folgt auf dem Fuße, wie Markl selbst zugibt: „(Es gibt) Grenzen der beliebigen Gestaltbarkeit von Normen und normenbezogenem Verhalten des Menschen dort ..., wo natürliche Dispositionen ... mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen. Daher sollten zum Beispiel die Bewertung personaler Integrität, Autonomie, Selbst- und Fremdkontrolle, die Bewertung der Begünstigung von Angehörigen, die Bewertung unterschiedlichen Verhaltens gegenüber Fremden und Mitgliedern des eigenen Zugehörigkeitskreises und die Bewertung von Geschlechtsbeziehungen natürliche' Problembereiche und Reibungszonen für normenkontrolliertes Verhalten darstellen." 196 193

Hirsch (1979), S. 62 f. Beachte, daß hier „Internalisierung" i m psychologischen, nicht im ökonomischen Sinne benutzt wird. 194 H. Winkler (1994), S. 217; Dawkins (1995). 195 Markl (1983 a), S. 79. Was bedeutet „fast jeden präzisen Sinn"? 8 Wesche

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Bei Theorien, die mit „vererbten Merkmalen" arbeiten, sind, neben der Natur-Kultur-Vermischung, weitere Komplikationen zu gewärtigen: - Genetische Dispositionen müssen nicht schon bei der Geburt in fertigem Zustand, sondern können später ausgebildet werden. Beispielsweise ist Sprachfähigkeit inklusive basaler Sprachstrukturen genetisch weitergegeben, auch wenn Kinder erst nach einer Weile sprechen lernen. Dadurch entwickeln sich solche Anlagen in Interaktion mit der Umwelt. 197 Wer in Deutschland geboren ist, lernt nicht irgendeine Sprache, sondern Deutsch. - Die Ausbildung einer vererbten Disposition ist nicht garantiert. Fehlt der entsprechende Anreiz, das Umfeld, können Anlagen verkümmern. Gene können ohne eine Umwelt nichts ausrichten. - Ein Vorwurf gegen die evolutionäre Verhaltenstheorie lautet, es gebe doch wohl kein Gen beispielsweise für eine bestimmte Heiratspraxis oder Vertragsinstitution. 198 Das ist freilich auch niemals behauptet worden. 199 Zunächst stehen Gene in vielfältigen „kooperativen" Verbindungen, so daß außer im seltenen Fall etwa monogenetischer Krankheiten mehrere Gene beteiligt sind. Sodann beruht ein konkreter Kulturinhalt auf mehr als einer genetisch disponierten kognitiven Fähigkeit und emotionalen Disposition. Für die phänotypische Ausformung genügen schließlich nicht allein die Gene. - Der Begriff des Angeborenen (Vererbten, genetisch Bedingten) ist auch deshalb nicht unproblematisch, weil er häufig moralisch, manchmal ideologisch konnotiert ist. Was angeboren ist, gilt vielen per se als gut oder als schlecht oder als unveränderlich, folglich entschuldbar. Die einschlägigen Argumente führen den Begriff gerne ins Feld, um in einer unübersichtlichen Welt „gemischter" Merkmale etwas Fixes zu orten und daran Weitungen zu befestigen. Ein Beispiel ist die Tendenz, mit dem Angeborenen denjenigen Anteil des Menschen zu verbinden, den er mit den Tieren gemein hat. Das Erfundene und Erlernte soll demgegenüber das sein, was uns von den Tieren unterscheidet. Diese Trennung funktioniert schon allein deswegen nicht, weil die Eigenheiten und Fähigkeiten des Menschen nicht sauber in ererbte und erworbene eingeteilt werden können.

196

Ebd., S. 84. Vgl. Konrad Lorenz (1973), S. 302 ff.; Katz/Shatz (1996). 198 Hemminger (1983), S. 32 ff. Kritisch zu diesem Argument Holcomb (1993), S. 273 f. 199 Siehe E. O. Wilson (1979), S. 7. 197

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3. Sind Disposition und Determinierung erschöpfende Alternativen? Die Determinismustheorie menschlichen Verhaltens vertritt, daß genetische Programme einen Großteil oder alle menschlichen Verhaltensweisen steuern, ohne daß der Einfluß der Umwelt oder des Individuums mehr als unerheblich spürbar würde. Als Alternative wurde die Dispositionstheorie angeboten. Nun ist der Begriff der Disposition tout court nicht eindeutig genug, um Mißverständnisse auszuschließen. Die Dispositionstheorie wird von manchen so verstanden, daß es einen genetisch überhaupt nicht vorstrukturierten Freiraum für kulturelle Entfaltung gebe. Hier wird mit Vorliebe auch menschliche Freiheit (als Abwesenheit genetischer Einflüsse) angesiedelt. Damit wäre die Frage verneint, ob die kulturelle Entfaltung noch mit genetischen Programmen zusammenhängen könnte. Stellt uns dies vor das Dilemma, zwischen zwei gleichermaßen unattraktiven Theorievarianten wählen zu müssen, zwischen genetischem Determinismus oder völlig entfesselter Kultur? Für die evolutionäre Verhaltenstheorie würde das bedeuten, daß sie, falls deterministisch, stark und falsch oder, falls dispositionell, richtig und trivial wäre. 200 Das Dilemma besteht nur, wenn man der genannten schwachen Lesart der Dispositionstheorie folgt. Sie beruht jedoch auf einem falschen Verständnis von Disposition: Disposition meint nicht völlige, sondern kanalisierte Freiheit, meint nicht bloß Fähigkeit, sondern auch Neigung. Die Theorie der Koevolution sondiert die Reichweite genetischer Untersuchungen. Sie klärt, inwiefern Beeinflussung seitens der Gene grundsätzlich zu erwarten ist und inwiefern Beeinflussung von anderer Seite (soziokulturell, individuell) hinzutritt. Dann kann sie sowohl stark als auch richtig sein. 4. Methodenprobleme der Analyse sozialer Phänomene Eine Radikalkritik des Projektes der evolutionären Verhaltenstheorie könnte aus Sicht solcher Sozial- und Geisteswissenschaftler entwickelt werden, die einer methodologischen Autonomie ihrer Disziplinen anhängen. Man erinnere sich an den Werturteilsstreit der zwanziger und den Positivismusstreit der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Allein die Erwähnung dieser umfänglichen Debatten zeigt, daß das Problem hier nur angerissen werden kann. Die häufigsten Argumente für einen methodologischen Dualismus lassen sich so zusammenfassen: 201 200 201

*

Bayertz (1993a), S. 30 ff., (1993b), S. 157. Ähnlich Markl (1983a), S. 80 f. Siehe Albert (1973), S. 58 ff.; dazu Hilgendorf (1997), S. 69 ff.

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a) Naturwissenschaften suchen zu „erklären", Geisteswissenschaften zu „verstehen". Deshalb ist es methodisch verfehlt, mit naturwissenschaftlichen Mitteln soziale Phänomene wie Normen „erklären" zu wollen. b) Die Aussagen der Sozialwissenschaften über „das Ganze" (gesellschaftliche Interaktion und Interdependenz) lassen sich nicht auf Aussagen über individuelles menschliches Verhalten, „das Einzelne", reduzieren. c) Sozial- und Geisteswissenschaften lassen sich, anders als die Naturwissenschaften, nicht wertfrei betreiben. a) Verstehen vs. Erklären Die erste der methodendualistischen Kritiken wird von solchen Geisteswissenschaftlern geäußert, die unter dem Einfluß der philosophischen Hermeneutik (Dilthey, Schleiermacher, Gadamer) stehen. Die Kritik kann relativ leicht entkräftet werden: Erklären und Verstehen sind keine ausschließlichen Gegensätze. Wenn ein Phänomen wie das menschliche Verhalten kulturelle und evolutionäre Ursprünge aufweist, muß man ihm mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beizukommen versuchen. Statt eines Verständnis- respektive Erklärungsmonopols ergibt sich eine Zusammenarbeit von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaft. b) Holismus (Emergentismus) vs. methodologischer Individualismus Die These, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, wird häufig holistisch genannt.202 In einer schwachen Lesart meint der Holismus, daß auf einer höheren Organisationsebene Strukturen mit Eigenschaften auftauchen, die auf einer niedrigeren Ebene noch nicht existent sind. Solche Eigenschaften heißen emergent. Strikter Holismus (Emergentismus) geht davon aus, daß Strukturen auf der höheren Ebene gar keine kausale Beziehung zu darunterliegenden Ebenen aufweisen. Die Emergenz bezieht sich hier auf Strukturen, nicht Eigenschaften. Es geht dem strikten Holismus also nicht nur darum, daß man auf der höheren Ebene auf Beschreibungen zurückgreifen kann, die die tiefere(n) Ebene(n) unerwähnt lassen, sondern darum, daß die tiefere Ebene keine notwendige Bedingung für tatsächliche Strukturen auf der höheren Ebene darstellt. 203 Beziehen wir diese These auf unseren Gegenstand, behauptet der strikte Holismus, Gesellschaften, Kultur oder Normen seien nicht kausal durch Individuen oder individuelle Interessen erzeugt, sondern gesellschaftlich-kollektive Produkte sui ge202

Siehe dazu Vollmer (1995), Kap. 4; G. Geiger (1990), S. 27 ff. Zum Zusammenhang des Holismus mit der Kritik des Adaptationismus siehe G. Geiger (1990), S. 76 f. 203

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neris. 204 Diese ließen sich nur soziokulturell beschreiben und nicht auf das Handeln von Individuen zurückführen. Dies erscheint als eine zu kühne Annahme, wie jede Analyse von Kultur beweist, die erfolgreich auf tieferliegende Kausalfaktoren zurückgreift: Individuen, Interessen, natürliche Ressourcen, natürliche Auslese. Hauptfehler des strikten Holismus ist, daß er große Komplexität mit Unerklärbarkeit verwechselt. Daß auf höheren Organisationsebenen Strukturen und Eigenschaften auftauchen, die nicht auf den ersten Blick auf individuelle Inputs zurückgehen, kann nicht heißen, daß nicht eine adäquat komplexe Theorie die Strukturen und Eigenschaften durch solche Inputs erklären kann. Freilich fehlt es den Sozialwissenschaften bislang an einer solchen Theorie. Dies spricht aber nicht gegen die Möglichkeit der Theorie, sondern gegen das analytische Instrumentarium der Sozialwissenschaften. Geht man methodisch von individuellen Inputs aus und ergänzt diese durch interdisziplinäre Einsichten insbesondere aus der Theorie der Koevolution, sind hingegen sehr weitreichende Erklärungspotentiale zu erwarten und, von den Sozialwissenschaften weitgehend unbemerkt, auch schon realisiert worden. Das damit angesprochene Postulat an die Methode einer Revolutionären Verhaltens- und Normentstehungstheorie ließe sich zusammenfassen als „so grundlegend wie möglich, so spezifisch wie nötig". Darwinismus und das ökonomische Modell des Verhaltens steuern den grundlegenden Part bei. Sie folgen einem methodologischen Individualismus. 205 Der Neodarwinismus nimmt seinen Ausgangspunkt sogar in genetischen Kräften, die aber, wie gesehen, nicht im Gegensatz zum Wirken des Individuums stehen, sondern sich in diesem umweltabhängig ausdrücken. Richard Epstein von der University of Chicago School of Law, Vertreter der biologischen und ökonomischen Analyse des Rechts, stellt fest, daß im Darwinismus „(t)he whole picture is a composite mosaic in which each organism has control over only a very small piece. There is no master or central plan. There is only the conflict, coordination and overlap of small and separate plans, each held by individual organisms. What happens to the whole is a complex aggregation of the constituent parts." 2 0 6

In der Theorie der Koevolution werden zusätzlich emergente Eigenschaften auf der gesellschaftlich-kulturellen Ebene berücksichtigt. 207 Emergente Strukturen im Sinne des strikten Holismus sind hingegen nicht zu erwarten. 204 Der Schluß wird gezogen oder impliziert etwa von Rose et al. (1984), Kap. 10, und generell von sozialwissenschaftlichen Reduktionisten; siehe die Nachweise unter Teil I I I A. 4. b). 205 Zum methodologischen Individualismus siehe Eidenmüller (1995), S. 338 ff.; J. Frank (1998), S. 80 ff.; Kirchner (1997), S. 18 ff.; Ullmann-Margalit (1977), S. 14 ff., alle m.w.N. 206 Epstein (1989), S. 720.

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Die vergegenständlichte Gesellschaft (so Durkheim und seine Nachfolger) oder soziale Klassen (Marx und Marxisten) taugen nicht als fundamentale Analyse-Einheit. Denn die augenfällige Eigendynamik von Kultur und Gesellschaft muß nicht, wissenschaftstheoretisch höchst verdächtig, durch kausale Unabhängigkeit, sondern kann durch andere Faktoren erklärt werden: nichtlineare und Selbstorganisationsprozesse, große Zahl der Beteiligten, Verfestigung von Traditionen, Bedürfnis nach Abgrenzung mit soziokulturellen Mitteln etc. 208 Solche Faktoren müssen in den individualmethodischen Ansatz integriert werden. Man läßt sie als Restriktionen und (in Abweichung von der orthodoxen Ökonomie) Präferenzen für individuelles Handeln - und insofern nur vermittelt über dieses individuelle Handeln, d.h. nicht eigenmächtig - wirksam werden. Verhalten von Individuen und Individuengruppen bleibt in jedem Fall der Ausgangspunkt der Analyse und die Grundlage jeder menschengeschaffenen Struktur. Ein Beispiel, wie eine Eigenart der Kultur auf individuelle Bestrebungen zurückzuführen sein kann und doch als eigenschaftsemergent zu betrachten ist, liefert Richard Alexander, Evolutionsbiologe an der University of Michigan und einer der Protagonisten in der Debatte um biologische Ursprünge der Kultur: „The inertia of culture has suggested to some anthropologists that individuals even great persons - have scarcely any impact upon its nature and its directions or rates of change. I suggest that this is not because culture is nonfunctional or mysterious but because the underlying pattern of conflicting interests has been too complex and too poorly understood to be grasped within a single framework. Yet ... the inertia of culture would exist because individuals and subgroups had influenced its direction and shape, molding it ... to suit their particular needs, thereby incidentally increasing the likelihood that subsequent individuals and subgroups could find ways to use it to their own advantages, and could not alter it so greatly or rapidly." 2 0 9

c) Die Werthaltigkeit der Gesellschaftswissenschaften Die These der Wertfreiheit der Naturwissenschaften im Unterschied zur Werthaltigkeit der Sozialwissenschaften ist bis heute ein Dauerthema der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion.210 Sie setzt die analytische Unterscheidbarkeit von Tatsachenaussagen und Werturteilen voraus, an der 207

Vgl. Alexander (1979), S. 67 f.; Axelrod (1997a), S. 3 f.; Bischof (1985), S. 570 ff., 575; Boyd/Richerson (1985), S. 292 f.; Erben (1988), S. 355; G. Geiger (1990), S. 36 f.; van den Berghe (1979), S. 36 f. Aus soziologischer Sicht Kappelhoff (1995), S. 7 f.; Schelsky (1970), S. 39, 54 ff. 208 Ausführlich zur kulturellen Eigendynamik unten, Teil I I I B. 209 Alexander (1979), S. 69 (kursiv i.O.). 210 Siehe Albert/Topitsch (Hg.) (1991).

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hier nicht gerüttelt werden soll. 211 Ebensowenig sei bestritten, daß die Sozialwissenschaften die Grenze zu werthaltigen Aussagen immer wieder, vielleicht sogar prinzipiell überschreiten. Die allein relevante Frage ist, ob die Naturwissenschaften für die Analyse normativer Strukturen durch ihre angebliche Wertfreiheit untauglich sind. Nun geht es hier ja gar nicht darum, Sollen zu begründen, sondern um die Erklärung tatsächlich existenter Sollensanforderungen in menschlichen Gesellschaften. Dies ist eine Seinsfrage, die den Natur- genauso wie den Sozialwissenschaften zugänglich ist. Ob die Theorie ihre Phänomene verfehlt, kann durch einen „Test" festgestellt werden: Findet der Sozialwissenschaftler genauso wie der „Laie" in der Theorie wieder, was er als normatives Phänomen zu betrachten gewohnt ist? Haben wir das Gefühl, daß wirklich etwas über Normen ausgesagt wurde? Dies, phänomenologische Angemessenheit, ist in jedem Fall zu fordern. 212 5. Leib und Seele, Intentionalität, Bewußtsein und das menschliche Gehirn Wenn vom menschlichen Geist die Rede ist, assoziieren manche etwas Immaterielles, ja definieren Geist als immateriell, in Abgrenzung zu Materie. Geist ist danach etwas substantiell anderes als Körper, selbst wenn er, was viele zugeben, in irgendeiner Weise auf den Körper bzw. das Gehirn bezogen sein mag. Ein metaphysischer Leib-Seele-Dualismus irgendeiner Form ist in menschlichen Intuitionen recht verbreitet. Das nimmt nicht wunder, ist doch Selbstbewußtsein immer „Bewußtsein vom Bewußtsein" und nicht „Bewußtsein von neuronalen Verschaltungen und Aktivitäten". Wir wissen eben nicht aus eigener Anschauung, aus Introspektion, wie Neuronen oder Gene arbeiten. Evolutionär bestand für eine entsprechende Begabung auch kein Anpassungsdruck, da es in der Selektion auf Verhaltensergebnisse, letztlich auf Reproduktion ankommt, nicht auf das, was Akteure von ihrem Verhalten glauben (daher das methodologische Postulat: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen!). Auf der Grundlage des populären Alltagsdualismus würde die genetische Beeinflussung von Verhalten dubios. Wie sollte eine Doppelhelix aus Molekülen den Geist beeinflussen, der das menschliche Handeln lenkt? Evolutionstheorie setzt entweder einen Leib-Seele-Monismus oder einen gesetzmäßigen Interaktionismus (welcher eine Form des Dualismus ist) voraus. 213 Da der Interaktionismus kaum vertreten wird, bliebe nur der Monismus. 211

Dazu schon Teil I A. 12. Näher Teil I I I A. 4. c). 213 Dazu etwas problemverkürzend E. O. Wilson (1979), S. 9 f. Zu Geist-GehirnTheorien siehe Rosenthal (1991). 212

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Dieselben, die sich einem Leib-Seele-Monismus verschließen, sind in der Regel auch der Humanverhaltensbiologie gegenüber nicht aufgeschlossen. Sie folgen der Devise: Gene schaffen den Körper, die Umwelt den Geist. 214 Es ist hier leider nicht der Raum, diese Fragen eingehend zu erörtern. Der Monismus geht als Prämisse in die Theorie ein. Zur Vermeidung emotionalintuitiver Ablehnung sei lediglich erwähnt, daß auch monistische Theorien die Vielfalt und Freiheit menschlichen Verhaltens nicht zu leugnen brauchen, die sich uns in der Introspektion erschließen. In solchen Theorien liegt, entgegen einem ersten Eindruck, keine Zumutung für das Alltagsverständnis. Dies gilt auch für einige andere „heilige Kühe" der Diskussion: Daß organische Merkmale, etwa das Volumen des menschlichen Gehirns, weitervererbt werden und sich auf diesem Wege für unsere gesamte Art (mit geringfügigen Differenzen) durchsetzen konnten, ist spätestens seit Darwin unbestritten. Daß hingegen Dispositionen zu bestimmtem Sozialverhalten vererbt sein sollen, stößt noch heute manchmal auf Befremden. Gibt es für diese unterschiedliche Behandlung einen rationalen Grund? Menschliches Verhalten könnte deswegen mit organischen Merkmalen nicht vergleichbar sein, weil es intentional entworfen wird. Unsere Gedanken handeln von etwas, Gegenständen oder Zuständen. Zu ihnen setzen wir uns in Bezug: Wir begehren etwas, fürchten es, setzen uns Zwecke. Nicht wenige unserer Intentionen sind uns zudem bewußt. Sie beziehen sich reflexiv wieder auf das erkennende und begehrende Subjekt und stellen das Ich in Bezug zu einer Umwelt. Selbst- und Umweltbewußtsein sind regelmäßig zu einem einzigen Bewußtseinszustand verschränkt. Wie sollten wir durch Gene „manipuliert" sein?215 Dem Einwand ist zunächst zuzugeben, daß der Alltagsverstand tatsächlich nicht das Überleben von Genen thematisiert. Kein normal denkender Mensch wird durch sein Handeln seinem Genpool etwas Gutes tun wollen. Genreproduktion und Intentionen befinden sich in unterschiedlichen Kategorien. Wer die durch DNA programmierte Autokopie von Genen als Inhalt in den menschlichen Geist hineinliest, begeht einen Kategorienfehler. Mit den Worten des Philosophen Peter Koslowski: „Der Zweck des begrifflichen Denkens besteht nicht in der bloßen Sicherung der Reproduktion der Gene, sondern i m Eröffnen des Raumes der Selbstrealisierung des Menschen als Vernunftwesen." 216

Nun ist zwar immer dann Vorsicht geboten, wenn mit blumigen, aus der Tiefe idealistischer Philosophie geschöpften Vokabeln Opposition gegen 214

O. Jones (1997), S. 168, 170 f.; R. D. Masters (1993), S. 134 ff. Hemminger (1983), S. 36 f.; Koslowski (1990), S. 59 ff. Differenzierend B. A. O. Williams (1995b), S. 103 f. 216 Koslowski (1990), S. 61. 215

C. Kritische Diskussion

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wissenschaftliche Theorien bezogen werden soll. Doch ist der richtige Kern solcher oft gehörter Kritik an der Soziobiologie jedenfalls, daß die Ebenen, über die die Theorie spricht, scharf zu unterscheiden sind: Gene einerseits und bewußte Intentionen andererseits. Eine andere Frage ist allerdings, wie oft der Kategorienfehler tatsächlich begangen wurde. Der Einwand scheint im übrigen mehr sagen zu wollen, als daß Intentionen nicht die genetische Reproduktion zum Zweck hätten: Er leugnet, daß zwischen intentional entworfenem Handeln und genetischen Programmen überhaupt ein kausaler Zusammenhang bestehen kann. Er geht insofern von Struktur-Emergenz aus. Dazu ist zweierlei anzumerken. Zum einen sind, gemäß dem Grundsatz des Leib-Seele-Monismus, Intentionalität und Bewußtsein neurophysiologisch realisiert. Kausalität zwischen ihnen und genetischen Anlagen, ebenso wie sozialisierten Umwelteinflüssen, ist also nicht schon insofern ausgeschlossen, als daß zwei unüberbrückbare ontologische Sphären vorlägen. Zum zweiten müssen genetisch angelegte Dispositionen keineswegs intentional bzw. bewußt werden. Zu rechnen ist stets mit rein tatsächlicher Beeinflussung des Denkens und Verhaltens, die gegenüber der Frage der Bewußtwerdung neutral ist. Wie wollte man die Behauptung rechtfertigen, der Mensch fördere mit seinen Absichten, auch seinen hehrsten, nie faktisch die genetische Reproduktion? Der Einwand schlösse vorschnell aus der Unbewußtheit des Reproduktionszwecks auf sein NichtVorliegen. 217 Ein solches Argument sollte seit Freud aus der Welt sein. 218 Dabei befindet sich die Programmierung zur Verbreitung von Genen ja nicht einmal im Unterbewußtsein im Sinne Freuds. Über das Wirken der Gene kann man nur durch Wissenschaft etwas herausfinden, nicht durch noch so raffinierte Psychoanalyse. So schreibt der Soziobiologe David Barash: „ . . . no assumptions need be made about the internal motivational state of the individuals concerned. Thus it is a convenient shorthand to use such expressions as ,concerned with 4 , ,has an interest in', ,is better off by doing', or even ,wants 217

Vgl. auch Nietzsches Bemerkung in (1886), 1. Hauptstück, 3. Abschnitt (Hervorhebung i.O.): „ . . . ebensowenig ist ,Bewußt-sein' in irgendeinem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt 218 Ähnlich Alexander (1979), S. 53 ff.; Dawkins (1989), S. 4; Irons (1991), S. 78; van den Berghe (1979), S. 37 f.; Ε. Ο. Wilson (1979), S. 10. - Einwände, bestimmtes Verhalten sei doch gerade das Gegenteil einer instrumentellen oder nutzenmaximierenden Strategie (so z.B. Oswald (1994), S. 114 mit Blick auf Vertrauensverhältnisse), sind daher mit Vorsicht zu genießen. Sie stellen häufig lediglich eine Aussage darüber dar, wie das Verhalten von den Beteiligten empfunden wird. Das ist aber nicht stets die interessanteste Perspektive. Oswald kommt denn auch wenige Zeilen weiter zu dem Ergebnis, daß Vertrauensverhalten der Stabilisierung der Beziehung diene, also insofern funktional sei. Dann aber handelt es sich doch wohl um eine nutzenmaximierende Verhaltensweise, gleich wie sie empfunden wird.

122

Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie ν

to'. These expressions do not imply cognition or volition. They are simply less clumsy than saying, ,has been selected for responding in such a manner because ancestors behaving this way were more successful reproductively than were those that behaved differently." 2 1 9

Man wird um so mehr auf dieser Differenzierung beharren wollen, als sie einen wichtigen Teil unseres Welt- und Selbstbildes konserviert. Manche Widerstände gegen den Darwinismus erklären sich aus der Angst, Menschen würden zu egoistischen Genreplikationsmarionetten erniedrigt. Nun, diese Erniedrigung findet nicht statt. Selbstlosigkeit und viele andere prosoziale Einstellungen werden noch unser Thema sein. Doch dürfte bereits klar sein, daß keinesfalls selbstlose und prosoziale Motive bestritten werden sollen. Denn Motive gehören der Ebene psychischer Phänomene an, die bewußt sind oder die man sich bewußt machen kann. Die Gene hingegen wirken „im Untergrund". Neue neurobiologische Studien unterfüttern die Entdeckung unbewußter Quellen von Verhalten durch die Erschließung von Gehirnfunktionen. 220 So ist es nicht der rationale Neo- und Isocortex allein, eine relativ junge Schicht des Gehirns, der Verhaltensentscheidungen trifft, sondern maßgeblich das limbische System, das wir von unseren tierischen Vorfahren geerbt haben. Das limbische System interagiert mit dem Stammhirn für die Vitalfunktionen wie Nahrungsaufnahme und Schlaf, mit dem Hypothalamus in der Schaffung von Emotionen, mit dem präfrontalen Cortex in der Schaffung von Motivationen.221 Die Rolle der Ratio kann man sich am ehesten als „Beraterin" vorstellen. 222 Sie kann aktiviert werden, muß es aber nicht. Eine Forschergruppe um den Psychopathologen Antonio Damasio konnte jüngst nachweisen, daß vorteilhafte Verhaltensentscheidungen in aller Regel vor der rationalen Kenntnis der Vorteilhaftigkeit der Strategie getroffen oder zumindest vorbereitet werden. Dies geschieht durch unbewußte Neigungen („nonconscious biasing step"). 223 Die zeitliche Reihenfolge läßt vermuten, daß unbewußte Neigungen auch Bedingung für die Vorteilhaftigkeit von Entscheidungen sind. Daraus würde folgen, daß sie genau deshalb positiver Selektion unterlagen, weil sie die Vorteilhaftigkeit eher gewährleisteten als eine jederzeit aktive Ratio. Es ist durchaus am Platze, wieder die Evolution zu bemühen. Denn im limbischen System ist, neben erlernten und ins Unterbewußtsein abgesunkenen Mustern, ein Gutteil unserer evolu219

Barash (1982), S. 51. Siehe allgemein zu neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften Roth (1997), v.a. S. 178 ff. m.w.N.; spezieller Velmans (1991); zur Relevanz für das Recht Goodenough (2001). 221 Teuchert-Noodt/Schmitz (1997), S. 136 f. 222 Erben (1988), S. 352 f. Zur Rolle der Emotionen noch Teil I V B. 9. 223 Bechara et al. (1997), S. 1293. 220

C. Kritische Diskussion

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tionär entstandenen Dispositionen verankert. Soweit sich Verhaltensentscheidungen schon aufgrund limbischer Aktivität einstellen, werden häufig verbale rationale Begründungen nachgeschoben, ohne handlungsmotivierend gewesen zu sein („Rationalisierung"). 224 Die letzten Anknüpfungspunkte noch so rationaler Schlüsse sind nicht selbst rational, sondern Wertungen und Zwecksetzungen, die ihrerseits aus emotionalen und unbewußten Quellen fließen. 225 Daß der Präfrontalcortex nur selektiv tätig wird, ist selbst ein Ergebnis von Anpassung.226 Seine bewußte Tätigkeit ist als lokaler Erregungszustand des Gehirns energie- und zeitintensiv. Zur bewußten rationalen Bearbeitung werden überhaupt nur solche Anforderungen und Reize weitergeleitet, die nicht aufgrund verfestigter Erfahrungen oder Dispositionen schon im limbischen System abgehandelt werden können. Es muß sich also um Außenweltdaten handeln, die sowohl neuartig als auch wichtig für das Individuum sind, also intensiv einwirken oder besondere Verhaltenskonsequenzen erfordern. Andere Anforderungen können automatisiert und unbewußt oder halbbewußt verarbeitet werden. Sicherheit in der Abschätzung von Verhaltensfolgen wird zugunsten von Einfachheit und Schnelligkeit weniger groß geschrieben. Daher glauben wir häufig - und also zu Recht! - , wir würden nicht erst kalkulieren und dann handeln, sondern unmittelbar, intuitiv zur Tat schreiten. Wir tun das tatsächlich, ohne daß wir gerade deswegen die Reproduktion des Genpools beeinträchtigen würden. Spontaneität widerlegt bekanntlich auch nicht das ökonomische Verhaltensmodell, da präferentielle Verhaltensentscheidungen nicht wohlüberlegt getroffen werden müssen. Die evolutionäre Verhaltenstheorie arbeitet häufig mit Phänomenen, die älter sind als das raffinierte Bewußtsein des heutigen Menschen. Was wir von uns selbst glauben, kann auf eine mutative Errungenschaft von GehirnDNA zurückgehen, die Hunderttausende von Jahren zurückdatiert. Schon Darwin sah, daß das Bewußtsein kein guter Ratgeber in einer evolutionären Theorie sein kann. Wir wüßten zwar, daß wir sympathetische Gefühle besäßen: „Aber unser Bewußtsein sagt uns nicht, ob sie instinktiv sind, entstanden vor langer Zeit in derselben Weise wie bei den Tieren, oder ob sie von einem jeden unter uns in der Kindheitsperiode erworben worden sind." 2 2 7

Eine andere Frage ist, warum Intentionalität und Bewußtsein überhaupt evoluiert sind. 228 Was wäre ihr Selektionsvorteil, wenn sie doch nur Epi224 Zum Phänomen der Rationalisierung und Selbsttäuschung siehe aus soziologischer Sicht Berelson/Steiner (1972), S. 175; aus neurologisch-klinischer Sicht Gazzaniga (1992). Zusammenfassend Hof (1996), S. 56 f.; Pinker (1997), S. 421 ff. 225 Hof (1996), S. 55; Lampe (1991), S. 226. 226 Vgl. Goodenough (1995). 227 Darwin (1871/1982), S. 136 f.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

Phänomene zur soziokulturellen Realisierung genetischer Programme sein sollen?229 Intentionalität und Bewußtsein sind von adaptivem Vorteil, und sie sind mehr als Epiphänomene.230 Die gedankliche Thematisierung von etwas „als etwas" und die Möglichkeit, solche Gedanken und Widerfahrnisse bewußt als eigene wahrzunehmen, erlauben eine Unterscheidung von Ego, Alter (dem Anderen) und Umwelt. Man kann Umweltanforderungen flexibler und effizienter verarbeiten und Verhalten planen, andere Individuen mit ihren Interessen und Bedürfnissen wahrnehmen und sich darauf einstellen. Dazu gibt es keine Alternative, weil Menschen auf andere Menschen angewiesen sind. In einer kontingenten und immer komplexer gewordenen Welt besteht ein Selektionsvorteil in der Fähigkeit, sich eigenes Verhalten im Wechselspiel mit anderen und der natürlichen Umwelt vor Augen halten und nach langfristigen Vor- und Nachteilen (unbewußt) sortieren zu können.231 Die Wahrnehmung anderer als andere erlaubt eine spezielle Fähigkeit: Man kann sich selbst so sehen, wie andere einen sehen, somit sein Bild in der Öffentlichkeit so justieren, daß es eigenen Interessen entspricht. 232 Eine der diesbezüglichen Strategien ist die erwähnte Rationalisierung. Daß solches der adaptive Hintergrund des Bewußtsein ist, wird aber selbst nicht bewußt - paradox genug, doch aus guten evolutionären Gründen. Würde es bewußt, vergäbe man sich genau den erstrebten Vorteil: Man könnte nicht glaubhaft und authentisch seine Persönlichkeit präsentie233

ren. Das Bewußtsein ist eine schlechte Quelle für die Erforschung tiefliegender Verhaltensursachen. Gleiches gilt mutatis mutandis für die Sprache. Menschliches Verhalten ausschließlich aus symbolischer Kommunikation ablesen zu wollen, ist ein Kurzschluß. Unser Verhalten folgt weitaus vielfältigeren Ursachen als denen, die wir versprachlichen. 234 Texte können schon 228

Zum Bewußtseinsbegriff siehe Pinker (1997), S. 131 ff. Searle (1979), S. 168 ff. 230 Searle gelingt es nicht, Intentionalität in eine evolutionäre Erklärung zu integrieren, weil er zu Unrecht mit Intentionalität eine Art metaphysischen Indeterminismus ' verbindet: Intentionen seien ein selbständiger Grund für die Wahl eines Verhaltens, ohne in sonstigen kausalen Ursachen (Umweltanforderungen, neuronalen Vorgängen) aufzugehen (vgl. ebd., S. 173 ff.). Natürlich kann eine wissenschaftliche Erklärung nicht gelingen, wenn notwendige Faktoren wissenschaftlicher Überprüfung entzogen werden. Hintergrund für Searles (auch allgemein verbreitetes) Mißverständnis dürfte einmal mehr die Überschätzung von bewußten Selbstbeschreibungen seitens des Akteurs sein. 231 Alexander (1987), S. 107 ff. 232 Alexander (1979), S. 131 f. 233 R. H. Frank (1988), S. 131 ff.; R. Wright (1994), Kap. 13. Zu einem konkreten Fall (Ausblendung des Eigennutzes) noch Teil I V B. 6. 234 Siehe Charlesworth (1992), S. 257 f.; Kitcher (1987), S. 94; van den Berghe (1979), S. 38. Interessante Befunde zur Diskrepanz zwischen Selbstbeschreibung 229

C. Kritische Diskussion

125

insofern nicht die alleinige Quelle von Studien über den Menschen sein. Wenig nutzbringend ist es auch, menschliche Sprache zur Begründung einer Dichotomie von Sozial- und Naturwissenschaft zu verwenden - ein Argument, das in den Kritikpunkt zu 4. hineinreicht. 6. Vergleichende

Verhaltensforschung

und menschliche Spezifika

Die Erkenntnisse der vergleichenden Verhaltensforschung bzw. Ethologie beleuchten die Kontinuität der menschlichen mit tierischer Entwicklung.235 Ungeachtet schon geäußerter Kritik an dem Arterhaltungskonzept von Konrad Lorenz ist die von ihm begründete vergleichende Verhaltensforschung ein Meilenstein in der wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens. 236 Es wurde durch sie möglich, Verhaltenscharakteristika zu kategorisieren und auf ihr Vorkommen bei unterschiedlichen Arten zu untersuchen. Zu den beststudierten Verhaltensweisen gehören Familienbildung, Brutpflege, Altruismus, Territorialverhalten, Hierarchie, Gehorsam und Aggression. Viele von ihnen werden uns noch ausführlich beschäftigen. Vergleichende Verhaltensforschung ist ein notwendiger Bestandteil der evolutionären Verhaltenstheorie. Denn kulturelle Universalität kann auf rein kulturelle Verbreitung zurückzuführen sein. Nur wenn ein soziokulturelles Merkmal bereits bei Tieren derselben Deszendenz, und sei es in nuce, vorliegt, ist von phylogenetischer Herkunft auszugehen. Problematisch erscheint allerdings, daß die vergleichende Verhaltensforschung vom Tier auf den Menschen schließt. Dabei droht die Gefahr anthropomorpher Projektion. Hat man einmal menschliche Eigenarten in die Tierwelt hineingelesen, kann man aus ihnen nur zirkulär auf den Menschen zurückschließen.237 Die Projektionsgefahr läßt sich aber weitgehend vermeiden. Man muß sich nur bewußt bleiben, daß man zum Zwecke des Verund tatsächlichen Verhaltensursachen auch bei R. H. Frank (1988), S. 205 ff. m.w.N. 235 Siehe allgemein zum Nutzen der Verhaltensforschung Eibl-Eibesfeldt (1997); Konrad Lorenz (1973/74), (1978a), S. 52 ff.; Pugh (1977), S. 177; Matt Ridley (1997), S. 154 ff.; Ruse (1985), S. 141 ff. 236 Vgl. F.-H. Schmidt (1982), Kap. II. 237 Kitcher (1985), Kap. 6, S. 163; Rose et al. (1984), S. 249 f. Das von Rose et al. angeführte Beispiel der „Sklaverei" unter Ameisen krankt allerdings. Manche Ameisenarten halten sich andere Ameisenarten als Arbeitskolonne. Wer jedoch auf einer Beschreibung von Sklaverei unter Menschen als kapitalistische Institution der Mehrwertschöpfung besteht, verbaut sich die Möglichkeit, Vergleiche mit dem Tierreich zu ziehen, einfach durch den drohenden Isetta-Fehlschluß. Daß Ameisen keine Zinssätze kalkulieren können, wie die Autoren siegessicher vermelden, heißt nicht, daß sich Ameisen nicht durch die Zudienstenmachung einer anderen Spezies einen adaptiven Vorteil schaffen - im Ergebnis genauso wie ein „menschlicher" Sklavenhalter.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

gleichs humane Metaphern bemüht, die für sich genommen die Humanität der Tiere oder die Kontinuität des Menschen mit den Tieren nicht begründen können. Metaphorik ist nicht als solche unzulässig, sondern nur, wenn sie bestehende Unterschiede verschleiert. So ist insbesondere das Verhalten sozial lebender Tierarten niemals moralisch im vollen philosophischen Sinne. Anthropomorpheme beiseite gelassen, stellt sich ein substantielles Problem des Tier-Mensch-Vergleichs: Taugen die Konzepte der Verhaltensforschung für den Menschen überhaupt?238 Grundlegend ist für Lorenz der Begriff des Instinktes.239 Für die Erklärung tierischen Verhaltens hat sich das Instinktmodell als tauglich erwiesen. Beim Menschen nehmen höhere Lernleistungen jedoch einen extrem gesteigerten Stellenwert ein. Noch vorhandene Instinktresiduen beschränken sich auf Verhaltensdispositionen, die sich nach den Worten von Reinhold Zippelius „nicht zu kompletten, invariablen Verhaltensmustern ineinanderhaken, sondern kaleidoskopartig zu mannigfaltigen Moralen kombinierbar sind. (...) Erst eine die Instinktresiduen überformende, »kulturelle 4 Verarbeitung schafft eine operationable Verhaltensordnung, d.h. hinlänglich verläßliche Verhaltensschemata." 240

Eine denkbare Konsequenz aus dieser Erkenntnis wäre, die vergleichende Verhaltensforschung als Humanwissenschaft für irrelevant zu halten. Die evolutionäre Aufarbeitung von Verhaltensweisen bleibt jedoch wertvoll, auch wenn diese Verhaltensweisen nicht mehr in den engen Bahnen von Instinktverhalten ablaufen. Denn menschliche Dispositionen ähneln tierischen Instinkten funktionell. Funktionsähnlichkeit ist sowohl bei Analogien als auch bei Homologien menschlichen Verhaltens mit tierischem denkbar. Es muß also darum gehen, das Verhalten von relativ nahe verwandten Primaten sowie das Verhalten von Tieren zu untersuchen, die ähnliche Selektionsprobleme zu lösen haben.241 Da Homologie und Analogie häufig schwer feststellbar sind, muß die komparative Methode auch auf menschliche Kulturen erstreckt werden. 242 Der Tier-Mensch-Vergleich gewinnt an Plausibilität, wenn er durch Mensch-Mensch-Vergleiche abgestützt wird, den Vergleich mit anderen Kulturen, wie ihn Ethnologie bzw. Anthropologie unternehmen. Paarbildung, Gruppenleben, Hierarchie, Konfliktaustragung oder die lange Aufzuchtzeit von Nachkommen gehören zu den Phänomenen, die wir 238

Vgl. Vogel/Eckensberger (1988), S. 587 ff. Dazu oben, Teil I I B. 5. 240 Zippelius (1978), S. 112 f. 241 Vogel/Eckensberger (1988), S. 583 ff. 242 So auch F.-H. Schmidt (1982), S. 67 und allgemein zu den Methoden der Verhaltensforschung S. 45 ff.; Vogel/Eckensberger (1988), S. 589 ff. 239

C. Kritische Diskussion

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zumindest mit den anderen Primaten gemein haben. Da sie das Verhalten inklusive der Entstehung von Normen entscheidend beeinflussen, ist die Untersuchung tierischen Verhaltens insoweit aussagekräftig für den Menschen.243 Mehr noch: Menschliches Verhalten nicht mit den gleichen Mechanismen zu erklären wie tierisches, wäre ein methodischer Fehler, ein Verstoß gegen das Gebot theoretischer Sparsamkeit („Ockhams Messer"). 244 Es handelt sich um den gleichen Fehler, der von jenen begangen wird, die strikten Holismus gegen methodologischen Individualismus vertreten. Es ist stets eine müßige Frage, ob Tiere Sprache oder Kultur besitzen. Anthropomorphismen wittert schnell der, der das vollentwickelte Phänomen beim Menschen vor Augen hat und irgendeinen Aspekt dieses Phänomens bei Tieren selbstverständlich vermissen wird. Tieren alles mögliche abzusprechen, nur weil es nicht so weit entwickelt wie beim Menschen vorliege, ist so, also ob man dreirädrige Isettas nicht als Automobile bezeichnete. Die Funktion eines Automobils, selbsttätig zu fahren (wie der Name schon sagt), wird aber auch von Isettas erfüllt. Bricht man hochentwickelte Phänomene in ihre Bestandteile und Funktionen auf, erkennt man diverse Kontinuitäten mit ihren Vorformen. 245 Als Isetta-Fehlschluß sei also das Argument bezeichnet, aus der Abwesenheit nicht-wesentlicher Eigenschaften auf die Nichtexistenz von etwas (oder aus dem erstmaligen Auftreten nicht-wesentlicher Eigenschaften auf die erstmalige Existenz von etwas) zu schließen. Der Fehlschluß droht auch bei der Frage, ob Tiere Normen besitzen. Die dieser Arbeit zugrundeliegende Normdefinition schließt das nicht rundweg aus. Normen setzen ja nur in ihrer uns bekannten Form als Rechtsnormen verbale Versprachlichung voraus. Aber auch durch Körpersprache und körperliche Strafen können Aufforderungen, (proto-)normative Erwartungen vermittelt werden. Wie der Philosoph Gerhard Vollmer daher zu Recht feststellt, ist „die Entstehung und Weitergabe von Verhaltensnormen ... nicht auf die Sprache angewiesen und deshalb nicht auf den Homo loquens beschränkt". 246 Einen Sinn für soziale Regelhaftigkeit wird man zumindest höheren Tieren kaum absprechen können. Er umfaßt die verhaltensmäßige Bestätigung von Hierarchien, die Futterteilung oder den Zugang von Männchen zu Weibchen.247 Ein Beispiel für den Isetta-Fehlschluß liefert der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner. 248 Dem verzerrenden Bild der Evolutionsbiologie, das ein243 244 245 246 247 248

Vgl. Konrad Lorenz (1984), S. 134; Loy/Peters (Hg.) (1991). Holcomb I I I (1993), S. 262 f.; de Waal (1996), S. 63 ff. de Waal (1996), S. 210. Vollmer (1997), S. 51 (kursiv i.O.). de Waal (1982), S. 207 f. Näher Teil V A. 3. Rottleuthner (1985), S. 109 ff.; ähnlich Dux (1980), S. 70 ff.

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

gangs kritisiert wurde, schließt auch er sich an. Er fügt dem freilich ein interessantes Argument hinzu. Rottleuthner bemängelt die Verwendung des Begriffs der Regel in ethologischen Studien. Folgen Tiere Regeln? Oder verhalten sie sich nur habituell? H. L. A. Hart macht die Unterscheidung von Regel und Gewohnheit vom internen Standpunkt des Akteurs abhängig, von dessen Einstellung zu seinem Verhalten. 249 So etwas festzustellen ist bei Tieren wie Menschen unmittelbar unmöglich und bedarf eines Rückschlusses aus externen Beobachtungen. Die Soziologie behilft sich mit der Befragung des Akteurs. Dieses Mittel steht der Ethologie nicht zu Gebote. Rottleuthner meint, daran scheitere nicht nur die einzig mögliche Verifizierungsmethode für die Annahme von regelgeleitetem Verhalten, sondern direkt auch diese Annahme: Sprachfähigkeit sei Voraussetzung für die Fähigkeit, Regeln folgen zu können.250 Rottleuthner macht damit ein spezifisches Merkmal des Menschen (verbale Sprache) zur Voraussetzung eines unspezifischen (regelgeleitetes Verhalten), ohne dies weiter zu rechtfertigen. Grundsätzlicher noch ist es fehlgehend, die Befragung des Akteurs als methodisches Allheilmittel anzusehen. Insbesondere liefert eine Befragung keine zuverlässigen Ergebnisse darüber, ob der Akteur regelgeleitet oder gewohnheitsmäßig gehandelt hat. Was sollte garantieren, daß er sich seiner Orientierung an Regeln bewußt ist und diese deshalb als Grund angeben kann? Möglicherweise auch war sein Verhalten anfangs regelgeleitet und ist mittlerweile habitualisiert. 7. Sozialdarwinismus? Sozialdarwinismus kann zunächst die teleologischen und historizistischen Mißinterpretationen der Darwinschen Theorie meinen, die schon eingangs kritisiert wurden. 251 Daneben verbindet sich mit dem Begriff häufig der Vorwurf, empirische Evolutionstheorie werde unaufgeklärt für normative Zwecke verwendet. Der Vorwurf liegt angesichts der ,,L' homme machine"Rhetorik der Soziobiologie nicht fern. Die Biologie im allgemeinen ist für höchst zweifelhafte Verwendung besonders anfällig, weil sie die „lebensnächste", dank Darwin die „menschennächste" Naturwissenschaft ist. 2 5 2 Zugleich sind Entzauberungen der Lebenswelt von ihr am ehesten zu gewärtigen. Ein neu gefundenes Gen betrifft das menschliche Selbstverständnis mehr als ein neu gefundenes Teilchen in der Physik. Schon Darwins Theorie wurde von vielen als schwere Kränkung empfunden. 253 Der Neodarwi249 250 251 252 253

Hart (1961), S. 9 ff., 54 ff. Rottleuthner (1985), S. 110. Teil I C. 2. Vgl. Wuketits (1990), S. 3 f. Siehe dazu Vollmer (1995), Kap. 3.

C. Kritische Diskussion

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nismus schlägt in dieselbe Kerbe mit dem geschärften Schwert der Genetik und Verhaltensforschung. Besonders sensibel sind die Reaktionen, wenn es um spezifische Humana wie Geist, Sprache, Moral oder Religion geht. Es scheint eine emotionale Abwehr zu geben: Wir, die wir die Welt erklären, wollen nicht selbst erklärt werden, zumindest nicht zu weitgehend.254 Ideologiekritik an der evolutionären Verhaltenstheorie ist dementsprechend weit verbreitet. 255 Diverse Äußerungen von Edward Wilson, der in dieser Hinsicht besonders hart angegangen wurde, zeigen freilich, daß zwischen den Sozialdarwinisten des 19. Jahrhunderts, insbesondere Herbert Spencer, einerseits und Wilson andererseits beträchtliche Unterschiede bestehen.256 Keinem Zweifel dürfte insbesondere der himmelweite Unterschied zwischen der Soziobiologie und der sich darwinistisch gebärenden, aber schon empirisch falschen (und moralisch verheerenden) Rassenlehre des Nationalsozialismus unterliegen. Wilson unterstreicht etwa, daß „das Studium der Humansoziobiologie durchaus nicht rassistische Auffassungen stützt, sondern vielmehr die Einheit der Menschheit betont". 257 Zur Frage der Geschlechterdifferenzen heißt es, sie seien „eines der lästigsten und sinnlosesten Relikte unserer genetischen Geschichte".258 Allerdings gelingt es Wilson nicht immer, zwischen empirischer Wissenschaft und normativer Philosophie zu unterscheiden, selbst wenn die Ergebnisse seines Philosophierens harmlos sein sollten. Insbesondere der Begriff des Natürlichen gerät ihm zum Einlaßtor für ethische Spekulationen. Der Sein-Sollen-Fehler ist dabei so offensichtlich, daß es schwerfällt zu verstehen, warum ihm Wilson zum Opfer fiel: „ A n understanding of the roots of human nature now seems essential to ethical philosophy. Any judgment concerning whether an act is natural or abnormal depends on such information ... A l l attempts to define ,natural law 4 by unaided intuition are dangerously incompetent. ... homosexuality may have a genetic component. Its high frequency of occurrence in all societies could well have arisen by kin selection and hence be as fully , natural 1 as heterosexual behavior. Suppression of heterosexuals on the grounds that they violate natural law ... cannot be justified. And still another 254

Alexander (1979), S. 4 f.; R. Wright (1994), S. 4 ff. Vgl. Lewontin (1977); Rose et al. (1984), passim; Sahlins (1977), S. 71-108; Sociobiology Study Group (1976). Die Kritik erscheint allerdings teilweise selber ideologisch motiviert. Sahlins etwa hält die Soziobiologie für eine kapitalistische Ideologie ((1977), S. 78) und setzt ihr Marx und Engels entgegen (S. 55 f., 101 ff.). Siehe auch Holcomb I I I (1993), S. 275 ff. zum marxistischen Hintergrund Lewontins. 256 Vgl. Sommer (1992), S. 66 ff. 257 E. O. Wilson (1980b), S. 7. 258 Ebd., S. 129. 255

9 Wesche

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Teil II: Grundlegende Konzepte der evolutionären Verhaltenstheorie

inference: incest is evil ... by almost any conceivable standard, since it leads to a demonstrably high level of developmental abnormality .. . " 2 5 9

Teilweise wird kritisiert, zwar seien die Evolutionsbiologen selbst keine Sozialdarwinisten, aber die evolutionäre Verhaltenstheorie sei hervorragend für inakzeptable normative Positionen verwendbar. So heißt es etwa: „Sociobiology, which sees itself as the science of social behavior, seems ideally suited to provide a credible foundation for the ideology of capitalism. ... Sexism ... is an integral part of the theory." 2 6 0

Die Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen. Je populärer die Rezeption einer Theorie, desto größer erscheint die Gefahr vergröbernder und falscher Darstellungen und Schlußfolgerungen. 261 Doch was wäre die Konsequenz daraus? Kein Wissenschaftler kann ausschließen, daß seine Gedanken ideologisch vereinnahmt werden. Er kann lediglich versuchen, sie so zu formulieren und mit Kautelen zu versehen, daß ein Mißbrauch schwieriger wird. Dies unterlassen zu haben, war wohl ein Fehler der frühen Soziobiologie. Wilson hat das später eingesehen.262 Doch auch Karl Marx hat Darwins Theorie als „naturhistorische Grundlage" seiner eigenen Philosophie requiriert. 263 Niemand würde deswegen auf die Idee verfallen, Darwin als Marxisten oder seine Theorie als linksideologisch zu verurteilen. Die bloße Benutzbarkeit wissenschaftlicher Daten für schlechte Ideologie ist kein Argument gegen ihre Erhebung, sondern für eine gute schulische Allgemeinbildung, die jeden einzelnen in den Stand versetzt, Ideologien zu enttarnen und (so schwierig dies häufig ist) Fakten von Wertungen zu unterscheiden. Wollte man da anderer Ansicht sein, müßte man die Humanbiologie samt und sonders aus dem Wissenschaftsbetrieb verbannen. Denn natürlich ist Humanbiologie mißbrauchsträchtiger als Ägyptologie. Kritiker der evolutionären Verhaltenstheorie sollten, statt Ideologieverdacht zu schüren, empirische Fehler der Theorie dingfest zu machen versuchen. 264 259

Ε. Ο. Wilson, zitiert nach Alexander (1987), S. 167 (kursiv S. W.). Alper (1979), S. 203, 206. Ähnlich Holcomb I I I (1993), S. 53 ff.; Kitcher (1985), S. 6 f. - Hemminger (1983), S. 93, meint, politische Lehren aus der Soziobiologie liefen auf Unmenschlichkeit hinaus. Der Vorwurf einer politischen Position der Soziobiologie innerhalb der neuen Rechten wird erhoben von Sahlins (1977), S. 71 ff. Dazu mit Recht kritisch Irons (1991), S. 75 f.; Α. Masters (1982); Vollmer (1990), S. 100 f. 261 Alexander (1987), S. 224 ff. 262 Siehe E. O. Wilson (1979), S. 1 ff. 263 Marx/Engels, Der Briefwechsel, Bd. 2 (1854-1869), München 1983, S. 533, zitiert nach Wuketits (1990), S. 115. 264 So auch der gegenüber der Soziobiologie (gemäßigt) kritische Eibl-Eibesfeldt: (1997), S. 150 f. Ebenso van den Berghe (1979), S. 39. Kitcher (1985) betont eingangs seiner Soziobiologie-Kritik, daß Wissenschaft dann extrem hohen Standards 260

C. Kritische Diskussion

131

8. Zusammenfassung Einige der Kritiken haben sich als verfehlt erwiesen, andere mahnen, bestimmte naheliegende Fehler nicht zu begehen. Für den Fortgang der Untersuchung sei insbesondere im Auge behalten: - Der Adaptationismus als Forschungsstrategie des Darwinismus ist zwar gerechtfertigt, bedarf aber gerade bei der Anwendung auf menschliches Sozialverhalten besonderer Vorsicht und einer Ergänzung durch eine Theorie des soziokulturellen Einflussees auf Verhalten. - „Just-so stories" drohen, wenn beliebig ausgewähltes oder gegensätzliches Verhalten mit adaptationistischen Hypothesen überzogen und eingeebnet wird. Nur komparative Studien und eine Berücksichtigung soziokultureller Ursachen von Verhalten können die Reichweite genetischer Programme klären. - In der Untersuchung menschlichen Verhaltens darf es nicht zu einer völligen Entmachtung der Sozialwissenschaften kommen. Soziokulturelle Einflüsse stehen jedoch im Zusammenhang mit individuellem Verhalten. Im Sinne eines methdologischen Individualismus ist möglichst weitgehend nach individuellen Ursachen für soziokulturelle Strukturen zu suchen, bevor deren Emergenz behauptet wird. - Die Ebenen oder Kategorien der genetischen Reproduktion einerseits und menschlicher Intentionen und Zwecke andererseits sind zu unterscheiden. Gleichwohl können Intentionen ihre Ursache in genetischen Dispositionen haben. Die postulierten Mechanismen lassen sich nicht durch den simplen Hinweis auf bewußte oder versprachlichte menschliche Intentionen entkräften. Unbewußtheit von Handlungsursachen ist bei genetischen Dispositionen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie kann sogar selbst ein adaptives Merkmal sein. - Tiere sind in vielem anders als Menschen. Die Kontinuitäten sind jedoch hinreichend, um Vergleiche und Rückschlüsse zu rechtfertigen. Wenn nicht das Normverhalten, so doch das Sozialverhalten des Menschen ist im allgemeinen kein menschliches Spezifikum. Normverhalten wiederum ist ein direkter Ausfluß des Sozialverhaltens. Es wird also von Verhaltensmustern mitgeprägt sein, die keine menschlichen Spezifika zu sein brauchen. - Ideologievorwürfe liegen immer nahe, wenn Naturwissenschaft, v. a. Biologie auf den Menschen angewendet wird. Sozialdarwinismus oder Biologismus sind aber alles andere als zwingende Konsequenzen. gehorchen sollte, wenn sie Fragen der Sozialpolitik berühre (S. 3). Denn hier wiegen Irrtümer besonders schwer (S. 9). Dem ist zuzustimmen.

