Warum wir mögen, was wir essen: Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung [1. Aufl.] 9783839423356

Why do we like what we eat? Who puts what on their plate and why? How does taste form and transform over the course of a

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Warum wir mögen, was wir essen: Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung [1. Aufl.]
 9783839423356

Table of contents :
Inhalt
1. Einführung – zu Thematik und Forschungsstand
2. Zum Stand der Sozialisationsforschung
2.1 Geschichte der Sozialisationsforschung
2.2 Das moderne Sozialisationsverständnis
2.3 Sozialisationstheorien
2.4 Individualisierung und Erlebnisgesellschaft – neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Sozialisation
2.5 Zusammenfassendes Fazit
3. Die empirische Erhebung
3.1 Methodische Überlegungen und Untersuchungsziel
3.2 Zur Vielfalt theoretischer Ansätze in der qualitativen Forschung
3.3 Grundannahmen qualitativer Forschung
3.4 Das narrative Interview nach Schütze
3.5 Das episodische Interview nach Flick
4. Methodische Konzeption
4.1 Fragestellung und Forschungsdesign
4.2 Sampling des Forschungsvorhabens
4.3 Erhebungssituation und Probleme
4.4 Auswertung der Interviews
4.5 Fallanalysen
4.6 Typologie
5. Ernährungssozialisation in der frühen Kindheit - Primärsozialisation
5.1 Über die Bedeutung der Primärsozialisation
5.2 Habitualisierung von Geschmack
5.3 Erziehung und Ernährung
5.4 Nahrungsnormen, Tischsitten und Bräuche
5.5 Nahrungstabus
5.6 Zusammenfassendes Fazit
6. Sekundäre Sozialisation und Ernährung
6.1 Zur Bedeutung sekundärer Sozialisation
6.2 Sozialisation in Kindertagesstätten und Kindergärten
6.3 Sozialisation in der Schule
6.4 Ernährungssozialisation in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen
6.5 Ernährung und Medien
6.6 Sozialisation in der Gleichaltrigengruppe
6.7 Ernährung und Geschlecht
6.8 Abweichendes Ernährungsverhalten – Essstörungen
6.9 Ernährung und Armut
6.10Zusammenfassendes Fazit
7. Ernährungseinflüsse im Erwachsenenalter
7.1 Sozialisation des Lebenslaufs
7.2 Gesellschaftlicher Wandel und Ernährung
7.3 Zusammenfassendes Fazit
8. Gesundheit, Nachhaltigkeit und Genuss - Die Ideologisierung der Ernährung
8.1 Über die Macht der Gesundheit
8.2 Das Auftauchen der Nachhaltigkeit und die Moralisierung der Ernährung
8.3 Der ›gute Genuss‹ – Distinktion durch Moral
8.4 Zusammenfassendes Fazit und Ideologiekritik
9. Ernährung und Sozialisation im Alter
9.1 Sozialisation im Alter im Kontext gesellschaftlichen Wandels
9.2 Altersspezifische Lebens- und Gesundheitslagen
9.3 Lebensereignisse im Alter und Auswirkungen auf die Ernährung
9.4 Ernährungszustand von Senioren
10. Resümee und Ausblick
11. Abbildungsverzeichnis
12. Literaturverzeichnis
13. Danksagung

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Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen

Kultur und soziale Praxis

Für Monika

Simon Reitmeier (Dr. phil.) hat Soziologie, Politikwissenschaft und Neueste Geschichte an den Universitäten Augsburg und Granada studiert. Er ist seit 2008 Mitglied der Slow Food Arche-Kommission Deutschland. Seit Anfang 2013 arbeitet er für den Cluster Ernährung am Kompetenzzentrum für Ernährung (KErn) in Kulmbach.

Simon Reitmeier

Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gortincoiel / photocase.de (Detail) Lektorat & Satz: Simon Reitmeier Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2335-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1.

Einführung – zu Thematik und Forschungsstand | 7

2.

Zum Stand der Sozialisationsforschung | 13



 2.1 2.2 2.3 2.4

Geschichte der Sozialisationsforschung | 13 Das moderne Sozialisationsverständnis | 14 Sozialisationstheorien | 17 Individualisierung und Erlebnisgesellschaft – neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Sozialisation | 41 2.5 Zusammenfassendes Fazit | 53



3.

Die empirische Erhebung | 55

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Methodische Überlegungen und Untersuchungsziel | 55 Zur Vielfalt theoretischer Ansätze in der qualitativen Forschung | 57 Grundannahmen qualitativer Forschung | 58 Das narrative Interview nach Schütze | 60 Das episodische Interview nach Flick | 64

4.

Methodische Konzeption | 69

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Fragestellung und Forschungsdesign | 69 Sampling des Forschungsvorhabens | 71 Erhebungssituation und Probleme | 74 Auswertung der Interviews | 77 Fallanalysen | 81 Typologie | 117

5.

Ernährungssozialisation in der frühen Kindheit – Primärsozialisation | 129



 

 

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

  

Über die Bedeutung der Primärsozialisation | 129 Habitualisierung von Geschmack | 139 Erziehung und Ernährung | 148 Nahrungsnormen, Tischsitten und Bräuche | 154 Nahrungstabus | 156 Zusammenfassendes Fazit | 160

6.



Sekundäre Sozialisation und Ernährung | 163

6.1 Zur Bedeutung sekundärer Sozialisation | 163 6.2 Sozialisation in Kindertagesstätten und Kindergärten | 164 6.3 Sozialisation in der Schule | 165 6.4 Ernährungssozialisation in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen | 166 6.5 Ernährung und Medien | 170 6.6 Sozialisation in der Gleichaltrigengruppe | 176 6.7 Ernährung und Geschlecht | 182 6.8 Abweichendes Ernährungsverhalten – Essstörungen | 207 6.9 Ernährung und Armut | 215 6.10 Zusammenfassendes Fazit | 224



7.



Ernährungseinflüsse im Erwachsenenalter | 227

7.1 Sozialisation des Lebenslaufs | 227 7.2 Gesellschaftlicher Wandel und Ernährung | 230 7.3 Zusammenfassendes Fazit | 261



8.

Gesundheit, Nachhaltigkeit und Genuss – Die Ideologisierung der Ernährung | 263

8.1 Über die Macht der Gesundheit | 263 8.2 Das Auftauchen der Nachhaltigkeit und die Moralisierung der Ernährung | 271 8.3 Der ›gute Genuss‹ – Distinktion durch Moral | 278 8.4 Zusammenfassendes Fazit und Ideologiekritik | 298



9.



Ernährung und Sozialisation im Alter | 305

9.1 Sozialisation im Alter im Kontext gesellschaftlichen Wandels | 305 9.2 Altersspezifische Lebens- und Gesundheitslagen | 309 9.3 Lebensereignisse im Alter und Auswirkungen auf die Ernährung | 319 9.4 Ernährungszustand von Senioren | 322



10. Resümee und Ausblick | 335



11. Abbildungsverzeichnis | 343



12. Literaturverzeichnis | 345 13. Danksagung | 387

1. Einführung – zu Thematik und Forschungsstand

Essen, Kochen, Ernährung, Geschmack, Esskultur – betrachtet man die stetig wachsende Zahl von Kochsendungen im Fernsehen, den stark wachsenden Absatz bei Kochbüchern (vgl. Kochan Oktober 2007), die Ausbreitung von Biolebensmitteln aus der Nische der Ökoläden bis in die Discounter (vgl. G+J Mediasales 2008, S. 63–67) oder die stets steigenden Mitgliedszahlen von genussorientierten Organisationen wie Slow Food, so drängt sich einem der Eindruck auf, dass sich die Deutschen zu einem Volk der Feinschmecker1 entwickelt haben. Gleichzeitig steigen die Absatzzahlen bei Tiefgefrorenem und Convenience-Produkten, breiten sich Imbissketten aus und Verbraucher freuen sich über Fleisch vom Discounter (vgl. ZMP Zentrale Markt- und Preisberichtstelle für Erzeugnisse der Land 2006, S. 30; Deutsches Tiefkühlinstitut e.V. 2008; G+J Mediasales 2008). Der wachsenden Ernährungselite, die hedonistisch den Genuss sucht und gleichzeitig um Nachhaltigkeit und fairen Handel bemüht ist, steht ein Gros an Verbrauchern gegenüber, für die die alltägliche Nahrungsaufnahme in unterschiedlichem Ausmaß auch eine Notwendigkeit ist, die ökonomischen Zwängen unterliegt. Auch diese Gruppe will genießen und hat Geschmack: Nur eben einen anderen. Hinter den Geschmäckern stehen divergierenden Körperbilder, unterschiedliche Habitus, verschiedene Vorstellungen und Erwartungen an Nahrungsmittel. Diese entstehen im lebenslangen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in gegenseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Umwelt, im Prozess der Sozialisation der Ernährung. Die Wissenschaft betrachtet den Topos Ernährung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ernährung wird aus seiner biologischen Funktion betrachtet, man untersucht die biochemische Zusammensetzung von Lebensmitteln, ihren Vitamin- und Mineralien-Gehalt und die gesundheitsspezifischen Folgen von Ernährung. Es gibt 1

Mit Nennung der weiblichen (männlichen) Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männnliche (weibliche) Form mitgemeint.

8 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Statistiken darüber, wie viel Gramm von welchem Lebensmittel die Individuen zu sich nehmen, aufgeschlüsselt nach Alter und Geschlecht und Marketingexperten erforschen neueste Trends auf dem Lebensmittelmarkt. Ob Biologie, Oecotrophologie, Medizin oder Wirtschaft – Ernährung ist stets ein Thema. In der Soziologie dagegen fristete die Ernährung bisher nur ein Schattendasein, wurde allenfalls von der Medizinsoziologie oder der Konsumsoziologie gestreift. Die Soziologie der Ernährung wurde jedenfalls lange überhaupt nicht als eigenständige Spezialsoziologie betrachtet. Auf einer ›Liste spezieller Soziologien‹ der Internetenzyklopädie Wikipedia finden sich weit über 60 Spezialsoziologien, von der Architektursoziologie über Polizeisoziologie bis hin zur Zeitsoziologie, nur die Ernährungssoziologie sucht man vergebens. Auch innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin Soziologie selbst wird die Ernährungssoziologie sträflich vernachlässigt, sie ist noch nicht im wissenschaftlichen Diskurs angekommen und wird kaum als eigenständiger Forschungsbereich erachtet (vgl. Orth / Schwietring / Weiß 2003). Zum einen wurde die Ernährung in der Soziologie lange als etwas zu banales, alltägliches betrachtet, andererseits unterlag die Ernährung stets auch Tabuisierungsversuchen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 19). Die scheinbare Banalität und Profanität der Ernährung trug vielleicht auch dazu bei, dass die Ernährungsforschung am wenigsten in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften etabliert ist, sondern sich vor allem Natur- und Wirtschaftswissenschaften und die Medizin dieses Themenkomplexes angenommen haben. Die Defizite und Lücken einer Soziologie der Ernährung sind jedenfalls groß, obwohl in den letzten Jahren der Ernährung gener-ell, aber auch in der Soziologie speziell, mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Die ersten echten Grundlagenbücher einer »Soziologie des Essens« (Eva Barlösius) und der »Soziologie der Ernährung« (Hans-Werner Prahl / Monika Setzwein) erschienen erst 1999. Doch viele Fragen sind offen: Wie gestaltet sich Ernährung in der Risiko- oder Erlebnisgesellschaft? Welche Interessen und Machtfelder stecken dahinter? Wie entwickeln sich alternative Ernährungsweisen? Wie wirkt sich soziale Ungleichheit auf die Ernährung aus und wie werden dann diese Auswirkungen von Betroffenen empfunden? Wie entsteht eigentlich das, was wir unser-en Geschmack nennen? Die unbeantworteten Fragen sind zahlreich. Diese Arbeit interessiert sich vor allem dafür, wie Geschmack entsteht, wieso wir mögen, was wir essen2, wie sich Geschmack wandeln kann, oder wann und warum er gerade dies nicht tut. Gerade in diesem Bereich gibt es bisher wenig wissen2

Damit ist jedoch nicht Geschmack als gustatorische Wahrnehmung gemeint, also als physiologischer Geschmacksinn, der uns Süßes, Saures, Salziges oder Bitteres schmecken lässt. Der Begriff Geschmack meint in dieser Arbeit – außer es ist ausdrücklich auf seine gustatorische Bedeutung hingewiesen – den Geschmack als Vorliebe für etwas oder anders ausgedrückt, dem soziokulturellen Geschmack der Ernährung.

E INFÜHRUNG | 9

schaftliche Erkenntnisse, wie Prahl / Setzwein in ihrer ›Soziologie der Ernährung‹ feststellen: »Einen recht unterbelichteten Forschungsgegenstand stellt beispielsweise die Ernährungssozialisation dar« (Prahl / Setzwein 1999, S. 269). In dieser Dissertation steht die Sozialisation des Geschmacks im Zentrum des Interesses. Es gilt herauszuarbeiten, welche Strukturen, Umstände und Einflüsse bei der Genese des Geschmacks wirken, im welchem Maße dieser Prozess vom Individuum gelenkt wird und wo gesellschaftliche Strukturen das Individuum prägen. Die Sozialisationsforschung bietet hierfür unterschiedliche Theorien an, die von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend die Art und Weise der Sozialisation zu erklären versuchen. Die strukturfunktionalistische Theorie geht von einer Gesellschaft als sozialem System aus, an dessen Strukturen sich das Individuum durch Internalisierung von Rollenerwartungen anpasst. Die Theorie des Habitus geht davon aus, dass Menschen in ähnlicher materieller Lebenslage ähnlich ausgeprägte Denk-, Wahrnehmungs-, Handels- und auch Ernährungsweisen entwickeln, da diese durch die unmittelbaren Lebensbedingungen geprägt werden. Mehr Gestaltungsautonomie räumen dagegen handlungstheoretische Ansätze dem Individuum ein, welches in der Interaktion mit der Gesellschaft zur Persönlichkeit reift. Neuere Ansätze sind die Individualisierungstheorie nach Ulrich Beck und auch das Konzept der Erlebnisgesellschaft von Gerhard Schulze. Demnach ist die Gesellschaft nicht mehr – wie in der traditionellen Industriegesellschaft – in Klassen oder Schichten unterteilt, sondern vielmehr wurde das Individuum durch einen kollektiven Wohlstandsschub aus Klassen- und schichtdeterminierten Biographien entlassen. Das Individuum habe jetzt ein Mehr an Freiheit und Möglichkeiten in der Entwicklung der Persönlichkeit, ist aber auch einem Mehr an Risiken ausgesetzt. Nach Schulze befindet sich der Einzelne auf einer individuellen Erlebnissuche, die Milieus werden nicht nach ökonomischen, sondern nach psychosozialen Handlungsmotivationen gebildet. Jede dieser Theorien hat Stärken und Schwächen, jeder Forschungsansatz beleuchtet die soziale Wirklichkeit aus einem anderen Blickwinkel und bringt andere Erkenntnisse hervor. Sozialisation ist äußert facettenreich, so dass es auch einen Forschungsansatz bedarf, der die Vielfalt sozialisatorischer Faktoren erfassen kann, wie der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann feststellt: »Was hier proklamiert wird, ist also ein Modell der wechselseitigen Beziehungen zwischen Subjekt und gesellschaftlich vermittelter Realität, eines interdependenten Zusammenhangs von individueller und sozialer Veränderung und Entwicklung. Dieses Modell stellt das menschliche Subjekt in einen sozialen und ökologischen Kontext, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinn also auf das Individuum einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verändert und gestaltet wird.« (Hurrelmann 1995, S. 64)

10 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Eine Theorie, die alle Aspekte der Sozialisation erfasst, gibt es nicht. Deshalb ist ein Rückgriff auf mehrere Theorien unabdingbar. Je nachdem, welche Sozialisationsprozesse anvisiert werden, ob nun aus der Mikroperspektive des handelnden Individuums oder aber von den wirkenden Strukturen der Gesellschaft betrachtet und verstanden, bedarf es einer spezifischen Ausrichtung und erneuten Fokussierung des Blickwinkels des Forschers. Da Sozialisation als lebenslanger Prozess verstanden wird, ist es auch notwendig, die verschiedenen Sozialisationsinstanzen und Phasen jeweils aus verschiedenen Forschungsperspektiven zu durchleuchten. Die ersten Sozialisationsprozesse, die Primärsozialisation, erfährt der Mensch innerhalb der Familie. Schritt für Schritt kommen weitere Sozialisationsinstanzen hinzu. Nach der Familie in der frühen Kindheit folgen Kindergarten und Schule in der späten Kindheit. Jugendliche erleben Sozialisationsprozesse nicht mehr nur in der Familie oder Schule. Die Peer Group, die Gruppe der Gleichaltrigen, gewinnt immer mehr an Einfluss. Auch mit dem Eintritt in das Berufsleben, in der Lebensmitte und im Alter setzen sich Sozialisationsprozesse fort. Für die Sozialisation des Geschmacks bedeutet dies, genau hinzusehen, wo Geschmack entsteht, wo er geprägt wird, wo Geschmack anerzogen wird, wann und warum er Gemeinschaft oder Distinktion erzeugt, wann die Gesellschaft prägt oder das Individuum frei entscheidet. In den frühen Sozialisationsphasen, wie beispielsweise innerhalb der Familie, ist die Persönlichkeitsentwicklung stark von äußeren Strukturen geprägt. Zu nennen sind hier kulturelle Werte und Normen, die verinnerlicht werden oder schichtspezifische Lebensstile, die habitualisiert werden. Im Laufe des lebenslangen Sozialisationsprozesses tritt das Individuum dann verstärkt als autonom handelndes Wesen auf. Selbstverständlich bleibt dabei das Wechselspiel der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft bestehen, allerdings mit sich ändernder Gewichtung. In wieweit nun das Individuum frei entscheidet beziehungs weise von der Gesellschaft geprägt wird, ist eine interessante Frage. Bildung könnte dabei eine zentrale Rolle spielen. In einer Wissens- und Bildungsgesellschaft wie der heutigen, ist Bildung das zentrale Element geworden, das den Platz des Individuums in der Gesellschaft bestimmt. Was aber für diese Arbeit noch viel bedeutender ist, ist die Tatsache, dass Bildung dem Einzelnen erst ermöglicht, aus dem durch den Wandel der industriellen Gesellschaft zu einer individualisierten, pluralisierten und ebenso erlebnisorientierten Gesellschaft stets wachsendem Mehr an Möglichkeiten, Chancen, Stilen und Geschmäckern zu wählen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die ökonomischen Strukturen sozialer Ungleichheit erhalten bleiben: »Expandierende Möglichkeitsräume stehen allen offen, – aber in allen Facetten natürlich nur denjenigen, die zahlen können« (Zimmermann 2003, S. 66). Allerdings ist die deterministische Funktion des ökonomischen Kapitals für den Einzelnen längst nicht mehr so ausgeprägt wie in der geschichteten (Klassen-) Gesellschaft vor 100 oder noch 50 Jahren. Pierre Bourdieu stellte schon früh fest, dass die Bedeutung des kulturellen Kapitals gegenüber dem ökonomischen Kapital

E INFÜHRUNG | 11

stark zugenommen hat. Auch der Soziologe Schulze sieht in der Gegenwartsgesellschaft vor allem zwei Faktoren für die Milieubildung als konstituierend, die nicht ökonomischer Art sind. In der von ihm sogenannten ›Erlebnisgesellschaft‹ sind Lebensalter und Bildung entscheidend: »Die unübersehbare Bedeutung von Lebensalter, Generationslage und Bildung für die Gruppenstruktur unserer Gesellschaft legt den Schluss nahe, dass, bei aller Wahlfreiheit der Selbstinszenierung und der Kontaktaufnahme mit anderen, soziale Milieus nicht spontan entstehen, freischwebend, ohne situativen Grund, sondern eng mit Bedingungen zusammenhängen, die unsere Erlebnisbedürfnisse strukturieren – ästhetische Sozialisation, biologische und psychische Reifung und Alterung, elementare kulturgeschichtlichen Erfahrungen in Lebensphasen besonderer Prägsamkeit.« (Schulze 2005, S. 23)

Dies würde bedeuten, dass in der gesellschaftlichen Großgruppenbildung die Unterschiede vor allem auf einem divergierenden Bildungsniveau aufgebaut sind. Der Faktor Lebensalter betrifft alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen. Die qualitativen Unterschiede, divergierende Wertorientierung oder ästhetisches Verständnis, entstehen durch Bildungsunterschiede. Was würde dies für die Sozialisation des Geschmacks bedeuten? Geschmack bildet sich nicht nur entlang von Einkommensgrenzen, sondern auch durch unterschiedliche Bedeutungen, die dem Essen und der Ernährung allgemein zugeschrieben werden. Diese Bedeutung, die das Individuum der Ernährung beimisst, entscheidet über Art und Weise der Ernährung und darüber, was letztendlich auf dem Teller angerichtet, wie es zubereitet und was eingekauft wird. Dabei ist es jedoch nicht so, dass der Bildungsgrad das Ernährungsverhalten einheitlich determiniert, alle Akademiker einen mehr oder weniger ähnlichen Ernährungsstil pflegen. Jedoch ist Bildung meines Erachtens ein wesentlicher Faktor, der das Individuum erst in die Lage versetzt, einen Ernährungsstil zu wählen. Die ökonomische Situation bestimmt dann freilich noch, ob der angestrebte Ernährungsstil auch realisierbar ist. Denn trotz aller Bedeutung der Bildung betont Bourdieu den nach wie vor hohen Stellenwert des ökonomischen Kapitals. Des Weiteren sind für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit unter anderem die Einflüsse des Alters, damit einhergehende Kohorteneffekte, Geschlecht, physiologische und sozialpsychologische Faktoren sowie Auswirkungen der Massenmedien, der Arbeitswelt und spezifische Wertorientierungen auf die Sozialisation des Geschmacks relevant. Wie verändert sich Geschmack während einer Lebensperiode, wie entwickelt sich Geschmack im Alter? Welche Rolle spielen Geschlechtsunterschiede bei der Geschmacksgenese? Welchen Einfluss haben Fernsehen, Zeitschriften oder das Internet? Die Untersuchung dieser Fragen soll das ernährungssoziologische Bild der Sozialisation des Geschmacks vervollständigen. Die Frage der Forschungsmethodik hängt natürlich auch bei dieser Arbeit vom Forschungsgegenstand ab. Vor dem Hintergrund der von Beck konstatierten Indivi-

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dualisierung der Gesellschaft mit der einhergehenden Pluralisierung der Lebensstile oder der von Schulze postulierten Erlebnisgesellschaft mit einem stetig wachsenden Möglichkeitsraum kommt den qualitativen Forschungsmethoden eine neue Aktualität zu Teil: »Der rasche soziale Wandel und die resultierende Diversifikation von Lebenswelten konfrontieren Sozialforscher zunehmend mit sozialen Kontexten und Perspektiven, die für sie so neu sind, daß ihre klassischen deduktiven Methodologien – die Fragestellung und Hypothesen aus theoretischen Modellen ableiten und an der Empirie überprüfen – an der Differenziertheit der Gegenstände vorbeizielen.« (Flick 1996b, S. 10)

Zudem ist die Ernährungssoziologie eine Spezialsoziologie, die bisher relativ wenig erforscht wurde. Dies gilt umso mehr für ihre Teilbereiche, wie die Sozialisation des Geschmacks. In diesem Bereich geht es weniger um die Überprüfung einer Theorie als um die Ausarbeitung von Bausteinen zur Genese einer solchen Theorie. Auch vor dem Hintergrund einer großen Zeitspanne sowie der gegenständlichen Vielfalt, die der Untersuchungsgegenstand mit sich bringt, erscheinen mir narrative oder biographische Interviews zur Erkenntnisgewinnung am Erfolg versprechendsten. Die Samplestruktur sollte dabei wenige, aber möglichst unterschiedliche Personen einbeziehen, um die in der Realität vorhandene Vielfalt zu erschließen. Durch ein biographisches Interview, mit einem Fokus auf Ernährung, soll so ein Bild der subjektiv wahrgenommenen Sozialisationsabläufe gewonnen werden, auf Basis derer eine Theorie der Ernährungssozialisation erarbeitet werden soll, die auch den aktuellen Forschungsstand der jeweiligen Themengebiete aufnimmt und integriert. Wieso wir mögen, was wir essen, wer was auf seinen Teller lädt und aus welchem Grund, wie sich Geschmack im Lebenslauf bildet und verändert, welche Lebensabschnitte welche Rolle in der Ernährungssozialisation spielen, das sind vereinfacht dargestellt die Fragen, auf die diese Arbeit Antworten finden will.

2. Zum Stand der Sozialisationsforschung

2.1 G ESCHICHTE

DER

S OZIALISATIONSFORSCHUNG

Beschäftigt man sich mit dem Begriff der ›Sozialisation‹ und seinem Ursprung, so landet man früher oder später beim französischen Soziologen Emile Durkheim (1858–1917). Zwar weist der Sozialisationsforscher Dieter Geulen darauf hin, dass der Begriff ›Sozialisation‹ schon 1828 im Oxford Dictionary for the English Language erwähnt und erläutert wird, »to render social, to make fit for living in society« (Geulen 1991, S. 21). Doch als gesellschaftswissenschaftlich begründetes Konzept trat der Begriff erst mit Durkheim auf. Dieser verstand darunter die Vergesellschaftung des Individuums, welches in keinster Weise instinktiv, im Unterschied zum Tier, vordisponiert sei, sondern erst durch Einwirkungen der Gesellschaft für ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet wird. Für Durkheim bedeutet Sozialisation also die Anpassung des Individuums an seine soziale Umwelt (vgl. Durkheim 1972, S. 30f.). Eine eigenständige Sozialisationsforschung begann sich jedoch erst in den 30er Jahren herauszubilden, insbesondere in Amerika1. In die Gesellschaftswissenschaften der Bundesrepublik trat das Thema Sozialisation erst in den 60er Jahren immer mehr in den Fokus, wurde die Bedeutung der Sozialisationsprozesse für breite Forschungsfelder wie beispielsweise der Jugendund Familiensoziologie erkannt. Zu dieser Zeit war der Sozialisationsbegriff kei-

1

Anfänglich geprägt war die junge Sozialisationsforschung in den USA insbesondere von kulturanthropologischen Forschungen wie der Margaret Meads oder auch von psychoanalytisch arbeitenden Forschern wie Erik H. Erikson. Nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusste vor allen Dingen die strukturfunktionale Theorie Talcott Parsons’ die Sozialisationsforschung. Die Sozialisationsforschung setzte sich danach mehr und mehr mit Einflüssen der sozialen Schicht auf den Sozialisationsprozess auseinander, was dann im Zuge der Studentenbewegung auch in Deutschland zu einer verstärkten Rezeption und einer hohen Resonanz für die Sozialisationsforschung in der Gesellschaft führte (vgl. Tillmann 2006, S. 37f.; Wurzbacher 1974: VIIf.).

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neswegs so etabliert wie heute, wo er mittlerweile auch ein Begriff der Alltagssprache ist, sondern konkurrierte mit dem missverständlichen Begriff der ›Sozialisierung‹ um die Vorherrschaft im wissenschaftlichen Diskurs (vgl. Faulstich-Wieland 2000, S. 8). Nachdem diese begrifflichen Irritationen zugunsten des Sozialisationsbegriffs beigelegt worden waren, musste nun geklärt werden, was genau unter dem Begriff der Sozialisation eigentlich zu verstehen sei. Bis in die 70er Jahre hielt sich nämlich das traditionelle Sozialisationsverständnis nach Durkheim als Anpassung des Individuums an die Anforderungen und Zwänge der Gesellschaft. Dabei befand sich die Industriegesellschaft Durkheims schon längst in der Auflösung, hatte die »Arbeiterschaft das Joch der ›proletarischen Enge‹ abgeschüttelt, das bis dahin das Leben diktiert hatte« (Beck 1986, S. 123). Die sich abzeichnende Individualisierung und die Pluralisierung der Lebensstile entließen den Menschen aus der scheinbaren Unmündigkeit. Nicht mehr die mechanische Anpassung an gesellschaftliche Funktionszwänge steht im Vordergrund, sondern der Mensch als agierendes Subjekt, das aus vielfältigen Handlungsmodalitäten seine Sozialisation selbsttätig mitbestimmt (vgl. Hurrelmann 2006, S. 14; Veith 1996, S. 94; Zimmermann 2003, S. 15).

2.2 D AS

MODERNE

S OZIALISATIONSVERSTÄNDNIS

Die Ansicht von Sozialisation als Persönlichkeitsentwicklung in wechselseitiger Abhängigkeit von der sozialen und materiellen Umwelt (vgl. Geulen / Hurrelmann 1980, S. 51) setzte sich schließlich bis heute im wissenschaftlichen Diskurs durch. Etwas präzisiert hält Hurrelmann fest: »Sozialisation bezeichnet nach dieser Definition den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ›innere Realität‹ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ›äußere Realität‹ bilden.« (Hurrelmann 2006, S. 16)

Diese Definition macht nicht nur deutlich, was unter dem Begriff Sozialisation zu verstehen ist, sondern auch, was eben nicht darunter zu verstehen ist. Sozialisation bedeutet die Akzeptanz biologischer Grundfaktoren, jedoch nicht die Annahme einer determinierten Entwicklung aufgrund biologischer (wie genetischer oder hormoneller) Anlagen. Die meisten Sozialisationsforscher sind der Ansicht, dass biologische Faktoren zwar berücksichtigt werden müssen, da der Mensch nun einmal

M ETHODE | 15

ein biologisches Wesen ist, gehen allerdings davon aus, dass kulturelle Faktoren für die Sozialisation von weit größerer Bedeutung sind (vgl. Tillmann 2006, S. 57). Des Weiteren versteht sich Sozialisation als interaktiver Prozess zwischen Gesellschaft und Individuum, das heißt der Mensch ist weder ein idealisiertes, freies Subjekt das sich Einflüssen von außen entzieht, noch passt sich das Individuum an eine ihn determinierende Gesellschaft blind an. Individuum und Gesellschaft, Mikro- und Makroebene sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft, stehen in wechselseitiger Abhängigkeit: Abbildung 1: Struktur der Sozialisationsbedingungen

Quelle: Tillmann 2006, S.18.

In jedweder sozialen Umwelt, in der sich das Individuum bewegt, trifft es auf Wirkungszusammenhänge, die selbst wiederum in andere, größere Zusammenhänge eingebunden sind. So ist die direkte Interaktion zwischen Eltern und Kind, die Primärsozialisation, von einer Vielzahl weiterer Faktoren abhängig. Dies fängt bei den Charakteren der Eltern an, welche selbst durch eine unbestimmbare Menge von Erfahrungen und Einflüssen bestimmt werden, und setzt sich über deren Arbeits- und Familiensituation bis hin zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Arbeitszeiten oder der Verfügbarkeit von Krippen- oder Kindergartenplätze fort (vgl. Tillmann 2006, S. 15ff.). Die Sozialisationsforschung kann die Komplexität dieser wechselwirkenden Interdependenzen nie gänzlich erfassen und entschlüsseln, muss sich aber ihrer Gewahr sein und die Persönlichkeitsentwicklung umfassend aus verschiedenen

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Blickwinkeln betrachten und zu erklären suchen. Gleiches gilt auch für die verschiedenen Phasen der Sozialisation. Bestimmte Altersabschnitte halten bestimmte Anforder-ungen und Übergänge für die Individuen bereit: Abbildung 2: Phasen des Sozialisationsprozesses

Quelle: Tillmann 2006, S. 21; basierend auf: Oerter / Montada 1998

Auch die verschiedenen Lebensphasen befinden sich dabei in wechselseitigen Abhängigkeiten und sind dabei von gesellschaftlichen Gegebenheiten bedingt. Die Ontogenese, also die Entwicklung des Einzelnen während des Lebenslaufes, muss von der Sozialisationsforschung in ihren Zusammenhängen untersucht werden. Sozialisation erstreckt sich über den gesamten Lebenslauf, ist also ein lebenslanger Prozess. Sozialisation beginnt im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, findet dort jedoch nicht sein Ende, sondern setzt sich lebenslang fort. Schulische und berufliche Laufbahnen bringen neue An- und Herausforderungen, mit denen sich das Individuum arrangieren muss, denn bis in das hohe Alter wirken Sozialisationsprozesse weiter, vom Wechsel in den Ruhestand bis zur Vorbereitung auf das Lebensende (vgl. Schäuble 1995). Allerdings gibt es durchaus eine unterschiedliche Akzentuierung: »Der entscheidende qualitative Unterschied zwischen den frühen Übergängen im Lebenslauf bis zum Eintritt in den Erwachsenenstatus und den späteren, daran anschließenden, kann darin gesehen werden, dass sich vom Erwachsenenalter an die Persönlichkeit nicht mehr im Prozess des Aufbaus und der ›Bildung‹ im wörtlichen Sinn befindet, sondern in einem Prozess

M ETHODE | 17

der Modifikation bereits bestehender Strukturen und ihrer Weiterentwicklung.« (Hurrelmann 1995, S. 152)

Inwieweit sich dabei frühe Sozialisationsphasen in ihrer Bedeutung von späteren Lebensphasen unterscheiden, ist noch nicht geklärt. Allerdings wird seit langem davon ausgegangen, dass einseitige Interpretationen, also eine absolute Dominanz der frühen Sozialisationsphasen einerseits oder eine völlige Gleichbewertung aller Lebensphasen andererseits, an der Realität vorbeiführen (vgl. Kohli 1980; Faltermaier 2008). Wie bedeutend und einflussreich Sozialisation in späteren Lebensphasen und wie wandlungsfähig die Persönlichkeit erwachsener Menschen ist, ist eine sehr interessante, aber auch weitgehend offene Frage. Insbesondere für diese Arbeit stellt sich die Frage, wie groß die Rolle der frühen Sozialisation für die Genese des Geschmacks und inwiefern dieser Geschmack dann in späteren Lebensphasen noch wandelbar ist. Eng mit der Sozialisation korrespondieren Begriffe wie Erziehung, Persönlichkeit und Reifung. Erziehung ist der bewusste und geplante Teil der Sozialisation, oder nach Durkheim »methodische Sozialisation« (Durkheim 1984, S. 46). Darunter fallen alle Maßnahmen und Handlungen, die Erwachsene ergreifen, um die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern nach ihrer Wertevorstellung zu formen und fördern. Persönlichkeit ist dabei zu verstehen als das spezifische Bündel an Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen, welche das Individuum kennzeichnen und ausmachen. Persönlichkeitsentwicklung meint daher die langfristige Ausformung und Veränderung von Wesensmerkmalen im Verlauf des Lebens. Ist der Prozess der Sozialisation geglückt, so wird von Reifung gesprochen. Die Persönlichkeit hat sich soweit entwickelt, dass ein Mensch im Einklang mit all seinen persönlichen Anlagen den Erfordernissen der Gesellschaft entsprechen und am kulturellen und sozialen Leben in dieser teilnehmen kann (vgl. Hurrelmann 2006, S. 17f.).

2.3 S OZIALISATIONSTHEORIEN Beschäftigt man sich mit Sozialisation und damit eben auch mit Sozialisationstheorien, wird einem bald die enorme Entwicklungsdynamik dieses Forschungsfeldes bewusst. Nach den ersten sozialisationstheoretischen Ansätzen Durkheims, über die kulturanthropologisch und psychoanalytisch geprägte Forschung in den Vereinigten Staaten, etablierte sich dann auch in Deutschland eine stets wachsende Forschungsgemeinschaft. Mittlerweile sind das wissenschaftliche Material und die Vielfalt der Theorien mitsamt ihren Strömungen, Schulen und Weiterentwicklungen so umfangreich, dass sie kaum noch überschaubar erscheinen (vgl. Zimmermann 2003, S. 10).