9*

Teil III

Theorie der Koevolution A. Methodenfragen 1. Funktionalismus,

ultimate und proximate Verursachung

Ursachen von Phänomenen kann man nicht einfach aus den Phänomenen selbst ablesen. Man behilft man sich statt dessen damit, deren Funktionen zu suchen. Denn Funktionen und Ursachen stehen nicht unverbunden nebeneinander. Funktionalität ist das Pendant zur Kausalität, sozusagen Kausalität mit umgedrehten Vorzeichen. In der einen Richtung besteht Kausalität, in der anderen Funktionalität. Beispielsweise hat die Gerichtsbarkeit die Funktion, Streite zu schlichten; die Nützlichkeit von Streitschlichtung und das entsprechende Bedürfnis haben zur Einrichtung einer Gerichtsbarkeit geführt. „Funktionalismus " meint eine theoretische Vorgehensweise, die die Entstehung von Phänomenen (z.B. Verhaltensweisen, Normen, Kulturgegenständen) aus ihrem (näher zu definierenden) Nutzen für einen (näher zu definierenden) Nutzenempfänger erklärt. 1 Die Realität ist jedoch von Ursache-Wirkungs-Beziehungen beherrscht. Angemessen für die Erfassung der Realität sind insoweit zunächst kausale Erklärungen. Aus funktionalistischen Erklärungen darf nur dann auf Kausalität geschlossen werden, wenn besondere Umstände erkennen lassen, daß Ursache und Wirkung durch die Funktion, die ein Phänomen erfüllt, gesteuert sind. Vor diesem Hintergrund haften dem Funktionalismus drei Gefahren an. Zunächst ist vor einem funktionalistischen Fehlschluß zu warnen. Aus einer Funktion folgt ein Phänomen nicht eo ipso, sondern nur dann, wenn die tatsächliche Möglichkeit und Bereitschaft dafür besteht, die Funktion mittels des Phänomens zu erfüllen. Die Bereitschaft setzt wiederum Kenntnis von Möglichkeiten der Erfüllung und eine Nutzenabwägung voraus. So kann es Funktionen geben, die unerfüllt bleiben, weil sie sich gesellschaftlich nicht durchsetzen lassen, andere Funktionen wichtiger erscheinen oder 1 Mayntz (1969); Luhmann (1968), S. 348 f. Zu funktionalistischen Erklärungen der Rechtsentwicklung siehe Willekens (2001).

Α. Methodenfragen

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weil entweder die Funktion selbst oder Mittel zu ihrer Erfüllung nicht bekannt sind.2 Alles dies sind typische Restriktionen für die Maximierung von Nutzenfunktionen. Der „klassische" funktionalistische Fehlschluß liegt darin, aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Nutzen einer Sache (z.B. Norm) ohne weiteres darauf zu schließen, daß die Sache eingeführt wird. So genügt es nicht, daß die Gerichtsbarkeit, um im Beispiel zu bleiben, die Funktion der Streitschlichtung besser erfüllt als alternative Schlichtungsmechanismen. Hinzu kommen muß, daß sich tatsächlich genügend einflußreiche Menschen für gerichtsförmige Streitschlichtung ein- und diese gegen Widerstände durchsetzen. Entsprechendes gilt auch für evolutionäre Funktionen. „Bereitschaft" zur Funktionserfüllung ist hier in dem Sinne zu verstehen, daß eine Mutation selbst bei Funktionserfüllung nur dann spezifisch erhöhte Chancen hat, sich zu verbreiten, wenn sie eine Funktion besser erfüllt als bereits bestehende organische oder Verhaltensmerkmale und diese Bessererfüllung durch entsprechende Selektionsdrücke belohnt wird. Die zweite Gefahr funktionalistischer Untersuchungen liegt darin, daß Funktionserfüllung durch ein Phänomen keinen eindeutigen Schluß darauf zuläßt, daß gerade dieses Phänomen entstehen mußte. Da Phänomen und Funktion nicht unveränderlich miteinander verknüpft sind, erlaubt eine funktionalistische Theorie nur, das Auftreten irgend eines aus einer Klasse funktional äquivalenter Elemente vorherzusagen.3 Funktionale Äquivalenz bedeutet dementsprechend, daß verschiedene Phänomene dieselbe Funktion erfüllen. Umgekehrt besteht die dritte Gefahr darin, daß nicht eine einzige Funktion für ein bestimmtes Phänomen verantwortlich sein muß. Funktionalistische Hypothesen müssen häufig in Koexistenz leben: Die Übersetzung Phänomen-Funktion ist in beiden Richtungen nicht eindeutig. Wenn ein Phänomen mehr als eine Funktion erfüllt, spricht man von Plurijunktionalität Gerichte dienen sowohl der Streitschlichtung als auch der staatlichen Legitimation, der Gerechtigkeit und Sozialgestaltung. Funktionalistische Untersuchungen können auf eine Ebene beschränkt oder auf mehrere Ebenen verteilt werden. Die strukturell-funktionale Theorie der Soziologie etwa (Talcott Parsons5) befaßt sich mit der Funktion von Strukturen (Phänomenen) innerhalb sozialer Systeme. Phänomen und Nut2

Vgl. Koller (1993), S. 265. Grundlegend Malinowski (1944), S. 110 ff. Siehe auch Horan (1989), S. 138; Mayntz (1969), S. 1134; Schelsky (1970), S. 46 ff.; Vromen (1995), S. 90 f. 4 Mayntz (1969), S. 1135. 5 Durkheim, Malinowski und Radcliffe-Brown beeinflußten Parsons bei seiner Theorie; siehe Mayntz (1969), S. 1133 ff. 3

4

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zenempfänger stehen auf der gleichen Systemebene. Dementsprechend kann auch ein funktionales Endziel angenommen werden, das sich im Rahmen der sozialen Systeme bewegt, namentlich der Erhalt der Gesellschaft. Ebenenübergreifende funktionale Theorien hingegen machen Phänomene auf der einen Ebene abhängig von Phänomenen auf einer anderen. Dadurch ergibt sich jeweils eine weitere Untersuchungsebene, auf welcher Ursachen für die Existenz von Phänomenen auf der anderen Ebene analysiert werden können. Funktionale Endziele liegen dann auf dieser Ebene, wie etwa der Arterhalt als Ziel individuellen Verhaltens in der Theorie von Konrad Lorenz.6 Funktionalismus zielt darauf ab, Klassen von Phänomenen unter derselben Funktion zu vereinen und dadurch diejenige Funktion dingfest zu machen, zu deren Befriedigung die Phänomene entstanden sein könnten.7 Es sind nicht zuletzt die Vereinheitlichungs- und Bündelungswirkungen des Funktionalismus, die diesen für die Erforschung komplexer Phänomene attraktiv machen. Ob die Funktionen bewußt und intendiert und gesellschaftlich anerkannt sind oder nicht, ist irrelevant. Es kommt nur darauf an, ob ein sozialer Sachverhalt tatsächlich zum Zwecke ihrer Erfüllung besteht.8 Bei unbewußten oder gerne verheimlichten Funktionen läßt sich dies freilich nicht durch Befragung ermitteln, wie sie etwa von der Soziologie und der Ethnologie häufig praktiziert werden. Hier müssen Rückschlüsse aus tatsächlichem Verhalten, Vergleiche mit dem Verhalten von Tieren und sozialpsychologische Experimente die Lücke füllen. Ein besonderer Fall von Plurifunktionalität ist, um im Beispiel zu bleiben, daß Gerichte zunächst die Funktion haben, das Gesetz umzusetzen, das ihre Errichtung vorschreibt, dieses Gesetz aber seinerseits u. a. der Konfliktbeilegung dienen soll, so daß die Gerichte mittelbar ebenfalls diese Funktion besitzen. In diesem Beispiel liegen die Funktionen sozusagen hintereinander. In solchen Fällen ist zu fragen, welcher Funktion die Zwischenfunktionen letztlich dienen sollen. Im Hinblick auf Kausalität heißt dies, daß man Ursachen ihrerseits als Wirkungen weiterer Ursachen versteht. Die je nach Erklärungskontext „letzten" Funktionen und „ersten" Ursachen heißen ultimai , Zwischenfunktionen und Zwischenursachen proximat. 9 Im Beispiel ist das Gesetz eine proximate Ursache der Errichtung der Gerichte, das verbreitete Verlangen nach effektiver Streitbeilegung die ultimate Ursache.10 6

Siehe Konrad Lorenz (1978a), S. 67, 76, 82 ff., 205 ff. Ullmann-Margalit (1977), S. 177. 8 Merton (1957), Kap. 1. 9 Grundlegend Mayr (1961). Vgl. Holcomb I I I (1993), S. 335 ff.; Horan (1989), S. 133 ff. 10 In Anlehnung an Aristoteles ist auch die Rede von Wirkursache (proximat) und Zweckursache (ultimat), so bei Bischof (1985), S. 178 ff.; Riedl (1986), 7

Α. Methodenfragen

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Möglich ist eine ganze Kette mehrerer proximater Ursachen als Wirkungen einer Ultimaten Ursache: Das Verlangen nach Streitbeilegung etwa geht seinerseits auf Interessen von gesellschaftlichen Gruppen zurück. Als nächstes stellt sich die Frage, welchen Ultimaten Hintergrund Interessen haben. Diese Warum-Frage ist nur unter Einbezug der Evolutionstheorie zu beantworten. 2. Formaler evolutionstheoretischer

Funktionalismus

In der evolutionären Verhaltenstheorie hat Funktionalität einen besonderen Namen: Passung (Adaptivität). Dysfunktionalität heißt Fehlanpassung. Nutzt ein Merkmal nicht der genetischen Reproduktion, schadet es aber auch nicht, ist es funktional indifferent. Die Frage, ob ein Merkmal durch Anpassung entstanden ist, wird funktionalistisch untersucht. Anders geht es gar nicht, denn die genaue Wirkweise und evolutionäre Historiogenese der Gene ist noch weitgehend unbekannt, so daß man nur aus den beobachtbaren Merkmalen auf sie zurückschließen kann. Evolutionsbiologie kann nicht „von unten nach oben", sondern muß „von oben nach unten" konstruiert werden.11 Die Annahme, daß Merkmale, die funktional bzw. angepaßt sind, aufgrund natürlicher Auslese überlebt haben, ist die adaptationistische Hypothese. Die Pointe der Evolution ist, Strukturen zu schaffen, die so aussehen, als ob sie willensgetragenem Design entspringen (sog. Teleonomie). Deshalb ist es überhaupt fruchtbar, nach evolutionären Funktionen zu suchen. Denn es waren ja zufällig entstandene Strukturen, die dann unter gegebenen Umweltbedingungen relativ am besten angepaßt - am ehesten funktional - waren. Evolutionstheoretischer Funktionalismus untersucht also nicht das erste Auftreten, sondern den Fortbestand und die Verbreitung von Merkmalen. Nur aufgrund der natürlichen Auslese ist der Schluß von Funktionen auf Ursachen der Verbreitung im Bereich der Evolution zulässig.12 Andernfalls läge unzulässige Teleologie vor. 13 S. 319 f. und Sommer (1992), S. 64 f. Da „Zweck" einen starken intentionalen Beigeschmack hat, dieser aber in der evolutionären Theorie unangebracht ist, sind die zuerst eingeführten Bezeichnungen vorzugswürdig. 11 Alexander (persönliche Mitteilung). 12 Francis ((1990), v.a. S. 409 ff. m.w.N.) kritisiert die Gleichsetzung von Aussagen über Ziele („to what end does χ exist?") mit Aussagen über Ursachen („what caused χ to exist?"), also einen funktionalistischen Fehlschluß in der Evolutionstheorie. Der Zusammenhang besteht aber dann tatsächlich, wenn man von einem abgeschwächten Adaptationismus [(oben, Teil H C . 1. b)] ausgeht: Wenn auf lange Sicht nur solche Merkmale überleben, die relativ am besten angepaßt sind, erlaubt die Untersuchung der Angepaßtheit eines Merkmals Rückschlüsse auf die Gründe, warum es fortbesteht. Kritisch zu Francis auch Mayr (1993). 13 Vromen (1995), S. 90 m.w.N.

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Teil III: Theorie der Koevolution

Auch das Verhältnis vom Organismus zum Genom kann funktionalistisch interpretiert werden. Mehrere verschiedene Merkmale auf der organismischen Ebene können eine von den Genen vorgegebene (und für die Gene wiederum im Sinne der Selektion angepaßte) Funktion erfüllen. Ob etwa ein Organismus den Bedarf nach Eiweiß durch Heisch oder Soja deckt, mag für die Adaptivität des genetischen Programms irrelevant sein. Zwischen mehreren organismischen Merkmalen kann also funktionale Äquivalenz bestehen. Für die genetischen Programme genügt es daher i.d.R., nicht ein bestimmtes, sondern eine ganze Bandbreite von Verhaltensweisen, kurz Dispositionen nahezulegen. Die Bandbreite heißt genetische Reaktionsnorm. Gene und Organismen bzw. deren Verhalten befinden sich auf zwei Ebenen. Die evolutionäre Verhaltenstheorie ist also eine Mehr-EbenenTheorie. 14 Weil dasselbe Verhalten sowohl soziokulturelle als auch Anpassind weder evolusungsfunktionen verfolgen kann (Plurifunktionalität), tionstheoretische, noch sozialwissenschaftliche Untersuchungen für sich genommen hinreichend. Die evolutionären Funktionen eines Verhaltens sind häufig unbewußt. Dementsprechend korrelieren mit ihnen auch bloß unbewußte Interessen der Individuen. Das schließt nicht aus, daß bewußte Interessen oder Werte als Begründung einer Funktionserfüllung angegeben werden. Diese Begründung kann zutreffend eine proximate Funktion beschreiben, sie kann aber auch vorgeschoben sein. Stets greifen proximate und ultimate Mechanismen ineinander: Zu den proximaten Ursachen eines Verhaltens zählen die dazu erforderlichen organischen Fähigkeiten, hormonelle Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen, die individuelle Psychogenese des Akteurs, sein Verhaltensentschluß und sämtliche Ursachen für diesen Entschluß wie Erziehung, Traditionen und Situationsparameter. Die organischen Fähigkeiten sowie die Neigung, das fragliche Verhalten unter gegebenen Umweltbedingungen zu zeigen, können als Anpassungen genetischer Programme entstanden sein.15 Ultimate Ursache für die entsprechenden proximaten Ursachen ist dann die Evolution mit ihren Auslesemechanismen.16 Die funktionalistische Theorie 14 Funktionalismus steht nicht im Gegensatz zum Evolutionismus, also zum Aufsuchen eines historischen und nomologischen Entwicklungszusammenhanges; Funktionalismus ist vielmehr die Methode der Evolutionstheorie. Anders wohl Lampe (1992a), S. 235, mit interessanten Vergleichen verschiedener rechtsanthropologischer Forschungsrichtungen. Vgl. G. Geiger (1990), S. 24 f. 15 Wann dies wirklich der Fall ist, richtet sich nach den bereits eingeführten Kriterien, nämlich der historischen und geographischen Verbreitung und genetischen Reproduktionsförderlichkeit. Hammer/Keller (1997), S. 157, schreiben zutreffend mit Blick auf die Psychologie: „Für die Erklärung menschlichen Verhaltens bedeutet dies, daß sich die psychologische Verhaltensanalyse auf die Begründung und motivationale Herleitung von Verhaltensweisen bezieht; die ultimate Sichtweise ordnet diese psychologischen Analysen letztendlich dem generellen Prinzip der optimalen genetischen Reproduktion unter."

Α. Methodenfragen

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der Koevolution führt beide Ursachenebenen, die proximate soziokulturellpsychologische und die ultimate biologische, zusammen.17 Zu prüfen bleibt, ob die Verbindung von Evolutionstheorie und Funktionalismus nicht eine Mésalliance sein könnte. In der Evolution besteht nach Darwin ein Kampf ums Überleben im Wettbewerb um Ressourcen. Konflikte sind vorprogrammiert. Gerade sie sind die Ursache für die weitestentwickelten Phänotypen, wie das Bild vom evolutionären Rüstungswettlauf veranschaulicht. Wollte man die Evolutionstheorie mit soziologischen Ansätzen vergleichen, dächte man eher an die soziologische Konflikttheorie (Wright-Mills, Dahrendorf). Der Funktionalismus in der Soziologie wird von ganz anderen Vorstellungen beherrscht. Der Soziologe Robert Merton nennt als die zentralen Elemente: Erklärung sozialer Tatsachen aus ihren Auswirkungen auf die Erfüllung sozialer Funktionen, Funktionalität von sozialen Standardtatsachen für die gesamte Gesellschaft sowie notwendige Integrationsfunktion sozialer Tatsachen.18 Die beiden letzteren Bedingungen sind in evolutionärer Sicht nicht immer erfüllt. Wegen des universalen Wettstreits von Individuen und Gruppen stellt es einen funktionalistischen Fehlschluß dar, standardmäßig auf den Nutzen für die gesamte Gesellschaft abzustellen.19 Versteht man unter der Integrationsfunktion sozialer Tatsachen deren Nutzen für den Gruppenzusammenhalt, ist damit zwar ein richtiger Gedanke angesprochen. Doch darf man dabei nicht vergessen, daß erstens dieser Nutzen nicht notwendig eintritt und zweitens Gruppenzusammenhalt wiederum dazu dient, sich gegenüber anderen Gruppen durchzusetzen.20 Helmut Schelsky zog bereits 1970 gegen die Vereinseitigung in der Soziologie zu Felde, derzufolge nur das Gesamtsystem, nicht aber die Individuen als eigenständige Größen in der Analyse auftauchten. Dagegen schlug Schelsky eine biologisch-anthropologisch orientierte Vorgehensweise vor. 21 16

Holcomb I I I (1993), S. 336 ff. Deswegen wertet Alexander (1987), S. 15, die Suche nach proximaten Mechanismen zu Unrecht ab. Kritik hieran bei Francis (1990), S. 406 Fn. 2. 18 Merton (1957), S. 25. Vgl. auch Schelsky (1970), S. 43 ff. 19 Es muß verwundern, daß Koller (1993), S. 265 f.) in seiner Theorie der Normentstehung zwar drei verbreitete Mißverständnisse über soziale Normen aufklärt (darunter den funktionalistischen Fehlschluß), nicht aber das Mißverständnis in dem von ihm selbst zitierten „Gemeinplatz", soziale Normen seien erforderlich, um die soziale Ordnung im Interesse aller beteiligten Personen zu gewährleisten. Die Verwunderung rührt nicht zuletzt daher, daß Koller i.ü. spieltheoretische Modelle bemüht und sich ausdrücklich dem ökonomischen Modell des Verhaltens anschließt (S. 267 f.). - Vgl. auch Ullmann-Margalit (1977), S. 176 ff., aus spieltheoretischer Sicht. 20 Näher Teil I V C. und Teil V B. 6. a). 21 Schelsky (1970), S. 54 ff. 17

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Teil III: Theorie der Koevolution

Als Instinktreste des Menschen betrachtete er im Anschluß an Konrad Lorenz Sexualität, Hunger, Aggression und Angst. Die Liste ist natürlich nicht vollständig, doch erlaubt sie eine erste Funktionalisierung des Rechts auf Grundbedürfnisse des Menschen. Die Rechtsfunktionen sind vermittelt über Institutionen, die Schelsky gegen Gehlen nicht nur als Entlastung, sondern als Systeme der Befriedigung tendenzgerichteter instinktiver Antriebsreservoirs ansah. Aus Institutionen aber fließt unter anderem Recht, oder das Recht ist selbst eine solche.22 Schelsky postulierte schließlich eine anthropologisch-empirische Rechtssoziologie. Ihr käme es zu, „das biologisch-anthropologische Konzept zu gewinnen, das jeder konkreten Rechtsordnung unterliegt, obwohl die spezifisch anthropologische Rationalität des Rechts ... davon fast grundsätzlich absieht. Eine solche Analyse müßte enthüllen, welche triebbestimmten sozialen Konflikte in einer Rechtsordnung »naturgemäß' auftreten müssen oder welche Triebstrukturen in einer Gesellschaftsordnung jeweils optimal »untergebracht 4 sind." 2 3

Entkleidet man den soziologischen Funktionalismus seiner unhaltbaren integrationistischen und harmonistischen Elemente, erhält man einen „formalen Funktionalismus", der nur die methodischen Einsichten enthält.24 Materiell angereichert um die evolutionäre Verhaltenstheorie werden die Funktionen nicht auf das Funktionieren der Gesamtgesellschaft bezogen, sondern auf den Erhalt des Genpools von Individuen. Funktionierende Gesellschaften erscheinen danach als Mittel zum Zweck des Überlebens der Genträger, repräsentieren also proximate Zwischenfunktionen.

22 Nicht ganz überzeugend wirkt m. E., das Recht als die „stets bewußte Regelung und Gestaltung sozialer Beziehungen durch freies und bewußtes Zweckhandeln" zu definieren (ebd., S. 66). Die Elemente der Freiheit und Bewußtheit sind insofern an dieser Stelle disparat, weil gerade die anthropologische Funktionserfüllung ohne sie auskommt. Zudem sind beide Begriffe schwer zu explizieren oder gar empirisch zu überprüfen. Schließlich wird so unverständlich, wie das Recht aus Sozialnormsystemen hervorgehen konnte. Tatsächlich nimmt Schelsky an, das Recht sei den unbewußten sozialen Regelungen wie Brauchtum und Sitten vorangegangen. Diese These ist nur mit einem extrem weiten Rechtsbegriff zu halten, welcher sich wiederum mit der engen Annahme stets freier und bewußter Regelung schlecht verträgt. 23

Ebd., S. 62. E. Nagel (1979), S. 520 ff. Genau den gegenteiligen Weg beschreitet Luhmann (1970), wenn er an die Stelle von Mechanismen der Theorie Darwins soziale Systemmechanismen setzt. So soll Sprache den Variationsmechanismus vertreten, die Kommunikationsmedien die Selektion und Rollen- bzw. Systemdifferenzierungen die Stabilisierung. Es handelt sich hier wohl nicht einmal um eine Analogie, sondern eine bloße Metapher (so Oeser (1990), S. 131). 24

Α. Methodenfragen

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3. Vielfältig realisierte Funktionen und kulturell mitgestaltete Phänomene Nehmen wir an, wir haben ein weit verbreitetes Verhaltensmuster als angepaßt erkannt. Das Verhalten ist damit noch nicht vollständig erklärt. Wir haben bislang nur eine funktionalistische Einbettung in die Evolutionsgeschichte der Menschheit erreicht, nicht jedoch automatisch auch schon a) eine phänomenologisch zureichende Beschreibung und b) eine funktionalistische Einbettung in das soziokulturelle Umfeld. Die Unterschiedlichkeit menschlicher Verhaltensphänomene ist enorm. Wolfgang Fikentscher verwendet dafür den passenden Begriff der „Denkweisen" oder „modes of thought", die nach seiner Analyse in den verschiedenen Kulturen höchst unterschiedlich ausfallen. 25 Daraus ergibt sich zwanglos, daß Verhalten durch vielfältige Ursachen gesteuert sein muß. Diese können nicht alle genetisch vorliegen, weil sich die Angehörigen der verschiedenen Kulturen in ihren Genomen kaum und wenn doch, dann jedenfalls in kultureller Hinsicht unspezifisch unterscheiden. Das soll heißen, kulturellen Unterschieden entsprechen in aller Regel keine unterschiedlichen Genome.26 Daraus folgt eine methodologische Konsequenz: Aus einer Ultimaten Ursache in der Evolution des Menschen darf nicht einfach auf einige proximate Mechanismen geschlossen und dann die Wirkung im Verhalten vorhergesagt werden. Aus der Koexistenz mehrerer Realisierungsmöglichkeiten für die Ultimaten Ursachen ergibt sich vielmehr, daß proximate, insbeson-

dere soziokulturelle Ursachen eigenständig hinzutreten und als solche zu würdigen sind. Offene genetische Verhaltensprogramme können vielfältig (multipel) realisiert, kulturell mitgestaltet werden.27 Man könnte dies einen Individualvorbehalt nennen: Individuelle kulturelle Strukturen und konkrete Verhaltensweisen von Individuen lassen sich aus ultimat-evolutionären Ursachen allein nicht ableiten.28 Obwohl dem so ist, kann trotzdem die funktionale Verbindung zur natürlichen Auslese gewahrt sein. Die Mannigfaltigkeit der Phänomene ist mit relativer Einfachheit der Funktionen vereinbar. Grund dafür ist, daß verschiedene Phänomene funktional äquivalent sein können.29 Für ein offenes genetisches Programm ist es gleichgültig, wie es erfüllt wird, solange es überhaupt erfüllt wird. Wodurch es erfüllt werden kann, hängt von soziokulturellen Bedingungen ab. Auf unterschiedliche soziokulturelle Bedingungen flexibel vorbereitet zu sein ist ein Kennzeichen erfolgreicher, angepaßter 25 26 27 28 29

Fikentscher (1995), Teil II. Vgl. Alexander (1979), S. 95 m.w.N. Sommer (1992), S. 61 ff. Vgl. Beckstrom (1991), S. 42 ff.; Durham (1991), S. 155. Siehe Luhmann (1983), S. 236 ff.; Borgerhoff Mulder (1993).

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Teil III: Theorie der Koevolution

genetischer Programme. Nahrungsbedarf etwa wird durch die verschiedensten Speisen befriedigt. Nur Kultur, Klima und Fruchtbarkeit des Bodens, nicht die Gene entscheiden darüber, ob eher Pasta oder eher Kartoffelpüree auf den Tisch kommt. Aber natürlich müssen durch die Ernährung Nährstoffe ausgewogen zugeführt werden, dies ist keine kulturelle Erfindung. Bei vielen Verhaltensweisen ist die evolutionäre Funktionsbindung offensichtlich, etwa bei der Partnerwerbung oder dem Streben nach materiellen Gütern als Lebensgrundlage. Auch das Streben nach gesellschaftlichem Status geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern weil Status Befriedigung verschafft. Doch warum ist das der Fall (Befriedigung ist keine ultimate Ursache!)? Die Evolution hat Tier und Mensch mit hormonellen Mechanismen ausgestattet, die es ihnen angenehm sein lassen, einen hohen Status zu erlangen.30 Wie wir noch genauer sehen werden, erweist sich Status als eine wichtige Schaltstelle zwischen natürlicher und kultureller Evolution. Ein weiteres Beispiel: Mode (in bezug auf Kleidung) gehört zu den mannigfaltigsten Phänomenen dieser Welt. Sie ändert sich nicht nur halbjährlich, auch im interkulturellen Querschnitt hat sich (zum Glück) noch nicht überall der westliche Standard etabliert. Fast jeder würde Mode als Ausdruck kultureller Freiheit von genetischen Zwängen ansehen. Doch Mode dient auch der Statusdefinition. Sie signalisiert, was man sich leisten konnte und wieviel Muße und Geld man für die Ausbildung eines guten Geschmacks hatte. Sie grenzt ab zwischen Meinungsführern und Nachahmern und zwischen Konservativen und Avantgardisten.31 Der Psychologe und Neurowissenschaftler Steven Pinker „definiert": „Trend-setters are members of upper classes who adopt the styles of lower classes to differentiate themselves from middle classes, who wouldn't be caught dead in lower-class styles because they are the ones in danger of being mistaken for them." 3 2

Nicht weniger pointiert formuliert der Spieltheoretiker Robert Axelrod: „When some want to be different but others want to copy them, the result is fashion: a never-ending chase of followers running after leaders." 33

Entscheidend ist zu sehen, daß Mode, ebenso wie oben für Höflichkeitsregeln festgestellt, kein „interessefreies" Gebiet ist. Ihre Normen genießen, wie Peter Noll mit gewisser Bestürzung feststellt, größere Beachtung als das Diebstahlsverbot.34 Das gilt vor allem dann, wenn sich die Kleiderordnung mit den guten Sitten verbindet. Wer würde auf eine Beerdigung im Trainingsanzug gehen?35 30 31 32 33 34

Alexander (1976), S. 280 f.; McGuire (1992), S. 38 u.ö. Noll (1969), S. 130. Pinker (1997), S. 502. Axelrod (1997b), S. 204. Noll (1969), S. 130.

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Der beliebte Schluß aus der „phänomenalen" Vielfalt auf die Freiheit von genetischer Einflußnahme ist also vorschnell. 36 Er ist nur in dem seltenen Fall begründet, daß ein Verhalten zur genetischen Autoreproduktion in Widerspruch steht. Ansonsten begeht er den bereits benannten Fehler, hohe Komplexität von Phänomenen mit Unerklärbarkeit durch tieferliegende Faktoren zu verwechseln. Ein Verhalten, das genfunktional ist, kann zugleich weitere, soziokulturelle Funktionen erfüllen (Plurifunktionalität). Nehmen wir das Beispiel der normerhaltenden Aggression. Der Begriff wurde 1971 von dem Biologen Robert Trivers als „moralistic aggression" eingeführt. 37 Sie stellt eine emotionale Reaktion auf ein als „Normbruch" empfundenes Verhalten eines anderen Individuums dar. Normerhaltende Aggression bezeichnet die positiv selektierte Bereitschaft, denjenigen zu „bestrafen", der die Verwundbarkeit eines sich prosozial Verhaltenden ausgenutzt hat. In diesem Bezug auf die Gegenseitigkeitsnorm unterscheidet sich diese Form der Aggression grundlegend von anderen Formen. Nun kann normerhaltende Aggression außerdem zu anderen Zwecken eingesetzt werden. Sie erfüllt gegebenenfalls gleichzeitig Funktionen wie die Stabilisierung einer Hierarchie, die Ablenkung von eigenen Norm verstoßen oder die Hebung des eigenen Ansehens. Auf einer funktional „tieferen" (Ultimaten) Ebene dient sie zudem der Erhöhung genetischer Reproduktionschancen. Mit dem Gedanken der Plurifunktionalität läßt sich auch der ethische Topos des „guten Lebens" integrieren. Wir sind der Überzeugung, nicht bloßes Überleben, sondern ein befriedigendes und glückliches Leben zu wollen. Überlebenssicherung ist heute in vielen Regionen der Erde kein vordringliches Problem des einzelnen mehr. Kulturelle Errungenschaften haben das Problem kollektiv gelöst. Damit fällt jedoch die Überlebenssicherung nicht weg, sondern wird ergänzt: Gutes Leben und Überleben stehen nicht im Entweder-Oder, sondern in Plurifunktionalität. 38 Ein 35 Was die Phänomene, den eigentlichen Inhalt der Mode(n) angeht, erschiene darüber hinaus eine nähere Untersuchung gewinnbringend, inwieweit solche Moden gattungsgeschichtlich erworbene Stereotype etwa im Mann-Frau-Verhältnis unterstreichen und variieren (man denke an das Stichwort der „sekundären Geschlechtsmerkmale"). 36 Es ist auch wenig hilfreich, wie Markl (1983a), S. 75, zu beklagen, daß die evolutionäre Verhaltenstheorie nicht in der Lage sei, „die mannigfaltigen Unterschiede der menschlichen Gesellschaften zu erklären". Dazu ist sie ja auch gar nicht angetreten! 37 Trivers (1971), S. 49. Siehe zur Frage der Aggression auch Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 411 f., 436, 447; McGuire (1992); Matt Ridley (1997), S. 136; F.-H. Schmidt (1982), S. 152 ff. m.w.N.; H. Winkler (1994). Zur sozialpsychologischen Aggressionsforschung Bierhoff (1998), S. 138 ff., und aus Sicht der Rechtsanthropologie Bohannan (1983).

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Teil III: Theorie der Koevolution

Regentanz kann gleichermaßen dem nach wie vor unerläßlichen Zusammenhalt der Gruppe dienen wie der puren Freude der Tänzer und Zuschauer. Deshalb geht das häufig anzutreffende Argument fehl: „Ich tue doch nicht xy, um meinen Genpool zu verbreiten, sondern um ... (ergänze einen geläufigen Grund), bzw. ich tue es um seiner selbst willen." Daß etwas um seiner selbst willen getan werde, ist meistens eine Feststellung aus der Verlegenheit, keinen extrinsischen Grund angeben zu können, oder aus dem Unwillen, einen eigennützigen Grund anzugeben. Ein Grund existiert aber wohl immer, zumindest unbewußt - und wie wir bereits wissen, ist eine Beschränkung auf bewußte oder versprachlichte Verhaltensgründe nicht angezeigt. Jedes Verhalten erfordert Ressourcen. Dieser einfache Zusammenhang mußte evolutionär dazu führen, daß „grundloses" Verhalten eine seltene Ausnahme bleibt. Auch Spielen oder Kunstgenuß zum Beispiel dienen zu etwas, mindestens zur Entspannung, einer unerläßlichen Voraussetzung für einen funktionierenden Organismus, häufig aber auch zum Erwerb von Fähigkeiten oder sozialer Kompetenz.39 Ein Merkmal kann auch in Bezug auf bestimmte Systemprobleme funktional, in Bezug auf andere dysfunktional sein,40 vor allem wenn in einer Mehr-Ebenen-Theorie (wie der Revolutionären Verhaltenstheorie) Funktionen und Phänomene auf verschiedenen Systemebenen liegen. Denn hier ist die Gefahr groß, daß die Funktionserwartungen Fi der einen Ebene von der anderen Ebene strukturell nicht erfüllt werden. Denn auf der Phänomenebene können ebenfalls Funktionserwartungen F 2 bestehen, die Fi zuwiderlaufen. So kann es Verhalten geben, das kulturelle Funktionen erfüllt, aber der genetischen Reproduktion abträglich ist, und umgekehrt. Voraussetzung für solche Divergenzen ist, daß sich kulturelle Maßstäbe zumindest teilweise von genetischen Programmen abgelöst haben. Dieser Problemkreis wird uns im folgenden Kapitel beschäftigen. Schaubild 1 zeichnet ein erstes grobes Bild des funktionalen und kausalen Zusammenhangs zwischen Genen, Kultur und Verhalten. Die Verhaltensdispositionen, die in die Verhaltensoptionen A bis E münden, dienen letztlich der genetischen Autoreproduktion, sind also adaptiv. Soziokulturellem Einfluß zufolge werden aus der Menge möglicher Verhaltensweisen einige (C, D und E) bevorzugt. Der Entschluß zum konkreten Verhalten, also zur Auswahl unter C, D und E, ist also nicht genetisch determiniert. 38 Markl (1980), S. 220 ff., scheint davon auszugehen, daß das Streben nach gutem Leben dasjenige nach Überleben vollständig ersetzt habe, nicht nur i m Bewußtsein, sondern auch von den Handlungsfolgen her. 39 A.A. hierzu Erben (1988), S. 384 ff. 40 Mayntz (1969), S. 1135 unter Verweis auf Parsons.

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Α. Methodenfragen Schaubild 1

Gene, Kultur und Verhalten im Wechselspiel

Verhaltensentstehung

Theoretische Erfassung

Verhalten C oder D oder E

individueller Verhaltensentschluß

Verhalten \ = M I r \ M 2 = {C, D, E} d.h. Schnittmenge aus VerhaltensoptionenQ +

K

>proximat Verhaltensoptionenc bei gegebener Situation S M , = { A , Β, C, D, E}

Verhaltensoptionen K bei gegebener Situation S M 2 = {C, D, E, F, G}

Disposition (organ. Fähigkeit + Neigung)

soziokulturelle Einflüsse (Tradition, Erziehung,...)

genetische Programme

Erhalt der Gruppe/Gesellschaft

ultimai Kausalität genetische Autoreproduktion

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Teil III: Theorie der Koevolution

Der soziokulturelle Einfluß wird selbst wieder Funktionsbindungen aufweisen, nennen wir sie verallgemeinernd Gesellschafts- oder Gruppenerhalt. Diese Bindungen können dazu führen, daß Verhaltensweisen verlangt werden, die nicht zum Kanon der genetisch disponierten gehören, hier F und G. Man kann das Schaubild als „Kreisverkehr" lesen. Dazu beginne man bei der genetischen Autoreproduktion, steige nach oben bis zum Verhalten auf und steige dann in umgekehrter Richtung die soziokulturelle Seite hinab (gestrichelte Pfeile). Dabei wird deutlich, daß der Erhalt sozialer Gruppen, daß Traditionen und Erziehungsprogramme auf individuelles Verhalten zurückgehen, welches wiederum funktional als evolutionäre Anpassung verstanden werden kann. Soziokulturelle Ursachen erhalten damit einen Doppelstatus: Sie verursachen proximat Verhalten mit, sind aber zugleich selbst in freilich hochkomplexer Weise durch Verhalten verursacht. Damit wären sie als mittelbare Anpassungen zu erklären.

4. Das Problem des Reduktionismus Die verschiedenen, kulturellen und evolutionären, proximaten und Ultimaten Mechanismen schließen sich nicht aus. Koexistenz von Mechanismen heißt zugleich: Koexistenz von theoretischen Zugängen, freilich unter der Oberherrschaft des methodologischen Individualismus. Nichtsdestotrotz halten sich hartnäckige reduktionistische Ansichten über die Aussagekraft der Wissenschaften. a) Biologismus Zwei Arten von Reduktion sind zu unterscheiden: Wenn der zu erklärende Gegenstand auf mehrere Organisationsebenen verteilt ist, müssen die Phänomene auf der höheren Ebene auf Mechanismen auf einer niedrigeren Ebene „zurückgeführt" werden. In einem zweiten Schritt erfolgt eine Synthetisierung: Durch Zusammenschau der Mechanismen und Phänomene läßt sich eine zusammenhängende Erklärung gewinnen. Dieses Hin- und Herwandern des Blicks (um Engischs Bild zu bemühen) zwischen proximaten und Ultimaten Verhaltensursachen kann mehrere Male hintereinander stattfinden. Nichts anderes ist die methodologische Regel in naturwissenschaftlichen Analysen, etwa in der Biologie, wenn die organismische, genetische, molekulare und biochemische Ebene miteinander verbunden werden. Die Methode ist auf den Ebenenwechsel von biologischer und soziokultureller Ebene übertragbar. Es handelt sich um eine methodische Reduktion. Sie tritt stets im Verein mit einer Synthese auf. Eine Beschränkung auf die Phänomene, auf die Wie-Frage, wie Ernst Mayr sich ausdrückte, ist nicht zielführend. Nur durch eine Verbindung mit der Warum-Frage entstehen vollstän-

Α. Methodenfragen

145

dige Theorien. 41 Da Evolutionstheorie ein entscheidender Ansatz für die Beantwortung von Warum-Fragen ist, darf sie in der Untersuchung sozialer Phänomene nicht fehlen. Demgegenüber zeichnet sich Theoriereduktion dadurch aus, daß ganze Theorien auf andere zurückgeführt und damit überflüssig werden. Eine Reduktion von Theorie T j auf T 2 liegt vor, wenn alle Begriffe aus T x in T 2 so definiert werden können, daß alle gültigen empirischen Sätze aus T j weiterhin gültig bleiben und, mit gewissen Sätzen aus T 2 zusammengenommen, T i implizieren. 42 Die Behauptung, sozialwissenschaftliche Theorien könnten auf biologische reduziert werden, wird kaum je explizit geäußert, zu gering ist einstweilen das Wissen der Naturwissenschaften vom Menschen. Doch der Weg von der methodischen zur theoretischen Reduktion ist anscheinend nicht weit, wenn das Verständnis für Eigendynamik auf den höheren Organisationsebenen fehlt. In einer relativ jungen Veröffentlichung mit Ko-Autor Charles Lumsden zum Problem der Reduktion beschreibt Edward O. Wilson zunächst die zulässige, ja unvermeidliche methodische Reduktion, um dann anzuschließen: „Culture is biological: meaning in culture can be approached as the outcome of mechanism-based causation, because culture stems from individual cognition, which has a biological basis."43 Hier ist der pejorative Begriff des Reduktionismus oder Biologismus angebracht. Genetischer Determinismus in der Sache scheint Reduktionismus in der Theorie zu implizieren: „Sociobiology is obviously reductionist ... It suggests that human social behavior must be understood as the product of a long evolutionary process .. , " 4 4 Evolution erfaßt bekanntlich Gene und Umwelt. 4 5 Was rechtfertigt dann den Reduktionismus? Lumsden und Wilson haben zwar Anfang der achtziger Jahre den Determinismus verabschiedet. 46 Weiterhin meinen sie jedoch, kulturell bedeutsame Merkmale 41

Alexander (1987), S. 15 f. Dieses klassische Konzept von Reduktion geht auf Ernest Nagel zurück: (1979), S. 354 f. Dazu G. Geiger (1990), S. 29 ff. 43 Wilson/Lumsden (1991), S. 401. Siehe bereits E. O. Wilsons ähnliche Ausführungen in (1979), S. 8. 44 van den Berghe/Barash (1980), S. 408. 45 Siehe die Zitate oben, Teil II B. 4. 46 „Conventional sociobiology first addressed the genetic origins of such general behaviors as altruism, cooperation, sexual bonding, parental care, and aggression. (...) But the human condition is dominated by two qualities that cannot be handled by ordinary evolutionary theory and sociobiology: the human mind, operating with free will, and culture, which has created an astonishing diversity of behavior among different societies." Lumsden/Wilson (1983), S. 170. Dieses Zitat läßt sich als Abschied vom Determinismus interpretieren, obwohl es mehr Fragen aufwirft, als es 42

10 Wesche

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Teil III: Theorie der Koevolution

seien für die Evolutionstheorie „substantiell kompressibel". 47 Das soll heißen: Wir benötigen für ihr Verständnis keine Sozialwissenschaft. 48 Biologismus übersieht, daß Evolutionstheorie eine funktionalistische Theorie ist. 4 9 Insbesondere übersieht er, daß genetische Programme vielfältig realisiert werden können. 50 In der Realisierung werden Traditionen, Religion und Sprachgemeinschaft, symbolische Sinnzuschreibungen, außerdem nichtintendierte Handlungsnebenfolgen relevant, um nur einige der vielen Faktoren zu nennen. 51 Daraus speist sich eine nichtlineare Komplexität, die sich nur integriert und nicht allein biologisch erfassen läßt. Übrigens ist Theoriereduktion potentiell ein infiniter Regreß: „Biology is clearly not the ultimate level of reductionism: below biology are the levels of biochemistry and biophysics." 52 Nie wissen wir mit letzter Sicherheit, ob die jeweils vorgeschlagene, untere Theorieebene auch die unterste ist. Freilich, wir können nicht ausschließen, daß eine ideale Physik eines Tages alle Gesetze des Universums entschlüsselt hat. Dann könnte auch jedes Kulturgut, jedes einzelne Verhalten rein physikalisch erklärt werden. Auch der Biologie bedürfte es dann nicht mehr, sie wäre längst auf Physik reduziert. Da Kausalbeziehungen letztlich alles regieren, dürfen wir diese Möglichkeit nicht logisch ausschließen. Nur ist sie jedenfalls Zukunftsmusik. Unsere gegenwärtigen Forschungsambitionen kann sie nicht bestimmen. Interdisziplinarität mit methodischer Reduktion und Synthese, aber ohne Theoriereduktion bleibt das zweckmäßigste Vorgehen.

beantwortet: Inwiefern konnte Soziobiologie jemals Umweltanteile im Verhalten außen vor lassen? Welche Rolle spielt, was ist überhaupt, freier Wille? Ist der menschliche Verstand völlig aus der Evolution ausgeklinkt? 47 Lumsden/Wilson (1981), S. 350 ff. 48 Eher als Verschleierungstaktik denn als ernstgemeinter methodischer Vorschlag erscheint es deshalb, wenn Lumsden und Wilson schreiben (ebd.): „When cultural behavior is treated as an ultimate product of biology (...), the social sciences can be converted more readily into a continuous explanatory system." Kritisch zu Lumsden/Wilson Ruse (1985), S. 220; Kitcher (1985), Kap. 10. 49 Vgl. zur Reduktionismuskritik auch Harris (1980); Kitcher (1985), S. 202 f., 208 ff.; Koslowski (1990), S. 23 ff.; Popper (1994), S. 47 ff. 50 Sterelny (1996), S. 202 ff., hält die vielfältige Realisierbarkeit genetischer Programme für den Hauptgrund, warum Theoriereduktionismus in der Theorie der Makroevolution (und damit erst recht in der des Verhaltens) nicht in Frage kommt. Horan (1989), S. 138, betont, daß die funktionalistische evolutionäre Verhaltenstheorie für sich genommen nicht hinreichend ist, um das Auftreten eines von mehreren gleich angepaßten Merkmalen zu erklären. Ebenso Hull (1989), S. 168. 51 Kappelhoff (1995), S. 7 f. 52 van den Berghe/Barash (1980), S. 409.

Α. Methodenfragen

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b) Sozialwissenschaftlicher Reduktionismus Der hier vertretene Anti-Reduktionismus wirkt in beide Richtungen: Biologismus wird genauso abgelehnt wie sozialwissenschaftlicher Reduktionismus. Letzterer kann sich äußern als strikter Holismus 53 oder als kultureller Konstruktivismus. 54 Margaret Gruter und der Politologe Roger Masters stellen zu Recht fest: „Paradoxically enough, the belief that human behavior is »socially constructed 4 amounts to a reductionist theory of human nature". 55 Viele Vertreter der Sozialwissenschaften identifizieren soziokulturelle Ursachen für Verhalten, ohne weiter zu fragen, wie es zu solchen Ursachen kommen kann. 5 6 In ihrer Ablehnung des methodologischen Individualismus verfallen sie ins andere Extrem: „Die Gesellschaft" oder „die Kultur" sind für alles ursächlich; für Gesellschaft oder Kultur ist nichts ursächlich außer ihrer selbst. Die Ausblendung der Biogenese wird in der noch immer mächtigen Tradition Emile Dürkheims und Franz Boas' zum Programm erhoben: „ . . . the only antecedents of historical phenomenons (sic) are historical phenomenon." 5 7 Oder: „Culture is a thing sui generis which can be explained only in terms of itself ... Omnis cultura ex cultura." 58 Gerade der Funktionalismus, wie er in der Anthropologie seit 1922 (Malinowski, RadcliffeBrown) und in der Soziologie seit 1949 (Parsons, Merton) verbreitet ist, hat diese Entwicklung befördert. Indem Funktionen im Kultur- oder Gesellschaftserhalt gesucht und natürlich - wegen der Plurifunktionalität der Merkmale - auch gefunden wurden, erschien die Suche nach Fundierungen des Systems als ganzen oder einzelner seiner Merkmale überflüssig. Daß genau an dieser Stelle auch der funktionalistische Fehlschluß begangen wurde, fand schon Erwähnung. Ein jüngeres Beispiel für die Problematik bildet der Anthropologe Marshall Sahlins. Ihm zufolge bestimmt allein die Kultur, was Menschen fühlen 59 oder wen sie als verwandt ansehen.60 Der menschlichen biologischen Ausstattung will Sahlins nur die Rolle von natürlichen Verhaltens53

So bei Rose et al. (1984), Kap. 10. Zum Holismus oben, Teil II C. 4. b). Vgl. Berger/Luckmann (1980). 55 Gruter/Masters (1996), S. 562. 56 Exemplarisch Ehalt (1985); Girtler (1985). 57 Kroeber, Α.: The Superorganic, American Anthropologist 19 (1917) (zit. nach Voland (1996), S. 105). 58 Lowie, R. H.: Culture and Ethnology , New York (1966) (zit. nach Voland, ebd.). 59 Sahlins (1977), S. 13 (pointierte Übersetzung S. W.): „... unsere Emotionen werden organisiert durch die Kultur, nicht umgekehrt". 60 Ebd., S. 62: „... each human group orders ... the biological ,fact' of relatedness, and so makes of human ... social organization a historic conception". 54

10*

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Teil III: Theorie der Koevolution

grenzen zugestehen.61 Sahlins irrt: Gerade Verhaltensgrenzen lassen sich evolutionsbiologisch schwerlich festmachen. 62 Robert Boyd und Peter Richerson, Protagonisten der Theorie der Koevolution, kritisieren am sozialwissenschaftlichen Reduktionismus: „The critical issue is not whether humans use meaningful symbolic systems but how the dynamics of the evolution of such systems can come to conflict with functional imperatives imposed by the decision-making forces and natural selection. The difficulty is that the evidence that symbolic traits are nonfunctional is not compelling; functional theorists of various colorations can give adaptive explanations for even the most bizarre cultural traits." 63 Solchen Sozialwissenschaftlern, die für die Erklärung, oder besser: das Verstehen sozialer Phänomene ein methodisches Monopol behaupten, geht der Vorwurf leicht von den Lippen, die evolutionäre Verhaltenstheorie sei eine sozialdarwinistische Ideologie. Doch sie riskieren selber, Ideologien anheimzufallen: der Ideologie des kulturellen Relativismus, der sich in postmodernen „alles geht"-Parolen niederschlägt und noch die grausamste Praxis als legitimen Ausdruck eines anderen Menschenbildes zu rechtfertigen in der Lage wäre; der Ideologie des unbegrenzt Machbaren, des social engineering nach dem Gutdünken einiger Politiker oder des Zeitgeistes; oder der entgegengesetzten Ideologie eines Behaviorismus, demzufolge der einzelne keinerlei Einfluß auf seine Umwelt und die Kultur besitzt. 64

c) Theorie der Koevolution als Sozial- und Naturwissenschaft Theorien, die menschliche Verhaltensweisen erklären wollen, dürfen sich nicht auf einen der beiden Pole, auf Gene oder Kultur beschränken. Es bedarf eines Revolutionären Ansatzes. Aus ihm ergibt sich eine interdisziplinäre Vorgehensweise, eine integrative Sozial- und Naturwissenschaft. 65 Soziologie und Rechtssoziologie, Rechtstheorie, Kriminologie, Sozial- und Entwicklungspsychologie und Rechtspsychologie, 66 Ethnologie und Rechtsethnologie, 67 Anthropologie und Rechtsanthropologie, schließlich Philosophie und Rechtsphilosophie haben genauso ihren Platz wie Evolutions- und 61

Ebd., S. 66. Statt auf Grenzen wäre auf Funktionen abzustellen. - Kritik an Sahlins auch bei Alexander (1979), S. 67 f.; Boyd/Richerson (1985), S. 281, 193 f.; G. Geiger (1990), S. 132; Irons (1991), S. 75. 63 Boyd/Richerson (1985), S. 293. 64 Dazu Alexander (1979), S. 67 f.; Erben (1988), S. 355. 65 Anders Rose et al. (1984), S. 257 f., die jede Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen für ausschließlich sozialwissenschaftlich halten. Wie hier Boyd/Richerson (1985), S. 280 f. (siehe auch ebd., S. 12 und 180 f. mit einem ähnlichen Vorschlag interdisziplinärer Methodik); Gibbard (1990b), S. 800 f.; Voland (1996a), S. 178. 62

Β. Kulturevolution Entwicklungsbiologie, Verhaltensforschung, Neurophysiologie, schung, Molekular- und Populationsgenetik. 68

149 Hirnfor-

Die Theorie der Koevolution, die im folgenden näher auszuarbeiten ist, ist einer doppelten methodologischen Anforderung unterworfen. Die Anforderung ergibt sich aus der Koexistenz von Phänomen und Funktion in der wissenschaftlichen Erfassung menschlichen Verhaltens. Ihr erster Teil kann als Postulat der phänomenologischen Angemessenheit der Theorie bezeichnet werden. Von der Seite des Verhaltens her darf der Sinn nicht verloren gehen, den wir dem Verhalten im Alltag zuschreiben. Der zweite Teil ist das Postulat der evolutionsbiologisch richtigen Einordnung: Von der Seite der Gene her muß sich eine evolutionär schlüssige Hypothese finden, die dem Verhalten einen funktionellen Anpassungswert zuerkennt. Beide Postulate befinden sich in einer Art Zirkel bzw. unterliegen einem Konsistenzgebot. Die phänomenologische Beschreibung läßt sich evolutionstheoretisch informieren, während die Evolutionstheorie umgekehrt den Phänomenen Rechnung trägt. Keine der beiden Seiten wird dabei auf Dauer, aber in jedem Schritt wird eine der Seiten konstant gehalten. Die Theorie schreitet fort - mit Otto Neuraths berühmter Metapher - wie die Erneuerung des Schiffes Planke für Planke auf hoher See ohne Rückkehr in ein Dock, also ohne Benutzung völlig neuer Einzelteile. 69 Alltägliche Beobachtungen, sozialwissenschaftliche Analysen, ethnologische und anthropologische Daten, schließlich die evolutionäre Theorie müssen widerspruchsfrei zueinander passen. 70

B. Kulturevolution 1. Kultur und Tradigenese Kultur zu definieren ist kein leichtes Unterfangen, Kulturdefinitionen sind Legion. 7 1 Man kann schon durch die Definition ausschließen, daß Tiere Kultur besitzen, doch geeigneter erscheint eine Begriffsbestimmung, 66 Zur Rechtspsychoiogie siehe Lampe (1996), S. 56 ff.; (1991), S. 221 f., jeweils m.w.N. Zur evolutionären Psychologie und Entwicklungspsychologie siehe bereits Fn. 267 zu Teil I. 67 Vgl. zur Rechtsethnologie E. A. Hoebel (1954); Roberts (1981); Schott (1970); Thumwald 1934. 68 Ähnlich Irons (1979a), S. 31 f.; Lampe (1997), S. 13 ff., mit Bemerkungen zu den Grenzen der einzelnen Ansätze. 69 Neurath (1932), S. 206. 70 Vgl. Gibbard (1990a), S. 30, 156 f. 71 Vgl. Axelrod (1997b), S. 205; Boyd/Richerson (1985), S. 33; Vivelo (1995), S. 50 ff.; Vogel/Eckensberger (1988), S. 594 f.; Weingart (1993), S. 32 ff.

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Teil III: Theorie der Koevolution

die das Charakteristikum der Kultur in ihrer individuellen und sozialen Lehr- und Lernbarkeit erblickt. Unter „Kultur" fallen alle nicht vererbten, sondern gelernten Vorstellungen, Ideen, Bewertungen und Regeln, seien sie individuell oder kollektiv. „Kulturprodukte" heißen Verhaltensweisen, Normen, Gegenstände und Institutionen, die kulturell hervorgebracht und aufrechterhalten werden. 72 Kultur und Kulturprodukte in diesem Sinne sind auch im Tierreich verbreitet. 73 Die hier verwendete Definition lenkt den Blick auf den Lernvorgang, bezüglich dessen die Kontinuität des Menschen mit seinen Vorfahren offensichtlich ist. 7 4 Eine Definition soll, wie ihr Name sagt, abgrenzen. Eine Abgrenzung von sozialen Strukturen, Vorstellungen und Ideologien 75 erscheint hingegen schwierig und wohl auch nicht nötig. Gesellschaft hat eine kulturelle Grundlage, so wie die Kulturentwicklung von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt. 76 Die obige Kulturdefinition erfaßt zwanglos auch gesellschaftliche Merkmale, so daß in dieser Arbeit meistens das unspezifische Attribut „soziokulturell" gebraucht wird. Ein weitere denkbare Abgrenzung betrifft vererbte Merkmale. Doch daß Natur und Kultur in enger Verschränkung auftreten, ist die (wenig originelle) Kernthese der Theorie der Koevolution. Zur Kultur und ihren Produkten gehören beispielsweise die Idee zur Herstellung eines Werkzeuges, die Herstellungsmethode, das Werkzeug selbst und seine Einschätzung als hilfreich. Aber wie steht es um die Intelligenz und Fingerfertigkeit, die zur Herstellung von Werkzeugen erforderlich ist? 7 7 Man betritt hier schnell das Gebiet ideologisch erhitzter, wiewohl meistens unnötiger Dispute um entweder genetische oder gesellschaftliche Ursachen bestimmter Leistungen oder Fehlentwicklungen. Aus der Sicht einer evolutionären Theorie sind solche Kontroversen zu erwarten: Zu verwurzelt ist die menschliche Kultur in der Natur, als daß einzelne Gegenstände, Ideen usw. einem der Pole zugeordnet werden könnten. So bedarf es der Erörterung dieser Verwurzelung, nicht hingegen einer Quantifizierung von genetischen und soziokulturellen Anteilen. 72 Ähnlich Boyd/Richerson (1985), S. 4 f.; Durham (1991), S. 8 f.; Geertz (1973), S. 44; Vogel/Voland (1988), S. 103. - In der Revolutionären Literatur ist häufig von Kulturprodukten als „cultural traits" die Rede. Siehe Cavalli-Sforza/ Feldman (1981), S. 7, 73. 73 Boyd/Richerson (1996), S. 77 ff.; Dawkins (1989), S. 189 f. - Vgl. auch Bonner (1983), S. 17, der Kultur als „die Weitergabe von Informationen durch Verhalten, insbesondere durch den Vorgang von Lehren und Lernen" definiert. 74 Darwin (1871/1982), insb. S. 106 ff., 115 ff. 75 Vgl. Geertz (1973), S. 144 f. 76 Durham (1991), S. 30 f. 77 Dazu Ruse (1985), S. 134 ff. m.w.N. Siehe auch D I E Z E I T vom 16.04.1998, S. 33.

Β. Kulturevolution

151

Wie funktioniert kulturelle Verbreitung? Kultur wird gelehrt und gelernt, Kulturprodukte werden auch getauscht oder verkauft. Nennen wir dies Tradigenese im Unterschied zur Biogenese der Gene. 78 Analogien zwischen Biogenese und Tradigenese sind vielfältig. Auch bei der Tradigenese kommt es zu Übertragungsfehlern, ähnlich den Mutationen der Gene. 79 Es gibt auch ein „etwas", das tradigenetisch kopiert und verbreitet wird, meistens eine Information oder ein Werturteil. Doch sowohl die Inhalte als auch die Verbreitungsformen der Kultur sind divers. Es fehlt daher an einem eingebürgerten einheitlichen Begriff für kulturelle Replikatoren, der dem Begriff der Gene entsprechen würde. Edward Wilson und Charles Lumsden sprechen von „Culturgens", 80 Richard Dawkins von „Memen". 8 1 In dieser Arbeit ist wegen der unmittelbaren Verständlichkeit von „ Kulturinhalten" die Rede. Freilich ist die Abgrenzung von Kulturinhalten untereinander schwierig. 82 „Kulturinhalte" umfassen sowohl Kultur als auch Kulturprodukte im obigen Sinne. Von Kulturinhalten sind kulturell bedeutsame Merkmale zu unterscheiden (Schaubild 2). Bei ihnen kann es sich entweder um Kulturinhalte oder um organische Fähigkeiten oder andere nicht-kulturelle Dinge handeln, denen gemein ist, daß sie für die Kultur(-entwicklung) relevant sind, ohne selbst zur Kultur zu gehören. Nur Kulturinhalte werden kulturell verbreitet. Ein Kehlkopf, der Sprechen ermöglicht, ist ein kulturell bedeutsames Merkmal, nicht jedoch ein Kulturinhalt. Er verbreitet sich durch genetische Reproduktion der ihn ermöglichenden Programme. Die Differenzierung ist erforderlich, weil in jeder Evolutionstheorie anzugeben ist, was jeweils der Auslese unterliegt. Insofern werden hier Gene mit Kulturinhalten parallelisiert. Der Gattungsbegriff der kulturell bedeutsamen Merkmale dient dazu, deutlich zu machen, daß sowohl Gene als auch Kulturinhalte in 78 Dahl (1991), S. 99 ff.; Kuli (1979), S. 102 ff.; Vogel (1986b); (1989b), S. 74 f.; Vogel/Voland (1988), S. 103 f. 79 Wickler (1996), S. 82. Skeptisch hierzu Vromen (1995), S. 13. 80 Lumsden/Wilson (1981). 81 Dawkins (1989), S. 192. „Mem" spielt mit seinem Pendant, dem Gen, läßt sich aber auch von gr. mimesis , lat. memoria und franz. même herleiten. Durham (1991), S. 187 ff., bezeichnet „informational entities, whatever their size and complexity, that are differentially transmitted as coherent functional units" ebenfalls als Meme. 82 Das Hauptproblem dabei ist, daß Kulturinhalte nicht an feste physikalische Strukturen (wie Gene an Chromosomen) gebunden sind, sondern in Form von Texten, Gehirnverschaltungen, Gegenständen usw. vorliegen. Zu den Schwierigkeiten der Ausarbeitung eines Replikatorbegriffs für Kultur siehe Dawkins (1982), S. 112 und (1989), S. 322 f.; Harms (1996), S. 358 ff. - Axelrod (1997b), S. 211 u.ö., scheint die Schwierigkeiten zu übersehen, wenn er mittels Änderungen in der bloßen Zahl der Kulturinhalte (bei ihm: „features" bzw. „traits") die Komplexität von Kultur simulieren will. Auf die Zahl kann es nicht ankommen, sondern nur auf die innere Differenziertheit oder Differenzierbarkeit der Kulturinhalte.

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Teil III: Theorie der Koevolution Schaubild 2 Kulturell bedeutsame Merkmale

Kulturell bedeutsame Merkmale

Kulturell replikabel: Kulturinhalte z.B. Werkzeug, Tradition, Norm

Biogenetisch replikabel: Gene z.B. sprachtauglicher Kehlkopf

Hinblick auf ihre Adaptivität beurteilt werden können. Dabei ist zunächst kultureller Wert im Fall der Kulturinhalte, Reproduktionswert im Fall der Gene einzustellen. Doch dann ist der entscheidende Schritt zu leisten, diese beiden Selektionsmaßstäbe ineinander zu überführen. Auch Kultur (bzw. der Besitz von Kulturinhalten) kann biotische Anpassungsfunktionen erfüllen. Genauso können genetische Programme in ihrer Verbreitung von kulturellen Umständen abhängen. Daß dies beides möglich sein soll, bedarf im folgenden ausführlicher Besprechung. Der Gattungsbegriff ist auch deswegen von Nutzen, weil selten unterschieden werden muß oder auch nur werden kann, ob ein Merkmal ausschließlich kulturell oder genetisch ist. 2. Soziales Lernen und kulturelle

Evolution

Die Eigenarten menschlicher Kultur liegen in Besonderheiten der Tradigenese. Zwar lernen auch Tiere voneinander. Damit ist nicht das selbstverständliche Faktum gemeint, daß die Jungen von ihren Eltern lernen, etwa junge Vögel den Gesangsdialekt der Population, sondern die Imitation unter ausgewachsenen Lebewesen. Die entsprechenden Fähigkeiten selbst unserer nächsten Verwandten im Tierreich sind jedoch im Vergleich zur menschlichen Tradigenese verschwindend. 83 Der Verhaltensforscher Wolfgang Wickler referiert: „Affen äffen einander kaum nach. Gezielte Experimente, in denen man einem Gruppengenossen (auf einem ,Bildungsurlaub') eine neue Technik beibrachte und ihn dann zurück in die Gruppe brachte, verliefen enttäuschend. Auch wenn er

83

Positivbeispiele bei Gruter (1991), S. 59 f. m.w.N.; Vogel/Voland (1988), S. 106.

Β. Kulturevolution

153

einen Stock benutzt, um eine außer Griffweite vor dem Gitter liegende Frucht heranzuholen, und das den anderen vormacht, machen es ihm die anderen nicht einfach nach."84 Daher fällt es schwer, bei den Tieren ein Pendant zur eigendynamischen kulturellen Entwicklung des Menschen auszumachen. Dabei muß man sich nicht erst auf die verfeinerten Endprodukte kultureller Tätigkeit beziehen, auf Sinfonien, Mousse au chocolat oder Pentiumchips. Solche Kulturprodukte wurden erst möglich, indem sich Kultur über viele tausend Generationen hinweg ansteigend entwickelte. Unter Menschen erlebt Kultur einen kumulativen Wandel, eine kulturelle (oder tradigenetische) Evolution. 85 Es entstehen Verhaltensweisen und Kulturinhalte, die kein Individuum alleine hätte lernen können und die auf generationenübergreifenden Entwicklungen beruhen. 86 Einstein setzt Newton voraus, Newton setzt Aristoteles voraus. Das Beispiel ist extrem vereinfacht, weil es nur drei Glieder einer regelmäßig unvorstellbar langen Traditionskette benennt. Man lernt von gegebenenfalls frei wählbaren „kulturellen Eltern", die mit den leiblichen Eltern nicht identisch sein müssen. 87 Sie müssen auch nicht der vorhergehenden Generation angehören. Lernflüsse können in beliebige Richtungen verlaufen. 88 Viele kulturelle Entwicklungen beruhen zudem auf dem Zusammenwirken mehrerer Individuen. Schließlich können Kulturinhalte geplant, entworfen werden. Natürliche Auslese ist „blind", die Auswahl unter Kulturinhalten hingegen zumindest teilweise dem vorausschauenden Willen der Akteure unterworfen. 89 Daß hier schwer berechenbare, überkomplexe und nichtlineare Prozesse eine praktische Grenze darstellen, bleibt unbenommen. Auch kann Wissen in Vergessenheit geraten. 90 84

Wickler (1996), S. 83. Vgl. allgemein Antweiler (1988), S. 33 ff., mit einem Überblick über Kulturevolutionstheorien. - Inwieweit auch Schimpansen und einige Vogelarten die Voraussetzungen für eine kulturelle Evolution besitzen, wird diskutiert von Boyd/Richerson (1996), S. 81 f. Dabei ist jedenfalls zu berücksichtigen, daß Vögel ausschließlich ihren Gesang kulturell tradieren, sonst nichts. 86 Boyd/Richerson (1996), S. 80 f. 87 Dazu Boyd/Richerson (1985), S. 7 f., 14 f., 41, 288 f.; (1995), S. 140; Brandon (1985); Durham (1978), S. 428 f.; Erben (1988), S. 344, 358 f.; Gould (1978), S. 348 f. und passim; E. Ο. Wilson (1975), S. 549. 88 Dazu Boyd/Richerson (1985), S. 8; Cavalli-Sforza/Feldman (1981), S. 351 u.ö.; Vogel (1989b), S. 77; Vogel/Voland (1988), S. 103 f. 89 Alexander (1979), S. 77: „positive feedback between need and novelty"; Vogel/Voland (1988), S. 104 f.; Vromen (1995), S. 119 ff. 90 Boyd/Richerson (1985), S. 9 und Kap. 3; Cavalli-Sforza/Feldman (1981), S. 351; Durham (1991), S. 430. Dieses Element stellt weitgehend ein Analogon zur genetischen Drift (Teil II B. 1.) dar. Zum Erfordernis von „transmission" und „persistence" in der kulturellen Evolution siehe auch Boyd/Richerson (1996), S. 82 ff. 85

154

Teil III: Theorie der Koevolution

Voraussetzung für die kulturelle Evolution ist sozial-kognitives Lernen. 91 Das Individuum übernimmt die in seiner Umwelt vorgelebten Modelle durch Beobachtung. Es muß Verhaltensweisen und Erkenntnisse nicht stets mittels Versuch und Irrtum durchspielen. Dadurch erhält die kulturelle Evolution einen „lamarckistischen" Zug: Lebzeitig erworbene Eigenschaften können (kulturell) „vererbt" werden. Freilich ist jede Modell-Übernahme fehlbar. Die Kopie durch das Individuum kann mißlingen, oder das imitierte Modell kann minderwertig sein. 92 Außerdem ist zu berücksichtigen, daß eine bloße Übernahme nichts Neues schafft. Individuelles, kreatives Lernen muß also hinzutreten. 93 Kennzeichen sozial-kognitiven Lernens ist auch, daß man nicht zugleich lernt, warum etwas so funktioniert, wie es funktioniert. Wir können alle Auto fahren, ohne über die im Inneren des Motors sich abspielenden Prozesse näher Bescheid zu wissen. Den Nutzen des Autofahrens können wir auch ohne dieses Wissen ziehen, während manche einen speziellen Nutzen davon haben, daß sie Experten in Autotechnik sind. Hayek hat dies als die „Teilung des Wissens" beschrieben: „Je mehr die Menschen wissen, desto geringer wird der Anteil an all dem Wissen, den ein einzelner Verstand aufnehmen kann." 9 4 Das bedeutet zugleich, daß das einzelne Individuum nicht unbedingt „mehr" wissen muß, sondern sein Wissen lediglich voraussetzungsvoller wird, also den konservierten Wissenserwerb vieler Vorgänger bedingt. Was mithin zunimmt, ist weniger das subjektive als das objektive Wissen, die „objektive Erkenntnis" (Popper). 95 Doch an diesem kann jedes Individuum aufs neue durch sozialkognitives Lernen gemäß seinen Zugangsmöglichkeiten partizipieren. 96 Die Kulturevolution ist einerseits erstaunlich schnell und dynamisch. Sie weist andererseits Trägheitselemente auf. Nicht jeder läßt sich ständig etwas Neues einfallen. Gerade Kinder sind auf Übernahmen der Erfahrungen ihrer Eltern angewiesen. Sie werden enkulturiert, in die bestehende Kultur eingepaßt, ähnlich der Konditionierung. 97 Da sich Kinder diesem Prozeß in der Regel nicht entziehen können, verankert die Enkulturation gerade in der lernsensiblen Phase wichtige Denk- und Verhaltensweisen. Auch besitzt das sozial-kognitive Lernen insofern einen Trägheitsaspekt, als 91

Zum sozialen Lernen grundlegend die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras: Bandura/Walters (1963). Dazu etwa Delius/Todt (1988), S. 355 ff. m.w.N. 92 Delius/Todt (1988), S. 357. 93 Boyd/Richerson (1985), S. 82. 94 Hayek (1971), S. 35. Dazu Vromen (1995), S. 164 ff. 95 Vgl. Vanberg (1994), S. 20 f. 96 Vgl. Hayek (1971), S. 42; Vanberg (1994), S. 14 ff. m.w.N. Hayek sympathisiert freilich mit gruppenselektionistischen Ansätzen, um die kulturelle Evolution zu erklären; vgl. Vanberg (1994), S. 21 ff. m.w.N. (wiederum kritisch zu Vanberg Vromen (1995), S. 171 ff.). 97 Vgl. auch Harris (1989), S. 21. Zur Konditionierung Teil II B. 5.

Β. Kulturevolution

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es auf der Übernahme von bereits gelebten und bekannten Modellen beruht. 98 Die jeweils bestehende Kultur wirkt sich wie ein Gerinnungsfaktor auf Änderungsbestrebungen aus, ähnlich wie eine Verfassung bedeutende Rechtsänderungen „behindert". Dadurch wird auch ein spezifischer Nutzen geschaffen. Er liegt darin, daß unbeherrschbare Kultursprünge verhindert werden und sich der einzelne an vorherrschende Kulturinhalte (auch und gerade an Normen) anpassen kann, ohne sein Wissen jederzeit revidieren zu müssen. 99 Wenn im folgenden die wichtigsten Kennzeichen der kulturellen Evolution aufgeführt werden, ist zu berücksichtigen, daß zwischen Voraussetzungen und Eigenarten der kulturellen Evolution nur schwer zu differenzieren ist. Die Liste beginnt bei Merkmalen, die „eher" als Voraussetzungen anzusprechen sind. Gegenüber der Kultur bei Tieren liegen meistens nur graduelle, dabei mitunter jedoch ganz erhebliche Unterschiede vor. Zu nennen sind100 (1) erhöhte Kapazitäten des Gehirns durch dessen relative Vergrößerung und funktionale Differenzierung (Zerebralisation); 101 (2) aufrechter Gang mit der Folge der vielseitigeren Nutzung der Hände; (3) lange Nesthockerzeit und lebenslange Fähigkeit zu lernen (Neotonie), nicht nur von den genetischen Eltern, sondern von beliebigen Lehrern, mit der Folge größerer geistiger Flexibilität und Kreativität; (4) die individuelle und soziale Lehr- und Lernbarkeit von Kulturinhalten, also (a) die (gegenüber Tieren verbesserte) Übertragung von Informationen, d.h. Imitation, Beobachtungslernen, Sprache und Verstehen von Zeichen; (b) die Konservierung von Gelerntem, mental, oral oder schriftlich, in individuellen und kollektiven Gedächtnissen, dadurch die Entstehung „objektiver Erkenntnis"; dabei ist freilich der Einfluß von Irrtümern, Vergessen eines Kulturinhalts oder Tod eines Kulturträgers vor der Weitervermittlung zu berücksichtigen; (c) die Vielgestaltigkeit von Informationsflüssen, d.h. nicht nur von einer Generation zur nächsten, sondern auch umgekehrt und horizontal innerhalb von Generationen; 98

Boyd/Richerson (1985), S. 116 f. Vgl. Verbeek (1998), S. 274 f.; Alexander (1979), S. 69 f. 100 Ähnliche, aber jeweils unvollständige Aufstellungen bei Kuli (1979), S. 102148; Vogel (1989b), S. 77 ff.; Wuketits (1990), S. 80 ff.; (1993), S. 116 ff. 101 Zu diesem und dem folgenden Punkt Erben (1988), Kap. VIII. 99

156

Teil III: Theorie der Koevolution (d) die Intentionalität und „Planbarkeit" von Kultur gegenüber der blinden Zufälligkeit von genetischen Variationen in Verbindung mit der Möglichkeit, Fehlentwicklungen unmittelbar (nicht erst im Laufe natürlicher Auslese) zu korrigieren; (e) die Möglichkeit, komplexe kulturelle Schritte auf einmal und evtl. gemeinsam anzugehen, ohne auf die kleinen, unzusammenhängenden und zufälligen Schritte der genetischen Variation angewiesen zu sein;

(5) die Verfolgung individueller Interessen in Verbindung mit dem Nutzen, Interessen gemeinsam zu verfolgen, und alle daraus resultierenden konfliktträchtigen Interaktionen der Kooperation, Täuschung, normativen Steuerung etc.; die größten Bedrohungen rühren nicht mehr von wilden Tieren oder Naturkatastophen her, sondern von anderen Menschen; 102 (6) Gruppendynamik durch die zunehmende Zahl von Akteuren und Interaktions- und Interdependenzbeziehungen innerhalb von Gruppen; dadurch Spezialisierung und Arbeitsteilung; dazu korrespondierend kulturelle Abgrenzung zwischen Gruppen; (7) die Einflußnahme von bestehenden Kulturmerkmalen („guided variation"), gepaart mit Machtstrukturen sowie individuellen und Gruppenpräferenzen („biased transmission"), auf die weitere Kulturentwicklung (traditionelle Verfestigung ursprünglich kontingenter Kulturinhalte); 103 (8) die Aufhebung der einseitigen Anpassung an die Umwelt zugunsten der aktiven Anpassung dieser Umwelt an den Menschen; als Kontrapunkt dazu freilich auch negative Rückkoppelungen durch Eingriffe in den Naturhaushalt, mit ggf. unbeherrschbaren und irreversiblen Folgen auch für spätere Generationen, außerdem mögliche Fehlanpassungen durch evolutionär gesehen extrem schnelle Veränderungen der Lebens w e i t . 1 0 4 Frühe Schritte in der Kulturevolution waren erste Werkzeuge und vor allem soziale Ausdifferenzierung. 105 Ansätze dazu finden sich bereits vor 102

Alexander (1987), S. 111 f.; grundlegend Trivers (1971), S. 48 ff. Ausführlich unten Teil IV. 103 Boyd/Richerson (1985), S. 284 f. und Kap. 4 und 5; Durham (1991), S. 423 f.: „cultural constraints". 104 Zu diesen Problemfeldern noch Kap. D. los Gegenüber gängigen Darstellungen der Menschheitsgeschichte macht die neuere anthropologische Forschung die rasante Entwicklung des menschlichen Geistes und menschlicher Kultur vor allem an sozialen Erfordernissen fest. Dies steht auch im Einklang mit den Überlegungen zum Nutzen von Bewußtsein und Intentionalität, oben, Teil II C. 5. Vgl. Boehm (1983), S. 141; Engels (1989), S. 190 f.; Foley (1995), S. 196; Vogel/Voland (1988), S. 108 f., alle m.w.N. Im Gegensatz dazu vermutet der Genetiker Francisco Ayala, kognitive Fähigkeiten entwickelten sich als Voraussetzung für Werkzeuggebrauch; ethisches Verhalten sollte davon ein

157

Β. Kulturevolution Tabelle 3 Kulturentwicklung des Menschen Historische Epoche

Kulturphase

Mittelsteinzeit; Neolithische Revolution (vor ca. 10.000 bis 7.000 Jahren)

- Seßhaftwerdung, Ackerbau und Viehzucht, produzierende (gegenüber bloß aneignender) Wirtschaftsform - Schrift

Jungsteinzeit (vor ca. 7.000 bis 5.500 Jahren)

-

Bauernkulturen

- Beginn der Arbeitsteilung - Ausbildung von sozialen Klassen - Entstehung von Staaten

Frühe Metallzeiten (vor ca. 5.500 bis 2.600 Jahren)

- Erste Großreiche

Antike bis heute

- Selbstreflexion und Kontemplation - Philosophie und Hochreligionen - Wissenschaft - Industrielle Revolution

Jahrmillionen bei prähumanen P r i m a t e n . 1 0 6 Es folgten die Dienstbarmachung des Feuers und die E n t w i c k l u n g weitreichender Waffen, zusammen m i t sozialen E n t w i c k l u n g e n w i e Arbeitsteilung und T a u s c h . 1 0 7 D i e E v o l u tion wurde zur Revolution i m N e o l i t h i k u m vor etwa 10.000 bis 7.000 Jahren. Diese Periode ist durch eine wechselseitige Verstärkung, Beschleunigung und demzufolge besondere Eigendynamik der kulturellen E n t w i c k lung g e k e n n z e i c h n e t . 1 0 8 I n der K u l t u r e n t w i c k l u n g des Menschen können seitdem einige größere Schritte ausgemacht werden (Tabelle 3 ) . 1 0 9

Nebenprodukt sein ((1987), S. 239). Dies erscheint schon deswegen unwahrscheinlich, weil die kognitiven Fähigkeiten kaum als hinreichende Bedingungen der Entwicklung von Ethik angesehen werden können, wie Ayala dies tut (S. 237 ff.). 106 Erben (1988), S. 359 ff. 107 Ebd. 108 E. O. Wilson (1975), S. 566 ff., spricht hier von Autokatalyse. 109 Tabelle nach Kuli (1979), S. 125.

158

Teil III: Theorie der Koevolution

3. Sprache und Tradigenese Zweckgerichtete Laute und Körpersignale finden sich bei vielen Tierarten. 1 1 0 Sie zeigen Artgenossen präzise und leicht verständlich die situative emotionale Disposition ihres Gegenüber, wie Aggression, Angst, Zuneigung, Überraschung, Trauer. Hierdurch können bereits protonormative Verhaltensanforderungen adressiert und bei Zuwiderhandlung sanktioniert werden. 111 Andererseits beschränkt sich Körpersprache auf eine begrenzte, konkrete und gegenwärtige Aussage. Zeichensprache, wie sie Menschen entwickelt haben und anderen Primaten nur in begrenztem Maße zugänglich i s t , 1 1 2 beruht darauf, daß ein Zeichen für etwas stehen kann, das von ihm ganz verschieden ist. Daraus ergibt sich der Symbolcharakter der Sprache. 1 1 3 Der Laut erwächst nicht mehr aus der Nachahmung natürlicher Geräusche, die Schrift malt keine Bilder. 1 1 4 Beim Menschen findet sich über die Körpersprache hinaus und verschränkt mit der Zeichensprache die verbale Sprache. Sie besitzt Syntax, d.h., die Symbolbedeutung ist von der Form und Reihenfolge der Wörter abhängig. 115 Tabelle 4 schlüsselt auf, welche Merkmale die menschliche Sprache mit Tiersprachen gemein hat und welche nur ihr zukommen. 1 1 6 Außer der größeren Palette an Ausdrucksmöglichkeiten hat verbale Sprache (künftig einfach: Sprache) den weiteren Vorteil, daß sie das Denken unterstützt. Dinge können intentional als etwas betrachtet und sprachlich in 110

Siehe zur Sprachentwicklung allgemein H. M. Müller (1987); Erben (1988), S. 361 ff. 111 Vgl. Teil V A. 3. 112 Zu den beeindruckenden Sprachfähigkeiten von Schimpansen, die bis zu einfacher Logik und Raum-Zeit-Unabhängigkeit reichen, siehe Bischof (1985), S. 532 ff.; Engels (1989), S. 192 ff.; Gardner & Gardner (1969); Erben (1988), S. 362 ff.; Kuli (1979), S. 190; F.-H. Schmidt (1982), S. 59 ff.; Vogel (1977), S. 8 ff.; Voland (1997), S. 112 m.w.N.; Zimmer (1979), S. 112 f. (siehe auch allgemein S. 101-126). 113 In der modernen Semiotik meint der Begriff des Zeichens das „für etwas stehen" aufgrund Konvention; „Symbol" meint enger den Bezug auf das Wesentliche, häufig nicht rational Erfaßbare des Bezeichneten (Symbole für religiöse Offenbarungen oder für die Liebe). Vgl. Eco (1972), S. 28. 114 Selbst bei sog. Bilderschriften (Piktographien) wie den ägyptischen Hieroglyphen deutet das Zeichen auf den Gegenstand nur noch hin, stellt ihn nicht mehr realistisch, sondern stilisiert dar und ergibt sich nicht zwingend aus ihm. Zugleich verengt sich der bezeichnete Gegenstand vom gesamten Sachverhalt über die beteiligten Größen des Sachverhalts (bei Wortschriften wie dem Chinesischen) bis zu für sich bedeutungslosen Einheiten (Silbe, Buchstabe), die nur in Kombination Sinn geben. Dadurch wurde es zugleich notwendig, die einzelnen Zeichen zu vereinfachen. 115 Allerdings weisen auch Tiersprachen Ansätze zu Symbolgehalten und Syntax auf. Siehe erneut Fn. 112. 116 Nach Kuli (1979), S. 184 f. mit verschiedenen Veränderungen und Ergänzungen.

Β. Kulturevolution

159

Tabelle 4 Sprache Gemeinsame Merkmale mit der Sprache (höherer) Tiere Verwendung des Stimm-Hörkanals für die Kommunikation zur Befreiung anderer Körperteile Übertragung in einen Hör-Raum Nutzung eines weiten Frequenzspektrums Reproduzierbarkeit von Informationen Sprechender hört sich selbst Sprechbewegungen und -töne dienen ausschließlich der Signalgebung

Weitgehend auf den Menschen beschränkte Merkmale Unabhängigkeit der Signalbedeutung gegenüber dem verwendeten Zeichen Symbole (Wörter) haben festliegende und differenzierte Bedeutung (im Unterschied etwa zum Warnruf eines Vogels) Unterscheidbarkeit und Kontextabhängigkeit der Symbole (Wörter)

Spezifisch menschliche Merkmale verbaler Sprache Möglichkeit, nie zuvor Gesagtes verständlich auszudrücken sehr ähnliche Wörter können ganz unterschiedliche Bedeutung haben; dadurch fast beliebig große Zahl möglicher Signale Reflexivität: Sprechen über Sprache

Erwerb der Regeln durch Lernen

Erlernbarkeit anderer Sprachen als der Muttersprache (über bloße Nachahmung hinaus)

Kontrafaktizität und Intentionalität von Sprache

Sprache erwächst aus universaler generativer Grammatik (Chomsky) 1 1 7

ihren verschiedenen Hinsichten u n d Eigenschaften differenziert u n d variiert werden. Entscheidende Schritte i n der E n t w i c k l u n g der k o g n i t i v e n und normativen Kapazitäten des Menschen sind auf sprachlich bewältigte soziale Anforderungen

zurückzuführen.

Außerdem können sich Menschen

über

nicht aktuell gegenwärtige Situationen austauschen, über zukünftige, zurückliegende und hypothetische. M a n muß nicht z u m einem bestimmten Ort gehen oder auf i h n zeigen, u m über i h n zu reden. M a n kann auch, bevor man X tut, es planen und seine Folgen erörtern. Das ist evolutionär v o n großem N u t z e n . 1 1 8 D e n n X zu tun w i r d häufig weitaus

risikoreicher

sein,

als X zu besprechen und i m Neocortex rational, i m limbischen System u n d Hypothalamus emotional durchzuspielen. Sprache w i r k t , m i t Gehlen, entlas t e n d . 1 1 9 Z u g l e i c h fördert sie die Fähigkeit, sich i n andere hineinzuverset-

117 Chomsky (1957), (1965). Dazu aus evolutionärer S. 364 ff.; Kuli (1979), S. 189 f. 118 Dazu Engels (1989), S. 164 ff. 119 Gehlen (1971), S. 177.

Sicht Erben

(1988),

160

Teil III: Theorie der Koevolution

zen. Für Mitgefühl, Koordination, Konfliktbewältigung, aber auch für Verstellung und Täuschung werden so ganz neue Felder eröffnet. Sprache beschleunigt die Eigenentwicklung der Kultur, in prozeduraler und inhaltlicher Hinsicht. Als prozedurales Merkmal kann man die sprachbedingte Tradigenese bezeichnen (s.o.). Die Zugänglichkeit des Wissens gewinnt weiter durch die Einführung von Schrift, deren Rezeption nicht mehr vom Kontakt mit einem bestimmten Lehrer abhängt.120 Schrift stellt zudem Wissen auf Dauer, macht aus subjektivem objektives Wissen und vervielfacht die Menge speicherbarer Informationen. Die Fähigkeit, sich mit relevantem Wissen auszustatten, wird zum beherrschenden Faktor gesellschaftlichen Erfolges. Da Sprache nicht an die Existenz von Objekten gebunden ist, über die sie spricht, kann sie sich ihre eigenen Gegenstände schaffen. Das ist der inhaltliche Aspekt der sprachlichen Eigendynamik. Die Welt der Zeichen und Symbole emanzipiert sich von ihren Objekten. Mit Sprache wird gespielt, betrogen, simuliert und gedichtet. Innerhalb der so aufgerichteten Zeichenwelten bleibt „Verstehen" weiterhin möglich, nach Regeln, die gegebenenfalls ad hoc innersystemisch definiert werden. Dadurch wird einiges problematisch, was für die Genfunktionalität von Sprache erforderlich wäre: ob etwa Sprache überhaupt noch auf irgend etwas außerhalb ihrer selbst referiert, ob sie in einem intersubjektiv geteilten Sinne referiert und ob sie die (ja sprachgebundene) Kultur nicht völlig der Natur enthoben hat. So wird von manchen Kulturanthropologen wie Marshall Sahlins die unbegrenzte Verschiedenheit der symbolischen Bedeutungen betont: „... culture is properly understood as an intervention in nature rather than the self-mediation of the latter through symbols".121 Wenn Sprache ihrem Wesen nach unscharf, subjektiv, selbstreferentiell und eigendynamisch wäre, entfiele die 120

Die Entstehung von Schrift wurde lange Zeit auf ca. 3500 v.u.Z. datiert (Kuli (1979), S. 201 ff.). Zu dieser Zeit etablierte sich in Mesopotamien die altsumerische Piktographie, also eine den ägyptischen Hieroglyphen ähnliche Schrift. Neueren Erkenntnissen zufolge datieren älteste Schriften bis zum Ende des 6. vorchristlichen Jahrtausends zurück. Fundort ist insbesondere der Balkanraum (Vollmer (1997), S. 55 m.w.N.). Seit neuestem gibt es Funde wiederum aus dem Zweistromtal, die Schriftzeichen aufweisen und rund 10.000 Jahre, also doppelt so alt sind (DIE ZEIT vom 24.01.1997: „Der Kratzer als Gedächtnisstütze", Bericht über die Funde des Teams um die französische Archäologin Danielle Stordeur). Die schwierige Abgrenzung ist die zwischen bloßer Dekoration und sprachlichem Informationsgehalt. Ganze Sätze sind auf den Steintafeln noch nicht verzeichnet, wohl aber zusammenhängende Bilderfolgen in Symbolen. Das bedeutet, daß schon gegen Anfang der neolithischen Revolution und vor Entstehung der zivilisierten und zentralistischen mesopotamischen Hoch- und Stadtkulturen Schrift zur Kommunikation eingesetzt wurde. 121

Vgl. Sahlins (1977), S. 63 m.w.N.

Β. Kulturevolution

161

Möglichkeit, naturwissenschaftlich der sprachlich realisierten Kultur überhaupt nahezukommen. Beispiele für gegenstandslose Zeichen (wie Dada) und Selbstreferentialität lassen sich genauso finden wie für Zeichen, die für verschiedene Benutzer vollkommen Verschiedenes bedeuten. Die Frage ist nur: Ist das der Regelfall der Nutzung von Sprache? Funktioniert nicht in den meisten, vor allem in den für soziale Interaktion bedeutendsten Fällen die Verständigung sehr gut? Ist es nicht gerade das Mißverständnis, das Ausbleiben der Verständigung, das auffällt? Später soll hierauf eine Antwort versucht werden.

4. Wechselseitige Anpassung von Natur und Kultur Anpassungsleistungen können darin bestehen, daß Organismen statt ihrer selbst ihre Umwelt so verändern, daß diese ihnen nützlich oder weniger gefährlich wird. Besonders ausgeprägt findet sich dies beim Menschen. Die Anpassung der Umwelt an den Menschen ist für diesen zugleich Überlebensbedingung. Diese Erkenntnis steht nur scheinbar in Einklang mit der philosophischanthropologischen122 Bestimmung des Menschen als „instinktarmen Mängelwesens" (Gehlen). Freilich, der Mensch hat keine Krallen, keine großwildtauglichen Reißzähne, läuft weder besonders schnell noch besonders ausdauernd, kurz, ist in fast jeder Hinsicht irgendwelchen Spezialisten des Tierreichs unterlegen. Nur in einer Hinsicht nicht: Er ist schlauer als alle anderen. Warum Gehlen Intelligenz nicht als die wesentliche Stärke und Ursache der Passung des Menschen erkennt, bleibt im dunkeln. Vielleicht verwechselt er Unspezialisiertheit mit Unangepaßtheit.123 Menschliche Fähigkeiten sind nicht nur eine Kompensation für organische Mängel, sondern genauso deren evolutionäre Voraussetzung. Ein leistungsfähigeres Gehirn erlaubte erst den Verlust naturaler Fähigkeiten ohne gleichzeitigen Fitneßverlust. 124 Hätte der Mensch immer erst im nachhinein kulturell kompensieren müssen, was ihm natürlicherweise fehlte, hätte ihm eine feindliche Lebenswelt dafür kaum Zeit gelassen: Er wäre ausgestorben. Statt dessen eroberte sich der Mensch mit seinen kulturellen Fähigkeiten die Hoheit in Lebensräumen und paßte sich diese an, anstatt von zufälliger Passung an eine nicht gewählte Umwelt abhängig zu sein. 122 Philosophische Anthropologie ist die Lehre von der Natur des Menschen, nicht empirisch und nicht metaphysisch verstanden (siehe Marquard (1971), Sp. 364). Ob diese Lexikon-Definition etwa Gehlens philosophische Anthropologie überhaupt erfaßt, sei dahingestellt. 123 So Bischof (1985), S. 512. 124 Vgl. Kuno Lorenz (1992), S. 63 ff. 11 Wesche

162

Teil III: Theorie der Koevolution

Der Kulturprozeß ist schon lange ein enger Begleiter der biogenetischen Evolution. Empirisch ist deshalb schwer zu beurteilen, was die „natürliche" Umwelt des Menschen eigentlich ist. 125 Der Mensch trifft (sowohl onto- als auch phylogenetisch) nicht als fertiger Organismus auf seine Lebenswelt, sondern entwickelt diese und sich selbst in ständiger Interaktion mit ihr. Insofern kann (mit Arnold Gehlen) vom Menschen als „von Natur ein Kulturwesen" 126 gesprochen werden: „ . . . es gibt keinen Naturmenschen' i m strengen Sinne: d.h. keine menschliche Gesellschaft ohne Waffen, ohne Feuer, ohne präparierte und künstliche Nahrung, ohne Obdach und ohne Formen der hergestellten Kooperation." 1 2 7

Nur sollte damit nicht die Ausblendung biogenetischer Bedingungen der Kultur einhergehen, wie der Anthropologe Robin Fox klarstellt: „Man is indeed the cultural animal, but both terms should be given equal weight; one does not contradict the other. Culture does not represent a triumph over nature, for such a thing is impossible; it represents an end product of a natural process. It is both the producer and the product of man's human nature, and in behaving culturally he is behaving naturally." 1 2 8

Das führt zu einem begrifflichen Problem. Wie schon John Stuart Mill bemerkte, kann der Begriff „Natur" zwei Bedeutungen annehmen, die in Diskussionen häufig vermischt werden. 129 Ein weiter Begriff von Natur umfaßt nach Mill das „aggregate of powers and properties of all things", damit auch alle menschlichen Werke neben natürlichen Dingen. Er findet Verwendung, wenn die Natureingebundenheit des Menschen betont werden soll. Der Unterschied von Kultur zu Natur kann hingegen nur mit einem Naturbegriff thematisiert werden, der menschliche Werke in Opposition zur Natur setzt. Doch wo endet die Natur, wo beginnt die Kultur? Bei der Nutzung des aufrechten Gangs, des Gehirnvolumens, des Feuers, des Rades, der Schrift? Zudem liegt beim engen Naturbegriff der gedankliche Kurzschluß nahe, das Natürliche sei (je nach Ideologie) prinzipiell besser oder schlechter als das Künstliche.130 Mill selbst, ungeachtet seiner scharfsinni125

Vgl. Kaspar (1985). Gehlen (1971), S. 38. 127 Ebd., S. 38. - Für Helmuth Plessner besteht beim Menschen eine Verschränkung von Umweltgebundenheit (biogenetischen Voraussetzungen) und Weltoffenheit (1928/1981), Kap. 7 zu 3.: „Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit"; siehe auch (1950/1983), S. 81 f. Siehe auch Engels (1989), S. 322 ff. 128 Fox (1989), S. 31. 129 Vgl. dazu M i l l (1850-58/1969), S. 373 ff. no y gì auch den programmatisch gemeinten Vermerk Nietzsches, Moralen (sie) seien nur eine Zeichensprache der Affekte und gerade als solche „natürlich" ((1886), Aphorismen 187, 188). Schließt diese Natürlichkeit die Beeinflussung der Affekte durch soziokulturelle Anschauungen schon ein? Dann ginge der kritische Impetus des Satzes verloren. Wenn sich hingegen „natürlich" auf eine menschliche 126

Β. Kulturevolution

163

gen Begriffsanalyse, verfällt diesem Irrtum. Ihm zufolge ist es eine „unleugbare Tatsache", daß die Naturordnung nicht mit dem Willen zu Gerechtigkeit und Gutwilligkeit errichtet worden sein kann. Die Natur habe zu viele „mörderische" Seiten, sei ungerecht und böswillig und könne daher kein Vorbild sein. 131 Mill versteigt sich schließlich dazu, die menschliche Fähigkeit zum erfolgreichen Kampf in der und gegen die Natur als „moralisches Prinzip der Evolution" zu bezeichnen.132 Die Pflicht des Menschen sei „not to follow but to amend (nature)". 133 Doch Natur ist für sich genommen weder gut noch böse. Aus ihrem Zustand kann das Gebot ihrer Befolgung („naturam sequi") genauso wenig abgeleitet werden wie das ihrer Überwindung oder Beherrschung. Kultur kann weder bloß als Aufstieg (Hobbes), noch als Abstieg (Rousseau) aus einem Naturzustand verstanden werden. Erst am Ende seines Essays kehrt Mill zu seinem Ausgangspunkt zurück: „Conformity to nature has no connection whatever with right and wrong." 134 5. Kulturelle

Autoselektion und versteckte Anpassungen

Anpassung ist, anders als der Begriff glauben machen kann, keine Einbahnstraße. Merkmale können gerade dadurch angepaßt sein, daß sie eine Umwelt verändern und ihrem Träger erlauben, in dieser neuen Umwelt besser zu leben.135 Streng genommen verändert jede Kulturleistung, indem sie sich zu bewähren sucht, die Lebenswelt, somit die Bedingungen ihres eigenen Bewährens. Im gleichen Maße, wie ein begehrter Kulturinhalt sich verbreitet und allgemein verfügbar wird, sinkt der relative Vorteil, ihn zu besitzen.136 Beispiele dafür sind aus der Ökonomie vertraut. So führt der massenhafte Ansturm auf ein preiswertes Gut bei gleichbleibendem Angebot zum Wegfall des Preis Vorteils. Allgemein ist in der tradigenetischen Natur vor jeder soziokulturellen Einflußnahme beziehen soll, ist er erstens unzutreffend und zweitens normativ neutral. 131 M i l l (1850-58/1969), S. 383 ff. In dieser Diagnose trifft sich M i l l mit Thomas H. Huxley, dem entschiedenen Verfechter der Theorie Darwins schon zu dessen Lebzeiten. Huxley meint: „ . . . die Ausübung des ethisch Besten - was wir als Güte oder Tugend bezeichnen - (schließt) eine Weise des Verhaltens ein, die nach jeder Richtung hin das Gegenteil von dem ist, was im kosmischen Kampf ums Dasein zum Erfolg führt." (1894/1993), S. 69. 132 M i l l (1850-58/1969), S. 389. 133 Ebd., S. 397. 134 Ebd., S. 400. 135 Vgl. Klix (1993), S. 47 f. 136 Was fitneßsteigernd ist, läßt sich also nicht ein für allemal angeben. Das Verlangen nach inhaltlicher Definition, was Fitneß allgemein ausmache, um damit die angebliche Tautologie des Darwinismus zu vermeiden, ist verfehlt. Wie hier Verbeek (1998), S. 351 f.

11*

164

Teil III: Theorie der Koevolution

Evolution der Akteur zugleich Teil seiner Umwelt. Menschen kreieren mit Kulturinhalten ihren eigenen Selektionsdruck und entscheiden für die Zukunft darüber mit, was angepaßt ist. Weiteres Handeln steht fürderhin unter den selbstgeschaffenen kulturellen Bedingungen.137 Man kann von Autoselektion der Kultur sprechen. Eine Folgerung aus der kulturellen Autoselektion ist, daß sich kulturelle Werte von den Vorgaben der natürlichen Auslese entfernen können. In Anlehnung an das Konzept der geschlechtlichen Selektion138 kann man von einer „runaway cultural selection" sprechen. Menschen hungern sich zu Tode, weil sie unter erniedrigenden Haftbedingungen zu leiden haben, sie adoptieren Kinder, obwohl sie selbst Kinder haben könnten, oder sie geben sich dem klösterlichen bzw. priesterlichen Zölibat hin und unterdrücken ihre Sexualität.139 Solche Fälle sind relativ gering an Zahl. Doch wie steht es um moderne Verhütungsmethoden, aufgrund derer breite Bevölkerungsschichten in den hochindustrialisierten Ländern ein Negativwachstum erleben? 140 Bei solchen Beispielen ist allerdings Vorsicht geboten. Kriterium für Gesamtfitneß ist die Fähigkeit, reproduktionsfähige Nachkommen entweder selbst zu haben oder bei Verwandten zu unterstützen. Welche Konsequenzen auf den ersten Blick fitneßmindernde Verhaltensweisen wirklich besitzen, könnte erst nach einer genauen Bilanzierung angegeben werden. Den Kosten könnte ein Nutzen gegenüberstehen, der nur mittelbar wirkt, sei es über Verwandte oder über bessere Reproduktionsbedingungen bei den eigenen Kindern. Auch umfassen Reproduktionsbedingungen natürlich nicht nur den direkten Zugang zu Geschlechtspartnern. Unzählige Zwischenschritte, die die soziokulturellen und persönlichen Voraussetzungen für Reproduktion schaffen, sind für jenen Zugang erforderlich und damit mittelbar fitneßsteigernd. Zu rechnen ist daher immer mit Fällen versteckter Angepaßtheit. Versteckte Anpassungen sind solche, die einen Nettoeffekt in Richtung auf Fitneßsteigerung haben, der aber aufgrund gewisser Fitneßkosten und/oder bloß mittelbarer Fitneßgewinne nicht gleich in den Blick fällt. 141 Aus dem Faktum der Autoselektion kann nicht gefolgert werden, daß die Kultur bzw. Kulturverhalten sich notwendigerweise oder vollständig in Gegensatz zu evolutionären Vorgaben bringen würde. Der Besitz von Kulturinhalten kann vielmehr gerade deshalb versteckt adaptiv sein, weil er ange137

Durham (1991), S. 201 ff.; Voland (1996a), S. 177. Vgl. Teil I I A. 1. 139 Zu einer Revolutionären Erklärung des Zölibats noch Fn. 253 zu Teil IV. 140 Hierzu neuerdings Pérusse (1993), S. 268 ff.; auch schon Essock-Vitale (1984); Vining (1986). Ausführlich D. 1. 141 Vgl. (mit anderer Terminologie) Wickler (1988), S. 80 ff. 138

Β. Kulturevolution

165

sichts wechselnder Selektionsbedingungen die nötige Flexibilität gewährleistet. 142 Denn diese Bedingungen sind genau das Kennzeichen einer beschleunigten Kulturevolution. Somit bildet die Kulturevolution für sich selbst den besten Nährboden und macht sich zugleich für den Menschen zur schieren Überlebensbedingung. Diese einstweilen nur angedeuteten Umstände sprechen für eine erhebliche Ambivalenz vieler Kulturinhalte im Hinblick auf ihre Angepaßtheit, für eine ständige Präsenz von „mehr oder weniger" und „einerseits-andererseits". Bevor wir annehmen, daß ein konkretes soziokulturelles Verhalten fehlangepaßt ist, müssen wir versteckte Anpassungen abschichten. Folgende methodische Schritte sind angezeigt:143 (1) Zunächst ist die Liste angeblich fehlangepaßter und evolutionär unerklärlicher Merkmale zu differenzieren. Es geht nicht mehr um Schwangerschaftsverhütung, Adoption oder Zölibat insgesamt, sondern um Unterarten derselben. (2) Es kommt entscheidend auf eine genaue Beschreibung der soziokulturellen Bedingungen an, unter denen solche Merkmale stehen. Je nach Umfeld können eigentlich fehlangepaßte Merkmale (versteckt) angepaßt oder wenigstens durch angepaßte Merkmale kompensiert sein. Insbesondere ist stets festzustellen, ob genetische Verwandtschaftsbeziehungen vorliegen oder langfristig reziproke Rückzahlungen im Räume stehen. (3) Erst nach Ausschluß dieser Möglichkeiten können wir davon ausgehen, daß das Merkmal tatsächlich fehlangepaßt ist. Doch damit ist die Aufgabe nicht beendet: (4) Die Fehlangepaßtheit des einen ist häufig die Passung des anderen. Akteure profitieren davon, daß alle diejenigen, die dieselben Ressourcen wie sie erstreben, nicht zu ihrer genetischen Verwandtschaft gehören und nicht mit ihnen zusammenarbeiten, weniger fit sind als sie. Diesen Schritten folgt Teil IV, der sich mit konkreten Beispielen versteckt angepaßten Sozialverhaltens befaßt. Die gebotenen empirischen Studien hinsichtlich der Fitneßeffekte verschiedener Verhaltensweisen sind allerdings nicht leicht durchzuführen. Denn erstens fällt es schwer, eine Verhaltensweise überhaupt so zu isolieren, daß ceteris paribus-Aussagen möglich werden. Des weiteren sind Langzeitstudien erforderlich, die die Effekte über mehrere Generationen im Auge behalten. Schließlich wären die 142 Boyd/Richerson (1985), S. 7 f., 14 f., 288 f.; dies. (1995), S. 140; Brandon (1985); Erben (1988), S. 344, 358 f.; Durham (1978), S. 428 f.; Gould (1978), S. 348 f. und passim; E. Ο. Wilson (1975), S. 549. 143 Siehe Alexander (1979), S. 203 ff., mit einer ähnlichen Vorgehens weise.

166

Teil III: Theorie der Koevolution

geänderten Umstände moderner Lebenswelten zu berücksichtigen. In ihnen sind die Maßstäbe gegenüber früheren Epochen der menschlichen Gattungsgeschichte so sehr verschoben, daß Aussagen über den Passungsgrad von Verhaltensweisen grundsätzlich problematisch werden. 144 Was heutzutage als soziokulturell erstrebenswert gilt, hat sich, so ein vorläufiger Eindruck, gegenüber der Zeit vor der neolithischen Revolution erheblich gewandelt. Dann aber fragt sich - dies ist Gegenstand von Kapitel III. D. - , ob die kulturelle Evolution mittlerweile überhaupt noch etwas anderes als eine runaway selection darstellt. Einstweilen ist festzuhalten, daß Autoselektion, runaway selection und Fehlanpassung mögliche Ergebnisse der kulturellen Evolution sind, daß aber zugleich bei der empirischen Diagnose von angeblichen Fehlanpassungen und Passungen Vorsicht zu walten hat. Diese Einsichten müssen sozusagen vor der Klammer stehen, wenn im folgenden der enge Zusammenhang von natürlicher und kultureller Evolution ausgearbeitet wird. C. Koevolution „So haben sie mit dem Kopf und dem Mund Den Fortschritt der Menschheit geschaffen. Doch davon mal abgesehen und Bei Lichte betrachtet sind sie im Grund Noch immer die alten Affen. " (Erich Kästner)

1. Funktionsbezüge von Kultur zu Natur In diesem Kapitel sei die Frage gestellt, wie es sein kann, daß die Kulturevolution funktionale Bezüge zur biotischen Evolution aufweist. Solche Bezüge würden implizieren, daß Kultur gerade deshalb einen so wichtigen Stellenwert unter Menschen erhalten hat, weil kulturelles Verhalten genetisch reproduktionsförderlich ist oder zumindest in der Menschheitsgeschichte war. Hochkomplexe und nichtlineare Prozesse sind freilich zu erwarten. Kultur wurde ja nicht ab ovo geplant und von einigen in Szene gesetzt, sondern entwickelte sich, wie beschrieben, im großen und ganzen eigendynamisch. Wenn wir daher untersuchen wollen, inwiefern Kultur als Anpassung zu verstehen ist, dürfen wir nicht nur Lernvorgänge, sondern müssen auch die Kulturevolution einbeziehen, ihre Chancen und Risiken für differentiellen Generhalt. Soweit die frühe Soziobiologie dies unterlassen hat, hat sie einen wichtigen Faktor der Verhaltensentwicklung des Menschen unter144

Vgl. Engels (1989), S. 133, 204; Tooby/Cosmides (1990a, b).