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Psychoanalytische, lerntheoretische und entwicklungstheoretische Ansätze suchen genauso nach Erklärungen wie beispielsweise die soziologischen Theorien des Strukturfunktionalismus oder des Interaktionismus. Diese Vielfalt an Theoriegebilden verdeutlichen vor allem, dass eine allgemeine Theorie der Sozialisation, eine ›Theorie für alle Fälle‹ nicht existiert. Vielmehr ist es notwendig, je nach Forschungsziel, aus der Vielfalt an Theorien die Ansätze zu finden, die für das Forschungsvorhaben am sinnvollsten erscheinen. Bestimmte Prozesse und Mechanismen der Sozialisation werden erst mit der Auswahl eines passenden theoretischen Blickwinkels sichtbar, andere hingegen bleiben im Dunkeln. Je nach Fragestellung muss also der sozialisationstheoretische Focus neu justiert werden. Für die Erforschung der Sozialisation des Geschmacks habe ich mich für vier soziologische Theorieansätze entschieden, die meines Erachtens zusammen der Komplexität des Gegenstandes am ehesten gerecht werden: die strukturfunktionalistische Theorie Parsons dem Habitusansatz von Bourdieu und der interaktionistischen Theorie nach Mead. Der vierte Ansatz ist keine klassische Basistheorie der Sozialisationsforschung, sondern beinhaltet zwei sich berührende Konzepte, welche die gegenwärtige Gesellschaft zu erklären versuchen: Die Theorie der Individualisierung nach Beck und das Konzept der Erlebnisgesellschaft von Schulze. Beide betrachten die heutige Gesellschaft samt ihrer neuen Mechanismen und Anforderungen und der daraus folgenden Konsequenzen, die sich für das Leben nach der zweiten Moderne ergeben. Konsequenzen, die sich auch auf die Sozialisation in der Risiko- beziehungsweise Erlebnisgesellschaft auswirken. Im folgenden Abschnitt werden nun die Kernstücke der einzelnen Theorieansätze vorgestellt. Dabei geht es weder darum, eine auf Vollständigkeit abzielende Entwicklungsgeschichte der jeweiligen Theorie zu entwerfen, noch soll der Versuch unternommen werden, Theorien in ihrer ganzen Komplexität darzustellen. Vielmehr gilt es die Bedeutung der einzelnen Theorien für die Sozialisation zu evaluieren und insbesondere klar zu machen, warum die ausgewählten Ansätze gerade für die Erforschung der Geschmackssozialisation geeignet sind. 2.3.1 Der Strukturfunktionalismus Parsons 2.3.1.1 Allgemeine Einführung in das theoretische Grundkonzept Talcott Parsons gilt nicht nur als ›Klassiker‹ der Soziologie, sondern ist auch ein ›Klassiker‹ der Sozialisationsforschung. Mit seinem Konzept des Strukturfunktionalismus bezog sich Parsons explizit auch auf Sozialisationsprozesse und begriff als einer der ersten Sozialisation in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext (vgl. Tillmann 2006, S. 116). Parsons’ Interesse als Soziologe galt dabei nicht den Prozessen der Veränderung einer Gesellschaft, vielmehr interessierte er sich dafür, was die

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Gesellschaft zusammenhält, welche Mechanismen einer Gesellschaft Stabilität verleihen. Die Gesellschaft sieht Parsons als ein System, welches auf einer Vielzahl von Subsystemen basiert. Jedes Subsystem, wie beispielsweise das Bildungswesen, versucht das Gesamtsystem Gesellschaft zu stabilisieren und deren Fortbestand zu gewährleisten. Systeme basieren dabei einerseits auf relativ statischen Komponenten, welche Parsons Struktur nennt, und den eher dynamischen Aspekt der Funktion. Zur Erklärung des Strukturbegriffs verwendet Parsons das Beispiel der amerikanischen Verfassung, die über einen jahrhundertelangen Zeitraum relativ stabil blieb. Zwar habe sich die amerikanische Gesellschaft auch enorm gewandelt, so gäbe es durchaus neue Gesetze und auch ein teilweise anderes Verständnis in der Rechtsauslegung, im Kern bliebe jedoch die Struktur des Systems bestehen: Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative, Trennung von Kirche und Staat, persönliche Grundrechte oder die Versammlungsfreiheit blieben weitgehend konstant (vgl. Parsons 1976, S. 168). Die Funktion eines Systems hingegen ist nicht statisch, sondern dynamisch geprägt. Sie kann nach Parsons nur dynamisch sein, da sie zwischen der von der Systemstruktur vorgegebenen Wirklichkeit und den Umweltbedingungen, die das System umgeben, integrierend vermitteln muss und beide in der Realität nie in einer konstanten Beziehung zueinander stehen. Das Subsystem des Bildungswesens beispielsweise hat nicht nur die Aufgabe das Individuum für den Eintritt in das Erwerbsleben zu qualifizieren, sondern auch die Funktion – um das Beispiel Parsons’ aufzugreifen – die grundlegenden Elemente des Systems beziehungsweise der Gesellschaft, wie sie eben in der Verfassung festgehalten sind, an das Individuum zu vermitteln und zur Akzeptanz zu verhelfen. Damit also eine Gesellschaft stabil ist, muss deren Struktur erhalten bleiben. Das gelingt jedoch nur, wenn zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft, welche diese zum Selbsterhalt haben muss, und den Ansprüchen des Individuums Deckungsgleichheit besteht, wie Parsons feststellt: »Aus der Sicht des einzelnen Mitgliedes eines Sozialsystems kann von dem motivationalen Engagement gesprochen werden, in Übereinstimmung mit bestimmten normierten Gesetzmäßigkeiten zu handeln; dies beruht – wie wir sehen werden – auf ihrer ›Verinnerlichung‹ in der Persönlichkeitsstruktur. Der Fokus der Strukturerhaltung richtet sich folglich auf die Strukturkategorie der Werte. Die wesentliche Funktion liegt […] in der Erhaltung der Stabilität von institutionalisierten Werten vermittels Prozessen, die Werte mit dem System von subjektiven Überzeugungen verknüpfen […].« (Parsons 1976, S. 172f.)

Um den für die Gesellschaft stabilisierenden Zustand eben beschriebener Deckungsgleichheit zwischen Gesellschaft und Individuum zu erreichen, sind nach Parsons nur vier Funktionsbedingungen erforderlich, nämlich Adaption, Zielorientierung, Integration und Strukturerhaltung. Zielorientierung meint dabei die Motiva-

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tion des personalen Systems, also der Persönlichkeit eines Individuums, die für den Systemerhalt notwendigen Beiträge zu liefern. Die Funktion der Adaption wird von Parsons als die Bereitstellung der Mittel, die zur Zielerreichung notwendig sind, gesehen. Der Organismus, in Parsons’ Terminus gesprochen, muss die Mittel zur Verfügung haben, um die Ziele des personalen Systems zu erreichen. Die Strukturerhaltung, eine Aufgabe des kulturellen Systems, führt wie oben schon erwähnt zur »Institutionalisierung normativer Kultur« (Parsons 1976, S. 177) und damit zur Verinnerlichung kultureller Werte und Normen im Individuum. Die letzte notwendige Funktionsbedingung ist die Integration des Individuums in das soziale System. Damit meint Parsons die »Teilnahme des Individuums an der sozialen Interaktion« (Parsons 1976, S. 177), also das Hineinwachsen in soziale Systeme wie beispielsweise die Nachbarschaft, den Freundeskreis oder das Vereinsleben mitsamt den damit einhergehenden Rollenerwartungen. Diese Integration in das soziale System, insbesondere durch die Rollenübernahme und die Strukturerhaltung durch Internalisierung von Normen und Werten sind von besonderem Interesse für sozialisatorische Fragen. Denn hier wirken laut Parsons die Anpassungsmechanismen der Gesellschaft am stärksten, hier wird das Individuum vergesellschaftet. 2.3.1.2 Das Sozialisationsverständnis Parsons’ Wie oben dargelegt, begreift Parsons Gesellschaften als Systeme, die sich in ihrer Komplexität ständig reproduzieren wollen und nach Selbsterhalt streben. Von diesem theoretischen Ausgangspunkt kann Parsons Sozialisation folgerichtig nur als Anpassung des Einzelnen an das Ganze verstehen. Das Individuum passt sich an die Bedürfnisse der Gesellschaft an: »Dem liegt als tieferer Bedingungszusammenhang die relativ kurze Lebensspanne des einzelnen im Vergleich zur Dauer von Gesellschaft zugrunde sowie die sich daraus ergebenden Funktionserfordernisse für die Gesellschaft, den ständigen […] Strom neuer Mitglieder zu assimilieren. Dies ist der Rahmen, in dem nun die wichtigsten Imperative den Sozialisationsprozeß in der genetischen Sequenz der Persönlichkeitsentwicklung verankern und zwar im wesentlichen durch die sukzessive Internalisierung von zunehmend komplexeren und differenzierteren Systemen sozialer Objekte und der entsprechenden Internalisierung zunehmend allgemeinerer Kulturmuster.« (Parsons 1976, S. 214f.)

Ganz deutlich tritt hier die Anpassungsstruktur des Parsonschen Sozialisationskonzepts hervor, welches dem Individuum kaum Gestaltungsspielraum jenseits von Assimilation lässt. Das Individuum als »Grundeinheit aller sozialen Systeme«

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(Parsons 1968a, S. 52) handelt dabei nach Rollenmustern und Rollenerwartungen2. Parsons versteht, ausgehend von der Sicht des handelnden Individuums, unter dem Begriff ›Rolle‹ die normativen Erwartungen, die ein soziales System an den Handelnden richtet (vgl. Parsons 1968a, S. 55). Diese Erwartungen und Muster definieren das richtige oder falsche Handeln von Personen in bestimmten Rollen. Die Verhaltensmaßstäbe und Normen eines sozialen Systems werden vom Individuum Schritt für Schritt internalisiert, die große Vielfalt menschlicher Möglichkeiten im Handeln in ein einziges System integriert. Parsons sieht dabei durchaus, dass die Bedürfnisse und Ansprüche des Handelnden von denen der Gesellschaft abweichen können, allerdings ist er davon überzeugt, dass sich das Individuum im Normalfall für einen Kompromiss zugunsten des Systems entscheidet. Dafür nennt Parsons zwei Gründe: Zum einen hat das Individuum im Prozess der Sozialisation die »sozialen Traditionen« (Parsons 1968a, S. 55) erlernt und verinnerlicht, welche dann in den normativen Erwartungen einer Gruppe von Menschen, also einem sozialen System, zum Ausdruck kommen. In einem gelungenen Fall von Sozialisation bedeutet dies, dass das Individuum eben diese sozialen Traditionen, die Verhaltensmaßstäbe und Ideale der Gruppe so verinnerlicht hat, dass diese unabhängig von Belohnung oder Strafe zu »wirksamen Motivierungskräften für sein eigenes Verhalten« (Parsons 1968a, S. 55) geworden sind. In jedem sozialen System hat das Individuum also verschiedene Rollen, beispielsweise als Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Mann oder Frau, Schüler, Lehrer, die unterschiedliche Rollenerwartungen mit sich bringen und bei deren Erfüllung man mit Anerkennung oder Belohnung und innerer Zufriedenheit rechnen kann. Zum anderen gibt es für den Fall, dass das Erlernen und Verinnerlichen nicht ausreichend erfolgt und die Stabilität einer Gruppe beziehungsweise eines Systems in Frage gestellt oder gar gefährdet wäre, noch das Mittel der Sanktionierung oder anders augedrückt der sozialen Kontrolle. Dann schlägt dem Handelnden Verachtung und Ablehung entgegen, im schlimmsten Fall kommt es zu Bestrafung durch dazu autorisierte Institutionen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das sozialisationstheoretische Konzept Parsons auf den Erhalt und auf Stabiltät ausgerichtet ist. Eine große Beachtung erfuhr das Theoriekonzept Parsons’ vor allem in der Familiensoziologie der 50er Jahre. Sein Konzept von Sozialisation als Prozess von Lernen, Verinnerlichen und

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Der Begriff der Rolle wurde jedoch nicht von Parsons eingeführt, sondern vom Kulturanthropologen Ralph Linton in dessen Werk »The Study of Man«: »Every individual has a series of rôles deriving from the various patterns in which he participates and at the same time a role, general, which represents the sum total of these roles and determines what he does for his society and what he can expect from it« (Linton 1964, S. 114). Auf dem Rollenbegriff Lintons baute Parsons seine Rollentheorie auf.

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Kontrolle klang besonders im Bereich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen plausibel. Die Familiensoziologie schuf analog zu Parsons’ vier Grundfunktionen eines Systems (Adaption, Zielerreichung, Integration und Strukturerhalt) ein Modell der Sozialisation des Individuums. Soziabilisierung meint dabei den Prozess der Adaption beziehungsweise Anpassung an die Umwelt, das heißt der Organismus des Kleinkindes passt sich an die Umweltbedingungen an, um das Überleben zu sichern und geht erste zwischenmenschliche Kontakte ein. Dann folgt mit der Enkulturation die von Parsons beschriebene Kulturerhaltung, also die Übernahme kultureller Werte durch das Kind. Erst danach wäre das menschliche Individuum bereit für die primäre Sozialisation, bei der durch Lernen und Verinnerlichen das personale und soziale System des Individuums funktional wird und der Mensch die Rollenerwartungen erfüllen kann (vgl. Korte 1999, S. 181). Deutlich zeigt sich die »anpassungsmechanistische Schlagseite« (Zimmermann 2003, S. 52) des Theoriekonzepts Parsons’. Wer Sozialisation als Verinnerlichung von Rollenstrukturen begreift, übersieht die schöpferischen Kräfte des Individuums, den Spielraum, auch eine von den gesellschaftlichen vorherrschenden Strukturen abweichende Persönlichkeit zu entwickeln, was auch der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann an Parsons kritisiert: »Der Mensch wird nicht als aktiver Erschließer und Gestalter seiner Umwelt verstanden, sondern er steht einer übermächtigen Gesellschaft gegenüber, deren Einflüssen er sich kaum erwehren kann.« (Hurrelmann 1995, S. 44f.). Zwar erkennt auch Parsons Momente der Individuation des Einzelnen in der Gesellschaft3, dennoch hat eine große Theorie wie die Parsons’ Probleme, Prozesse des Individuums insbesondere im Wandel zu erfassen und zu erklären. Seine Rollentheorie begreift Sozialisation nicht als einen wechselseitigen Prozess zwischen Gesellschaft und Individuum, in dem der Einzelne aktiv gestaltend eingreift. Dennoch können Teile seines Theoriekomplexes auch äußerst fruchtbar sein, insbesondere dort, wo das Individuum in der Tat wenig gestaltend am Sozialisationsprozess teilnimmt, sondern im Durkheimschen Sprachgebrauch ›vergesellschaftet‹ wird. Dies ist vor allem in der frühen Sozialisation der Fall, wenn das Individuum kulturelle Normen und Werte inkorporiert, die in späteren Phasen als so selbstverständlich erscheinen, dass sie zumeist nie in Frage gestellt werden. Dieser 3

Für Parsons wird die Persönlichkeit »stets ein System mit eigener, individueller Konstitution sein, mit eigenen Zielen und Imperativen innerer Integration, mit eigenen charakteristischen Formen des Verhaltens in Lebenssituationen« (Parsons 1968b, S. 378). Doch trotz dessen, dass auch Parsons feststellt, dass das Individuum niemals »nur ein standardisiertes Rädchen der Maschinerie« (Parsons 1968b, S. 379) sein wird, hält er die Durchdringung und Interdependenz von Individuum und Gesellschaft nicht für so bedeutend, dass der Anpassungscharakter seiner Rollentheorie entscheidend zu variieren wäre.

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Prozess, so wie ihn Parsons beschreibt, nämlich als Einverleibung gesellschaftlicher Strukturen, Normen, Werten und Traditionen, ist für diese Arbeit von Interesse und das Prozessverständnis Parsons࡙ ein hilfreiches Instrument zur Analyse der Entstehung von Ernährungsnormen und Nahrungstabus. 2.3.1.3 Zum ernährungssoziologischen Erkenntnisgewinn und den Grenzen des Strukturfunktionalismus Warum Menschen Dinge für eßbar erklären und andere Dinge wiederum nicht, ist eine Frage, die im ersten Moment sehr einfach erscheint, dann aber ziemlich schwer zu beantworten ist. Denn diese Frage ist keine alltägliche Frage, die es zu entscheiden gilt, vielmehr stellt sich die Frage gar nicht, da das Individuum a priori die Antwort auf diese Frage kennt. In unterschiedlichen Gesellschaften sieht diese Antwort zwar unterschiedlich aus, innerhalb einer Gesellschaft ist sie jedoch für alle Mitglieder mehr oder minder gleich. Parsons erklärt dies damit, dass alle Individuen einer Gesellschaft während ihrer Sozialisation bestimmte Werte aufnehmen und verinnerlichen. Werte bilden nach Parsons die Struktur des Kultursystems, welches er dem Sozialsystem gegenüberstellt. Das Sozialsystem ist dabei fokussiert auf die Bedingungen, welche Interaktion von Individuen ermöglicht. Das Kultursystem hat nach Parsons eine ganz andere Ausrichtung, es ordnet die Gesellschaft durch Werte, Normen und andere Sinnelemente wie Glauben oder Wissenschaft (vgl. Parsons 1976, S. 165). Diese Werte haben nach Parsons eine sehr wichtige Funktion in der Gesellschaft: »Werte sind die normativen Muster, die in universalistischer Fassung die Muster wünschenswerter Orientierung für das System als Ganzes bestimmen, unabhängig von der Spezifikation der Situation oder der differenzierten Funktion innerhalb des Systems« (Parsons 1976, S. 184). Diese Werte des Kultursystems sind universalistisch, gelten für alle situationsunabhängig, sind zumeist auch über längere Zeiträume stabil und bieten eine grundsätzliche Orientierung innerhalb des Gesamtsystems. Legitimiert, (und damit meint Parsons nicht moralisch legitimiert, sondern nur, dass das Individuum es als richtig ansieht, mit den normativen Mustern der Gesellschaft in Einklang zu handeln) ist das Kultursystem letztendlich »immer religiöser Art« (Parsons 1976, S. 129). In den primitivsten Gesellschaften gibt es kaum einen Unterschied zwischen Gesellschaft im Allgemeinen und religiöser Organisation. In weiter fortgeschritteneren und differenzierter organisierten Gesellschaften treten dann sukzessiv auch andere Kulturbereiche wie Kunst und Wissen-schaft mit legitimatorischer Bedeutung auf. In den meisten Gesellschaften waren und sind die geltenden Nahrungstabus religiös begründet4. Charakteristisch für 4

Eine ausführliche Bearbeitung der Formen, Gründe und empirischen Konsequenzen von Nahrungstabus erfolgt in Abschnitt 5.5.

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Tabus aller Art ist, dass sie weder erklärt werden können, noch in Frage gestellt werden. Freud, der für das Werk Talcott Parsons’ von großem Einfluss war, beschreibt diesen Umstand folgendermaßen: »Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen« (Freud 1968, S. 26). Tabus im Allgemeinen wie Nahrungstabus im Speziellen sind also verinnerlichte normative Muster. Sie stellen Verbote dar, die dem Individuum nicht als Verbote erscheinen, beziehungsweise Verbote, die sich das Individuum selbst auferlegt, ohne überhaupt etwas davon zu bemerken. Diese Verinnerlichung findet sehr früh statt (vgl. Korte 1999, S. 179). Sofort nach der Geburt beginnt die »Einverleibung von Strukturen« (Prahl / Setzwein 1999, S. 121). Das Kleinkind nimmt trinkend und essend die Ernährungsstrukturen auf, welche dem normativen Muster entsprechen und daher als legitim gelten und verinnerlicht unbewußt den Verzicht auf nicht als legitim erachtete Speisen. Dieser Teil der Sozialisation, der Prozess der Enkulturation, ist für alle Mitglieder der gleiche und findet unabhängig von sozialstrukturellen Faktoren wie beispielsweise der Schichtzugehörigkeit statt. Auch die Gesundheit ist ein solcher kultureller Wert. Auf seine Gesundheit zu achten und gesund sein zu wollen ist eine Einstellung, die von allen Gesellschaftsmitgliedern getragen wird. Gesundheit ist das höchste Gut und ist sowohl wünschenswert für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft als Ganzes, ist sie doch Voraussetzung für funktionales Handeln und damit für den Erhalt des ganzen Systems beziehungsweise der Gesellschaft: »Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist« (Parsons 1972, S. 71). Da Gesundheit eine ausreichende und ausgewogene Ernährung voraussetzt, kommt auch der gesunden Ernährung eine funktionale, systemerhaltende Bedeutung zu, weshalb eine gesunde Ernährung auch im Interesse der Gesellschaft ist. Die große Bedeutung, die Gesundheit innehat, hat sie nach Parsons deshalb, weil sie funktional für den Systemerhalt ist. Eine ähnlich systemerhaltende Bedeutung der Gesundheit sieht auch Foucault, doch ist sie bei ihm weit bedeutender und umfassender. Hier werden die Schwächen von Parsons’ Theorie offenbar: Eine Bedeutung der Gesundheit wird erkannt, nicht aber, dass sich diese in den letzten Jahrhunderten immens verändert und entwickelt hat. Deutlich wird dies, wenn man Parsons’ Verständnis von Gesundheit mit dem von Michel Foucault kontrastiert. Die Bedeutung der Gesundheit entsteht und entwickelt sich bei ihm mit dem Aufkommen der Biomacht im 17. und 18. Jahrhundert. Diese Biomacht nimmt Einfluss auf die Gesundheit der ganzen Bevölkerung, steuert diese nach ihren Bedürfnissen und findet dadurch gleichzeitig Legitimation. Bei Parsons nur Mittel zum Zweck, hat sich Gesundheit bei Foucault zum Selbstzweck entwickelt, nach dem sich das gesamte Leben ausrichtet. Auf Foucaults Konzept der Biomacht, die Rolle und Funktion von Gesundheit sowie den damit einhergehenden enormen Bedeutungsschub

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der Gesundheit beziehungsweise deren herausragende Stellung wird ausführlich in Absatz 8.1 eingegangen, da Foucaults Konzept der Biomacht keinen spezifisch sozialisationstheoretischen Bezug hat, jedoch von hoher Erklärungskraft ist für die Bedeutung und Ausrichtung der Ernährung heute. Es überrascht nicht, dass eine Theorie wie die Parsons’, welche sich insbesondere für den Zusammenhalt und die Stabilität von Systemen interessiert, eine hohe Erklärungskraft innehat, wenn es sich wie bei der Enkulturation um Prozesse handelt, die vor allem Gemeinsamkeit und Stabilität herstellen. Parsons’ Theorie ist so konzipiert, dass ihr Fokus und damit ihre Erklärungskraft auf eben solche Prozesse und Mechanismen ausgerichtet ist. So kann mit der strukturellfunktionalen Theorie untersucht werden, wie bestimmte Werte (Gesundheit) und Normen (Nahrungstabus) inkorporiert werden und welche Funktionen diese Normen haben. Im Umkehrschluss fehlt es ihr gerade deshalb aber auch an Erklärungskraft bei Fragen, die sich nach Ursachen und Folgen von Veränderung, Unterscheidungen und Wandel richten. Wie erklärt sich beispielsweise, dass Schnecken vor weniger als einem Jahrhundert eine Speise der armen Leute waren, die von Kindern gesammelt und gerade in ärmeren ländlichen Gegenden verspeist wurden, während heute Schnecken auch in Deutschland als wahre Delikatesse gelten? Zur Untersuchung dieser Art von Fragen bietet sich ein anderes Theoriekonzept an, welches zwar durchaus gemeinsame Ansätze mit dem Strukturfunktionalismus Parsons’ hat, dennoch so anders in seinem Forschungsinteresse ausgerichtet ist, dass es einen völlig anderen Blick auf Sozialisationsprozesse und Ernährungsgewohnheiten frei legt: Das Habituskonzept von Pierre Bourdieu. 2.3.2 Das Habituskonzept Bourdieus 2.3.2.1 Allgemeine Einführung Als einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts überhaupt, gerade aber wegen seiner Analysen und Erkenntnisse bezüglich der Bildung von Geschmacksmustern und Ernährungsgewohnheiten, kann diese Arbeit auf eine Rezeption der Theorie Bourdieus kaum verzichten. Im Gegensatz zur Makrotheorie Parsons ist das Theoriekonzept Pierre Bourdieus ein Ansatz zur Überwindung des MakroMikro Gegensatzes in der soziologischen Theorie. Zwar hat auch Parsons die Mikroebene, das Individuum, über sein Agil-Schema im Blick, allerdings bleibt Parsons dabei sehr universell, allgemein und abstrakt. Bourdieu dagegen beschäftigt sich mit dem empirisch Konkreten, belegt seine theoretischen Ansätze mit realen empirischen Daten. Bourdieu interessiert sich also sowohl für das interagierende Individuum selbst, als auch für die Auswirkungen großer gesellschaftlicher Zu-

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sammenhänge und bringt beides in einen erkenntnistheoretischen Einklang. Im zeitgeschichtlichen Kontext gesehen entwarf Bourdieu sein Konzept als Antwort und Gegenentwurf zu den in Frankreich der 50er und 60er Jahre dominierenden Denkrichtungen des Strukturalismus Claude Lévi-Strauss’ einerseits, und dem Existenzialismus Jean-Paul Sartres andererseits. Ersterer verkörpert den wissenschaftlichen Objektivismus der sozialwissenschaftlichen Geisteshaltung, deren Erkenntnisweise auf der Analyse ›objektiver‹ Strukturen (Gesellschaft, Funktionen, Systeme) beruht. Das Subjektive an sich wird dabei als Produkt der Struktur betrachtet. Der subjektivistische Existenzialismus Sartres5 war der theoretische Gegenpol dazu, orientiert am Individuum und seiner Interaktion, denn, so Sartre, »die Existenz geht der Essenz voraus« (Sartre 1947, S. 11ff.), das existierende Individuum definiert sein Wesen, seine ›Essenz‹ selbst. Das Wesen des Menschen wird von Menschen selbst definiert und gestaltet, ist nicht durch objektive Strukturen bedingt. Diesen Gegensatz hält Bourdieu für überkommen und fordert dessen Überwindung, durch die Einsicht, dass beide Denkweisen Vorzüge, aber auch Grenzen haben (vgl. Bourdieu 1987, S. 52). Nach Bourdieu muss die Sozialwissenschaft erst mit allen Ideologien, allem Vorwissen und subjektiven Sichtweisen brechen, um dann in einem zweiten Schritt die gewonnenen Erkenntnisse erneut mit der sozialen Realität der Individuen zu vereinen: »Der objektivistische Bruch mit den Vorbegriffen, den Ideologien, der Spontansoziologie, den folk theories, ist ein unvermeidlicher, notwendiger Moment wissenschaftlichen Vorgehens – diesen Bruch nicht zu vollziehen […] geht nur um den Preis gravierender Irrtümer. Aber es ist noch ein weiterer, noch schwierigerer Bruch mit dem Objektivismus zu vollziehen, indem in einer zweiten Phase wieder eingeführt wird, was zur Konstruktion der objektiven Wirklichkeit zunächst beiseite gelassen werden musste.« (Bourdieu 1992b, S. 143)

Das bedeutet, dass man die objektiven Strukturen auch dahingehend betrachtet, wie sie vom Individuum subjektiv erfahren – oder eben nicht erfahren – werden. Nur durch diese in der Praxis verankerte Betrachtung kann es gelingen, den wahren Charakter der objektiven Strukturen zu entdecken beziehungsweise zu entlarven. Im Kontext von objektiver Struktur und subjektiver Erfahrung kann man zu einer »Theorie der Praxis« (Bourdieu 1987, S. 59) gelangen, welche es ermöglicht, die wahren Verhältnisse, »die verborgenen Mechanismen der Macht« (Bourdieu 1992a), zu erfassen. Denn nach Bourdieu reproduziert sich das gesellschaftliche 5

Vor allem auch das Bild Sartres vom ›freien‹ Intellektuellen, der außerhalb der sozialen Gebilde stehend den einen Gegenpol zur Macht bildet wurde von Bourdieu kritisiert. Bourdieu spricht von einer Illusion, vom »Mythos des freien Intellektuellen« (Zimmermann 1983, S. 139), der selbstverständlich auch einen Platz im sozialen Gefüge hat, und nur dann ein Stück weit frei wird, wenn er eben diesen Umstand als solchen erkennt.

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Machtfeld immer wieder neu, und zwar in einer Art und Weise, die allen Akteuren suggeriert, dass die Position, die sie im sozialen Raum einnehmen, eine natürliche wäre. Wie dies geschieht, soll nun mit dem zentralen Ansatz Bourdieus, dem Konzept des Habitus, evaluiert werden. Der Begriff des Habitus ist in Bourdieus Konzept omnipräsent, wird aber nie exakt definiert. Bourdieu versteht unter Habitusformen »Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, […] strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren« (Bourdieu 1987, S. 98). Abbildung 3: Habituskonzept Bourdieu

Quelle: Bourdieu 1982, S. 280

Diese Dispositionen sind als Verhaltensanlagen zu verstehen, welche je nach Stellung des Individuums innerhalb des sozialen Raums unterschiedlich strukturiert sind, und ihrerseits selbst strukturierend auf das Individuum einwirken. In einfachen Worten ausgedrückt, die Stellung im sozialen Raum beziehungsweise die Klassenzugehörigkeit6, bedingt zu großen Teilen das Verhalten und das Wesen des Individuums. Die Art und Weise zu lieben, sich zu kleiden, seine Wohnung einzurichten,

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Bourdieu selbst spricht vorzugsweise vom »sozialen Raum« (Bourdieu 1985, S. 9ff.), den klassischen ökonomischen Klassenbegriff hält er für zu eng, da auch Faktoren wie Geschlecht, ethnische Herkunft, soziale Herkunft (damit meint Bourdieu eine städtische oder eben ländliche Herkunft) und soziale Stellung von Bedeutung für die Habitusentwicklung sind (vgl. Bourdieu 1993, S. 81).

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wie und was man isst, die Musik, die man mag bis hin zur Körperhaltung und Sprache, dies alles ist bestimmt vom Platz des Individuums innerhalb der Gesellschaft. Da der Habitus des Individuums gesellschaftlich bedingt ist, ist er auch ein Klassenhabitus, da Menschen, die den gleichen Platz im sozialen Raum einnehmen, von den gleichen Strukturen strukturiert werden und denselben Prägekräften unterliegen. Der Soziologe Klaus Eder nennt den Habitus deshalb auch »kollektives Klassen- ›Unbewußtsein‹« (Eder 1989, S. 29). Interessant wird es vor allem, wenn man bedenkt, welche Faktoren über die Platz-ierung im gesellschaftlichen Raum entscheiden: Diese sind drei unterschiedliche Arten von Kapital; dem ökonomischen Kapital stellt Bourdieu noch kulturelles und soziales Kapital zur Seite, wobei er dem kulturellen Kapital eine bedeutendere Rolle zuschreibt. Soziales Kapital sind die Beziehung, die Netzwerke, die man mobilisieren kann. Der Umfang dieser Art von Kapital hängt zum einen von der Ausdehnung der Netzwerke ab, zum anderen vom Umfang des ökonomischen, kulturellen oder sozialen Kapitals der Netzwerke selbst. Unter kulturellem Kapital versteht Bourdieu vor allem Bildungskapital in Form schulischer Bildung und daraus resultierenden Bildungsabschlüssen. Aber auch die Fähigkeit sich für Museen zu begeistern, das Theater oder die Oper wertzuschätzen oder das Interesse für Literatur zählen dazu (vgl. Bourdieu 1992a, S. 49–80). Dieses kulturelle Kapital, insbesondere in seiner institutionalisierten Form als Bildungs- beziehungsweise Abschlusstitel, hat eine zentrale Rolle bei der Vergabe von Plätzen im gesellschaftlichen Gefüge. Je höher der Bildungsabschluss, desto wahrscheinlicher ist eine höhere Position im sozialen Raum, da mit dem kulturellen Kapital auch soziales und ökonomisches Kapital positiv korrelieren. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass kulturelles Kapital nicht Ausdruck einer speziellen Leistung des Individuums ist, sondern innerhalb der Familie indirekt vererbt wird. Ausführlich beschreibt diesen Prozess Bourdieus Schrift über »Die Illusion der Chancengleichheit« (Bourdieu / Passeron 1971). Darin stellt Bourdieu fest, dass die Wahrscheinlichkeit einen universitären Abschluss zu erreichen, oder die Wahrscheinlichkeit sich für eine bestimmte Fakultät zu entscheiden, nicht nur eng mit der sozialen Herkunft korreliert (vgl. Bourdieu / Passeron 1971, S. 19–30), sondern vielmehr auch das kulturelle Klima in der Herkunftsfamilie von großer Bedeutung ist, kulturelle Gewohnheiten, Traditionen und Wertvorstellungen, verkürzt gesagt der Habitus, eine wichtige Rolle spielen. Nicht nur ökonomisches Kapital, sondern vor allem auch kulturelles Kapital schafft Privilegien und diese Privilegien werden äußerst subtil weitergegeben: »Die Wirkung des Privilegs wird meist nur in ihren brutalsten Formen, Empfehlungen, Beziehungen, Hilfe bei Schularbeiten, Nachhilfeunterricht, Information über Bildungs- und Berufsmöglichkeiten zur Kenntnis genommen. Im wesentlichen wird das kulturelle Erbe aber diskreter, indirekter und vielfach ohne methodische Bemühungen und greifbare Maßnahmen

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vermittelt. Gerade in den ›kultiviertesten‹ Klassen sind Ermahnungen und eine bewußte Einführung in die Kultur fast überflüssig. Im Gegensatz zum kleinbürgerlichen Milieu, wo die Eltern meist nur den guten Willen zur Bildung weitergeben können, gehen von einem kultivierten Milieu diffuse Reize aus, durch deren geheime Überzeugungskraft das kulturelle Interesse mühelos geweckt wird.« (Bourdieu / Passeron 1971, S. 38)

Dieser Habitus ist bedingt durch die Stellung im sozialen Raum, also von der Frage, wie viel ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital man zur Verfügung hat. Das Individuum wächst in der Familie auf, inkorporiert dort den Habitus, der sich aus der Stellung im sozialen Raum ergibt. Mit der Inkorporation des Habitus wird dabei auch das kulturelle Kapital vererbt, welches von entscheidender Bedeutung beim Erwerb höherer und höchster Bildungsabschlüsse ist. Der Bildungsabschluss ist jedoch wiederum maßgeblicher Faktor für die Positionierung »in der sozialen Privilegienstruktur der Gesellschaft« (Hurrelmann 1995, S. 143), oder anders ausgedrückt – womit sich der Kreis schließt – im sozialen Raum. Diese Zusammenhänge bedeuten nichts anderes, und das ist die kritische Erkenntnis Bourdieus, dass es den herrschenden Kräften der Gesellschaft, dem »Macht-Feld« (Bourdieu 1989b, S. 39), gelingt, die Herrschaft dauerhaft durch ständige Reproduktion der Verhältnisse zu erhalten. Hier wird auch ein großer Unterschied zwischen der Theorie Parsons und der Bourdieus offensichtlich. Beiden gemeinsam ist die Auffassung, dass sich der gesellschaftliche Status Quo reproduziert. Doch während Bourdieu darin die Reproduktion sozialer Ungleichheit einer Klassengesellschaft sieht und kritisiert, betrachtet Parsons die Reproduktion der bestehenden Verhältnisse als funktional und legitim, da dies eine Vorrausetzung für eine stabile Gesellschaft ist. Parsons sieht zwar die hierarchische Struktur, die Ungleichheit der Gesellschaft, kritisiert diese jedoch nicht, da er sie als systemrelevant erachtet. Die realen Konsequenzen, die diese Ungleichheit für die Individuen mit sich bringt, interessieren den abstrakten Systemtheoretiker nicht. Bourdieu dagegen sieht in den bestehenden, sich reproduzierenden gesellschaftlichen Verhältnissen nur die Aufrechterhaltung bestehender Herrschaftsstrukturen, die es aufzudecken und zu überwinden gilt. Die im verborgenem wirkenden Strukturen der Ungleichheit werden von ihm konkret empirisch anhand der französischen Gesellschaft sichtbar gemacht und illustriert. Dies ist auch nötig, da die Perpetuierung von sozialer Ungleichheit so subtil erfolgt, dass sie von den Individuen, egal welche Position sie im Klassengefüge einnehmen, nicht als illegitime Reproduktion von Macht, sondern als natürlicher Umstand empfunden wird. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Bildungstiteln zu. Diese haben eine immense Bedeutung bei der Zuweisung von Statuspositionen und gleichzeitig haben sie durch die scheinbare Chancengleichheit, durch »die Illusion der absoluten Autonomie« (Bourdieu / Passeron 1971, S. 215) des Bildungssystems, eine legitimierende Funktion. Da alle die formal gleichen Möglichkeiten und Chancen haben,

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wird das Erreichen hoher Bildungsabschlüsse als alleinige Konsequenz individueller Anstrengung gesehen. Die Mechanismen der Macht und deren Reproduktion werden somit erfolgreich verschleiert. Diesen Schleier lüftet Bourdieu in seinem Hauptwerk »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982), welches gerade auch hinsichtlich der ernährungs-sozialisatorischen Fragestellung von besonderer Bedeutung ist. 2.3.2.2 Die feinen Unterschiede und die Sozialisation des Geschmacks Bourdieu hat sich selbst weder als Sozialisationsforscher verstanden, noch ist sein Konzept ein speziell sozialisationstheoretisches. Dennoch ist seine Habitustheorie immer auch ein Konzept von Sozialisation, geht es doch vor allem um die Inkorporierung klassenspezifischer Strukturen. Genau wie Parsons sieht auch Bourdieu Sozialisation als einen Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Strukturen an, der dem Individuum wenig Spielraum zur Gestaltung lässt. Doch während Parsons mit seinem makrotheoretischen Ansatz seine Erkenntnisse eher durch die Betrachtung von homogenisierenden Prozessen (Erfüllung von Rollenerwartungen, Werteübernahme) gewinnt, erzielt Bourdieu seinen Erkenntnisgewinn daraus, dass er sein Augenmerk nicht auf geteilte Gemeinsamkeiten, sondern auf die existierenden Unterschiede richtet. Bourdieu vereint seine theoretischen Gedanken mit einer Fülle von empirischem Material, mit welchem er belegt, dass hinter scheinbar individuellen Vorlieben, die sich im Habitus manifestieren, gesellschaftliche Klassenunterschiede stehen. Geschmack ist demnach nie Produkt einer individuellen Wahl, sondern immer gesellschaftlich generiert. Der Geschmack des Individuums hängt von der Stellung im sozialen Raum ab, zu welcher ein bestimmter Habitus gehört, der das Individuum in seiner Individualität begrenzt: »Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: der Habitus ist ein System von Grenzen. Wer z.B. über einen kleinbürgerlichen Habitus verfügt, der hat eben auch, wie Marx einmal sagt, Grenzen seines Hirns, die er nicht überschreiten kann. Deshalb sind für ihn bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich;« (Zimmermann 1983, S. 133)

Der Habitus setzt Grenzen, auch und insbesondere beim Geschmack, wie schon die Redewendung von den ›Grenzen des guten Geschmacks zeigt‹. Analog zum sozialen Raum, der den Habitus gestaltet, bringt Bourdieu den »Raum der Lebensstile« (vgl. Bourdieu 1982, S. 277f.) ins Spiel. Damit meint er die in der empirischen Praxis vorfindbaren Ausformungen des theoretisch konstruierten sozialen Raums. Je nachdem, ob man einen großbürgerlichen oder kleinbürgerlichen Habitus hat, pflegt

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das Individuum einen differenten Lebensstil, der sich in allen Fragen des Geschmacks ausdrückt: in der Wahl der bevorzugten Speisen und Getränke, in der Einrichtung der Wohnung oder der in der Freizeit ausgeübten Sportart. Das, was man mag, wurde einem von der Gesellschaft sozusagen zugeteilt, ist nicht individueller Geschmack, sondern klassenspezifische Disposition: »Der Geschmack bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden« (Bourdieu 1982, S. 286). Die Grenzen des Geschmacks setzt Bourdieu dabei zwischen zwei zentralen Kategorien, nämlich dem ›Luxusgeschmack‹ und dem ›Notwendigkeitsgeschmack‹. Die empirisch festgestellten Unterschiede in der Art und Weise der Ernährung, wonach Menschen mit höheren Einkommen ihr Geld eher für mageres Fleisch, frisches Obst und Gemüse ausgeben, während Menschen mit niedrigen Einkommen eher zu fettreichen, sattmachenden und billigen Lebensmitteln wie Kartoffeln, Bohnen, Speck und Schweinefleisch7 greifen, ist für Bourdieu weit mehr als eine Frage des Geldbeutels. Menschen, die eher dem ›populären‹ Geschmack zuneigen, bleiben diesem meist auch dann treu, wenn sie im Berufsleben finanziell erfolgreicher werden (vgl. Bourdieu 1982, S. 288). Vielmehr stecken dahinter Geschmacksmuster, von denen eines eben der ›Notwendigkeitsgeschmack‹ ist. Dieser ist gekennzeichnet durch seine Ausrichtung auf »nährende wie sparsame Nahrung«, geboren aus der Notwendigkeit zur »kostensparenden Reproduktion der Arbeitskraft« (Bourdieu 1982, S. 290). Diesen Geschmack nur als Geschmack des ökonomischen Zwangs zu bezeichnen, ergäbe ein unvollständiges Bild, da sich nach Bourdieu der ökonomische Zwang nur durchsetzen kann, »weil die Akteure ohnehin einen Hang haben, und Geschmack dafür, wozu sie ohnehin verdammt sind« (Bourdieu 1982, S. 290). Dieser Geschmack wird oftmals von bürgerlichen Kräften, als ein aus freier Wahl entstandener betrachtet und damit zum »Aufhänger für Klassenrassismus« (Bourdieu 1982, S. 290). Dies erfolgt dadurch, dass man den unteren Schichten eine krankhafte Vorliebe für das Ungesunde, Grobe und Fette unterstellt und sich zudem allen Ratschlägen einer gesunden Ernährung verweigert. Dabei wird übersehen, dass in unteren Schichten Nahrung nach einem anderen Wertekatalog klassifiziert wird: »Von der Ernährungsaufklärung und -erziehung scheint dieses Verhalten vielfach als Trotzigkeit interpretiert zu werden und nicht als ein soziales Ringen um

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Die empirischen Daten Bourdieus beziehen sich auf das Frankreich der 60er und 70er Jahre. Die angeführten Exempel wirken deshalb zum einem teilweise überholt, da sich in vier Jahrzehnten im Bereich der Lebensmittel und der Ernährung einiges geändert hat, zum anderen sind sie für deutsche Leser nicht immer nachvollziehbar, wenn länderspezifische Ernährungsgewohnheiten zu Tage treten. Die grundlegenden Thesen lassen sich jedoch heute noch, auch in Deutschland, empirisch belegen (vgl. Kübler 1997).

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einen eigenen Lebensstil, der kulturelle Identität herstellt und sichert« (Barlösius 1995, S. 314). Der Gegensatz von Notwendigkeitsgeschmack und Luxusgeschmack vollzieht sich dabei generell, nicht nur zu Tisch, entlang des Gegensatzes zwischen Form und Funktion: »Kein Bereich, bis hin zu den primären Geschmacksnerven, der nicht nach diesem fundamentalem Gegensatz gegliedert wäre – mit den Antithesen von Quantität und Qualität, Materie und Manier, Substanz und Form« (Bourdieu 1982, S. 288). Der Luxusgeschmack definiert sich vor allem dadurch, dass er frei ist von jenem Zwang, der dem Notwendigkeitsgeschmack innewohnt. Er ist dabei nicht nur frei von Zwang, sondern distanziert sich geradezu von der Notwendigkeit, verehrt die Form und negiert die Funktion. In der Kunst zeigt sich dies in der Einstellung L'art pour l'art, in der Ernährung zeigt es sich darin, dass der Genuss das SattWerden als Ziel der Ernährung ersetzt. Man muss nicht essen um sich zu reproduzieren, man kann es sich leisten zu genießen. Man achtet darauf, was man isst und trinkt, entscheidet sich für Qualität statt Masse. Man isst nicht einfach darauf los, man schmatzt nicht, sondern achtet auf die Manier, die Art und Weise wie gegessen wird und leugnet die ursprüngliche Funktion der Nahrungsaufnahme, die der leiblichen Reproduktion (vgl. Bourdieu 1982, S. 25f.). Essen und Trinken werden zu Mitteln der Distinktion. Der Geschmack der unteren Schichten wird nicht als eigenständiges Geschmacksmuster wahrgenommen, sondern als das Gegenteil von Geschmack, er dient als »Negativfolie« (Bourdieu 1982, S. 292) zur Abgrenzung. Der Luxusgeschmack ist der legitime Geschmack, er dominiert, ist sozusagen gesellschaftlicher Leitgeschmack. In anderen Worten lässt sich mit Bourdieu sagen, dass er ein hohes Maß an ›symbolischer Macht‹ innehat, verstanden als »jede Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen, und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zu Grunde liegen […]« (Bourdieu / Passeron 1973, S. 12). An den legitimen Geschmack orientieren sich die Ernährungsberatung genauso wie der mittlere Geschmack des Kleinbürgers und der sozialen Aufsteiger, also derjenigen, die zwischen dem legitimen Geschmack der Oberschicht und dem populären Geschmack der Unterschicht stehen. Dieser mittlere Geschmack, auch als prätentiös bezeichnet, drückt sich in der Anerkennung des legitimen, distinguierten Geschmacks aus, ohne jedoch die materiellen Möglichkeiten zu besitzen, diese Ansprüche umzusetzen. Dies manifestiert sich in Askese und Maßhalten, letztendlich also auch Resultat einer Notwendigkeit, eines Zwangs zum Maßhalten, weshalb Bourdieu darin auch keine eigenständige Geschmackskategorie erkennt.8 8

Die Soziologin Eva Barlösius erkennt jedoch ein drittes Geschmacksmuster, welches sich schon in Vegetarismus des 19. Jahrhunderts konstituierte: der »naturnahe Lebensstil« (Barlösius 1999, S. 121). Hier stehen Gesundheit und Ökologie im Vordergrund. Einfachheit der Speisen, starker Bezug zur Natur, artgerechte Haltung und biologischer An-

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Den beiden Geschmacksvarianten liegen dabei unterschiedliche Körperbilder und divergierende Ideale von Schönheit und Gesundheit zu Grunde. In den unteren Schichten steht vor allem die Reproduktion der Arbeitskraft im Vordergrund, Essen dient zur Kräftigung und Stärkung des Körpers, muss satt machen und Kraft geben, um gesund zu bleiben. Völlig anders stellt sich die Situation für obere Schichten dar: Nicht mehr Kraft und Stärke muss ›einverleibt‹ werden, vielmehr steht die Ästhetik des Körpers im Vordergrund. Es gilt, sich vielseitig und vollwertig zu ernähren, um gesund und schlank zu bleiben. So beschreiben Angehörige der Oberschicht nach einem üppigen, fettreichen Mahl ihr Körperbefinden mit ›Übelkeit‹, ›Schwere‹ und ›Fülle‹, währende Unterschichtenangehörige bei gleichen Speisen zufrieden sind, sich nicht krank, sondern ›stark‹ und im positiven Sinn ›voll‹ fühlen (vgl. Boltanski 1976, S. 146). Geschmack dient immer auch der Distinktion, wird benutzt, um den Abstand zwischen den Klassen zum Ausdruck zu bringen. Gerade eine elementare Sache wie die Ernährung wird dazu genutzt, um seinen (Ab-)Stand in der Gesellschaft bei Tisch sichtbar zu machen. Von ambitionierten Aufsteigern gerne kopiert, muss sich das Muster des guten Geschmacks stets neue Ausdrucksformen suchen, alte Geschmacksvorlieben aufgeben und neue etablieren, um den Abstand nach unten zu erhalten (vgl. Bourdieu 1992a, S. 39f). Alles was im Wortsinne ›populär‹, also beim ›Volk‹ beliebt ist, wird für die Oberschicht als Distinktionsmittel untauglich. War das Räucherlachshäppchen erst mal auf den Buffettischen der mittleren und unteren Schichten, war es schon vom Tisch der oberen Schichten verschwunden. Andersrum mutierte die Schnecke vom Arme-Leute-Essen zur Delikatesse der Oberschicht, weil der Arbeiter statt Schnecken zu suchen nun lieber sein Stück Fleisch im Supermarkt erwarb. Das Habituskonzept Bourdieus ist für eine ernährungssoziologische Arbeit zur Genese des Geschmacks unverzichtbar. Ernährung ist existenziell für den Menschen und gleichzeitig ist sie etwas Alltägliches, etwas das man routiniert erledigt, eine Gewohnheit. Gerade für solche Prozesse ist die Theorie des Habitus geeignet, da man mit ihr diese Gewohnheiten, diese »dauerhaften Dispositionen« (Bourdieu 1987, S. 129), erfassen und analysieren kann. Der klassentheoretische Ansatz dieses Konzepts erfasst dabei die starken gesellschaftlichen Einflusskräfte auf den Geschmack und auch die Funktion von Geschmack innerhalb der Gesellschaft. Kritik an Bourdieus Werk richtet sich in erster Linie, ähnlich der Kritik an Parsons, an der bau sind Grundzüge einer Bewegung, der es mehr und mehr gelingt, ihre Ideale auch gesamtgesellschaftlich zu positionieren. In der Konkurrenz um das symbolische Kapital tritt dieser Lebensstil vor allem durch den Anspruch moralischer Überlegenheit auf. Ob dieser »naturgemäße Lebensstil« ein wirklich selbständiges drittes Geschmacksmuster ist (vgl. dazu Absatz 8.3.4), ob es sich als Leitbild durchsetzt und wie und wann diese Leitbilder sozialisiert werden, – auch darauf sucht diese Arbeit Antworten.

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relativ statischen Struktur seines Bildes von Gesellschaft und Individuum. Lernprozesse der Gesellschaft (vgl. Eder 1989, S. 39) werden genauso wenig eingeräumt wie ein lernfähiges, flexibles und eigengestaltendes Individuum. Allerdings stellt Bourdieu auch fest, dass ein Ausbrechen aus den Habitusformen, ein individuelles, freies Handeln möglich ist: »Der Habitus ist [innerhalb bestimmter Grenzen] durch den Einfluß einer Laufbahn veränderbar, die zu anderen als den ursprünglichen Lebensbedingungen führt, kann schließlich auch durch Bewußtwerdung und Sozioanalyse unter Kontrolle gebracht werden« (Bourdieu 1989a, S. 407).

Wie genau diese Bewusstwerdung erreicht werden kann und soll, bleibt dabei jedoch offen. Zwar lässt sich mit Bourdieu gut erklären, wieso etwa soziale Aufsteiger oftmals ihrem gewohnten Ernährungsstil treu bleiben. Was aber, wenn jemand seinen Ernährungsstil ändert, ohne überhaupt eine Änderung in der Laufbahn aufzuweisen? Wie erklärt sich, dass es durchaus Menschen mit einem niedrigeren Status im sozialen Raum gibt, die der Ernährung mehr Bedeutung beimessen und zugleich Mitglieder der oberen Positionen, denen Ernährung mehr Pflicht als Genuss zu sein scheint? Wie kommt es bei gleicher sozioökonomischer Lage zu unterschiedlichen Werten beziehungsweise Bewertungen von Ernährung? Diese Fragen bleiben offen, zumindest können sie mit Bourdieu nur äußerst vage und nicht schlüssig beantwortet werden. Denn Sozialisation kann durchaus eben auch individuell gestaltet werden. Das Individuum wählt und handelt auch außerhalb gesellschaftlich vorstrukturierter Prägung. Um diese eigengestalteten Prozesse des Individuums in ihrer Entstehung und Wirkung zu verstehen, bedarf es eines mehr subjektzentrierten Theorieansatzes, der seinen Fokus mehr auf die Gestaltungskraft des Individuums richtet und im Folgenden erörtert werden soll: der symbolische Interaktionismus. 2.3.3 Der symbolische Interaktionismus nach Mead 2.3.3.1 Einführung in Entstehung und Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus Der symbolische Interaktionismus ist eine Mikrotheorie, die den Mensch als relativ autonomes Wesen begreift, der soziale Wirklichkeit durch sein Handeln selbst herstellt. Die Interpretation einer Situation bestimmt das Handeln des Individuums, menschliches Handeln ist subjektiv und situationsgebunden. Diese Ausgangsideen basieren auf den Gedanken der amerikanischen Soziologen William I. Thomas und Dorothy S. Thomas, deren Grundgedanken später als Thomas-Theorem bekannt

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wurden: »If men define situations as real, they are real in their consequences« (Thomas / Thomas 1970, S. 572). Einer der Ersten, der auf diesen Grunderkenntnissen ein theoretisches Konzept zu gründen versuchte, war George Herbert Mead, der als Vater des symbolischen Interaktionismus gilt9. Für Mead unterscheidet sich der Mensch vom Tier unter anderem dadurch, dass der Mensch nicht nur Gebärden und Laute zur Interaktion hat, sondern auch verbale Gesten, also Sprache zur Kommunikation nutzt. Sprache ist für Mead von entscheidender Bedeutung: Worte sind »signifikante Symbole« (vgl. Mead 1922, S. 162), sind Grundlage zum Aufbau eines menschlichen Geistes, eines Verstandes: »Out of language emerges the field of mind« (Mead 1970, S. 133). Menschliche Interaktion findet vornehmlich sprachlich, aber auch über andere Symbole wie Gestik oder Mimik statt. Vor allem aber die Sprache ist es, die dem Menschen eine Identität ermöglicht. Der Mensch nimmt sich in der Interaktion selbst wahr, und zwar dadurch, dass er den anderen ›verstehen‹, was nichts anderes bedeutet, als dass das Individuum in der Lage ist, sich in den anderen hineinzuversetzen, die Sicht des anderen zu übernehmen. Man sieht sich selbst durch die Rollenübernahme des anderen. Mit Rollenübernahme meint Mead nicht die Erfüllung von Rollenerwartungen im Sinne Parsons, sondern das Sich-Hineinversetzen in den anderen. Durch diese Rollenübernahme des anderen wird ein Blick auf sich selbst und damit eine Gestaltung des Interaktionsprozesses durch das Individuum möglich: »It is through taking this role of the other that he is able to come back on himself and so direct his own process of communication. […] The control of the action of the individual in a co-operative process can take place in the conduct of the individual himself if he can take the role of the other« (Mead 1970, S. 254). Ähnlich wie Sigmund Freud mit seinem Konzept des Ichs als Vermittler zwischen dem triebhaften Es und dem moralischen Über-Ich geht Mead von drei psychosozialen Instanzen eines Individuums aus. Die naturnahen Impulse, also die Triebe, aber auch das Spontane und Kreative des Menschen bezeichnet Mead als ›I‹, als Ich. Demgegenüber steht das ›Me‹, also die Vorstellung, die das Individuum von den Erwartungen der anderen an sich hat beziehungsweise die Verinnerlichung dieser Erwartungen der anderen. Der oder die andere ist dabei nicht nur eine konkrete Person, sondern auch mehrere Personen, also Gruppen oder Gemeinschaften 9

Der Soziologe Hans Joas sieht darin eine Verkürzung und Verkennung von George H. Mead. Im Gegensatz zum symbolischen Interaktionismus als mikrotheoretisches Konzept verfolgte Mead immer auch makrotheoretische Ansätze: Der nach Joas »authentische Mead« betrachtete das Individuum vor dem Hintergrund der Gesellschaft und sah das interagierende Individuum stets in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen (vgl. Joas 1978, S. 36f.). Eine zur Mikrotheorie beschnittene Theorie sozialer Interaktion (wie unter anderem von Herbert Blumer) fehle es an makrosoziologischer und damit gesellschaftlicher Relevanz (vgl. Joas 1988, S. 442).

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(die auch gleichzeitig auftreten), und die durchaus auch divergierende Erwartungen an das Individuum haben. Solche Gemeinschaften nennt Mead »the generalized other« (Mead 1970, S. 155). Gelingt der Ausgleich von ›I‹ und ›ME‹, entsteht das ›Self‹, verstanden als eine ausbalancierte Persönlichkeitsstruktur als Ich-Identität (vgl. Joas 1978, S. 22f.). Der Mensch ist durch seine Fähigkeit des ›role taking‹ und der damit verbundenen Selbstwahrnehmung und Verhaltensantizipation ein Wesen, das seine Identität im kommunikativen Austausch mit anderen bildet. Das Individuum ist nach diesem Ansatz kein von außen determiniertes, sondern ein reflektierendes Wesen, welches durch die intersubjektive Kommunikation offen und flexibel in Handlungsorientierungen und Selbstwahrnehmung ist. Dieses Gedankenkonzept wurde von seinem Schüler Herbert Blumer übernommen. Er war es auch, der den Begriff des ›symbolischen Interaktionismus‹ schuf und Meads Theorien überhaupt erst zu größerer Bekanntheit und Geltung brachte. Auf Basis der Erkenntnisse Meads konstruierte Blumer drei Grundsätze des symbolischen Interaktionismus: »Die erste Prämisse besagt, dass Menschen ›Dingen‹ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. […] Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.« (Blumer 1981, S. 81)

Hier findet man also den symbolischen Interaktionismus in aller Kürze zusammengefasst. Sicherlich gibt Blumer das komplexe Theoriegebäude Meads nur verkürzt wieder. Aber durch die anschauliche Art und Weise gelang es Blumer damit, Meads Gedankenkomplex, der im Original nur mühsam zu erfassen ist, überhaupt erst im sozialwissenschaftlichen Diskurs zu etablieren (vgl. Helle 2001, S. 93). Dabei schafft es Blumer knapp und anschaulich zu verdeutlichen, auf welchen Beinen der symbolische Interaktionismus steht, auf welchen Grundgedanken er fußt. Im Mittelpunkt dieses wissenschaftlichen Standpunkts steht das interagierende Subjekt, welches die Motivation des eigenen Handels in der Kommunikation mit anderen selbst herstellt und variiert. Diese produzierte Bedeutung, der subjektiv empfundene Symbolgehalt von Dingen (darunter sind auch Menschen, Gruppen oder Situationen zu verstehen) ist zentrales Forschungsinteresse des Interaktionismus. Damit wurde ein Ansatz geschaffen, der dem menschlichen Individuum ein aktives, eigengestaltendes Potenzial einräumt und das Subjekt als agierendes und nicht nur adaptierendes, passives Wesen begreift. Diese Sichtweise hat natürlich auch entscheidenden Einfluss auf die Forschungsmethodik. Da die subjektive Bedeutung von Dingen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht, müssen Forschungsmethoden so ausgerichtet werden, dass diese subjektiven Bedeutungen auch erfasst und inter-

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pretiert werden können. Blumer beschreibt die Problematik damit, dass verschiedene Menschen viele verschiedene Arten von Welten entwickeln, in die man, um sie überhaupt erforschen zu können, eintauchen und eine Vertrautheit mit diesen Lebenswelten entwickeln muss (vgl. Blumer 1981, S. 129ff.). Kritik äußert sich vor allem an der Subjektzentrierung des symbolischen Interaktionismus, der die gesellschaftlichen Strukturen nicht oder in nicht ausreichender Art berücksichtigt. Denn aus den subjektiven Deutungen und Interpretationen entstehen eigenständige gesellschaftliche Strukturen, die dann wiederum autonom dem Menschen gegenüber stehen und ihn beeinflussen: »Soziale Strukturen verfestigen und institutionalisieren sich […], sie gewinnen ihre eigene Seinsqualität und entwickeln ihre eigene Dynamik, mit der sie sich von ihren Schöpfern ablösen und ihnen als vorgeformte Gegebenheiten entgegentreten« (Hurrelmann 1983, S. 97).10 Bei aller Kritik am interaktionistischen Konzept, welche im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden soll, bleibt vor allem festzuhalten, was diese Theorie so interessant macht: die Sichtweise des Menschen als aktives, gestaltendes Subjekt. 2.3.3.2 Symbolischer Interaktionismus und Sozialisation Den symbolischen Interaktionismus im Hinblick auf seine Sicht von Sozialisation zu betrachten, ist keine leichte Aufgabe. Mead selbst verstand unter Sozialisation, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, insbesondere wenn nicht gar ausschließlich die Sozialisation eines Kindes und die Frage, »auf welche Weise bei jedem einzelnen Kind seine Identität und sein Geist entstehen […]« (Mead 1987, S. 323). Hinzu kommt, dass Mead seine Persönlichkeitstheorie selbst am Beispiel spielender Kinder illustriert. Zentrale Begriffe sind hier ›play‹ und ›game‹. Mead nimmt als Beispiel das Versteckspiel. Es ist ein einfaches Spiel, in dem das Kind nur zwischen Suchenden und Versteckenden unterscheidet, ein Spiel ohne schwierige Zusammenhänge, das Kind bleibt darin im Stadium des ›play‹. Im komplexeren Spiel mit mehreren Mitspielern, wie etwa einem Ballspiel, muss das spielende Kind auch die Position der anderen Mitspieler kennen und wissen, wie die anderen Spieler agieren werden. Dazu muss sich das Kind in die Rolle der Mitspieler hineinversetzten können, es muss deren Verhalten antizipieren können (vgl. Mead 1970, S. 151). Hat ein Kind diese Voraussetzungen erfüllt, hat es das Stadium des ›game‹ erreicht und damit auch eine Voraussetzung für gelingende soziale Interaktion. Durch die Fähigkeit der Rollenübernahme und der Verhaltensantizipation kommt der Mensch zur Ausbildung einer Identität. Nach dieser Vorstellung sind also die Individuen nicht 10 Hans Joas, der diesen Mangel des symbolischen Interaktionismus ebenfalls kritisiert, würde Hurrelmann, der seine Kritik auch auf Mead bezieht, mangelnde Kenntnis des Werkes von Mead vorwerfen, da dieser den Einfluss gesellschaftlicher Strukturen alles andere als leugnet (vgl. Joas 1978, S. 8).

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von außen geleitet, sie folgen nicht den Normen und Werten einer Gesellschaft, sondern interpretieren die Anforderungen des ›generalisierten Anderen‹ und handeln gemeinsame Regeln und Ziele aus. Das Konzept des symbolischen Interaktionismus ist deshalb auch besonders interessant, da es Erklärungen bietet, wo andere Ansätze Fragen aufwerfen: »Offensichtlich werden Kinder nicht zu Kopien von Eltern und Umwelt. Und auch die Eltern ändern sich, wenn sie Kinder erziehen. Dies alles kann man viel leichter berücksichtigen, wenn man den Sozialisationsprozeß als einen Prozeß des Aushandelns betrachtet« (Krappmann 1985, S. 159). Leider sind Meads Ansätze und deren Rezeption fast immer auf die Sozialisation des Kindes oder die Entwicklung einer Identität bei Kindern und Heranwachsenden bezogen (vgl. Krappmann 1985). Dies ist aus zwei Gründen zu bedauern: Erstens ist es längst wissenschaftliches Allgemeingut, dass Sozialisation eben nicht nur im Kindesalter stattfindet, sondern ein lebenslanger Prozess ist. Und zweitens geht die Sozialisationsforschung davon aus, dass mit steigendem Lebensalter Einflüsse gesellschaftlicher Sozialisationsinstanzen mehr und mehr an Bedeutung verlieren und das Individuum auch eine immer größere Eigenständigkeit entwickelt (vgl. Faltermaier 2008, S. 158). Trotzdem blieb in der Sozialisationsforschung bisher das mittlere Erwachsenenalter lange im Schatten der Jugendphase, und neuerdings auch der Phase des hohen Alters (vgl. Hurrelmann / Grundmann / Walper 2008, S. 18). Diese Vernachlässigung ist deshalb bedauernswert, da eine subjektzentrierte Theorie wie der symbolische Interaktionismus seine Erklärungskraft besonders in dieser Phase, der des mittleren Erwachsenenalters, offenbaren kann, da in diesem Abschnitt des Lebenslaufs das Individuum am eigenständigsten handelt. Vielmehr noch gilt dies für eine Forschung der Sozialisation der Ernährung. Denn im mittleren Erwachsenenalter ist der Mensch meines Erachtens in seiner Ernährungsentscheidung so eigenständig und selbstbestimmt, wie er es vorher nie war. Im Kindes- und Jugendalter, welches zwar auch durch spezielle Ernährungstendenzen (zum Beispiel Fastfood) gekennzeichnet ist, bleibt Ernährung vornehmlich etwas, das in der Familie stattfindet und von den Erziehenden beziehungsweise deren Ernährungsgewohnheiten bestimmt und vorgegeben wird. Weiter gibt es Beschränkungen anderer Art, wenn durch Auszug aus dem Elternhaus zwar eine gewisse Autonomie bezüglich des Ernährungsverhaltens eintreten könnte, diese aber oftmals durch beschränkte finanzielle Mittel während Ausbildung oder Studium wieder eingeschränkt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der symbolische Interaktionismus nicht auch in anderen Lebensphasen und bei anderen Forschungsfragen Erklärungsansätze bietet. Auch die Jugendphase kann aus der interaktionistischen Sicht interessant sein, wie etwa bei Gender-Fragen oder Essstörungen wie der Magersucht oder Bulimie. Bei letzterem wird der Ernährung beispielsweise eine grundlegende neue Bedeutung beigemessen. Vereinfacht gesagt, wird sie nicht als potentiell lustvoll und kraftspendend, sondern als Bedrohung erlebt, wird nicht die

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Befriedigung durch Sättigung gesucht, sondern Befriedigung aus dem Hungern bezogen (vgl. dazu Absatz 6.8). Die größte Autonomie (ob diese theoretische Autonomie auch praktisch genützt wird ist eine andere Frage) bei der Gestaltung des Ernährungsverhaltens hat das Individuum jedoch nach Eintritt in das Berufsleben, wo geistige Autonomie und, im Falle einer geglückten beruflichen Laufbahn, finanzielle Entscheidungsfreiheit sich überschneiden. In dieser Phase ist meines Erachtens der symbolische Interaktionismus besonders geeignet, um einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Interessant ist dabei die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass das Individuum das alltägliche, habitualisierte Ernährungsverhalten hinterfragt und individuell ändert. Greift man die drei Prämissen Blumers wieder auf, so stellen sie sich aus ernährungssoziologischer Sicht wie folgt dar: Menschen handeln ›der Ernährung‹ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung, welche Ernährung für sie besitzt. Diese Bedeutung wird aus der sozialen Interaktion mit den Mitmenschen gewonnen, und diese Bedeutung kann ständig neu interpretiert und geändert werden. Dass Bedeutungen neu interpretiert und bewertet werden, geschieht vor allem dann, wenn sich bestimmte Lebensumstände ändern und sich neue Lebenssituationen einstellen. Ein solches einschneidendes Lebensereignis kann zum Beispiel der Anfang oder das Ende einer Partnerschaft darstellen. In der Interaktion mit einem neuen Partner wird ausgehandelt, welche Rolle Essen und Ernährung in der Partnerschaft spielt. Ist der Partner sehr engagiert in Ernährungsdingen, kocht und isst gerne, kann dies die Bedeutung, die dem Essen bisher beigemessen wurde, deutlich erhöhen. Andersrum kann die Bedeutung des Kochens und Essen sinken, wenn der Partner keinerlei Interesse oder Anspruch zeigt (vgl. dazu Interview 9 / Caroline; Interview 11 / Annika). Gleiches gilt für den Fall einer Trennung, wenn die Bedeutung des Essens an den anderen, an die Paarbeziehung geknüpft war. Andere bedeutende Lebensereignisse sind beispielsweise der Verlust vom Arbeitsplatz oder der berufliche Aufstieg, welcher einen mit neuen Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert, genauso wie Krankheiten, welche einen die bisherige Ernährung überdenken lassen, oder die Geburt eines Kindes, welches häufig dazu führt, vermehrt auf die Ernährung zu achten (vgl. dazu Absatz 7.2.3.1) In der Interaktion von Individuum und Gesellschaft werden die Verhaltensregeln immer wieder neu ausgehandelt, so dass das Individuum Einfluss auf die Gesellschaft nimmt, wie andersherum die Gesellschaft auf das Individuum. Gerade in einer Zeit, in der Kochen, Essen und Ernährung so präsent sind wie nie, ist es eine interessante Frage wie, wo, und ob die Bedeutung von Ernährung sich in welchen Gruppen mit welchen Folgen verändert oder stagniert. Immer neu im Ernährungsbereich ausgehandelt wird der Status, den Lebensmittel, kochen, Küchengeräte oder Zubereitungsweisen haben. Ganze gesellschaftliche Schichten handeln immer wieder neu aus, was statushoch und was niedrig ist. Was gestern Arme-Leute-Essen war, kann heute exklusiver Genuss sein und umgekehrt. Wer vor 20 Jahren seinen

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Gänsebraten zehn Stunden bei 80 Grad gegart hätte, wäre belächelt, wenn nicht ausgelacht worden, heute gibt es Anerkennung für das Garen mit Niedrigtemperatur. Was Status verschafft und Distinktion verspricht ist im ständigen Wandel und wird immer wieder neu ausgehandelt. Wer sein Fleisch oder seinen Fisch ›durch‹ bestellt, hat sich als Banause verraten, um Kenner zu sein, darf das Fleisch heute maximal rosa gebraten sein, der Fisch muss noch glasig oder gar roh sein. Was wie ausgehandelt wird, ist allerdings nicht den Akteuren allein überlassen. Hier offenbart sich meines Erachtens die Problematik individualistischer Perspektiven wie des Interaktionismus oder auch der Rational Choice Theorie11, welche nicht ausreichend berücksichtigen, dass, wie Bourdieu feststellt (vgl. Absatz 2.3.2) soziale, gesellschaftliche Strukturen dem Menschen als vorgeformte Gegebenheit gegenübertreten und seinem (Ver-)Handlungsspielraum Grenzen setzten. Makrosoziologische Zusammenhänge werden nicht beachtet beziehungsweise als Zufallsprodukte individuellen, rationalen Handels interpretiert. Nach der Rational Choice Theorie geht allen Entscheidungen eine rationale, nutzenmaximierende Entscheidung voraus, die auch eine Verbesserung der sozialen Position abzielt (vgl. Braun 2009 / Treibel 1997, S. 105ff.). Auch Bourdieu sieht Kämpfe um Positionen im sozialen Raum, allerdings sind diese gerade nicht Ergebnis individueller Nutzenmaximierung, da die scheinbar objektiv rationalen Entscheidungen und Handlungen der Individuen gesellschaftlich vorstrukturiert sind. Deutlich wird der Unterschied zwischen Bourdieu und individualistischen Theorien am Begriff des Habitus. Dieser 11 Während beim symbolischen Interaktionismus Sozialisation als Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft begriffen wird, spielt Gesellschaft beim Rational Choice Konzept keine Rolle: Nur das nutzenmaximierende Verhaltend der Individuen zählt, eine dem Individuum gegenüberstehende Gesellschaft existiert nicht (vgl. Treibel 1997, S. 108). Wenn aber nicht von Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft ausgegangen wird, welches jedoch konstituierende für die Sozialisation ist, kann meines Erachtens im Rahmen der Rational Choice Theorie nicht von Sozialisation gesprochen werden. Eine Theorie der Sozialisation kann sie schon aufgrund des Selbstverständnisses nicht sein, da es ohne Gesellschaft auch nicht zur Verbindung von Individuum und Gesellschaft, also zur Sozialisation im Wortsinne (sociare=verbinden) kommen kann. Die Rational Choice Theorie eignet sich vor allem dafür, Phänomene zu untersuchen bei welchen sich das Individuum zwischen divergierenden Alternativen entscheiden muss, wie etwa in der Familiensoziologie (vgl. Braun 2009, S. 395, 400). Für Zimmermann etwa bietet die sich Rational Choice Theorie beziehungsweise das darin vertretene Nutzenkalkül als Erklärungsmodell für verschiedene Erziehungsstile heranzuziehen. Allerdings gibt auch er zu bedenken, dass eine Theorie die emotional und psychosozial motivierten Nutzen nur randständig behandelt, Prozesse der Sozialisation nur ausschnittsweise erklären kann. Andere Ansätze sind bezüglich einer sozialisatorischen Fragestellung ergiebiger und werden deshalb in dieser Arbeit bevorzugt.

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wird inkorporiert und prästrukturiert die Entscheidungen des Individuums bevor über diese Entscheidung abgewogen wird, was Kramer prägnant auf den Punkt bringt: »In der größten Deutlichkeit erörtert das Bourdieu immer wieder in der Konzeption des Habitus und die mit dem Habitus gegebene Möglichkeit eines ›praktischen Sinns‹, der konstitutionstheoretisch noch vor jeder bewussten Handlungsentscheidung und Optionswahl anzunehmen ist. Als nicht ausgewählte Grundlage jeder Wahlentscheidung ›sorgt‹ der Habitus als inkorporiertes Dispositionssystem für jene Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen, die ›objektiv‹ rational sind, ohne einer subjektiv-intentionalen Rationalität folgen zu müssen.« (Kramer 2011, S. 336)

Die Bedeutung von Nahrungsmitteln beziehungsweise ihr Status wird also nicht losgelöst, sondern innerhalb bestehender gesellschaftlicher Strukturen verhandelt. Der Mensch hat dabei im Bourdieu’ schen Sinne durchaus Handlungsspielraum, allerdings nur in bestimmten Grenzen. Diese bestimmt der Habitus, er beschränkt die Möglichkeiten des Einzelnen und auch wenn die Grenzen modifizierbar und verschiebbar sind, bleiben sie bestehen, lösen sich nie ganz auf und bilden das Gerüst der Sozialisation. Doch nicht nur die Grenzen des Einzelnen sind modifizierbar, auch die Grenzen und Rahmenbedingungen der Gesellschaft können sich wandeln. Und damit auch die Rahmenbedingungen der Sozialisation. Wie sich diese gesellschaftliche Veränderungen beziehungsweise neue Rahmenbedingungen auf das Leben und die Sozialisation der Individuen auswirken, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden.

2.4 I NDIVIDUALISIERUNG UND E RLEBNISGESELLSCHAFT – NEUE GESELLSCHAFTLICHE R AHMENBEDINGUNGEN DER S OZIALISATION 2.4.1 Einführung in die Grundannahmen des Individualisierungstheorems In diesem Abschnitt geht es nicht um klassische Sozialisationstheorien, sondern um Gesellschaftskonzepte der Moderne. Eines davon ist das Individualisierungstheorem, welches auf den Gedanken des Soziologen Ulrich Becks basiert. Dieser beschrieb Mitte der 80er Jahre das Ende der traditionellen Industriegesellschaft und den Übergang in eine Moderne, die zum einen von immer größeren Risiken geprägt ist und zum anderen vor allem durch eine enorme Individualisierung gekennzeichnet ist (vgl. Beck 1986). Damit meint Beck die Freisetzung des Individuums aus

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traditionellen Bindungen, Sicherheiten, Klassen und Schichten. Nicht mehr die soziale Herkunft determiniert das Leben, wie in früheren Jahrhunderten, als der Mensch in seine Lebenswelt hineingeboren wurde und in den traditionellen Bindungen dieser Stände oder Klassengesellschaften auch verblieb, sondern der Mensch, das einzelne Individuum, wird zum Akteur und Gestalter des eigenen Lebenslaufs (vgl. Beck 1986, S. 123f.). Dieser Freisetzungsprozess begann mit dem enormen ökonomischen Aufschwung in den 50er und 60er Jahren, der zu einem Mehr an Bildung, Einkommen, Konsum und Mobilität für die gesamte Bevölkerung führte. Dieser »Fahrstuhleffekt« (Beck 1986, S. 122) hatte zur Folge, dass sich klassen- und schichtspezifische Bindungen verringern und ihre traditionellen Prägekräfte verlieren. Trotz fortbestehender sozialer Ungleichheit kam es durch den Wohlstandschub für alle Bevölkerungsgruppen zum Bedeutungsverlust von Klasse und Schicht12: »Die wohlfahrtstaatliche Aufschwungphase hat bei gleichbleibenden Ungleichheitsrelationen eine kulturelle Erosion und Evolution der Lebensbedingungen ausgelöst, die schließlich auch die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen hervortreten läßt. Dies ist die Dynamik des Individualisierungsprozesses, der im Zusammenwirken aller Komponenten – mehr arbeitsfreie Zeit, mehr Geld, Mobilität, Bildung usw. – seine strukturverändernde Intensität entwickelt und die Lebenszusammenhänge von Klasse und [Hervorhebung im Original] Familie aufbricht.« (Beck 1986, S. 130)

Auch die Familie, wie Beck betont, ist von Individualisierungsprozessen betroffen. Von der Bildungsexpansion profitieren vor allem die Frauen, sie konnten an Schulen und Universitäten mit den Männern gleichziehen und sie dann sogar überholen. Nur auf dem Arbeitsmarkt blieb die geschlechtsspezifische Ungleichheit bestehen, blieben und bleiben Frauen benachteiligt. Dies war für jedermann sichtbar, was nicht ohne Folgen blieb, denn damit gerieten auch die traditionellen Geschlechterrollen in der Familie ins Wanken (vgl. Volkmann 2000b, S. 34). Mit den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen änderten sich auch die Geschlechterrollen 12 Hier steht Beck im Wiederspruch zu Bourdieu, der Klasse und Schicht weiterhin entscheidende Prägungskraft zuschreibt. Eine prägnante Zusammenfassung diesbezüglicher Kontroversen findet sich in Rainer Geißlers Standardwerk »Die Sozialstruktur Deutschlands«. Persönlich stimme ich mit der Ansicht Reiner Geißlers überein und sehe eine zwar gewandelte, aber dennoch weiterhin fortbestehende Prägekraft von Klasse und Schicht: »Nicht die Auflösung der Klassen und Schichten, sondern die Herausbildung einer dynamischeren, pluraleren und auch stärker latenten Schichtstruktur ist das Ergebnis des Modernisierungsprozesses« (Geißler 2008, S. 117). Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bedeutung von Klasse und Schicht im Rahmen dieser Arbeit findet sich unter Abschnitt 2.4.4.