. Kevolution

167

schätzt.145 Zwar führten in den frühen achtziger Jahren Charles Lumsden und Edward Wilson „epigenetische Regeln" in die Diskussion ein. 146 Diesen Regeln zufolge sollen sich genetische Programme in kulturelle Inhalte umsetzen. Zwar soll es sich nur um statistische Regeln handeln: „... the epigenetic rules can be used to predict cultural patterns in the form of ethnographic probability distribution." 147 Doch fehlt dem Modell weiterhin die Berücksichtigung eigenständiger kultureller Ursachen für Kultur. 148 Vielmehr sollen nach Lumsden/Wilson sowie nach Ruse/Wilson aus den epigenetischen Regeln sog. „bias rules" und aus ihnen ethnographische Verteilungskurven linear im Sinne einer „tight and formal connection" hervorgehen.149 Vorzugswürdig sind die Revolutionären oder „dual inheritance"Modelle wie diejenigen von Cavalli-Sforza und Feldman,150 von Boyd und Richerson 151, von Durham 152 und von Flinn. 153 Auf sie wird im folgenden zurückgegriffen. Die funktionalistische Methode führt uns wieder zu der Frage, wozu Kultur aus evolutionärer Sicht dient. In welchem funktionalen Bezug können kulturell bedeutsame Merkmale (also Kulturinhalte und organische bzw. Verhaltensmerkmale) zur biogenetischen Evolution stehen? Die Formulierung dieser Frage ist eigentlich ungenau: Die natürliche Auslese setzt nicht an der Kultur selbst, sondern an den Genen an. Die Gene programmieren und disponieren Organismen mit dem Effekt, daß diese dann Kulturinhalte verhaltensmäßig einsetzen. Da aber Kultur nur relevant wird, wenn 145

Kritik hieran bei Boyd/Richerson (1985), S. 12 ff. Kulturelle Unterschiede sollten nach der frühen Soziobiologie zu erheblichem Teil auf genetischen Variationen beruhen (Wilson (1978), S. 43). Siehe allerdings auch ders. (1979), S. 7: „Obviously, the alleles ... w i l l not prescribe different dialects or modes of dress. They are more likely to work measurable changes through their effects on learning modes and timing, cognitive and neuromuscular ability, and the personality traits most sensitive to hormonal mediation." 147 Lumsden/Wilson (1981), S. 357. Dazu auch Wuketits (1990), S. 78. 148 Zur Unterscheidung der Epigenesis-Theorie von der hier vertretenen Revolutionären Theorie siehe auch Borgerhoff Mulder/Mitchell (1994), S. 481 ff.; Durham (1991), S. 171 ff., sowie Holcomb I I I (1993), S. 138 ff., 141: „On epigenetic theory, human individuals have a direct genetic propensity to acquire some cultural traits rather than others ..., and these traits are subsequently acted on ... by natural selection and other evolutionary processes. On revolutionary theory, human individuals have no direct genetic basis for any specific cultural trait, but make choices among cultural practices as a partial product of inner motivations, motivations shaped by the course of natural evolution." 149 Ruse/Wilson (1986), S. 186. 150 Cavalli-Sforza/Feldman (1981). 151 Boyd/Richerson (1985). 152 Durham (1991). 153 Flinn (1997). 146

168

Teil III: Theorie der Koevolution

sich Menschen irgendwie durch ihr Verhalten auf sie beziehen, erscheint obige abgekürzte Redeweise zumindest nicht sinnverfälschend. Kulturell bedeutsame Merkmale können (mehr oder weniger) angepaßt oder fehlangepaßt oder (absolut) indifferent sein sowie individuell und kollektiv vorliegen. Individuelle Merkmale erfassen den Umgang des einzelnen mit seiner Umwelt. Kollektive Merkmale sind solche, die typischerweise bei mehreren Individuen und gegenüber je einzelnen Individuen verselbständigt auftreten. Individuelle Merkmale können kollektiviert werden, kollektive Merkmale vereinzeln. Die Kollektivierung ist nicht nur, aber auch durch eigendynamische, nichtlineare und autoselektive Vorgänge charakterisiert. Tabelle 5 zeigt einige Beispiele. Viele von ihnen sind umstritten. Der Streit reflektiert in der Regel mangelnde Klarheit über die Bedingungen von Koevolution. Müßig ist er, wenn ein Merkmal teilweise der einen Kategorie, teilweise einer anderen angehört. Dann mangelt es lediglich an einer differenzierten Abgrenzung des Merkmals. Sprache etwa gehört sowohl zur Kategorie „angepaßt; kollektiv" als auch zu „indifferent; kollektiv", je nachdem, ob man auf die zugrundeliegenden Strukturen oder auf die beliebige Benennung mit Vokabeln abstellt. Die mehr oder weniger gewandte Verwendung von Sprache durch den einzelnen schließlich wäre in der Spalte individueller Merkmale zu behandeln. Inwiefern jedoch Sprache überhaupt ein angepaßtes Merkmal ist, das Revolutionäre Wurzeln hat, bedarf unten noch der Klärung. Indifferente Merkmale sind unergiebig, weil sie keine Rückschlüsse auf Revolutionäre Wurzeln zulassen;154 fehlangepaßte Merkmale scheinen sogar gegen solche Wurzeln zu sprechen. Häufig fragt sich jedoch, ob ein auf den ersten Blick indifferentes Merkmal nicht doch irgendwelche Auswirkungen auf die Reproduktivität hat oder ob ein scheinbar fehlangepaßtes Merkmal nicht doch versteckt reproduktiv nützlich ist. Adoption beispielsweise stellt entgegen dem ersten Eindruck aus evolutionärer Sicht nur dann ein theoretisches Problem, wenn sie anonym und durch Paare erfolgt, die selbst Kinder haben könnten oder haben. Das aber sind seltene Fälle. 155 Fälle versteckter Adaptivität bilden demgegenüber den Hauptgegenstand der koevolutionären Verhaltenstheorie; sie sollen hier nicht vorweggenommen werden. 154 Dawkins (1989), Kap. 11, beschäftigt sich mit indifferenten Memen (Kulturinhalten). Bezüglich ihrer mahnt er eine darwinistische Theorie der Verbreitung an, in Analogie zur natürlichen Selektion. Die Möglichkeit einer solchen Analogie wird hier vorausgesetzt, doch interessiert mehr der homologe Zusammenhang zwischen den beiden Evolutionen. Vgl. auch Durham (1991), Kap. 7, S. 451 f. 155 Voland (1993), S. 242 m.w.N.

C. Koevolution

169

Tabelle 5

Beispiele für Passungskonsequenzen kulturell bedeutsamer Merkmale Passungskonsequenzen kulturell bedeutsamer Merkmale angepaßt

fehlangepaßt

individuell

-

Mutterliebe

-

Intelligenz

- effektive Grammatik, Syntax und Semantik von Sprache

- manuelle Begabung

- Gruppenzusammenhalt

-

Kooperationsbereitschaft

- homogene Sitten und Gebräuche

-

Führungsqualitäten

- Psychosen - übergroßes Mißtrauen oder unkritische Gutgläubigkeit

indifferent

kollektiv

- Inzesttabu

- mangelnde Konfliktbeilegungsmechanismen - unklare Hierarchien

- Zölibat

- Fettleibigkeit fördernde kulturelle Eßgewohnheiten

„Geschmäcker"

- Art der Moden und Gebräuche

2. Das tabula-rasa-Argument Wie verhalten sich die kulturelle und die biogenetische Evolution zueinander? So gut wie unstrittig ist, daß die organische Fähigkeit zu Kulturleistungen naturgegeben ist. Wir besitzen Intellekt, einen bestimmten Kehlkopf usw. und sind dadurch zum Bau von Werkzeugen, zu Sprache, zur Aufstellung von Normen usw. befähigt. Aus evolutionärer Sicht ist das keineswegs selbstverständlich. Wie wir bereits wissen, ist zwar Kultur, nicht aber Kulturevolution ein verbreitetes Phänomen. Warum wurde aus dem sozialen Lernen, das viele Tiere beherrschen, beim Menschen ein generationenübergreifender kumulativer Prozeß mit Eigendynamik? John Locke war, neben Burrhus F. Skinner, der prominenteste Vertreter der tabula-rasa-Theorie. 156 Ihr zufolge kommen Menschen ohne inhaltliche Vorprägung durch irgendwelche angeborenen „Ideen" zur Welt. Auch Locke war zwar der Auffassung, daß die Fähigkeit zum Erwerb von Erkenntnis-

156 Locke (1690/1975), Book I, ch. 2, 3. Locke war allerdings nicht der erste. Dieses zweifelhafte Verdienst dürfte Albertus Magnus und in etwa zeitgleich Thomas von Aquin gebühren.

170

Teil III: Theorie der Koevolution

inhalten angeboren ist. Er war jedoch überzeugt, daß Menschen mit Hilfe ihrer Kulturfähigkeit kulturelle Inhalte ohne jedes Zutun der Natur erzeugen. Lockes Argumente sind: (1) Fast keine Idee (kein Kulturinhalt) wird allgemein anerkannt oder befolgt; (2) Kinder haben die meisten Ideen noch nicht, sondern müssen sie erst lernen; (3) Ideen sind a) nützlich und müssen b) begründet werden. Alle drei Argumente sind schwach. Das erste ist eine empirisch unhaltbare Behauptung. Selbst wenn sie stimmte, würde aus ihr nicht folgen, daß Ideen nicht angeboren sein können. Das zweite Argument verkennt, daß Ideen beim Neugeborenen noch nicht vollentwikkelt vorzuliegen brauchen, aber trotzdem angelegt sein können. Das dritte Argument Lockes schließt evolutionäre Wurzeln in keiner Weise aus, ist also gar kein Argument für Lockes These. Gleichwohl ist es besonders interessant, weil bis heute verbreitet. Kultur werde nach Nützlichkeitskriterien i.w.S. ausgelesen, heißt es da, nach Kriterien der Schönheit, Eleganz, Einfachheit, Verständlichkeit, Effizienz. All dies seien kulturinterne Maßstäbe. Mit natürlicher Selektion hätten sie nichts zu tun. Ja es scheint fast zum Common sense zu gehören, daß die naturgegebene Palette menschlicher Verhaltensoptionen sich frei entwickele und frei gewählt werde, ohne irgendeine Beziehung zur natürlichen Evolution. Dementsprechend beruhe unser intentionales Verhalten auf Gründen, nicht oder nicht nur auf Ursachen - eine in der Philosophie (Erkenntnis- und Handlungstheorie) besonders stark gemachte Unterscheidung. Was aber der Begründung und Rechtfertigung unterliege, sei schon dadurch nur innerkulturell und innergesellschaftlich verständlich. Historisch gesehen hätten sich Menschen wie Tiere entwickelt. Aber nur, bis sie Kultur erfanden: Seitdem entwickele sich der Mensch aus seinem biologischen Erbe heraus und befinde sich längst außerhalb des Untersuchungsgegenstands der Evolutionstheo•

157

ne. Logisch ausgeschlossen ist die Theorie nicht. Träfe sie zu, müßten die Mechanismen, die über die Verbreitung der Kultur entscheiden, vollkommen unabhängig vom autoreproduktiven Programm der Gene ablaufen. Tatsächlich kann auch ein anpassungsförderlicher Kulturinhalt ohne Beteiligung genetischer Programme entstanden sein, sozusagen als zufälliger Nebeneffekt innerkultureller Prozesse, und theoretisch könnte das für alle anpassungsförderlichen Kulturinhalte gelten. 158 Auch weit verbreitete Kulturinhalte können durch konvergente innerkulturelle Anpassung an mehreren Orten entstanden, damit zueinander bloß analog sein. Doch ist wahrscheinlich, daß dies für alle oder auch nur die Mehrheit weit verbreiteter Kulturinhalte zutrifft? Die folgenden Abschnitte zeigen, warum nicht. 157 158

Die tabula-rasa-Theorie ist so verbreitet, daß sich Belegstellen verbieten. Durham (1991), S. 159 f.

C. Koevolution

3. Exkurs zu Willensfreiheit

171

und Sonderstatus des Menschen

Erhebliches Dunkel umfängt den Begriff der Freiheit, welche für den Menschen in Anspruch genommen wird. Gelegentlich wird der Begriff dazu benutzt, die Irrelevanz der Naturwissenschaft für das Verständnis menschlichen Verhaltens zu behaupten. Definiert wird er jedoch selten. Seine Vermittlung mit der materiellen Welt und ihren Gesetzen erfolgt praktisch nie, obwohl fast niemand (mehr) leugnet, daß auch der Geist irgendeine materielle Grundlage besitzen muß. 159 Begründet wird die Freiheitsannahme ebenfalls nicht. Sie bleibt eine bloße Petitio, eine emotionale Ablehnung wissenschaftlicher Ergebnisse aus dem Wunsch heraus, unreflektierte Vorstellungen am Leben zu halten. Ein typisches Beispiel bildet die Normentstehungstheorie des Rechtssoziologen Günther Dux. Ihr Ausgangspunkt ist die Autonomie des Menschen.160 Überraschenderweise setzt Dux Autonomie mit Selbstorganisation gleich. Letztere bezeichnet er als Kennzeichen höher entwickelter Arten, insbesondere des Menschen. Beide Begriffe, Autonomie und Selbstorganisation, bleiben bei Dux Undefiniert und unerläutert, als ob es sich um unproblematische Alltagskonzepte handelte. Nur Autonomie erlaube dem Menschen, heißt es dann, generalisierte und verbindliche normative Erwartungen zu kreieren. Eine Folge der Autonomie sei, daß der Vorgang der Anpassung beim Menschen bedeutungslos werde. Dux versteht unter Anpassung die genetische (?) Anlage von Verhaltensformen auf die Interaktion mit der Natur hin. Bei solchen Anpassungen verbleibe für das Lernen des 159

Diese Befunde treffen sogar auf einen naturwissenschaftlich informierten Autor wie Bayertz zu, der meint ((1993a), S. 30 ff.), wenn es Freiheit gebe, sei Evolutionstheorie für die Ethik überflüssig. Biologie wird jedoch nicht dadurch uninformativ, daß die Gene das Sozialverhalten nicht streng determinieren. Es gibt eine weite Grauzone von Semi-Determination, von „Nahelegung". Ob mit ihr ein emphatischer Begriff von Freiheit vereinbar ist, hängt von diesem Begriff ab. Der aber bleibt auch bei Bayertz unklar. Selbiges gilt für Fikentscher/McGuire (1994), S. 294 ff. Auch Markl ((1983 a), S. 84) geht mit dem Begriff der Freiheit wie mit einer Trumpfkarte um, die nur gezogen zu werden braucht, um evolutionsbiologische Erwägungen in ihre Schranken zu verweisen. Der Freiheitsbegriff selbst wird nicht analysiert, es bleibt bei dem Postulat von Wahlfreiheit. A n anderer Stelle erfolgt eine philosophisch unhaltbare und mit „Wahlfreiheit" unvereinbare Gleichsetzung von Freiheit mit Unvorhersagbarkeit (ebd., S. 73). - Vgl. auch die Position von Mohr (1987), S. 14 ff., der eine Vermittlung von introspektiver Freiheit, die jeder sich und anderen zuschreibt, und dem biologischen Weltbild für nicht möglich hält und eine Aporie konstatiert. Ob man sich damit zufrieden geben sollte, erscheint fraglich. Denn Freiheit - irgendeine Art von Zuschreibung tatsächlicher Freiheit, damit auch Verantwortlichkeit - scheint doch eine notwendige Voraussetzung für Moralität zu sein. Das wird auch von Evolutionstheoretikern anerkannt. Vgl. Lumsden/Wilson (1984), S. 249; Vogel (1986a), S. 496 f. 160

Dux (1980), S. 56 f.

172

Teil III: Theorie der Koevolution

Individuums nur die Konkretion instinktiver Verhaltensfixierungen. Deshalb folgert Dux: „Durch die Koppelung zwischen kognitiver Kompetenz und Verhaltenssteuerung erlangt das fortgeschrittenere Lebewesen nicht eine erhöhte Anpassung; es erlangt eine größere Autonomie." 1 6 1

Dux scheint sich vom Wortsinne von „Anpassung" in die Irre führen zu lassen. Autonomie, sogar im Sinne von Selbstorganisation, ist selbst eine Anpassung. Ihre Ausflüsse, Normen etwa, können ebenfalls Anpassungsfunktionen erfüllen. Daran ändert nichts, daß Normen beim Menschen, anders als die verwandten Phänomene bei Tieren, mit sprachlicher Kommunikation und reflexiver Diskussion einhergehen, wie Dux zu Recht betont. 162 Letztlich scheint Hintergrund der Argumentation einmal mehr der Isetta-Fehlschluß zu sein: Weil nur Menschen im Besitz einer „spezifisch humanen Kommunikations- und Interaktionsstruktur" seien, könnten nur sie entsprechende Normen besitzen.163 Daß typische Norminhalte auf eine längere Geschichte zurückblicken können, kommt dabei geradezu definitionsgemäß nicht in den Blick. So ist denn auch die Rede vom „Wegfall naturaler Verhaltensmuster" zugunsten eines „System(s) kultureller Verhaltensmuster". 164 Mit der Ablehnung des genetischen Determinismus allein wäre übrigens für die Willensfreiheit noch nicht viel gewonnen. Der Wille könnte ja auch durch andere Determinanten als die Gene bestimmt sein - Erziehung, pränatale Einflüsse etc. Auch dann wäre jeder einzelne Willensakt vollständig aus vorangegangenen Zuständen des Gehirns erklärbar. Wer sich mit Verve gegen die Skylla des biologischen Determinismus wendet, hat die Charybdis des Umweltdeterminismus noch nicht umschifft. Determinismus meint allgemein (also nicht im engeren Sinne eines „genetischen Determinismus") die These, daß alle Phänomene eine oder mehrere Ursachen haben müssen und durch diese vollständig bestimmt sind. Keine Lösung wäre es, hiergegen mit Karl Popper ins Feld zu führen, die Welt sei indeterministisch. Manche stützen sich auf neue Erkenntnisse der Physik wie die Quantenmechanik, um für den Menschen Freiräume der Freiheit zu bewahren. 165 Selbst wenn im menschlichen Gehirn indeterministische Prozesse stattfinden sollten, wäre das keine Hilfe für die Fürsprecher metaphysischer Freiheit. Denn Zufall ist sicherlich nicht das, was wir unter freier Handlungswahl verstehen. 166 Letztlich jedoch ist es unvermeid161 162 163 164 165

Ebd., S. 65. Ebd., S. 72 f. Ebd., S. 74. Zum Isetta-Fehlschluß Teil I I C. 6. Ebd., S. 75. So Popper (1966).

C. Koevolution

173

lieh, die Unbeweisbarkeit von Determinismus und Indeterminismus einzugestehen.167 Was wir wissen, ist, daß diverse Vorgänge in der Welt chaotisch ablaufen. Doch beseitigt dies nicht schon den Determinismus, auch nicht bereichsweise. Dieser Streit geht - man ist versucht zu sagen: glücklicherweise - am Problem vorbei. Denn selbst in einem deterministischen Weltbild wäre Freiheit nicht ausgeschlossen. Vielversprechenden Ansätzen zufolge lassen sich allgemeiner Determinismus und Freiheit vereinbaren. Dafür muß man allerdings damit aufhören, einen verschwommenen Alltagsbegriff von Freiheit Undefiniert vorauszusetzen. Man kann statt dessen, etwa in der Tradition Immanuel Kants, Freiheit als Übereinstimmung von Vernunft und Wille ansehen oder, in der Nachfolge David Humes, als freie Handlungen solche bezeichnen, die dem Willen des Akteurs entsprechen.168 Entscheidendes Kriterium ist dabei, die subjektive Selbstwahrnehmung des einzelnen, seine Introspektion, ernstzunehmen. Das „ich hätte auch anders können" ist daraus nicht hinwegzudenken.169 Diese Selbstwahrnehmung fließt auch in den Begriff der Wahlfreiheit ein. „Wahl" setzt voraus, daß vor dem geistigen Auge des Akteurs vor dessen Handeln eine Mehrzahl von Verhaltensoptionen bewußt wurde oder hätte bewußt werden können. Dagegen ist von einem neurobiologischen Standpunkt nichts einzuwenden. Zweifelhaft wäre es hingegen, ein metaphysisches Ich, irgend etwas vom Gehirn Geschiedenes, für die Wahl aus den Optionen für zuständig zu halten. Entsprechendes gilt von der Erfahrung der Kreativität. Auch sie ist in naturwissenschaftlichen Theorien gut aufgehoben. Spätestens mit der Erkenntnis der Chaotizität in der Natur ist für Neues (das freilich nur eine unerwartete Neukombination von Dagewesenem oder eine Verstärkung von bislang Unbedeutendem ist) breiter Raum. 170 Nichts in dem hier vorgelegten Ansatz zu einer Revolutionären Theorie widerspricht der menschlichen Selbstwahrnehmung. Die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit erlaubt es, die umfängliche Frage der Willensfreiheit für unsere Zwecke offen zu lassen. Jedenfalls griffe es zu kurz, mit einer Theorie genetischer Verhaltensdispositionen das Gespenst menschlicher Unfreiheit heraufziehen zu sehen.

166

Kitcher (1985), S. 406 ff.; Walter (1999). So schon grundlegend Carnap (1966), Kap. 20-22. 168 Nachweise bei Kitcher (1985), S. 412 ff.; (1993), S. 509 Fn. 23. - Vgl. auch Mackie (1977), Kap. 9, der selbst dem Determinismus zuneigt (wohl wissend, daß weder Determinismus, noch Indeterminismus empirisch bewiesen werden können), jedoch der Rede von freier Wahl des Verhaltens einen guten Sinn abgewinnt. 169 Vgl. Dreher (1987), S. 379 ff. 170 Walter (1999). 167

174

Teil III: Theorie der Koevolution

Sicher trifft folgendes zu: Der genetische Einfluß nimmt mit der Komplexität des Verhaltens ab. Das bedeutet zunächst, daß Menschen erweiterte Möglichkeiten für die Entfaltung ihrer biologischen Anlagen haben. Konkrete Limitationen für menschliches Verhalten können aus evolutionärer Sicht nicht festgemacht werden. 171 Richard Alexander schreibt: „The limits of human nature ... could be identified by discovering those things that we cannot learn. But there is a paradox in this, for to understand human nature would then be to know how to change it (...) ... the limits of human nature become will-o'-the-wisps that inevitably retreat ahead of our discoveries about them. (...) I regard it as illusionary to identify human behavior far outside present human capabilities (or interests) and then suggest that one has somehow said something significant about the limits of human nature .. . " 1 7 2

und fügt dem später hinzu: „The question is not one of whether or not humans can learn any and all things with equal ease; they cannot. It is not a question of whether or not they can learn new things; they can. (...) I f there are any truly unalterable limits to human social learning (and I am not willing to admit that there are), then I would still contend that (1) they have not been identified, and to do so would be extremely difficult, and (2) they are of little significance to anyone." 1 7 3

Die Suche nach den Grenzen menschlicher Verhaltensvariabilität führt nicht weiter. Wenn solche Grenzen bestehen, dann in solcher Ferne, daß sie für den Rechtsetzer, Rechtsanwender und im Alltag unerheblich sind, oder mit solcher Selbstverständlichkeit, daß sich niemand über sie hinwegzusetzen versuchen würde (Menschen können nicht aus eigener Kraft fliegen). 174 Vielmehr geht es vorliegend um Vevhaltensdispositionen} 75 Die Spannweite menschlicher Verhaltensoptionen ist so groß, daß wir Dinge tun können, die angelegten Neigungen widersprechen und die zu tun wir uns überwinden müssen. Doch Neigungen zuwiderzuhandeln ist kein Handeln zum Nulltarif, wie der Psychologe Norbert Bischof sagt. 176 Denn man stellt sich gegen einen evolutionär eingerasteten Vorgang, der mit der Zuwiderhandlung Kosten (hormonell gesteuertes Unwohlsein, Energieaufwand, ...) und/oder mit dem Unterlassen der Zuwiderhandlung Nutzen (Wohlgefühl, ...) verknüpft. 171

Vgl. Kitcher (1987), S. 63. Alexander (1979), S. 279 f. 173 Alexander (1987), S. 11. Ähnlich Alexander äußern sich auch andere Protagonisten der Evolutionstheorie des Verhaltens: Dawkins (1982), Kap. 2; Symons (1979). 174 Es kann also auch nicht Ziel einer evolutionstheoretisch inspirierten Rechtswissenschaft sein, Verhaltensgrenzen zu ermitteln. Anders Gruter (1976), S. 17 f., 75 f. 175 Dazu schon Teil I I B. 6. 176 Bischof (1985), S. 565 f. 172

C. Koevolution

175

Ein anderer gerne bemühter Topos ist die angebliche Sonderstellung des Menschen. Ob diese aus der größeren Verhaltensflexibilität folgt, erscheint zweifelhaft. Zwar lassen sich lange Listen mit typisch menschlichen Attributen erstellen. Doch enthalten sie durchweg Merkmale, die beim Menschen besonders stark oder schwach ausgeprägt sind, also graduelle Unterschiede - man vergleiche nochmals die Faktoren der Kulturevolution in B. 2. 1 7 7 So erheblich diese Unterschiede auch sein mögen, sie durchschneiden die evolutionäre Kontinuität nicht. Owen Jones, Rechtslehrer an der Arizona State University, gibt zu bedenken: „ . . . we still, even i f more from unconscious habit than from decision, often subscribe to the pre-Darwinian myths that Homo sapiens sapiens differs from other animals in kind, not just in degree, and that the influence of human mind on behavior means that all human behavior comes from mind - socially constructed by the summed experiences an individual encounters in a single lifetime. Modern behavioral science has punctured these myths, exposing the social constructivist behavioral model as importantly incomplete." 1 7 8

4. Die genetische Beeinflussung kultureller

Inhalte

a) Evolutionäre Erfordernisse in der Koevolution Ein evolutionstheoretischer Grundsatz dürfte unmittelbar einleuchten: Genetische Programme sind für Kulturinhalte nur dann mitverantwortlich, wenn eine genetische Beeinflussung adaptive Vorteile gegenüber bloßer Freiverspricht. Genau dies setzung beliebigen Verhaltens (bloßer Kulturfähigkeit) ist der Fall: Fähigkeiten, die nicht im Sinne einer besseren Anpassung genutzt würden, verschwänden irgendwann. Denn sie verursachten nur Kosten, keinen Nutzen. 179 Die natürliche Auslese mußte genetische Programme prämieren, die die adaptive Nutzung der entstandenen Fähigkeiten gewährleisteten: Programme z.B., die dem Organismus Energie sparen und an den richtigen Stellen und bei den richtigen Gelegenheiten zum Einsatz bringen. Dabei besteht allerdings ein „Zielkonflikt" zwischen der Gewährleistung der adaptiven Nutzung einerseits und der Flexibilisierung des Verhaltens andererseits. Der Konflikt wurde von der Evolution dahingehend gelöst, daß Fähigkeiten angelegt wurden, die gerade unter wechselnden Umwelt177 Siehe etwa die 30 Attribute enthaltende Liste bei Alexander (1979), S. 209 ff., sowie B. G. Campbell (1995). 178 O. Jones (1997), S. 205. 179 Vgl. Harms (1996), S. 365: „ . . . increased specificity in phenotypic structure reduces the random fluctuations in genetic fitness caused by unguided developmental variation, and is thus evolutionarily advantageous. (...) This phenotypic homeostasis provides the first clue to the biological basis of culture."

176

Teil III: Theorie der Koevolution

bedingungen die jeweils angepaßtesten Lösungen herauszudestillieren vermögen. Flexibilität und Disponierung schließen sich nicht per se aus, sondern müssen umweltgerecht optimiert und ausgeglichen werden. 180 Der Wissenschaftsphilosoph Michael Ruse formuliert: „Potential for rapid, innovative change may be highly adaptive. To have no safeguards is biologically stupid." 181 Darin schlägt sich nieder, daß Gene für ihre Verbreitung von Organismen abhängig sind. Diejenigen genetischen Programme setzen sich durch, die Organismen so organisieren, daß diese unter jeweiligen Umweltbedingungen möglichst gut reproduzieren können. Und zu den Umweltbedingungen zählt beim Menschen die Kultur, die - da Anpassung ja keine Einbahnstraße ist - mitoptimiert werden muß. 182 Auszugehen ist somit von einem positiven Selektionsdruck für genetische Kombinationen, die Lebensraum-angemessenes Verhalten nahelegen. Das heißt aber auch: Weil Lebensräume verschieden sind, sind Kulturen verschieden. Genetisch können die Menschen verschiedener Kulturen identisch sein. 183 Die Verschiedenheit der Kulturen spielt sich im Rahmen genetischer Reaktionsnormen ab. So kommt es etwa dazu, daß mit einem (fast) identischen Genom die !Kung in der Kalahari und die Inuit in der Arktis überleben, jeweils dank der soziokulturellen Mittel, mit denen sie ihre lebensfeindliche Umwelt verändern. 184 Aus einem weiteren Grund ist die Entstehung bloßer Kulturfähigkeit nicht zu erwarten. Kulturfähigkeit ist eine abstrakte Größe. Leben kommt 180

Näher Wesche (1998a), S. 345 f. Ruse (1986), S. 142. Siehe auch dens. (1978), S. 363 f. 182 m a n gjgj^ greift auch hier wieder das Konzept der Genselektion durch. Lorenz' Position, wonach die Kulturentwicklung den Arterhalt sichern müsse, kann nicht überzeugen. Vgl. Konrad Lorenz (1983), S. 74: „Unsere Spezies hat, wie ich glaube, einen eingebauten Mechanismus, dessen lebenserhaltende Wirkung darin besteht, kulturelle Strukturveränderungen möglich zu machen, ohne die gesamte, in der Kulturtradition enthaltene Information dadurch zu gefährden. Ähnlich wie die Mutationsrate genau bemessen sein muß, um die Stammesentwicklung einer Spezies nicht zu gefährden, so muß auch in jeder Kultur das Maß möglicher Veränderungen begrenzt sein." 183 Alexander (1979) und (1987), passim; Boyd/Richerson (1985); Durham (1991), Kap. 7; Henrich/Boyd (1998); Irons (1979a); Voland (1993), S. 12. Dazu auch Holcomb I I I (1993), S. 272 f. Man behalte im Auge, daß es hier um Unterschiede zwischen ganzen Kulturen geht. Individuelle Unterschiede zwischen Menschen derselben oder verschiedener Kulturen können ggf. mit Unterschieden in der individuellen Sozialisation und i m Genom erklärt werden. Genetische Unterschiede spielen nur deshalb keine oder nur eine untergeordnete Rolle in der Erklärung der Kulturdifferenzen, weil sie in der Gesellschaft statistisch ausgemittelt werden. Im individuellen Verhalten schlagen sie sich gleichwohl nieder (R. Wright (1994), Kap. 12). 181

184 Boyd/Richerson (1996), S. 80. Der Stamm der !Kung wird mit Ausrufungszeichen geschrieben, um den Schnalzlaut der !Kung-Sprache wiederzugeben.

C. Koevolution

177

ihr nur zu, wenn sie sich in tatsächliches Verhalten umsetzt. Dieses ist kulturelles Verhalten, die Grundlage von Kultur. Es kann gar nicht sein, daß Kulturfähigkeit abstrakt evoluiert, ohne daß zugleich ihre Auswirkungen in Form des konkreten Kulturverhaltens der Auslese unterworfen wären. 185 Freilich sind Funktionsänderungen nicht ausgeschlossen. Organische Fähigkeiten, die heute zur Produktion von Kultur verwendet werden, könnten ursprünglich zu anderen evolutionären Zwecken entstanden sein. Doch zu welchen? Intelligenz und Kreativität, die zentralen mentalen Voraussetzungen für die Kulturevolution, verursachen dem Individuum hohe Kosten in Form von Energieeinsatz. Zugleich eignen sie sich zu nichts anderem als zur soziokulturellen Ausdifferenzierung von Verhalten: zur Fortführung des evolutionären Wettbewerbs mit anderen Mitteln. Wegen dieser Funktionsbindung kulturellen Verhaltens sind funktionsgewährleistende Genprogramme zu erwarten. Da Kultur nur durch Verhalten aktualisiert wird, vermittelt eben das Verhalten eine Tier-Mensch-Kontinuität. Die Evolution hört nie auf. Natürliche Auslese wählt zu jedem Zeitpunkt Verhaltensmerkmale danach aus, ob sie angepaßt sind, auch wenn diese Auswahl nicht immer oder unmittelbar im Verschwinden oder in der Verbreitung der Merkmale resultieren muß. Da jede grundsätzliche Verhaltensänderung, von geänderten genetischen Programmen disponiert, diesem Test unterliegt, wäre der „kulturelle Sprung aus der Evolution heraus" ein ahistorischer Mythos. Aufgrund der Weiterentwicklung von den Tieren über nichtmenschliche Primaten zu den Menschen kann auch bei komplexem Verhalten immer noch eine bedeutende genetische Disposition vorliegen. Kulturelle Praktiken lassen sich nur dann vollständig verstehen, wenn man den Entstehungszusammenhang von kulturell bedeutsamen Merkmalen und natürlicher Auslese einbezieht.186 Genau dies ist das Kennzeichen einer koevolutionären Theorie. 1* 1 Ihr zufolge ist die Kulturfähigkeit des Menschen nicht neutral, sondern aufgrund evolutionärer Anpassungen „gerichtet", „tendenziös".188 Der Entstehungszusammenhang wird hingegen vom common sense vernachlässigt. Das ist nicht 185

Ähnlich Vogel/Voland (1988), S. 110. Vgl. Holcomb I I I (1993), S. 262. 187 Zum Begriff der Koe volution schon I. B. Zur Theorie der Koevolution siehe Boyd/Richerson (1985); Brandon (1985); Cavalli-Sforza/Feldman (1981); Chagnon/ Irons (Hg.) (1979); Diettrich (1989); Durham (1978), (1991); Engelhardt/Callahan (Hg.) (1978); Fox (1989); Irons (1979a, b); Klein (1989); Laland et al. (1995); Lopreato (1984); Lumsden/Gushurst (1985); Lumsden/Wilson (1981), (1983); Sober (1992a); Trivers (1985); Vogel (1989b); Vogel/Voland (1988), Wesson/Williams (1995). Instruktiv ist auch die Ausgabe 10 (1989) von Ethology and Sociobiology, die der Frage der Koevolution gewidmet ist. 188 M i t einer Formel des Wissenschaftstheoretikers William Harms ((1996), S. 367): „phenotypic variability as a programmed response to external stimulation". 186

12 Wesche

178

Teil III: Theorie der Koevolution

anders zu erwarten, entzieht sich dieser Zusammenhang doch unserer unmittelbaren Wahrnehmung, ja maskiert sich teilweise durch die Adaptivität unbewußter Steuerung. Der Einfluß der Gene im Rahmen des Entstehungszusammenhangs befindet sich in einem absteigenden Kontinuum vom Extrem völliger Festlegung (wie bei der Augenfarbe) bis zu völliger Freisetzung (wie beim Inhalt wechselnder gesellschaftlicher Moden). Dem entspricht die graduelle Zurückdrängung genetischer Determination in der Evolutionsgeschichte. Diese Entwicklung kann man sich als nacheinander einsetzende und aufeinander wirkende Evolutionsvorgänge vorstellen, wobei die früheren Vorgänge fortwirken. Dieses Fortwirken aller Evolutionsprozessse wird häufig übersehen. 189 Der Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky betont deswegen zu Recht: „Inorganic, organic, and human evolution occur in different dimensions, or on different levels, of the evolutionary development of the universe. The changes in the organic evolution are more rapid than in the inorganic. Nevertheless, the inorganic evolution did not come to a halt with the appearance of life; organic evolution is superimposed on the inorganic. Biological evolution of mankind is slower than the cultural evolution; nevertheless, biological changes did not cease when culture emerged; cultural evolution is superimposed on the biological and the inorganic. The evolutionary changes in different dimensions are connected by feedback relationships." 190

b) Ontogenese, Phylogenese, Lernfilter, Denkmodule und Daumenregeln Wie ist die inhaltliche Ausgestaltung der Kultur und des Verhaltens seitens der genetischen Programme realisiert? Wie kann es vor sich gehen, daß die Gene einerseits große Flexibilität lassen, andererseits diese vorstrukturieren? Dies ist zuvörderst aus dem Blickwinkel der evolutionären (Entwicklungs-)Psychologie zu verstehen.191 Denn das entscheidende Bindeglied zwischen Genen und Verhalten ist die Ontogenese, die Individualentwicklung des Organismus. 192

Vgl. auch Konrad Lorenz (1973/74), Bd. 2, S. 156 ff.; Vollmer (1997), S. 65 bzgl. Normensystemen. 189 Etwa von Oeser (1990) (vgl. v.a. S. 136 ff.) und Teuchert-Noodt/Schmitz (1997). 190 Dobzhansky (1965), S. 212. 191 Vgl. zur evolutionären (Entwicklungs-)Psychologie die Nachweise in Fn. 267 zu Teil I. 192 Zum Problem der gegenseitigen Verschränkung von Ontogenese und Phylogenese allgemein G. B. Müller (1994); Wieser (1994), S. 36 f. m.w.N.

C. Koevolution

179

Denkt man über den Zusammenhang zwischen Phylo- und Ontogenese nach, erinnert man sich vielleicht an Ernst Haeckels „biogenetisches Grundgesetz". Diesem zufolge soll die Ontogenese eine verkürzte Wiederholung der Phylogenese sein. Stanley Hall vertritt ein „psychogenetisches Grundgesetz", demzufolge die psychische Ontogenese eine Replikation der Kulturgeschichte der Menschheit sei. 193 Diese Thesen sind sehr zweifelhaft, können aber hier dahinstehen. Denn es soll untersucht werden, wie es den phylogenetisch entstandenen Genen möglich ist, Ontogenesen zu beeinflussen. Im Vordergrund steht also weder die Reihenfolge des Erlernens im Vergleich zur Aufeinanderfolge in der Kulturentwicklung, noch die Vollständigkeit der Replikation. Die Ontogenese ist eine Entfaltung von Anlagen durch Lernen. Wo offene genetische Programme im Sinne E. Mayrs auf ihre Verwirklichung warten, ist Umwelteinfluß erforderlich. Könnte es nun nicht sein, daß der kulturelle Einfluß genau das Entgegengesetzte von dem bewirkt, was die genetischen Programme eigentlich „vorgesehen" haben? Hier liegt der Ansatzpunkt für all jene, die die besonders lang andauernde kindliche Ontogenese (Neotonie) als Schlüssel zur unbegrenzten Autonomie des Menschen ansehen.194 Aus Sicht der evolutionären Entwicklungspsychologie ergibt sich hingegen folgendes Bild: 1 9 5 Nicht nur die Lernfähigkeit in sensiblen Phasen der Ontogenese, sondern auch diverse Lernfilter sind ein Produkt der Phylogenese des Menschen. Lernfilter beeinflussen die Leichtigkeit und Nachhaltigkeit, mit der jeweilige angebotene Lerninhalte verinnerlicht und in das Verhaltensrepertoire aufgenommen werden. Dazu kommen nach Auffassung der evolutionären Psychologen John Tooby und Leda Cosmides Denkmodule. Diese ermöglichen beim Kind wie beim Erwachsenen dank Spezialisierung bestimmte gedankliche Leistungen besser als andere. Nicht auf eine bestimmte Lokalisierung im Gehirn kommt es dabei an, sondern auf leistungsfähige Verschaltungen. Schließlich ist auf emotional-kognitive „Daumenregeln" zu verweisen. Sie versorgen den Akteur in Handlungssituationen mit Abschätzungen und konkreten Neigungen hinsichtlich einzuschlagender Verhaltensstrategien. Ihre Stärke liegt in ihrer Schnelligkeit und durchschnittlich hohen Adaptivität der Abschätzung, weniger in der absolut genauen Abstimmung der Verhaltensweise auf die individuelle Situation. Die Filter, Module und Regeln bringen kognitives und emotionales 193

Quellen bei Eckensberger/Breit (1997), S. 261 Fn. 4. Vgl. dazu Lampe (1997), S. 14 f. 195 Cosmides/Tooby (1992); R. H. Frank (1988); Henrich/Boyd (1998); Kagan (1984); Markl (1983a), S. 72 f.; Matt Ridley (1997), S. 127 ff., 141 ff.; Tooby/Cosmides (1989), (1992); siehe aus kriminologischer Sicht J. Q. Wilson (1993), aus neurologischer Sicht Damasio (1995). 194

12*

180

Teil III: Theorie der Koevolution

„Wissen" zur Geltung, das in jedem Gehirn, aus der Phylogenese stammend, schon vorhanden ist, wenn ontogenetisches Lernen überhaupt beginnt: „ . . . humans have a faculty of social cognition consisting of a rich collection of dedicated, functionally specialized, interrelated modules (i.e., functional isolable subunits, mechanisms, mental organs, etc.), organized to collectively guide thought and behavior with respect to the evolutionarily recurrent adaptive problems posed by the social w o r l d . " 1 9 6

Diese Hypothese steht zwar im Gegensatz zu der Anschauung, Menschen besäßen einen inhaltsunabhängigen Denkapparat, der im Laufe der Ontogenese noch mit sämtlichem Wissen und Neigungen gefüllt werden muß. Die evolutionspsychologische Hypothese leugnet aber nicht die menschliche Fähigkeit zum freien Denken mit Mitteln der Logik, Induktion usw. Sie postuliert nur spezialisierte psychische Mechanismen für spezifische fitneßrelevante Verhaltensprobleme. Daß es sich dabei um alte Probleme des Menschen und seiner Vorfahren handeln muß, folgt aus der Langsamkeit phylogenetischer Veränderung. Nicht jedoch folgt daraus, daß diese Probleme nicht mehr bestünden. Wie Tooby und Cosmides meinen, sind es vor allem Spracherwerb, sozialer Austausch, Koalitionsbildung, Gefühlserkennung bei anderen, Elternverhalten, Geschlechterverhältnis und Paarbildung, die aufgrund ihrer phylogenetisch und individualbiographisch wiederkehrenden Struktur zur Bildung von Denkmodulen, Daumenregeln und Lernfiltern geführt haben.197 Diese beruhen sachlich auf einer grundlegenden Voraussetzung: Ressourcen sind so knapp wie unabdingbar. Der Entwicklungspsychologe William Charlesworth betont, daß die ersten Erfahrungen des Neugeborenen damit zu tun hätten, wie vorteilhaft oder nachteilig die Welt für es sei. 198 Daraus folge eine Reihe von Postulaten für die Entwicklungsaufgaben des heranwachsenden Kindes. 199 Die erste Aufgabe sei es, eigennützig vitale Bedürfnisse zu befriedigen. Das geschehe durch den Erwerb von Ressourcen jeder Art, also soziale, informale und materiale Ressourcen. Frühe Emotionen bezögen sich auf Mangelzustände. So bildeten sich insbesondere Ärger und Freude (bei Beseitigung des Mangels) als die unmittelbarsten Ausdrücke der Unlust/Lust-Dichotomie. Die zweite Aufgabe liege in der Erkenntnis, daß auch andere Personen eigennützig agierten und just dieselben Ressourcen beanspruchten. Als dritte Aufgabe müsse das Kind lernen, daß andere, 196 Cosmides/Tooby (1992), S. 163., jeweils m.w.N. zur entwicklungspsychologischen Literatur. 197 Ebd., S. 167, 210 f. 198 Charlesworth (1992), S. 262. Hinzuzufügen wäre: Schon die Erfahrungen im Mutterleib haben damit zu tun. 199 Ebd., S. 269 ff.

C. Koevolution

181

in ihrer Funktion als Ressource, sich ihm entzögen, wenn es sich ihnen gegenüber nicht großzügig verhalte. Diese Aufgaben seien für alle Kinder dieselben. Es nimmt insoweit nicht Wunder, daß sich ontogenetisch - also im Zuge der Individualentwicklung! - universal ähnliche Verhaltensweisen herausbilden. Denn alle Ontogenesen stehen in Interaktion mit denselben oder ganz ähnlichen Restriktionen, unter denen die hominide Phylogenese seit jeher gestanden hat. 200 Deshalb sind Kinder für den Umgang mit diesen Restriktionen genetisch sinnvoll vorstrukturiert. Wie die genannten Entwicklungsaufgaben zeigen, gehört zu den wichtigsten Vorstrukturierungen die Reziprozität. Ontogenetische Filter erlauben die schnelle Kalkulation von Vor- und Nachteilen und von regelgerechtem Verhalten in Sozialbeziehungen. Dies konnten Cosmides und Tooby experimentell und in einer Metastudie nachweisen, die auf der bekannten Auswahlaufgabe Wasons (Wason selection task) beruhte: „ . . . instead of culture manufacturing the psychology of social exchange de novo, content-specific, evolved psychologies constitute the building blocks out of which cultures themselves are manufactured .. . " 2 0 1

Weitere Untersuchungen sprechen dafür, daß Menschen reziproke Beziehungen unterhalten, auch wenn eine streng rationale Nutzenabwägung im konkreten Fall einmal dagegen sprechen sollte. 202 Die entsprechende Heuristik schützt uns davor, kurzfristigen Gewinn zu Lasten langfristigen Gewinns zu realisieren, wenn wir uns damit typischerweise selbst schaden würden. Ohne hier eine Kategorisierung von Filtern versuchen zu wollen, 203 ist doch ein Typus von Filter von den bisher genannten zu unterscheiden. Es handelt sich um weniger konkrete, dafür inhaltsoffene Filter, die nicht vorgeben, was, sondern von wem man am besten lernt: Imitiere deine Eltern und nahen Verwandten! Imitiere Erfolgreiche! Der adaptive Vorteil solcher Imitationsfilter liegt darin, daß sie es dem Individuum erlauben, sich auf spezifische Umwelten einzustellen. Sie legen dem Individuum nahe, von denen zu lernen, die in der jeweiligen Umwelt erfahren sind. Zugleich verhindern sie, daß das Individuum leichthin von denen lernt, die mit ihm im (genetischen) Interessengegensatz stehen. Die Filter mildern mithin den evolutionären Zielkonflikt zwischen Flexibilität einerseits und Verhinderung von Beliebigkeit andererseits. 200

Eibl-Eibesfeldt (2001). Cosmides/Tooby (1992), S. 210. Zu S. 183 ff. 202 Kiyonari et al. (2000). 203 Siehe dazu Flinn/Alexander (1982). 201

Experiment

und Metastudie

ebd.,

182

Teil III: Theorie der Koevolution

Gleichzeitig sind Imitationsfilter der Methode von Versuch und Irrtum überlegen, die individuelles Lernen gegenüber sozialem Lernen kennzeichnet. 204 Robert Boyd und Peter Richerson führen aus: „Individual learning of this kind can be costly and error prone. Learning trials occupy time and energy that could be allocated to other components of fitness, and may entail a considerable risk to the individual as well. (...) Individuals may fail to discover an adaptive behavior, or a maladaptive one may be retained because it was reinforced by chance. When these costs are important, selection ought to favor shortcuts to learning - ways that an organism can achieve phenotypic flexibility without paying the full cost of learning." 2 0 5

Imitation der Eltern, anderer Bezugspersonen und erfolgreicher Mitmenschen ist eine „Abkürzung" auf dem Weg zu individueller Fitneß. 206 Sie verzichtet auf eine eingehende Bewertung des Nutzens der imitierten Verhaltensweise und vertraut statt dessen auf die Verläßlichkeit der imitierten Person. Die wenigsten müssen erst einen heißen Herd anfassen, bevor sie lernen, Abstand zu halten. Kinder wachsen wie selbstverständlich in komplexe Fähigkeiten hinein, während Erwachsene, die von entsprechendem Modellernen weniger leicht profitieren konnten, das notwendige Wissen nur noch schwer erwerben können. Menschen fügen sich auch in Wertordnungen höchst bereitwillig ein, eine Tatsache, die bislang kaum als Fitneßvorteil wahrgenommen wurde, aber zumindest ursprünglich als solcher zu zählen war: - Sie übernehmen die Meinung der Mehrheit, unabhängig davon, ob diese ihren eigenen Erfahrungen entspricht, und erst recht dann, wenn sie keine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen haben. Auf derselben Linie liegt die Einordnung in die Bräuche und Meinungen einer festen Gruppe. Hier spricht man vom „principle of social proof' 2 0 7 oder von „frequency-dependent bias". 208 - Vorbilder bringen ihre Anhänger dazu, alle möglichen Merkmale zu imitieren, die mit den Ursachen der Attraktivität der Vorbilder gar nichts zu tun haben („indirect bias"). 209 204 205

Vgl. Goodenough (1995), S. 292 f. Boyd/Richerson (1985), S. 14. Siehe auch ebd., S. 85 f. sowie Henrich/Boyd

(1998). 206

Siehe neben Boyd/Richerson auch Flinn (1997); Simon (1990). - Die grundsätzliche Passung von „blinder" Imitation ist vielleicht leichter zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bereits Tiere, und nicht nur Primaten, solches Verhalten an den Tag legen. Wie Frans de Waal berichtet, orientieren Weibchen vieler Tierarten die Wahl ihres Geschlechtspartners an der Wahl, die andere Weibchen zuvor getroffen haben. (1996), S. 71 ff. 207 Axelrod (1986), S. 1106 f. 208 Boyd/Richerson (1985), S. 286 ff. Zu einem Anwendungsbeispiel (autokinetischer Effekt) noch Teil I V C. 2.

C. Koevolution

183

- Auch Ähnlichkeiten als solche, gleich ob in Äußerlichkeiten, Sprechweise oder Humor, können entscheidende Signale sein. Sie bringen Interaktionen - allen voran die Partnerwahl - in Gang, die wiederum zu größerer Ähnlichkeit zwischen den Beteiligten führen („principle of similarity"). 2 1 0 - Konformismus folgt daraus, daß Individuen auf ihre Einordnung in Gruppen angewiesen sind. 211 Zur Vermeidung von Ausgrenzung passen sie sich lieber zuviel als zuwenig an. Stehen ihnen aufgrund persönlicher Voraussetzungen nur beschränkte individuelle Entfaltungsmöglichkeiten offen, sind sie um so mehr auf die Teilhabe an Gruppenvorteilen fixiert. 212 - Das Gegenstück zum Konformismus ist die Gruppenabgrenzung. 213 Kultur dient nicht zuletzt dem Zweck, Unterscheidbarkeiten zu schaffen, individuelle Zuordnungsmöglichkeiten für Individuen, deren Kooperationsgewinne und Ressourcen. - Imitation bildet schließlich - als unkritische Empfänglichkeit von Kindern für Prägungen seitens ihrer Bezugspersonen - auch die Grundlage des Gewissens. Zusammenfassend läßt sich sagen: Imitation, kombiniert mit generationenübergreifender Tradition, ergibt sozial-kognitives Lernen, eine kollektive Ansammlung adaptiven Verhaltenswissens. Offene genetische Programme bzw. genetische Dispositionen schaffen Möglichkeiten und Neigungen für bestimmte Bandbreiten von Verhalten. Die Möglichkeiten und Neigungen werden ontogenetisch zur Ausbildung gebracht, wobei individuelle Sozialisationsbedingungen zu einer Feinabstimmung der Verhaltensmuster auf die jeweilige Umwelt führen. Erziehung reduziert die Klasse derjenigen Verhaltensweisen, die im Rahmen der genetischen Reaktionsnorm liegen. In jedem einzelnen Kulturinhalt und jeder Verhaltensweise des Menschen 209 Ebd., S. 286 ff.; ausführlich Kap. 7 und 8 m.w.N. Grundlegend zu diesem Effekt sozialen Lernens Bandura/Walters (1963), S. 107. 210 Axelrod (1997b), S. 204 f. Zum adaptiven Gehalt von Humor siehe Alexander (1986b). 211 Vgl. Goodenough (1995), S. 300 f.; Henrich/Boyd (1998). 212 Kritisch Sober (1992a), S. 27 ff. Sober meint, die Möglichkeit von „biased transmission" (also von Kulturübertragung ohne aktuelle Prüfung der Adaptivität des Kulturinhalts) zeige, daß kulturelle Transmissionsmechanismen Kriterien darwinischer Fitneß außer Kraft setzten. Manche fremdnützige Verhaltensweisen würden etwa gewählt, weil andere sich genauso verhielten, selbst wenn die Verhaltensweise maladaptiv ist. Dabei übersieht Sober, daß der Konformismus, der sich darin niederschlägt, selbst wieder regelmäßig angepaßt ist. Allerdings trifft es zu, wenn Sober feststellt (S. 30): „The prospects for altruism to evolve are enhanced when culture is included in the model." - Ähnlich Sober auch Axelrod (1997b), S. 223 f. 213 Goodenough (1995), S. 301 f.; Henrich/Boyd (1998).