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und die Institutionen Familie und Ehe: »Wer über Familie redet, muß auch über Arbeit und Geld reden, wer über Ehe redet, muß über Ausbildung, Beruf, Mobilität reden, und zwar über Ungleichverteilungen bei inzwischen (weitgehend) gleichen Bildungsvoraussetzungen« (Beck 1986, S. 161). Kennzeichnend für die Individualisierung nach Beck ist deren Ambivalenz, da sie zum einem ein freisetzendes Moment mit sich bringt, aber auch neue Abhängigkeiten schafft. Freigesetzt von Klasse und Familie, kann und muss das Individuum nun seine Biographie selbst schreiben, da es eine Vielzahl an Wegen und Möglichkeiten gibt, sein Leben zu gestalten. Es kommt zur Pluralisierung der Lebensstile. Normalbiographien nehmen ab, die Zahl der »Bastelexistenzen« (Hitzler / Honer 2004, S. 307) nimmt zu. Das Individuum wird freier und unbeschränkter, gleichzeitig bringt diese Freiheit auch neue Zwänge mit sich, insbesondere den Zwang, sich zu entscheiden. Es ist nicht mehr klar, dass eine Beziehung in die Ehe führt, stattdessen etablieren sich eine Vielzahl von neuen Lebens- und Partnerschaftsmodellen, aus denen es zu wählen gilt. Wer man ist, wie man sein möchte, welche Beziehungsform, welche Art des Zusammenlebens in Frage kommt, ob Kinder oder nicht, welche Berufsziele es zu verfolgen und andere es zu verwerfen gilt, das alles muss entschieden werden. Der Mensch wird zum »homo optionis« (Beck / BeckGernsheim 2004, S. 16). Die Individuen haben jedoch nicht nur die Freiheit sich zu entscheiden, sie tragen für ihre Entscheidungen auch die Verantwortung. Arbeitslosigkeit, auch als Massenphänomen, wird zum Problem des Einzelnen, zum biographischen Versagen. Die sogenannte Bastelexistenz wird zur Bruchbiographie (vgl. Beck /BeckGernsheim 2004, S. 13). In dieser Verantwortung des Individuums liegen dann auch neue Unfreiheiten und Zwänge, ist Individualisierung schlichtweg Anpassung an die marktwirtschaftlich-kapitalistische Erfordernisse der Gesellschaft. Mobilität, Flexibilität, Unabhängigkeit von familiären Gegebenheiten oder einfach nur eine auf individuell getrimmte Persönlichkeit werden gefordert, wie der Soziologe Richard Sennett feststellt: »Von den Arbeitnehmern wird verlangt, sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden« (Sennett 2000, S. 10). Sennett kritisiert einen flexiblen Kapitalismus, der Familie, Beruf und Wohnort seinen Anforderungen unterwirft, in dem das Kurzfristige, das sich ständig Wandelnde propagiert und als neue Freiheit angepriesen wird. Dieser Kapitalismus jedoch bringt den Menschen nicht mehr Freiheit, sondern mehr Kontrolle und Zwänge. Geforderte Mobilität und Flexibilität sind Werte, die den Anforderungen zwischenmenschlicher Beziehungen entgegenstehen. Gegenseitige Verpflichtungen und langfristige Bindungen haben keinen Platz mehr. Es ist schwierig, langfristige Ziele zu verfolgen, bleibende Werte zu schaffen, wenn man in einer auf Kurzfristigkeit ausgerichteten Ökonomie zu Recht kommen muss (vgl. Sennett 2000, S. 11f.).

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Ähnlich sieht auch Beck die Auswirkungen der Individualisierung bezüglich Partnerschaft und Familie. Flexibilität und Mobilität der modernen Gesellschaft, zusam-men mit der Erosion alter Traditionen und alter Prägekräfte wie Klasse und Schicht, Religion oder Nachbarschaft lässt Partnerschaft zu einem immer höher bewerteten Gut werden, zu einem Ideal, welches den Ansprüchen der Realität jedoch immer weniger standhalten kann. Denn Anforderungen von Familie und Partnerschaft laufen diametral zu den Anforderungen, die der Arbeitsmarkt an das Individuum stellt und erfordert ein ständiges Manövrieren: »Arbeitsmarkt, Bildung, Mobilität, Karriereplanung, alles jetzt in der Familie doppelt und dreifach. Familie wird zu einem dauernden Jonglieren mit auseinanderstrebenden Mehrfachambitionen zwischen Berufen und ihren Mobilitätserfordernissen, Bildungszwängen, querliegenden Kinderverpflichtungen und dem hausarbeitlichen Einerlei.« (Beck 1986, S. 184)

Auf diese Widersprüche gehen nach Beck auch die steigenden Scheidungszahlen, die Zunahme der Singlehaushalte und das vermehrte Auftreten neuer Formen des Zusammenlebens hervor. Die Individualisierung führte und führt zu einem enormen Wandel insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, der Geschlechterrollen und der Familie, und deshalb muss meines Erachtens Sozialisation immer auch unter den Aspekten einer individualisierten Gesellschaft betrachtet werden. Die Individualisierung hat die gesellschaftlichen Parameter verschoben und teilweise zum Einsturz gebracht. Wo sich Lebensumstände wandeln, wandeln sich auch die Umstände der Sozialisation. Diese neuen Umstände, unter denen Sozialisation in der individualisierten Moderne stattfindet und die daraus resultierenden Folgen, sollen am Beispiel des Wandels der Familie etwas genauer betrachtet werden. 2.4.2 Individualisierung und die Auswirkungen auf Familie und Sozialisation In seiner Gesellschaftstheorie nimmt Beck selbst eigentlich keinen direkten Bezug zur Sozialisation. Dennoch hat der von ihm beschriebene Wandel auch einen enormen Einfluss auf Sozialisationsprozesse. Der Sozialisationsforscher Zimmermann weist darauf hin, dass nicht nur Erwachsene dem Einfluss der Individualsierung ausgeliefert sind, sondern dass auch schon Kinder einer individualisierten Sozialisation unterliegen. Der ökonomische Umgang der Eltern mit Zeit sowie die Anforderungen des Alltags, der Schule und der Freizeit zwingen Kinder mehr und mehr dazu, ihre Zeit einzuteilen und zu planen (vgl. Zimmermann 2003, S. 63). Vor allem aber hat die Individualisierung zu einem Wandel in der Familie geführt, der Institution oder dem ›Ort‹ der Primärsozialisation. Das Ideal der bürgerlichen Familie, in der der Mann der arbeitende Ernährer und die Frau sich vornehm-

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lich der Kindeserziehung und der Ernährung des Ernährers widmet, ist längst passé. Durch Arbeitsmarktwandel und Bildungsexpansion wurden die Frauen alten Abhängigkeiten entrissen und neuen Anforderungen ausgesetzt. Jetzt können und müssen Frauen ihre Existenzsicherung selbst in die Hand nehmen und sind nicht mehr Anhang eines ökonomisch Sicherheit stiftenden Mannes, sondern dazu angehalten, sich nicht nur ökonomisch zu emanzipieren, sondern auch als Persönlichkeit, mit den eigenen Wünschen und Plänen, zu begreifen. Die »Entfamiliarisierung der Frau« (Trutz von Trotha 2008, S. 88) führte und führt zu einer Pluralsierung der Partnerschafts- und Haushaltsformen von enormem Ausmaß; die bürgerliche Kernfamilie ist zwar immer noch für viele ein anzustrebendes Ideal (vgl. Meyer 2006, S. 210), doch in der Realität auf dem Rückzug. 2006 war von allen Paar- und Familienhaushalten die Anzahl verheirateter Paare ohne Kinder größer (40,8 Prozent) als Ehen mit Kindern (37,8 Prozent), 10,2 Prozent der Paar- und Familienhaushalte sind nichteheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder. Dazu kommt die Gruppe der Alleinerziehenden-Haushalte mit einem Anteil von 11,2 Prozent. Fast jeder fünfte Bundesbürger (18,2 Prozent) lebte 2006 allein (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), S. 6; 10). Damit einhergehend stieg die Frauenerwerbsquote von 46 Prozent aller Frauen im Alter von 15–65 Jahren im Jahr 1970 auf 65 Prozent im Jahr 2004. Dieser Anstieg ist insbesondere darauf zurückführen, dass immer mehr verheiratete Frauen und Mütter einer Arbeit nachgehen beziehungsweise letztere nach der Kindesbetreuung wieder in den Beruf zurückfinden. Haben die Kinder ein Alter zwischen 10 und 17 Jahren erreicht, kehren 71 Prozent der Mütter wieder ins Berufsleben zurück (vgl. Geißler 2008, S. 307). In der modernen Gesellschaft scheidet man nicht mehr wie früher bei Mutterschaft oder Heirat aus dem Erwerbsleben aus, Arbeit ist vielmehr zum Teil des Lebensentwurfs der heutigen Frauen geworden13. Gleichzeitig kam es zu einer enormen Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Schon Ende der 80er Jahre arbeiteten nur mehr 24 Prozent der Beschäftigten in Normalarbeitszeit, also vollbeschäftigt, tagsüber, von Montag bis Freitag zwischen 35 und 40 Stunden. 76 Prozent dagegen aber mehr oder weniger als 35-40 Stunden pro Woche, leisten regelmäßig Überstunden und arbeiten am Wochenende oder im Schicht-betrieb (vgl. Groß / Thoben / Bauer 1989, S. 33ff.). Diese Faktoren zusammen führen dazu, dass die Lebensführung immer komplexer wird und es eines 13 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Arbeit allein ein Ausdruck von Selbstverwirklichung ist. Zu einem großen Teil ist es auch ökonomische Notwendigkeit, da ein Einkommen allein nicht mehr zum Familienunterhalt ausreicht. Auch nicht vergessen werden darf, dass Frauen immer noch unter enormer Ungleichheit am Arbeitsmarkt leiden. Niedrigeres Einkommen, schlechtere Arbeits- und Aufstiegsbedingungen, ein höherer Anteil an Teilzeitarbeit, sind nur einige der Probleme, denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt begegnen und eine freie Selbstverwirklichung in der Arbeit verhindern (vgl. Geißler 2008, S. 307).

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perfekten Zeitmanagements bedarf, alle Ansprüche zu koordinieren und zur Erfüllung zu bringen. Flexible Arbeitszeiten, Öffnungszeiten der Geschäfte, Arzt- oder Vereinstermine, Schul- und Kindergartenzeiten – alles muss aufeinander abgestimmt werden. Umso flexibler die Arbeitszeiten, desto flexibler muss auch das Privatleben gestaltet werden, müssen große Ressourcen aufgebracht werden um divergierende Interessen irgendwie zum Ausgleich zu bringen, muss letztendlich auch das Familienleben flexibel gestaltet werden (vgl. Rerrich 2004, S. 204f.). Diese enormen gesellschaftlichen Veränderungen wirken sich letztendlich auch auf Umstände der Sozialisation aus. Nicht nur, dass auch schon Kinder ihren Tagesablauf individuell planen und organisieren müssen, sondern vor allem auch dadurch, dass sich die Parameter der Sozialisationsinstanz Familie stark verändert haben. Hier wird beklagt, dass die Familiensoziologie zu lange die Familie als etwas Isoliertes innerhalb der Gesellschaft betrachtet hat, als autarken, geschützten und behüteten Ort fernab gesellschaftlicher Einflüsse (vgl. Rerrich 2004, S. 201). Der Wirklichkeit viel näher kommt geradezu das Gegenteil, nämlich »daß die Gesellschaft Teil der Familie ist und umgekehrt, daß Entwicklungen im Binnenraum der Familie weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Dies gilt erst recht für gesellschaftliche Veränderungsprozesse, wie sie für die letzten Jahrzehnte typisch waren« (Rerrich 2004, S. 201). Von diesem Standpunkt wird dann auch der Bezug von Individualisierung und Sozialisation deutlich, denn um Sozialisationsprozesse verstehen zu können, muss man auch die Umstände kennen und beachten, unter denen sie stattfindet. Bezüglich der ernährungssoziologischen Ausrichtung ergibt sich daraus eine Vielzahl von Fragen, die es zu beachten und zu beantworten gilt: Wie sieht Ernährung aus, nach dem Ende der kochenden Hausfrau? Wer kocht, wie lange, wie oft? Wie viel Zeit bleibt überhaupt noch für Einkaufen, Kochen, Ernährung oder gemeinsames Essen und welchen Stellenwert hat es? 2.4.3 Das Konzept der Erlebnisgesellschaft Ähnlich dem Individualisierungskonzept von Beck ist die ›Erlebnisgesellschaft‹ von Gerhard Schulze keine Sozialisationstheorie, sondern eine Gegenwartsdiagnose, nach deren zentralen Aussagen sich ein umfassender gesellschaftlicher Wandel ereignet, und von solch zentraler Bedeutung ist, dass davon ausgegangen werden muss, dass auch Sozialisationsprozesse dem Einfluss dieses Wandels unterliegen und beachtet werden müssen (vgl. Zimmermann 2003, S. 67). Die zentrale Botschaft seiner Gesellschaftsanalyse bringt Gerhard Schulze prägnant auf den Punkt: »Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens« (Schulze 2005, S. 37). Der wirtschaftliche Aufschwung im Nach-

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kriegsdeutschland, die damit einhergehenden steigenden Einkommen, der Rückgang der Arbeitszeit und der daraus resultierende Zugewinn an Freizeit sowie ein ständig wachsendes Angebot an Waren und Dienstleistung – alles zusammen führt zu einer Neustellung der gesellschaftlichen Weichen. Wie Beck konstatiert auch Schulze dadurch eine Pluralisierung der Möglichkeiten. In ökonomisch unsicheren Krisenzeiten ist es die Situation, die das Subjekt zum Handeln zwingt. In Zeiten materieller Unsicherheit wird das Individuum oder nach Schulze das Subjekt versuchen, der Situation angemessen zu reagieren und durch vermehrte Anstrengungen eine sichere Lebenssituation zu erreichen. In der gegenwärtigen Gesellschaft hat die Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Erfahrung mehr mit direkter, existenzieller Not. Vielmehr ist es diese Mehrheit gewohnt, von existenzieller Not befreit zu sein, ist der Überfluss eher ein Kennzeichen der Gesellschaft als der Mangel, auch wenn an den gesellschaftlichen Rändern materielle Not weiterbesteht oder sich gar verschärft (vgl. Geißler 2008, S. 226). In dieser Situation, einer seit Jahrzehnten andauernden relativen ökonomischen Stabilität, ist das Subjekt von Notwendigkeiten befreit, das heißt es ist in der Lage und in der Pflicht aus verschiedenen Optionen zu wählen (vgl. Volkmann 2000a, S. 76ff.). Gleichzeitig kommt es zu einem Wandel der Lebensauffassungen, genauer gesagt, kommt es zu einem Bedeutungsverlust der Außenorientierung hin zur Innenorientierung. Eine außenorientierte Lebensauffassung ist eine zweckrationale Ausrichtung auf eine Wirklichkeit außerhalb des Subjekts, während eine Innenorientierung eine Ausrichtung des Subjekts auf sich selbst, auf seine Gefühlswelt, seine Psyche, seine Erlebnisse darstellt. Den Unterschied illustriert Schulze mit dem Beispiel eines Autos: Für eine außenorientierte Lebensauffassung ist ein Auto ein Mobilitätsmittel, das seinen Zweck erfüllt, wenn es zuverlässig fährt. Bei einer innenorientierten Lebensauffassung ist es das Fahrgefühl, welches das Auto vermittelt, oder allgemeiner gesagt, das Lebensgefühl. Diese innenorientierte Lebensanschauung, die sich in allen Bereichen des Alltags ausbreitet, wie in der Ernährung, der Kleidung, der Partnerschaft oder in der Arbeit, war früher ein Privileg einer sehr kleinen Gruppe von Leuten, die sich das Projekt des schönen Lebens leisten konnten, worunter Schulze Folgendes versteht: »Gemeint ist, daß sich ein Mensch vornimmt, Prozesse auszulösen, die sich in ihm selbst vollziehen. […] Innenorientierung ist Erlebnisorientierung. Das Projekt des schönen Lebens ist das Projekt, etwas zu erleben« (Schulze 2005, S. 38). Es stellt sich immer weniger die Frage, ob etwas gut oder schlecht, nützlich oder unnützlich ist, sondern danach, ob etwas ein Gefühl transportiert, das einen glücklich macht, das einem ein Erlebnis verschafft. Es wird also nicht mehr vordringlich ökonomisch-rational entschieden, vielmehr wird die Emotion zur Begierde der Vernunft. Aus der Entscheidungsfrage Erich Fromms, »Haben oder Sein«, wird ein (Erlebnis-)Haben-wollen, um sein zu können. Problematisch an dieser Lebensauffassung ist das Risiko von Unsicherheit und Enttäuschung, die eintreten,

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wenn ein Erlebnis nicht den gewünschten Effekt bringt, wenn die Wahlmöglichkeiten so zahlreich sind, dass sich das Individuum vor die Frage gestellt sieht, was es denn eigentlich will, oder die Intensität der Erlebnisse abnimmt und man stets nach neuen, noch intensiveren Erlebnissen suchen muss (vgl. Volkmann 2000a, S. 80f.). Das Erleben an sich ist in der modernen Gesellschaft ein derart zentraler Wert geworden, dass nach Gerhard Schulze die gesamte Sozialstruktur der Gesellschaft neu sortiert wurde. Zum einem setzt sich die Innenorientierung der Individuen mehr und mehr als leitendes Handlungsmotiv durch, woraus Bedürfnisse des Erlebens entstehen, die ein stetig wachsender Erlebnismarkt zu befrieden sucht. Zum anderen verliert nach Schulze die soziale Lage immer mehr an Prägekraft. Ein diversifizierter Arbeitsmarkt und der allgemeine Anstieg des Lebensstandards führten zur weitgehenden Auflösung alter Determinanten der Sozialstruktur, zur Auflösung von Klasse und Schicht. Dabei ist Schulze auch klar, dass soziale Ungleichheiten weiterexistieren und soziale Not eine durchaus verbreitete Tatsache ist (vgl. Schulze 2005, S. IIIf.). Doch die ökonomische Lage hat ihren Einfluss auf die Lage oder die Verortung der Individuen in den gesellschaftlichen Großgruppen verloren. Waren in der Industriegesellschaft die materiellen Lebensbedingungen ausschlaggebend für die Zusammensetzung sozialer Milieus, sind es heutzutage Denk- und Handlungsmuster, psychische Gefühlswelten, welche soziale Milieus konstituieren (vgl. Volkmann 2000a, S. 83). Diese Denk- und Handlungsmuster, oder anders ausgedrückt, diese verschiedenen Stiltypen, sind nach Schulze hoch signifikant von den Faktoren Alter und Bildung abhängig. Alter und Bildung sind für ihn von entscheidender Bedeutung für den Lebensstil beziehungsweise die Alltagsästhetik der Individuen (vgl. Schulze 2005, S. 187ff.). Anhand dieser beiden Variablen kreiert Schulze fünf Milieubeschreibungen: Die beiden ›jüngeren‹ Milieus, die Altersgrenze setzt Schulze beim vierzigsten Lebensjahr an, sind zum einen das ›Unterhaltungsmilieu‹, welches aus jüngeren Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen besteht, und dem ›Selbstverwirklichungsmilieu‹, zu dem alle jüngeren Personen gehören, die mindestens die mittlere Reife erlangt und eine berufsbildende Schule absolviert haben. Die über 40-Jährigen gliedert Schulze in das ›Harmoniemilieu‹, welches die niedrigen Bildungsgrade bis zum Hauptschulabschluss erfasst, das ›Integrationsmilieu‹ mit Personen auf Niveau der mittleren Reife, und das ›Niveaumilieu‹, welches alle Bildungsgrade vom Fachabitur aufwärts beinhaltet (vgl. Schulze 2005, S. 279). Alle fünf Milieus sind geprägt von einem entsprechenden Lebensstil, der die Milieus kennzeichnet und der sich in unterschiedlichen ästhetischen Entscheidung des Alltags manifestiert: Fernsehen, Bücher, Musik, Freizeitgestaltung, Kleidung oder auch Ernährung. Zum einen stellt Schulze also eine starke Korrelation zwischen persönlichen Lebensstil, Alter und Bildung fest, zum anderen aber betont er auch die große Wahlfreiheit der Individuen:

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»Im Vergleich zu früher haben die Menschen mehr Spielraum, Realität so zu inszenieren, wie sie sich diese vorstellen. […] Wurden früher Subjekt und Situation überwiegend durch Vorgaben und soziale Kontrolle zusammengezwungen, so ist in der Gegenwart mehr Selbstbestimmung im Spiel: Wahl, freie Symbolisierung, gewollte Prägung durch eine persönliche Umwelt, die zu immer größeren Teilen von den Handelnden bewußt komponiert wird.« (Schulze 2005, S. 73)

Hier nimmt Schulze genauso wie Beck eine Gegenposition zur Habitustheorie Pierre Bourdieus ein. Auf diese Widersprüche soll im nächsten Abschnitt etwas genauer eingegangen werden, um dann herauszuarbeiten, unter welchen Umständen beide Modelle gewinnbringend für diese Arbeit sind. 2.4.4 Kritik und Nutzen moderner Gesellschafttheorie Schulze stellt sich mit seiner Erlebnisgesellschaft explizit gegen Bourdieu, dessen Werk er als zumindest teilweise überholt betrachtet. Bourdieus Ansatz sei Teil eines vertikalen Paradigmas, welches Stil und Milieuzugehörigkeit von den unterschiedlichen Kapitalarten determiniert sieht. Schulze kritisiert, dass diese Ansicht einer strukturellen Determinierung von Milieus die tatsächlich wirkenden Kräfte in der modernen Gesellschaft übersieht. Insbesondere kritisiert er an der Theorie Bourdieus, dass diese den Aspekt einer Milieubildung wie auch die Frage der Milieuzugehörigkeit durch freie Entscheidung des Individuums – sei es durch Wahl oder Abgrenzung – nicht ausreichende Beachtung entgegenbringt. Milieus beziehungsweise der Lebensstil sind für Schulze wählbar geworden und sind nicht mehr – wie bei Bourdieu – abhängig von Klasse und Schicht. Im Sinne des Rational Choice Ansatzes sieht Schulze die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Milieus als Ausdruck freier Entscheidung des Einzelnen. Zudem stellt er bei Bourdieu eine »Fixierung auf die Distinktionsbedeutung von Stilen« (Schulze 2001, S. 290) fest, die ebenfalls so nicht mehr haltbar sei. Das subjektive Erleben im Zentrum des Handels und Denkens der Individuen führe nämlich auch zu einer Fokussierung auf das eigene Milieu, es kommt zu »einem Rückzug sozialer Kollektive auf sich selbst« (Schulze 2005, S. 520), ohne die Intention der Abgrenzung gegenüber anderen. Man will nicht aufsteigen oder sich abgrenzen, sondern fühlt sich in seinem aus freien Stücken gewählten Milieu wohl. Wie auch Beck sieht Schulze den Einfluss von Klasse und Schicht am Verschwinden, das Individuum aus sozialstrukturellen Zwängen befreit und zur selbstständigen Wahl seines Lebensstils oder Milieus angehalten. Den wirtschaftliche Aufschwung breiter Gesellschaftsschichten beziehungsweise den Fahrstuhleffekt sehen beide als so bedeutend und tiefgreifend an, dass sie beide zum selben Schluss kommen. Klasse und Schicht beeinflussen die Gesellschaft nur noch am Rande, an-

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dere Parameter werden nun als bedeutender erachtet. Der deterministische Einfluss einer Klassengesellschaft ist vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Wohlstandes nur noch von marginaler Bedeutung, die Menschen wurden aus Klasse und Schicht freigesetzt: Das Individuum hat nun die Freiheit der Wahl und ist selbstverantwortlich, auch für seine Position im sozialen Raum, ein fundamentaler Widerspruch zu Bourdieu. Der eher graduelle Unterschied zwischen Beck und Schulze besteht darin, dass bei Beck die Gesellschaft individualisiert wird, das Individuum sich also von der Gesellschaft loslöst. Schulze dagegen sieht das Individuum von materiellen Bedingungen losgelöst, dabei aber in von spezifischen Denk- und Handlungsmuster konstituierenden Milieus vergesellschaftet. In der Tat werden die sozialen Milieus immer vielfältiger und differenzierter, scheinen alte Klassenschranken aufgehoben. Dies ändert meines Erachtens jedoch nichts am Tatbestand, dass weiterhin einschneidende soziale Unterschiede bestehen, Klasse und Schicht immer noch wirksame Prägekräfte der Gesellschaft und des Individuums sind. Kritiker sehen in der Erlebnisgesellschaft von Schulze eine kultursoziologische Analyse, die zwar vorgibt einen gesamtgesellschaftlichen Blick zu haben, in Wahrheit jedoch nur die Lebensrealität eines privilegierten Teiles der Bevölkerung im Auge behält (vgl. Neckel 1995, S. 938). Ähnliches gilt für Beck, der Klasse und Schicht ebenfalls nur noch eine randständige Bedeutung zuerkennt. Für weite Teile der Bevölkerung sind jedoch Klasse und Schicht noch fest verankerte Begriffe beziehungsweise Einflussgrößen. Rainer Geißler und Sonja Weber-Menges konnten in ihrer Studie klar aufzeigen, dass für die große Mehrheit der Gesellschaft Klasse und Schicht, trotz aller unbestrittenen Tendenzen der Pluralisierung, weiterhin zentrale Kategorien der Wahrnehmung bilden und die Menschen die Sozialstruktur als hierarchisch gegliedert wahrnehmen. Diese Wahrnehmung der Menschen nicht ernst zu nehmen, sondern als Relikte eines überkommenen Bewusstseins zu betrachten, würde eine soziologische Analyse fernab der sozialen Realität bedeuten (vgl. Geißler / Weber-Menges 2006, S. 125). Der steigende Einfluss ›horizontaler‹ Faktoren wie beispielsweise das Alter bedeutet nicht einen automatischen Bedeutungsverlust für die klassischen vertikalen Parameter beziehungsweise Schichtfaktoren wie Bildung, Beruf und finanzielle Mittel (vgl. Meyer 2001, S. 263f.). Trotz Pluralisierung und Diversifizierung bleiben auch Klasse und Schicht weiterhin relevante Größen. Diese Größen wirken mittlerweile jedoch mehr aus der Latenz. Ihre Sichtbarkeit lässt nach, nicht aber ihr Einfluss. Die feinen Unterschiede, die Bourdieu feststellte, werden meiner Ansicht nach immer mehr zu verborgen-en Unterschieden. Der Abschied von Klasse und Schicht jedenfalls muss verschoben werden: »Es steht nicht die theoretische Entscheidung für die Erlebnis- oder die Klassengesellschaft an. Viele gute Gründe sprechen dafür, daß erstere lediglich eine modernisierte Form der letzteren ist« (Funke 1997, S. 328). Als Beleg hierfür kann man Schulze selbst heranziehen: Alter und Bildung sind für ihn von entscheidender Bedeutung für den Lebensstil beziehungsweise die All-

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tagsästhetik der Individuen und die Milieus in denen sie sich bewegen. Ein horizontaler Faktor Bildung ist jedoch keine für sich alleinstehende Variable, in der Realität korreliert er natürlich mit vertikalen, materiellen Faktoren wie etwa dem Einkommen. Dementsprechend sind die Milieus Schulzes auch ein Abbild einer hierarchischen-materiellen Gesellschaft, mit einem Oben und einem Unten und unterscheiden sich gar nicht mehr so sehr von der Klasseneinteilung Bourdieus. Nur durch die isolierte Betrachtung des Faktors Bildung gelingt meiner Meinung nach der Kunstgriff, die Milieus als von materiellen Faktoren unbeeinflusste Größe darzustellen: Dementsprechend sind die unterschiedlichen Lebensstile auch Ausdruck vor allem selbstgewählter Entscheidungen und Lebensentwürfe, während bei Bourdieu gerade diese Alltagsästhetik Ausdruck materieller Ungleichheit darstellt. Die zentrale Bedeutung welcher Bildung bei der Vergabe von Status und Einkommen, oder allgemein, für die Verortung des Individuums im gesellschaftlichen Gefüge hat, wird übersehen oder ignoriert. Diese Bedeutung, dass Bildung oder kulturelles Kapital nicht durch spezielle Leistung des Individuums erworben wird, sondern innerhalb der Familie quasi standesgemäß vererbt wird, beschreibt Bourdieu ausführlich in seinem Werk »Die Illusion der Chancengleichheit« (Bourdieu / Passeron 1971). Dass dies auch heute noch so ist, zeigen alle Studien, die sich heute mit Bildung beziehungsweise Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern beschäftigen. Die höchsten Bildungsabschlüsse und die einflussreichsten und bestbezahlten Spitzenpositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Justiz sind sozial hoch selektiv besetzt, das heißt zu großen Teilen von Kindern des Großbürgertums und des gehobenen Bürgertums (vgl. Hartmann 2002). Andersrum verhält es sich naturgemäß bei den Bildungsverlierern, hierzu zählen vor allem Jugendliche aus den unteren Schichten. In kaum einem anderen Land ist Bildung so stark von der sozialen Herkunft abhängig wie in Deutschland (vgl. Allmendinger / Nikolai 2006). Nichtsdestotrotz ist die Erlebnisgesellschaft von Schulze eine Bereicherung. Seine Gesellschaftsanalyse stellt das Subjekt wieder in den Mittelpunkt, wirft ein neues Licht auf eine moderne Gesellschaft, die eben nicht nur vertikal zu vermessen ist. Viele andere Faktoren wirken sich ebenso auf die Individuen aus, die von der traditionellen Sozialstrukturforschung oft übersehen oder vernachlässigt wurden. Es ist Schulze zuzustimmen, dass es auch eine Gesellschaft, eine Realität jenseits sozialer Not gibt, die für die Soziologie nicht minder interessant ist und sein muss (vgl. Schulze 2005, S. XVIIIf.). Für einen Teil der Gesellschaft ist das ›Projekt des schönen Lebens‹ psychische und manifeste Realität, genauso wie für andere Gruppen soziale Not ein bestimmendes Element ist. Die Suche nach dem Glück, die Schulze beschreibt, ist dabei auch deshalb sehr interessant, da das ›Projekt des schönen Lebens‹ auf viele gesellschaftliche Teilgruppen ausstrahlt. Nicht nur diejenigen, die es sich leisten können, sind die alleinigen Glücksritter, auch weniger betuchte Menschen richten sich nach dem Ideal eines subjektiv schönen Lebens, auch wenn sie nicht die Wahlmöglichkeiten haben wie Menschen mit großen finanziellen

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Ressourcen. Ausgeschlossen sind aus diesem Projekt nur diejenigen, die keinerlei Ressourcen haben, die am Rande der Gesellschaft um das Nötigste kämpfen oder sich bereits mangels Perspektive der Lethargie ergeben haben. Inwieweit sich diese Erlebnisorientierung, das Streben nach einem subjektiv glücklichen Leben auf die Sozialisation auswirkt, ist ebenso weitestgehend unerforscht wie die Auswirkungen der Individualisierung. Das diese jedoch Auswirkungen auf die Sozialisationsprozesse haben steht für mich außer Frage. Eine Gesellschaft, die nach Glück und einem subjektiv schönen Leben strebt, bringt auch eine erlebnis- und innenorientierte Sozialisation mit sich – einhergehend mit der ständigen Gefahr einer Überforderung und Desorientierung der Individuen. Die Auswirkungen der Erlebnisgesellschaft auf die Ernährungssozialisation ist offensichtlich, denn in der Erlebnisgesellschaft »dominiert die Bedeutungsebene des Genusses« (Schulze 2005, S. 548). Dies zeigt sich dann auch besonders dort, wo der Genuss seine stärkste und bekannteste Basis hat, dem kulinarischen Genuss. Wie sehr sich die Erlebnisgesellschaft in der Ernährung ausdrückt, wird in vielen Bereichen offensichtlich. Unzählige Kochshows im TV, Kochevents, Erlebnisgastronomie und Genussreisen zeugen vom Erlebnischarakter der Ernährung heutzutage. Ein gutes Beispiel sind hierfür auch die momentan inflationär stattfinden Shows der Sterneköche, in denen Kulinarisches mit Künstlerischem verbunden wird: Das ›teatro‹ des bayerischen Sternekochs Alfons Schubeck, das kulinarische Theater des britischen Starkochs Jamie Oliver oder die Dinner Show Witzigmann & Roncalli Bajazzo, wo die Kochkünste des Drei-Sterne-Kochs Witzigmann auf artistische Zirkuseinlagen treffen. Die Botschaft ist dieselbe: Kochen und Essen sind keine profanen Tätigkeiten, keine bloße Zubereitung und Einverleibung von Nahrungsmitteln – Kochen und Essen sind Genuss, sind Erlebnis, sind Kunst. Bestes Beispiel hierfür ist Ferran Adrià, der wohl bekannteste Vertreter der Molekularküche. Seine Küche bedient sich Methoden aus der Lebensmittelindustrie, mit High-TechMitteln werden Bonbons aus Olivenöl kreiert, Gemüse und Obst wird durch Gefriertrocknung in seine Bestandteile zerlegt. In der Zusammenarbeit mit Künstlern, Wissenschaftlern und Designern wird an neuen Rezepturen gefeilt, die musikalische Begleitung abgestimmt, die Beleuchtung perfekt inszeniert und die Inneneinrichtung angepasst wie bei einem Gesamtkunstwerk. Dass diesem Anliegen mehr als Akzeptanz entgegengebracht wird, zeigt die Tatsache, dass Adrià 2007 zur Kunstaustellung Documenta 12 eingeladen worden war. Doch auch fernab von solchen Events lässt sich die Erlebnisgesellschaft feststellen, die im Gegensatz zur Spaßgesellschaft der 90er Jahre gereifter ist: »Allmählich lernt die Moderne, daß sich eine lebenswerte Alltagskultur mit naturwissenschaftlich-technischem Denken und rein ökonomischer Rationalität nicht erschließen lässt. Denkmuster jenseits der bisher in der Moderne eingeübten Routinen breiten sich aus: Warten statt Beschleunigung; weniger statt mehr; Einzigartigkeit statt Standardisierung; situationsge-

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bundene Variabilität statt naturgesetzlicher Unveränderlichkeit; Produkte, die freie Subjektivität herausfordern, statt sie zu kanalisieren; Konzentration statt Zerstreuung; Projekt statt Kick; Machen statt Konsum; Ankunft statt Steigerung.« (Schulze 2005, S. IX)

Diese von Schulze skizzierten Tendenzen, die sich vor allem im Wandel des Konsums niederschlägt, zeigen sich auch in der Ernährung: Die Genussvereinigung Slow Food propagiert eine Ernährungsweise, die der Gründer und Präsident dieser weltweit mittlerweile 80.000 Mitglieder zählenden Bewegung mit drei Worten einfach und prägnant beschreibt: »Buono, pulito e giusto« so der Titel seines Buches, auf Deutsch »Gut, sauber und fair« (Petrini 2007). Man setzt sich für einzigartige, qualitativ hochwertige und nachhaltig produzierte Produkte ein und will über die Hintergründe der Herstellung Bescheid wissen. Diese hochwertigen Produkte möchte man dann genießen, sich auch Zeit für den Genuss nehmen, und auch Zeit, um öfter selber zu kochen. Eine Ernährungsweise eben, fernab von technischökonomischer Rationalität, eine Ernährungsweise der Erlebnisgesellschaft. Gleichzeitig werden hier aber auch die Grenzen des Konzeptes sichtbar: nur ein Teil der Gesellschaft kann sich diesen Ernährungsstil aneignen, zu dem nicht nur finanzielle Mittel gehören, sondern auch das Wissen darüber sowie eine Empfindungsfähigkeit dafür. Zwar hat diese nachhaltige Ernährungsweise einen gewissen Leitcharakter eingenommen. Es gibt nun auch im Discounter Bio-Produkte, und auch Menschen, die mit ihrem Geld haushalten müssen, versuchen zumindest teilweise nachhaltig oder fair produzierte Produkte zu kaufen. Doch für andere, große Teile der Gesellschaft gelten bezüglich der Ernährung ganz andere Leitbilder, wird der Einkauf vor allem vom Geldbeutel und auch von zeitökonomischen Aspekten beeinflusst. Hier bleibt die Erlebnisgesellschaft für mich ohne Überzeugungskraft.

2.5 Z USAMMENFASSENDES F AZIT Von allen Theorien zur Sozialisation ist das Modell von Parsons sicherlich dasjenige, welches man mit Recht als etwas veraltet bezeichnen kann. Seine Fixierung auf den Erhalt von Systemen und deren Stabilität hat dann eben auch die von Zimmermann kritisierte »anpassungsmechanistische Schlagseite« (Zimmermann 2003, S. 52) zur Folge. Seine Makroperspektive auf die Gesellschaft degradiert das Subjekt zum Stabilisator von Systemen, deren Gleichgewicht durch die Anpassung der subjektiven Bedürfnisse an die Notwendigkeiten der Systeme erhalten bleibt. Mit seiner strukturfunktionalen Theorie lassen sich zwar gut solche Phänomene untersuchen, in denen die gesellschaftlichen Werte, Normen oder eben (Nahrungs-)Tabus in das Individuum inkorporiert werden, gleichzeitig fehlt Parsons Konzept eine kritische Mikroperspektive, die den Menschen als kreativen Gestalter seiner sozialen

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Umwelt betrachtet. Eine Parsons diametral entgegenstehende Theorie stellt der symbolische Interaktionismus dar. Hier steht das Subjekt im Mittelpunkt, welches als aktives, gestaltendes Wesen betrachtet wird, welches in Interaktion mit der sozialen Umwelt Wirklichkeit produziert. Für bestimmte Forschungsfragen ist dieser Theorieansatz sicherlich gewinnbringend, und zwar immer dort, wo nach den subjektiven Motivationen der Individuen gefragt wird. In der Sozialisation der Ernährung kann der symbolische Interaktionismus ein gutes theoretisches Werkzeug darstellen, welches genau dort ansetzt, wo das Subjekt inkorporierte Normen und Werte oder den Habitus in Frage stellt, Dingen wie eben Essen oder Genießen eine neue Bedeutung verliehen wird, das Individuum also als gestaltendes Wesen zu Tage tritt. Ähnlich der Theorie Parsons hat jedoch auch der symbolische Interaktionismus eine ›mikroperspektivische Schlagseite‹: Die Subjektzentrierung dieses Theorieansatzes vernachlässigt den Einfluss gesellschaftlicher Strukturen, welche das Subjekt selbst in der Interaktion konstruiert und welche dann als autonome Strukturen auf das Subjekt selbst wiederum wirken. Nicht nur aus diesem Grund ist die Habitustheorie Bourdieus von zentraler Bedeutung für diese Arbeit. Bourdieu gelingt es, die Lücke zwischen Makro- und Mikroperspektive zu überwinden. Seinen makrotheoretischen Ansatz eines Habitus, der sich durch den sozialen Raum, in dem das Individuum aufwächst, konstituiert, belegt er anhand einer Fülle empirischer Daten, die seine Thesen belegen. Bis ins Detail kann er die klassenstrukturierten Ernährungsvorlieben der jeweiligen Schichten empirisch dokumentieren. Zwar bleibt etwas unklar wie das Individuum aus seinem Habitus Dispositionen ausbrechen kann, doch sind diese für Bourdieu keineswegs determiniert. Doch genau dieser Ausbruch selbst unterliegt ebenfalls den starken gesellschaftlichen Prägekräften, die vom Individuum enorme Anstrengungen fordert um alte Habitusstrukturen zu überwinden, die er nie ganz überwinden kann: »Der gesellschaftliche Raum ist – wie der geographische – im höchstem Maße determinierend; wenn ich sozial aufsteigen möchte, habe ich eine enorme Steigung vor mir, die ich nur mit äußerstem Kraftaufwand erklettern kann; einmal oben, wird mir die Plackerei auch anzusehen sein, und angesichts meiner Verkrampftheit wird es dann heißen:›Der ist doch nicht wirklich distinguiert!‹« (Bourdieu 1992a, S. 37)

Die beiden anderen Theoriekonzepte von Schulze und Beck sind dagegen wie gesagt keine wirklichen Sozialisationstheorien sondern Gesellschaftskonzepte der Moderne, Rahmenbedingungen, welche der Sozialisation vorgeschaltet sind. Diese beiden Gegenwartsdiagnosen sollen die drei Sozialisationstheorien, insbesondere den für diese Arbeit zentralen Ansatz Bourdieus flankieren und eine Analyse der Sozialisationsbedingungen und Umstände in der Zweiten Moderne ermöglichen.

3. Die empirische Erhebung

3.1 M ETHODISCHE Ü BERLEGUNGEN UND U NTERSUCHUNGSZIEL Am Anfang jeder empirischen Untersuchung steht die Frage der Methodik. Glücklicherweise sind die alten Grabenkämpfe zwischen quantitativen und qualitativen Methoden ausgefochten. Die radikal gegensätzliche Positionierung von naturwissenschaftlich orientierten quantitativen Methoden einerseits und einer kritischenqualitativen Sozialforschung andererseits war wenig einträglich für die soziologische Forschung und ist deshalb auch einem nicht mehr ideologischem sondern pragmatischem geprägtem Forschungsverständnis gewichen. Nicht mehr der Forschende und seine ideologische Position, sondern der Forschende und sein Untersuchungsgegenstand bestimmen die Methodik. Es gilt also in der Forschungspraxis eine Methode zu finden, die dem Gegenstand und den Zielen der Untersuchung angemessen sind. Einige Forschungsfelder lassen sich besser mit quantitativen, andere mit qualitativen Methoden bearbeiten, und immer öfter kommt es zur Methoden-Triangulation, da sich die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Kombination durchaus gewinnbringend sein kann (vgl. Seipel / Rieker 2003, S. 252; Kelle / Erzberger 2007). Entscheidend ist, dass sich der Forschende bei der Methodenwahl davon leiten lässt, welche Methode dem Forschungsgegenstand angemessen und bezügliche des Untersuchungszieles die geeignetste ist. Deshalb gilt auch für diese Arbeit, sich zu Beginn der Methodenwahl mit dem Forschungsthema und Forschungsziel genau auseinanderzusetzen. Es ist abzuwägen, ob das Thema eher mit qualitativen oder quantitativen Methoden bearbeitet werden soll oder beide sich ergänzen können. Das Thema dieser Arbeit ist die Sozialisation des Geschmacks, ein bisher wenig belichteter Forschungsgegenstand der Soziologie. Es fehlt zum Teil an einschlägiger soziologischer Literatur, gesammelten Daten und Untersuchungen. Ziel dieser Arbeit kann es deshalb nur sein, den Forschungsstand verschiedenster Fachrichtungen aus soziologischem Blickwinkel wiederzugeben und dabei auch neue Denkan-

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sätze, Hypothesen und Theorien zu entwickeln. Aus diesem Grund erscheint mir eine Entscheidung für einen qualitativen Forschungsansatz für sinnvoll, da hier Erkenntnisse und Ideen in der Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand gewonnen werden und nicht wie bei quantitativen Ansätzen bereits existierende Hypothesen und Theorien geprüft werden (vgl. Rosenthal 2008, S. 13). Mit Hilfe qualitativer Interviews, die zu Beginn der Arbeit geführt werden, soll mir der Einstieg in ein sehr umfassendes Themengebiete erleichtert und erste Anhaltspunkte gewonnen werden. Die Interviews dienen jedoch nicht nur der Sensibilisierung, sondern vor allem auch dazu, komplexe Zusammenhänge zu illustrieren und verständlich zu machen. Zitate und Beispiele aus den Interviews sollen deshalb nicht als Belege am Einzelfall missverstanden werden, sondern als Mittel um oftmals abstrakte Zusammenhänge und Wirkungsweisen anschaulich zu verdeutlichen. Das Untersuchungsziel dieser Arbeit ist die Bildung einer Theorie der Sozialisation der Ernährung, welche die Schnittmenge von Sozialisationstheorie und Ernährungssoziologie umfassend darstellt und in ihrer Bedeutung einordnet. Die verschiedenen Phasen der Ernährungssozialisation sollen genauso untersucht werden wie auch die verschiedenen Rahmenbedingungen unter denen Sozialisation und Ernährung in der modernen Gesellschaft stattfindet. Der Untersuchungsgegenstand der Arbeit ist also sehr breit gefasst, da alle Facetten und Bereiche von Sozialisation und Ernährung erfasst und bewertet werden sollen. Gerade in einer Gesellschaft, die von Pluralisierung, Individualisierung und Differenzierung gekennzeichnet ist, wandeln sich auch die Werte und Rahmenbedingungen, unter denen Sozialisation stattfindet. Um diesen Wandel im Ernährungsalltag der Menschen nachvollziehen zu können, bieten sich insbesondere biographische Interviews an. Sie eignen sich besonders gut, um herauszufinden, wie sich Sozialisationsprozesse und veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Alltag und Lebenswelt der Menschen manifestieren und auswirken. Aufgabe der Interviews in dieser Arbeit ist es also, komplexe Zusammenhänge, Wandlungen und Motive am konkreten Einzelfall verständlich zu machen. Theorien und Hypothesen sollen damit entwickelt und Umstände, Probleme, Widersprüche einer Ernährungssozialisation in der Moderne illustriert werden. Auf die theoretische Fundierung, Grundannahmen und Vorteile qualitativer Sozialforschung soll nun im Folgenden eingegangen werden.

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3.2 Z UR V IELFALT

THEORETISCHER ANSÄTZE IN DER QUALITATIVEN F ORSCHUNG

Einen Überblick über Theorien und Methoden qualitativer Forschung zu geben ist ein mehr als schwieriges Unterfangen. Denn in den verschiedenen Fächern, wie beispielsweise Soziologie, Pädagogik, Psychologie oder den Wirtschaftswissenschaften haben sich eine Vielzahl verschiedenster Positionen, Ansätze und Abwandlungen herausgebildet, die sich in ihrem Forschungsverständnis und der Methodik voneinander unterscheiden – Phänomenologie, Ethnomethodologie, Symbolischer Interaktionismus, Konstruktivismus oder Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, um einige der Bedeutendsten zu nennen. Manche Kritiker wie der Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler sehen diese Vielfalt als Ausdruck wissenschaftlicher Eitelkeit und Abgehobenheit, welche einfaches soziologisches Handwerk zu elitären Künsten erhebt: »Die geheimbündlerische Tradition scheint ungebrochen zu sein, bis heute, und zwar von Autoren, die mich an alte Magier erinnern und sich selbst in geheimnisvoller Weise als ›Phänomenologen‹, ›Ethnomethodologen‹, ›symbolische Interaktionisten‹, ›objektive Hermeneutiker‹ oder sonstwie bezeichnen« (Girtler 2001, S. 28). Wer sich durch die reiche Auswahl an Fachliteratur arbeitet, kann seiner Forderung nach einer kritischen Forschung, die jedoch frei von »terminologischen und philosophischen Ballast« (Girtler 2001, S. 30) ist, durchaus Sympathie entgegenbringen. Allerdings verdeckt die Polemik Girtlers auch, dass hinter diesen verschiedenen Theorieansätzen durchaus gewichtige inhaltliche Differenzen und damit korrespondierend auch unterschiedliche Forschungsmethoden stecken, die nicht einfach durch den Hinweis auf die namentliche Abstraktheit dieser Theorieansätze und deren eventuell zu komplizierte wissenschaftliche Darbietung ignoriert werden können. Uwe Flick zählt in seinem Standardwerk »Qualitative Sozialforschung« (Flick 2007a) drei grundsätzliche theoretische Denkschulen zu den in den letzen Jahren die Diskussion in der qualitativen Wissenschaft dominierenden, den symbolischen Interaktionismus, die Ethnomethodologie und strukturalistische Modelle (vgl. Schimank / Volkmann 2000, S. 81)1. Bei allen theoretischen Differenzen und methodischen Unterschieden zwischen diesen drei qualitativen Theorieansätzen, einen sie die gemeinsamen Grundannahmen qualitativer Forschung, welche im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.

1

Eine ausführliche Zusammenfassung der wichtigsten Theorien qualitativer Forschung findet sich im Handbuch »Qualitative Forschung« (Flick / von Kardorff / Steinke 2007) auf den Seiten 109–175.

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3.3 G RUNDANNAHMEN 3.3.1

QUALITATIVER

F ORSCHUNG

Erkenntnis durch Verstehen des Subjekts

Wie schon im Absatz 3.1 erwähnt, geht es in der qualitativen Sozialforschung überwiegend nicht darum, bereits bestehende Hypothesen im Felde zu prüfen, sondern die Hypothesen im Feld, während des Forschungsprozesses und am Forschungsgegenstand herauszuarbeiten. Zur qualitativen Forschung gehört also eine gewisse Offenheit für neue Erkenntnisse, auch eine Offenheit bezüglich der Forschungsmethoden, die dem Forschungsgegenstand angemessen sein sollten und gegenüber dem Forschungsgegenstand selbst, also den sozialen Akteuren. Diese Offenheit trägt auch implizit eine weitere zentrale Grundannahme jeder qualitativen Forschung in sich, nämlich das Prinzip, Erkenntnis aus dem Verstehen zu gewinnen (vgl. Flick 2007a, S. 95). Das bedeutet, dass der Untersuchungsgegenstand von innen heraus verstanden werden soll, das Subjekt steht im Mittelpunkt der Forschung, wie es auch Philipp Mayring im ersten seiner fünf Postulate qualitativen Denkens festhält: »Gegenstand humanwissenschaftlicher Forschung sind immer Menschen, Subjekte. Die von der Forschungsfrage betroffenen Subjekte müssen Ausgangspunkt und Ziel der Untersuchung sein« (Mayring 2002, S. 20). Sinn und Zweck qualitativer Forschung ist also nicht das Vermessen, sondern das Verstehen des Subjekts. Aus dieser theoretischen Position des »Verstehens als Erkenntnisgewinn« (Flick 2007a, S. 95) resultiert auch die Annahme einer ›konstruierten Wirklichkeit‹, das heißt, man geht davon aus, dass Wirklichkeit keine objektive, natürliche Konstante ist, sondern Individuen Wirklichkeit selbst herstellen. Diese Wirklichkeit entsteht zum einem durch die subjektive Sinngebung und Deutungsweise der handelnden Individuen, als auch für die dem Individuum nicht präsenten latenten Sinnstrukturen (vgl. Rosenthal 2008, S. 19). Ob das Augenmerk dabei mehr auf die subjektive Deutung oder den latenten Sinn gerichtet ist, hängt von der theoretischen Ausrichtung ab, gemeinsam bleibt allen qualitativen Ansätzen die zentrale Erkenntnis einer Wirklichkeit als Folge konstruktiver Prozesse. 3.3.2

Rekonstruktion am Einzelfall – Rekonstruktion von Prozessen

Ein weiteres gemeinsames Merkmal qualitativer Sozialforschung ist die Rekonstruktion am Einzelfall. Wenn der zentrale Ansatz qualitativer Forschung das Begreifen und Verstehen des Subjekts ist, folgt daraus auch, dass anfänglich konkret der subjektive Einzelfall analysiert wird, bevor man diesen mit anderen Fällen vergleicht (vgl. Flick 2007a, S. 96). Es gilt nach dem Induktionsprinzip die ganze

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Komplexität eines Falles, mitsamt den lebensgeschichtlichen Kontexten zu betrachten, um so zu einem Verstehen von Wirkungszusammenhängen zu gelangen. Dadurch erhält man die Möglichkeit, nicht nur Zustände zu beschreiben, wie sie sind, sondern gerade den prozesshaften Charakter sozialer Tatbestände nachvollziehen zu können. An der intensiven Auseinandersetzung mit einem Einzelfall in seiner ganzen Komplexität wird es ermöglicht, Veränderungen und Zusammenhänge festzustellen, und gleichzeitig auch in ihrem Ergebnis erklären zu können. Nach Abschluss der Einzelfallanalyse kann dazu übergegangen werden, andere Fälle vergleichend hinzuzuziehen um unterschiedliche Muster von Wirkungszusammenhängen zu entdecken (vgl. Rosenthal 2008, S. 22f.). 3.3.3

Differenzierte Betrachtung subjektiver Wirklichkeit und latenter Strukturen

Rekonstruierte Einzelfälle tragen immer verschiedene Lesearten von Wirklichkeit in sich. Jedes Subjekt konstruiert eine eigene Wirklichkeit, bietet Ausschnitte aus ihrer selbsterlebten Wirklichkeit und schreibt ihnen subjektive Bedeutungen zu, die geprägt sind von der Sozialisation in der gesellschaftlichen Umgebung. Dieses verinnerlichte Wissen, welches das Individuum in sich trägt, aber auch psychisch Verdrängtes und Unbewusstes, geltende oder ehemals gegoltene Ideologien, Religionen und Mythen sind dem Subjekt selbst nicht in allen Situation und in allem Umfang klar und damit auch nicht Teil seines bewussten Handelns oder Redens (vgl. Rosenthal 2008, S. 19f.). In einer qualitativen Sozialforschung kommt es deshalb darauf an, zwischen der vom Subjekt konstruierten Wirklichkeit und den dahinter stehenden latenten Strukturen zu differenzieren. Von der theoretischen Position des Wissenschaftlers hängt es dann ab, ob man eher die konstruierte Wirklichkeit des Subjekts oder die objektiven Sinnstrukturen dahinter in den Focus seiner Forschung stellt. Oft ist es sehr sinnvoll, sich nicht nur auf eine Sichtweise von Wirklichkeit zu konzentrieren, sondern objektive und subjektiv konstruierte Realität zu analysieren und zu vergleichen, um ein tiefergehendes Verständnis zu ermöglichen. In der Forschungsrealität hängt es aber auch stark von Fragestellung und Forschungsziel ab, ob solch ein vergleichender Analyseschritt nötig ist: »Er ist dann wichtig, wenn es für die für die Forschungsfragestellung von besonderem Belang ist, ob und inwieweit die Eigentheorie des Erzählers von der identifizierten Erfahrungsaufschichtung im Ereignisverlauf und der rekonstruierten ›Prozessstruktur‹ abweicht, welche Ursachen dies hat und welche Selbstdeutung der Erzähler über seine Entwicklung entwickelt hat.« (Küsters 2006, S. 82)

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Dies ist ganz besonders dann der Fall, wenn Biographien oder Lebensgeschichten im Forschungsinteresse stehen. Denn hier versteht sich das Individuum als planender, gestaltender Akteur seines Lebens, mit einer ihm eigenen Identität, die er trotz aller strukturellen Außeneinflüsse als selbstgestaltet erlebt (vgl. Alheit / Dausien 2000, S. 274). Erlebnisse und Erfahrungen werden gedeutet und in Zusammenhänge gebracht, Entwicklungen im Leben werden erklärt, entschuldigt, oder verklärt, man präsentiert seine Biographie so, wie man sie selbst erlebt, gedeutet und verstanden hat. So entsteht bei den Befragten also eine biographische Darstellung in der subjektive mit objektiven Strukturen vermengt und als individuelles Konstrukt wiederhergestellt werden. Eine solche biographische Darstellung wäre dann nur unvollständig: »Diese Konstruktionen gehen zweifellos über das hinaus, was wir von unserem Leben erzählen können. Sie sind zunächst versteckte Referenzen an die strukturellen Bedingungen, die uns aufgegeben sind. Bourdieu hat diese Tatsache mit dem Habituskonzept [Hervorhebung im Original] überzeugend belegt.« (Alheit / Dausien 2000, S. 276)

Die strukturellen Rahmenbedingungen werden vom Individuum dabei quasi einverleibt und müssen im Forschungsprozess als solche objektiven Strukturen wieder freigelegt werden um zu einem tieferen Verständnis des Forschungsgegenstandes zu gelangen.

3.4 D AS

NARRATIVE I NTERVIEW NACH

S CHÜTZE

3.4.1 Methodologischer Hintergrund Das narrative Interview wurde im deutschsprachigen Raum vor allem durch die Forschungsarbeiten Fritz Schützes etabliert. Basierend auf den Annahmen des symbolischen Interaktionismus ging Schütze davon aus, dass gesellschaftliche Wirklichkeit in interaktiven Prozessen der Subjekte stets aufs Neue ausgehandelt wird und es einer neuen Forschungsmethodik bedarf um die subjektiven Sicht und Handlungsweisen der Individuen wirklich verstehen zu können. Kritisch befand Schütze deshalb standardisierte Befragungen aber auch offene Leitfadeninterviews, da bei diesen Verfahren der Einfluss des Interviewers zu groß ist, um die subjektive Sicht des Interviewten wirklich zu erfassen. Schütze erarbeitet daraufhin eine Interviewform, die den Einfluss des Forschers minimieren sollte und dem Befragten Raum gibt, seine subjektiv erlebte Geschichte erzählen zu können. Durch Interviews in Form von Erzählungen des Befragten soll so ein Zugang zu erlebten Erfahrungen gewonnen werden, ohne diese Erfahrungen durch Einflüsse und lenkende Fragen

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des Forschers zu manipulieren. Für Schütze ist das narrative Interview eines »derjenigen Erhebungs- und Analyseverfahren, welche die Erfahrungs- und Orientierungsbestände des Informanten bei weitgehender Zurücknahme des Forschereinflusses […] unter den Relevanzgesichtspunkten des Informanten möglichst immanent zu rekonstruieren versucht« (Schütze 1977, S. 51). Schütze setzte diese Interviewform erstmals in den 70er Jahren ein, um in einem Forschungsprojekt über Machtstrukturen in Gemeinden und kommunalen Verwaltungen tiefere Erkenntnis zu gewinnen (vgl. Schütze 1977). Mit seiner Erzähltheorie leistete er damals einen wichtigen Beitrag in der Methodendiskussion und schuf die Grundlagen für eine biographische-narrative Forschungsmethodik, wie sie heute oft verwendet wird. Sie soll im Folgenden in ihren Grundannahmen vorgestellt werden. 3.4.1.1 Interviewverlauf Die Eröffnungsfrage in der Interviewführung ist bei Schütze von zentraler Bedeutung, denn sie sollte nach Schütze die einzige Einflussnahme des Interviewers vor der Erzählung des zu Befragenden sein. Ein Interview sollte demnach mit einer Erzählaufforderung beginnen, deren Aufgabe es ist, den Interviewten zu einer Erzählung anzuregen. Je nach Forschungsinteresse kann diese breiter oder spezifischer formuliert werden, auf die gesamte Lebensgeschichte des Befragten ausgerichtet sein, oder nur auf biographische Ausschnitte. Wichtig dabei ist, dass es sich bei der Eingangsfrage auch wirklich um eine Erzählaufforderung handelt, die den Befragten und dessen Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellt und diesen zu einer Stegreiferzählung animiert. Der Befragte soll demnach seine erlebten Erfahrungen narrativ reproduzieren und somit dem Forscher Zugang zu subjektiven Erfahrungswelten ermöglichen, und nicht durch den Fragenden gelenkt werden: »Der Verlauf von Erzählungen wird in ad-hoc-Entscheidungen durch Orientierung am roten Faden einer zusammenhängenden Ereigniskette und nicht durch eine formale Erzählfolie mit relativ geschlossenem Zukunftshorizont aufgebaut« (Schütze 1977, S. 11). Die Haupterzählung des Befragten soll dann nicht durch den Interviewer beeinflusst werden, vielmehr hat dieser die Aufgabe, dem Befragten zu vermitteln, dass er ein interessierter Zuhörer ist, sich in die erzählte Geschichte und Perspektive des Erzählenden hineinversetzt um dadurch zur Fortführung der Erzählung bis zu ihrem Abschluss zu animieren. Nach der Haupterzählung schließt sich nun ein Nachfrageteil an, in dem unklar gebliebene Episoden durch erneute erzählungsgenerierende Nachfragen zu klären sind. Zum Abschluss, in der Bilanzierungsphase, können dann auch Fragen gestellt werden, die nicht narrativer Art sind, sondern eher auf Beschreibung und Argumentation ausgelegt sind. Von zentraler Bedeutung für die Validität der Information ist jedoch, dass es sich im Hauptteil des Interviews auch wirklich um eine Erzählung handelt, da es nach Schütze nur in der Form der Erzählung zu einer Darstellung von Lebensgeschichte kommen kann, wie sie vom Sub-

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jekt auch wirklich erlebt wurde (vgl. Flick 2007a, S. 228ff.). Begründet wird dies von Schütze vor allem mit Zugzwängen, denen der Interviewte während einer Erzählung unterliegt. 3.4.1.2 Die Zugzwänge in der Erzählung Für Schütze ist die Erzählung, insbesondere die Stegreiferzählung, eine Kommunikationsart, die den Erzähler dazu zwingt, die erlebte Geschichte plausibel und vor allem in ihren relevanten Punkten zu erzählen und eine Stringenz zu entwickeln, welche dem Zuhörer ein Verständnis erst ermöglicht. So ist es in einer Ad-hocErzählung für den Erzähler kaum möglich, wichtige Punkte des Erlebten wegzulassen oder zu verbergen, ohne dabei unverständlich zu werden (vgl. Küsters 2006, S. 27). Dass dies so ist, erklärt Schütze mit den »Strukturierungszwängen« des Erzählers beziehungsweise den »Zugzwängen der Sachverhaltsdarstellung«, denen man insbesondere in der Erzählung unterliegt. Den ersten Zwang nennt Schütze ›Detaillierungszwang‹, welcher dazu führt, dass sich der Erzählende an die tatsächliche Abfolge der erlebten Ereignisse hält und schlüssig von einem Ereignis zum nächsten überleiten muss, mit allen Details die nötig sind, um ein Verständnis des Erzählten zu gewährleisten. Der ›Gestaltschließungszwang‹ sorgt dafür, dass der Erzähler seine Erzählung im Ganzen, aber auch in den einzelnen Teilelementen der Erzählung zu Ende erzählt. Der ›Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang‹ führt letztendlich dazu, dass sich der Erzähler genötigt sieht, vor allem das zu erzählen, was für die zu erzählende Geschichte von Bedeutung ist. Einzelne Ereignisse und Situationen werden während der Erzählung fortlaufend bewertet und hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für den Gesamtverlauf als wichtig bewertet und erzählt oder eben nicht (vgl. Kallmeyer / Schütze 1977, S. 187ff.). Durch eben diese Zwänge wird in einer Stegreiferzählung, die insbesondere durch ihre Spontanität gekennzeichnet ist, von Ereignissen berichtet, die der Erzähler sonst lieber weggelassen oder verbergen würde: »Der Erzähler von unvorbereiteten Stegreif-Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen ist getrieben, auch über Ereignisse und Handlungsorientierungen zu sprechen, über die er aus Schuldbzw. Schambewußtsein oder aufgrund seiner Interessensverflechtung in normalen Gesprächen und konventionellen Interviews vorzieht zu schweigen.« (Schütze 1976, S. 225)

Ein weiteres wichtiges Argument für ein narratives Interview ist dabei auch die Tatsache, dass Menschen im Erzählen mehr Wissen darstellen und zum Ausdruck bringen, als bei einer abstrakten Befragung: »Dieses Wissen ist den Informanten auf der Ebene der erzählerischen Darstellung verfügbar, nicht aber auf der Ebene von Theorien« (Hermanns 1991, S. 185).

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3.4.2 Zu Kritik und Nutzen des narrativen Interviews Die Einführung und Etablierung des narrativen Interviews durch Schütze war ein bedeutender Schritt für die qualitative Sozialforschung in Deutschland, da sie insbesondere in der Biographieforschung sehr fruchtbar war. Die heutige Lebenslaufund Biographieforschung, die das Subjekt und dessen erlebte Geschichte in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellt, wäre ohne die Pionierarbeit Schützes kaum vorstellbar. Subjektive Sichtweisen können so erfasst und analysiert werden, dem Interviewpartner wird Raum und Zeit gegeben, seine ihm eigene Geschichte zu rekonstruieren und Einflüsse durch den Forscher durch strukturierte Vorgaben und Fragen zu vermeiden (vgl. Flick 2007a, S. 236). Das in den Mittelpunkt Stellen des Subjekts, bei gleichzeitigem Vermeiden von Vorgaben und Einflussnahmen, ermöglicht eine freie Akzentsetzung des Befragten, der nun selbst entscheidet, was für ihn in welchem Umfang von Bedeutung war und ist. Deshalb ist das narrative Interview insbesondere für die Theorie- und Hypothesenentwicklung geeignet. (vgl. Flick 2007a, S. 237). Vor allem auch bei Fragestellungen, die sich mit der Analyse von (Lebens-)Verläufen und prozesshaften Sicht- und Handlungsweisen beschäftigen, kann das narrative Interview diese sich veränderten Strukturen offenlegen und wertvolle Dienste leisten. Dieser Verzicht auf zu viele Strukturvorgaben, die Offenheit der Methode, ist dabei jedoch auch problematisch. Bei der Ausführung narrativer Interviews kommt es oft zu einer Überforderung des Interviewten. Die Offenheit des Verfahrens führt zur Verunsicherung des Befragten, da dieser nicht wie im klassischen Sinne befragt wird und es zu einer »systematischen Verletzung der Rollenerwartungen« (Flick 2007a, S. 234) kommt. Methodisch kritisiert2 wird das narrative Interview nach Schütze insbesondere für den Analogieschluss von erzählter und erfahrener Geschichte. Der heutige Erzähler verfügt über ein ganz anderes Interpretationsspektrum als zu der Zeit, da er die Geschichte, die er erzählt, erlebt hat und sie dementsprechend reflektiert aus einem anderen Blickwinkel als damals betrachtet: »Es stellt sich also die Frage, ob die heutige Erzählung die vergangene Erfahrungskonstitution überhaupt reproduzieren kann oder ob sie nur den heutigen, veränderten Blick auf die Vergangenheit wiedergibt« (Küsters 2006, S. 34). Schütze argumentiert, dass man zwischen früher erlebter und heutiger, reflektierter Erinnerung unterscheiden kann und deshalb auch die Sicht des früher Handelnden in der im heute stattfindenden Erzählung rekonstruieren kann (vgl. Schütze 1987, S. 27). In der modernen Biographieforschung wird jedoch davon ausgegan-

2

Einen guten Überblick über die Kritik und Diskussion in den 80er Jahren an und über das narrative Verfahren findet sich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie in den Aufsätzen von Uta Gerhard (Gerhardt 1985) und Heinz Bude (Bude 1985).

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gen, dass dies nicht immer der Fall ist. Gabriele Rosenthal geht davon aus, dass moderne Methoden nicht nur die Gegenwartsperspektive der befragten Person offenlegen müssen, sondern auch einen Einblick in das damalige Erleben, eine Nachvollziehbarkeit von vergangenen Handlungsabläufen ermöglichen. Dabei wird der Ansatz Schützes erweitert und mit dem strukturtheoretischen Ansatz der objektiven Hermeneutik zum biographisch-narrativen Interview verbunden: »Es ist vor allem dem Anliegen geschuldet, in analytisch getrennten Auswertungsschritten sowohl die Gegenwartsperspektive als auch die Perspektiven des Handelnden in der Vergangenheit zu rekonstruieren« (Rosenthal 2008, S. 173). Vor dem Hintergrund dieser Arbeit betrachtet, wurde schon im Rahmen der ersten Pretests klar, dass eine rein narrative Interviewführung für das Themengebiet Ernährungssozialisation nicht zielführend sein kann. Vorweggreifend kann gesagt werden, dass sich die Thematik der Ernährung als zu banal und alltäglich erwies, um Erzählungen zu generieren. Das offene Verfahren eines narrativen Interviews in Kombination mit der Alltagserfahrung Ernährung überforderte die Befragten, die nicht wussten, was sie über eine alltägliche Routine wie das Essen denn erzählen sollten (vgl. Absatz 4.1). Die ersten empirischen Erfahrungen machten deutlich, dass ein narrativer Zugang allein nicht ausreicht, um die routinierte, normale Alltagserfahrung Ernährung zu erfassen. Ein Verfahren, welches dazu geeigneter ist, nämlich das episodische Interview nach Flick, soll deshalb den narrativen Ansatz ergänzen.

3.5 D AS

EPISODISCHE I NTERVIEW NACH

F LICK

3.5.1 Methodologischer Hintergrund Das episodische Interview ist eine Interviewform, die versucht, die Vorteile einer narrativen Befragung mit denen von Leitfadeninterviews zu verbinden. Flick geht davon aus, dass das Individuum Erfahrungen in zwei Arten von Wissen abspeichert und erinnert. Zum einem narrativ-episodisches Wissen, zum anderen semantisches Wissen. Das narrativ-episodische Wissen basiert auf konkretem Erfahren und Situationen sowie deren Ablauf. Das semantische Wissen dagegen bezieht sich auf abstrakte Gedanken und Annahmen, Begriffe und deren Bedeutung für das Subjekt: Flick bezieht sich dabei auf die kognitionspsychologische Gedächtnisforschung und der Definition von Semantik nach Endel Tulving: »Semantic memory is the memory necessary for the use of language. It is a mental thesaurus, organized knowledge a person possesses about words and other verbal symbols, their meaning and referents, about relations among them, and about rules, formulas, and algorithms for the manipulation of these symbols, concepts, and relations.« (Tulving / Donaldson 1972, S. 386)

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Für Flick sind Erzählungen besonders wertvoll zur Hervorlockung und zum Verstehen von Entstehungsgeschichten von Erfahrungen. Allerdings geht er davon aus, dass sich auch eine große Zahl von allgemeinen alltäglichen Erfahrungen, die von ihrem Kontext stark abstrahiert sind, herausbilden und sich im semantischen Wissen manifestieren. In diesem semantischem Wissen bildet sich »das Normale, Regelhafte, Routinisierte und damit das über eine Vielzahl von Situationen und Erfahrungen hinweg Verallgemeinerte ab, das dann im narrativen Wissen seine episodische Konkretisierung und Ausfüllung findet« (Flick 1996a, S. 147). Flick versucht mit dem episodischen Interview ein Instrument zu schaffen, um beide Wissensbestandteile abzufragen und zu analysieren: Abbildung 4: Wissensformen im episodischen Interview

Quelle: Flick 2007a, S. 240

Genutzt wird zum einem die Darstellungsform der Erzählung, welche kontextbezogene Darstellungen ermöglicht, dem Subjekt Raum lässt für die Erzählung seiner subjektiven Erlebnisse. Dabei wird jedoch unterlassen, Erfahrungen zu einem »erzählbaren Ganzen« (Flick 2007a, S. 239) zu formen, genauso wie darauf verzichtet werden soll, den Erzähler unter Zugzwänge zu setzen. Neben diesem narrativen Teil des Interviews setzt Flick zum anderen aber auch auf gezielte Nachfragen, die dem Interviewten Struktur und Sicherheit geben sollen. Vor allem abstrakte Zu-

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sammenhänge sowie subjektive Bedeutungen und Definitionen, also das semantische Wissen des Interviewten soll damit abgefragt und ein Vergleich dieses Wissens ermöglicht werden. »Ziel des episodischen Interviews ist, bereichsbezogen zu ermöglichen, Erfahrungen in allgemeinerer, vergleichender etc. Form darzustellen, und gleichzeitig, die entsprechenden Situationen und Episoden zu erzählen« (Flick 2007a, S. 239). Durch die gezielten Fragen ist es in dieser Interviewform auch besser möglich, das Interview auf die Fragestellung des Forschers auszurichten und eben die Lebensabschnitte beziehungsweise Episoden abzufragen, die von Interesse sind. Ob der Interviewte erzählt oder beschreibt, auf welche Situationen er eingeht oder nicht, bleibt dabei ihm selbst überlassen. Dadurch soll die für Flick »einseitige und künstliche Situation« in narrativen Interviews vermieden werden, und zudem eben auch einen Zugriff auf das semantische Wissen des Interviewpartners ermöglichen. Im Interview selbst soll der Interviewer regelmäßig, nicht nur zu Beginn, zum Erzählen von relevanten Episoden im Leben des Befragten auffordern. Diese Erzählaufforderungen werden ähnlich einem Leitfaden konstruiert, mit dem man dann alle für das Forschungsvorhaben relevanten thematischen Bereiche abdeckt. Neben den Erzählaufforderungen kommen aber immer wieder Fragen nach subjektiven Bedeutungen und Definition zum Tragen. Flick selbst nutzte das episodische Interview zur Erforschung des technischen Wandels im Alltag (Flick 1996a). Eine Frage zum semantischen Wissen war hier beispielsweise: »Was verbinden sie heute mit dem Wort ›Computer‹«? In dieser Arbeit wäre die dem entsprechende Frage: »Welche Bedeutung hat für sie Ernährung«? Damit wird versucht das semantische Wissen, verstanden als »Begriffs- und Regelwissen« oder schlicht »Alltagswissen« (Flick 1996a, S. 147,150), zu erschließen. Dadurch ist allerdings auch klar, dass im Gegensatz zum narrativen Interview nach Schütze nicht nur narrative Daten erhoben werden, sondern auch beschreibende oder argumentative Daten. Flick kategorisiert diese Daten im episodischen Interview wie folgt:

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Abbildung 5: Datensorten im episodischen Interview

Quelle: Flick 2004, S.38

Unter Repisoden versteht Flick regelmäßig wiederkehrende Situationen, Alltagserlebnisse, die keinen spezifisch räumlich-zeitlichen Bezug mehr haben. Stereotype dagegen meint von konkreten Situationen abstrahierte Beispiele, Klischees bis hin eben zu Stereotypen, zu häufig vorkommenden Mustern. Argumentative Aussagen sind beispielsweise Erläuterungen von Begriffen, eng damit verbunden sind subjektive Definitionen von Begriffen. Für Flick sind diese Wechsel der Datensorte im Gegensatz zu Schütze nicht mit Zweifeln an der Validität der Daten verbunden: »Im episodischen Interview sind Wechsel zwischen Erzählung eigenerlebter Situationen und allgemeineren Beispielen und Illustrationen, wenn sie – trotz Aufforderung zur Erzählung von Situationen – erfolgen, nicht als Verlust an Authentizität oder Validität [wie im narrativen Interview], sondern als zusätzliche Abrundung der Vielfalt der Datensorten […] zu sehen.« (Flick 1996a, S. 155)

3.5.2 Zu Kritik und Nutzen des episodischen Interviews Problematisch am episodischen Interview ist wie auch beim narrativen Interview, die Abhängigkeit von der Erzählkompetenz beziehungsweise Erzählfreudigkeit des Interviewten. Allerdings ist diese Interviewform durch die konkreten Nachfragen deutlich strukturierter als rein narrative Interviews, so dass dem Interviewten Struktur und Halt gegeben werden kann und auch die Rollenerwartung von Fragendem und Befragtem besser erfüllt wird. Der Befragte erhält mehr Raum, um seine Geschichten ohne Zugzwänge zu erzählen, zu beschreiben oder auch argumentativ darzulegen. Gleichzeitig bieten die Nachfragen auch eine Stütze in Gesprächspha-

68 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

sen, in denen der Interviewte unsicher und unschlüssig ist. Ein weiterer Vorteil ist, dass durch das gezielte Nachfragen eine gezieltere Erforschung der interessierenden Themenbereiche möglich ist. Zudem ermöglicht dies einen Zugriff auf Wissensbestandteile, die bei narrativen Interviews verborgen bleiben. In Erzählungen zentriert sich der Interviewte eher auf das Spezielle, Besondere (vgl. Bruner 1990, S. 47–50). Routine und Alltäglichkeiten werden kaum erfasst, da sie dem Erzähler gar nicht so im Bewusstsein sind, beziehungsweise so selbstverständlich sind, dass eine Erzählung darüber gar nicht in Betracht gezogen wird. Durch das konkrete Befragen kann im episodischen Interview dieses Alltagswissen abgefragt, analysiert und verglichen werden: »Das Verfahren wurde als Zugang zu sozialen Repräsentation entwickelt, weshalb die Fragestellung sich [bislang vor allem] auf die gruppenspezifischen Unterschiedlichkeiten von Erfahrensweisen und Alltagswissen richten« (Flick 2007a, S. 245). Dies ist der große Vorzug eines episodischen Interviews, die Einsatzfähigkeit als Instrument zur Erhebung und Analyse alltäglicher Routinen und alltäglichen Wissens. Gleichzeitig begrenzt dieser Vorteil den Einsatz des episodischen Interviews auf eben dieses Alltagswissen. Ähnlich wie andere Interviewverfahren erschließt es keinen Zugang zu Interaktionen und Handlungen in konkreten Situationen, sondern gewährt nur eine rekonstruierte Sicht des subjektiv Beteiligten und dessen Erfahrungen (vgl. Flick 2007a, S. 245). Ob das episodische Interview Verwendung findet oder nicht, hängt also sehr stark von der Fragestellung des Forschers ab.