184

Teil III: Theorie der Koevolution

schlägt sich nicht nur ein einzelnes genetisches Programm und ein einzelner Lernfilter nieder, sondern eine Vielzahl derselben. Es handelt sich um einen Fall von „Kooperation" zwischen Genen und zwischen Genen und Umwelt bzw. Kultur. An eines sei mit Nachdruck erinnert: Nicht konkretes Individualverhalten ist eine Folge genetischer Programmierung, sondern die Disposition dazu, unter jeweiligen Umweltbedingungen bestimmte Lern-, Neigungs- oder Verhaltenstendenzen herauszubilden, 214 Keine Theorie, sei sie sozial- oder naturwissenschaftlich oder beides, kann tatsächliches menschliches Verhalten im Einzelfall oder einzelne Kulturinhalte phänomenal genau vorhersagen. Hier greift der beschriebene Individualvorbehalt ein. Er gilt auch für die Ökonomie bzw. das ökonomische Modell des Verhaltens: Dieses bezieht sich auf Gruppen, nicht auf den einzelnen Akteur. Auch die Spieltheorie sucht nach Theorien, „which are devised to explain imagined patterns of behavior; but which are not falsified by inaccurate predictions of actual behavior , because variations in initial conditions, and disturbing causes, may always interfere." 215

c) Die durchschnittliche Passung von Kultur und Sprache Wir wissen nun, welcher Mittel sich die genetische Evolution bedient, um die menschliche Verhaltensflexibilität zu strukturieren. Blicken wir nun von der Seite der Kultur. Verhindert die Autonomie der Kultur, ihre Autoselektivität nicht die evolutionäre Ausrichtung der Ontogenesen auf Passung? Der Biologe Hubert Markl stellt fest: „Die angeborene Natur des Menschen mag ihm große, fast völlige Verhaltensfreiheit geben, die gleiche Natur entfernt aber mit der Zeit regelmäßig jene Genotypen, die von dieser Freiheit einen Gebrauch machen, der dem Vermehrungserfolg ihrer Gene allzu nachteilig i s t . " 2 1 6

Genau dieser Effekt ist aber überhaupt nur verständlich, wenn zwischen dem Genotyp und der Art des Freiheitsgebrauchs eine Korrelation besteht: Gerade weil bestimmte Arten des Umgangs mit Freiheit auf genetische Dispositionen zurückzuführen sind, fällt es auch im Sinne größerer oder gerin214 Vgl. hier nur Durham (1991), S. 155. Auf S. 199 ff. spricht Durham in Anlehnung an Pugh (1977), S. 54 ff., bezüglich der psychologischen Dispositionen von „primary values" im Unterschied zu den „secondary values", die sich erst in und aufgrund der kulturellen Evolution herausbilden. 215 So Friedman (1996), S. 16 (kursiv i.O.). Vgl. auch Baird et al. (1994), S. 268; Duxbury (1997), S. 12 f.; Finnis (1989), S. 97 ff.; J. Frank (1998), S. 90; Hammer/Keller (1997), S. 178 („eine Vorhersage für ein einzelnes Individuum käme an Verläßlichkeit einer Wahrsage gleich"). 216 Markl (1983b), S. 48. Ähnlich Erben (1988), S. 351 f.

C. Koevolution

185

gerer Passung auf die genetischen Programme zurück, wie sich das Individuum verhält. Verhält es sich fehlangepaßt, erfährt das zugrundeliegende Programm Negativselektion. William Durham argumentiert: „What was presumably genetically selected for in our ancestors was an increasing ability to modify phenotypes through learning and experience, but it was selected for only because those ancestors persistently used that ability to enhance their survival and reproduction. The capacity for culture, one could say, continued to evolve not merely because it enabled superior adaptations, but also because it was used to produce superior adaptations." 217

Und Christian Vogel bemerkt: „Kulturen erscheinen insgesamt auch i m evolutionsbiologischen Sinne adaptiv, d.h. sie optimieren mehr oder weniger erfolgreich im Hinblick auf biologische Überlebens- und Reproduktionsvorteile, weil sie ständig entsprechenden Selektionsdrücken unterliegen." 218

Dahinter steckt die Überlegung, daß es eine „naturfreie Zone", einen Freiraum für die Kultur oder für einzelne Individuen, in dem sie ohne Wettbewerb zwischen Individuen und ohne Ressourcenknappheit hätten evoluieren können, nie gegeben hat: „Even i f culture changes massively and continually across multiple generations, even of our problems and promises arise out of the cultural process of change, even i f there are no genetic variations among humans that significantly affect their behavior, it is always true that the cumulative history of natural selection continues to influence our actions by the set of genes it has provided humanity. Our learning biases and emotional responses, for example, are not random or manufactured from thin air; they are the products of the unbroken process of evolution by natural selection that extends across the whole history, into our prehuman past, and millions of years before t h a t . " 2 1 9

Auch das schärfste Schwert in der Hand derer, die den Menschen von jeglichem naturalen Ballast befreit sehen, die Sprache, ist hochadaptiv.220 Verbale Zeichensprache ist die entscheidende Voraussetzung für die Kulturevolution, zugleich ein Musterbeispiel für Koevolution. Die gemeinsame Umwelt von Menschen führt phylogenetisch zu universalen Denkmodulen, intersubjektiv zu einer gemeinsamen Welterfahrung und geteilten Problemen. Dies ermöglicht und erfordert gemeinsame Sprache. Deshalb zieht Sprache sich meistens nicht in hermetische Phantasiewelten zurück, auch 217

Durham (1978), S. 429 (kursiv i.O.). Vgl. auch Durham (1991), S. 208: „ . . . we may expect to find a general, i f imperfect, congruence between evaluations by primary and secondary values in human populations"; ähnlich S. 456. 218 Vogel (1989b), S. 73. Vgl. auch Harms (1996), S. 369. 219 Alexander (1987), S. 23 (kursiv i.O.). Ähnlich Alexander (1979), S. 78; Richerson/Boyd (1992), S. 63. 220 Vgl. Pinker (1994); Pinker/Bloom (1990); Ruse (1985), S. 160 ff.; (1986), S. 140 ff.

186

Teil III: Theorie der Koevolution

wenn ihr dies möglich wäre. Häufiger wird sie von Menschen zur Information und zu Akten der sozialen Interaktion genutzt. Wo hingegen keine gemeinsame Umwelt existiert oder sie willentlich durchschnitten wird, dient Sprache der Gruppenabgrenzung. Doch selbst dann vereinzelt sie anscheinend nicht völlig, man denke an Chomskys Studien zur universalen Grammatik. 221 Zu den frühen sozialen Anforderungen, die dank Sprache besser bewältigt wurden, gehört die Jagd in Gruppen auf größere Tiere, wie sie schon von Homo erectus unternommen wurde. 222 Jagd erfordert Kommunikation über nicht gegenwärtige und nicht anwesende Objekte. Jägerkulturen benennen Vorgänge bei der Jagd mit vielerlei Wörtern, denen begriffliche Unterscheidungen entsprechen, z.B. getrennte Namen für sich bewegende und still stehende Tiere der gleichen Art. 2 2 3 Die genfunktionale Rückbindung der Kultur läßt genügend Raum für indifferente und fehlangepaßte Merkmale: „Appropriate ontogenies, in selective terms, are those leading to maximal genetic reproduction. This does not imply, however, that every act of every human is to be interpreted as maximizing ... reproduction, but that evolutionary change, in the history of environments in which humans have lived, has tended to he in the direction of maximizing reproduction. 224 Selection for genetic capacities for culture should favor those with maximum total benefits averaged over many individuals and many generations, even i f ... most individuals carry many nonoptimal cultural traits, considered one trait at a 4-1 „ 1), der ich angehöre. Wenn meine Gruppe dadurch im Wettstreit mit anderen Gruppen zurückfällt, betrifft das auch 50 51 52 53

Zum Begriff der ESS siehe Maynard-Smith (1974); Binmore (1994), S. 187 ff. Maynard-Smith (1993), S. 11. Vgl. Axelrod (1984), S. 91 ff. Dazu Wilson et al. (1998).

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

225

mich. Dies sollte einen Anreiz darstellen, Betrug zu unterlassen. Aber mein indirekter Nachteil ist geringer als mein direkter Vorteil. Spieltheoretisch ausgedrückt: Die optimale individuelle Strategie widerspricht der optimalen kollektiven Strategie, 54 Daß dem so ist, läßt sich aus der Wurzel aller Spieltheorie ersehen, dem Gefangenendilemma (GD). 55 Zwei Untersuchungshäftlingen kann ein gemeinschaftlich begangener Totschlag nicht nachgewiesen werden; die Beweislage reicht nur für eine Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs. Die Häftlinge sind in getrennten Zellen untergebracht. In den ebenfalls getrennten Vernehmungen ergibt sich für beide aus jeweiliger Sicht dasselbe Bild: Entweder ich gestehe, dann komme ich als Kronzeuge frei - allerdings nur, wenn mein Kumpel nicht auch gesteht. Wenn er auch gesteht, werden wir beide mit je fünf Jahren Gefängnis wegen Totschlages bestraft, wobei unser Geständnis strafmildernd berücksichtigt wird. Wenn nur er gesteht, ich aber schweige, kommt er als Kronzeuge frei, während ich zehn Jahre hinter Gitter muß. Schweigen wir beide, können wir nur wegen Hausfriedensbruch mit je einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden. A m liebsten wäre ich ein freier Mann. Dazu muß ich meinen Kumpel betrügen. A m zweitliebsten wäre mir das eine Jahr Gefängnis. Aber wieso sollte ich schweigen, also mit ihm kooperieren, wenn ich nicht damit rechnen kann, daß auch er schweigt? Das Charakteristische am Zwei-Personen-GD liegt in folgenden Spielbedingungen, die in Tabelle 7 formalisiert sind; dabei bedeutet Κ = Kooperation, Β = Betrug; die jeweils erste Auszahlung ist die des ersten Spielers (waagerecht), die zweite die des zweiten (senkrecht): 56 - Es gibt vier Typen von Auszahlungen: w bei beidseitigem Betrug, χ bei beidseitiger Kooperation, y bei Kooperation nur des anderen Spielers, ζ bei nur eigener Kooperation. Dabei gilt: y > χ > w > ζ . 5 7 - Es wird nur eine Runde gespielt. - Beide Parteien wählen ihre Strategie unabhängig voneinander und ohne Kenntnis der Wahl des anderen. 54

D. T. Campbell (1983), S. 164. Vgl. Axelrod (1997a), S. 6; Hammerstein/Bierhoff (1988), S. 527 ff.; Rieck (1993), S. 36 ff. Das GD wurde erstmals 1950 konzipiert. Zur Geschichte dieser Idee siehe Matt Ridley (1997), S. 55 ff. 56 Rapoport/Chammah (1965), S. 35; Schüßler (1990), S. 22 ff. 57 Eine zusätzliche Bedingung des Axelrodschen Superspiels gegenüber dem klassischen Gefangenendilemma liegt darin, daß 2x > y + z. Das hat zur Folge, daß eine Option für beide Spieler, abwechselnd auf y und ζ zu spielen, nicht vorteilhaft ist. Siehe Axelrod (1984), S. 75, 206; Wickler/Seibt (1977), S. 89. 55

15 Wesche

Teil IV:

226

evolutionäre Verhaltenstheorie Tabelle 7

Rohmatrix des Gefangenendilemmas Κ

Β

Κ

χ/χ

z/y

Β

y/z

w/w

Setzt man eine übliche Auszahlungsmatrix ein (Tabelle 8), zeigt sich, daß es die relativ höchsten Auszahlungen verspricht, nicht zu kooperieren, obwohl damit ein für beide Seiten insgesamt noch günstigeres Ergebnis verschenkt wird. 5 8 Da man nicht sicher sein kann, welche Strategie der andere Spieler wählt, ergeben sich stets Auszahlungspaarungen. Wüßte man die Wahrscheinlichkeit der Spielzüge des anderen, könnte man einen einzelnen Wert ermitteln, der über den eigenen Spielzug entscheidet. Doch ein solches Wissen kann nicht vorausgesetzt werden. Was hingegen vorausgesetzt werden kann, ist, daß der andere eine dominante Strategie wählen wird, falls eine solche zur Verfügung steht. Dominant ist für ihn der Betrug (also Gestehen). Denn die Betrugsauszahlung beträgt 7/3, die Kooperationsauszahlung nur 5/1. Kooperation (also Schweigen) befindet sich trotz der hohen Auszahlungssumme für beide Spieler (5 + 5 = 10) nicht im NashGleichgewicht. Jeder Spieler besitzt einen Anreiz, aus gemeinsamer Kooperation auszubrechen und den anderen auszubeuten. Rationale Entscheidungen können eine Falle sein, wenn die dominante Klugheitsstrategie des Individuums seinen eigenen Interessen widerspricht. Wie kommt es zu dieser Falle? Eine naheliegende Antwort ist: Die Gefangenen können nicht miteinander reden. Mangelnde Kommunikation allein

Tabelle 8 Grundform des Gefangenendilemmas Κ

Β

Κ

5/5

1/7

Β

7/1

3/3

58 Hegselmann (1988), S. 4 ff.; R. D. Masters (1983), S. 178 ff., jeweils m.w.N. zur Spieltheorie.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

227

ist jedoch nicht Ursache allen Übels: Auch wenn die beiden Häftlinge sich vorher abgesprochen hätten, bestünde weiterhin derselbe Anreiz zu betrügen. 59 Denn ein Versprechen, etwas zu tun, ist nur soviel wert wie die Möglichkeit, es gegebenenfalls durchzusetzen. In Frage kommen auch Selbstbindungen des Versprechenden, insbesondere emotionale Bindungen und Vertrauen. 60 Dies sind von der klassischen Ökonomie vernachlässigte Aspekte, auf die in Kürze zurückzukommen ist. Ein anderes Beispiel für die Selbstbindungsproblematik stammt von Thomas Schelling aus seinem vielzitierten The Strategy of Conflict. Ein Entführer ist bereit, sein Opfer freizulassen. Doch will er vermeiden, daß das Opfer dann die Polizei benachrichtigt. Ein Versprechen des Opfers ändert wenig, denn nach der Freilassung hat der Entführer keine Druckmittel mehr in der Hand. Zweckrational betrachtet bleibt ihm nur, das Opfer zu töten. 61 Hier konnte man miteinander reden, aber man konnte nicht sanktionieren, und deswegen war jede Kooperationserwartung unbegründet. Schelling schlägt vor, das Opfer solle dem Entführer irgendein Pfand in die Hand geben, das bleibenden Druck auf es erzeugt, z.B. die Photographie einer anstößigen Handlung. Die Situation ist übrigens völlig anders, wenn kein GD, sondern ein Koordinationsproblem vorliegt. Man erinnere sich an die Beispiele des Industriestandards oder Rechtsverkehrs. Eine Konvention, wie man in dieser Konstellation am besten verfährt, pendelt sich hierbei unproblematisch ein, jedenfalls soweit ein reines Koordinationsproblem vorliegt und Kommunikation möglich ist bzw. mehrere Runden gespielt werden (Tabelle 9, wobei Ρ und Q alternative Strategien darstellen; die Beteiligten werden entweder beide Ρ oder beide Q wählen).

Tabelle 9 Reines Koordinationsproblem

59

Ρ

Q

Ρ

1/1

o/o

Q

o/o

1/1

Vgl. Hegselmann (1988), S. 7 Anm. 7; Rieck (1993), S. 40, 220 ff.; Schelling (1960), S. 131 ff. 60 R. H. Frank (1988), S. 221 ff.; Schmidtchen (1994), S. 144 f. 61 Schelling (1960), S. 43 f. 15*

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

228

Tabelle 10 Unreines Koordinationsproblem

P Ρ Q

1/2 0/0

Q 0/0 2/1

Etwas schwieriger wird die Sache bei unreinen Koordinationsproblemen. Versteift sich eine Seite auf die ihr günstigere Koordinationsstrategie, kann die Konvention scheitern. Es kommt dann darauf an, welche Seite größere Durchsetzungsmacht hinsichtlich ihrer Interessen besitzt (Tabelle 10; die Beteiligten haben einen Interessenkonflikt, ob Konvention Ρ oder Q gewählt werden soll).

5. Variationen

des Gefangenendilemmas

Immer wenn die optimale individuelle der optimalen kollektiven Strategie widerspricht, ist Betrug dominant. Aber wann ist das der Fall, abgesehen von der exzeptionellen Situation des Ursprungs-GDs? Immerhin hatten wir gesehen, daß es Bedingungen gibt, unter denen Kooperation zu erwarten ist. Die Antwort hängt davon ab, nach welchen Regeln die Teilnehmer spielen. Sozialwissenschaftlich ausgedrückt: Wie sind die soziokulturellen Verhältnisse beschaffen? Und evolutionstheoretisch: Welches sind die Selektionsdrücke für die jeweiligen Strategien? Im Tierreich gibt es Gefangenendilemmata zuhauf. Was für uns das GD in seiner Grundform ungewöhnlich macht, ist für Tiere die Regel: Strategien können nicht gemeinsam geplant, geschweige denn normativ durchgesetzt werden. 62 Allerdings sind zwei andere Merkmale des GDs auch in Tierpopulationen die Ausnahme: die Beschränkung auf zwei Spielteilnehmer und die Einmaligkeit der Spielsituation. Verändert man das GD dementsprechend, ergibt sich als optimale Strategie nicht mehr ohne weiteres der Betrug. Denn was optimal ist, bestimmt sich nach den ansonsten in der Population verfolgten Strategien und nach der Wahrscheinlichkeit wiederholten Aufeinandertreffens, kurz nach der strategischen Interdependenz. Wenn etwa ein Betrüger in eine treuherzig kooperierende Gruppe eindringen kann, stehen ihm hervorragende Auszahlungen ins Haus. Eine Vielzahl

62

Die Aussage wäre allerdings grob simplifizierend, wenn man sie auf „höhere" Tiere anwendet.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

229

von ehrlichen Mitgliedern erhöht die Versuchung, diese auszunutzen. Umgekehrt verurteilt eine zu große Zahl von Betrügern schließlich jede Kooperation zum Scheitern. Dies schadet der Population insgesamt, so daß sie mitsamt der Betrüger ausstirbt. Rein betrügerische Gruppen werden gegenüber den mit ihnen konkurrierenden, intern kooperativen Gruppen im Nachteil sein. Daher enthalten Populationen eine Mischung aus ehrlichen und betrügerischen Mitgliedern. 63 Die Mischung selbst ist nicht stabil. Sie verändert sich im Einklang mit den relativen Vor- und Nachteilen eher kooperativer und eher betrügerischer Strategien. Ein typisches Muster ist, daß Kooperation zugunsten von Betrug abnimmt, bis kaum mehr jemand ausgebeutet werden kann. Dann entwickeln sich (durch „evolutionären Rüstungswettlauf) bessere Fähigkeiten, Betrüger von Kooperierenden zu unterscheiden, was letztlich zur stärkeren Verbreitung von Prosozialität führt. 6 4 Während der gesamten Zeit oszilliert die evolutionär stabile Strategie der einzelnen Individuen zwischen Betrug und Kooperation. Die Bedingungen strategischer Interdependenz führen in der Gesamtpopulation häufig zu „gemischten Gleichgewichten". In ihnen ist keine einheitliche Strategie dominant. 65 Der Spieltheoretiker Ken Binmore bemerkt: „... it is unlikely that a pure equilibrium will get selected. One must anticipate the selection of a mixed Nash equilibrium. When such an equilibrium is realized, many different rules of behavior ... will survive together in a symbiotic relationship. However, ... to be part of a symbiotic relationship does not imply that pure harmony reigns. Neither the workings of enlightened self-interest nor the blond forces of evolution offer us any guarantees about the removal of „nasty" strategies. On the contrary, nastiness is something with which a rational society must somehow learn to live." 66 Für höhere Lebewesen ist zu erwarten, daß eine genetische Fähigkeit sowohl zu Kooperations- als auch Betrugsstrategien besteht. Deren Wahl kann von den (Erwartungen an die) ansonsten gewählten Strategien abhängig gemacht werden. 67 Nur flexible Mischstrategien sind stabile Strate63 Auch in Hinblick auf andere Strategietypen ergibt sich regelmäßig eine Mischung, etwa was aggressive contra defensive Strategien angeht („Falken" und „Tauben", wie man in der Spieltheorie in Anlehnung an Maynard-Smith sagt; Maynard-Smith (1982). Dem Taube-Falke-Spiel entspricht in der traditionellen Spieltheorie das sog. Chicken Game („Chicken" heißt hier „Angsthase"): Zwei Fahrer rasen aufeinander zu; Verlierer ist, wer als erster ausweicht, doch wenn beide nicht ausweichen, ereignet sich ein Unfall, der beide zu noch größeren Verlierern macht. Vgl. Hammerstein/Bierhoff (1988), S. 535 ff.; Rieck (1993), S. 64 ff., 192 ff. 64 Axelrod (1997a), S. 22 f. 65 Rieck (1993), S. 57 ff., 64, 68 ff.; Sigmund (1993), S. 171 f., der Zufallswahlen in den Begriff der gemischten Strategie einbezieht. 66 Binmore (1994), S. 202 f. (kursiv i.O.). 67 Vgl. Machalek (1991).

230

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

gien! 6 8 Diese Überlegung findet freilich ihre Grenze darin, daß konsistentes, also widerspruchsfreies Verhalten vorteilhaft ist. 6 9 Hiermit sind Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens anderer angesprochen. Soziokulturelle Bedingungen modifizieren die Wahrscheinlichkeiten bestimmter Strategiewahlen. Ob Kooperation günstige Selektionsbedingungen vorfindet, hängt allgemein von Nutzen und Kosten der Kooperation im Vergleich zum Betrug ab. Relevant sind Faktoren wie Gruppengröße, Bevölkerungsdichte, Ressourcenverteilung, Erkennbarkeit des Handelns einzelner, Arbeitsteilung, Kommunikationsstrukturen, Traditionen, Hierarchie und Normen. 70 Unübersehbar sind es auch Produkte der Kooperation, die weitere Kooperation wahrscheinlicher machen. Das kann positive Rückkoppelungen bewirken. Normen sind eine besonders effektive Möglichkeit, die evolutionäre Stabilität kooperativer Strategien zu erhöhen. Einstweilen seien jedoch die nicht-normativen Bedingungen erörtert, die Einfluß auf Gegenseitigkeit und Betrug nehmen. Solche Bedingungen entscheiden auch darüber, wie und welche Normen entstehen. Das spricht dafür, sie vor der Normentstehung zu thematisieren. Während in der Grundform des GDs zwischen zweckrational agierenden Spielern Kooperation nicht entstehen kann, war in Axelrods Computerturnier eine kooperative Strategie erfolgreich. Das lag daran, daß es sich um ein iteriertes, also mehrfach hintereinander gespieltes GD handelte. Die Wiederholung des Spiels im Rahmen eines Superspiels macht Kooperation letztlich profitabler als Betrug. Der Gewinn durch Betrug in Runde 1 wird durch die zu erwartenden Verluste in den folgenden Runden überkompensiert, so daß in Runde 1 die kooperative Strategie gewählt wird. Es ist die langfristige Perspektive, die Erwartung weiterer Interaktionen, die der Kooperation zum Erfolg verhilft: „repetition itself creates the possibility of cooperative behavior". 71 Weiteres Kennzeichen des Axelrodschen Turniers war, daß „man" nicht wußte, wie die anderen Strategien spielen. Darin drückt sich die Offenheit von Verhalten aus. Weil jede Strategie unter Bedingungen unvollkommenen Wissens steht, muß sie für eine Vielzahl von Situationen gerüstet sein. WIE DU MIR, so ICH DIR ist in der spieltheoretischen Terminologie robust, weil das Programm mit einer unbekannten Gemengelage von konkurrierenden Strategien fertig wird. 7 2 Denn es kann sowohl kooperativ als auch vergel68

Man kann sich dies so vorstellen wie eine Brücke: Wäre sie aus massivem Beton konstruiert, würde sie beim ersten Sturm brechen. Kann sie sich aber in sich verwinden und schwingen, hält sie den schlimmsten Unwettern stand. 69 Dazu B. 8. 70 Vgl. Raub/Voss (1986), S. 100. 71 Baird et al. (1994), S. 174. Vgl. auch dies., Kap. 5; Kliemt (1986), S. 100 ff.; Schmidtchen (1994), S. 147 ff.; Sigmund (1993), S. 184.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

231

tend spielen, je nachdem, wie sich die anderen verhalten. WIE DU MIR, SO ICH DIR profitierte ferner davon, daß zufälligerweise die Mehrzahl der für das Turnier eingereichten Programme (8 von 14) kooperativ spielte. Dadurch gelangte WIE DU MIR, SO ICH DIR mit der Mehrzahl der Programme in dauerhafte Kooperation. Wäre das anders gewesen, wäre WIE DU MIR, SO ICH DIR ausgebeutet worden. 73 WIE DU MIR, SO ICH DIR benötigt eine gewisse minimale Häufigkeit in einer Population, um nicht betrügerischen Strategien zu unterliegen. Darin spiegelt sich die Bedeutung des jeweiligen gemischten Populationsgleichgewichts für die Strategieschicksale. Wie nun steht es um menschliche Interaktion? Unter realen soziokulturellen Umständen treffen Menschen häufig mehr als einmal aufeinander, ohne genau zu wissen, wie der andere handeln wird. Sie stehen insoweit unter denselben Bedingungen wie WIE DU MIR, SO ICH DIR in der Simulation. Wir können auch annehmen, daß ausreichend viele Menschen von vornherein kooperativ gesinnt sind, daß also die ursprüngliche Lebensfähigkeit von WIE DU MIR, SO ICH DIR gut ist. 7 4 Gleichwohl arbeitet Axelrods Simulation mit einigen folgenschweren Idealisierungen. Sie verzerren die zwischenmenschliche Realsituation. Dazu gehört zum Beispiel, daß die Spielstrategie nur zwei Alternativen eröffnet, deren Kombination zudem für jeden einzelnen Spieler fix ist; daß am Ende des Superspiels jeder Spieler mit jedem anderen die gleiche Zahl von Runden gespielt hat und keine Gegenspieler aus dem Spiel gedrängt werden können; daß jeweils nur zwei Spieler interagieren; daß die für die Kooperation zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht thematisiert werden sowie daß Kooperation und Betrug durch eine Auszahlungsmatrix als unveränderlich definiert sind. Die Idealisierungen lassen etwas aus dem Blick geraten, daß Kooperation mit Betrug eng verschwistert ist. Kooperation ist nicht stets die beste Strategie und nur unter hochspezifischen Umständen eine ESS! Im folgenden sei die Spielsituation um einige Elemente angereichert, die das reale Zusammenleben von Menschen auszeichnen.75 Was ändert sich, wenn a) die Spieler verwandt sind, b) die Spieler die Zahl der Spiele, also die Dauer des Superspiels kennen, c) mehr als zwei Spieler gleichzeitig interagieren, 72

Sigmund (1993), S. 188. Dawkins (1989), S. 214 ff.; Sigmund (1993), S. 189. 74 Ähnlich Sigmund (1993), S. 190. 75 Ausführlich Nowak/Sigmund (1993); Matt Ridley (1997), S. 72 ff.; Schüßler (1990), S. 33 ff. m. w.N. 73

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

232

d) die Option zur Bildung von Koalitionen besteht, zudem eine Ausstiegsoption eröffnet oder vorgesehen ist, daß Spieler aus dem Superspiel durch Einflußnahme anderer Spieler ausscheiden können, e) Irrtümer und Täuschungen berücksichtigt werden, f) die Auszahlungsmatrix differenziert wird, g) kollektive Güter und begrenzte Ressourcen zur Auszahlung anstehen? Weitere Veränderungen werden danach ohne spieltheoretische Einbindung besprochen, eine wichtige Veränderung, normgestützte Sanktionen, erst in Teil V. a) Verwandte Spieler Interessanterweise läßt sich zeigen (Tabelle 11), daß für enge Verwandte (Eltern-Kinder oder volle Geschwister) unter den Bedingungen des Ursprungs-GDs die kooperative Strategie genauso profitabel ist wie die einseitig betrügerische. Was hierbei „profitabel" heißt, ist nur im Sinne der evolutionären Spieltheorie verständlich: Es werden die Auswirkungen auf Genome analysiert, was ja die entscheidende Größe für die Überlebenschancen in der natürlichen Auslese ist. Wenn ein Verwandter einen anderen betrügt, nützt ihm das zwar weiterhin, schadet aber zugleich dem Genpool, dem auch er „angehört". Umgekehrt zahlt sich gemeinsame Kooperation um denselben Faktor mehr aus. Der Faktor richtet sich nach dem Verwandtschaftsgrad. Hier gehen wir vom engsten Grad aus, also von r = Vi. Die Auswirkung einer Strategie ist mit der Hälfte der Auswirkung auf den anderen Spieler zu verrechnen. 76 Verwandtensolidarität wird spieltheoretisch dadurch modelliert, daß die individuellen Auszahlungen für fremdnütziges Verhalten erhöht werden. In unserem Beispiel ergibt sich ein Grenzfall: eine Auszahlung bei Kooperation und bei Betrug gleichermaßen von 7,5/4,5.

Tabelle 11 Wie Tabelle 8, aber unter Verwandten (Eltern-Kind oder Vollgeschwister)

76

Κ

Β

Κ

7,5/7,5

4,5/7,5

Β

7,5/4,5

4,5/4,5

Vgl. R. D. Masters (1983), S. 180; (1989), S. 165 ff.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

233

Schon nutzenmaximierende Klugheitsstrategien gestalten ceteris paribus selbst unter widrigen Bedingungen den verwandtschaftlichen Nahbereich einigermaßen kooperativ. Und die Bedingungen sind im GD äußerst widrig. Ändert man dies und erhöht die Auszahlung für die beiderseits kooperative Strategie minimal, ist Kooperation sogar profitabler (Tabelle 12). Die Kooperationsstrategie bringt dann 9/4,5 und die Betrugsstrategie nur 7,5/4,5. Demgegenüber würde die Erhöhung in Tabelle 8 gar nichts helfen: Unter der (realistischen!) Bedingung y > χ > w > ζ kann mit dieser Maßnahme beiderseitige Kooperation niemals vorteilhafter werden. Eitel Sonnenschein herrscht natürlich auch unter engen Verwandten nicht immer. Selbst sie haben keine identischen genetischen „Interessen". Verändert man die Grundform durch eine Auszahlungserhöhung von y + 1 (Tabelle 13), bleibt es bei der Profitabilität von Betrug auch im Verwandtschaftsverhältnis. Sie fällt hier allerdings sehr gemäßigt aus: 7,5/5 bei Kooperation, 8,5/4,5 bei Betrug.

Tabelle 12 Wie Tabelle 11, aber mit gegenüber der Grundform erhöhtem Wert χ + 1 Κ

Β

Κ

9/9

4,5/7,5

Β

7,5/4,5

4,5/4,5

Tabelle 13 Wie Tabelle 11, aber mit gegenüber der Grundform erhöhtem Wert y + 1 Κ

Β

Κ

7,5/7,5

5/8,5

Β

8,5/5

4,5/4,5

b) Bekannte Spieldauer und Rückwärtsinduktion Wenn ein Kooperationsspiel mit fester und den Teilnehmern bekannter Begrenzung iteriert wird, hat dies Auswirkungen auf die Strategiewahl. Zu rechnen ist mit dem Effekt der sog. Rückwärtsinduktion (backward indue-

234

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

tion). 7 7 Betrug ist von Nachteil, wenn er zum Abbruch einer Kooperationsbeziehung bzw. zu Vergeltung führt. Wenn aber bei einer begrenzten Zahl von Spielzügen der letzte erreicht ist, bricht die Kooperation sowieso ab. Jeder wird also im letzten Zug betrügen. Schlimmer noch: Wenn ich weiß, daß du im nächsten Zug betrügen wirst, werde ich im gegenwärtigen Zug bereits betrügen, denn unsere Beziehung hat sowieso keine Zukunft. Da du dies ebenso denkst, verlagert sich das Ende der Kooperation immer weiter nach vorne, bis schließlich von Anfang an jegliche Kooperation scheitert. Die Rückwärtsinduktion kann dadurch ausgeschlossen werden, daß das Ende des Spiels zufällig, also unbekannt ist und die Spieler sich nicht darauf einstellen können. Viele soziale Beziehungen, vor allem heutzutage, sind jedoch von vornherein auf begrenzte Zeit konzipiert oder eine einmalige Angelegenheit. Es scheint also schwer verständlich, warum trotzdem ehrlicher Austausch die Regel ist. Hier sind weitere, noch zu erörtende Phänomene wie Vertrauen, Reputation, indirekte Rezipozität, Verinnerlichung kooperativer Strategien sowie Normen ausschlaggebend.

c) Mehrpersonen-Dilemma Die Bedingungen des Mehrpersonen-GDs dürften recht realistisch sein. Menschen leben gesellig. Kooperationsbeziehungen sind mehrseitig, und es koexistieren und konkurrieren mehrere zweiseitige Beziehungen. So entsteht ein n-Personen-GD mit verschiedenen Auswirkungen. Zum einen werden Kooperationspartner austauschbar. Weder ist man stets für einen bestimmten Kooperationszweck auf einen einzigen Partner angewiesen, noch ist man gezwungen, mit einem Partner zu kooperieren, bis eine von irgend jemandem (etwa einem Spielleiter) festgelegte Grenze erreicht wird. Evolutionstheoretisch gesehen schlagen sich hier soziale Selektionsbedingungen nieder: Ob Kooperation adaptiv ist, hängt von der Population sonstiger Strategien ab. Im n-Personen-GD wächst die Zahl konkurrierender Strategien. Je undurchsichtiger die Verteilung ist, desto geringer sind ursprüngliche Lebensfähigkeit und Stabilität von Kooperationsstrategien. Auch ihre Robustheit wird auf eine schwere Probe gestellt. WIE DU MIR, so ICH DIR kann von anderen Strategien verdrängt werden, wenn diese gleichzeitig eindringen. Eine schafft dann das geeignete Klima für die andere, zusammen schlagen sie WIE DU MIR, SO ICH DIR. 78 Umgekehrt ist ein einzelnes Wie du mir, so ich dir nicht ursprünglich lebensfähig in einer 77

Diese Figur der Spieltheorie wird auch „zip-back argument" genannt; siehe Luce/Raiffa (1957), S. 97 ff.; außerdem Dawkins (1989), S. 224 ff.; Margolis (1982), S. 18 f. 78 Boyd/Lorberbaum (1987); Cosmides/Tooby (1992), S. 214 ff.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

235

Population aus Betrügern. Die einzige Chance ist, zu mehreren einzudringen und vorerst nur miteinander zu interagieren, um dadurch die höheren Kooperationsgewinne einzustreichen. 79 Dies stellt freilich vor erhebliche kognitive und praktische Probleme. An dieser Stelle dürfte die oben berührte Überlegung eingreifen, daß Gegenseitigkeit auf dem Wege über Verwandtensolidarität aufgekommen ist. Eine weitere Auswirkung des n-Personen-Dilemmas sind Informationsdefizite. Wie Axelrod ausführt, ist die Vergeltung eines Betrugs nur möglich, wenn man den Betrüger kennt: „The response requires that the defective individual not be lost in a sea of anonymous others." 80 Kenntnis des Gegenüber ist nicht erst zum Zwecke der Vergeltung, sondern schon zur Anbahnung von Kooperation ratsam. Im Dorf mag man noch alle Bewohner und ihre Gewohnheiten kennen. In der Großstadt ist es immer ein Risiko, sich auf einen neuen Kooperationspartner einzulassen.81 Je mehr Strategien auftreten, desto schwieriger wird die Vorhersage, wie sich ein einzelner Spieler verhält. Allgemein gilt: Je schlechter die Information über aktuelle oder potentielle Kooperationspartner und über Betrüger, desto schwieriger die Wahl einer kooperativen Strategie und desto risikoärmer der Betrug. 82 Betrüger können sich die Unübersichtlichkeit zunutze machen. Sie wechseln den Kooperationspartner nach dem Betrug und vor einer Vergeltung. Das setzt natürlich voraus, daß ihnen kein schlechter Ruf vorauseilt. Die Bildung eines Rufes aber wird im n-Personen-Dilemma schwerer, je größer η ist. 8 3 Das führt dazu, daß WIE DU MIR, SO ICH DIR selbst mutieren muß. Statt freundlich zu eröffnen, wird auf Anzeichen von Freundlichkeit beim Gegenspieler gewartet. Auch entsteht Raum für gemischte Strategien, die versuchen, lokal optimierte gemischte Gleichgewichte zu erreichen. In solchen Spielen ist eine weniger freundliche Mischstrategie erfolgreich, die TAT FOR TAT nur gelegentlich spielt. 84

79

Vromen (1995), S. 183 f. Axelrod (1984), S. 100. 81 Vgl. Putnam (1993), S. 173 f. zur Bedeutung horizontaler vertrauensbildender „Netzwerke" von Bürgern (Nachbarschaften, Vereine, ...). Siehe auch Matt Ridley (1997), S. 70. 82 Allgemein zu unterschiedlichen Graden von Informiertheit Rieck (1993), S. 101 ff. 83 Zur Frage der Reputation noch B. 8. Zur Abhängigkeit der Adaptivität von Kooperation von der Gruppengröße Coleman (1986), S. 62 ff. 84 Vgl. Binmore (1994), S. 199 f. 80

236

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie d) Koalitionenbildung

In n-Personen-GDs sind Koalitionen möglich. Diese funktionieren intern kooperativ und nach außen hin gegebenenfalls defektierend. Koalitionen sind keine menschliche Spezialität. Im Arnheimer Zoo eliminierten zwei Schimpansenmännchen brutal ein drittes, das aufgrund eines Zwistes zwischen den erstgenannten nolens volens in die Position des Alphamännchens gelangt war. Das getötete Männchen wäre stärker als jeder einzelne seiner Gegner gewesen. Doch die Gegner koalierten. 85 Koalitionen sind sinnvoll, um vom Vertrautheitsgrad der Koalitionäre zu profitieren und Information zu konservieren oder um Status-, Macht- oder Marktpositionen gegen Mitbewerber zu verteidigen oder zu erlangen. Die Ausbeutung Außenstehender kann so weit gehen, daß andere Spieler aus dem Spiel gedrängt werden. Dies wird durch eine Ausstiegsoption modelliert, die dann zwangsweise eingreift, wenn ein Spieler unter eine kritische Grenze von Auszahlungen gelangt. Koalitionen sind auch für den Effekt verantwortlich, daß, wie im Arnheimer Zoo, weniger mächtige Individuen gemeinsam gegen einzelne mächtige Individuen - oder auch ganze „Klassen" von Minderprivilegierten gegen „Herrscher- und Besitzendenklassen" - vorgehen und diesen Zugeständnisse abtrotzen können. Solche Zugeständnisse haben den Charakter prosozialer Leistungen. Sie sind aus Sicht von Besitzenden oder Mächtigen schon dann veranlaßt, wenn die weniger Mächtigen oder Besizlosen die bloße Option zur Koalition haben. Denn wenn eine Koalition erst einmal gebildet ist, drohen den Mächtigen und Besitzenden größere Einbußen, als wenn diese von ihren Ressourcen freiwillig etwas abgeben. Was hier wie eine durchkalkulierte Machterhaltungsstrategie klingt, unterlag langandauernden Selektionsdrücken. Diese haben sich in unbewußten „Daumenregeln" für Verhalten und in Denkmodulen niedergeschlagen. 86 Der Effekt der Machterhaltung durch dosiertes Abgeben dürfte in der menschlichen Gattungs- und Kulturgeschichte von bislang weit unterschätztem Einfluß gewesen sein und diesen bis heute nicht verloren haben. 87 Positivselektion dürfte auf solchen „Daumenregeln" gelegen haben, die immer dann zu Prosozialität neigten, wenn der eigene Status in Gefahr geriet. Wer aber großzügig ist, dem sieht man einen gewissen Macht- oder Besitzvorsprung nach, zumal dieser häufig hart erarbeitet und teuer verteidigt werden muß. Eine prekäre Gegenseitigkeit pendelt sich ein: Statuserhalt gegen Statusteilhabe, 85 de Waal (1986), S. 89 ff.; (1992), S. 245. Siehe auch F.-H. Schmidt (1982), S. 135 m.w.N. 86 Zu ihnen allgemein Teil III C. 4. b). 87 Vgl. immerhin die Bemerkungen bei F.-H. Schmidt (1982), S. 139 ff. sowie Ullmann-Margalit (1977), S. 191 ff.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz Teilen gegen Gewaltverzicht. ihre wichtigste Grundlage. 88

237

Gleichheitsnormen und Staaten haben hier

Koalitionsbildung erhöht aber nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Prosozialität entgegen dem Statusgefälle, sondern auch die Wahrscheinlichkeit von koalitionsmteraer Kooperativität. Diese besteht freilich erfahrungsgemäß nur solange, wie es den gemeinsamen Gegner gibt. Eine praktische Grenze findet zudem jede koalitionsinterne Kooperation im Trittbrettfahrerproblem, das bald besprochen werden wird. Und zum rechtlich-moralischen Problem wird sie wegen des Gegensatzes von interner Prosozialität und Betrug nach außen. Man denke an verbotene Preisabsprachen in der Wirtschaft oder an die Mafia. Auch darauf wird noch einzugehen sein.

e) Irrtum und Täuschung Spieltheoretische Modelle integrieren neuerdings einen allgegenwärtigen Faktor: die Offenheit menschlichen Verhaltens. Sie wirkt sich nicht zuletzt in Irrtümern in der Interpretation des Verhaltens anderer und der Wahl des eigenen Verhaltens aus. In der Modellierung tritt der Faktor als „Rauschen" (noise) auf, als integrierte Wahrscheinlichkeit, mit der Spielzüge des anderen mißinterpretiert werden. 89 Wo Irrtum möglich ist, ist Täuschung nicht weit. Ein bekanntes Beispiel aus dem Tierreich ist Mimikry, also ähnliches Aussehen harmloser Tiere mit anderen Tieren, die wehrhaft oder giftig sind oder schlecht schmecken. 90 Interessanter noch ist Täuschung durch Verhalten. Primaten sind wahre Meister in der Verheimlichung ihrer Absichten. Ihnen gelingt es sogar, ihre erfahrenen Wärter zu täuschen. 91 Interessant ist, daß dafür empathetische Fähigkeiten Voraussetzung sind: Um durch Verhalten situationsgerecht zu täuschen, muß man wissen, was der andere vorhat. Gesteigerte Täuschungsfähigkeiten rufen eine Steigerung von Aufdeckungsfähigkeiten auf den Plan, so wie Irrtumsanfälligkeit Täuschungen provoziert - ein evolutionärer Rüstungswettlauf, der stetig wachsende kognitive und andere Kapazitäten zur Folge hat. 9 2 88

Teil V C. 5. c)-e). Sigmund (1993), S. 192. 90 Dawkins (1989), S. 64 ff. 91 Beispiele bei de Waal (1996), S. 75 ff.; Voland (1997), S. 119. 92 Tri vers (1971), S. 48: „As selection favors subtler forms of cheating, it will favor more acute abilities to detect cheating." - Vgl. auch Brown/Moore (2000); Engels (1989), S. 168 ff., mit interessanten Verweisen auf Nietzsche, der in Täuschung, Verstellung und Lüge lebenserhaltende Faktoren sah; Erben (1988), S. 373; van den Berghe (1979), S. 48 ff. Kritisch zur evolutionären Rolle von Täuschung, aber ohne sachhaltige Argumente Sahlins (1977), S. 23 f. 89

238

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

Ungeachtet dieses katapultartigen Effekts auf den Revolutionären Lauf der Dinge besitzen Irrtum und Täuschung hemmenden Einfluß auf Prosozialität. Man könnte zwar meinen, daß die Wahrnehmung kooperativen wie betrügerischen Handelns in gleichem Maße beeinträchtigt wird. Doch besonders Betrüger profitieren davon, daß sie weniger leicht entdeckt werden, während ja umgekehrt Kooperierende gerade entdeckt werden wollen. Betrüger geben sich in kurzfristigen sozialen Interaktionen gerne besonders freundlich und machen sich so von auch langfristig Kooperierenden schwer unterscheidbar. 93 Manche ehrliche Kooperationspartner werden unzutreffend des Betrugs verdächtigt, was wiederum die Kooperation stört. Vorsätzliches Verhalten wird mit fahrlässigem und zufälligem verwechselt und umgekehrt, mit immer gegebenem Vertrauensverlust. 94 f) Differenzierung der Auszahlungsmatrix Der Erfolg von WIE DU MIR, SO ICH DIR hängt von der Auszahlungsmatrix ab 9 5 Wählt man beispielsweise einen geringeren Bonus für gelungene Kooperation, können andere Programme WIE DU MIR, SO ICH DIR schlagen. 96 Wie groß der Kooperationsbonus im Modell zu wählen ist, hängt von den menschlichen Bedürfnissen ab, die qua Voraussetzung in die Spieldefinition eingehen. Entwirft man beispielsweise eine Situation, in der ein Soldat sich fragt, ob er kämpfen oder desertieren soll, kann man über die Auszahlungsmatrix verschiedene mögliche Verläufe modellieren. Droht dem Soldaten bei Desertion die Todesstrafe oder gesellschaftliche Ächtung, wird der Malus der Defektion besonders hoch ausfallen, so hoch eventuell, daß von den zwei Spieloptionen die eine praktisch wertlos wird. 9 7 Die Frage der Auszahlung hat eine weitere Pointe. Wenn zwei Parteien WIE DU MIR, SO ICH DIR spielen, werden sie während des gesamten Spieles 93

D. S. Wilson et al. (1998). Vgl. Axelrod (1997a), S. 33 ff.; Kappelhoff (1995), S. 5; Schüßler (1990), S. 34 f.; Sigmund (1993), S. 192 ff. 95 Die Auszahlung aus Kooperation bzw. Betrug ist ein objektiver Maßstab, selbst wenn er während des Spiels verändert wird. Aus der Ökonomie ist jedoch das Problem positioneller Güter vertraut. Damit ist gemeint, daß der Wert von Gütern für Menschen nicht allein oder nicht einmal vorrangig von ihrem objektiven oder Marktwert bestimmt wird, sondern von subjektiven, emotionalen Kriterien. Eine wichtige Rolle dabei spielt das Neidmotiv [dazu noch 9. a)]: Was man selbst haben möchte, ist mindestens das, was bestimmte andere besitzen. Spieltheoretisch würde man dies so ausdrücken, daß man statt der Auszahlung die (auch nur temporäre) Überlegenheit über konkurrierende Strategien als Strategieziel annimmt (vgl. Schüßler (1990), S. 35 m.w.N.). WIE DU MIR, so ICH DIR ist dann nicht mehr die erfolgreichste Strategie. 96 Donninger (1986), S. 127 ff. 97 Vgl. Ullmann-Margalit (1977), S. 30-41. 94

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

239

kooperieren, solange Rückwärtsinduktion unmöglich ist. Sollte eine der Parteien eine leicht abgewandelte Strategie verfolgen, so daß Betrug auftritt (vielleicht auch weil ein Irrtum vorliegt), setzt eine perniziöse Entwicklung ein: Die Parteien können in dauernden Betrug abgleiten. Eskalation und Perpetuierung von Konflikt sind aus der Blutrache wohlbekannt. Man könnte natürlich etwas weniger vergelten, als man geschädigt wurde, um einen Weg aus dem wechselseitigen Betrug offenzuhalten. 98 Das geht auf zwei Weisen: Entweder man folgt einer Strategie der Art „auf Kooperation immer kooperativ antworten, auf Betrug manchmal vergebend". 99 Oder, was vorzugswürdig sein dürfte, man erlaubt graduelle Abstufungen der Auszahlungen im Spiel - eine durchaus realistische Bedingung, die in praxi die Rückkehr in kooperative Beziehungen ermöglicht. Ein Problem liegt dabei darin, daß häufig schwer auszumachen ist, wer mit dem Betrug begonnen hat, zumal Betrug und Vergeltung eines Betruges von außen betrachtet gleich aussehen können. 1 0 0 Die Feststellung und Zurechnung von Betrug ist damit ein kognitives Problem. 101 Auch ist nicht zu übersehen, daß Strategien, die abgestuftes Vergelten ihres Gegenüber antizipieren, den Nachsichtigen besonders ausbeuten werden. g) Begrenzte Ressourcen und kollektive Güter Die Ressourcen, die im praktischen Leben und für die theoretischen Spielzüge zur Verfügung stehen, natürliche, gesellschaftliche oder „human resources", sind nicht unbegrenzt. Der Ökonom Hardin brachte das daraus resultierende Problem auf die Formulierung der Allmendetragödie („tragedy of the commons"): Auf einer öffentlichen Weide lassen mehrere Bauern ihre Kühe grasen. Jeder Bauer wird bestrebt sein, so viele Kühe wie möglich auf die Weide zu bringen. Aber die Weide trägt nur eine begrenzte Zahl von Kühen. 1 0 2 98

Axelrod (1984), S. 186 f. Sigmund (1993), S. 194. 100 Betrug und Vergeltung unterscheiden sich in solchen Fällen nicht durch die äußerlich erkennbare Handlung, sondern ihre Intention. Die Vergeltung ist anders als der Betrug von vornherein lediglich auf den Ausgleich des erlittenen Schadens (oder etwas mehr oder weniger) angelegt und soll für die Zukunft Kooperation nicht abschneiden. Sie ist ggf. daran erkenntlich, daß eine Defektion, die auf einen Betrug folgt, in der Regel als Vergeltung zu verstehen ist. Dementsprechend lautet die Antwort auf sie nicht wiederum Defektion, sondern Kooperation in der Form der Reue (contrition). Das läßt sich auch so modellieren; siehe Axelrod (1984), S. 186 f.; (1997), S. 34; Coleman (1986), S. 64. 101 Auch in Donningers Computerwettkampf (1986), S. 132) erwies sich der Vorschlag abgestufter Vergeltung als geeignet in einer Umwelt, in der Fehlleistungen mit 10%-iger Wahrscheinlichkeit auftraten. 102 Hardin (1968), S. 104. Siehe auch R. D. Masters (1983), S. 181 ff. 99

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

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Die Klugheitsstrategie jedes Teilnehmers spricht für die Erhöhung der Zahl seiner Kühe. Desungeachtet weiß jeder, daß irgendwann die Weide übernutzt und für alle untauglich sein wird. Aber dann gilt ja erst recht: Nach mir die Sintflut! Ist die Gruppe noch dazu groß und anonym, wie in heutigen Gesellschaften, entgleitet völlig der Wahrnehmung, was man anrichtet. In großen Organisationen bleibt Kooperationsverweigerung ohne merkliche Auswirkung auf den einzelnen. So etabliert sich als Verhaltensmaxime: Vorteile mitnehmen und Lasten andere tragen lassen, kurz: Trittbrettfahren. 103 Erst dann entstehen Probleme, wenn viele ähnlich handeln. Es werden aber nun viele genau so handeln, denn das ist die dominante Strategie im n-Personen-GD. A m Ende wird doch jeder fühlbar geschädigt, ohne daß sich irgend jemand verantwortlich fühlte. Die Schwierigkeiten, Umweltverschmutzung, Steuerhinterziehung oder die ungerechtfertigte Nutzung sozialer Leistungen in den Griff zu bekommen, legen davon Zeugnis ab.104 Das Problem wird gewöhnlich unter der Überschrift „öffentliche bzw. kollektive Güter" behandelt. 105 Kollektive Güter sind idealtypisch dadurch ausgezeichnet, daß - sie nicht durch einzelne Individuen bereitgestellt werden können, - grundsätzlich können),

allgemein

verfügbar

sind

(allerdings

knapp

werden

- die Bereitstellung mit Kosten verbunden ist und - Nichtbeitragende nicht ausgeschlossen werden können. 1 0 6 Das Dilemma entsteht wiederum aus einem Widerspruch der individuellen mit der kollektiv wünschenswerten Strategie. Zugleich erweist sich eine verbreitete Vorstellung als falsch: Weil Individuen ihren je eigenen Vorteil suchten, täten dies auch Gruppen und Gesellschaften. Wenn letztere ihren Vorteil suchen, dann als Ergebnis individueller Bestrebungen. Die Allmendetragödie ist der beste Beweis für den Wert des methodologischen Individualismus. Der Ökonom Mancur Olson betont: „What a group does will depend on what the individuals in that group do, and what the individuals do depends on the relative advantages to them of alternative courses of action." 107 Individuen bedienen sich ihrer Gruppenzugehörigkeit, um ihre Ziele zu verwirklichen. A m liebsten haben sie auch dann am Gruppenwohl teil, 103 104 105 106 107

Siehe dazu auch Höffe (1987), S. 412 ff. Weitere Beispiele bei Rieck (1993), S. 41. Siehe dazu etwa Ullmann-Margalit (1977), S. 49 ff. m.w.N. Buchanan (1985), S. 22. Olson (1971), S. 23.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

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wenn sie nichts zu ihm beitragen. Betrachten wir eine gemeinsame Jagd von Homo erectus: Der Mammut konnte nur durch kollektive Anstrengungen erlegt werden. Warum sollte man an der gefährlichen Aktion teilnehmen, wenn hinterher soviel Heisch da ist, daß man sich wochenlang satt essen kann? Es ist natürlich nur dann überhaupt Fleisch da, wenn sich ausreichend viele an der Jagd beteiligt haben. Aber das Risiko, daß die Jagd scheitert, ist gering, wenn ihr nur wenige fernbleiben. Der Nutzen dieser Wenigen ist hingegen groß: Sie vermeiden Lebensgefahr und partizipieren trotzdem am Gemeinwohl. Die gemeinwohlförderliche Strategie kann im Nash-Gleichgewicht sein, wenn ihr sozusagen „nachgeholfen" wird. Ihre Auszahlung kann insbesondere dadurch erhöht werden, daß zusätzlich zum indirekten Nutzen des gesteigerten Gemeinwohls direkter individueller Nutzen zufällt. Die Mammutjäger werden gefeiert. Spenden werden mit Steuerabzügen belohnt, man erhält das Monatsblatt der geförderten Institution und wird im Spenderverzeichnis erwähnt. Eine solche Erwähnung ist natürlich ein nicht sehr greifbarer Nutzen. Doch Ansehen ist ein Faktor von eminenter Bedeutung beim Menschen. 108 Das nimmt der Problematik kollektiver Güter etwas von ihrer Schärfe. Würde der Status eines Gutes als kollektiv genügen, um Trittbrettfahrerverhalten hervorzurufen, wäre das die Katastrophe für jedes Gemeinwesen: „... the basic »economic man' model ... not only predicts (correctly) the existence of problems with free riders but also predicts (incorrectly) such severe problems that no society we know could function if its members actually behaved as the conventional model implies they will." 1 0 9 In seinem Buch The Logic of Collective Action analysierte Olson die Bedingungen, unter denen individuelle Interessen in nichtparadoxer Weise zu kollektivem Handeln werden können: kleine Gruppe, Möglichkeit von Zwangsausübung oder ein sonstiger Anreiz („selective incentive"), der unabhängig vom kollektiven Interesse ist. Natürlich kannte Olson die Revolutionären Implikationen nicht, doch wären sie in seinem Schema als „sonstiger Anreiz" gut aufgehoben. Auch die Notwendigkeit einer kleinen Gruppe verweist auf die Evolution des Menschen in erweiterten Familienbanden. 110 108