4. Methodische Konzeption

4.1 F RAGESTELLUNG UND F ORSCHUNGSDESIGN Wie schon mehrfach betont, hängt die Wahl der Methode vom zu untersuchenden Gegenstand ab. Die Zielsetzung einer Studie, die Fragestellung sowie die vorhandenen Ressourcen entscheiden darüber, mit welchen Methoden gearbeitet werden kann, kurzum, die Methode muss dem Forschungsgegenstand angemessen sein. In dieser Studie sind es gleich zwei zentrale Leitfragen, an denen sich die Methodik messen muss. Ein Schwerpunkt in der Fragestellung liegt in der Sozialisation und interessiert sich daher für Lebensläufe, biographische Entwicklung und damit einhergehenden prozesshaften Veränderungen. Der zweite Forschungsschwerpunkt befasst sich mit dem Themenkomplex Geschmack und Ernährung und deren bestimmenden Faktoren. Dieser Bereich ist vor allem durch die Schwierigkeit gekennzeichnet, dass jeder Mensch sich täglich ernähren muss und Geschmack und Ernährung deshalb etwas Alltägliches darstellt, Routine des Lebens, die vom Subjekt selten bewusst verrichtet und reflektiert wird. Zu Beginn der Studie, bei der Ausarbeitung des Forschungsdesigns wurde davon ausgegangen, dass zur Erforschung von Sozialisationsprozessen narrativbiographische Interviews die geeignetste Methode seien, da diese lebensgeschichtliche Prozesse, Veränderungen aber auch Stagnation erfassen kann. Dabei wurde jedoch der zweite Forschungsstrang zu sehr außer Acht gelassen und in seiner Eigenart unterschätzt. Schon sehr früh, in den ersten Pretests, zeigten sich die Grenzen des narrativen Interviews in diesem Themengebiet sehr deutlich. Die Interviewten waren mit der Interviewsituation völlig überfordert. Dies ist zum einem der Offenheit narrativer Interviews geschuldet, welche die Frage-Antwort Situation eines klassischen Interviews unterläuft (vgl. Absatz 3.4.2). Zum anderen ist es aber auch der Forschungsgegenstand Geschmack und Ernährung, welcher die Interviewpersonen hilflos wirken lässt. Der eigene Geschmack, die eigene Ernährung ist so sehr alltägliche Routine, etwas so Gewöhnliches, dass die meisten Befragten überhaupt nicht wissen, was sie denn erzählen sollen. Die banale Alltagserfahrung des sich

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Ernährens wiederläuft dem der Erzählung immanenten Wunsch etwas Besonderes zu erzählen (vgl. Absatz 3.5.2). So kam es in den Pretests gleich bei der Eröffnungsfrage zu Schwierigkeiten. Zum einem waren es die ›üblichen‹ Probleme eines narrativen Interviews, bei denen sich der Befragte unsicher ist was eigentlich erzählt werden soll (»Was genau wollen Sie denn wissen?«). Zum anderen waren die Befragten überfordert, weil sie es nicht gewohnt sind über die eigene Ernährung zu reflektieren (»Darüber habe ich noch nie bewusst nachgedacht«). Es wurde also schnell deutlich, dass das narrativbiographische Interview dem Gegenstand der Untersuchung nicht hinreichend angemessen ist. Um auch dem Themenkomplex Ernährung und Geschmack gerecht zu werden, muss dieser auch dementsprechend methodisch bearbeitet werden. Diesbezüglich scheint das episodische Interview nach Flick sehr geeignet, da es zum einem dem Befragten Struktur, Orientierung und Halt bietet, zum anderen eben auch ermöglicht, Routine und Alltagsgewohnheiten zu erfassen. Allerdings stößt auch das episodische Interview an seine Grenzen und vernachlässigt den Verlauf der Lebensgeschichte des Subjekts (vgl. Flick 2007a, S. 239). Um nun beide Themenkomplexe angemessen erfassen zu können, ist es sinnvoll beide Methoden zu kombinieren beziehungsweise eine Methoden-Triangulation durchzuführen. Ziel ist es dabei, möglichst viel Raum zu bieten für Erzählungen, um so neues Entdecken und prozessuale Verläufe erkennen zu können. Gleichzeitig soll dort, wo es angebracht ist, durch gezieltes Nachfragen dem Befragten Struktur und Halt gegeben werden und dabei auch das Alltägliche, Routinierte und Normative zu Tage fördern. Es geht also darum, dem Befragten so viel Raum für seine erlebte Geschichte zu geben wie möglich und dabei gleichzeitig so viel Struktur zu geben wie nötig. Die Fragen des Interviewers sollen deshalb möglichst sparsam verwendet werden, dienen aber auch dazu, auf Lebensabschnitte eingehen zu können, die der Befragte außen vor lässt, und eben auch Bedeutungen und Abläufe von Alltagserfahrungen abzufragen. Dabei soll aber stets versucht werden, zur Narration anzuregen, um möglichst viele Informationen des Subjekts zu erhalten und um noch genügend Platz zu lassen, um den explorativen Charakter narrativer Interviews zu erhalten. Zwar versteht sich schon das episodische Interview als Kombination der Vorteile vom narrativen Interview und Leitfadeninterview. Allerdings ist dabei das narrative Element bezüglich der Erzählung von Lebensgeschichten und Biographien zu eingeschränkt, um dem Gegenstand Sozialisation angemessen zu bearbeiten. Deshalb wird in dieser Arbeit mit einer Kombination aus beiden Verfahren gearbeitet, die es ermöglichen soll, beiden Bereichen, Sozialisation sowie Ernährung, gerecht zu werden. Dies ist natürlich nicht unproblematisch. Die Triangulation von Methoden öffnet auch Raum für Kritik. Eine Kombination zweier Methoden führt immer auch dazu, dass der dahinterstehende theoretische Überbau in seiner Abgeschlossenheit und seiner Prämissen verletzt wird. Auch sollte die Triangulation nicht in dem Sin-

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ne verstanden und verwendet werden, dass man sich eine höhere Validität und Objektivität verspricht, da jede Methode den zu untersuchenden Gegenstand in spezifischer Weise konstituiert (vgl. Denzin / Lincoln 1994, S. 2; Flick 2007b, S. 311). Vielmehr ist es ein Weg zu neuen Erkenntnissen und mehr Information, da es den Gegenstand in seiner Komplexität zu verstehen sucht: »Triangulation liefert nicht übereinstimmende oder einander widersprechende Abbildungen des Gegenstandes, sondern zeigt unterschiedliche Konstruktionen eines Phänomens – etwa auf der Ebene des Alltagswissens und auf der Ebene des Handelns – auf.« (Flick 2004, S. 25)

4.2 S AMPLING

DES

F ORSCHUNGSVORHABENS

In der qualitativen Forschung erfolgt die Stichprobenziehung, also die Auswahl der zu untersuchenden Fälle beziehungsweise Personen nicht nach Kriterien quantitativer Repräsentativität, sondern strebt nach »theoretischer Repräsentativität« (Hermanns 1992, S. 116). Dies bedeutet, dass alle in der Realität vorkommenden Variationen des zu untersuchenden Feldes abgebildet und erfasst werden sollen, um damit eine inhaltliche Repräsentativität beziehungsweise Relevanz zu erreichen. Die typische Strategie der qualitativen Sozialforschung ist die schrittweise Fallauswahl im Sinne des »theoretischen Samplings« nach Barney Glaser & Anselm Strauss (vgl. Glaser / Strauss 1970, S. 45–77). Nach dieser Methode der ›Grounded Theory‹ wird aus der entstehenden Theorie heraus ein erster Fall erhoben und analysiert und in erste Kategorien eingeteilt. Ausgehend von diesem ersten Fall wird nun nach dem nächsten Fall gesucht, der in den Kernelementen des ersten Falls möglichst different ist. Auch neuere Konzepte basieren auf dem Prinzip der schrittweisen Auswahl, allerdings mit anderen Konzepten zur Gestaltung der Auswahlschritte. Die Fallauswahl erfolgt dann beispielsweise strukturierter, wie beim ›purposive Sampling‹ (Patton 1990, S. 168–186), der gezielten Fallauswahl. Während beim theoretischen Sampling Umfang und Merkmale der Grundgesamtheit vorab nicht bekannt sind und sich aus dem Forschungsprozess entwickeln (vgl. Flick 1996b, S. 83), richtet sich die gezielte Fallauswahl nach dem konkreten Forschungsinteresse und diesbezüglich relevanten Ausprägungen. Michael Patton beschreibt für das ›purposive sampling‹ 15 verschiedene Vorgehensweisen. Unter anderem schlägt er das Prinzip der ›maximalen Variation‹ vor, wie es auch in dieser Arbeit angewandt wird. Dabei sollen möglichst unterschiedliche Fälle gesucht werden, um gemeinsame Muster hinter verschiedenen Varianten zu identifizieren (vgl. Patton 1990, S. 172). Die Fälle sollen sich vor allem an bestimmten, für die Fragestellung der Arbeit als relevant erachteten Faktoren ausrichten und unterscheiden, wie in der vorliegenden Arbeit nach Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft und der Familiensi-

72 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

tuation. Gleichzeitig wurde während der Erhebung darauf geachtet, dass bei der schrittweisen Auswahl auch möglichst unterschiedliche Ernährungsbiographien, das heißt, möglichst verschiedene Ernährungsmuster, ernährungsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen mit einbezogen und repräsentiert werden. Damit soll eine an der ernährungsbiographischen Fragestellung orientierte heterogene Samplestruktur entwickelt werden. Das Ende der Fallerhebung ist erreicht, wenn eine Analyse weiterer Fälle keine neuen Aspekte mehr hervorbringt, dann spricht man von »Sättigung der Theorie« (Strauss 1998, S. 49) oder von »theoretischen Sättigung« (Strauss / Corbin 1996, S. 165) und kann von einer gelungen Stichprobenziehung ausgehen: »Die Stichprobe ist dann eine angemessene Abbildung der Realität, wenn kein Fall mehr zu finden ist, der nicht durch die bisher gebildeten theoretischen Konzepte angemessen repräsentiert wäre« (Hermanns 1992, S. 116). In der Realität ist es deutlich schwieriger, einen solchen idealtypischen, gesättigten Zustand zu erreichen. Zum einem kann man nie mit Gewissheit sagen, alle bedeutenden Erkenntnisse gewonnen und nichts übersehen zu haben, zum anderen sind es oft forschungspraktische Umstände wie Zeit- und Kostengründe, welche den Umfang der Fallauswahl begrenzen. Die Anzahl der Fälle muss in angemessener Weise auch zu bewältigen sein, so dass auch in dieser Arbeit Augenmerk darauf gelegt wurde, nicht wahllos eine große Menge an Daten zu produzieren, sondern sich auf wirklich relevante Fälle zu reduzieren. Auch dann kann nicht immer idealtypisch vorgegangen werden. Die ersten Interviews wurden schrittweise erhoben und geführt und dabei nach Transkription und Auswertung weitere, möglichst andersartige Fälle ausgewählt. Die drei Interviewten mit prekärer Finanzsituation wurden über einen Verein vermittelt und mussten hintereinander geführt werden. Sie wurden auch zu einem relativ späten Zeitpunkt geführt, da die Vermittlung dieser Gesprächspartner sich als schwierig gestaltete (vgl. Absatz 4.3). Insgesamt wurden zwölf Interviews geführt, in Reihenfolge der untenstehenden Aufzählung, welche auch über die relevante biographische Merkmale informiert:

M ETHODE | 73

Abbildung 6: Kurzporträts der interviewten Personen

Wilfried

Alter

Beruf / Einkommen

Familienstand

Interviewort

67 Jahre

Pensionierter Pädagoge;

verheiratet, hat zwei

Wohnzimmer

Slow Food Mitglied,

erwachsene Kinder

des Befragten

ledig, wohnt in WG

WG-Küche

alleinlebender Single

Außenbereich

überdurchschnittliches Einkommen Kerstin

26 Jahre

Studentin, niedriges Einkommen

Herbert

40 Jahre

Bauunternehmer, mittleres Einkommen

Marie

32 Jahre

Firmengelände

Journalistin, überdurch-

lebt mit festen Part-

Wohnzimmer

schnittliches

ner zusammen

des Interview-

verheiratet; zwei er-

Wohnzimmer

Einkommen

ers

Theresa

63 Jahre

Rentnerin, mittleres Einkommen

wachsene Kinder

der Befragten

Gerald

34 Jahre

Apotheker, überdurch-

verheiratet, zwei

Wohnzimmer

schnittliches Einkommen

Kinder

des Befragten

Julia

19 Jahre

Schülerin,

lebt bei ihrer Mutter

Wohnzimmer

kein Einkommen

des Interviewers

Caroline

46 Jahre

Ein-Euro-Jobberin; nied-

alleinlebender Single

riges Einkommen Annika

36 Jahre

Büro des Arbeitgebers

Ein-Euro-Jobberin; nied-

lebt mit zwei Kin-

Büro des

riges Einkommen

dern und neuem

Arbeitgebers

Hilfsarbeiterin, niedriges

verheiratet, fünf er-

Einkommen

wachsene Kinder

Arbeitsgebers

Unternehmer, Vorstand

hat ein erwachsenes

Büro des

eines Profifußballclubs;

Kind mit seiner Le-

Befragten

überdurchschnittliches

bensgefährtin

Partner zusammen Eva Thomas

50 Jahre 50 Jahre

Büro des

Einkommen Gabriele

63 Jahre

pensionierte Lehrerin;

verheiratet, hat zwei

Arbeitszimmer

überdurchschnittliches

erwachsenen Kinder

der Befragten

Einkommen

Quelle: Eigendarstellung

74 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

4.3 E RHEBUNGSSITUATION

UND

P ROBLEME

Die Einstiegsfrage bei Interviews mit narrativem Charakter sollte sorgfältig gewählt werden, da sie ja den Interviewten zum Erzählen stimulieren soll. Der Forschungsgegenstand bestimmt auch hier den Grad der Offenheit der Eingangsfrage. In dieser Arbeit wurde der Stimulus so gewählt, dass das Thema klar benannt und begrenzt wird, um den Fokus der Erzählung auf den Forschungsgegenstand, nämlich Ernährung zu richten: »Ich interessiere mich im Rahmen meiner Forschung für Menschen und Ernährung. Erzählen Sie mir bitte diesbezüglich Ihre persönliche Lebensgeschichte, alle Ereignisse und Erlebnisse, die Ihnen zum Thema Geschmack und Ernährung einfallen, vom Zeitpunkt Ihrer Kindheit und der Entwicklung bis heute.« In den ersten Interviews war der Stimulus relativ offen gehalten, dies erwies sich aber als für den Befragten zu schwierig. Konfrontiert mit einer ohnehin offenen Interviewstruktur und dann einer sehr offenen Eingangsfrage wurde der Interviewte verunsichert, da ihm nicht klar war, was genau erwartet wird beziehungsweise was genau er erzählen soll. Deshalb wurde der Stimulus nochmals geändert, etwas verkürzt und der Erzählungsbeginn zeitlich auf die ersten Kindheitserinnerungen gelegt: »Erzählen Sie einfach mal, was Ihre ersten Erlebnisse mit Essen und Ernährung waren, also beginnend in der Kindheit, an was können Sie sich erinnern« Diese kleine Änderung erwies sich als sehr hilfreich, da es für die Befragten nun selbstverständlich war, mit den ersten Erinnerungen ihrer Kindheit zu beginnen. Danach waren die Interviewten in der Erzählfolge wieder frei und somit nicht gezwungen ihre Biographie linear zu erzählen, sondern die Erzählungen und Geschichten so zu setzen, wie es dem Interviewten in den Sinn kam. Der Kontakt zu den Interviewpartnern kam auf vielfältigste Weise zustande. Zum einen wurden Personen aus meinem Freundeskreis vorgeschlagen, im Fall des Unternehmers und Vorstandmitglieds eines Fußballvereins fand die Kontaktaufnahme über die Pressestelle statt. Problematisch war die Kontaktaufnahme zu einkommensschwachen beziehungsweise armen Personengruppen. Erste Versuche, über soziale Vereine an entsprechende Personen zu kommen, schlugen fehl, wurden gar nicht oder negativ beantwortet. Erst nach längerer Suche und ausführlicher Darlegung des Vorhabens konnte ein sozialer Verein zur Mithilfe bewogen werden. Die drei Interviewten mit prekärer finanzieller Lage beziehungsweise Hartz-IV-Einkommen wurden über diesen sozialen Verein vermittelt, in dessen Geschäftsstelle auch die Interviews stattfanden. In den übrigen Fällen konnten die Befragten den Ort des Interviews selbst bestimmen, was in zwei Fällen die Wohnung des Interviewers war, in den restlichen Fällen fand das Interview bei den Befragten zu Hause statt. Vor Interviewbeginn wurde nochmals in aller Kürze das Forschungsvorhaben erklärt, die Zustimmung zur Tonbandaufzeichnung eingeholt und dem Befragten größtmögliche Anonymität zu gesichert. Die Interviews dauerten im Normalfall et-

M ETHODE | 75

was mehr als eine halbe Stunde, das kürzeste war 20 Minuten, das längste 60 Minuten. Am Ende des Interviews wurden dann noch anhand eines Kurzfragebogens sozialdemographische Faktoren erhoben wie Alter, Beruf und eine ungefähre Angabe zum Einkommen. Eine Erhebung von Einkommen ist relativ problematisch, da viele Menschen dazu ungern genaue Angaben machen beziehungsweise diese gar nicht wissen. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten beziehungsweise dem für die Interviewten sicherlich auch unangemessenen Aufwand, der zu betreiben wäre, um eine Exaktheit zu erreichen, die für diese Fragestellung nicht notwendig ist, wurde deshalb ein einfaches Kategoriensystem entworfen und grob in vier Gruppen unterteilt1. Zum einem diejenigen, die ein Nettoeinkommen unter 1000 Euro zur Verfügung haben (niedriges Einkommen), diejenigen, welchen 1000–2000 Euro zur Verfügung stehen (mittleres Einkommen), denen mit 2000–5000 Euro (hohes Einkommen) und letztendlich denen, welche über 5000 Euro2 monatlich verfügen. Diese Kategorisierung ist sicher nicht exakt, ermöglicht aber eine für die Interpretation dieser Interviews ausreichende Orientierung. Durch die Erfassung der Berufstätigkeit und der sich meist in den Interviews herauskristallisierende Familiensituation kommt man so zu einem ausreichenden Bild über die finanziellen (Un-)Möglichkeiten des Interviewten. Bei der Auswertung der Interviews fiel auf, dass des Öfteren Fragen mit suggestivem Charakter gestellt wurden. Suggestivfragen werden in der Sozialforschung vermieden, da sie das Prinzip der Offenheit konterkarieren, da man nicht ausschließen kann, dass der Befragte auf eine neutrale Frage anders geantwortet hätte (vgl. Gläser / Laudel 2008, S. 137). Obwohl also auf Suggestivfragen in Interviews verzichtet werden soll, werden sie auch von ausgebildeten und erfahrenen Interviewern immer wieder verwendet (vgl. Richardson / Snell Dohrenwend / Klein 1993, S. 219). Zum einem kann dies daran liegen, dass Suggestivfragen in der Alltagskommunikation einen großen Stellenwert haben. Zum anderen werden Fragen mit einer bestimmten Erwartungshaltung von den Befragten positiv empfunden, da sie den Eindruck von Interesse und Freundlichkeit erwecken (vgl. Richardson / Snell Dohrenwend / Klein 1993, S. 227). Stephen Richardson et al. kamen in ihrer Untersuchung zudem zu der Erkenntnis, dass Suggestivfragen nur sehr selten verzerrte Antworten produzieren und ihre Auswirkungen auf die Qualität der Interviews ge1

Grundlage für die Kategorisierung war der Median des Nettoäquivalenzeinkommens welches 2008 jährlich bei 18254 beziehungsweise pro Monat bei 1521 Euro lag (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland). Wer also von diesem Median ausgehend weniger als ein Drittel (weniger 1000 Euro) oder mehr als ein Drittel des Medianwertes (ab 2000 Euro) verdient, wird dementsprechend als Person mit niedrigem Einkommen oder hohen Einkommen klassifiziert.

2

Die Kategorie über 5000 Euro wurde von keinem Interviewpartner erreicht, wurde aber vorsorglich mit aufgenommen um die Variable Einkommen auch nach oben zu schließen.

76 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

ring sind und unter bestimmten Voraussetzungen sowohl Informationsgrad als auch Validität der Antworten erhöhen kann (vgl. Richardson / Snell Dohrenwend / Klein 1993, S. 221ff.). Diese positive Darstellung der Suggestivfrage gelingt aber nur, so Jochen Gläser und Grit Laudel, da Richardson Suggestivfragen mit unterstellenden Fragen in einen Topf wirft. Gläser / Laudel dagegen unterscheiden zwischen echten Suggestivfragen, die es zu vermeiden gilt und Unterstellungsfragen, die durchaus positiv betrachtet werden. Sie sind am natürlichen Gesprächsverlauf orientiert, können erzählanregend sein und bieten eine thematische Orientierung (vgl. Gläser / Laudel 2008, S. 133). Der Unterschied zeigt sich bei der Definition der Suggestivfrage: »Eine Suggestivfrage ist eine Frage, die entweder explizit oder implizit die Antwort enthält, die der Interviewer vom Befragten erwartet. Gemeint sind solche Erwartungen, die sich nicht auf die im Interview vom Befragten bis dahin gemachten Angaben stützen.« (Richardson / Snell Dohrenwend / Klein 1993, S. 217)

Eine Suggestivfrage basiert also auf einer nicht informierten Erwartung, während sich Unterstellungsfragen auf informierten Erwartungen, die sich auf Informationen des Befragten stützen, beziehen. Solche informationsbasierende Unterstellungen bieten im Interview durchaus Vorteile und wirken sich auch nicht verfälschend auf das Gespräch aus: »Die Unterstellung kann so formuliert werden, dass sie das Unterstellte als den natürlichen Gang der Dinge behandelt. Die Unterstellungen, die mit der Frage formuliert werden, werden damit zugleich einem Test unterzogen. Der Interviewpartner kann die in der Frage enthaltenen Unterstellungen jederzeit zurückweisen. Eine Ablehnung der Unterstellung liegt meist im Spektrum der normalen Antwortmöglichkeiten und erfordert keinen zusätzlichen Aufwand.« (Gläser / Laudel 2008, S. 133)

Wie auch bei erfahreneren Interviewern schlichen sich wider besseren Wissens bei den Interviews dieser Arbeit einige wenige echte Suggestivfragen ein, die in der Auswertung problematisch sind. Der größte Teil der Fragen mit Erwartungshaltung sind aber unterstellende Fragen, die basierend auf Informationen, die im Interview gegeben wurden, zumeist den Zweck hatten, bestimmte Aussagen nochmals auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Sie haben keine manipulierende Wirkung auf den Befragten, was sich auch daran zeigt, dass bei nicht zutreffenden Unterstellungen auch widersprochen wurde. Die Qualität der Interviews ist durch solche Fragestellungen also nicht in Frage gestellt, vielmehr wurden sie oft dazu eingesetzt, Aussagen des Befragten auf den Punkt gebracht zu überprüfen, was für das richtige Verständnis und Einschätzen der Aussagen sicherlich von Vorteil war, auch und gerade dann, wenn der Unterstellung widersprochen wurde.

M ETHODE | 77

4.4 AUSWERTUNG DER I NTERVIEWS 4.4.1 Transkription Bei der Transkription, also dem Übertrag der gesprochenen Sprache eines Interviews in die Schriftform, gibt es eine Vielzahl von Systemen die verwendet werden können. Auch bei der Transkription gilt, dass die Auswahl der Transkriptionstechnik sich am Thema orientieren muss. Interviews mit traumatisierten Personen beispielsweise erfordern eine genauere Transkription prosodischer Merkmale wie etwa Intonation, Lautstärke oder Sprechpausen als dies bei Interviews der Fall ist, die vornehmlich auf inhaltliche Befragung ausgerichtet sind, wie beispielsweise bei Experteninterviews. Ob man nun nach dem internationalen phonetischen Alphabet, in literarischer Umschrift oder mit der Übertragung in normales Schriftdeutsch transkribiert, ist stark von der Fragestellung abhängig: »Die Auswahl der transkribierten Kategorien [insbesondere der prosodischen Merkmale] wird häufig nicht durch die Fragestellung motiviert, das heißt, es wird mit erheblichem Aufwand viel mehr transkribiert, als analysiert wird. Tatsächlich scheint die Verfügbarkeit eines umfangreichen Transkriptionssystems den Benutzern nahe zu legen, dass sie das gesamte System in jedem einzelnen Forschungsprojekt ohne Einschränkungen verwenden müssen.« (Kowal / O’Connell 2007, S. 443)

Da es bei dieser Forschungsarbeit vor allem um eine inhaltlich-thematische Analyse zum Thema Geschmack und Ernährung geht, macht es dabei wenig Sinn, auch alle prosodischen Merkmale in der Transkription zu erfassen. Insbesondere auch deshalb, da sowohl der narrative Charakter der Interviews, die lange Zeitspanne, die in den Interviews abgefragt wird, als auch die Alltäglichkeit und scheinbare Banalität des Forschungsgegenstandes prosodische Merkmale hervorgerufen werden, die keinerlei interpretativen Sinn haben. Gesprächspausen oder Pausenfüller wie »mhm« sind in dieser Interviewsituation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Umständen des sich an etwas Vergangenes erinnern müssen, der ungewohnten Situation eines Interviews oder auch dem persönlichen Ausdrucksvermögen geschuldet. Eine Analyse solcher prosodischen Merkmale bei der Fragestellung und Interviewform dieser Arbeit würde zu einer nicht angebrachten Psychologisierung völlig normaler Unsicherheiten und Holprigkeiten in der Kommunikation eines Interviews führen. Die Analyse würde außer einem Vielfachen an Arbeitsaufwand nicht annähernd einen entsprechenden Erkenntnisgewinn bringen, sondern diesen eher behindern und verfälschen. Aus diesem Grund wird auf eine vollständige Transkription aller prosodischen Merkmale verzichtet, da es schlichtweg keinen

78 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Sinn macht, Merkmale zu transkribieren, die nicht analysiert werden (vgl. Kowal / O’Connell 2007, S. 444). Dort, wo solche Merkmale jedoch eindeutig einen inhaltlichen-thematischen Bezug haben, etwa bei einer abwertenden Intonation der Stimme, sollen sie auch festgehalten und analysiert werden, ebenso auch redebegleitendes nichtsprachliches Verhalten, wie etwa Lachen. Im transkribiertem Text werden diese Stellen dann in Klammern festgehalten, bei abwertender Intonation eben dann beispielsweise: (abwertend) beziehungsweise beim Lachen des Gesprächspartners: (lacht). Längere Pausen werden mit (…) gekennzeichnet. Um eine gute Lesbarkeit zu erreichen, wird in normales Schriftdeutsch übertragen, eine der üblichsten Protokolltechniken, in der Dialekte bereinigt und der Satzbau und Stil geglättet werden (vgl. Mayring 2002, S. 91). Dies gewährt eine gute Lesbarkeit und damit auch eine gute Basis für eine Analyse, für die Dialekt oder in Interviews häufig auftretende Satzbaufehler nicht von Bedeutung sind. Die Interviews wurden bis auf zwei von mir persönlich transkribiert, zwei längere Interviews wurden in die erste Schriftfassung von einer Fachkraft übertragen. Um eine korrekte Übertragung zu gewährleisten, wurden diese ersten Schriftfassungen dann von mir persönlich nochmals überarbeitet, das heißt, über Kopfhörer wurden die Interviews gehört und dabei gleichzeitig mit der verschrifteten Fassung verglichen und gegebenenfalls korrigiert. So konnte der enorme Arbeitsaufwand verringert werden, ohne dabei die Qualität der erhobenen Daten zu gefährden. 4.4.2 Auswertung Da mit einer Kombination aus narrativen und episodischen Interview gearbeitet wird, liegt es auf der Hand, dass auch bei der Auswertung verschiedene Methoden kombiniert werden. Eine Methode zur Auswertung narrativer Interviews ist die biographische Fallrekonstruktion nach Rosenthal. Bei Rosenthal hat das biographischnarrative Interview nicht nur zum Ziel, die gegenwärtige Sicht des Interviewten auf in der Vergangenheit Erlebtes herauszuarbeiten, sondern neben dieser Retroperspektive auch Handlungsmotive dieser Person zum Zeitpunkt des damaligen Erlebens zu rekonstruieren. Damit soll ein besserer Einblick auf die Genese einer Biographie erreicht werden, da man den biographischen Weg nicht nur in der Rückschau aufzeichnet, sondern versucht, ihn Schritt für Schritt mitzugehen (vgl. Rosenthal 2008, S. 173). Die biographische Fallrekonstruktion ist dabei die passende Auswertungsmethode, die den besonderen Charakter des biographisch-narrativen Interviews aufgreift. Dazu verbindet Rosenthal mehrere Analysemethoden (vgl. Rosenthal 2008, S. 173) zu einem rekonstruktiven und sequenziellen Verfahren, der biographischen Fallrekonstruktion. Rekonstruktiv bedeutet in diesem Fall, dass nicht wie bei inhaltsanalytischen Verfahren der Text nach mehr oder weniger festen

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Kategorien untersucht wird, sondern einzelne Abschnitte und Erzählungen immer vor dem Hintergrund der Gesamtbiographie beziehungsweise des kompletten Interviews betrachten werden. Die Sequenzanalyse interpretiert dabei den Text in der Reihenfolge dessen Entstehung. Wichtigstes Merkmal der biographischen Fallrekonstruktion ist die Unterscheidung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte: »Ziel der Rekonstruktion ist, sowohl die biographische Bedeutung des in der Vergangenheit Erlebten als auch die Bedeutung der Selbstrepräsentation in der Gegenwart zu entschlüsseln« (Rosenthal 2008, S. 174). Deshalb wird in zwei voneinander getrennten Analyseschritten sowohl die erzählte als auch die erlebte Fallgeschichte interpretiert, das ganze Auswertungsverfahren gliedert sich bei Rosenthal in sechs Schritte: Abbildung 7: Biographische Fallrekonstruktion Biographische Fallrekonstruktion 1. Analyse der biographischen Daten (Ereignisdaten) 2. Text und thematische Feldanalyse (Analyse der Textsegmente – Selbstpräsentation / erzähltes Leben) 3. Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben) 4. Feinanalyse einzelner Textstellen (kann jeder Zeit erfolgen) 5. Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte 6. Typenbildung Quelle: Rosenthal 2008, S. 174

Da in dieser Arbeit zur Sozialisation des Geschmacks jedoch keine rein biographisch-narrative Interviewform zur Anwendung kommt, sondern auch strukturierende Elemente beinhaltet, kann auch in der Auswertung das Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion nicht in Reinform zur Anwendung kommen, sondern muss an den speziellen Interviewmodus angepasst werden. Sie dient quasi als Grundgerüst, ein Raster, an welchem sich die Auswertung orientiert, allerdings mit deutlichen und notwendigen Einschränkungen beziehungsweise Modifikationen. Am Grundgedanken, zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte zu unterscheiden wird festgehalten, an der sequenziellen Analysemethode jedoch nicht. Dies hat verschiedene Gründe. Der naheliegendste ist sicherlich der, dass die sequentielle Analyse von biographischen Interviews höchst aufwändig und im Rahmen dieser Arbeit kaum umsetzbar ist. Zum anderen gibt es verschiedene fachliche Einwände, welche dagegen sprechen. Da durch die Erzählaufforderung der Erzählbeginn auf die Kindheit festgelegt wird und zudem durch gezielte Nachfragen das Interview deutlich strukturierter als komplett offene narrative Interviews ist, ist auch eine sequenzielle Analyse des

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Textes nicht als sinnvoll zu erachten. Die persönliche Geschichte der Ernährung oder die Ernährungsbiographie einer Person hat einen so speziellen Charakter, dass hier die Vorgehensweisen typischer biographischer Interviews an Sinn verlieren. Es ist ein Unterschied, ob man die Ernährungsgewohnheiten im Lebenslauf untersucht oder sich mit einschneidenden, teils traumatischen Themen wie Migration oder Vertreibung beschäftigt (vgl. Rosenthal 2008, S. 144ff.). Die Banalität des Ernährungsvorgangs wie auch die zumeist unbewusste Verrichtung dieser Alltagsroutine macht beispielsweise die Frage nach verschiedenen Handlungsmöglichkeiten schwierig, da der Vorgang selbst oft nicht als Handlung wahrgenommen wird. Es macht auch keinen Sinn zu hinterfragen, warum welches Thema zu welchem Zeitpunkt des Interviews angesprochen wird, weil das Interview ja nicht völlig offen ist, sondern eine gewisse Struktur hat, um überhaupt alle relevanten Lebensabschnitte erfassen zu können. Auch die Frage nach der verwendeten Textsorte verspricht nicht viel Erkenntnis, da die Interviewausrichtung eben nicht nur zum Erzählen, sondern beispielsweise zum Beschreiben der Alltagsküche animiert. Der Grundgedanke des ständigen Hinterfragens, welche Bereiche nur kurz, welche ausführlicher erzählt werden, welche Themenbereiche von alleine aufgegriffen werden und welche nachgefragt werden, kann und muss jedoch auch bei diesen Interviews umgesetzt werden. Für die Auswertung dieser Interviews zweckmäßiger als ein sequentielles Vorgehen, ist eine thematische Kodierung, welche von Flick für das episodische Interview vorgeschlagen wird, um Anleihen im Aufbau von Rosenthal ergänzt. Dabei wird zur besseren Orientierung mit einer Kurzbeschreibung des Falles begonnen, welche später auch Bestandteil des Ergebnisses ist. Nach dieser kurzen biographischen Fallbeschreibung kommt es zur tieferen Analyse des Einzelfalles, mit einem ersten Fokus auf die Selbstpräsentation, auf das erzählte Leben des Befragten. Durch abschnittsweises offenes Kodieren werden erste Kategorien und daraus wiederum abstraktere, fallspezifische Themenbereiche entwickelt. Bei der Auswertung werden Informationen zu einzelnen Lebensabschnitten wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter auch im jeweiligen Kontext analysiert, um den biographischen Anspruch aufrechtzuhalten. In einem zweiten Schritt wird der Fall mit dem Fokus auf das erlebte Leben jenseits der Selbstdarstellung nochmals analysiert und kategorisiert. Dabei wird der lebensgeschichtliche Hintergrund der Person herausgearbeitet und alternative Sichtweisen und Motivationen hinter der Selbstdarstellung freigelegt. Diese Trennung von erzählter und erlebter Geschichte ist insbesondere beim Thema Geschmack von großer Bedeutung, da der Interviewte sich als handelndes und gestaltendes Individuum begreift und strukturelle Einflüsse von außen, also gesellschaftliche Prägekräfte, nicht als solche erkennt. Der Geschmack wird als individuell betrachtet, seine gesellschaftliche Prägung wird zuallermeist nicht wahrgenommen und negiert. Hat man beide Ebenen analysiert, kommt es zur Kontrastierung beider Perspekti-

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ven. Damit werden die Differenzen nochmals klarer und im besten Fall lassen sich auch Erklärungen für diese Differenzen finden. Danach werden die thematischen Kategorien der ersten Fälle miteinander verglichen und so peu á peu eine thematische Struktur geschaffen, welche eine Vergleichbarkeit der Fälle ermöglicht (vgl. Flick 1996b, S. 206ff.). Im Fall ›Marie‹ wurden beispielsweise die selbständigen ersten Kochversuche, welche oft scheiterten und misslangen, als ›Überforderung‹ beziehungsweise in einem zweiten Schritt in die abstraktere Kategorie ›negative Kindheitserfahrung‹ gruppiert. Aus dem Vergleich mit den ersten anderen Fällen entstand aus den fallspezifischen Kategorien dann die generalisierte Kategorie ›partizipierende Kindheitserfahrung / Ernährungs-involvement‹. Mit dieser Kategorie wurde erfasst, ob jemand als Kind in Prozesse des Kochens und der Lebensmittelverarbeitung eingebunden war beziehungsweise ob diese dann positiv oder negativ erlebt wurden. Normalerweise würde nun die Typenbildung anschließen. Ich habe mich allerdings dazu entschieden, vorher noch die einzelnen Fallgeschichten auf die gesellschaftliche Ebene zu projizieren, da meines Erachtens so Schlüsse vom Einzelfall auf gesellschaftliche Milieus und Lebenswelten besser nachzuvollziehen sind. Ist dies geschehen, wird in einem letzen Schritt zur Typenbildung übergegangen.

4.5 F ALLANALYSEN 4.5.1 Fallanalyse Wilfried »Das ist also nicht bloß ein Genuss, sondern das ist auch eine politische Sache.«

Biographische Kurzbeschreibung: Wilfried ist 67 Jahre alt und Pensionär mit überdurchschnittlichem Einkommen. Er wuchs ohne Vater auf und arbeitete später als Pädagoge. Er lebt zusammen mit seiner Frau und hat zwei erwachsene Kinder die außer Haus sind. Von Kindesbeinen an in der Küche zu finden, achtet er auf regionale, saisonale und hochwertige Lebensmittel. Essen und Kochen hat für ihn einen hohen Genussfaktor und Stellenwert und ist für ihn auch ein politischer Akt, mit dem er eine nachhaltige Landwirtschaft fördern möchte. Seit etwa zehn Jahren ist Wilfried aktives Mitglied der Genussvereinigung Slow Food. Erzählte Biographie: Seine Kindheitserinnerung ist geprägt von Erinnerungen an gemeinsame Kocherlebnisse mit seiner Großmutter und später mit seiner Mutter. Aufgewachsen in der Nachkriegszeit beschreibt er die Ernährung seiner Familie als »relativ einfach« (Z. 24), es gab viel Kartoffeln, Suppen und Gemüse, selten selber gemachte Nudeln oder Fleisch. Während dieser Zeit der Mangelwirtschaft fuhren

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seine Verwandten auch zum Hamstern aufs Land und die Auswahl an Lebensmitteln beschreibt er mit »ziemlich mangelhaft« (Z. 123). Dennoch ist Ernährung und Essen auch zu dieser Zeit positiv besetzt, es wurde gut gekocht und gegessen, vor allem aber war er oft in die Prozesse der Nahrungsverarbeitung eingebunden, was ihm viel Vergnügen bereitete. Aufgaben wie Bohnen schneiden oder Linsen sortieren hat er gerne erledigt und diese Hilfsaufgaben in der Küche haben ihn nachhaltig geprägt: »Ich habe mich also schon mit Essen beschäftigt, nicht bewusst, aber einfach beschäftigt, weil ich zu so etwas angehalten worden bin und weil mir das eigentlich auch gefallen hat« (Z. 16ff.). Sicherlich ebenfalls von Einfluss war die engagierte Mutter, Mitglied der Volksgesundheitsbewegung, was er teilweise zwar übertrieben empfand, ihm jedoch in seinem Verbraucherverhalten, also auf Qualität und darauf, wo man einkauft zu achten, prägte (vgl. Z. 80ff.). Eine Besonderheit in seiner Jugend war die, insbesondere zu dieser Zeit, ungewöhnliche Tatsache, dass er als 14-Jähriger an einem mehrwöchigen Kochkurs für Jungen an seiner Schule teilnahm. Es war der erste Kurs dieser Art überhaupt in seiner Stadt. Dies hat ihm auch viel Freude bereitet und auch geprägt (vgl. Z. 43, 51). Mit 17, 18 Jahren kam er dann auch in Kontakt mit alkoholischen Getränken, insbesondere mit Wein, wodurch er eine gewisse Affinität zu Wein entwickelte und auch merkte, dass es dort qualitative Unterschiede gibt, die man unterscheiden kann. Auch mit Gründung einer eigenen Familie behielt Wilfried seine Qualitätseinstellung, obwohl es während des Studiums mit Frau und schon einem Kind schwieriger war. Der finanzielle Spielraum war eng: »Da hat man dann auch genau überlegen müssen, was man kauft« (Z. 147f.). So war dann auch die Ernährung relativ einfach, mit wenig Fleisch, wenig Essen gehen und dafür umso mehr selber kochen (vgl. Z. 222ff.). Sehr wichtig war für ihn auch die Pensionierung 1999, als er dann zu Hause allein für die Küche verantwortlich war, da seine Frau weiterhin arbeitete: »Das war für mich ein Erlebnis und ich koche heute noch gerne und ich kann Qualität schätzen« (Z. 76ff.). Zu dieser Zeit entdeckte er auch auf einer Italienreise die Slow Food Vereinigung und begann mit seinem Engagement für diesen Verein in Deutschland. Seitdem kauft er noch bewusster ein, er hat bestimmte Produzenten, von denen er weiß, dass dort Tiere artgerecht gehalten werden und Gemüse ordentlich angebaut wird, kauft gerne mal vom Bauer ein ganzes Schwein oder Lamm, also direkt vom Produzenten. Beim Einkauf achtet er darauf, kleine Produzenten zu stützen, Klopapier kauft er dagegen bei Aldi, da er nicht davon ausgeht, »dass ich da irgendjemandem schade« (Z. 482). Lebensgeschichtliche Interpretation: Bedeutsam war das Aufwachsen Wilfrieds ohne Vater, der im Widerstand gegen das NS-Regime hingerichtet wurde. Das Aufwachsen bei Mutter und Großmutter ohne männliches Rollenvorbild trug sicherlich dazu bei, dass er für einen Jungen, zu dieser Zeit, untypisch viel in der Küche war und sich dort auch gerne beschäftigte. Auch der Besuch eines Kochkurses

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für Jungen zeigt, insbesondere zu dieser Zeit, eine außergewöhnliche Affinität zu Küche und Ernährung, welches zu jener Zeit sicherlich als Frauendomäne bezeichnet werden muss. Hier wurde auch der Grundstein für sein späteres Ernährungsverhalten gelegt, selber kochen, qualitativ kochen und einkaufen, das sind die Motivationen, die er von Kindesbeinen an erlernte und bis heute verinnerlicht hat. Der Schritt, der bei ihm Ernährung noch bedeutender und auch politisch machte, kam mit der Pensionierung. Hier trafen zweierlei Faktoren zusammen, nämlich Zeit und Geld. Er hatte die Zeit, sich alleine um das Essen zu kümmern, sich mit Essen und Ernährung hinsichtlich Qualität, aber auch in einer politischen Dimension (vgl. Z. 255f.) damit zu beschäftigen und letztendlich auch Zeit, um sich für einen Verein wie Slow Food zu engagieren. Der zweite Faktor Geld ist ebenfalls von großer Bedeutung: »Gewandelt hat sich sicher, dass ich mir inzwischen mehr leisten kann« (Z. 220). Mit dem Auszug der Kinder, einer guten Pension und dem Einkommen der Frau war nun auch das Geld da, den qualitätsbewussten Ernährungsstil, den er schon immer pflegte, mehr und mehr genussintensiv zu gestalten und auch umzusetzen. Gesellschaftliche Relevanz: Wilfried ist ein Vertreter des Niveaumilieus, älter, höhere Bildung, man legt Wert auf Qualität und gute Umgangsformen, beim Ausgehen werden gehobene Restaurants mit Atmosphäre aufgesucht (vgl. Schulze 2005, S. 283f.). Wilfried war politisch engagiert und seit Kindesbeinen auf eine qualitative hochwertige, selbstzubereitete Ernährung bedacht. Während die 80er Jahre vor allem geprägt waren von alternativen Lebens- und Ernährungsformen und der Begriff des »Müslis« für Liebhaber von Vollwertkost entstand, als Bio-, Naturund Dritte-Welt-Läden mehr eine idealistische als genussvolle Inszenierung pflegten, kam es dann im Laufe der 90er Jahre zum Beginn des Bio-Booms, der sich bis heute fortsetzt. Neu war nun, dass die Lebensmittel nicht nur gesund und oftmals ökologisch produziert wurden, sondern dass nun auch Spaß am Genuss zählte und die Freude am Geschmack einen neuen Stellenwert erfuhr. Gesunde, vollwertige Kost, nach ökologischen Kriterien produziert, durfte und sollte von nun an auch schmecken, sollte auch optisch, auch bezüglich der Verpackung, nach etwas aussehen, sollte ein Genusserlebnis bringen. So kam auch die Entwicklung, weg vom alternativen Bioladen hin zum stylischen Biosupermarkt, in dem die Produkte nun nicht zuallererst gesund und ökologisch aussehen, sondern chic und lecker präsentiert werden. Zu dieser Zeit war Wilfrieds Nachwuchs aus dem Haus und er befand sich beruflich in einer saturierten und wohl situierten Position. Es war nun einfach die Zeit und vor allem das Geld vorhanden, den Ernährungsstil auf eine genussvollere, qualitativ höhere und damit auch teurere Ebene zu bringen. Man konnte es sich nun eben leisten, mehr Geld für Ernährung auszugeben, mehr Wert auf Ernährung zu legen und dies auch im gesellschaftlichen Diskurs durchzusetzen.

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Dies führte letztendlich auch dazu, dass das Thema Ernährung in Zeitungen und Fernsehshows allgegenwärtig wurde, Ernährung einen völlig neuen Stellenwert bekam, und die Biowelle auch Teile der unteren Gesellschaftshälfte erfasste, welche mittlerweile Bioprodukte zu Billigstpreisen im Discounter findet. Es scheint naheliegend, dass die Nachfrage nach biologischen, regionalen und qualitativ hochwertigen Produkten – Motive der Alternativ- und Umweltbewegung der 80er Jahre – gepaart wurden mit der aus den gestiegenen finanziellen Möglichkeiten und gesellschaftlichem Einfluss resultierenden Nachfrage dieser Generation nach Genuss und genussvollen Lebensmitteln. So etablierte sich das Ernährungsschema von regional und ökologisch produzierten Lebensmitteln, die nun auch Hochgenuss versprechen, als Ernährungsleitschema der heutigen Gesellschaft, welches zwar nicht von allen uneingeschränkt umgesetzt werden kann, das aber – die prekären Randschichten der Gesellschaft ausgenommen – die Deutungshoheit gewonnen hat und damit quasi Ausdruck des legitimen Geschmacks geworden ist. 4.5.2 Fallanalyse Kerstin »Ich gebe lieber ein bisschen mehr Geld für mein Essen aus, als dass ich mir einen neuen Rock kaufe. Das ist definitiv eine Prioritätensache.«

Biographische Kurzbeschreibung: Kerstin ist 26 Jahre alt und Studentin. Aufgewachsen auf einem Bauernhof, auf dem die Kinder, Eltern und Großeltern zusammen leben. Von klein auf war sie in die Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln eingebunden. Trotz begrenzter finanzieller Mittel setzt die Studentin ihre Vorstellungen einer guten Ernährung in die Tat um, auch wenn das öfters Verzicht bedeutet. Sie hat zwei Geschwister, ernährt sich seit zehn Jahren vegetarisch und litt in Ihrer Jugend unter Bulimie. Erzählte Biographie: Die Ernährung in der Kindheit war geprägt von der Umstellung auf biologische, qualitative hochwertige Kost durch die Mutter, die bei Hofübernahme auf biologische Landwirtschaft und Tierzucht umstieg. Die Qualität der Nahrung und der Lebensmittel spielten so von Anfang an eine große Rolle für Kerstin. Allgemein spielten Essen und Lebensmittel eine große Rolle, war sie doch auch von Beginn in Küche und Hof als Helferin integriert, ob zusammen im Stall mit ihrem Großvater oder in der Küche mit der Großmutter beim Kochen. Ernährung war ein zentrales Thema. Die unmittelbar von ihr erlebte Erfahrung, dass Lebensmittel entstehen, der natürliche Verlauf in Garten und Feld, das Wissen vom Zusammenhang von Hühnchen essen und schlachten führten zu einem hohen Bewusstsein für den Wert von Nahrung und Lebensmitteln:

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»Ja, das war einfach eine aktive Auseinandersetzung mit Lebensmitteln, ich bin morgens mit meinem Opa in den Stall gegangen und habe geholfen die Kühe zu melken. Danach habe ich erst mal ein Glas warme Milch getrunken. Und ich glaube, das hat mich garantiert total geprägt. Ich glaube, das hat halt nicht jedes Kind.« (Z. 303ff.)

Während ihre Brüder mit der Umstellung auf Biokost durchaus Problem hatten, war dies für Sie nicht so, die gerne in der Küche wie im Stall dabei war und mithalf. Zentraler Punkt Ihrer Jugend war ihre Erkrankung an Bulimie, über deren Gründe sie nicht sprach, nur so viel, dass dies nichts mit dem Ernährungsstil der Familie zu tun hatte. Da sie sich zu dick fühlte, begann sie sich nach dem Essen zu übergeben und rutschte so in die Bulimie. Diese Erkrankung beziehungsweise deren Bewältigung, führte bei Kerstin zu einem neuen Körpergefühl und Körperbewusstsein in dessen Konsequenz sie auch einen neuen Ernährungsstil fand, der so neu doch nicht war. Da ihr während der Erkrankung das schon gehabte Vorwissen zu einer gesunden Ernährung abhandenkam, »da ist das einem irgendwann egal« (Z. 139), musste sie ihre Ernährung wieder neu einrichten, sich umstellen und sich wieder daran erinnern, » was man so alles gelernt hat über Essen« (Z. 141). Daraus resultierte ein noch stärkeres Bewusstsein gegenüber Essen und Ernährung. Kurz danach wurde sie dann Vegetarierin. Schlüsselerlebnis hierfür war ein Krankenhausaufenthalt, bei dem ihr das »schäbigste Fleisch« (Z. 108) vorgesetzt wurde, welches dann auch von allen Mitpatienten im Zimmer unberührt weggeschmissen wurde. Seitdem ist sie Vegetarierin und achtet neben einer qualitativen, gesunden Ernährung auch sehr darauf, eventuelle Mangelerscheinungen durch eine sehr bewusste Speiseauswahl zu vermeiden. Essen spielt für sie heute weiterhin eine große Rolle. Sie ernährt sich hauptsächlich von Biogemüse und Brot aus der Region, achtet auf Regionalität und Saisonalität. In den Supermarkt geht sie selten, und wenn, nur zum Einkauf des Allernötigsten. Neben der Qualität der Speisen ist ihr auch die Energiebilanz der Lebensmittel wichtig. Sie hat eine starke Ablehnung gegenüber industrieller Massenware entwickelt. Da sie studiert und nicht über viel Geld verfügt, ist ihre Ernährung auch Einschränkungen unterworfen. Den mangelnden finanziellen Möglichkeiten begegnet sie mit Kreativität in der Küche und einer Beschränkung vor allem auf Grundnahrungsmittel. Käse aus der Käsetheke ist für sie etwas Besonderes, etwas Teures, auf das sie öfter verzichtet. Sie tut dies jedoch gerne, verzichtet auch des Öfteren auf andere Konsumartikel wie Kleidung, um sich ihren Ernährungsstil, so wie sie ihn haben will, leisten zu können: »Das ist definitiv eine Prioritätensache« (Z. 184). Wie früher in der Großfamilie liebt sie es zudem bis heute gemeinsam mit Freunden oder Mitbewohnern zu kochen und zu essen, dabei übernimmt sie auch gerne die Rolle der Gastgeberin. Die soziale Komponente des Zusammenessens bedeutet ihr sehr viel.

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Lebensgeschichtliche Interpretation: Für Kerstin haben und hatten Essen und Lebensmittel seit ihrer Kindheit eine wichtige Rolle gespielt. Noch stärker wurde der Bezug zu Essen und Ernährung mit ihrer Krankheit Bulimie, wodurch sie ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt hat, was ihr Körper braucht, was lebensnotwendig ist, und welches Essverhalten ihr schadet. Heute isst sie sehr bewusst, und in einigen Passagen wird deutlich, wie sehr ihre Krankheit teils bis heute noch ihr Essverhalten prägt. Aussagen wie »Ich finde es halt total cool richtig Hunger zu haben« (Z. 319f.) oder »ich mag es auch total gerne, richtig Hunger zu haben, viele Leute finden das ja ätzend, aber ich stehe voll drauf« (Z. 341f.), belegen dies. Das kurz nach ihrer Bulimie das Vegetariersein begann, hat sicherlich auch mit dieser Krankheit beziehungsweise ihrer Bewältigung zu tun. Es stellt sich die Frage, inwieweit ihr Ernährungsstil von der Krankheit geprägt ist: Eine Ernährung, die viel Bewusstsein und Kontrolle verlangt, um alle wichtigen Nähr- und Mineralstoffe zu erhalten, eine Ernährung die auf Fleisch verzichtet, eine Ernährungsweise, die Käse zum Luxus macht, auf den oft verzichtet werden muss, zeigt, dass sich auch nach Essstörungen intensiv mit Essen beschäftigt wird und vielleicht auch beschäftigt werden muss. Generell hat sie heute ein sehr hohes Bewusstsein gegenüber ihrer Nahrungsaufnahme entwickelt, welches nicht nur auf einer gesundheitlichen Argumentation basiert, sondern auch auf ideellen Maßstäben, wie ökologische Erzeugung und das Beachten von Energiebilanzen beim Lebensmittelkauf. Gesellschaftliche Relevanz: Eine Studie des Robert-Koch Instituts (Hölling / Schlack 2007) ergab, dass beinahe jedes dritte Mädchen in Deutschland während der Pubertät an Essstörungen wie Bulimie, Mager- oder Ess-Sucht leidet. In der Pubertät werden Frauenbilder sozialisiert, die auf Schlankheit und Schönheit basieren und insbesondere auf heranwachsende Mädchen enormen Druck ausüben, diesen Idealen nahezukommen. Dieses weibliche (Körper-)Ideal zieht sich durch das gesamte Ernährungsverhalten vieler Frauen (vgl. Bourdieu 1982, S. 309). Das Aufeinanderfolgen von Bulimie und der danach erfolgten Entscheidung zum vegetarischen Leben bei Kerstin könnte auch in diesem Ideal von Weiblichkeit liegen, und nicht nur an persönlichen Motiven wie ethischen oder ökologischen. Die Tatsache, dass weit mehr Frauen als Männer sich vegetarisch ernähren, liegt meines Erachtens nicht an einer größeren ethischen Motivation, sondern eben an altbekannten Ernährungsmustern, welches Fleisch zur Männerkost macht, während Frauen sich lieber an Gemüse und Salat (zu) halten (haben) (vgl. Bourdieu 1982, S. 309). Es wird sozusagen eine spezielle weibliche Sozialisation erfahren, insbesondere auch in Ernährungsfragen, welche quasi von allein zu einer größeren Affinität zu einer vegetarischen Lebensweise führt (ausführlich dazu unter Absatz 6.7). Unabhängig der Erkrankung kann man Kerstin im Selbstverwirklichungsmilieu verorten, mehr noch aber ist sie ein typischer Vertreter des Lifestyle of health and sustainibility, der Lebensstil eines Konsumententyps, der durch gezielte Produkt-

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auswahl sich für Nachhaltigkeit und Gesundheit einsetzt. Typisch ist hier der Anspruch regional und saisonal einzukaufen, damit Lebensmittel keine zusätzlichen Emissionen durch Transport verursachen, aber auch gute Bio-Qualität in ausgewählten Bio-Läden oder Supermärkten zu kaufen. Es ist das moderne Öko-Milieu, bei dem sich moralischer Anspruch mit der Lust auf Genuss paart, Hedonisten mit Moral, die sowohl als neuer Markt betrachtet werden und selber ihre Marktmacht einsetzen wollen. Es zeigt sich auch, dass selbst bei einem studentischen Einkommen eine biologisch-gesunde Ernährung möglich ist, die allerdings auch teilweisen Verzicht bedingt und einen hohen Grad an Idealismus fordert. 4.5.3 Fallanalyse Eva »Also gehungert haben wir nicht. Ich habe dann auf vieles verzichtet, aber beim Essen: Nein«

Biographische Kurzbeschreibung: Eva ist 50 Jahre alt und ist in einer Familie mit fünf Kindern im ländlichen Franken aufgewachsen, von Anfang an integriert in die Küchenarbeit, die sie bis heute mit Freude erfüllt. Sie hatte oft verschiedene Teilzeit- und Aushilfsjobs und lebte teilweise mit ihrem Mann und den fünf Kindern von Hartz IV, im Moment hat sie nun eine feste Stelle als Hilfsarbeiterin bei einer sozialen Organisation. Trotzt der langjährig prekären finanziellen Situation gelang es ihr immer, die Familie abwechslungsreich und frisch zu bekochen. Erzählte Biographie: Evas Kindheitserinnerungen sind sehr stark geprägt vom Leben auf dem Land, dem Mithelfen in der Küche bei ihrer Mutter. Ihr Vater ist früh verstorben, es ist von Anfang an ihre Aufgabe gewesen, der Mutter in der Küche zu helfen. Es wurde alles selbst gekocht und zubereitet und diese Art zu kochen und sich zu ernähren hat sie bis heute beibehalten: »Ja, ich bin auf dem Land groß geworden, da hatte man vieles aus dem Garten, Tomaten, Gurken, Salat, Gemüse, ich habe es genauso von meiner Mutter übernommen, so mache ich es auch. Oder Kuchen backen, Plätzchen backen, das mache ich heute noch genauso« (Z. 23ff.). Die Art und Weise der Einstellung zu Lebensmitteln und der Verarbeitung (vgl. Z. 274ff.) hat sie in sehr starkem Umfang von Ihrer Mutter übernommen und bis heute in der Küche beibehalten. Die einzige Information aus ihrem Jugendalter ist die Tatsache, dass sie eine Ausbildung in einer Metzgerei absolvierte, in der auch gekocht werden musste. Die in der Kindheit erfahrene Affinität zu Lebensmittelen und deren Verarbeitung blieb auch bei der Berufswahl auschlaggebend. »Na ja, ich habe fünf Kinder, da muss man kochen« (Z. 4f.). Mit diesem Satz beginnt sie das Interview und zeigt, dass für sie Essen und Ernährung zuallererst Versorgung der Familie bedeutet. Wie aus ihrer eigenen Kindheit gewohnt, bereitet

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sie alles selbst zu und kauft das Gemüse beim Bauernhof. Mit fünf Kindern sowie vorübergehenden Phasen der Arbeitslosigkeit von ihr oder ihrem Mann, ist es vor allem die Schwierigkeit, mit geringen finanziellen Mitteln eine Großfamilie zu versorgen. Dazu gehört für sie vor allem Disziplin und Ordnung, insbesondere beim Einkauf, den sie einmal in der Woche nach Einkaufsplan erledigt, aber auch das Verzichten und Preisvergleichen: »Schnickschnack, das Teure, das kannst du dir nicht erlauben, das geht ja nicht, auf die Billigprodukte musst du schon gehen« (Z. 121ff.). Die Ernährung ist dann dementsprechend ausgerichtet, es gibt wenig Fleisch, viel Gemüse und billige, sättigende Gerichte, wie Kartoffeln oder Mehlspeisen in verschiedensten Variationen (vgl. Z. 265ff.). Trotzdem wird auch mal Essen gegangen, allerdings bei Bekannten zum Sonderpreis (vgl. 207ff.), und es gibt auch größere und teurere Festessen, wie zum Beispiel zu Weihnachten, Ente mit Klößen, Rotkraut und Salat. So gelingt es ihr, mit viel Disziplin beim Einkauf und viel Wissen und Kreativität in der Küche, trotz finanziellen Engpässen die Familie gesund und abwechslungsreich zu versorgen. Lebensgeschichtliche Interpretation: In der Selbstdarstellung von Eva wird sehr deutlich, dass ihr viel daran liegt, klarzustellen, dass es ihr gelingt, ihre Familie trotz Geldmangels angemessen, das heißt gesund und auch lecker, zu versorgen. Auch als zwischenzeitliche Hartz IV Empfängerin: » Also gehungert haben wir nicht. Ich habe dann auf vieles verzichtet, aber beim Essen: Nein« (Z. 219f.). Sie legt auch viel Wert darauf festzuhalten, dass ihre Kinder die Einschränkungen, beispielswiese beim Fleischkonsum, nicht als Verzicht empfinden, sondern gerade die ›Ersatzspeisen‹, wie eben Pfannenkuchen, besonders schätzen. Insgesamt möchte sie als Person wahrgenommen werden, die trotz hoher Kinderzahl und geringem Einkommen in der Lage ist, ihre Aufgaben als Hausfrau und Mutter bestens zu erfüllen, dass sie es schafft, mit dem zur Verfügung stehenden Geld ihre Familie gut zu versorgen, auch wenn ihr das oft nur mit großer Mühe und viel Verzicht gelingt: »Und meistens hat man an die Kinder gedacht, bevor man an sich selber gedacht hat. Ich sage immer, erst sind die Kinder gekommen und dann bin ich gekommen« (Z. 190f.). Gesellschaftliche Relevanz: Der Fall ›Eva‹ ist ein gutes Beispiel für den von Bourdieu beschriebenen ›Notwendigkeitsgeschmack‹, »Geschmack dafür, wozu sie ohnehin verdammt sind« (Bourdieu 1982, S. 290). Das Teure wird dann zum ›Schnickschnack‹, den man nicht braucht, der Verzicht auf Fleisch relativiert, »man muss ja nicht jeden Tag Fleisch haben« (Z. 267f.), die Ersatzspeisen als ohnehin leckerer empfunden. Satt machen muss es und erschwinglich sein oder in Bourdieus Worten: »in diesem Sinne läßt sich der Geschmack der unteren Klassen für gleichermaßen nährende wie sparsame Nahrung (…) aus der Notwendigkeit zu weitest-

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gehender kostensparender Reproduktion der Arbeitskraft ableiten« (Bourdieu 1982, S. 290). Noch interessanter wird der Fall ›Eva‹ jedoch durch die Tatsache, dass es anscheinend auch unteren Einkommensschichten und auch Menschen mit Hartz IV Einkommen möglich ist, eine abwechslungsreiche und gesunde Ernährung zu verwirklichen. Die Diskussion, ob die Bezüge für Empfänger von Sozialleistungen zu gering sind, um eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung zu gewährleisten, beschäftigt die Medien in regelmäßigem Abstand immer wieder, und dieser Fall zeigt, dass die Sozialleistungen durchaus ausreichend sein können. Allerdings bedarf es dazu, wie in diesem Falle, einer äußerst günstigen Kombination mehrerer Faktoren, die in der Realität wohl nicht so häufig anzutreffen sind. Zu allererst kommt hier die Bereitschaft zum Verzicht, nicht nur auf teure Lebensmittel, sondern der Verzicht beispielsweise auch auf Freizeitvergnügen oder neue Klamotten (»Ich habe meinen Pullover ewig getragen«, Z. 193). Noch wichtiger ist allerdings, auch über das Wissen und Know-How in der Küche zu verfügen. Dass Grundnahrungsmittel wie Mehl oder Kartoffeln günstig sind, wissen viele, jedoch nicht, was sie daraus machen können beziehungsweise wie man sie verarbeitet. Es gehört ein gewisses erlerntes Küchen- und Lebensmittel-Know-how dazu, um aus Mehl eine Vielfalt von Mehlspeisen selbst zuzubereiten oder um Kartoffeln vielfältig verarbeiten zu können. Hinzu kommt auch die Fähigkeit, mit dem zur Verfügung stehenden Geld haushalten zu können, das heißt sich das Geld einzuteilen, den Einkauf zu planen und unnötige Ausgaben zu vermeiden. Dazu gehört dann auch, wie in diesem Fallbeispiel, das Studieren von Werbeprospekten, um den günstigsten Preis oder das beste Angebot zu finden, der Einkauf bei Discountern wie Aldi und Lidl sowie ein disziplinierter Haushalts- und Einkaufsplan und gewissenhafte Vorratshaltung (vgl. Z. 139ff., 172f., 177): »Viele machen das nicht. Die denken: ›Ach, jetzt habe ich Geld‹ und gehen einkaufen und am Ende des Monats stöhnen sie. Manche kaufen sich aber auch Sachen, die man gar nicht braucht« (Z. 143ff.). Hinzu kommt in diesem Fallbeispiel auch ein funktionierendes Familienund Bekanntennetzwerk. Die eigene Mutter und auch die Schwiegermutter, die immer wieder mit Lebensmittelpaketen unterstützten, oder der Bekannte im Wirtshaus, der Sonderpreise macht, sind ebenfalls nicht zu gering einzuschätzende positive Faktoren. Nur wenn dies alles gelingt und alle diese Faktoren ineinander greifen, wenn Disziplin, Fähigkeit zum Wirtschaften, ein gewisses Koch-Wissen und Lebensmittelverständnis, und die Erkenntnis, auch verzichten zu müssen, vorhanden sind, kann man eine gesunde, abwechslungsreiche Kost auch mit geringen finanziellen Mitteln verwirklichen.

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4.5.4 Fallanalyse Herbert »Da wäre mir eigentlich was Handfestes lieber, also was Bürgerliches, statt irgendwas Nobles.«

Biographische Kurzbeschreibung: Herbert ist 40 Jahre alt und arbeitet selbständig als Bauunternehmer. Er beschäftigt zeitweise ein bis zwei Angestellte, arbeitet körperlich schwer, ist aber auch oft mit leitenden und organisatorischen Aufgaben beschäftigt. Er erwirtschaftet ein mittleres Einkommen, lebt alleine in einer Vorortgemeinde in seinem Haus im Industriegebiet, welches gleichzeitig Firmensitz ist. Im Alltag ist seine Ernährung sehr stark von seinem Beruf beeinflusst, oft muss es schnell gehen und die Mahlzeit kräftigend und sättigend sein. In seiner Freizeit dagegen geht er gern mit Freunden in gute, keinesfalls aber noble Gasthäuser, um sich etwas Gutbürgerliches zu gönnen. Erzählte Biographie: Aufgrund der halbtägigen Arbeitstätigkeit seiner Mutter verbrachte er öfter die Mittagszeit bei seiner Großmutter. Die Küche kann man als bürgerliche Hausmannskost beschreiben, Fleischpflanzerl, Krautkrapfen, Gemüse mit Innereien. Sowohl Mutter als auch Großmutter kochten alles selber und frisch, vieles kam auch aus dem eigenen Gemüsegarten. Viel mithelfen musste er in der Küche nicht, allerdings war er zumindest ab und zu auch involviert, beispielsweise beim Kuchen backen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er seine Ernährung in der Kindheit als durchaus gesund und vollwertig erlebt hat. Der entscheidende Einflussfaktor in der Ernährungsweise von Herbert ist sicherlich seine Arbeit als Handwerker, bei der er oft körperlich sehr anstrengende Arbeit verrichten muss. Zudem ist er kein Angestellter, sondern als selbständiger Bauunternehmer tätig, so dass zur körperlichen Arbeit noch hinzukommt, dass er keine festen Arbeitszeiten hat, sondern oft den ganzen Tag und auch noch spät abends mit seinem Unternehmen beschäftigt ist. Beides zusammen führt dazu, dass er, was ihm durchaus sehr bewusst ist, seine Mahlzeiten sehr unregelmäßig zu sich nimmt und diese dabei oft einseitig sind und er quantitativ zu viel zu sich nimmt (vgl. Z. 17ff., Z. 55ff.). Er versucht durchaus darauf zu achten, auch Obst und Gemüse zu sich zu nehmen, was ihm jedoch nicht immer gelingt, da er durch seine Arbeit bedingt auch auf eine große Kalorienzufuhr angewiesen ist: »Du kannst nicht den ganzen Tag Schubkarren fahren oder schaufeln und dann bloß drei gelbe Rüben essen. Das geht nicht« (Z. 456ff.). Bei seinen Einkäufen achtet er vor allem auf den Preis, er kauft gerne bei Discountern, anderswo ist es ihm »einfach zu teuer« (Z. 204). Den weitaus größten Teil seiner Erzählungen widmet er dem Themengebiet »Essen gehen«, in welchen Restaurants er verkehrt, sein Verhältnis zu den Wirten und seinen kulinarischen Vorlieben. Immer wieder betont er, dass er vor al-

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lem die »normale« Küche schätzt und ihm das gehobene Niveau nicht wirklich entgegenkommt: »Da wäre mir eigentlich was Handfestes lieber, also was Bürgerliches, statt irgendwas Nobles« (Z. 299f.). Beim Essen gehen schaut er auch nicht auf das Geld, Essen gehen ist für ihn ein Luxus, den er sich leistet und auch leisten möchte (vgl. Z. 408ff, 418ff.). Lebensgeschichtliche Interpretation: Herbert ist sich im Klaren darüber, dass seine Ernährungsgewohnheiten nicht dem entsprechen, was landläufig unter gesunder und bewusster Ernährung verstanden wird. Selbst bezeichnet er seine Ernährung durchgehend als »unregelmäßig«, »einseitig«, »wenig ausgewogen« (Z. 17ff.), »zu viel«, »zu spät« oder als »nicht das Richtige« (Z. 55ff.). Diese ungesunde Ernährungsweise verteidigt er mit den Notwendigkeiten seiner Arbeit, die ihn dazu zwingt, sich kalorienreich zu ernähren und ihm zudem keine Zeit lässt, bewusster mit seiner Ernährung umzugehen. Insgesamt sieht er seine Art und Weise zu essen als ungesund und versucht dies stets zu entschuldigen. Deutlich wird dies bei der Darstellung seiner Krebserkrankung, der er selbst wenig Bedeutung bezüglich seines Ernährungsverhaltens zubilligt, welche ihm jedoch dem Druck anderer Leute und Bekannter einbrachte, sich doch besser zu ernähren. Seine Ernährungsweise wurde damit zu einem Faktor, die die Krebsentstehung mit verursacht habe, weshalb er auch seinen Arzt konsultierte. Von einem wohlhabenden Kunden, der von seiner Erkrankung erfuhr, wurde seine Ernährung kritisiert, ihm Ratschläge dazu erteilt und damit indirekt seine Art sich zu ernähren als schlecht, krankheitsauslösend und illegitim dargestellt (vgl. Z. 439ff.). Da seine Art und Weise sich zu ernähren gesellschaftlich abgewertet wird, hat er diese Position übernommen, verteidigt sich jedoch damit, dass er zur Reproduktion der Arbeitskraft zu eben dieser Ernährungsweise gezwungen wird. Völlig anders stellt sich die Situation dar, wenn Herbert dagegen von seinen häufigen Restaurantbesuchen erzählt. Hier muss er sich nicht rechtfertigen, hier kann er zeigen, dass, wenn es die Arbeit und damit verbunden die Zeit zulässt, er durchaus Wert auf Essen und Ernährung legt. Er zeigt, dass er vieles ausprobiert, sowohl außergewöhnliche Gerichte als auch verschiedene Gaststätten, dass er nicht nur fettes Fleisch, sondern auch mal Fisch isst (vgl. Z. 330, 360ff), sprich, dass auch er sich legitim ernähren kann, wenn es die Umstände zulassen. Das Essen gehen ist für ihn der »einzige Luxus« (Z. 409) den er sich gönnt, und wo er auch nicht auf den Geldbeutel schaut. Zudem erfüllt das Essengehen für ihn auch stark sein Bedürfnis nach sozialem Kontakt außerhalb der Arbeitswelt. Ob das befreundete kinderlose Ehepaar, mit denen er meist ausgeht, oder die Wirtsleute mit denen man »per du« ist, mit denen ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt wird und die »immer ein Plätzchen« (Z. 382) für ihn frei haben, die soziale Komponente ist ihm sehr wichtig. In den Restaurants wird er erkannt, bevorzugt behandelt, er lässt es sich gut gehen und genießt – ein Kontrastprogramm zum alltäglichen Leben als

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Bauarbeiter, der versucht sich schnell, billig und nahrhaft zu ernähren und dies immer wieder vor anderen rechtfertigen muss. So kann das Essen gehen sicherlich auch als eine vorübergehende Statuserhöhung für Herbert gesehen werden. Gesellschaftliche Relevanz: Nach Bourdieu kann man Herbert als einen Arbeiter mit typischem Klassenhabitus einordnen. Die soziale Welt, in der er sich bewegt, ist klar strukturiert und nach außen begrenzt. Er selbst sieht sich und seine Essgewohnheiten als normal an, gutbürgerlich oder in seinen Worten etwas »Handfestes« (Z. 299). Normal ist dabei ein häufiger Schlüsselbegriff, nach denen er auch SterneKöche beurteilt und wertschätzt, wenn diese eben auch Gerichte zubereiten, die »der normale Mensch auch kochen und nachmachen kann« (Z. 305). Seine Grenzen oder das was eben nicht normal ist, nennt er »Firlefanz-Küche« (Z. 119), das Noble, welches ihm fremd ist: »Weil ich mich mit so hochgestochenen Leuten nicht identifiziere, das ist nichts für mich.« (Z. 134f). Diese Stellung im sozialen Raum ist für ihn eine nicht zu hinterfragende Realität, ein inkorporierter Habitus, der dem Einzelnen seinen Platz zuweist und anerkannt wird, wie Bourdieu feststellt: »Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man ›sich erlauben‹ darf und was nicht, schließt ein, das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, einen Sinn für Grenzen (›das ist nichts für uns‹), oder in anderen Worten, aber das gleiche meinend: einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von Seiten der Anderen einzuhalten und zu respektieren gilt (…).« (Bourdieu 1985, S. 18)

Es wird klar, wie sehr Geschmack von sozialer Stellung und sozialer Herkunft beeinflusst und bedingt ist. Was auf den Tellern liegt, ist zum großen Teil Ausdruck der Stellung im sozialen Raum. Der Arbeiter, der seine Arbeitskraft reproduzieren muss, greift zu fettigen, nährenden und billigen Lebensmitteln und lobt große Portionen (Z. 332, 339ff.), sieht sich dabei noch den Angriffen der Eliten ausgesetzt, welche in diesem Klassengeschmack individuelles Ernährungsfehlverhalten erkennen, und sich ihrerseits durch feine, leichte und magere Kost abgrenzen (vgl. Bourdieu 1982, S. 288f.). Hier zeigt sich deutlich Bourdieus zentrale These, dass Geschmack nie etwas rein Individuelles ist, sondern immer im gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden muss, dass Geschmack immer auch Klassengeschmack und Klassenhabitus heißt. Nach Schulze wäre Herbert wohl dem Integrationsmilieu zuzuordnen, mit einem Genussschema von Gemütlichkeit und Kontemplation und einem Erlebnisparadigma, welches Schulze als »nette Runde« kennzeichnet. Herbert schaut beispielsweise beim Essen gehen nicht auf das Geld, wie sonst beim Einkauf, das ist es ihm Wert, und der Wert liegt vor allem im sozialen Kontakt, dem Gefühl des Dazugehörens, die soziale Interaktion, die beim Essen gehen mit Freunden entsteht. Man rechnet sich zur Mittelschicht, zu den »Normalen« und strebt nach Konformität.