Näher sogleich Abschnitt 8. Margolis (1982), S. 6. Vgl. auch R. H. Frank (1988), S. 221 ff.; Kappelhoff (1995), S. 10 f. 110 Beachte, daß auch die Experimente von Caporael et al. (1989) mit kleinen Gruppen von Probanden arbeiteten und insoweit, wohl unbeabsichtigt, die Selektionsbedingungen früherer Epochen simulierten. Die Experimente taugen also nicht zur Simulierung moderner Allmendetragödien, außerdem verfängt aus dem gleichen Grunde die Kritik an Alexander nicht (ebd., S. 696). - Zum Einfluß der Gruppengröße auch Coleman (1986), S. 62 ff., 82. 109

16 Wesche

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

Betrachten wir einige moderne Beispiele. Wenn alle Firmen eines Industriezweiges ihren Gewinn maximieren möchten, geht das auf Kosten des Profits der gesamten Branche. Um diesen Effekt abzufedern, suchen die Firmen eine Lösung in der Erweiterung des Branchenumsatzes. Dazu bilden sie eine Lobbyorganisation. Doch die kostet Geld. Alle profitieren vom Lobbying, doch keiner will es bezahlen. Lobbying entpuppt sich als kollektives G u t . 1 1 1 Um diese Situation zu beenden, werden sich informelle Zwangsmechanismen bilden: Ausschluß aus dem Verband, Abbruch von joint ventures etc. Ein weiteres Szenario zur Gewinnsteigerung ist denkbar und wird von der Spieltheoretikerin Edna Ullmann-Margalit erwähnt: Um ihren Gewinn zu maximieren, schließen die Firmen ein Kartell. Doch auch im Kartell besteht der Anreiz zum Ausbruch. Wer absprachewidrig niedrigere Preise verlangt, erhält alle Aufträge. Doch nehmen wir an, den Firmen gelingt es, ihr Gefangenendilemma durch Gentlemen's agreements in den Griff zu bekommen. Dann droht der Staat mit dem Kartellrecht. Der Staat tut also nichts anderes, als die Unternehmen im GD festzuhalten, damit dieses nicht zu Ungunsten der Allgemeinheit aufgelöst w i r d . 1 1 2 In den folgenden Abschnitten seien einige weitere Determinanten menschlichen Sozialverhaltens in weniger enger Anlehnung an das Modell des GDs erörtert. Die freiere Erörterung geschieht nicht deshalb, weil die Spieltheorie prinzipielle Begrenzungen aufwiese, sondern nur, weil für diverse Umstände menschlichen Lebens noch keine Formalisierungen existieren oder diese für die hier verfolgten Zwecke zu komplex oder zu mathematisch sind. 6. Doppelte Moral und Ausblendung des Eigennutzes „Glaukon. Hält doch jedermann die Ungerechtigkeit an sich für viel nützlicher als die Gerechtigkeit, und das mit Recht, wie der behaupten wird, der über diese Frage urteilt Denn wer im Besitze einer solchen Freiheit sich jedes Unrechtes enthalten und fremdes Gut nicht antasten wollte, den würde jeder, der es merkte, im Stillen für höchst unglücklich und töricht halten; in der Aussprache untereinander freilich würden sie ihn loben und sich dabei gegenseitig Sand in die Augen streuen, aus Furcht sonst Unrecht zu erleiden. " 113 Die optimale individuelle Strategie widerspricht häufig der optimalen kollektiven Strategie - soweit das wichtigste Zwischenergebnis. Jeder ist 111

Deshalb wird zunehmend von „kollektiven" statt „öffentlichen" Gütern gesprochen. Dies umschließt den Fall, daß ein Gut nicht der gesamten Öffentlichkeit, sondern z.B. nur einer Industriebranche offensteht, dabei aber einer Allmendetragödie unterliegt. Vgl. Olson (1971), S. 14. 112 Ullmann-Margalit (1977), S. 44 f. 113 Platon, Politela, 2. Buch, 360c.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

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nun sowohl Individuum als auch Mitglied seiner Gruppe. Er scheint daher zwei Strategien in sich vereinigen zu müssen: Gemeinwohlorientierung im Gruppeninteresse, Eigennutzorientierung im eigenen. Eine verbreitete Antwort auf diese Spannung ist die doppelte Moral. Nach außen hin wird Gemeinwohl gepredigt, insgeheim etwas anderes gelebt. 1 1 4 Anders als die Praxis unterschiedsloser Nächstenliebe ist der Nächstenliebe-S/ögan ein sehr effizienter Kulturinhalt. 1 1 5 Er taugt zur Imagepflege und Beeinflussung anderer. Allan Gibbard schreibt: „A person may often do best, from the standpoints that shape human nature, to profess his devotion to norms that can attract others, while bending the norms a little in his own favor." 116 Die Verhüllung eigennützigen Verhaltens wird von den uneingestandenen Vertretern doppelter Moral immerhin im engen Kreis gelüftet. Die eigenen Kinder dürfen und sollen ruhig wissen, „wie man sich im Leben durchsetzt". Ihnen gegenüber bedarf es keiner Verheimlichung. 117 Das schließt nicht aus, daß ihnen moralische Werte gelehrt werden. Das tatsächliche Handeln wird hingegen häufig den Nutzen auf Familie und enge Kooperationspartner beschränken und hat stets größeren Vorbildcharakter als die bloßen Worte. 1 1 8 Das Lehren moralischer Werte ist freilich auch insofern koevolutionär erklärlich, als dadurch die Kinder befähigt werden, einen guten Ruf zu erwerben. 119 Ein guter Ruf ist wiederum eine entscheidende Voraussetzung für vorteilhafte Kooperation, wie wir sogleich genauer sehen werden. Schließlich erklären sich altruistische Lehren aus dem Nutzen, den jeder an der Selbstlosigkeit des jeweils anderen hat: „... while we universally admire and praise selflessness, we do not expect it to rule our lives or those of our close friends. We simply do not practise what we preach. This is perfectly rational, of course. The more other people practise altruism, the better for us, but the more we and our kin pursue self-interest, the better for us." 1 2 0 Allerdings fällt auf, daß sich viele Menschen selbst für zeitweise wirklich selbstlos halten. Doppelte Moral ist vielen nur selten bewußt. Die evolutionäre Verhaltenstheorie, ebenso wie die evolutionäre Psychologie, hält das 114

Vogel (1989 a) benutzt den Begriff der doppelten Moral für die unterschiedlichen Verhaltensstandards gegenüber Gruppenmitgliedern und -fremden. 115 Mackie (1978), S. 463. Ayala (1987), S. 250, verfehlt die Doppelstellung der Nächstenliebe als Handlungsanweisung und Handlungsweise, wenn er schreibt: „The commandment of charity: ,Love thy neighbor as thyself,' often runs contrary to the inclusive fitness of the genes ...". 116 Gibbard (1990a), S. 78. 117 Siehe D. T. Campbell (1983), S. 162 f. 118 Vgl. Hammer/Keller (1997); Kreppner (1997), S. 342 ff. 119 R. H. Frank (1988), S. 93. 120 Matt Ridley (1997), S. 145. 1*

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

für eine Selbsttäuschung. 121 Im Vorgriff auf spätere Kritik ist dieser Begriff allerdings „einschränkend auszulegen": Über ihre Motive täuschen sich Menschen selten. (Motive werden höchstens verheimlicht, wie im Fall der doppelten Moral.) Nicht selten wollen wir tatsächlich anderen etwas Gutes tun. Wir täuschen uns dabei lediglich darüber, daß die Sache damit nicht erschöpft ist. M i t anderen Worten: Wir deuten die Motive für unser Verhalten zutreffend, doch wir überblicken nicht, warum wir das so motivierte Verhalten eigentlich unternehmen. Unser selbstlos motiviertes Verhalten hat fast durchweg eigennützige oder „verwandtennützige" Auswirkungen, zumindest netto und langfristig. Man sollte statt von Selbsttäuschung von der „Ausblendung" des Eigennutzes sprechen. Diese Ausblendung bedient sich vielfältiger Mechanismen: Wir halten uns für fremdnütziger und weniger gemeinschädlich, als wir sind, 1 2 2 wir übertreiben dementsprechend nach außen hin unsere Wohltaten oder diejenigen nahestehender Personen, wir „frisieren" die Erinnerung früherer Ereignisse und Taten, um mit gegenwärtiger Realität konform zu gehen, um also widerspruchsfrei zu erscheinen. 123 Alles dies passiert unbewußt, wird allerdings gelegentlich von gewitzten Zeitgenossen auch bewußt eingesetzt. Aber was ist daran evolutionär nützlich? Warum sind wir nicht alle aufgeklärte Nutzenmaximierer? Die Antwort ist: Wer glaubwürdig, ehrlich und großzügig ist, macht sich zum gesuchten Kooperationspartner, erst recht derjenige, der eigene Nachteile in Kauf nimmt. Er wird demjenigen vorgezogen, der seinen Vorteil allzu sehr im Auge hat. Also empfiehlt es sich, auch wenn man seinen Vorteil eigentlich im Auge hat, dies nicht zu offenbaren. Doch Fähigkeiten in der Verheimlichung eigennütziger Motive ziehen evolutionär ebensolche Fähigkeiten der Aufdeckung nach sich. Wer nun sogar selbst glaubt, er handele nichts als fremdnützig, ist glaubwürdiger. Er braucht gar nichts zu verheimlichen und kann sich durch Mimik und Körpersprache nicht verraten. Entsprechende genetische „Selbsttäuschungsprogramme" unterlagen Positivselektion. Denn faktisch führen sie am Ende zu einer Vielfalt kooperativer Kontakte. Dabei muß lediglich noch gewährleistet sein, daß diese Kontakte nicht tatsächlich zum eigenen Nachteil ausgehen. Daraus ergibt sich: „Self-deception ... may have evolved as a way to deceive others." 124 Andere nehmen uns die Selbstlosigkeit ab, weil sie 121 Alexander (1979), S. 134 ff.; (1987), S. 120 ff., 151 ff.; Dahl (1991), S. 62 ff.; R. H. Frank (1988), S. 131 ff.; Pinker (1997), S. 421 ff.; Trivers (1985), S. 415 f. und insb. (2000); R. Wright (1994), Kap. 13. Auch bei dem Philosophen J. L. Mackie findet sich die Auffassung, daß Selbstlosigkeit, ja Moral überhaupt eine „nützliche Fiktion" sei ((1977), S. 239). 122 In der englischsprachigen Psychologie hat sich dafür die Bezeichnung „beneffective" eingebürgert, eine Zusammenziehung aus „beneficial" und „effective". 123 Vgl. Trivers (1985), S. 418 ff.

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

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ihren Eigennutz genauso ausblenden wie wir. Deswegen hat doppelte Moral überhaupt erst eine Chance. Wenn allen offensichtlich wäre, daß jeder eigennützig handelt, wäre eine öffentliche Verlautbarung von Uneigennützigkeit zwecklos. Die Ausblendung ist offensichtlich nicht vollständig. Manche fahren gut damit, sich dem Problem offen zu stellen: eigennützige Motive zu erkennen zu geben, aber die Nützlichkeit von Kooperation mit aufrichtigen Partnern zu betonen. 125 In anderen Fällen erkennen wir überraschend, vielleicht aufgrund Kritik, eigennützige Tendenzen unserer selbst, was Ärger oder Gewissensbisse auslösen kann. 1 2 6 Doppelmoral und teilweise Ausblendung des Eigennutzes machen verständlich, warum die evolutionäre Verhaltenstheorie auf solche emotionalen Widerstände trifft: Sie entzaubert bequeme Vorstellungen, die zur Konstruktion eines moralischen Selbstbildes beitragen. 127 Allerdings wäre Zynismus gegenüber menschlicher Prosozialität verfrüht. Denn das Konzept des Eigennutzes ist zu differenzieren. Bisher herrschte der Eindruck vor, Menschen seien an sofortigem maximalem Nutzen orientiert, ungeachtet eventueller selbstloser Motive. 7. Längerfristige

Reziprozität

„Magna etiam illa communitas est, quae conficitur ex benificiis ultro et citro datis acceptis, quae et mutua et grata dum sunt, inter quos ea sunt, firma devinciuntur societate. " 128 Gegenseitiger Austausch geschieht nur selten synchron, uno actu. Zwischen Leistung und Gegenleistung kann einige Zeit vergehen, so daß zu 124

Alexander (1987), S. 123. Vielleicht wird doppelte Moral auch deswegen akzeptiert (solange sie nicht zu offensichtlich praktiziert wird), weil jeder gelegentlich spürt, daß er unterschiedliche Maßstäbe anlegt. Hegselmann (1989), S. 24 f., zufolge glaubt sowieso niemand, Menschen seien jemals wahre Altruisten. Daher könne es auf die besondere Glaubhaftigkeit der Vorspiegelung durch eine Ausblendung des Eigennutzes gar nicht mehr ankommen. Hegselmanns These ist aus zwei Gründen zu stark. Sie läßt erstens offen, warum denn Menschen ihr selbstloses Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit so liebevoll pflegen, wenn doch jeder von jedem wüßte, daß das Lug und Trug ist. Sein Argument bezieht sich, zweitens, auf den menschlichen Fernbereich, jenseits naher persönlicher Bindungen (dazu noch sogleich Kap. C.). Für den Fernbereich aber behauptet die evolutionäre Verhaltenstheorie gar keine vorgespiegelte und durch Ausblendungen glaubhaft gemachte Selbstlosigkeit, im Gegenteil: Der Fernbereich ist der Bereich der ungemilderten Konkurrenz. 126 Pinker (1997), S. 423. 127 Ähnlich Matt Ridley (1997), S. 145. 128 Cicero, De officiis, 1. Buch, XVII (S. 61): „Wichtig ist auch die Gemeinschaft, die aus wechselseitig erwiesenen und empfangenen Wohltaten entsteht. Solange sie auf Gegenseitigkeit beruhen und willkommen sind, entwickelt sich zwischen den Partnern eine dauerhafte Gemeinschaft." 125

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

beliebigen Zeitpunkten der Austausch meistens gerade nicht ausgeglichen i s t . 1 2 9 Einige Hauptfälle von Beziehungen im Nah- und Mittelbereich sind längerfristig reziprok angelegt: Freundschaft, Geschäftspartnerschaft, Ehe. Allein die längerfristige Perspektive scheint häufig dafür zu genügen, daß der reziproke Charakter der Leistung nicht mehr gesehen, statt dessen reiner Altruismus angenommen w i r d . 1 3 0 Dabei hatte der Anthropologe Bronislaw Malinowski schon 1926 - übrigens in Korrektur eigener früherer Ansichten - betont, man müsse allen Gaben ihren Platz im soziologischen Kontext zuordnen und einen umfassenden Blick auf die Beziehung weifen. Nur dann erkenne man, daß jede einzelne Handlung sich langfristig rechtfertige als Glied in einer Kette von Gegenseitigkeiten. 131 Daß Menschen und höhere Tiere 1 3 2 zu längerfristiger Reziprozität überhaupt bereit und in der Lage sind, ist ihrem sozialen Langzeitgedächtnis zu danken. Näherhin bedarf es mindestens folgender psychischer Fähigkeiten bzw. Mechanismen: - Kalkulation wahrscheinlicher Kosten und Nutzen eines prosozial-reziproken Verhaltens; - Erinnerung, wem man wie und wer einem wie geholfen hat; - Kalkulation des Nutzens von empfangenem prosozialem Verhalten; - Berücksichtigung sozialer Rollen und sozialen Status'; - Kalkulation wahrscheinlicher Kosten und Nutzen von normerhaltender Aggression. 133 Manche mag es befremden, daß sogar Freundschaft oder Ehe als Verhältnisse längerfristiger Gegenseitigkeit bestimmt werden. Tatsächlich sind Gegenleistungserwartungen in solchen Verhältnissen latent und verbleiben solange im Vorbewußten, wie die Beziehung insgesamt funktioniert. Nur bei langandauernder Einseitigkeit kommt es auch hier, wie jeder erlebt hat, zu Brüchen, in denen dann genauer und - zum großen Verdruß für beide Seiten - für die Vergangenheit „abgerechnet" wird. Damit die Einseitigkeit aber überhaupt auffallen konnte, mußten Leistungen und Gegenleistungen irgendwie registriert und abgespeichert werden, ungeachtet aller Toleranz und Zuneigung. 1 3 4 Man darf dabei nicht vergessen, daß auch und gerade enge Beziehungen evolutionäre Funktionen erfüllen. Freundschaft 129

Vgl. Bliege Bird/Bird (1997). Ein Beispiel bildet Sahlins (1972). Ausführliche Auseinandersetzung mit Sahlins bei Alexander (1979), S. 197 ff. 131 Malinowski (1926), Kap. VII f. 132 Vgl. Voland (1997), S. 115; de Waal (1992). 133 McGuire (1992), S. 37 ff. 134 Vgl. Pinker (1997), S. 506 ff. 130

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

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und Partnerschaft dienen der Kooperation und letztlich Fortpflanzung. Wie John Tooby und Leda Cosmides meinen, handelt es sich um Beziehungen, in denen der eine Partner dem anderen besonders wertvoll ist, in emotionaler wie in pragmatischer Hinsicht. Deshalb ist man besonders prosozial, denn man hat an einer engen Beziehung auch besonders viel zu verlieren. Diese Gegenseitigkeit ist selbstverstärkend. Je länger eine werthaltige Beziehung andauert, desto größere Bedeutung - bis zur Unersetzlichkeit - messen sich die Beteiligten einander zu und zu desto größeren einseitigen Leistungen sind sie bereit. 1 3 5 Aus der Nützlichkeit solcher Beziehungen ergibt sich ein positiver Selektionsdruck für die Einnahme individualisierter Nischen, aus denen heraus bestimmten anderen Personen besonders gut geholfen werden kann, ohne daß Dritte diese Hilfe leichthin imitieren können. 1 3 6 Darin liegt die Unersetzlichkeitsbedingung erfolgreicher Freundschaften und Ehen. 8. Vertrauen

und guter Ruf

„... so wird jener, der einem anderen mit Wissen und freiwillig mehr zuteilt als sich selbst, sich selbst Unrecht tun. Aber so scheinen nun gerade die Bescheidenen zu handeln; denn der Anständige ist zu verzichten geneigt. Oder ist dies zu einfach gesagt? Er gewinnt nämlich ein Mehr an einem anderen Gute, etwa an Ansehen oder am schlechthin Edlen." 131 Längerfristige Reziprozität erfordert Vertrauen: Vertrauen, daß die Vorleistung nicht in den Wind geschrieben werden muß und die Gegenleistung später tatsächlich erbracht w i r d . 1 3 8 Vertrauen ist ein zukunftsorientiertes Korrelat zum sozialen Langzeitgedächtnis. Auch Normen, insbesondere das Recht können das Vertrauen auf die Erbringung der Gegenleistung begründen. Denn sie gewähren eine externe Erfüllungsgarantie. 139 Doch klammern wir wieder Normwirkungen aus, um zunächst die Verhaltensgrundlagen zu verstehen. 135

Tooby/Cosmides (1996), S. 131 ff. Auf S. 140 heißt es griffig, es entstehe ein „runaway process that produces deep engagements". Die Autoren gehen allerdings soweit, Freundschaft ganz aus dem Paradigma der Gegenseitigkeit herauszunehmen. Das erscheint unnötig, wenn man das Phänomen längerfristiger Reziprozität ernst nimmt. Gegenleistungen können sehr viel später und ohne explizite Bezugnahme auf andere Leistungen erbracht werden. Daß nicht jederzeit aufgerechnet wird, ist typisch für Freundschaft (ebd., S. 139). 136 Ebd., S. 134. Auch wer für die so bezeichnete Hilfe in Frage kommt, bedarf natürlich guter Auswahl, weil es sich um jemanden handeln sollte, der dieselbe Bedingung zu erfüllen in der Lage ist. Siehe ebd., S. 136 ff. 137 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch, 1136bl9 ff. 138 Zur Bedeutung von Vertrauen im Recht siehe Hof et al. (Hg.) (1994) (dazu Wesche (1996)), außerdem Hof (1996), S. 200 ff. 139 Röhl (1987), S. 141 ff.

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Teil IV:

evolutionäre Verhaltenstheorie

Vertrauen kompensiert den Mangel an Gewißheit bezüglich des zukünftigen Verhaltens des Gegenübers: Es ist ein Risikophänomen. 140 Zugleich ist es eine innere Tatsache. 141 Sie ist dem Beweis nicht zugänglich. Doch würde vieles beobachtbare Verhalten anders ausfallen, wenn die Akteure nicht auf bestimmte Verhaltensweisen ihrer Gegenüber vertrauten. Wie vertrauenswürdig jemand ist, drückt sich in seinem Ruf seiner Reputation aus. Folgende Fragen mögen sich stellen: Wie entsteht Vertrauen? Welches Verhältnis besteht zwischen Verhalten und Reputation? Und welche evolutionäre Funktion erfüllen beide?

a) Mangelnde Neuverhandlungsstabilität und menschlicher Gewohnheitscharakter Beginnen wir wieder mit einem Dilemma. David Hume brachte es auf folgende Parabel: „Your corn is ripe to-day; mine will be so to-morrow. Tis profitable for us both, that I shou'd labour with you to-day, and that you shou'd aid me to-morrow. I have no kindness for you, and know you have as little for me. I will not, therefore, take any pains upon your account; and shou'd I labour with you upon my own account, in expectation of a return, I know I shou'd be disappointed, and that I shou'd in vain depend upon your gratitude. Here then I leave you to labour alone: You treat me in the same manner. The seasons change; and both of us loose our harvests for want of mutual confidence and security." 142 Um einem anderen gegenüber vorzuleisten, möchte man in der Regel irgendwelche Hinweise haben, daß der andere die Gegenleistung erbringen wird. Man möchte Anlaß für Vertrauen besitzen. Nehmen wir an, mein Nachbar zur Rechten hat mich beobachtet, wie ich meinem Nachbarn zur Linken geholfen habe. Das sollte eigentlich Grund genug für ihn sein, sich auf längerfristige Gegenseitigkeit mit mir einzulassen. Doch warum sollte er annehmen, daß ich allgemein, auch gegenüber ihm, freundlich und ehrlich bin? Folgt man der Voraussetzung der Spieltheorie, daß die Beteiligten ihren Nutzen suchen, ist davon auszugehen, daß der Beobachter auch mich für einen Nutzenmaximierer halten wird. Dann gibt es streng genommen kein vergangenes Verhalten, aus dem er sicher auf meine zukünftigen Hand140

Dawkins (1989), S. 183 ff. mit Beispielen aus dem Tierreich. Oswald (1994), S. 112 ff., analysiert das Risikoproblem des Vertrauens aus psychologischer, Schmidtchen (1994), S. 133 f., sowie (2001a), S. 75 ff., aus ökonomischer Sicht. Zusammenfassend Hammer stein/Bierhoff (1988), S. 544, 551 ff.; Hof (1996), S. 200 ff. 141 Wiegand (1994), S. 183. Zur Ontogenese des Vertrauens siehe Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 258 ff.; Hof (1996), S. 208 ff. m. w.N. 142 Hume (1739/1978), book III part II sect. V, S. 520.

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lungen schließen könnte. Die Frage des optimalen Verhaltens stellt sich für mich jedesmal neu. 1 4 3 Nehmen wir nun an, ich habe meinen Nachbarn betrogen. Bei nächster Gelegenheit teile ich ihm mit, ich würde in Zukunft wieder kooperieren. Nun steht er vor dem umgekehrten Dilemma. Falls er sich auf einen neuen Kooperationsversuch einläßt, läuft er zwar Gefahr, wieder betrogen zu werden. Verweigert er aber die Kooperation, verspielt er unvermeidlich deren Gewinne. Die Kooperationsverweigerung ist deshalb nicht neuverhandlungsstabil: In jeder Spielrunde zählt nur die Gegenwart, nicht die Vergangenheit. Deshalb besteht immer dieselbe Erwartung an die Kooperativität oder Betrügerei des Gegenüber, und immer hieße eine Verweigerung, potentielle Gewinne zu vergeben. Ein Betrugsopfer sollte also rationalerweise stets kooperieren. Dies aber läßt sich per Rückwärtsinduktion antizipieren. Weil der Betrüger weiß, daß die Drohung mit Gegenbetrug nicht neuverhandlungsstabil ist, wirkt sie bereits in der Vorrunde nicht, also letztlich nie. Glücklicherweise entsteht das spieltheoretische Problem aus einer rationalistischen Vereinfachung. Jeder wird erwarten, daß der Betrüger „sich treu bleibt": einmal gelogen, immer gelogen. Sich der Kooperation zu verweigern, ist natürlich keine „rationale" Entscheidung. Doch die Realität spricht für sie. In ihr herrscht eingeschränkte Rationalität vor. Erwartungen an das Verhalten anderer sind zu Recht träge, denn Menschen handeln aus Gewohnheit. Allerdings muß der Begriff der Gewohnheit, der uns vor allem in der philosophischen Anthropologie begegnet, 144 evolutionär interpretiert werden: Viele menschliche Gewohnheiten sind nichts anderes als ontogenetisch feinabgestimmte genetische Vor strukturierungen. Daß wir uns einigermaßen widerspruchsfrei durch unser Leben bewegen, liegt nicht zuletzt daran, daß es fehlangepaßt wäre, jede Handlung neu konzipieren zu müssen. Vieles muß „gewohnheitsmäßig" ablaufen, damit wir auf unvorhergesehene Anforderungen mit voller Aufmerksamkeit reagieren können. Konsistenz ist also keineswegs nur die Grundlage von Rationalität, wie es Philosophen darzustellen pflegen, sondern auch die Grundlage nichtrationalen Verhaltens. Konsistenz ist adaptiv. Deshalb sind wir evolutionär so ausgestattet, daß wir Verhaltensdispositionen anderer einschätzen und extrapolieren, also in die Zukunft verlängern und auf andere Situationen übertragen können. Freilich, nie sind sichere Prognosen möglich, denn menschliches Verhalten ist relativ offen. Doch genügen unsere alltagspsychologischen „Gesetze" im Normalfall, aus 143

Schmidtchen (1994), S. 152 ff. Dazu Gehlen (1971), S. 65 f. Gehlen faßt auch den Gewohnheitscharakter des Verhaltens als „Entlastung" für den Menschen auf. 144

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Teil IV:

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Mimik (die universal und sogar speziesübergreifend ähnlich und deshalb so leicht entzifferbar i s t 1 4 5 ) , aus Gestik und gegenwärtigem Verhalten, gegebenenfalls in Verbindung mit weiterer Kenntnis der anderen Person, deren bevorstehendes Verhalten in Umrissen so abzuleiten, daß es für uns nicht völlig überraschend k o m m t . 1 4 6

b) Funktionen des Vertrauens Gewohnheitscharakter und Erwartungsträgheit des Menschen schaffen die Basis für Vertrauen und Reputation. 147 Hinzukommen müssen geeignete Kommunikationsstrukturen, damit Vertrauenswürdigkeit Dritten vermittelt werden kann. 1 4 8 Insofern hat Kommunikation also doch eine entscheidende Bedeutung, ungeachtet der spieltheoretischen Feststellung, daß Komunikation allein das Gefangenendilemma nicht behebt. Dieselben Faktoren dürften auch die Basis dafür sein, daß Rückwärtsinduktion realiter keinen großen Einfluß hat. 1 4 9 Wie schon Rapoport und Chammah spieltheoretisch modellierten, besitzen Menschen eine Disposition, aus der Geschichte einer Interaktion Folgerungen für das eigene Interaktionsverhalten zu ziehen. 1 5 0 Es ist also nicht das drohende Ende der Kooperation, sondern die kooperative Vergangenheit und Hoffnungen auf eine kooperative Zukunft, die motivierend wirken. Welche Funktionen besitzt Vertrauen? Durch Vertrauen reduzieren wir die Komplexität sozialer Situationen, indem wir Vermutungen genügen lassen, wo uns Wissen nicht zur Verfügung steht. 1 5 1 Vertrauen ermöglicht auch längerfristige Reziprozität. 152 Wir diskontieren (unbewußt) in unserer strategischen Auszahlungsmatrix den Nutzen kurzfristigen betrügerischen Gewinnes in der Erwartung langfristig besserer Umstände („constraint maximization")· 1 5 3 Die Aussicht auf profitable Dauerbeziehungen nährt gängige Formeln wie „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft", „Geben ist 145

Siehe Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 613 ff. R. H. Frank (1988), S. 12 ff. In Robert Axelrods Computerturnier nahm dieser Umstand eine einfache Form an: Das erfolgreiche Programm WIE DU MIR, so ICH DIR wartete vor einem kooperativen Zug auf Kooperation des Gegenspielers, wenn dieser vorher betrogen hatte. 147 Vgl. dazu Vogel (1988), S. 207. 148 Bierhoff (1998), S. 336 f. 149 Vgl. Kliemt (1986), S. 100 f. 150 Rapoport/Chammah (1965). 151 Vgl. grundlegend Luhmann (1973). 146

152

Oswald (1994), S. 114 f. Vgl. Binmore (1994), S. 179 ff. Zur Diskontierung aus psychologischer Sicht R. H. Frank (1988), S. 76 ff. 153

Β. Der Mittelbereich: Gegenseitigkeit, Betrug und Konkurrenz

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besser als Nehmen" oder „ehrlich währt am längsten". Allan Gibbard bemerkt: „It should not be surprising if we find widespread benevolence without thought of return. Often returns come unthought."154 Und einschränkend wenig später: „People may act with no thought of return, but their benevolent impulses can be stilled by indications that no return is in the offing. There is no great evolutionary mystery why we might be like that." 155 Gegenseitigkeitserwägungen sind stummer Begleiter vertrauensvoll-großzügiger Gesten. Wie die Psychologin Margit Oswald bemerkt: „Es ist davon auszugehen, daß mehr oder weniger bewußt in allen Vertrauensbeziehungen Austauschüberlegungen stattfinden." 156 Erst recht in weniger vertrauten Beziehungen! Der Bewußtheitsgrad und die Strenge von Gegenseitigkeitskalkulationen hängen von der Art der Beziehung ab. Oswald unterscheidet vier Vertrauenstypen mit einem absteigendem Gradienten von Vertrauensvorschuß: Liebesvertrauen, Freundschafts-, Vertrags- und Fremdvertrauen. 157 Je weniger Vertrauen uns zu Gebote steht, desto eher müssen äußere Bindungen an seine Stelle treten. Bindungen sind solche Handlungen oder Rahmenbedingungen, die dazu führen, daß die Ankündigung eines bestimmten Verhaltens glaubhaft erscheint. 158 Das ist dann der Fall, wenn das angekündigte Verhalten für den Akteur dominant nutzenmaximierend ist: „Credibility requires finding a way to prevent going back." 1 5 9 Bindungen können durch Auszahlungsveränderungen (wie beim Austausch von Pfändern in Schellings Entführer-Fall) oder durch eine dritte Instanz (wie das Recht) ermöglicht werden. 1 6 0 Da externe Bindungen nicht immer möglich sind oder unnötig hohe Kosten verursachen, ist eine Vetrauenslösung grundsätzlich vorzugswürdig. Gerade das Recht soll nur als ultima ratio zum Einsatz kommen. Allerdings ermöglicht es Kooperation dort, wo Vertrauen wegen der Anonymität der Beziehungen nicht entstehen würde. In Gesellschaften mit einer Vielzahl anonymer Beziehungen ist das Recht unabdingbar. Doch nicht überall ist sein Einsatz gewünscht. Wirtschaftsbeziehungen etwa spielen sich häufig im „Vorzimmer des Rechts" ab: Nur im Notfall wird auf eine juristische 154

Gibbard (1990a), S. 258. Ebd., S. 259. 156 Oswald (1994), S. 115. Siehe auch R. Wright (1994), Kap. 13, zu subjektiv gefärbten Gegenseitigkeitsmaßstäben: Wir sind uns eher dessen bewußt, was uns geschuldet wird, als was wir schulden. 157 Oswald (1994), S. 121 f. 158 Schmidtchen (1994), S. 145 f. 159 Dixit/Nalebuff (1991), S. 143. 160 Schmidtchen (1994), S. 154 ff. 155

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Lösung zurückgegriffen. 161 Ohne Vertrauen gäbe es keine wirtschaftlichen Kontakte über rudimentären Tausch hinaus. Nicht die jederzeit ausgeglichene, sondern die längerfristige Gegenseitigkeit ist die ökonomische Regel. Zu jeder Zeit sind Rechnungen offen. Die darin liegenden Abhängigkeiten werden akzeptiert, weil man davon ausgeht, daß die Beziehung weitergeht. Auf Anzeichen, daß die Beziehung vor der Beendigung steht, reagieren die Beteiligten sensibel. Wird z.B. ein Schuldner plötzlich illiquide, sind die Gläubiger schnell zur Stelle. Auch der Ökonom Kenneth Arrow betont die Rolle des Vertrauens: „Virtually every commercial transaction has within itself an element of trust, certainly any transaction conducted over a period of time. It can be plausibly argued that much of the economic backwardedness in the world can be explained by the lack of mutual confidence." 162 c) Indirekte Reziprozität Einen guten Ruf zu besitzen ist von erheblicher adaptiver Bedeutung. 163 Er sichert zukünftige Kooperationen und Positionen. Deshalb verhalten wir uns in Gegenwart Dritter so, daß unser Ruf nicht leidet. Unser Wohlverhalten ist insoweit eine Investition in die Zukunft. Richard Alexander spricht von indirekter Reziprozität: „Indirect reciprocity is what happens when direct reciprocity occurs in the presence of an interested audience." 164 Diese Aussage ist etwas zu erweitern. Nicht nur direkte Reziprozität, sondern jede Form der Prosozialität, die von Dritten vermerkt wird, hat den Effekt von indirekter Reziprozität. Indirekt ist sie deshalb, weil die Gegenleistung (im weitesten Sinne) von Dritten herrührt, nicht vom Leistungsempfänger. Auf diese Weise können sogar unter geeigneten Bedingungen unkooperative Ausgangslagen in iterierten Gefangenendilemmata durchbrochen werden. 1 6 5 Es nützt einem Spieler langfristig, sich in der ersten Runde 161

Bernstein (1992), S. 115; Epstein (1996), S. 6. Arrow (1972), S. 357. 163 Differenziert gegenüber der Rolle eines guten Rufes R. H. Frank (1988), S. 72 ff. Sein Argument ist: Wenn wir eine Person in einer Situation beobachten, in der sie Grund hat, sich beobachtet zu fühlen, können wir aus ihrem Verhalten nicht auf Ehrlichkeit, sondern nur auf Klugheit schließen. Denn in solchen Situationen ist es nicht rational zu mogeln. Dann aber fehlt es an der Übertragbarkeit der Beobachtung auf andere Fälle, in denen Heimlichkeit möglich ist. R. H. Frank kommt jedoch selbst letztlich auf das entscheidende Gegenargument zu sprechen (S. 75 f.): den Gewohnheitscharakter menschlichen Handelns. Unehrlichkeit ist oft keine Folge einer rationalen Entscheidung, sondern einer charakterlichen Disposition. Dann ist der besagte Schluß auf weiteres Verhalten der Person gerechtfertigt. 164 Alexander (1985), S. 14. Siehe auch Alexander (1979), S. 48 ff.; (1987), S. 85, 94. Erste Ansätze zu einer Theorie indirekter Reziprozität einmal mehr bei Trivers (1971), S. 52. 162

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einen guten Ruf aufzubauen, selbst wenn die erste Runde für ihn einen herben Verlust bedeutet. Voraussetzung ist, daß eine Art Öffentlichkeit, eine „Beobachtung" durch die anderen Spieler mitmodelliert wird. Das Verhalten der Spieler muß nach jeder Runde offengelegt werden und die Strategien müssen lernfähig sein. 1 6 6 Ein Beitrag zum Gemeinwohl kann dem einzelnen zum Vorteil gereichen, wenn seine Prosozialität bemerkt wird. Dies hat Auswirkungen auf das Dilemma kollektiver Güter. 1 6 7 Bürger gehen wählen, obwohl ihre Stimme unter Millionen Stimmen fast nichts ausrichtet: Die allgemeine Diskussion über den Ausgang von Wahlen und über das eigene Wahlverhalten schafft eine ausreichende Öffentlichkeit, um Nichtwählen vielen Wahlberechtigten als unattraktiv erscheinen zu lassen. 168 Zudem kann man sich eine Menge von vielen Millionen sowieso nicht vorstellen, so daß die einzelne Stimme in ihrem Einfluß überschätzt wird. Bürger lassen am autofreien Sonntag ihren Wagen stehen, obwohl man mit ihm so gut „durchkäme" wie sonst nie, doch wieder unter den kritischen Augen anderer. Psychologische Experimente legen nahe, daß Menschen kollektive Güter dann nicht ausbeuten, wenn sie den Umgang mit ihnen besprechen und ihren Nutzen auf die eigene überschaubare Gruppe beschränken können. 1 6 9 Rück165

Kliemt (1986), S. 177; Taylor (1987). Daß wir Dritte berücksichtigen, wenn wir uns in der Öffentlichkeit präsentieren, ist keine evolutionsbiologische Neuigkeit. Siehe schon Goffman (1959). Neu ist nur die Integration dieses Faktors der Verhaltenssteuerung in eine allgemeine Theorie des Sozial Verhaltens. 167 Vgl. Matt Ridley (1997), S. 109 ff. 168 Siehe Margolis (1982), Kap. 7. 169 Caporael et al. (1989). Verwertbar ist nur der experimentelle Teil dieses Aufsatzes. Caporael et al. erliegen in ihrer eigenen Interpretation des Experiments verschiedenen Mißverständnissen bezüglich der Aussagen der Evolutionsbiologie. Das deutet sich schon an, wenn für jeweilige evolutionsbiologische Thesen nicht die ursprünglichen Autoren, sondern spätere Rezipienten genannt werden (etwa Axelrod (1984) für den „reziproken Altruismus", Alexander (1987) für Verwandtschaftssolidarität; siehe Caporael et al. (1989), S. 683). Das Hauptproblem ist, daß die Autoren den Egoismus der Gene mit psychologischem Egoismus gleichsetzen bzw. diese Gleichsetzung für theoriekonstitutiv in der evolutionären Verhaltenstheorie halten; siehe ebd., S. 684, 693, 695. Indem sie sich dagegen wenden, rennen sie offene Türen ein [(dazu noch D. 1. b)]. Ein weiteres Mißverständnis liegt in dem Vorwurf, die evolutionäre Verhaltenstheorie gehe von isoliert lebenden Vorfahren des Menschen aus und mache Gruppenleben zum Problem, obwohl doch Gruppenleben ein viel älteres Faktum sei (S. 693). Zum einen greift die evolutionäre Verhaltenstheorie historisch viel weiter zurück als Caporael et al., wenn sie soziales Verhalten von Menschen aus vorangegangenen Zuständen erklärt. Vor allem aber nimmt sie zur Kenntnis, daß Gruppenleben nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile bringt, so daß jedenfalls das Fortbestehen von (immer größeren) Gruppen tatsächlich problematisch und nur als evolutionärer trade-off erklärlich ist. - Zur Bedeutung der normativen Diskussion siehe auch Gibbard (1990b). 166

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sieht und Ordnung im Straßenverkehr hingegen kranken daran, daß eine kommunikative Öffentlichkeit unter Autofahrern so gut wie nicht besteht. 1 7 0 Anonymität dominiert. Signalisiert allerdings eine Leuchtdiodentafel, man fahre zur Zeit 70 km/h, obwohl nur 50 km/h erlaubt sind, passen viele Autofahrer ihre Geschwindigkeit an, obwohl keine Sanktionen drohen. Die Achillesferse von „Prosozialität durch indirekte Reziprozität" ist die Möglichkeit heimlicher Sozialschädlichkeit: Nur wenn Betrug dem Ansehen stets schadete, weil er stets entdeckt würde, nähmen wir jederzeit aus Eigeninteresse von ihm Abstand. 1 7 1 Eine weiteres Manko ist unsere vor kurzem erwähnte Fähigkeit, unangehme Daten über uns in der Selbstwahrnehmung auszublenden und angenehme zu verstärken. 172 Dies macht uns gegebenenfalls immun gegen einen schlechten Ruf. Voraussetzung für indirekte Reziprozität ist auch ein Mindestmaß an wechselseitiger Bekanntheit. Sonst verfehlen Signale ihr Ziel und kann sich kein Ruf bilden. Diese Voraussetzung war in der Menschen- und Hominidengeschichte die längste Zeit erfüllt, so daß wir von daher entsprechende genetische Dispositionen mitbringen. 173 In einer anonymen Massengesellschaft ist die Bildung von Reputation hingegen erschwert. Ein Ausweg ist, die Gesellschaft durch diverse Untergruppierungen zu segmentieren, für die ähnliche „Gesetze" gelten wie für die archaische Kleingruppe. Der höhere Grad von wechselseitiger Bekanntheit hat dann auch leichtere Aufdeckung von Normmißachtungen und den Aufbau von Ansehen zur Folge. Allerdings lassen sich so die Probleme mit kollektiven Gütern in modernen Gesellschaften nicht lösen. Denn die Gruppen stehen in Konkurrenz miteinander und zur Gesellschaft. Private Reziprozität bringt sich in Gegensatz zur öffentlichen. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum wir anderen Ansehen zu verschaffen bereit sind. Die Verleihung von Privilegien - Ehrungen, öffentliches Lob, Orden, Titel - appelliert an den Wunsch nach guter Reputation 170

Stephan (2001). Margolis scheint in seiner Rehabilitierung des Gemeinsinns in der Ökonomie etwas zu weit zu gehen und diesen Faktor zu übersehen, wenn er etwa annimmt, daß Gemeinsinn mit gesellschaftlicher Macht (Politiker) oder Reichtum zunehme. Zwar trifft zu, daß Macht und Reichtum erlauben, das Gruppeninteresse effektiver zu fördern und dadurch größere Befriedigung aus der Förderung zu ziehen. Doch können sich auch andere Faktoren verändern, die den positiven Effekt zunichte machen. Deswegen wird sicherlich die absolute Summe gemeinwohlförderlichen Verhaltens mit Macht und Reichtum zunehmen, keinesfalls aber zwingend auch der Anteil dieses Verhaltens am Gesamtverhalten des Individuums. Vgl. Margolis (1982), S. 112 ff., 123 ff. 172 Trivers (1985), S. 418 ff. 173 Irons (1996a), S. 85. Irons integriert ebd., S. 82 ff., den Gedanken der indirekten Reziprozität in die Spieltheorie. Ebenso Nowak/Sigmund (1998). 171

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und animiert zu weiterem gemeinwohlförderlichem Handeln, von dem wir profitieren (there is no such thing as a free lunch). Allerdings profitieren wir auch davon, den Ruf von Konkurrenten zu schädigen und damit zugleich unseren eigenen zu befestigen, solange uns dies nicht als hinterhältig und vertrauenswrcwürdig ausgelegt wird. Tratsch und Klatsch (gossip), universale Eigenheiten menschlichen kommunikativen Umgangs, haben eine wichtige Funktion in der Bewertung von Personen als kooperationswürdig oder -unwürdig. 1 7 4 Alle in den letzten Abschnitten benannten Erscheinungsformen von Prosozialität bedeuteten nicht unterschiedslose, sondern diskriminierende Zuneigung, Nächstenliebe im engen Wortsinne. Interessanterweise scheint indirekte Reziprozität darüber hinauszugehen: „That means that whether or not we know it when we speak favorably to our children about Good Samaritanism, we are telling them about a behavior that has a strong likelihood of being reproductively profitable. In a small social group this can be true for the Good Samaritan even if he or she is never identified (Gruppennutzen wirkt auf Individualnutzen zurück; S. W.), but Good Samaritan acts seem likely to be most profitable to the actor if his responsibility for the act is discovered accidentally, and most importantly with no effort of his own." 175 Man könnte dies auch „Abgeben zum Angeben " nennen. Denn ein nicht zu vernachlässigender Aspekt an indirekter Reziprozität ist, daß die bloße Tatsache der Prosozialität offenbart, daß man sich Prosozialität leisten konnte. Nur wer Überschüsse besitzt, kann abgeben. Verbinden wir diese Überlegung mit der sog. „runaway cultural selection" bzw. der „costly signaling-" oder „Handicap-,, Theorie. 1 7 6 Ihr zufolge kann es zu fitneßmindernden Verhaltensweisen kommen, wenn sich Anpassungsmaßstäbe in der Kulturevolution von den Maßstäben der natürlichen Auslese entfernen. Dies muß jedoch nicht Fehlanpassung bewirken. Man erinnere sich an Darwins Konzept der „sexual selection". Um zu beurteilen, wie angepaßt ein Pfau mit riesigem Rad ist, genügt es nicht, seine Passung in Hinblick auf natürliche Selektionsdrücke zu analysieren. Vielmehr muß man einbeziehen, inwieweit der Pfau für Weibchen attraktiver sein mag. Die Weibchen reagieren vermutlich deshalb positiv auf das Pfauenrad, weil sie es als Indiz für „gute Gene" werten. Übertragen auf die Kulturevolution könnten fitneßschädliche Verhaltensweisen dazu dienen, Beobachtern den Überfluß an so174

Gibbard (1990b). Alexander (1987), S. 102. Siehe auch ders. (1985), S. 12. Kritisch Voland & Voland (1993), S. 218 f. Ihnen wäre zu entgegnen, daß indirekte Reziprozität hier und von Alexander ja nicht dazu verwendet wird zu behaupten, der Mensch sei häufig oder gar durchgängig unterschiedslos altruistisch. Es geht lediglich um ein Phänomen moralischen Handelns, das zwar nicht extrem verbreitet zu sein braucht, aber erklärungsbedürftig ist. 176 Vgl. Teil II A. 1. und Teil III B. 5. 175

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ziokulturellem Erfolg (in geronnener Form, nämlich als Besitz und Eigentum) zu zeigen. Wer anderen abgibt, bewirkt ein Zweifaches: Seine prosoziale Einstellung gereicht ihm zum gutem Ruf, und seine materielle Fähigkeit zum Abgeben wird vermerkt. Dies macht ihn zum um so begehrteren Kooperationspartner. 177 In diesem Zusammenhang sind subtile mentale Mechanismen zu erwarten, die die ebenso subtilen Versuche, Großzügigkeit auszunutzen, aufzudecken vermögen. Indirekte Reziprozität gebietet, heimliche gute Taten zu vermeiden und die Bedürftigkeit des Nutzenempfängers zu berücksichtigen. Insofern ist auch diese Form der Nächstenliebe nicht „unterschiedslos" in einem strengem, wohl aber in einem alltagssprachlichen Sinne. Die Abhängigkeit der Hilfsbereitschaft von der Bedürftigkeit des Empfängers spricht nicht für die Annahme genotypischen Altruismus'. Es ist aufschlußreich, eine sozialwissenschaftliche, hier sozialpsychologische Argumentation unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Experimentell läßt sich eine positive Korrelation zwischen Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft nachweisen. Daraus schließt der Autor, die personale Abhängigkeit rücke die „Norm der sozialen Verantwortung" ins Bewußtsein, mit der Folge altruistischen Verhaltens ohne Belohnungserwartung. 178 Der Schluß leidet an einer mangelnden Differenzierung möglicher Belohnungen. Tatsächlich steigt die „Belohnung" für Hilfeleistungen proportional mit der Hilfsbedürftigkeit des Empfängers deswegen, weil die Tat als zielsicher und angemessen wahrgenommen wird und häufig auch sichtbar größeren Einsatz verlangt. Wegen dieser Wahrnehmbarkeit sozialer Nützlichkeit und nicht etwa unabhängig davon führt große Hilfsbereitschaft auch zu besonders angenehmer „intrinsischer Belohnung". 1 7 9 Mit anderen Worten, auf entsprechenden hormonellen Belohnungen lag, als proximaten Mechanismen, ein positiver Selektionsdruck. Zu denken ist an das Gefühl, gebraucht zu werden und „sinnvolle" Risiken eingehen zu können. 1 8 0 177

Boone (1998). Bierhoff (1998), S. 84. 179 In der Sozialpsychologie wird intrinsische Motivation als unabhängiger Faktor neben anderen Motivationsquellen behandelt. Vgl. Bierhoff (1998), S. 93 ff. Dabei geht es wohl zu weit, wie manche Sozialpsychologen intrinsischen Nutzen als eigentliches Motiv für prosoziales Verhalten anzusprechen (Nachweise ebd., S. 97 f.). 180 Bierhoff (1998), S. 243 f., berichtet von den Ergebnissen einer Befragung, warum Menschen sich sozial engagieren. Wie aus evolutionärer Sicht nicht anders zu erwarten, bezeichneten besonders viele der Befragten die Übernahme moralischer Verantwortung als Hauptmotiv ihres Verhaltens. Die Befragung leidet daran, daß genau diese Selbstbeschreibung eine evolutionäre Funktion erfüllt und ein Fall verdrängten Eigennutzes ist. Das Vorgehen liefert ein Beispiel dafür, daß Selbstbeschreibungen für die Erforschung menschlichen Verhaltens nur begrenzt tauglich sind. So kann es nicht verwundern, daß Bierhoff zwar auf die evolutionäre Spiel178

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Daß die Mosaiksteine indirekter Reziprozität nicht auf durchgängige Nächstenliebe hinauslaufen, ist offensichtlich. Eher spielen sich komplexe Austauschsysteme ein, bei denen jede einzelne Leistung gleichwohl den Charakter eines Geschenks behält. Ethnologen wie Mauss und Lévi-Strauss sahen Gegenseitigkeit auch und gerade in Schenkungsriten am Werk. 1 8 1 Großzügigkeit, Vertrauen und Ansehen werden kultiviert durch komplizierte Systeme von Gegenseitigkeitserwartungen einerseits, Freistellungen von kurzfristiger Reziprozität andererseits. 182 So verschwistern sich längerfristige und indirekte Gegenseitigkeit. Lévi-Strauss beschrieb dies so: „Diese Geschenke werden entweder unverzüglich gegen gleichwertige Güter ausgetauscht oder von den Nutznießern mit der Verpflichtung entgegengenommen, bei der nächsten Gelegenheit Gegengeschenke zu machen, deren Wert den der ersten oftmals übersteigt, die jedoch wiederum das Recht begründen, später neue Gaben zu empfangen . . . " 1 8 3 Wer bei der Steigerung der Gaben nicht mithalten kann, muß sich mit niedrigerem gesellschaftlichem Status begnügen. 184 Der Austausch hat eminente Bedeutung für das gesamte soziale Leben: „... es besteht ein kontinuierlicher Übergang vom Krieg zum Tausch und vom Tausch zur Heirat untereinander, und der Austausch der Bräute ist nur der Abschluß eines ununterbrochenen Prozesses gegenseitiger Gaben, durch den sich der Übergang von der Feindschaft zur Allianz, von der Furcht zum Vertrauen, von der Angst zur Freundschaft vollzieht." 185 Geschenke sind alles andere als Zeichen bedingungsloser Selbstlosigkeit, sondern Zeichen des Nutzens längerfristiger und indirekter Reziprozität: „Why do people give each other gifts? It is partly to be nice to them, partly also to protect their own reputations as generous people, and partly too to put the recipient under an obligation to reciprocate. (...) By creating obligation, the gift is a weapon ... an expression and sometimes a parasitism of the reciprocity instinct." 186

theorie eingeht (S. 334 f.), die ihr zugrundeliegende Annahme einer natürlichen Auslese genotypisch eigennütziger Organismen aber nicht fruchtbar macht. 181 Zu Mauss schon Teil I A. 11. 182 Zur Komplexität wechselseitiger Schenkungserwartungen mit einer detaillierten Aufstellung, was beim Volk der Trobriander im Falle einer Heirat „freiwillig" auszutauschen ist, siehe Davis (1992), S. 32 f. 183 Lévi-Strauss (1949/1993), S. 108. 184 Ebd. 185 Ebd., S. 127. 186 Matt Ridley (1997), S. 118/123 f. 17 Wesche

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie 9. Emotionale Strategien der Prosozialität „Ita fit, ut ratio praesit, appetitus obtemperet. " 187 „In Deliberation, the last Appetite, or Aversion, immediately adhaering to the action, or to the omission thereof, is that wee call the Will ... " 188 a) Lust, Unlust und konkretere Gefühle

Weil Vertrauen und ein guter Ruf so wichtig sind, und wegen des Gewohnheitscharakters des Menschen, sind uns vertrauensbildende Verhaltensweisen in Fleisch und Blut übergegangen. Nutzenkalkulationen finden statt, doch in gröberer Form mittels im allgemeinen brauchbarer „Daumenregeln". Bei ihnen handelt es sich, wie schon bemerkt, nicht um rationale Entscheidungsprogramme, welche für die Regelfälle des Verhaltens bei weitem zu aufwendig und langwierig wären, sondern um gefühlsmäßige Neigungen, ergänzt um kognitive Abschätzungen hinsichtlich der gegebenen Handlungsparameter. 189 Rationale Fähigkeiten, Bewußtsein und Intentionalität sind durchaus von Nutzen, sobald es um die Kosten/Nutzen-Abschätzung komplexer und neuartiger Situationen geht: „Reasoning abilities allow us to understand reality so that we can strive in effective ways to satisfy our passions." 190 Aus diesem Grund unterlagen sie positiver Selektion, vor allem unter Bedingungen zunehmender Konkurrenz zwischen Gruppen und damit einhergehend steigender Gruppengröße und Interaktionskomplexität. 191 Doch sind gerade die Normalfälle prosozialen Verhaltens ohne emotionale „Daumenregeln" kaum vorstellbar. Ratio und Emotio greifen ineinander, wie es die Neurobiologie für das Zusammenspiel von Neocortex und limbischem System annimmt. 1 9 2 Unsere verräterische Mimik und andere Aspekte von Körpersprache tun ein übriges: Ob wir es wollen oder nicht, andere können uns häufig ansehen, was wir im Sinn haben. Doch gerade deshalb vertrauen sie uns. 1 9 3 Körpersprache ist schwer zu imitieren, sie „kommt von innen", schreibt Steven Pinker: 187

Cicero, De officiis, 1. Buch, XXVIII (S. 99): „So kommt es, daß die Vernunft befiehlt und das Verlangen gehorcht". 188 Hobbes (1651/1991), Kap. 6, S. 44 (Hervorhebungen i.O.). 189 Vgl. Teil III C. 4. b). 190 Irons (1996b), S. 50. Vgl. allgemein McShea (1990). 191 Alexander (1987), S. 110 ff. 192 Siehe Teil II C. 5. 193 Daß sich hier ein weiteres Feld für Betrug öffnet, bestellt von denjenigen, die sich besser als andere unter Kontrolle haben, ist offensichtlich. Ausführlich zu diesem Themenkreis R. H. Frank (1988), Kap. 6. Vgl. auch de Waal (1996), S. 114 ff., zum Erröten als adaptivem Merkmal.

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„People don't really believe that the grinning flight attendant is happy to see them. That is because a social smile is formed with a different configuration of muscles from the genuine smile of pleasure .. . " 1 9 4 Wie werden die Neigungen verhaltensrelevant? Auf der allgemeinsten Stufe korrelieren ihnen Lust- und Unlustgefühle. Lust und Unlust sind sozusagen die grundlegenden psychischen Kategorien, unser emotionales Unterscheidungssystem. Sie selbst sind aber wiederum in evolutionären Anpassungen gegründet. 195 Was Lust oder Unlust hervorruft, ist nicht zufällig, und Lust und Unlust sind keine „letzten", grundlegenden Kategorien. Sie stellen lediglich die grundlegenden psychischen Kategorien dar. Vor diesem Hintergrund entsteht, am Rande bemerkt, die Möglichkeit, die philosophische Tradition des Hedonismus neu zu lesen. Als anthropologische Theorie behauptet der Hedonismus, der Mensch sei von Lust- und Unlustgefühlen gesteuert. 196 Alle Wünsche des Menschen wurzelten letztendlich in dem Bestreben, Lust zu suchen und Schmerz zu vermeiden. Thomas Hobbes etwa hat diese Theorie vertreten. 197 Aus der hedonistischen Ausrichtung des menschlichen Trachtens folgt übrigens nicht, daß der Mensch keine selbstlosen Wünsche hegen könnte. Egoismus und Hedonismus sind zweierlei. Persönliche Lust kann sich daraus ergeben, daß man anderen hilft. Hier gilt dasselbe wie für das ökonomische Modell des Verhaltens, in dem für „Lust" „Nutzen" einzusetzen ist. Auf einer konkreteren Ebene finden sich Gefühle oder Emotionen als nähere Ausgestaltungen der Lust/Unlust-Dichotomie. Evolutionär relevante Gefühle umfassen alle Situationen des Alltags. Einige seien genannt, zusammen mit einer groben Annäherung an ihre genfunktionale Bedeutung: 1 9 8 - Vertrauen eröffnet, Zuneigung und Freundschaft erhalten kooperative Verhältnisse. Positiver Selektionsdruck lag auf der emotionalen intrinsischen Belohnung für Kooperativität, genauso aber auch auf kognitiven Auswahlfähigkeiten, gerade solchen Personen Vertrauen und Zuneigung zu schenken, die zu Prosozialität bereit sind. 1 9 9 Sympathetische Gefühle konzentrieren eigene Leistungen auf Verwandte und lohnende Kooperationspartner. 194

Pinker (1997), S. 415. Alexander (1976), S. 280 f. 196 Unterscheide diese Theorie von der hedonistischen Ethik (Epikur), derzufolge der Mensch sich nur von der Suche nach Lust leiten lassen solle. 197 Vgl. Hobbes (1651/1991), Kap. 6. 198 Ähnlich Pinker (1997), S. 404 f.; grundlegend LeDoux (1996). Vgl. auch schon Trivers (1971), S. 47 ff. 199 Siehe schon G. C. Williams (1966), S. 93. 195

1*

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- Ärger schützt jene, deren Zuneigung und Vertrauen sie für Betrug verletzlich gemacht haben. Hierhin gehört auch die normerhaltende Aggression. - Neid treibt dazu an, andere nicht zu mächtig und reich werden zu lassen. Er bringt diese anderen dazu, von ihren Ressourcen etwas abzugeben, bevor die Kosten der Verteidigung der Ressourcen zu hoch werden. Neid ist besonders machtvoll, wenn er sich in Koalitionen begibt (siehe oben). Neid kann auch dazu führen, daß man durch eigene Leistung danach strebt, mindestens so viele Ressourcen wie die in Vergleich genommenen anderen zu erlangen. Ihm liegt letztlich zugrunde, daß es in der Evolution nicht darauf ankommt, absolut, sondern relativ optimal angepaßt zu sein, d.h. besser als die Wettbewerber. Dementsprechend sind Menschen weniger davon umgetrieben, absolut gesehen viel, als davon, mehr als andere haben zu wollen. Güter sind deshalb attraktiv, weil sie der Nachbar hat, nicht deshalb, weil es sie gibt (sog. „positioneile Güter"). 2 0 0 - Dankbarkeit, Sich-Verpflichtet-Fühlen und Selbstachtung führen zum Wunsch, Leistungen zu erwidern, mithin zum Erhalt von längerfristig einträchtigen Beziehungen. 201 Diese Gefühle sind das Gegenstück zur Leistungserwartung an andere. Unbewußte, aber hochspezialisierte Mechanismen zeigen an, ob eher Dankbarkeit oder eher Leistungserwartung oder sogar normerhaltende Aggression am Platze sind. 2 0 2 - (Romantische) Liebe führt zu unbedingter Bindung an einen Sexualpartner, damit zu einer langfristig vorteilhaften Fortpflanzungsbeziehung, die gegen kurzfristige Verlockungen eher immun ist - zum beiderseitigen Vorteil, insbesondere zum Erhalt der elterlichen Investitionen. 203 - Ob es ein Rechtsgefühl gibt und wenn ja, wes Inhalts, ist umstritten. Darauf wird zurückzukommen sein. Es bedarf keiner erneuten Betonung, daß solche funktionalistischen Hypothesen keine reduktionistischen Ambitionen verfolgen. A m Gefühl selbst ändert sich nichts, wenn wir wissen, daß seine physiologisch-hormonelle Grundlage gattungsgeschichtlich evoluiert ist.

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Zu spieltheoretischen Konsequenzen dieses Umstands siehe schon Fn. 95. Vgl. zur Dankbarkeit die klassische Studie von Simmel (1908/1968), S. 443 ff., in der Simmel herausarbeitet, wie Dankbarkeit stabile Gegenseitigkeit gewährleistet. 202 Cosmides/Tooby (1992); Tooby/Cosmides (1992). 203 Dazu R. H. Frank (1988); Pinker (1997), S. 417 f. 201

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b) Emotionale Selbstbindung Meistens sind wir auch dann noch ehrlich und großzügig, „wenn es sich nicht lohnt". Wir sind es noch, wenn wir etwa wissen, daß wir mit dem anderen nur dieses eine Mal zu tun haben werden. 2 0 4 Doch warum geben wir etwa Trinkgeld im Urlaub in einem Restaurant, das wir nie wieder besuchen werden und in dem uns niemand kennt, der unseren Ruf ruinieren könnte? Nutzenmaximierend wäre es doch, wir würden in jeder Situation unsere Auszahlungsmatrix anpassen und hochflexibel reagieren. Doch so ist unsere Psyche nicht beschaffen. Positiv selektiert wurden Signale flir verläßliche Kooperativität. Wer sie aufweist, kann mit vielen Gelegenheiten für vorteilhafte Kooperation rechnen. Inkonsistenz hingegen, widersprüchliches oder sprunghaftes Verhalten, wird als Anzeichen eines Willens zum Übervorteilen gedeutet. Wer sich etwas herausnehmen möchte, was er anderen nicht gönnt, tut dies um den Preis der doppelten Moral. 2 0 5 Gerade die Vorteilhaftigkeit konsistenter psychischer Einstellungen verbietet einen schnellen Strategiewechsel. Wer bis zur Kooperation des anderen ehrlich und großzügig war und ihn dadurch für sich gewinnen konnte, dem fällt es schwer, genau dann betrügerisch zu werden. 2 0 6 Dies gilt sogar in nicht (!) iterierten GD's, in denen es eigentlich „rational" wäre, selbst nach kooperativer Vorleistung des anderen Spielers die Betrugsstrategie zu wählen. 2 0 7 Normalerweise verzichten wir auf kurzfristigen Gewinn um des langfristigen Gewinns willen. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Frank vermutet, das Motiv zu konsistent ehrlichem und großzügigem Verhalten ohne (oder mit sehr eingeschränkter) situativer Differenzierung liege darin,

„sich die Disposition zu ehrlichem Verhalten zu bewahren und sie zu festigen. Wenn ich in einer fremden Stadt kein Trinkgeld gebe, dann wird es für mich schwieriger sein, die Emotionen beizubehalten, die mich bei anderen Gelegenheiten zu ehrlichem Verhalten motivieren. Es ist diese Veränderung meiner gefühlsmäßigen Verfassung - nicht die Tatsache, daß ich kein Trinkgeld gegeben habe -, die von anderen Menschen wahrgenommen werden kann" 20* Übung macht den Meister. Gefühlsmäßige Neigungen sind genau dies: bloße Neigungen, die durch entgegenstehende Sozialisation überspielt 204

Binmore weist zu Recht darauf hin (1994), S. 183), daß der Verzicht auf Kurzfristmaximierung in nicht-iterierten, einmaligen („one-shot") Spielen schwerer zu erklären ist. R. H. Frank et al. (1993) äußern sich dazu aus evolutionärer Perspektive. 205 Gibbard (1990b), S. 793. 206 Ebd., S. 795: „These emotional mechanisms ... cannot be fine-tuned to produce the feelings only when they will pay." 207 Kiyonari et al. (2000). 208 R. H. Frank (1988), S. 18 f. (kursiv i.O.; Übersetzung von Ruth Zimmerling, München (1992).

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werden können. Ohne Einübung in prosoziale Verhaltensmuster stehen sie uns nicht zu Gebote. 209 Koevolutionär sind wir so beschaffen, daß wir uns solchen Übungen unterwerfen und uns in der Regel in den jeweiligen kulturellen Kontext einpassen, von dem wir abhängig sind. Tun wir das nicht, strafen uns unser Gewissen und unsere Nutzenbilanz, tun es andere nicht, strafen wir sie mit normerhaltender Aggression oder weitergehenden Sanktionen. 2 1 0 A l l dies gilt nur cum grano salis. Doppelte Moral und Trittbrettfahren etwa sind und bleiben bedeutende weitere Faktoren in der Verhaltensausrichtung des Menschen. Doch sind wir nicht darauf programmiert, jederzeit unseren individuellen Nutzen zu maximieren, sondern im Gegenteil darauf, Nutzen zu verschenken - ohne daß uns dies langfristig zum Nachteil gereichte: „Being known to experience certain emotions enables us to make commitments that would otherwise not be credible. The clear irony here is that this ability, which springs from a failure to pursue self-interest, confers genuine advantages."211 Nicht nur prosoziale Verhaltensweisen sind allerdings als adaptive emotionale Strategien verankert. Nehmen wir das Beispiel der Rache. Einmal angenommen, es leben zwei rivalisierende Gruppen in Nachbarschaft. 212 Die eine, A, besteht aus völlig rationalen Nutzenmaximierern, die andere, B, aus hochemotionalen Hitzköpfen. Ein Mitglied von Β tötet eines von A. Nun spricht einiges dafür, von Rache Abstand zu nehmen. Denn der Tote läßt sich nicht zurückholen, und Rache führt nur zu weiterer Rache. Eigentlich ist die Rachedrohung daher nicht neuverhandlungsstabil. Doch wäre es ein verhängnisvolles Signal, auf Rache zu verzichten. Denn es würde der Eindruck erweckt, es sei gefahrlos, einen rationalen Nutzenmaximierer zu töten. So lag ein positiver Selektionsdruck auf Rachegefühlen, gerade weil 209

Vgl. auch Sesardic (1995), S. 149 ff. Ein vieldiskutiertes Beispiel: Als Soldat hilft man „selbstverständlich" dem Kameraden, auch mit einer Blutspende. Kameradschaft ist ein in hohem Maße sozialnormdurchzogener Komplex, ohne dessen Berücksichtigung die Motivation zur Blutspende nicht erklärt werden kann. Doch gerade die sozialnormative Absicherung von Kameradschaft ist aus Revolutionärer Sicht gut verständlich. Einige andere Varianten von Blutspende sind sowieso unmittelbar eigennützig: die bezahlte und die zum Zweck der Bluterneuerung geleistete Blutspende. Für den Philosophen Peter Singer stellt hingegen die Blutspende unter Soldaten ein Paradebeispiel der Begrenztheit der Evolutionstheorie dar. Er spricht ((1981), S. 134) von „working refutations of the contention that altruism can only exist among kin, within small groups, or where it pays off by encouraging reciprocal altruism." 211 R. H. Frank (1992), S. 51 f. (kursiv i.O.). 212 Vgl. R. H. Frank (1988), S. 1 f.; Irons (1996b), S. 52; Pinker (1997), S. 407 ff. 210

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diese Gefühle Nutzenkalkulationen verhindern und dadurch ihre Träger per Abschreckung schützen. Freilich wäre es schön, wenn die Abschreckung ihren Dienst täte, ohne jemals aktiviert zu werden. Doch um glaubhaft zu sein, muß die psychische Disposition zu Rache tatsächlich vorliegen und ggf. handlungsmotivierend sein. So nimmt das Unheil seinen Lauf. Gestoppt werden kann es durch das Gewaltmonopol des Staates. Denn psychische Dispositionen sind ja genetisch nicht fixiert, sondern entwickeln sich nur unter entsprechenden Umweltbedingungen. Die Möglichkeit, Delikte durch Einsatz des Rechts zu sühnen, ist eine solche Umweltbedingung. c) Grenzen des Rationalismus Emotionen bringen uns dazu, kurzfristigen Nutzen zu vergeben, ohne langfristig darunter leiden zu müssen. Weder klassische Ökonomie, noch die frühere Soziobiologie haben einen überzeugenden Platz für diese Beobachtung. Freilich kann man die Modelle des rationalen oder genegoistischen Nutzenmaximierers immunisieren, indem man als zu maximierenden Nutzen alle möglichen prosozialen Wünsche zuläßt. Denn bekanntlich richtet sich das von der Ökonomie vorausgesetzte Eigeninteresse auf die Erfüllung gegebener, beliebiger Präferenzen; der Genegoismus bezieht sich nur auf die genetische, nicht die intentionale Ebene. Doch interessant wird das Modell für eine Untersuchung menschlichen Sozialverhaltens erst dann, wenn die tatsächlichen prosozialen Präferenzen der Menschen nicht bloß „zugelassen", sondern einbezogen werden. 213 Soweit die rational choice theory oder Ökonomie zutrifft und Menschen ihren Nutzen maximieren, liegt das paradoxerweise gerade nicht an der Rationalität des Menschen, sondern an seinen Emotionen, den Einschränkungen der Rationalität. 214 Unsere gefühlsmäßigen Verhaltensneigungen sind so beschaffen, daß wir in der Regel zumindest mittelbar unseren Vorteil erhalten. 2 1 5 Wer ihn unmittelbar sucht, gilt der allgemeinen Meinung als egoistisch oder rücksichtslos. Daraus folgt: „To identify people who are not opportunists is an advantage; to be identified as a non-opportunist is equally an advantage for it attracts others of the same stamp. Honesty really is the best policy for the emotions."216 So liegt in emotionalen Dispositionen die Quelle sowohl unserer langfristigen Nutzenmaximierung als auch unserer Prosozialität. Einer Theorie, die 213 R. H. Frank (1988), S. 14 ff.; Margolis (1982), S. 12 f. - Bei Kirchner (1997), S. 18, wird der heuristische Wert der Rationalitätsannahme betont. 214 Ähnlich auch Schmidtchen (1994), S. 143 ff. 215 R. H. Frank (1988), S. 4 f., 11 f., 144 f. u.ö. Ähnlich Cosmides/Tooby (1992); Matt Ridley (1997), S. 127 ff.; Trivers (1971), S. 47 ff. 216 Matt Ridley (1997), S. 139.

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Teil IV:

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auf diese Weise die Psyche des Menschen einbezieht, ist die Hyperrationalisierung fremd, die manche Philosophen ihren Denkgebäuden zugrunde legen. So wird die menschliche Vernunft als die Quelle der Moral ausgewiesen, während diejenige Prosozialität, die in Mitgefühl und ähnlichen Emotionen wurzelt, als moralneutral gilt. Kant ist hier die einschlägige Referenz. Aber auch gegenwärtige Philosophen vertrauen auf die Kraft der Vernunft gegen die angeblich dunklen und unmoralischen Verhaltensmuster des Menschen. Nicht selten schwingt hier die Meinung mit, das Unmoralische hätten wir mit den Tieren gemein, erst die Vernunft erhebe uns über jene. Peter Singer glaubt, die Erweiterung gerade der rationalen Fähigkeiten werde zu einer Ausdehnung selbstloser Sympathie sogar auf Tiere führen. 2 1 7 Thomas Nagel meint gar, Egoismus sei unvereinbar mit Rationalität. 2 1 8 Freilich, man kann den Rationalitätsbegriff so aufladen, daß man ihm alles entnehmen kann. 2 1 9 So wird er bevorzugt mit dem Moralbegriff verschmolzen, beide dann als menschliche Spezifika gehandelt. David Hume polemisierte zynisch, aber zutreffend gegen diese unfundierte Vermischung: „'Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger." 2 2 0 Übersehen wird auch, daß der Mensch ohne Einbezug der emotionalen Zentren im Gehirn nicht einmal handlungsfähig ist. Der Verstand kann aus sich heraus nicht motivieren. 221 Kant konnte das noch nicht wissen. Doch ist es Zeit für eine Revision, auch in der Philosophie. Emotionen spielten nicht nur im amerikanischen Emotivismus (Stevenson), dort allerdings spezifisch a-moralisch, eine Rolle, sondern bilden auch den Angelpunkt in Gibbards Theorie normativer Urteile 2 2 2 oder bei dem Utilitaristen Richard Brandt. 2 2 3 Die koevolutionäre Verhaltenstheorie fügt weitere Gründe hinzu, warum die philosophische Rationalitätsverherrlichung verfehlt ist: Sowohl Vernunft als auch Psyche sind Quelle von sowohl prosozialen als auch betrügerischen Aktivitäten. Stünde der Verstand stets bereit, kurzfristig nutzenmaxi217

Singer (1981). T. Nagel (1986), S. 159. 219 So lautet auch ein bekannter Vorwurf gegen die Diskursethik Apels und Habermas', sie lege in die Diskursbedingungen als angeblich unhintergehbare Voraussetzungen der Kommunikation hinein, was als moralische Prinzipien allererst herauskommen soll. Zu dieser Kritik vgl. Wesche (1999). 220 Hume (1739/1978), book II part II sect. III, S. 416. 221 Gruter/Masters (1996), S. 569. Philosophen standen schon immer vor dem Problem, wie es möglich ist, daß Menschen das „Gute" oder „Richtige" erkennen und doch nicht entsprechend handeln (das Problem der Akrasia bei Piaton und Aristoteles). Um Menschen dazu zu bewegen, etwas zu tun, muß man ihre Psyche erreichen, nicht nur ihren Verstand. 222 Gibbard (1990a). 223 Brandt (1996). 218

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mierende Strategien auszuhecken, wäre die Welt nicht so relativ prosozial eingerichtet, wie sie es ist: „In contrast to those who have hoped that only reason could bridge the gap between pure egoism and the moral point of view, it is revealed here that, in some contexts at least, narrow selfishness can be transcended in no other way than by modifying the ,nonrational' parts of the mind, and by natural selection working on the mental dispositions, habits, and emotions. This opens up an interesting possibility that, despite the notorious selfishness of its units of selection and its , blind4 way of operation, biological evolution can still give rise to certain forms of altruism that are inherently unattainable even to infinitely intelligent selfish deliberators, as long as they remain fully rational." 224

10. Gewissen, Schuldgefühle

und besonders gut versteckte Anpassungen

Ist nicht das menschliche Gewissen ein Gegenbeispiel zu der Hypothese, menschliches Verhalten ließe sich zum größten Teil als versteckte Anpassung verstehen? „Gewissen" meint die intrapsychische Instanz der Moral, die bewirkt, daß man trotz der Versuchung zu betrügerischem Verhalten prosoziale Verhaltensweisen an den Tag legt. 2 2 5 Ein Kennzeichen des Gewissens ist die Unbedingtheit seiner Normen: „Das macht man einfach nicht!" Das Gewissen überhebt sich individueller Kosten/Nutzen-Kalkulationen und setzt an ihre Stelle kategorische Normen, denen zuwiderzuhandeln innere Konflikte und Schuldgefühle (kognitive Dissonanz) auslöst. Handeln im Einklang mit dem Gewissen erzeugt intrinsische Belohnung, Wohlgefühl. Gewissensgebote und -verböte wurden meistens im Laufe der kindlichen Sozialisation internalisiert. 226 Frühkindliche Internalisierung erfolgt duch prägungsartiges Lernen? 21 Gewissensinhalte sind zwar selten irreversibel, wohl aber sehr änderungsresistent. Normen und Werte, die man als Kind lernt, begleiten einen normalerweise mit relativ geringfügigen Änderungen das ganze Leben hindurch. Das liegt schon allein daran, daß Kinder zuerst die Werte selbst und erst viel später deren Kontingenz und Veränderlichkeit lernen. 2 2 8 Ein Beleg für diese Alltagsweisheiten ist etwa die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in verschiedenen Altersgruppen der Bevölke224

Sesardic (1995), S. 154. Hammer/Keller (1997), S. 154. Der Begriff ist als entwicklungs- und allgemein-psychologische Kategorie freilich hoch umstritten. Vgl. Eckensberger (1985), S. 76 f. 226 „Internalisierung" meint hier die Aufnahme von Normen in das Fühlen und Erleben der Person. Unterscheide davon den ökonomischen Internalisierungsbegriff, Teil I A. 4. 227 Zum Begriff der Prägung Teil II B. 5. Zum prägungsartigen Lernen bei Menschenkindern siehe Immelmann/Keller (1988), S. 143, 178 f. 225

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rung. Die in der Zeit des Nationalsozialismus unter 30-jährigen waren relativ am meisten antisemitisch eingestellt sowohl 1949 als auch 1987 im Alter von über 65. 40 Jahre Bundesrepublik und die mittlerweile geringe Zahl an Juden haben an diesem traurigen Befund nichts ändern können. 2 2 9 Es scheint, daß Menschen aus Gewissensgründen Dinge tun, die ihnen schaden. Wenn dem so sein sollte, so ein Einwand gegen die Revolutionäre Verhaltenstheorie, könnten das Gewissen und seine Normen keine koevolutionären Anpassungen darstellen. Um diesen Einwand zu prüfen, empfiehlt es sich, zunächst noch einmal nach langfristiger, bewußtseinsmäßig ausgeblendeter Nützlichkeit gewissensgesteuerten Verhaltens zu fahnden: - Soweit normgemäßes, moralisches Verhalten nur ein anderer Name für reziproke Kooperation ist, bestehen hinsichtlich der Nützlichkeit keine Zweifel - WIE DU MIR, SO ICH DIR belegt sie. Das Gewissen kann hierbei die Funktion haben, in der unbewußten Kalkulation reziproker Verhältnisse mitzuwirken. Durch Schuldgefühle verhindert es, den Bogen zu überspannen und, denn letztlich wäre es nachteilig, „kreditunwürdig" zu werden. 2 3 0 - Wer auf sofortigen Gewinn verzichtet, hat häufig auf lange Sicht bessere Karten. Insoweit das menschliche Gewissen unter Selektionsbedingungen geprägt wurde, die durch funktionierende Sozialbeziehungen gekennzeichnet waren, sollte genau das eintreten, was wir heute vorfinden: Die meisten Leute sind meistens ehrlich. Das Gewissen schützt uns vor Neigungen, die unseren Ruf ruinieren würden. 2 3 1 Richard Alexander vermutet: „ . . . conscience is the ... voice that tells us how far we can go without incurring intolerable risks."232 Doch sehen wir sofort die Grenze dieser Überlegung: Manche Leute sind meistens, die meisten Leute manchmal unehrlich. Alleinentscheidend kann die ehrliche Disposition also nie gewesen sein. Stets war es auch wichtig, unter geeigneten Umständen zur Übervorteilung anderer bereit und in der Lage zu sein. 2 3 3 So wurde auch dies fester Bestandteil von Erziehung, etwa in Form doppelter Moral. Dadurch wird verhindert, daß das Gewissen zu strikt agiert. Es kann zum Schweigen gebracht werden, 228

Piaget (1932/1973); Eckensberger (1985), S. 87 f.; Eckensberger/Breit (1997), S. 276 f. 229 Nachweise bei Verbeek (1998), S. 355. 230 Hammer/Keller (1997), S. 160. 231 Ähnlich Trivers (1971), S. 50. 232 Alexander (1979), S. 133. Mit dieser Erklärung allein wird man allerdings nicht dem Phänomen gerecht. Gewissen ist nicht nur dann aktiv, wenn tatsächliche Risiken der Entdeckung bestehen. Vgl. schon Trivers (1971), S. 50. 233 R. H. Frank (1988), S. 72 ff.

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weil es schon in seiner prägungssensiblen Phase in der Kindheit nicht immer mit eindeutig prosozialen Botschaften gefüttert wurde. 2 3 4 Diese Aussagen gelten (wie alle anderen in dieser Arbeit) selbstverständlich nicht für jeden einzelnen, sondern für den „Durchschnittsmenschen". - Des weiteren ist an den mittelbaren Nutzen von Verzicht (constraint maximization) zu denken: Die Frustration von Bedürfnissen wie Aggressionen und Sexualtrieb kann eine sozial wichtige Funktion haben, das heißt der Gruppe nützen. Auf das Funktionieren der Gruppe aber ist jedes Individuum angewiesen. 235 Damit ist das Gewissen zumindest auch eine Instanz, die uns an unseren langfristigen Nutzen erinnert. Das tut sie auf eine Weise, daß wir nicht spüren, daß wir unseren langfristigen Nutzen verfolgen. Das Gewissen stellt sich dar als Schaltstelle zwischen genetischer Vorstrukturierung, Gruppennormen, soweit diese internalisiert wurden, und Verhalten. Doch nehmen wir nunmehr an, unser Gewissen habe tatsächlich zur Folge, daß wir sogar unseren langfristigen Interessen gelegentlich schaden. Trifft dann der obengenannte Einwand zu? Drei sich ergänzende Antwortstrategien erscheinen denkbar: a) Man könnte erstens zurückfragen, ob die Tatsache, daß wir uns schaden, vielleicht anderen nützt, deren Einfluß wir uns nicht entziehen können. Warum verankern unsere Eltern und andere einflußreiche Personen Gewissensprägungen in uns, die uns zum Nachteil gereichen können? b) Zweitens fragt sich natürlich, warum wir für solcherart Prägungen empfänglich sein sollten. Liegt nicht doch wieder ein Nutzen darin, extrem normempfänglich zu sein? c) Vielleicht lassen sich auch manche Fälle als „Nieten" in einem Spiel des Lebens verstehen, in dem es sich prinzipiell lohnt, Risiken einzugehen. Es läge dann ein trade-off von nachteiligem und vorteilhaftem Verhalten vor, mit einem statistischen Überwiegen des letzteren.

234

Dabei kommt es eher auf das Verhalten denn auf die Worte der Eltern an; vgl. Hammer/Keller (1997); Kreppner (1997), S. 342 ff. 235 Vgl. Kuli (1979), S. 150. - Darwin erkannte bereits ((1871/1982), S. 150 und 166): „Da kein Mensch die für das Wohl der Gesamtheit wichtigen Tugenden ohne Selbstverleugnung, Selbstbeherrschung und beharrliche Ausdauer entfalten kann, so sind auch diese Eigenschaften zu jeder Zeit hochgeschätzt worden. (...) Selbstsüchtige unverträgliche Menschen können nicht zusammenhalten, und ohne Eintracht kann nichts erreicht werden."

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a) Nutzen für Dritte und „erweiterter Phänotyp" Die erste Frage ist leicht beantwortet, wenn man sich eine Grundüberlegung der Revolutionären Verhaltenstheorie vergegenwärtigt: Prosoziale Verhaltensweisen müssen nicht unbedingt demjenigen nützen, der sie an den Tag legt, Normen nicht unbedingt dem, der sie verinnerlicht. 236 Verzicht auf Nutzenmaximierung nützt anderen. Er nützt auch Eltern, die in erster Linie für die Verinnerlichung von Normen und Verhaltensmustern bei ihren Kindern zuständig sind. Eltern verfolgen neben dem Wohl ihrer Kinder (deren Gene sie zu je 50% teilen) auch ihr eigenes (an dem sie 100%-igen „Anteil" haben). Der Generationenkonflikt hat hier seine grundlegende Ursache. 237 Er beginnt übrigens nicht erst nach der Entbindung. Schon im Mutterleib überschneiden sich die reproduktiven „Interessen" von Mutter und Kind zwar sehr weitgehend, aber nicht v ö l l i g . 2 3 8 Sie überschneiden sich, insofern das Kind das Mittel zur Verbreitung für den mütterlichen Genpool und umgekehrt die mütterliche Sorge vor und nach der Geburt Lebensbedingung des Kindes ist. Die „genetischen Interessen" divergieren, insofern die Mutter nur in aussichtsreiche Schwangerschaften investieren „will". Ist etwa Nahrung vorübergehend knapp, ist es vorteilhaft, in dieser Situation auf Nachwuchs zu verzichten, um später dafür fit zu sein. Dieses „Wollen" und diese „Interessen" sind keine psychologischen Kategorien. Sie finden gen-gesteuert hormonell statt. Wolfgang Wickler gibt ein Beispiel: „Im Laufe der Evolution der nicht übereinstimmenden Interessen von Mutter und Kind ist eine prophylaktische ,Gegenwehr' des Embryos schon zum Normalzustand geworden. Während die Mutter das Investieren in jede Schwangerschaft abwägt im Hinblick auf weitere Kinder, um das Gesamtwohl aller ihrer Kinder zu heben, versucht jeder Embryo das Maximum an mütterlicher Unterstützung für sich zu gewinnen. Seine Nahrung bekommt er aus dem Blutkreislauf der Mutter. (...) Die Adern der Mutter in der Plazenta sind mit einer besonderen Muskulatur umgeben, die die Adern verengen und erweitern und so den Nahrungsfluß regeln. Der Embryo jedoch schickt ein spezielles Gewebe in den Körper der Mutter zu diesen Adern und zerstört die Steuermuskulatur, so daß die Mutter sie nicht mehr verengen kann. Allerdings läßt sich die Nahrungszufuhr auch mit dem Durchfluß durch Blutdruck vergrößern und verkleinern. Dem begegnet der Embryo mit Blutdruck steigernden Hormonen, die er nicht in seinen, sondern in den Blutkreislauf der Mutter schickt." 239 So geht der evolutionäre „Rüstungswettlauf 4 weiter, erstreckt sich auf Hormone, die den Blutzucker regulieren, und Gegenhormone. Hier liegt die 236 237 238 239

Mark Ridley (1989), S. 365. Dawkins (1989), Kap. 8; Trivers (1974); Voland (1993), S. 249 ff. Haig (1993); Pinker (1997), S. 440 ff.; Wickler (1996), S. 70 ff. Wickler (1996), S. 71 f.

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Hauptursache für die hormonellen Probleme von Müttern während der Schwangerschaft. Später kommt es zum Entwöhnungskonflikt (das Baby hat ein „Interesse" an möglichst langem Säugen, die Mutter daran, weiteren Nachwuchs bekommen zu können) oder zum Wunsch von Eltern, daß Kinder die Familie unterstützen (also das Fortpflanzungsgeschäft der Eltern statt des eigenen). 240 Gewissensprägung findet nicht ausschließlich zwischen Eltern und Kindern statt. Auch zwischen Erwachsenen bestehen vielfältige Beziehungen dieser Art. Manche versuchen, andere für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dazu bedienen sie sich verschiedenster Mittel: Propaganda, Fachkompetenz, Vertrauenswürdigkeit, wirtschaftliche Abhängigkeit usw. Andere versuchen, an fremder Macht dadurch teilzuhaben, daß sie sich unterordnen und führen lassen. Aufschlußreich ist eine Theorie von Richard Dawkins mit dem Namen „erweiterter Phänotyp" („extended phenotype"). 241 Sie geht von der Voraussetzung Hamiltons aus: Phänotypen werden im Laufe der Evolution durch die Gene zunehmend so eingerichtet, daß sie die Verbreitung von Genotypen fördern. Eine besonders perfide Art, sich im Fortpflanzungswettbewerb Vorteile zu erwirken, besteht darin, andere Organismen für die eigenen Reproduktionszwecke einzuspannen. Dies tut etwa ein parasitärer Wurm, der mit einer abgesonderten Chemikalie bewirkt, daß die Schnecke, sein Wirtstier, ein kräftigeres Schneckenhaus baut. 2 4 2 Die Schnecke hat dadurch größere Chancen, länger zu leben. Das ist eindeutig ein Vorteil für den Wurm. Für die Schnecke ist es von zweifelhaftem Nutzen. Denn sie muß Ressourcen irgendwo abziehen, um das Haus zu bauen. Sie mag länger leben, aber hat weniger oder gar keine freien Mittel für ihre Reproduktion. Wäre das dickere Haus für sie adaptiv, hätte es sich phylogenetisch wahrscheinlich sowieso entwickelt. Das erlaubt den Rückschluß, daß der Wurm der Schnecke einen Bärendienst erweist. Ein anderes Beispiel, wiederum aus dem Reich der Parasiten: Der kleine Leberegel saugt in den Gallengängen von Rind und Schaf. Seine Eier werden mit dem Rinder- und Schafkot ausgeschieden und von Schnecken gefressen. In den Schnecken bilden sich die Larven, schleimen sich ein und verlassen die Schnecke, nur um von Ameisen, dem nächsten Wirtstier, gefressen zu werden. Hier ereignet sich die verblüffende Manipulation: Die Ameisen, statt nachts in den Bau zurückzukehren, beißen sich in Grashalmen fest. Das ist für sie fehlan240 Zum Thema elterlicher Strategien siehe allgemein Voland (1993), S. 193 ff. Ders. (1996), S. 1119, formuliert, das Gewissen sei „ein Instrument elterlichen Parasitismus an den Lebensleistungen der eigenen Kinder". Siehe auch Voland & Voland (1993), S. 219 ff. 241 Siehe Dawkins (1982), S. 8 ff. und passim; (1988), S. 67 ff. 242 Beispiel nach Dawkins (1989), Kap. 13, S. 240 ff.

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gepaßt, weil sie früher oder später von Schafen oder Rindern gefressen werden. Sie tun es nur deshalb, weil sich eine der Leberegellarven in ihrem Gehirn einkapselt und die Verhaltensänderung erzeugt. A m Ende gelangt der Egel so wieder zu seinen Ausgangswirten. 243 Zwischen dem Schaden des einen und dem Nutzen des anderen Organismus besteht in einem solchen Fall ein nicht nur zufälliger, sondern kausaler Zusammenhang. Das Genom des Nutznießers nimmt auf das Verhalten des Geschädigten Einfluß. Der Phänotyp des einen nützt dem Genotyp des anderen. b) Nutzen der Gewissensbisse Die Übertragbarkeit des „erweiterten Phänotyps" auf den Menschen ist allerdings zweifelhaft. Erstens nehmen Menschen aufeinander Einfluß durch soziokulturelle Mechanismen, insbesondere Gewissensprägung. Zweitens ist diese Einflußnahme für ihr „Opfer", anders als für die Schnecke oder Ameise, im Regelfall nicht nur nachteilig. Der mittels Gewissensprägung Beeinflußte erhält zum Ausgleich seine Integration in die Überlebens- und Gewissensgemeinschaft der Familie oder Gruppe. Er findet sich zudem in einer Gruppe wieder, die kollektive Prosozialität pflegt und dadurch gegenüber anderen Gruppen erfolgreich ist. Ohne unbesehene Übernahme erprobter und bewährter Konzepte und Verhaltensweisen von den Eltern ist Kindern das Überleben unmöglich. 2 4 4 Lernfähigkeit und Empfänglichkeit für Gewissensinhalte sind selbst angepaßte Merkmale. Der Mensch ist deshalb Nesthocker, weil er so mehr erlernen kann, was ihm im Leben adaptive Vorteile bringt. 2 4 5 Einmal mehr hat hierzu Trivers Grundlagen erarbeitet: „The conditions under which detection of cheating is possible, the range of available altruistic trades, the cost/benefit ratios of these trades, the relative stability of social groupings, and other relevant parameters should differ from one ecological and social situation to another and should differ through time... Under these conditions one would expect selection to favor developmental plasticity of those traits regulating altruistic and cheating tendencies and responses to these tendencies in others. For example, developmental plasticity may allow the growing organism's sense of guilt to be educated , perhaps partly by kin, so as to permit those forms of cheating that local conditions make adaptive and to discourage those with more dangerous consequences."246 243

Wickler (1988), S. 89 f. Vgl. Boyd/Richerson (1996); Erben (1988), S. 373; Voland & Voland (1993), S. 212 ff. 245 Erben (1988), S. 344, 358 f. 246 Trivers (1971), S. 53 (Hervorhebung S. W.). 244

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Trivers warnt zu Recht davor, ein simples System zu erwarten. 247 Prosozialität und Betrug als Verhaltenstrategien haben eine extrem lange Phylogenese hinter sich. Grundlegende Muster für sozialen Umgang werden sehr früh in der Ontogenese ausgebildet werden. Kleinkinder entwickeln schon im 16. bis 36. Monat Verantwortungsgefühle für ihr eigenes Handeln, Ansprüche auf Eigentum und auf reziprok ausgeglichene Behandlung, schließlich Sanktionserwartungen. 248 Das spricht dafür, daß hier mächtige Lernfilter am Werk sind. Zugleich muß hinreichende Offenheit zum Zwecke der Einstellung auf konkrete Umweltanforderungen gewährleistet sein. In welchem Verhältnis das „Eigene" zur Beeinflussung von außen stehen sollte, ist ein schwieriges ontogenetisches Problem für jedes Individuum. Es muß einen Ausgleich finden zwischen zu großer Beeinflußbarkeit und zu unsicheren eigenen Entscheidungen. Beides wäre fehlangepaßt. Man könnte auch sagen, die Fehlanpassung des einen, übermäßig Beeinflußbaren entspreche der Passung des anderen, Einflußnehmenden. Dann wäre man wieder beim erweiterten Phänotyp angelangt. Da aber der Nachteil einer Beeinflussung für den Beeinflußten häufig mehr als kompensiert wird, wäre das Gewissen wiederum nichts anderes als ein versteckt angepaßtes Merkmal, und echter Parasitismus wäre beim Menschen erst noch nachzuweisen. 249

c) Das Risiko der Prosozialität Wir wissen bereits, daß eine emotionale Neigung zu prosozialem Verhalten nutzbringend ist, weil sie hilft, Vertrauen und makelloses Ansehen aufzubauen. Doch scheinen solche Neigungen manchmal schädlich zu sein. Mitgefühl zu besitzen ist zweifellos eine Neigung, die ihrem Besitzer positive Sozialkontakte einbringen kann. Wenn er sich aber aus Mitgefühl mutig in den Fluß stürzt, um einen unbekannten Ertrinkenden zu retten, und dabei umkommt, hilft ihm das posthume Ansehen nichts mehr. Müßten wir nicht sagen, solche Neigungen, solche Gewissensgebote seien fehlangepaßt? Manche führen an, der Retter habe ein gutes Gefühl, wenn er andere rettet, außerdem erhalte er Dankbarkeit. Deshalb tue er es eigentlich aus Eigennutz, um nämlich intrinsische Belohnung zu erhalten. Dies taugt bestenfalls als Teilerklärung. 250 Auch eine Erklärung mithilfe der Theorie der Gesamtfitneß und indirekten Reziprozität scheint für sich genommen nicht hinreichend zu sein. Ihr zufolge nütze der uneigennützige Retter selbst im 247 248 249 250

Ebd. Kreppner (1997), S. 365 ff. Ähnlich Simon (1990), S. 1667. Vgl. Bierhoff (1998), S. 97 f.

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Falle seines Todes dem Verwandtengenpool, da seine Angehörigen von seiner Selbstlosigkeit aufgrund von Dankesgaben etc. profitierten. Diese Erklärung wird auch zur Begründung angeführt, warum junge Männer bereitwillig in den Krieg ziehen. 251 Ungeachtet dieser Erklärungsversuche liegt in großem Mitgefühl ein Nutzen, der sich jedoch nur im statistischen Durchschnitt realisiert: Daß wir Zeuge einer Situation werden, in der jemand zu ertrinken droht, ist sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist hingegen, daß wir Tag für Tag nutzbringend kooperieren werden, weil wir mitfühlend und daher für andere (im griechischen Wortsinne) sympathisch sind. Wir gehen ein Risiko ein durch unsere prosoziale Neigung, das Risiko nämlich, sie tatsächlich in einer Extremsituation beweisen zu müssen. 252 Solange solche Extremsituationen aber hinreichend selten sind, ist die Neigung adaptiv. Auch deswegen ist sie Teil der kindlichen Erziehung: Sie hat sich als fitneßsteigernder Kulturinhalt bewährt. Wir sollten die Besonderheiten der Antworten zu a) bis c) festhalten: In a) und b) war das Gewissen als solches (Empfänglichkeit für unbedingte Normen) ein angepaßtes Merkmal. Konkrete Gewissensgebote konnten hingegen fehlangepaßt sein, weil es nur auf die grundsätzliche Fähigkeit ankam, solche Gebote bei anderen zu stimulieren und selbst zu entwickeln. Von daher verstehen wir auch einen möglichen Grund, warum Menschen sich im Laufe ihres Lebens für Strategien und Lebensformen entscheiden, die ihrer eigenen genetischen Reproduktion zuwiderlaufen. Das Gewissen könnten es ihnen befohlen haben - vielleicht zum Nutzen derer, die das Gewissen formten. Das Beispiel des Zölibats kommt hier wieder in den Sinn. 2 5 3 In Argument c) waren zwar das Gewissen als solches und das konkrete Gewissensgebot adaptiv, nicht aber die Realisierung des Gebots in einem seltenen Anwendungsfall. Freilich ist das so außergewöhnlich nun auch wieder nicht. Daß Verhaltensweisen nur statistisch nutzbringend sind, ist die Regel und genügt bekanntlich für Positivselektion in den extrem langen Zeiträumen der Evolutionsgeschichte. 251

Zum diesem Problem siehe schon Darwin (1871/1982), S. 167 ff.; neuerdings auch Pinker (1997), S. 514 f. 252 Vgl. R. H. Frank (1988), S. 67. 253 Goodenough (1995), S. 308 f., zufolge läßt sich das Zölibat wie folgt in eine evolutionäre Theorie integrieren: Wer sich ihm unterwirft, erleidet hohe Gesamtfitneßkosten. Diejenige Religion jedoch, die Zölibat verlangt, profitiert. Denn das Zölibat trägt unstrittig dazu bei und ist ausdrücklich dazu gedacht, Priestern oder Mönchen Anfechtungen durch den Sexualtrieb zu ersparen. Dadurch aber investiert der Priester oder Mönch seine Energie und Ressourcen nicht in eigene Nachkommen, sondern in seine Verbreitungsaufgabe. Mit einer Religion sind wiederum Ressourcen, Macht- und Einflußpositionen von Menschen verbunden. Sie gewinnen automatisch mit der Verbreitung der Religion.

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung

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C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung „Sokrates. Also den Freunden sich wohltätig, den Feinden sich schädlich erweisen, das versteht er unter Gerechtigkeit? Polemarchos. So dünkt mich. " 254

1. Reziproker Gruppenegoismus Gegenseitigkeit ist integrativ. Sie bildet die Grundlage von Gruppen, in denen zum allgemeinen Vorteil kooperiert wird. Zum „allgemeinen" Vorteil? Im Zusammenhang mit der Möglichkeit von Koalitionen im n-Personen-Dilemma stellte sich heraus, daß deren interne Reziprozität auf Kosten der Nichtbeteiligten geht. Kartelle, Parteienverbünde oder die Mafia besitzen intern durchaus „reziprok altruistische" Strukturen. Daß sie sich auch moralisch verhalten bzw. das Wohl der Gesamtgesellschaft, gar: der globalen Zivilisation im Auge haben, folgt daraus nicht. 2 5 5 Das Gegenteil folgt: Kooperation, wie sie von der Evolution favorisiert wird, ist diskriminierend. Auszahlungen aus Kooperationen rühren prinzipiell aus dem gemeinsamen Vorteil der Kooperationspartner gegenüber konkurrierenden Dritten her. 2 5 6 Gelegentlich wird behauptet, der Vorteil von Kooperation liege in der (verdeckten) Ausbeutung des Kooperationspartners. 257 Doch verschiebt diese Behauptung den Schwerpunkt der Adaptivität von Kooperation auf einen tatsächlich nur ausnahmsweise auftretenden Umstand, nämlich den einseitig unausgeglichenen Austausch. Regelmäßig tritt hingegen ein anderer Effekt ein, und zwar der Mehrwertvorteil gemeinsamen Handelns gegenüber all jenen, die an der konkreten Kooperation nicht beteiligt sind. Ein funktionierendes Kartell bezieht seine Attraktivität nicht daraus, daß die je anderen Teilnehmer des Kartells ausgenutzt, sondern daß Vorteile zu Lasten Dritter erwirtschaftet werden. Kooperation lohnt sich, weil andere außen vor bleiben. Sie lohnt sich desto mehr, je besser sie andere ausschließen kann. Gruppen (die Familie, der Freundeskreis, die Nation) bilden eine koevolutionäre Schicksalsge254

Platon, Politela 332. Vgl. Ullmann-Margalit (1977), S. 42, wo aus diesem Grunde angenommen wird, daß Kooperation nur dann auf Moralität hinausläuft, wenn sie keine negativen externen Effekte für nicht an der Kooperation Beteiligte hat. Unklar bleibt, ob schon der Wettbewerbsnachteil, den Unbeteiligte stets erleiden (darin liegt ja die Pointe der Kooperation überhaupt), als negativer Effekt zu zählen ist. Dann nämlich hätte Moralität mit Kooperation gar nichts mehr zu tun. 256 Ähnlich Kitcher (1993), S. 503; Sober (1992b). 257 So spricht etwa McGuire (1992), S. 36, nur von „competitive advantage relative to the person I have helped". 255

18 Wesche

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evolutionäre Verhaltenstheorie

meinschaft: Je besser sie funktionieren, desto besser können sie mit anderen Gruppen konkurrieren, und desto besser ergeht es den Gruppenmitgliedern. „Reziproker Altruismus" übersetzt sich unter den gegebenen Bedingungen menschlicher Geselligkeit zwingend in Gruppenegoismus. 258 Damit stellt sich für die Gruppen das Problem, wie sie ihre kooperativen Ressourcen zielgenau allozieren („an den Mann bringen") können. Gruppenfremde müssen ausgeschieden werden. Auf entsprechenden kognitiven und kulturellen Fähigkeiten in der Unterscheidung von Dazugehörigen und Nichtdazugehörigen lag ein starker Selektionsdruck. 259 Das muß nicht gleich im Wege eines Feindbilds geschehen, auch wenn Feindbilder eine besonders starke Solidarisierungswirkung besitzen. Diese geht soweit, daß Feinde tatsächlich „gebildet", Sündenböcke konstruiert werden, wenn es an ihnen eigentlich mangelt. Der Soziologe Lewis A. Coser führt aus, daß in sog. unrealistischen Konflikten „the group's search for enemies is aimed not at obtaining results for its members, but merely at maintaining its own structure as a going concern." 2 6 0 Aber auch diverse weniger einschneidende kulturelle Abgrenzungsmechanismen stehen zur Verfügung. Kultur hat sich nicht zuletzt zu diesem Zweck entwickelt: différentielle Vorteile gegenüber denen zu erlangen, die von bestimmten Kulturinhalten ausgeschlossen sind oder werden. Abgrenzungsmechanismen haben die Funktion, Gruppenmitgliedschaft zu signalisieren. 261 Solche Mechanismen sind vielfältig. Uns fallen sie am ehesten bei den zeitlich oder zivilisatorisch weit entfernten Stämmen auf. Verschiedene Kulturen betonen primäre Merkmale, wie Haare oder Körperbau. Sekundäre Merkmale wie Schmuck und Bemalungen kommen auf. Sprachen differenzieren sich aus. Legenden und Geschichten tradieren die Überlegenheit der eigenen Gruppe gegenüber benachbarten Populationen. Gruppenfremde gelten häufig nicht als Menschen, was sogar sprachlich Ausdruck finden kann (das Wort für den eigenen Stamm bedeutet dann zugleich „Mensch", 258

D. T. Campbell (1983), S. 166. Dazu auch Gruter/Masters (Hg.) (1986); Wuketits (1993), S. 173 f., 184, 187 ff. Zum engen Zusammenhang von Reziprozität und Ausbeutung auch Gouldner (1960), S. 175. - Diese Aussage steht im Gegensatz zu der Behauptung von Caporael et al. (1989), S. 693, „group identification rather than individual self-interest can be the basis for cooperative behavior". Eines ist die Folge des anderen, nicht seine Alternative. Die ebd. von Brewer geborgte Folgerung, „ingroup biasing" sei eher auf die Bevorzugung der eigenen Gruppe als auf Feindseligkeiten gegen andere Gruppen zurückzuführen, leidet unter zweierlei Mängeln, erstens unter offensichtlicher Zirkularität, zweitens der Mißachtung der Tatsache, daß schon die bloße Förderung der eigenen Gruppe eine Abgrenzung anderer darstellt und dadurch nur im Kontext von Gruppenkonkurrenz zu verstehen ist. 259 Vgl. Mark Ridley (1989), S. 364. 260 Coser (1956), S. 105. 261 Vgl. D. T. Campbell (1983), S. 161; Manson/Richard (1991).

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung

275

anders gesagt, es gibt keine Gattungsbezeichnung für „Mensch" unabhängig von der Stammesbezeichnung). Die kulturelle Ausdifferenzierung wird naturwüchsig durch geographische Isolation gefördert, wie sie in der Frühgeschichte der Menschheit häufig w a r . 2 6 2 Allerdings verhindern auch Migrationen nicht unbedingt gruppenkonformistische Tendenzen, das Gegenteil kann der Fall sein. 2 6 3 Wo Gruppen häufig mit anderen Gruppen zusammenstoßen, erhält die Abgrenzung eine besondere soziale Funktion. Benachbart lebende, aber ökologisch unterschiedlich spezialisierte Gruppen, wie Jäger, Bauern und Fischer, weisen häufig besonders große Sprachbarrieren auf. 2 6 4 Stammeskriege werden dementsprechend seltener zwischen unterschiedlichen Stämmen, sondern meistens zwischen verfeindeten Einheiten desselben Stammes geführt. 265 Psychisches Korrelat der Abgrenzungsmechanismen ist Ethnozentrismus.266 Er bereitet im schlimmsten Falle das Feld für Genozide (vgl. 4. Mose 31, 7 ff., 5. Mose 20, 13 ff.). Doch auch wo es nicht soweit kommt, gibt es diverse Spielarten der Feindschaft, wie der Politologe Hannes Wimmer mit Blick auf archaische Gesellschaften schreibt:^ „Hinter dem kriegsbedingten Niemandsland sitzen bereits die Feinde, denen man - auch wenn man sie nicht gerade bekriegt - grundsätzlich mißtraut, die man überfallen und berauben, notfalls auch töten darf, die man im Handelsgeschäft am besten betrügt, deren Frauen man entführt etc." 267 Die Abgrenzungsmechanismen sind keine Spezialität „unzivilisierter" oder steinzeitlicher Völker. Hinter ihnen stehen evolutionäre Gesetzmäßigkeiten, denen wir uns, wie ein nur oberflächlicher Blick auf unsere Gesellschaft zeigen würde, schwerlich entziehen können. Denn relative Homogenität innerhalb und Heterogenität außerhalb der Gruppe, Gruppensolidarität und Abgrenzung, bedingen sich wechselseitig: „ I f people conform to the traditions of their native groups, then there will be an automatic tendency for each group of people to be culturally different." 2 6 8 Umgekehrt gilt: „ . . . outside conflict will strengthen the internal cohesion of the group . . . " 2 6 9 Der Sozialpsychologe Muzafer Sherif verwandte ein ganzes Buch auf den engen Zusammenhang von Gruppenkonflikt und Kooperation, 270 den der 262

Kuli (1979), S. 111 ff. Richerson/Boyd (1996), S. 70. 264 Wickler/Seibt (1977), S. 351. 265 Wimmer (1997), S. 223 Fn. 14. 266 Ike (1986); Irwin (1986); Reynolds et al. (Hg.) (1986); P. Winkler (1994). 267 Wimmer (1997), S. 223. 268 Matt Ridley (1997), S. 186. Siehe auch Boyd/Richerson (1985), Kap. 8; Richerson (1996), S. 40 ff.; Todt (1987). 269 Coser (1956), S. 88. 270 Sherif (1967), v.a. S. 81 ff. 263

18*

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Teil IV:

evolutionäre Verhaltenstheorie

Anthropologe George Peter Murdock auf die klaren Worte brachte: „Intergroup antagonism is thus the inevitable concomitant and counterpart of ingroup solidarity." 2 7 1 Sherif geht weiter. Seinen Experimenten zufolge blühen Kooperation und Solidarität innerhalb von Gruppen am meisten in Zeiten des heftigsten Konflikts zwischen Gruppen. 272 Wimmer führt aus, daß gerade die Entwicklung des Rechts von äußeren Feinden profitiert hat: „Nach innen herrscht Friedenspflicht, nach außen ,Kriegszustand'. Angesichts der Stärke des traditionellen ,Erzfeinds', der in regelmäßigen Abständen zu bekriegen ist, wäre eine Blutfehde im Inneren ein zu hohes Risiko gewesen. Schon deshalb entwickelten alle segmentären Gesellschaften irgendwelche verbindlichen Regeln des friedlichen Austragens von Konflikten, auch wenn diese Regeln noch weitgehend informellen Charakter haben mögen, etwa im Falle von Vermittlern und Schlichtern." 273

2. Ausgrenzung und Konformismus Wem das Signal, zur Gruppe zu gehören, nicht offensteht, hat mit Schwierigkeiten ^ u rechnen. Abweichendes Verhalten wird nicht toleriert, es wird stigmatisiert oder gar inkriminiert. 2 7 4 Sprechen wir allgemein von Ausgrenzung. 215 Ausgrenzung (Ostrazismus) ist das innerhalb von Gruppen auftretende Pendant zum Ethnozentrismus, der zwischen Gruppen wirkt. Um Ausgrenzung zu vermeiden, verfallen viele auf Konformismus 2 7 6 Konformismus ist (soziologisch gesehen) durch den „Druck der vielen" realisiert, aber auch (entwicklungspsychologisch gesehen) durch das oben besprochene sozial-kognitive Imitationslernen: 277 Abhängigkeit der Verhaltensübernahmen von der Verbreitung des Verhaltensmodells, Einordnung in bestehende Gruppennormen, Imitation von Vorbildern ohne Prüfung der Ursachen der Vorbildeigenschaft, Ähnlichkeitsprinzip, Gewissensprägung allein die Vielzahl der Mechanismen zur Schaffung von Konformismus spricht für dessen Adaptivität. Konformismus ist einfach deshalb adaptiv, weil sein Widerpart, die Ausgrenzung, für den Ausgegrenzten extrem fehlangepaßt ist. Konformismus vermeidet das früher tödliche Risiko der Ausgrenzung. Zu welchen Absurditäten die Bereitschaft von Menschen führen kann, sich dem Urteil anderer unterzuordnen, zeigen sozialpsychologische Experi271 272 273 274 275 276 277

Murdock (1949), S. 83. Sherif (1967), S. 90 f. Wimmer (1997), S. 221. Goodenough (1995), S. 301 f.; Matt Ridley (1997), S. 81 f. Gruter/Masters (Hg.) (1986). Goodenough (1995), S. 300 f.; Matt Ridley (1997), S. 180 ff. Siehe Teil III B. 2. und Teil C. 4. c).

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung

277

mente. Bekannt sind hier etwa die Versuche von S. E. Asch, der Probanden die Länge von Linien vergleichen ließ und das an sich extrem einfach zu treffende Urteil durch heimliche Verbündete des Versuchsleiters verzerren konnte. 2 7 8 Erschütternde Ergebnisse erhielt Stanley Milgram, der Probanden allein durch die Autorität eines Versuchsleiters dazu brachte, andere Menschen grausam zu quälen. 2 7 9 62,5% der Probanden waren bereit, einer Versuchsperson Stromschläge bis zu einer Stärke von 450 Volt (!) zu versetzen. Die Probanden wußten nicht, daß die Stromschläge nur fingiert waren. Auch die Experimente Muzafer Sherifs mit dem sog. autokinetischen Effekt sind interessant, weil sie sich an der Nahtstelle zur Entstehung von Normen befinden. Das emotionale Bedürfnis von Menschen, mit anderen Menschen gemeinsame Anschauungen zu besitzen und diese durch Normen zu fixieren, scheint sehr groß zu sein. Eine Einigung selbst über etwas so Unwichtiges wie die Bewegung eines Lichtpunktes wird als bedeutsam eingeschätzt. 280 Dies erlaubt den Schluß, daß Einigung und Harmonie als solche Wertschätzung erfahren. In den Experimenten wurde ein feststehender Lichtpunkt als sich bewegend wahrgenommen, doch zunächst unterschiedlich von den verschiedenen Beteiligten. Gruppen von Probanden entwickelten daraufhin eine gemeinsame „Norm" für ihre Wahrnehmung. Eine einmal erreichte Einigung wurde sogar späteren „Versuchsgenerationen" überliefert. 281 Sherif faßt zusammen: „... when a group of individuals faces a new, unstable situation and has no previously established interests or opinions regarding the situation, the result is not chaos; a common norm arises and the situation is structured in relation to the common norm. Once the common norm ist established, later the separate individuals keep on perceiving it in terms of the frame of reference which was once the norm of the group." 2 2 Inwiefern hier zu Recht von „Norm" die Rede ist, könnte freilich zu Diskussion Anlaß geben. 283 Vielleicht sollte man den autokinetischen Effekt als Anwendungsfall des Modellernens ansehen. Das Gruppenverhalten wird als richtig unterstellt und die eigene abweichende Anschauung im vorauseilenden Gehorsam unterbewußt unterdrückt. Jedenfalls aber kommen in der Matrix von Gruppenkohäsion und Individualverhalten Einigungen zustande, an die sich die Individuen im folgenden halten. Was fehlt, ist die inhaltliche Ausfüllung. Ob und wie ein Lichtpunkt als beweglich eingestuft wird, 278 Asch (1956). Allerdings wurde in der Regel nur das geäußerte Urteil verzerrt, während die Probanden insgeheim das richtige Urteil zu treffen in der Lage waren. 279 Milgram (1974). Zum destruktiven Gehorsam auch Bierhoff (1998), S. 291 ff. 280 Sherif (1936), Kap. VI. 281 Bierhoff (1998), S. 283 f. 282 Sherif (1936), S. 111. 283 Opp (1983), S. 178 ff.

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

ist nichts, worüber natürlicherweise Konflikte entstehen würden. Die „Norm", den Lichtpunkt mit einer bestimmten Bewegung wahrzunehmen, ähnelt eher einer Konvention als einer Konfliktnorm. Im Vordergrund stand die Einigung als solche, um Dissonanzen in der Selbstwahrnehmung zu verhindern. Vollständige Homogenität innerhalb von Gruppen ist indes in natura nicht zu erwarten. Weil auch zwischen den Gruppenmitgliedern Interessenkonflikte nicht völlig aufhören, konvergiert die kulturelle Homogenität gegen eine elastische Grenze. Diese befindet sich in etwa dort, wo Bessergestellte innerhalb der Gruppe aus Abgrenzungsbedürfnis andere Kulturinhalte annehmen. Damit kreieren sie Subgruppen, d.h. Abgrenzungen innerhalb fortbestehender Einheiten. Solche Subgruppen dienen dem Zweck, Kooperationsvorteile noch einmal gezielt bei bestimmten Individuen zu konzentrieren. Das Beispiel der Mode wurde schon erwähnt; auf entsprechende Normen, die Unterschiede zementieren, kommen wir noch zu sprechen. Je ähnlicher sich die Mitglieder einer Gruppe sind, desto größer wird der Anreiz für manche, sich zu unterscheiden. 284 Grund dafür ist strategische Interdependenz. 285 Nischen innerhalb von an sich homogenen Gruppenverbänden sind ein optimaler Ausgangspunkt für individuelle Nutzenmaximierung durch Erhöhung des eigenen Status. Sozialen Bestrebungen nach absoluter Gleichheit aller stoßen genau an dieser Stelle auf erbitterten Widerstand. Ist die Abgrenzung zwischen Gruppen so vollständig? Kooperieren nicht auch Gruppen miteinander? Dies ist selbstverständlich der Fall, etwa beim Handel oder bei gemeinsamer Jagd mehrerer Sippen. Voraussetzung ist, daß die Gruppen nur gemeinsam ein erstrebenswertes Ziel erreichen können oder der Kooperation eine besondere Bedeutung als Friedenssymbolik zukommt. 2 8 6 Arbeitsteilung gewinnt besondere Dynamik durch den Einbezug anderer Gruppen, die andere Produktionsbedingungen und Zugang zu anderen Ressourcen haben. 287 Die Konkurrenzsituation wird jedoch wiederum 284

Axelrod (1997 b), ungeachtet seiner Feststellung, daß kulturelle Unterschiede nie völlig verschwinden (S. 203), betrachtet in seinem Modell der Kulturverbreitung nur ähnlichkeitsste/genw/e Mechanismen. Doch seine Simulation ist unrealistisch, insofern Macht und Status gehörigen Einfluß auf die Verbreitung von Kulturinhalten nehmen, aber in Axelrods Modell nicht auftauchen. Deshalb muß er selbst am Ende feststellen, daß empirische Untersuchungen, die sein Modell sozialen Einflusses (das auf dem Ähnlichkeitsprinzip beruht) bestätigen, nicht existieren, im Gegenteil (S. 223 f.). Immerhin erkennt er, daß sein Modell entsprechend zu erweitern wäre (ebd.). 285 Vgl. Epstein (1980), S. 679; Gibbard (1990a), S. 29 f. Zum Begriff vgl. B. 1. 286 Sherif (1967), S. 88. 287 Matt Ridley (1997), S. 209, unter Verweis auf David Ricardos „Law of comparative advantage".

C. Der Fernbereich: Gruppenabgrenzung

279

bloß verlagert. Sie besteht nur noch gemildert zwischen den nunmehr kooperierenden Gruppen, um so mehr jedoch zwischen diesen und der gemeinsamen Umwelt. Bis heute sind Fremde ohne die Aussicht, Kooperationspartner oder Familienmitglied zu werden, zum Fernbereich zu zählen. In ihm ist mehr als rhetorische Selbstlosigkeit kaum zu finden. Heutzutage ist allerdings problematisch, wen dieses Verdikt trifft. Die Familie erfüllt nicht mehr die angestammte Funktion, während der Mittelbereich jedes einzelnen zerfasert: Als Kooperationspartner zählen potentiell alle, mit denen man wirtschaftlich in Kontakt tritt, Bäcker, Arbeitgeber, Staat. Man könnte annehmen, mit dieser Unübersichtlichkeit schwinde die Gruppenabgrenzung. Damit mag sich die Hoffnung verbinden, die Aufweichung strenger Ingroup/Outgroup-Schemata berge Chancen für friedliches Zusammenleben. Doch sind die Gruppen nicht verschwunden, sondern haben sich lediglich ausdifferenziert. Diverse Subgruppierungen sind hinzugekommen. Sie alle konstituieren und erhalten sich weiterhin durch offene oder verdeckte Diskriminierung ihres Umfelds. 3. Weltumspannende Sympathie? Wir spenden für amnesty international oder Terre des hommes, ja sogar für Greenpeace oder den Tierschutzverein, die nicht einmal unmittelbar menschliches Unglück bekämpfen. Also scheinen Menschen doch in der Lage zu sein, sich den seit der neolithischen Revolution veränderten Verhältnissen anzupassen und global Sympathie, Mitleid und Hilfe zu gewähren. Nun greifen bei diesem Thema einige der im letzten Kapitel erörterteten versteckten Anpassungen ein, die hier nicht zu wiederholen sind. Aber setzt sich Hilfsbereitschaft nicht mittlerweile über die Grenzen von Fernbereichen hinweg? M i t den Worten des Philosophen Rainer Hegselmann: „Der komplexe Zusammenhang von Natur-, Kultur-, Sozial- und Individualgeschichte, die Dynamik der Identitätsaus- und -fortbildung - all das kann heute allenfalls als in Ansätzen verstanden gelten. Dies wiederum macht ein endgültiges Urteil über die prinzipiellen Grenzen von Mitgefühl, Mitleid und Altruismus unmöglich." 288 Lange bevor Peter Singer meinte, durch eine Erweiterung menschlicher Rationalität über den Nahhorizont hinaus zu universaler Gerechtigkeit sogar gegenüber Tieren und unbelebten Gegenständen zu gelangen, 289 bemerkte Charles Darwin: 288

Hegselmann (1989), S. 27 (orthographische Verbesserung S. W.). Ähnlich Richards (1993 b), S. 182: „Die Natur verlangt, daß wir unsere Brüder und Schwestern beschützen, aber wir müssen lernen, wer sie sind." 289 Singer (1981). Zur Kritik des darin inhärenten Rationalismus schon B. 9. c).

280

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

„Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung jeden Einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder desselben Volkes auszudehnen habe. Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen."290 Dies ist aber wohlgemerkt als „Überlegung" von Menschen bezeichnet. Deshalb scheint der zweite Satz dem ersten zu widerstreiten: Die tatsächliche Ausdehnung folgt aus entsprechenden (keineswegs „einfachsten") Überlegungen noch lange nicht. Sie folgt schon gar nicht so automatisch, daß der Mensch geradezu durch eine „künstliche Schranke" daran gehindert werden müßte, die ganze Welt (und vielleicht noch die Tiere eingeschlossen) mit Sympathie zu behandeln. Ein faktisches Hindernis für die Erweiterung der Sympathie benennt Darwin selbst direkt im Anschluß an das obige Zitat: „Wenn diese Menschen sich in ihrem Äußeren und ihren Gewohnheiten bedeutend von ihm unterscheiden, so dauert es, wie uns leider die Erfahrung lehrt, lange, bevor er sie als seine Mitmenschen betrachten lernt." Zweifelhaft ist nicht, ob menschliche Prosozialität erweiterbar ist, sondern ob sie sich so schnell vergrößern, differenzieren und verteilen wird, wie dies die Probleme tun und erfordern. Prosozialität, die über Verwandtschaft und reziproke sowie indirekt reziproke Beziehungen hinausgeht, verlangt von dem, der sie erbringt, Einsatz. Sie ist nicht „kostenlos" zu haben. Zwar haben nicht wenige Menschen moralische Intuitionen, man solle auch völlig Fremden, z.B. Kindern in den Entwicklungsländern, helfen, unabhängig vom eigenen Verursachungsbeitrag zu deren Elend. Doch den großen Worten folgen nur wenige Taten. Gerade diese Diskrepanz wird, was sehr aufschlußreich ist, im allgemeinen nicht moralisch verurteilt. 291 Hegselmann schreibt: „Wir sehen es uns wechselseitig nach, und das heißt vor allem: niemand verliert in den Augen der anderen oder vor sich selbst die moralische Integrität, wenn er in solchen Bereichen nicht tut, was tun zu sollen er durchaus meint. Wir nehmen dann den Standpunkt des ,Eigentlich müßte man ...' ein, und tun im übrigen und das scheint mir moralphänomenologisch bemerkenswert - guten (!) Gewissens nicht, was man eigentlich tun müßte." 292 290

Darwin (1871/1982), S. 155. Kritisch gegenüber der Annahme des Utilitarismus, Menschen besäßen genügend Sympathie für unterschiedslose Förderung des „größten Glücks der größten Zahl", auch Rawls (1971), S. 501. 292 Hegselmann (1989), S. 25 (Unterstreichung i.O., orthographische Verbesserung S. W.). Eine eloquente Ausnahme von philosophischer Seite, die speziell auf 291

D. Kritische Diskussion

281

Wenn wirtschaftliche Verflechtung, Medien oder Internet die Erde „kleiner werden lassen", verwandeln sich insoweit Fern- in Mittelbereiche, d.h. soweit jeweils die Verflechtung oder das Auge der Kamera reichen. Die entfernten Probleme werden so Teil unserer erfahrbaren Umwelt. Leider kann aus der ja recht selektiven Verschiebung der Bereichsgrenzen nicht abgeleitet werden, daß wir mittlerweile alle Menschen als Mitglieder „unserer" Gruppe betrachteten. Die evolutionären Mechanismen prosozialen Verhalten setzen notwendig voraus, daß es jeweils jene gibt, die „nicht dazu gehören". Daher bleibt es „wishful thinking", gerade vor dem Hintergrund evolutionärer Studien einen Gradus ad parnassum der Prosozialität zu postulieren: „... there are therefore six distinct types of group within which helping or altruism, even at a short term loss to the individual, can be expected: kin, known and reciprocating individuals, small face-to-face groups, tribes based on shared culture and norms, states with a centralized government, and all humans .. . " 2 9 3 Ein letztes wäre zu beachten: Findet prosoziales Verhalten im Fernbereich statt, muß es nicht unbedingt auf ein Mehr an Sympathie zurückzuführen sein. Sympathie für fernes Unheil kann auch irgendwo abgezogen werden, etwa im Nahbereich. Es könnte auch sein, daß Menschen versuchen, den Zusammenbruch des Nahbereichs in der Gegenwart mit ihrem Engagement für entfernte Probleme zu kompensieren. Die Gesamtbilanz funktionierender menschlicher Beziehungen würde dadurch nicht verbessert. D. Kritische Diskussion Nach der Kritik, die gegen den Neodarwinismus allgemein vorgebracht worden ist (Teil II. C.), geht es nun spezieller um die Revolutionäre Theorie des Sozialverhaltens, und zwar 1.die Behandlung von Selbstlosigkeit und Egoismus, Prosozialität und Eigennutz; 2. die Frage, welche Rolle Universalität in der Theorie spielt und wie universal Verhalten wirklich ist; 3. das Abstellen auf Blutsverwandtschaft.

das Problem moralischer Intuitionen abstellt, bildet Unger (1996), der übrigens seinen Worten auch Taten folgen läßt. 293 Gruter/Masters (1996), S. 567.

282

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie 1. Selbstlosigkeit

und Egoismus

a) Wo bleibt die Gerechtigkeit? Eifaßt die koevolutionäre Verhaltenstheorie, wenn sie über Prosozialität spricht, die relevanten Phänomene menschlicher Geselligkeit? Es scheint, daß Aspekte der Moral wie Fairneß und Gerechtigkeit zu kurz kommen. 2 9 4 Die Evolutionsbiologie tendiere, so etwa der Philosoph Kurt Bayertz, zu einer „Heroisierung" von Moralverhalten. Ausgehend von den Beispielen der Mutterliebe oder des sich selbst gefährdenden Warnrufers, erscheine Moral gleichbedeutend mit Selbstverleugnung und -aufopferung. 295 Nun ist Selbstaufopferung im biologischen Sinne klar definiert: Nettokosten für die Fitneß des Handelnden. Doch Moral läuft letztlich selten auf Selbstaufopferung hinaus, sondern hat Nettonutzen zur Folge, sei es auf lange Sicht. 2 9 6 Die Evolutionsbiologie nimmt sich die krassesten Beispiele von scheinbar aufopferndem Verhalten als besonders geeignete Prüfsteine für die Tauglichkeit ihrer Theorie. Verhalten, das schon auf den ersten Blick weniger mit Aufopferung zu tun hat, wie etwa Kooperation, wird damit a fortiori eifaßt. Um dies zu verdeutlichen, war statt von „Selbstlosigkeit" von „prosozialem Verhalten" die Rede. Fairneß und Gerechtigkeit treten auf den Plan, weil Kooperation als Wettbewerbsstrategie zwangsläufig zu Konstellationen führt, in denen Interessengegensätze ausgeglichen und faire Lösungen gesucht werden müssen. Fairneß wiederum hat viel mit Reziprozität zu tun, wenn sie nicht sogar darin aufgeht. 297 Doch sei an dieser Stelle auf starke Thesen zum Verhältnis von Gegenseitigkeit, Fairneß und Gerechtigkeit verzichtet. 298 Die Verbindungen sind jedenfalls innig. John Rawls gründet seinen Gerechtigkeitsdiskurs auf fiktiven reziproken Abmachungen im Urzustand und hält die daraus folgenden Gerechtigkeitsprinzipien für gerade deshalb stabil, weil sie aus Reziprozität und nicht bloß aus Sympathie folgen. 2 9 9 Allan Gibbard meint: „The sense of justice is grounded not in benevolence, but in a strong capacity for reciprocity which evolved as an evolutionary stable strategy through individual selection." 300 Nach Otfried Höffe begründet ein transzendentaler Tausch 294

Vgl. Bayertz (1993a), S. 17 ff. Bayertz (1993b), S. 161. Zum Beispiel des Warnrufers noch Teil V A. 1. 296 Richard Alexander kritisiert deshalb an der philosophischen Debatte ((1987), S. 151): „Assuming that morality has to be self-sacrificing is what has led moral philosophers into their worst intellectual quagmires." 297 Matt Ridley (1997), S. 139 ff. m.w.N. 298 Vgl. den Überblick bei Hof (1996), S. 341 ff. 299 Rawls (1971), S. 501. 300 Gibbard (1982), S. 40. 295

D. Kritische Diskussion

283

die Gerechtigkeit von Menschenrechten. 301 Welche Rolle der Gesellschaftsvertrag bei Hobbes, Locke und Rousseau spielt, braucht nicht in Erinnerung gerufen zu werden, ebenso die zentrale Bedeutung der iustitia commutativa (Ausdruck Thomas von Aquins) bei Aristoteles. 302 b) Wird Selbstlosigkeit auf Egoismus reduziert? Manche Passagen soziobiologischer Literatur lesen sich wie eine Antwort auf David Humes zweiten Enquiry . Hume untersucht dort, ob sich, kurz gesagt, Selbstlosigkeit auf Egoismus zurückführen lasse. Er schreibt: „... there appear to be such dispositions as benevolence and generosity; such affections as love, friendship, compassion, gratitude. These sentiments have their causes, effects, objects, ... plainly distinguished from those of the selfish passions. And as this is the obvious appearance of things, it must be admitted, till some hypothesis be discovered, which by penetrating deeper into human nature, may prove the former affections to be nothing but modifications of the latter." 303 Nach Ε. Ο. Wilson „zwingt uns die menschliche Natur unter die Imperative der Selbstsucht und des Stammesegoismus". 304 Dahl zitiert in seiner populärwissenschaftlichen Darstellung der Soziobiologie als Kapitelüberschrift das englische Sprichwort: „Kratze einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten." 3 0 5 Barash schreibt: „Real, honest-to-God altruism simply doesn't occur in nature." 3 0 6 Und bei Alexander heißt es, „ . . . moral philosophers have not treated the beneficence of humans as part, somehow, of their selfishness". 307 Die letztere Aussage ist jedenfalls unzutreffend. Philosophen wie Aristoteles, Cicero, Hobbes, Machiavelli, Spinoza, Adam Smith, Nietzsche, Sidgwick, Spencer, Nozick, Mackie oder Ayn Rand zeugen, bei aller Verschiedenheit im übrigen, vom Gegenteil; einige von ihnen haben egoistische Motive sogar begrüßt. 308 Originell sind die Demas301

Höffe (1991); (1992). Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch, v. a. 1131 b 24 ff., 1133 b 15 ff. 303 Hume (1751/1975), App. II, S. 298. 304 E. O. Wilson (1980b), S. 185. Siehe auch ders. (1978), S. 155. 305 Dahl (1991). Original: „scratch an altruist and watch a hypocrite bleed". 306 Barash (1982), S. 135. 307 Alexander (1987), S. 88. 308 Nur am Rande sei bemerkt, daß die gelegentlich anzutreffende These, alle menschlichen Motivationen seien letztlich egoistisch (psychologischer Egoismus; zum Begriff Halbfass (1972)), schwer zu halten ist. Die These kann zweierlei bedeuten. Entweder sei jede Handlungsmoi/var/on egoistisch im engen Sinne, also ohne Berücksichtigung der Interessen Dritter. Oder jedes Verhalten bediene letztlich eine Präferenz des Akteurs und sei insofern in einem weiteren Sinne eigeninteressiert. Die erste Interpretation ist mit den tatsächlichen Motivationen der Menschen schwer in Einklang zu bringen, die zweite ist tautologisch, denn sie läuft auf die These hinaus, was man aufgrund eigener Motivation tue, tue man zur Befriedigung 302

284

Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie

kierungsversuche der Soziobiologie nicht. 3 0 9 Man denke nur Nietzsches Diktum, Altruismus sei nichts anderes als die „verlogenste Form des Egoismus".310 Wichtiger jedoch: In allen zitierten Einlassungen der Soziobiologie liegt der bereits benannte Kategorienfehler. Über Absichten und Motive des Menschen werden Aussagen getroffen, die einer motivationsneutralen Theorie gar nicht offenstehen. 311 In den funktionalen Erklärungen schwingen häufig intentionale Obertöne m i t . 3 1 2 Doch auf der genetischen Ebene kann sich Verhalten eigennützig bzw. verwandtschaftsförderlich auswirken, ohne auf der intentionalen Ebene egoistisch zu sein. 3 1 3 Eibl-Eibesfeldt sagt über die Soziobiologie: „... Sympathie, Freundschaft, Nächstenliebe werden als Täuschung hingestellt. Ein erschreckender Trugschluß, denn natürlich sind wir so konstruiert, daß wir Liebe und Freundschaft subjektiv empfinden und, von solchen Gefühlen angespornt, uns auch für bestimmte Mitmenschen aufopfern. Daß wir dabei auch angepaßt handeln, also für die Verbreitung unserer Gene sorgen, widerspricht dem nicht. Beistand und Kooperation sind Strategien im Kampf ums Dasein, und die entsprechenden Emotionen haben sich im Dienste dieser Aufgaben entwickelt. In diesem Sinne existiert Freundlichkeit neben Wettstreit . . . " 3 1 4 Der wegen seiner Griffigkeit in die Populärliteratur eingegangene Ausdruck des „egoistischen Gens" (Dawkins 3 1 5 ) darf deshalb nicht im psychologischen Sinne benutzt werden. Entsprechendes gilt für den „Eigennutz der Gene" 3 1 6 und die „Moralität des Gens" 3 1 7 . Gene „wollen" nichts, sie haben kein „Ego". Dawkins macht allerdings deutlich, daß er den Ausdruck „egoistisches Gen" nicht intentional verstanden wissen w i l l . 3 1 8 Das Problem des in der Motivation ausgedrückten Interesses. Vgl. Singer (1981), S. 126 ff.; Sesardic (1995), S. 136 f. - Vom psychologischen Egoismus ist der moralische zu unterscheiden, wie ihn Kant in der Anthropologie bestimmte ((1789), § 2): „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht als in dem, was ihm nützt, auch wohl als Eudämonist bloß im Nutzen und der eigenen Glückseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung, den obersten Bestimmungsgrad seines Willens setzt." 309 Vgl. dazu auch Bayertz (1993b), S. 158; Patzig (1984), S. 680; Siep (1993), S. 291 f. 310 Nietzsche (1887b), Aph. 62. 311 Kitcher (1985), v.a. Kap. 11, betont die Unzulänglichkeit der Soziobiologie in der Behandlung von insb. selbstlosen Motivationen. Ähnlich Midgley (1994), S. 17; Siep (1993), S. 292 ff.; de Waal (1996), S. 14 ff. 312 Bayertz (1993b), S. 154. Ähnlich D. S. Wilson (1992), S. 63 ff. 313 Matt Ridley (1997), S. 20 f. 314 Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 152. 315 Dawkins (1989) (erste Auflage 1976). 316 Wickler/Seibt (1977). 317 Ruse (1984).

D. Kritische Diskussion

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ist, daß im Alltagssprachgebrauch, genauso wie in der Sprache der Philosophen, Eigennutz häufig mit Egoismus und Selbstlosigkeit mit Fremdnutzen zusammenfallen. Wir unterscheiden normalerweise nicht zwischen Motiven und faktischen Verhaltenskonsequenzen. Unser Bewußtsein blendet faktischen Eigennutz so erfolgreich aus, daß wir hinter die motivationale Ebene gar nicht mehr zurückgehen. Die evolutionäre Verhaltenstheorie fordert uns jedoch genau dazu auf, und zu Recht. Eine weitere Formulierung ist mißverständlich und bedarf der Klärung. Manche, die aus populärwissenschaftlicher Quelle von der Soziobiologie gehört haben, bringen ihre angebliche Essenz auf die Formel, Organismen versuchten, ihre Gene zu verbreiten. Doch wie Steven Pinker bemerkt, ist das wiederum ein Kategorienfehler: „Many people think that the theory of the selfish gene says that , animals try to spread their genes/ That misstates the facts and it misstates the theory. Animals, including most people, know nothing about genetics and care even less. People love their children not because they want to spread their genes (consciously or unconsciously) but because they can't help it." 3 1 9 Der Bezug zum Verhaltensnutzen und zur Wettbewerbssituation der Individuen schlägt sich auch in der Sprache der evolutionären Verhaltenstheorie nieder. Häufig ist die Rede von Knappheit, Kosten, Nutzen, Maximierung, Gleichgewicht oder Strategie. Die (größtenteils mikio-)ökonomischen Termini könnten, erstens, den Eindruck erwecken, zunächst auf die genetische Ausstattung projiziert und sodann wieder herausgelesen zu werden. 3 2 0 Zweitens klingt der wirtschaftswissenschaftliche Jargon so, als ob Organismen ihre Verhaltensstrategien per Kosten/Nutzen-Analyse planen würden. 3 2 1 Daß letzteres nicht der Fall ist, daß vielmehr unbewußte Neigungen und Gefühle, verwurzelt in Revolutionärer Entwicklung, das Verhalten ausrichten, wurde vielfach betont. Es hat einen sachlichen Grund, warum Kosten/ Nutzen-Analysen in der evolutionären Verhaltenstheorie auftauchen. Mittels ihrer läßt sich das Grundprinzip der Evolution erläutern: Nur was angepaßt ist, vermag langfristig zu überleben. Kosten in Form von Energieverbrauch, langen Aufzuchtszeiten etc. müssen durch anderweitigen Nutzen gerechtfertigt sein. Insofern menschliches Verhalten an diesem Grundprinzip teilhat, ist es mit den gleichen Instrumenten zu analysieren. 322 Das ist der eigentliche Grund, warum Spieltheorie und Ökonomie einschlägig sind.

318

Vgl. Dawkins (1989), S. 4 f. Pinker (1997), S. 400. 320 So Koslowski (1990), S. 26 ff.; Rottleuthner (1985), S. 116. 321 Bischof (1985), S. 181 f. 322 Zum Zusammenhang zwischen Evolutionsbiologie und ökonomischer Analyse des Rechts siehe G. S. Becker (1976); Hirshleifer (1982); Lehmann (1982). 319

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Teil IV: Koevolutionäre Verhaltenstheorie 2. Wie universal ist Verhalten,

und was folgt daraus?

Eine häufige Kritik an der evolutionären Verhaltenstheorie lautet: 3 2 3 „Wenn ein Verhalten eine genetische Grundlage haben soll, muß es universal zu beobachten sein. Die ethnologischen Daten, die von der evolutionären Verhaltenstheorie verwendet werden, sind aber häufig ethnozentrisch verzerrt oder in ihrer Universalität überschätzt. Sowieso lassen sich ethnologische Belege für fast jede Verhaltensweise finden." Die Kritik ist nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, legt aber doch verschiedene Mißverständnisse nahe, denen die zitierten Kritiker denn auch erlegen sind. Zunächst ist strikte Universalität keine notwendige Bedingung für die Annahme genetischer Beeinflussung. Weite Verbreitung und historische Konstanz, möglichst schon mit unseren tierischen Vorfahren, genügen. Und was dabei weit verbreitet ist, sind stets die Verhaltensfunktionen. 324 Wir mögen uns im Stadion in der Ostkurve versammeln und unsere Mannschaft anfeuern, während frühagrarische Kulturen einen Regentanz zelebrieren. Das Gemeinsame daran ist (sagen wir) die Funktion des Gruppenzusammenhalts, nicht hingegen der äußere Eindruck. Vorlieben und Verhaltenstendenzen sind im übrigen gerade dann angepaßt, wenn sie vom Durchschnitt ein wenig abweichen. Nehmen wir an, alle Organismen einer Population seien vertrauensselig und großzügig. Ein einzelnes skrupelloses Individuum hätte hier hervorragende Fitneßvorteile. Oder: Wenn alle Mitglieder einer Gruppe Risikominimierer sind, ist das Eingehen größerer Risiken schon allein deswegen von Vorteil, weil es angesichts der Berechenbarkeit des Verhaltens der anderen eigentlich kaum ein größeres Risiko i s t . 3 2 5 Trotzdem muß es signifikant verbreitete Merkmale geben. Denn die Abweichung des Individuums darf nie so groß sein, daß die Anschlußfähigkeit an seine Artgenossen verloren geht. Es ist als soziales Lebewesen auf die anderen angewiesen, lernt von ihnen und interagiert mit ihnen. Die in der Evolution favorisierte „Universalität" ist also eine universale Ähnlichkeit, und zwar Ähnlichkeit in Funktionen. Diese universale funktionale Ähnlichkeit erstreckt sich auf weltweit, historisch durchgängig und kulturübergreifend verbreitete Merkmale wie unter anderem 323 Hemminger (1983), S. 34 f.; Rose et al. (1984), S. 245 ff. - Sahlins (1977), S. 17-70, versucht, das Konzept der Verwandtschaftsselektion durch ehtnologische Daten zu erschüttern. 324 Siehe Voland (1993), S. 12. 325 Dies wäre als Kritik an John Rawls' Annahme zu formulieren, im Urzustand würden die Parteien nach dem Risikoprinzip des „Maximin" wählen. Vgl. Rawls (1971), Kap. 26, S. 152 ff.

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- Bedeutung von Status und Prestige, - ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum, - Verfügungsrechte (property rights326) und Vererbung von Besitztümern, - Gegenseitigkeit, - Strafe, - Eifersucht, - Bevorzugung junger gegenüber älteren Frauen durch Männer, - Inzestvermeidung, - Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, - Gruppenabgrenzung, - Konflikte, auch innerhalb der Gruppe, - Gewaltverbrechen. Alle diese Merkmale treten in den einzelnen Kulturen mit unterschiedlichem Gewicht und in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Aber sie treten universal auf, wie der Anthropologe Donald Brown durch einen Vergleich vorhandener Studien gezeigt hat. 3 2 7 Zu dem gleichen Ergebnis gelangt Irenäus Eibl-Eibesfeldt. 328 Allerdings ist universale Ähnlichkeit eines Merkmals ein starker, aber kein zwingender (hinreichender) Grund für die Annahme genetischen Einflusses. Wenn z.B. (fast) alle Menschen an Gott glauben sollten, müßte die Gottesidee noch lange nicht angeboren sein. 3 2 9 Die universale Nutzung des Feuers ist ebenfalls durch Tradition universal geworden bzw. im Wege kon326

Zum Begriff Teil I A. 6. D. E. Brown (1991); siehe ähnlich Fikentscher (1995), S. 60 ff.; Triandis (1978). Anthropologische bzw. ethnologische Studien wie die von Margaret Mead, die, im Geiste Frans Boas* erzogen, bei den von ihr besuchten Völkern nur Friedfertigkeit, Konkurrenzlosigkeit und freie Liebe entdecken konnte, sind in Browns Arbeit natürlich nur nach ausführlicher Kritik eingegangen. - Zu moralischen Universalien in anthropologischer Perspektive siehe Brandt (1996), S. 72 ff.; Rippe (1993), 110 ff., 151 ff. 328 Eibl-Eibesfeldt (2001). 329 So John Lockes „argument from universal consent": 1690/1975), Book I ch. 2 (theoretische Prinzipien) und 3 (praktische Prinzipien). Zu Locke siehe schon Teil III C. 2. Ein ähnliches, aber untaugliches Beispiel ist das von Rose et al. (1984), S. 255: Daraus, daß 99% der Finnen Lutheraner seien, ließe sich nicht folgern, sie besäßen ein Gen dafür. Das trifft natürlich zu, aber aus zwei Gründen, die in unserem Zusammenhang nichts ausrichten: Niemand behauptet die genetische Geprägtheit einer spezifischen religiösen Konfession, und eine einzelne Nation (warum überhaupt Nation?) ist in keinem Fall eine ausreichende Bezugsgruppe für die Behauptung von Universalität. 327

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vergenter Erfindungen 330 entstanden. 331 Weit verbreitete Merkmale, auch angepaßte Merkmale, können ohne Zutun der Natur entstanden sein. Eine gute Theorie gibt sich mit dieser Erkenntnis aber nicht zufrieden und fragt, ob es gleichwohl Gründe dafür gibt, daß es zu solchen soziokulturellen Merkmalen kommen konnte. Warum liegt so vielen Menschen daran, einen Gott oder Götter zu verehren? Warum werden Kinder so erzogen? Welchen Anpassungsweit besitzt die Domestizierung des Feuers? Solche Fragen verweisen auf funktionalistische koevolutionäre Hypothesen. Homologien eines Merkmals mit der biotischen Evolution des Menschen dürfen, wie gesagt, dann als erwiesen gelten, wenn zu seiner Universalität ein reproduktiver Nutzen im Sinne der Gesamtfitneß und eine funktionelle Kontinuität des menschlichen mit tierischem Verhalten hinzukommen. 332 Die oben referierte Kritik behauptet ferner, daß ethnologische Daten beliebig interpretierbar seien. Das ist aber nur solange so, wie die Analyse auf der phänomenologischen Ebene verharrt. Dem Kulturanthropologen erscheint Verhalten fast unbegrenzt variabel, weil und sofern er evolutionäre Verhaltensfunktionen nicht in den Blick nimmt.

3. Zum Verwandtschaftsbegriff In ihrer Analyse der Verwandtensolidarität geht die evolutionäre Verhaltenstheorie von einem biologischen Begriff aus, von Blutsverwandtschaft. Ethnologische Studien zeigen nun, daß es Unterschiede darin gibt, wie verschiedene Kulturen den Kreis der Verwandtschaft abgrenzen. Ob man soweit gehen muß wie Marshall Sahlins, erscheint zwar zweifelhaft: „... there is not a single system of marriage, postmarital residence, family organization, interpersonal kinship, or common descent in human societies that does not set up a different calculus of relationship and social action than is indicated by the principles of kin selection."333 Jedenfalls aber zeichnen kulturelle Definitionen von Verwandtschaftsbeziehungen die genetischen Überlappungen nicht getreu nach. 3 3 4 Beispielsweise pflegt weltweit etwa ein Drittel der Kulturen die Praxis, daß Söhne auch nach der Heirat, dann mit ihrer Familie, im Haushalt des Vaters verbleiben (Patrilokalität), während Töchter wegheiraten. Dadurch entsteht eine Gruppe, in der nur der männliche Zug einer Familie zusammengehalten wird; Töchter verteilen sich über verschiedene männliche Züge. In sol330 331 332 333 334

Dies als Parallelbegriff zur konvergenten Anpassung; Teil II Α. 1. Vgl. Vogel/Eckensberger (1988), S. 592 f. Siehe Teil II B. 6. Sahlins (1977), S. 26. Bischof (1985), S. 54 ff.; Wesel (1985), S. 189 ff.

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chen Gruppen besteht eine engere Beziehung des verheirateten Sohns mit seinen Cousins sowie Onkeln als mit seiner Schwester, und, selber Vater, muß er auf eine enge Beziehung mit seiner Tochter und deren Kindern verzichten. 335 Als nahe Verwandten gelten dem jungen Mann dementsprechend Vater und Mutter, Bruder, Onkel und Cousin, als entferntere Verwandte Schwester, deren Kinder, Tanten. Nach diesem klassifikatorischen System, nicht nach der Blutsverwandtschaft, richtet sich die Gewährung von Verwandtensolidarität. Daraus zu folgern, daß Verwandtschaftsbeziehungen nichts mit Blutsbanden zu tun haben, ist voreilig. Von vornherein stand nicht zu erwarten, daß die soziokulturell definierte Beziehungsnähe einfach mit dem Grad der genetischen Überschneidung korrespondiert, aus verschiedenen Gründen: - Manchmal erfordert genetische Nähe gerade zwischenmenschliche Entfernung - aus evolutionären Gründen: Die Gefahr inzestuöser Bindungen muß durch Heiratsbräuche und Tabus gebannt werden. Als Verbot des Geschlechtsverkehrs zwischen Eltern und Kindern hat das Inzestverbot universal strenge Geltung. 3 3 6 Die meisten Kulturen verbieten zusätzlich Inzucht (inbreeding) zwischen Geschwistern, manche auch zwischen entfernteren Verwandten. 337 Auch Schimpansen und viele andere Tiere vermeiden weitgehend inzestuöse Kontakte zwischen Eltern und Nachkommen. 3 3 8 Zwar könnte man annehmen, daß Inzucht für die Verbreitung der eigenen Gene eine besonders effektive Strategie sei, weil bei der geschlechtlichen Rekombination wegen der genetischen Überschneidung mit dem Partner statistisch mehr als die Hälfte der eigenen Gene auf die Nachkommen übergeht. Doch nachteilige Gene werden ebenso verstärkt weitergegeben. In Populationen, die Inzucht betreiben, vervielfacht sich der Effekt. Durch die Verminderung der genetischen Spannbreite und die Zunahme nachteiliger Gene in einer Population sinkt deren Reaktionsfähigkeit auf wechselnde Selektionsdrücke. Isolierte Populationen von weniger als 500 Personen sind dadurch massiv vom Aussterben bedroht. 339 335

Sahlins (1977), S. 27 f. m.w.N. In der Anthropologie wird zwischen „inbreeding avoidance" (Verhalten, auch bei Tieren) und „incest taboo" (Norm bei Menschen) unterschieden. 337 Siehe Alexander (1979), S. 195 ff.; Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 365 ff.; Meyer (1982), S. 117 ff.; Pinker (1997), S. 455 ff. - Unter den Tausenden von Kulturen gibt es genau zwei historische Ausnahmen: Ägypten im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus, wo Geschwisterehen vorkamen, und Alt-Iran in derselben Zeit. Siehe Bischof (1985), S. 32 ff. Bei solchen Fällen wiegen allerdings die spärliche Quellenlage und die Unkenntnis der soziokulturellen Umstände schwer, so daß sie für ein Argument gegen die Universalität des Inzestverbots wenig hergeben. 338 Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 367 f.; Goodall (1983), S. 56; Itani (1983), S. 64 f. 339 Kuli (1979), S. 155. Siehe auch Bischof (1985), Kap. 5. 336

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Verwandtschafts- und Nähedefinitionen müssen deshalb auf mehr als einen evolutionären Faktor reagieren. Norbert Bischof erläutert das Dilemma dahingehend, daß zwei Bedürfnisse von der Familie erfüllt werden sollen: Beistands- und Besitzgemeinschaft zu sein. 3 4 0 Könnte man z.B. seine Geschwister gefahrlos heiraten, würden beide Bedürfnisse gleichermaßen befriedigt. Besitz würde in der Familie verbleiben, und die nämliche Familie würde Geborgenheit spenden. Bei extrafamilärer Heirat hingegen wandert Besitz aus der Blutsverwandtschaftslinie ab. Angesichts des Inzestproblems sind hier Kompromisse erforderlich. 341 Für diese besteht ein kultureller Spielraum. - Es gibt keine unfehlbare Erkenntnis von biologischen Verwandtschaftsgraden, denn die Gene sieht man nicht, sie hinterlassen keine sowohl direkt wahrnehmbaren als auch eindeutigen Spuren. 342 Gesellschaftliche Verwandtschaftsdefinitionen können also die Genomüberschneidungen gar nicht getreu wiedergeben. In der Evolution haben sich andere, indirekte Mechanismen herausgebildet, um Inzest vermeiden und Sympathien allozieren zu können. Studien in Kibbuzim und in China deuten darauf hin, daß wir Menschen wie Verwandte behandeln, mit denen wir als Kind im sensiblen Alter von bis etwa 3 Jahren sozialisiert wurden, unabhängig von der tatsächlichen genetischen Überschneidung. 343 Umgekehrt steigt die Inzesthäufigkeit bei Geschwistern, die während ihrer frühen Jugend längere Zeit getrennt voneinander aufgezogen wurden. 3 4 4 Der zugrundeliegende Mechanismus heißt nach seinem Entdecker WestermarckEffekt. 3 4 5 340

Bischof (1985), S. 62. Vgl. auch Wickler/Seibt (1977), S. 166 ff.; E. O. Wilson (1975), S. 315 ff. 342 Siehe allerdings Rushton (1989), der spezifische genetische Ähnlichkeiten bei Paaren und Freundschaften nachweist (es geht ihm also nicht um genetische Überschneidung wie im Fall von Verwandtschaft). Es muß danach jedenfalls irgendwelche direkten oder indirekten, jedenfalls unbewußten Mechanismen geben, Eigenarten der Genome Dritter zu erkennen. Auch hinsichtlich der genetischen Fixierung äußerer Merkmale von Personen scheint eine Selektion zugunsten der Erkennbarkeit von Verwandtschaft stattgefunden zu haben. Siehe Alexander (1987), S. 8. 343 In Kibbuzim werden nicht blutsverwandte Kinder in kollektiven Kinderhäusern erzogen. Diese Kinder meiden hernach Sexualkontakte und Heirat mit ihren früheren Spielkameraden, weil sie diese nicht sexuell attraktiv finden - obwohl keine Inzucht droht und die Eltern ihren Kindern zur Heirat von Kibbuzimfreunden ausdrücklich zureden. In China hat sich erwiesen, daß Ehen schlechter funktionieren, wenn die Ehepartner als Kinder miteinander aufgewachsen sind und hernach verheiratet wurden - gleich ob sie von nahen Verwandten abstammen (also genetisch verwandt sind) oder bloß gemeinsam adoptiert wurden. Vgl. Alexander (1979), S. 79 m.w.N.; Bischof (1985), S. 94 ff. mit ausführlicher kritischer Diskussion in den Kap. 6, 7 und 22; Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 368 f.; Α. P. Wolf (1995); Zimmer (1989). 344 Bevc/Silverman (2000). 341

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- Die Nähe von Verwandtschaftsbeziehungen hängt, wie Richard Alexander zeigen konnte, von der Art der gepflegten Sexualbeziehungen a b . 3 4 6 Bei hoher Promiskuität der Frauen sinkt die Wahrscheinlichkeit der Männer, leiblicher Vater der Kinder ihrer Frauen zu sein. Die weitreichenden Folgen dieser Praxis für die Nähebeziehung des Mannes zu seiner Frau und zu seinen Schwestern schildert Christian Vogel: „Im Modell läßt sich errechnen, daß von einer durchschnittlichen Vaterschaftswahrscheinlichkeit von ca. 30% an abwärts ein Mann in seinem biogenetischen Eigeninteresse besser in die Kinder seiner Schwestern als in die seiner Frau investieren sollte." 347 Denn die Kinder seiner Schwester besitzen mit Sicherheit immerhin durchschnittlich ein Viertel seiner Gene. Dementsprechend findet sich in den weltweit anzutreffenden matrilinearen Gesellschaften häufig das sog. Avunkulat. Darunter versteht man, daß anstelle des Kindesvaters ein Bruder der Mutter für deren Kinder Verantwortung und Verpflichtungen übernimmt. - Das Aufbrechen der Familienbande bietet Chancen für eine zweite Art von Solidarität: Kooperationsbeziehungen innerhalb und zwischen Gruppen, Tausch, Handel und Arbeitsteilung. 348 Die Weggabe einer Tochter in eine andere Gruppe zum Beispiel führt zu guten Kontakten mit der Gruppe, und zwar gerade weil die natürliche Beziehung zur Tochter besonders eng ist und nicht leichtfertig gesprengt wird; das weiß die aufnehmende Gruppe sehr w o h l . 3 4 9 Die guten Kontakte können dann den Verlust an innerfamiliärer Zusammenarbeit mehr als wettmachen. Ähnliches kann gesagt werden über die Praxis der Unilinealität. Die nächste Verwandtschaft wird dabei so definiert, daß nur über die männliche (patrilineal) oder die weibliche (matrilineal) Linie die engste Form der Verwandtschaftsbeziehung vermittelt wird, mit entsprechenden Vererbungs-, Inzest- und Heiratsregelungen. Diese erscheinen auf den ersten Blick artifiziell (und rein kulturell bedingt): So ist etwa bei Patrilinealität die Heirat eines Mädchens mit einem Sohn eines Onkels väterlicherseits (paralleler Cousin) verboten, mit einem Sohn eines Onkels mütterlicherseits (Kreuzcousin) hingegen erlaubt - mehr noch: erwünscht. Der erste 345

Westermarck (1891), S. 192 ff. Alexander (1979), S. 169 ff. Siehe auch Kuli (1979), S. 160. 347 Vogel (1989b), S. 101. Nicht jedoch sollte er in die Kinder seiner Brüder investieren, weil diesen ja die gleiche Unsicherheit der Vaterschaft anhaftet. 348 Bischof (1985), S. 62 ff. Siehe schon Malinowski (1926), Kap. IX („Prinzip des Gebens und Nehmens ... in der engsten Verwandtschaftsgruppe ..."). 349 Es geht daher zu weit, steht aber im Einklang mit seinem kulturellen Reduktionismus [(siehe Teil III A. 4. b)], wenn Sahlins meint ((1977), S. 58): „Birth itself is nothing apart from the (cultural) kinship system which defines it." 346

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Eindruck trügt jedoch. Hinter solchen Praxen stehen evolutionäre Ursachen. Paarbildung mit relativ Nahestehenden, aber jenseits der genetischen Inzestgrenze („Nah-Exogamie") ist vorteilhaft, weil ähnliche Gene bei der Rekombination besser harmonieren und weil kulturelle Integration (ein adaptiver Faktor) dadurch erleichtert wird. Ethnologische Studien haben ergeben, daß in vielen Kulturen eine nah-exogame Heiratspraxis befolgt wird: „Die generelle Regel sollte aus genetischen wie aus sozio-kulturellen Gründen lauten: Heirate genetisch - was Blutsverwandtschaft anbelangt - so weit weg wie nötig, aber - was genetische Compatibilität (sie) und die traditionale Vertrautheit anbetrifft - so nahe wie möglich!"* 50 Die Kombination aus Unilinealität und Nah-Exogamie ist letztlich ausgesprochen vorteilhaft. Wie Arnold Gehlen, der Nähe zur Soziobiologie unverdächtig, erläutert, ergibt sich so eine kontinuierliche unverzweigte Verwandtschaftslinie: „Daher kann ein solcher Verband als ganzer in Aktion treten, ohne Loyalitätskonflikte, und die Konstruktion größerer Verbände, die mehrere Linien umfassen, bietet keine Schwierigkeiten." 351 An diesen Beispielen zeigt sich, daß soziokulturelle Definitionen von Verwandtschaft, indem sie ein evolutionäres Gebot mißachten, andere um so besser erfüllen: insbesondere die Gebote der Inzuchtvermeidung, Besitzstandswahrung und Reziprozität. 352 Man muß also sehr genau hinsehen, bevor man einen Widerspruch kultureller Praxen zur Evolutionstheorie konstatiert und daraus folgert, die Kultur habe die Evolution vollständig überlagert. 3 5 3 Verfehlt ist es z.B., im Eltern-Kind-Verhältnis nach ausgegliche350 Vogel (1989b), S. 99. Vgl. auch Bischof (1985), Kap. 3; Durham (1991), Kap. 6; Eibl-Eibesfeldt (1997), S. 370; Pinker (1997), S. 436 ff. Folgende Komplikation ist zu beachten: Inzestregeln beziehen sich auf Sexualverkehr, Heiratsregeln auf einen verwandtschaftsbegründenden Akt, der nicht zwingend mit der Begründung oder Legitimierung eines sexuellen Verhältnisses einhergeht. Beide fallen freilich häufig ineins. Vgl. Borgerhoff Mulder/Mitchell (1994), S. 479. 351 Gehlen (1964), S. 200. Gehlen schließt seinen Beobachtungen eine Theorie des (weitverbreiteten; Gehlen (1971), S. 394 f.) Totemkults an. Danach liege die Funktion des Totemismus in der Konstitution und Kennzeichnung von Blutsverwandtengruppen, die sich nach spezifischen Tieren benennen und sich mit ihnen identifizieren. Das Totemtier darf auch nicht getötet und gegessen werden, was zurückwirkt auf ein Verbot der Tötung (und des Kannibalismus) von mit dem Tier identifizierten Gruppengenossen; siehe Gehlen (1964), S. 201 ff. 352 Ähnlich Alexander (1979), S. 152 ff.; G. Geiger (1990), S. 132 f. - Empirische Studien dazu bei Essock-Vitale/McGuire (1980). 353 So schreibt Sahlins (1977), S. 57: „... the relation between pragmatic cooperation and kinship definition is often reciprocal. If close kinsmen live together, then those who live together are close kin." Sahlins übersieht, daß soziale Kooperation evolutionär sinnvoll und genetisch angelegt ist. Sie steht daher nicht im Gegensatz

E. Zusammenfassung und Ausblick

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ner Gegenseitigkeit zu fahnden, nur um dann als Argument gegen die Theorie anzuführen, daß Kinder den Eltern nicht genauso viel wiedergeben, wie sie selbst empfangen haben. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist vorrangig kein reziprokes, sondern ein familiäres und unterfällt der Theorie der Gesamtfitneß. 3 5 4 In umgekehrter Richtung wird eingewendet, man sei doch nicht nur zu engen Verwandten freundlich, sondern auch zu Bekannten und Freunden. 355 Der Einwand mißachtet die Möglichkeit reziproker Verhältnisse, die durch die Neigung zu Großzügigkeit und Ehrlichkeit Revolutionär fundiert sind. E. Zusammenfassung und Ausblick „Optime autem societas hominum coniunctioque servabitur, si, ut quisque erit coniunctissimus, ita in eum benignitatis plurimum conferetur.