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Zur Gemütlichkeit des Harmonie-Milieus grenzt man sich durch eine leichte Verfeinerung ab, ist auch offen für neue Gerichte oder Restaurants, kann es sich dennoch auch »gut gehen lassen«, und »oft erhebt sich die soziale Konstruktion der netten Runde über der Basis eines gemeinsamen Essprojekts, dessen Sozialgeschichte vom Fondue über das Grillen zur Pizza führt (…)« (Schulze 2005, S. 307). Zum Schluss darf auch der Faktor Arbeit und Zeit nicht außer Acht gelassen werden. Wer Vollzeit arbeitet, wie Herbert als Unternehmer, hat oft gar nicht die zeitlichen Möglichkeiten sich gesund und bewusst zu ernähren, sondern ist getrieben vom Auftragsplan und der Arbeitszeit. 4.5.5 Fallanalyse Marie »Wenn ich normal im Alltag esse, dann esse ich, damit ich was gegessen habe.« Biographische Kurzbeschreibung: Marie ist 32 Jahre alt und wuchs in einer Großstadt in der ehemaligen DDR auf. Mit ihren Eltern und ihrem Bruder zog sie etwa im Alter von acht Jahren in eine Großstadt in Süddeutschland und machte dort ihr Abitur. Heute arbeitet sie als Journalistin, hat ein überdurchschnittliches Einkommen und lebt mit ihrem Partner zusammen. Im Alltag ernährt sie sich quasi nebenbei, der Beruf ist stressig und Essen hat für sie keinerlei Genussfunktion. In ihrer raren Freizeit dagegen legt sie großen Wert auf gutes Essen, vor allem in teuren Restaurants, wo das Essen ohne Zeitdruck genossen werden kann. Erzählte Biographie: Ihre Erinnerungen an die Kindheit sind geprägt von zwei Themenkomplexen. Der erste Komplex ist das Aufwachsen in ihrer Familie, die Alltags-, Arbeits- und Lebenssituation, die sie dort vorfand. Ihre Eltern, die Mutter mit Ausnahme während der Kleinkindzeit, waren beide berufstätig. Auf die Frage nach der Bedeutung von Ernährung in der Familie, beginnt sie mit der Feststellung: »Ja, also wir haben immer alle zusammen gegessen« (Z. 33). Im weiteren Gespräch wurde jedoch sehr deutlich, dass dies wohl nur der Idealfall war. Schon zum Frühstück war meist ein Elternteil in der Arbeit und gerade nach der Schule, zur Mittagszeit, war Marie oft auf sich alleine gestellt. Mehrfach bezeichnet sie sich als Schlüsselkind, welches mittags nach Hause kam und alleine war, da beide Eltern berufstätig waren (vgl. Z. 311ff.). Die Ernährung bestand dann im Aufwärmen von Vortagsgerichten, Fertiggerichten oder eigenen Kochversuchen, die jedoch als nicht sehr erfolgreich in Erinnerung blieben (vgl. Z. 36ff., 281ff.). Oft habe sie auch Essen, welches sie nicht mochte, in die Toilette geschmissen, um so der Mutter den Verzehr der Nahrung vorzutäuschen. Der zweite große Themenkomplex beim Erzählen ihrer Kindheit ist das Aufwachsen in der DDR. In der Retroperspektive verliert sie die Normalität, mit der sie

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als Kind die alltägliche Ernährung erlebte, und erzählt rückblickend vergleichend mit der Ernährungslage nach dem Umzug nach Westdeutschland. Beschrieben werden die typischen Gerichte in ihrer Familie, von ihr »Hausmannskost« genannt, wie zum Beispiel Spiegeleier, Fleischpflanzerl, Kartoffeln oder Rotkraut (vgl. Z. 17f.). Die für sie überwältigende Vielfalt an Nahrungsmitteln, die sie nach dem Umzug nach Westdeutschland vorfand, war für sie beeindruckend und irritierend zugleich: »Da denke ich mir, da ist wahrscheinlich schon ein Bruch in der Entwicklung des Geschmacks gewesen, dadurch, dass ich quasi in eine andere Welt geschmissen wurde. Auf einmal gab es irgendwie alles zu Essen, da gab es für mich die absurdesten Dinge, auf einmal konnte man Muscheln essen, Krebse, Krabben, Hummer. Das kannte ich alles gar nicht. Insofern denke ich, habe ich dann natürlich Essen mit anderen Augen betrachtet« (Z. 136ff.). Heute, als berufstätige Frau, sind die Ernährungsgewohnheiten von Marie zweigeteilt, in Ernährung im Alltag und Ernährung als Genusserlebnis. Aufgrund ihrer Berufstätigkeit als Journalistin in einer anderen Stadt, dazu im Schichtbetrieb, fehlt ihr im Alltag oftmals die Zeit, um sich dem Essen und der Ernährung mehr zu widmen, als auf das Nötigste. Im Alltag ist Essen für sie eine Notwendigkeit, die es zu verrichten gilt »damit ich nicht umfalle« (Z. 158), etwas Lästiges, auf das sie manchmal »keinen Bock« hat und ihr im anstrengenden (Berufs-)Alltag die Zeit raubt (vgl. Z. 479f.). Auf den Punkt bringt sie es mit der Feststellung: »Wenn ich normal im Alltag esse, dann esse ich, damit ich was gegessen habe« (Z. 165f.). Ganz anders sieht es aus, wenn Essen aus der Last des Alltäglichen befreit wird, und die Zeit da ist, um das Essen als etwas Besonderes zu zelebrieren. Essen gehen mit Freunden oder ihrem Partner, oder gemeinsames Kochen hat dann einen enorm hohen Stellenwert und wird zu einem Erlebnis, das zelebriert wird. Essen ist dann Synonym für Urlaub und Freizeit, »einfach ausklinken aus dem Alltag und runterfahren vom Berufsstress« (Z. 49f.). Bei dieser Art von Essen wird sich Zeit genommen, sie geht gerne in teure Restaurants, wo das Essen auch mehr kosten darf, man lässt sich bedienen, lässt es sich gutgehen und gönnt sich etwas. Zeit ist bei ihr der entscheidende Faktor, ob Essen als Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung physiologischer Funktion oder als außergewöhnliches Genusserlebnis betrachtet wird. Lebensgeschichtliche Interpretation: Schon in den Kindheitserinnerungen wird der große Wert deutlich, den sie dem ›zusammen essen‹ einräumt. Ihre Erinnerungen an besondere Mahlzeiten oder Rituale sind gekoppelt an das Dasein der anderen Familienmitglieder, insbesondere der Eltern. Auch heute noch ist ein genussvolles Essen an die Anwesenheit von Freunden oder Partner gekoppelt. Gutes Essen bedarf eines damit einhergehenden sozialen Kontaktes, welcher das Mahl erst zu einem werden lässt, ein für sich allein gekochtes Essen bleibt seltene Ausnahme: »Für mich alleine koche ich dann nicht unbedingt« (Z. 318). Die negativen Erfahrungen beziehungsweise das kindliche Scheitern in der Küche führte wahrschein-

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lich zu einer vorsichtigen Distanz zum Selbstkochen. Zwar macht ihr, wenn sie kocht, das Kochen auch Spaß, sie kocht allerdings selten und wenn, dann oft einfache Dinge wie eine Suppe (vgl. Z. 24). Auffallend an der Darstellung und Erzählung ihrer Ernährungsbiographie ist die Ambivalenz in der Bewertung und Deutung zweier Ernährungsmuster, der von ihr in der Familie erlebten »Hausmannskost« einerseits, und einer vielfältigeren und qualitativ höherwertigen Kost andererseits. Ganz besonders deutlich wird dies an der Einschätzung der elterlichen Küche als Hausmannskost. Diese Einordnung ihrerseits erfolgt anfangs neutral, doch schon im Erzählverlauf wandelt sich die »Hausmannskost« (Z. 18) in den abfälligeren »Hausmannskram« (Z. 25), um dann etwas später als »echt schlechte Küche, so Hausmannskost« (Z. 131), entwertet zu werden. Eltern, Verwandte und Bekannte haben in ihren Augen einen schlechten Geschmack, die sich mit »so wahnsinnig wenig zufrieden« (Z. 492f.) geben, und in »ollen Gaststätten« (Z. 131f.) speisen und sie sich denkt: »Bäh, was ihr alles so esst« (Z. 130f.). Im Unterschied dazu geht sie zum exklusiven Italiener und isst dort »Branzino (Z. 214); auf Reisen geht sie gerne in teure Restaurants, »mal was ausprobieren« (Z. 421). Als sie von der »ollen Gaststätte« erzählt, mit fünfzig Gerichten auf der Karte wie zum Beispiel Eisbein oder Sauerbraten, in die sie von ihrem Großvater eingeladen wurde, kommt sie zu dem Schluss, dass dies nicht alles gut und frisch zubereitet sein kann und da »schon ein Bruch in der Entwicklung des Geschmacks« (Z. 137) stattfand. Dieser Bruch, den sie dann mit dem Umzug von Ost nach West in Verbindung bringt, von Hausmannskost zu vielfältiger Küche, ist aber vielmehr als sozialer Bruch zu sehen, als der Bruch zwischen den sozialen Schichten. Durch ihren beruflichen Erfolg gelang ihr ein sozialer Aufstieg, der sich in einer veränderten Haltung bis zur Entwertung gegenüber der Ernährungsweise einer kleinbürgerlichen Schicht, der sie ehemals selbst angehörte, manifestiert. In der Selbstdarstellung freilich beharrt sie darauf, nicht »besonders weit weg« (Z. 20) von der Hausmannskost zu sein. Sie würde sich selbst nicht in eine exklusive Küche stecken, sondern sieht sich selbst als »Normalesser, nicht so ein Feinschmecker« (Z. 178). Bewusst ist ihr auf jeden Fall der größere Spielraum ihrer finanziellen Möglichkeiten im Vergleich zu Freunden und Eltern (vgl. Z. 185ff.). Dabei wandelt sie aber auch immer wieder mögliche finanzielle Gründe in Anspruchslosigkeit und Nicht-Wertschätzen können oder wollen um. Geht sie mit Freunden und deren Kind zum Essen aus, moniert sie, dass diese sich auch mit » so wahnsinnig wenig zufrieden« (Z. 492f.) geben und ganz glücklich waren, als sie sie auf eine Pizza einlädt: »Ich hätte gerne mehr gegeben. Aber da merke ich halt, dass denen das nicht so wichtig ist« (Z. 498f.). Dadurch, dass die Entscheidung für billigere Restaurants oder Lebensmittel nicht von finanziellen Zwängen aus betrachtet wird, sondern durch die Anspruchslosigkeit der anderen, kommt so zum finanziellen Status auch noch der des Savoir vivres, des Connaisseurs. Status, auch wenn nie bewusst formuliert, spielt eine große Rolle. Das Essen in teuren Lokalen und die

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dabei dargestellte Bedeutungslosigkeit von Geld, ebenso wie das Erwähnen von Reisen und Gastronomieführern demonstrieren, dass sie zu leben weiß und sich dieses Leben leisten kann und als normal betrachtet. Durch die Festlegung ihres Essverhaltens als normal, kommt es dann zwangsweise zur Abwertung der elterlichen Küche zur schlechten Küche und zur Abwertung daran weniger interessierter Freunde als anspruchslos. Gesellschaftliche Relevanz: Marie ist eine Vertreterin der ›Double income no kids‹, karriereorientiert und dabei hedonistisch genussfreudig, in der wenigen Freizeit die ihr bleibt. Berufstätig, mit sehr flexiblen Arbeitszeiten, ist sie hochgradig mobil, was eine für die Spätmoderne typischen Individualisierung von Zeitverwendung und Lebensführung mit sich bringt (vgl. Beck 1986). Die Lebensweise und Freizeitgestaltung ist stark geprägt vom Faktor Beruf: Freizeit wird zum raren Gut, welches geplant und dann auch genutzt werden muss beziehungsweise dann ganz besonders erlebt und ausgekostet werden muss. Auch ihre Ernährungsweise ist den Anfordernissen einer hochflexiblen kapitalistischen Gesellschaft unterworfen, die manchmal kaum Zeit zum Essen lässt. Sie steht damit exemplarisch für viele berufstätige Performer, die den Anspruch haben, sich gut zu ernähren, dies aufgrund von Zeitmangel und beruflicher Beanspruchung jedoch nicht stringent durchführen können, insbesondere dann, wenn man alleinstehend ist oder eben auch der Partner voll berufstätig ist. Art und Weise der Ernährung hängt sehr viel mehr von der Verfügbarkeit von Zeit und nicht der von Geld ab. Hat man Zeit, dann wird ausgiebig geschlemmt, die freie Zeit, der Service und das gute Essen im Kreise von Partner oder Freunden genossen. Nach Schulze wäre Marie eine Vertreterin des Selbstverwirklichungsmilieus, welches »dominiert in den Studentenkneipen, den ›Griechen‹ und ›Italienern‹ der Großstädte […]« (Schulze 2005, S. 312). Die Verwirklichung des Ichs steht im Vordergrund, Perfektion, Narzissmus und Selbstverwirklichung als Lebensphilosophie, das Genussschema reicht von Action bis Kontemplation (vgl. Schulze 2005, S. 315). Man möchte etwas erleben, aber auch mal einfach abschalten und genießen, ernährungsbezogen also auch mal fremdländische Küche probieren und abschalten bei feinem Essen im Restaurant, oder in den Worten Maries, »dieses sich Gönnen-müssen, Gönnen-können, muss halt auch mal sein« (Z. 56f.). Typisch in diesem Milieu ist auch die Abgrenzung gegen »das Niedere, Gemeine, Unentwickelte« (Schulze 2005, S. 315), welches im Fall ›Marie‹ deutlich in der Abgrenzung und Entwertung von einfacher Hausmannskost manifest wird. Sie ist zudem ein gutes Beispiel des sozialen Aufsteigers, im Sinne Bourdieus, dem es durch eine Veränderung der Laufbahn gelingt, seinen Habitus entgegen den ursprünglichen Lebensbedingungen zu verändern. Ganz im Stile der Oberschicht wird der sich neu erarbeitet Geschmack als Mittel zur Distinktion eingesetzt, der eigene Geschmack nun als normal oder im Bourdieu’schen Sinne legitim empfunden, der sich gegen

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Hausmannskost als Notwendigkeitsgeschmack abgrenzt. Typisch ist dabei auch, dass der Habitus nicht komplett umgeformt werden kann, sondern, so Bourdieu, nur in bestimmten Grenzen veränderbar ist (vgl. Bourdieu 1989a, S. 407), so dass oftmals ein mehr oder weniger großer Hang zum alten (Ernährungs-)Habitus erhalten bleibt, wie im Fall von Marie beispielsweise die große Wertschätzung der Brotzeit. Als sozialer Aufsteiger ist es sicherlich schwer, sich im neuen Milieu natürlich zu bewegen und sowohl auch alte Gewohnheiten, alten Habitus aufzugeben, was an der Ambivalenz ihrer Darstellung deutlich wird. 4.5.6 Fallanalyse Theresa »Die Lebensmittel sind nicht mehr das wert, was sie waren, als wir jung waren. Obwohl sie es wert wären, obwohl es wichtig ist, dass man sich gesund ernährt. Man sieht ja, wie das Zeug verschleudert und verramscht wird und einfach zu viel auf den Markt geschmissen wird.«

Biographische Kurzbeschreibung: Theresa ist 63 Jahre alt und in einer elfköpfigen Mehr-Generationen-Familie in einer sehr ländlich geprägten Region in Bayern aufgewachsen. Die Eltern betrieben eine Landwirtschaft, in die die ganze Familie integriert war. Sie selbst machte eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin. Sie hat zwei Kinder, arbeitete früher als Verkäuferin in Lebensmittelläden und hat eine mittlere Rente zur Verfügung. Sie war ihr Leben lang in der Landwirtschaft und im Lebensmittelbereich tätig, kocht so gut wie alles selbst und beklagt die Entwertung von Lebensmitteln und Landwirtschaft in der heutigen Zeit. Erzählte Biographie: Theresa hatte eine typisch ländlich geprägte Kindheit in den 50er Jahren. Aufgewachsen in einer Großfamilie auf dem Lande, war sie, wie Ihre Geschwister, von Anfang an in die Arbeiten der elterlichen Landwirtschaft eingebunden. Es waren die 50er Jahre, im ländlich-bäuerlich geprägten Bayern, wo der sonntägliche Kirchgang noch eine »Sonntagspflicht« (Z. 65) war. Sie bezeichnet es als »einfaches Leben« (Z. 51), welches schön war, nicht arm, aber doch entbehrungsreich, mit einem Hof und einem schwerkranken Vater. Eine typische Kindheit der Nachkriegsgeneration, in der sie in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs und erst später mit den Errungenschaften der Industrialisierung und Technisierung in Berührung kam. So gab es in ihrer Kindheit weder Kühlschrank noch Elektroherd, die Küche basierte quasi vollständig auf dem, was in der familiären Landwirtschaft erwirtschaftet wurde: im Winter vor allem Kraut und Mehlspeisen, im Sommer Gemüse aus dem Garten (vgl. Z. 116f.). Die Speisen wurden alle per Handarbeit hergestellt, auch Nudeln und Brot. Fleisch gab es sehr selten, nur zum weihnachtlichen Schlachtfest gab es Fleisch im Überfluss und wurde auch als etwas sehr be-

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sonderes empfunden. Essen und Ernährung hatte für sie den Stellenwert eines Lebensmittels im Wortsinne, etwas das selbst hergestellt wird, um physisch zu überleben (vgl. Z. 5), wie sie gleich zu Beginn des Interviews feststellt. Dass die ganze Familie den Lebensunterhalt nur durch landwirtschaftliche Tätigkeit verdiente, bestimmte auch später ihr eigenes Arbeitsleben. Ihre Jugend war geprägt von Ihrer Lehre als Bäckereifachverkäuferin. Sie lebte mit fünf anderen Mädchen in einem Zimmer, ihre Entlohnung war »Kost und Wohnung«, was sie, wie Ihre Betonung und mehrfache Erwähnung schließen lässt, als guten Lohn empfand. Auch hier wurden die Verhältnisse beziehungsweise die Wohnsituation durchaus als Bereicherung erlebt (vgl. Z. 73ff.). Nach der Lehre kam sie in eine andere Stadt und arbeitete dort noch fünf Jahre als Bäckereifachverkäuferin, bevor sie eine Familie gründete. Wie ihre Mutter kochte sie alles selber. Bis heute bereitet sie, bis auf wenige Ausnahmen, alles selbst zu, vom Brot über die Nudeln bis zur Fleischbrühe für Suppen. Sie war in mehreren Lebensmittel- und Feinkostgeschäften als Verkäuferin angestellt und hat aus diesen Tätigkeiten und ihrer Herkunft aus der Landwirtschaft, eine gewisse Skepsis gegenüber fremdproduzierten, aber auch biologisch hergestellten Lebensmitteln (vgl. Z. 229ff., 330ff.). Ihre Kost ist einfach, bürgerlich, typischerweise Fleisch mit Beilagen und Salat (vgl. Z. 206ff.); sie legt dabei aber großen Wert auf frische, regionale und saisonale Kost. Gegenüber neuartigen Entwicklungen ist sie zurückhaltend bis ablehnend: »Wem wäre das eingefallen, dass man eine Pizza beim Pizza-Service bestellt. Ich habe noch nie angerufen. (…) Das gibt es bei mir heute noch nicht. Wenn ich es nicht selber zusammenbringe, brauche ich keine« (Z. 149ff.). Essen ist zudem eine sehr häusliche Angelegenheit. Herstellung und Verzehr ist eng mit den eigenen vier Wänden verbunden. Nur selten, zu ganz besonderen Anlässen, geht man auswärts essen. Lebensgeschichtliche Interpretation: Der zentrale Aspekt der Ernährungsgeschichte von Theresa, liegt in der Entwertung der von ihr erlernten Ernährungsgewohnheiten, Zubereitungstechniken und Herstellungsweisen durch die Entwicklungen einer modernen Gesellschaft: »Landwirtschaft war ja das allerhöchste (…). Das hatte einen Stellenwert. Die Landwirtschaft war das allerwichtigste« (Z. 366ff.). Während sich in ihrer Kindheit und Jugend fast ausschließlich alles um die Landwirtschaft und um die Erzeugung, Verarbeitung und Zubereitung von Nahrungsmitteln drehte, spielt dies in der heutigen Konsumgesellschaft ihrer Meinung nach nur noch eine kleine Nebenrolle. Die Entwertung betrifft dabei nicht nur die Tätigkeit in der Herstellung, sondern auch deren Produkte, man sieht ja »wie das Zeug verschleudert und verramscht wird« (Z. 256f.). Hinzu kommt, dass sie sich auch beruflich völlig entwertet fühlt. Früher, so sagt sie, war es ja noch etwas wert, wenn man Bäckereiverkäuferin war, »drei Jahre hat man das lernen müssen, was andere heute so nebenbei lernen« (Z. 42). Alles, was früher gut und teuer war, ist heute nichts

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mehr wert, so lässt sich Ihre Sicht der Dinge zusammenfassen. Daraus resultiert auch ihre Ablehnung gegenüber neuen Dingen, sei es Pizza Service, Hipp-BabyGläser oder Fertiggerichte, die Verklärung früherer Zeiten (»Aber es war schön, das einfach Leben«, Z. 51) und ihre große Freude daran, dass wenigstens ihre Enkel es schätzen, wenn sie selber Nudeln zubereitet (vgl. Z. 157ff.). Gesellschaftliche Relevanz: Die Erfahrung, dass kleinbäuerliche Strukturen wegbrechen, da aufgrund der niedrigen Lebensmittelpreise, wie das Beispiel Milchbauern zeigt, einen rentablen Betrieb kaum ermöglicht, ist sicher eine, mit der weite Teile ländlich-bäuerlich geprägter Landstriche zu Recht kommen müssen. Allgemein ist Theresa ein Beispiel für die »Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen« (Beck 1986, S. 113). Es ist die Freisetzung des Individuums, einer Freisetzung aus traditionellen Sozial- und Lebensformen, aus »Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen« (Beck 1986, S. 115), hier am Beispiel die Auflösung alter Großfamilienmodelle, der bäuerlichen Schicht und Lebensweise oder alter Berufe. Dies betrifft auch die Bedeutung des Essens und der Ernährung. Früher war die Produktion von Lebensmitteln einzige Aufgabe und Tagwerk ganzer Großfamilien, waren Lebensmittel eben noch lebenswichtige Güter, die man sich zum Leben sichern musste. Für seine Erlebnisgesellschaft sieht Schulze eine völlige Paradigmenverschiebung: »Als zentrales regulatives Prinzip entsteht eine fundamentale psychophysische Semantik, die an die Stelle der früheren ökonomischen Semantik tritt« (Schulze 2005, S. 35). Bezogen auf das Thema Ernährung heißt dies: Essen ist keine Frage mehr des Überlebens, sondern des Erlebens. Menschen die, sei es aus Altersgründen oder wegen mangelnder Bildung, diesen Entwicklungssprung der modernen Gesellschaft nicht für sich nutzen konnten beziehungsweise dadurch entwertet wurden, tun sich dann auch sehr schwer damit, diese Gesellschaft mit ihren Werten und Lebensformen zu verinnerlichen und ziehen sich meist verunsichert in das Private zurück. Nach Schulze ist dies ein Kennzeichen des Harmoniemilieus, welches sich vornehmlich aus älteren Menschen mit geringer Bildung rekrutiert. Das Weltbild dieses Milieus ist geprägt von Bedrohung und Gefahr, von der Angst vor Neuem und Unbekannten und im Umkehrschluss dann auch von der Sehnsucht nach Einfachheit, Überschaubarkeit und Harmonie (vgl. Schulze 2005, S. 293). Das Genussschema dieser Gruppe definiert Schulze mit Gemütlichkeit, man zieht sich gerne ins traute Heim zurück, um dort etwas Gutes zu kochen. Das einfache, bodenständige Essen wird zelebriert, altbewährtes gekocht und für gut befunden, Neuem wird ablehnend und skeptisch gegenübergestanden. Essen ist in diesem Milieu kein Erlebnis, kein Abenteuer, sondern im Gegenteil, es soll Geborgenheit geben. Schulze sieht hier auch einen Zusammenhang zum in diesem Milieu verbreiteten Übergewicht:

100 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG »Nur vordergründig ist dies auf milieuspezifische Essgewohnheiten zurückzuführen; entscheidend ist die passive Einstellung zum Körper in Verbindung mit dem Genußmuster der Gemütlichkeit […]. Zwischen Lebensstil und Körperlichkeit besteht eine Wechselbeziehung: ein gemütliches Leben macht dick, ein dicker Körper liebt die Gemütlichkeit«. (Schulze 2005, S. 298)

Hier ist jedoch mit Bourdieu zu entgegnen, dass eine passive Einstellung zum Körper schon eine sehr bürgerlich-wertende Beschreibung ist. Vielmehr ist es eben ein anderes Körperbild dieser Schichten, welches in einem fülligeren Körper nicht Übergewicht sondern Kraft sieht (vgl. Bourdieu 1982, S. 305f.). Die (Ab-)Wertung zu einem passiven Körperbild, einhergehend mit Übergewicht, ist schlicht die Übernahme einer Position der beruflich und finanziell Bessergestellten, welche leichte und gesundheitsfördernde Kost bevorzugen und ein Körperbild haben, das von Schlankheit geprägt ist. 4.5.7 Fallanalyse Gerald »Jetzt mit den Kindern natürlich, da schaut man, dass die was Gescheites kriegen und auf sich selber schaut man jetzt auch mehr«

Biographische Kurzbeschreibung: Gerald ist 34 Jahre alt und arbeitet als Apotheker. Er kommt ursprünglich aus dem ländlichen Raum, lebt jetzt in einer Großstadt, mit seiner Frau und zwei Kindern, und verfügt über ein überdurchschnittliches Einkommen. Von zu Hause frische, selbst gemachte Küche gewöhnt, achtete er nach dem Auszug kaum auf seine Ernährung. Mit den Kindern änderte sich dies grundlegend, er achtet sehr auf eine gesunde, biologische Ernährung und berücksichtigt auch Faktoren der Nachhaltigkeit. Vor kurzem wurde eine Erkrankung festgestellt, die er mit bewusster Ernährung beeinflussen will. Erzählte Biographie: Geralds Mutter war eine begeisterte Köchin, die alles selbst zubereitet hat und auch neugierig und kreativ in der Küche war, »wir haben eigentlich immer ein Superessen gehabt« (Z. 8). Es war eine gutbürgerliche Küche, von Schinkennudeln über Dampfnudeln bis zum typischen Schweinebraten mit Knödel, den es etwas untypisch regelmäßig am Samstag gab. Auf Fertiggerichte wurde komplett verzichtet, sogar die Pizza wurde selbst gemacht. Ein frischer Salat aus dem Garten des Großvaters war Pflicht zu jedem Essen. Selbst involviert in der Küche war Gerald bis auf seltene Ausnahmen nicht, die Mutter alleine war für die Versorgung zuständig. Der Vater hatte kein Interesse am Kochen, und dessen Vorliebe zu Fleisch und Wurst wurde von Gerald nicht geteilt, er ließ sich zur Gymnasialzeit extra nur Käsebrote machen und schien sich schon damals mit Ernährungs-

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fragen zu beschäftigen, »in der Schule, ab einem gewissen Alter, wo man ein bisschen mehr darüber nachdenkt« (Z. 240f.). Ein Umschwung bei den Ernährungsgewohnheiten kam erst zu Ende der Jugendphase, mit der Aufnahme des Studiums. Bis dahin immer vom Elternhaus versorgt, beschränkte er sich unter der Woche allein lebend auf das nötigste und ernährte sich von Fastfood und Fertiggerichten: »(…) abends ein bisschen Brot oder was, aber Wurst oder Käse hatte ich eigentlich auch nie. Ich bin dann oft nach dem Weggehen zum MC Donalds, zwei Burger, und dann war es wieder gut bis Mittag am nächsten Tag. Dann eine Leberkäsesemmel oder sonst was. Das war als Student« (Z. 72ff.). Zu einem erneutem Wandel in der Ernährungsweise kam es mit dem Beginn seiner festen Beziehung, nun wurde auch mal zu zweit gekocht, einfache Dinge wie Nudeln mit Sauce, aber auch Fastfood wurde weiterhin ab und zu konsumiert. Endgültig in eine neue Richtung veränderte sich seine Ernährungsweise mit der Geburt des ersten Kindes: »Ja, wie sie dann mitgegessen hat, ist es qualitativ hochwertiger geworden und es ist auch öfter gekocht worden« (Z. 89f.). Das Fleisch kommt von nun an vom Metzger, man hat eine Bio-Gemüse-Kiste abonniert und es wird versucht, sich bewusst und gesund zu ernähren (vgl. Z. 97ff.). Auch Ökologie und Nachhaltigkeit sind Themen die ihn interessieren, er achtet sehr genau darauf, dass der Fisch, den er kauft, nicht gefährdet ist beziehungsweise nicht in fragwürdigen Verhältnissen gezüchtet wurde (vgl. Z.152ff.). In der Kantine seiner Arbeitsstelle verzichtet er eigentlich immer auf Fleisch, da ihm die Herkunft des selbigen dort nicht vertrauenswürdig erscheint. Zudem leidet er an einer Erkrankung, in deren Zuge er sich nun noch mehr um eine ausgewogene Ernährung bemüht, auch weil er als Apotheker um die krankheitsbedingten Zusammenhänge weiß (vgl. Z. 278ff.). Seit er selber Familienvater ist, bemüht er sich sehr, die Ernährung so zu gestalten, wie er es selbst in seiner Kindheit erlebt hat, muss dabei aber feststellen, dass Möglichkeiten und auch Küchenkenntnisse nicht so vorhanden sind, wie es bei seiner Mutter beziehungsweise Herkunftsfamilie war (vgl. Z. 318ff.). Lebensgeschichtliche Interpretation: Die rückblickend als »Superessen« beschriebene Versorgung zu Hause war für Gerald während seiner Kinder- und Jugendzeit nichts außergewöhnliches, im Gegenteil. Die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse vom Großvater, das abwechslungsreiche und selbst zubereitete Essen der Mutter, alles war für ihn selbstverständlich, normal, »das war bei allen so« (Z. 314). Als er dann, zumindest unter der Woche, als Student alleine lebte, sah er sich nicht in der Lage, die ihm gewohnte Ernährung aufrechtzuhalten, wie folgende Erzählung verdeutlicht: »Ja, für mich war es abartig, als wir dann allein in der Stadt gewohnt haben, jetzt kaufe ich Äpfel im Supermarkt. Das war ein Schlüsselerlebnis, das gibt es doch nicht. Jetzt bestelle ich sie bei der Kiste mit, aber Äpfel, die kauft man nicht im Supermarkt, die holt man beim Opa.

102 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG Verstehen Sie? Und den Salat, den holt man auch beim Opa, den kauft man auch nicht im Geschäft« (Z. 289ff.).

Die Erfahrung, dass der vorher gewohnte Ernährungsstil nicht ohne großen Aufwand zu verwirklichen ist, ließen seinen Anspruch an Ernährung als alleinlebender Student stark verkümmern, hatte er weder Zeit noch Lust zu kochen, ihm war »das dann Wurst« (Z. 248). Erst mit der festen Freundin, noch mehr mit der Geburt der Kinder, wuchs wieder das Bedürfnis zu kochen und auch der Anspruch, sich selbst und der Familie eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Obst und Gemüse kommt von der Bio-Lieferkiste, das Fleisch wird beim Metzger gekauft. Dabei wird versucht, trotz dem Spagat zwischen Familie, Haushalt und Beruf, die Ernährung möglichst frisch und gesund zu gestalten. Wenn die Zeit knapp ist, bedient man sich schon mal vorgefertigter Maultaschen, diese aber vom Metzger des Vertrauens in der Nachbarschaft. Gerald wurde sozusagen erst mit dem Verlassen des Elternhauses und der eigenen Familiengründung bewusst, welche gute Ernährung er als Kind und Jugendlicher genossen hatte und versucht nun, auch wenn dies nicht immer gelingt, beziehungsweise er Abstriche machen muss, eine eben solche seiner eigenen Familie zu ermöglichen. Gesellschaftliche Relevanz: Eine gesellschaftliche Relevanz hat der Fall ›Gerald‹, wenn man seine Ernährung als Single mit der als Familienvater vergleicht. Als alleinlebender Student schlug er sich mit Fastfood durch, die Ernährung wird als »sehr spärlich« beschrieben. Wie schon in mehreren Interviews beschrieben, scheint es als Single ungleich schwerer zu sein, eine gesunde und abwechslungsreiche Kost zu verwirklichen beziehungsweise bedarf es eines enormen Idealismus. Die Mühen, den diese Kost erfordert, ist es für eine alleine lebende Person oftmals schlichtweg nicht Wert: »Ja, man will halt nicht den Aufwand betreiben. Wenn man kocht, macht man das Geschirr dreckig und man muss wieder alles aufräumen. Für sich allein macht man es nicht.« (Z. 252ff.). Es zeigt sich, dass Essen in der Gemeinschaft einen anderen Wert bekommt, oder wie Georg Simmel schrieb, Essen als ursprünglich egoistischer Akt, im gemeinsamen Mahl zu einem kulturellen, Gemeinschaft stiftenden Ereignis wird (vgl. Simmel 1957). Eine Esskultur oder die Freude und der Genuss des Essens, entfaltet sich erst in Gemeinschaft in vollem Umfang. Zu diesem sozialen Faktor des Essens kommt dann auch noch die Verantwortung beziehungsweise der Anspruch der Eltern, sich selbst aber vor allem die Kinder nicht nur satt zu machen, was über die komplette Menschheitsgeschichte wohl die herausragendste, wenn nicht zu allermeist einzige Motivation der Versorgung war, sondern diese gesund und abwechslungsreich zu ernähren. In diesem Zusammenhang wird der Bedeutungswandel der Ernährung der letzen Jahrzehnte deutlich. Nicht nur satt machend und dabei möglichst wohlschmeckend muss die Ernährung

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sein, sie wird auch unter dem Aspekt der Erhöhung des geistigen und körperlichen Kapitals betrachtet. Es lässt sich der Trend beobachten, man denke nur an das sognannte Functional Food, dass der Ernährung mehr und mehr die Aufgabe zufällt, körperlich wie auch geistig die Voraussetzungen zu verbessern, um möglichst gesund, fit, attraktiv und intelligent zu werden beziehungsweise zu bleiben. Essen bekommt so eine eigene Funktion im Konkurrenzkampf und soll zu Chancenvorteilen bei der Positionierung im sozialen Raum führen. Eine optimale Ernährung soll nicht nur für einen gesunden und attraktiven Körper sorgen, sondern möglichst auch noch klug machen. Margarine soll den Cholesterinwert senken und Joghurt die Darmflora verbessern. Wenn jetzt Wissenschaftler herausfinden, dass Rapsöl durch seinen hohen Anteil an Omega 3-Fettsäuren gut für die Entwicklung des Säuglingsgehirns ist, kommt aus dem Hause Nestle Babynahrung mit Rapsöl. Das ist gut für die Gehirnentwicklung des Säuglings, wie auf der Homepage des Konzern zu lesen ist. Setzt sich dieser Trend fort, wird Ernährung mehr und mehr zu einem möglichem Wettbewerbsvorteil und Mittel zur Steigerung des physischen Kapitals. 4.5.8 Fallanalyse Julia »Das sieht man schon, in meinem Alter gilt es als attraktiver, schlank zu sein. Das dann bei den Mädchen in meinem Alter ein gewisser Druck vorhanden ist, gerade bei denen, die eigentlich, wenn sie normal essen würden, ganz anders aussehen würden«.

Biographische Kurzbeschreibung: Julia ist 19 Jahre alt und geht noch zur Schule. Sie wohnt zu Hause bei ihrer Mutter, die Eltern haben sich vor mehreren Jahren getrennt. Zu Hause hilft sie oft mit beim Kochen, es macht ihr auch Freude und sie achtet darauf, sich möglichst ausgewogen und gesund zu ernähren. Essen gehen und kochen im Freundeskreis spielt so gut wie keine Rolle, was dort eine Rolle spielt ist das Gewicht: viele Freundinnen essen reduziert, um schlank zu sein oder zu werden. Erzählte Biographie: Ihre Erzählung beginnt Julia mit der Schilderung von Lebensmitteln, die sie als Kind nicht leiden konnte. Sie war allgemein sehr heikel, insbesondere was Gemüse betrifft. Sie betont mehrmals, dass ihre Mutter immer sehr auf eine gesunde Ernährung geachtet hat, abwechslungsreich, mit viel Obst und Gemüse, vor allem auch, wie sie darauf hinweist, da ihre Mutter einen korpulenten Körperbau hatte: »(…) weil sie ein bisschen korpulenter ist und sie bei mir den Verdacht hatte, dass ich vielleicht vom Körperbau so werden würde wie sie, weil ich ein bisschen fester war. Deswegen hat sie bei mir auf jeden Fall mehr auf die Ernährung geachtet als bei meinen Bruder.« (Z. 31ff.) Die Küche war nicht nur auf Gesundheit ausgerichtet, sondern war auch relativ fettarm gestaltet. Butter wur-

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de durch Olivenöl, Sahne durch Milch substituiert. Alles in allem eine leichte Variante der gutbürgerlichen Küche, mit Sonntagsbraten, Beilagensalat, Nachspeise und einfacheren, schnelleren Gerichten unter der Woche. Die Mutter, als Erzieherin tätig, band ihre Kinder auch in die Küche und den Kochprozess mit ein. Sie mussten mithelfen, Gemüse zu schneiden oder den Tisch zu decken. Die Mahlzeiten wurden meist zusammen eingenommen, jedoch ohne den Vater, der arbeiten war. Insgesamt wurde versucht, den Kindern Spaß und Freude am Essen und Kochen zu vermitteln (vgl. Z. 43ff.). Die Ernährung ist bei Julia weiterhin stark von der Mutter geprägt, schlichtweg aus dem Grund, weil ihre Mutter den Haushalt führt und die Einkäufe tätigt und damit entscheidet, was auf den Tisch kommt, freilich unter Berücksichtigung der Vorlieben der Kinder. Julia selbst hat Spaß am Kochen, zumindest wenn sie die Zeit dazu hat. Sie achtet darauf, sich mehr oder weniger gesund zu ernähren, ohne sich dabei sonderlich einzuschränken (vgl. Z. 151ff.). Beim Ausgehen spielt Essen so gut wie keine Rolle, hier steht Musik, Tanzen und Leute kennenlernen im Vordergrund, zudem fehlt es ihr schlichtweg an Geld, um mit Freunden auch mal essen gehen zu können (vgl. Z. 169ff.). Auch Fastfood Restaurants haben für Julia so gut wie keine Relevanz. Eine große Rolle im Ernährungsverhalten bei ihren Altersgenossinnen und ihr sieht sie vor allem im Faktor Geschlecht. Viele Ihrer Freundinnen würden sich stark einschränken, weil sie auf ihre Figur achten, und sie spricht vom Druck junger Frauen, schlank sein zu müssen, um das Bild einer schönen Frau zu erfüllen (vgl. Z. 193ff., 205f.). Lebensgeschichtliche Interpretation: Die ziemlich fettarme Ernährung der Mutter wurde durchaus als »schwierig« (Z. 29) empfunden und könnte die Abneigung von Julia gegenüber Gemüse und ›Gesundem‹ in ihrer Kindheit als Art Protest erklären. Sie bevorzugte die Wurst, am liebsten ohne Brot, lehnte Gemüse strikt ab und aß lieber Herzhaftes, »am besten ohne Beilagen« (Z. 24.). Eine zu penible Kontrolle und Beachtung von Ernährungsgewohnheiten, wie sie sie etwa von der Mutter kennt, lehnt sie auch ab: »Ich finde gesundes Essen an sich schon wichtig, das auf jeden Fall, aber ich finde, man sollte es nicht übertreiben, dass man versucht sich nur fettarm oder nur zuckerfrei zu ernähren« (Z.83ff.). Mehr oder weniger unfreiwillig hat sie sich diesem fettarmen Ernährungsstil jedoch selbst zu eigen gemacht und ist daran so gewöhnt, dass ihr fettreichere Kost nicht mehr schmeckt und auch körperlich nicht mehr gut vertragen wird (vgl. Z. 235ff.). Die Position der Mutter wird zwar als zu strikt empfunden, dann aber doch wieder verteidigt: Beim Kuchen backen würde weniger Butter ja auch reichen, und »sie hat halt lieber Öle genommen als Butter, weil es auch, finde ich, einfach angenehmer schmeckt.« (Z. 250f.) Deshalb muss sie, selbst sehr schlank, sich im Gegensatz zu Freundinnen auch nicht einschränken, da ihre Ernährung von Haus aus schon eine eingeschränkte ist.

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Gesellschaftliche Relevanz: Deutlich schildert dieser Fall die Problematik jugendlicher Frauen, sich dem gängigen Schönheitsideal anzupassen, welches in der westlichen Welt nun mal Schlanksein ist. Schon mit Beginn der Pubertät sehen sich junge Mädchen und Frauen dem Druck ausgesetzt, schön und deswegen schlank zu sein. Schon seit Jahrtausenden ist der Wert der Frau an die Schönheit gekoppelt. Auch die Emanzipationsbewegung der letzten hundert Jahre konnten wenig daran ändern, dass mit Einsetzen der Geschlechtsreife jungen Mädchen impliziert wird, dass das Wichtigste im Leben einer Frau noch immer ein schöner, schlanker Körper ist. Um diesen zu erreichen oder zu erhalten, wird dann gehungert und gefastet, werden bestimmte Lebensmittel gemieden oder Mahlzeiten komplett ausgelassen (vgl. Z. 194ff., 212ff.). Das herrschende Idealkörperbild der Frau ist dabei für den Großteil der Frauen nur unter Anstrengung oder eben gar nicht zu erreichen, und übt einen steten Druck aus, sich ihm zu unterwerfen. Ein längeres Zitat von Julia verdeutlicht dies sehr gut: »Das sieht man schon, in meinem Alter gilt es als attraktiver, schlank zu sein. Das dann bei den Mädchen in meinem Alter ein gewisser Druck vorhanden ist, gerade bei denen, die eigentlich, wenn sie normal essen würden, ganz anders aussehen würden. Dieses mager sein, das ist zurzeit auch so aktuell, ziemlich angesagt. Das Tragen enger Leggins, diese magere oder knabenhafte Figur bei Frauen, ich glaube, das ist wieder im Kommen. Und es hat halt mal nicht jeder eine knabenhafte Figur« (Z. 204ff.).

Wie sehr geschlechtsspezifische Rollen die Ernährung beeinflussen, zeigt auch die typisch weibliche und auch bei Julia anzutreffende Ablehnung von übermäßigem Fleischkonsum und bestimmten Fleischsorten, weil es ihr nicht schmeckt und sie »eher anekelt« (Z. 231). Hier kommt ein geschlechtsspezifischer Habitus zum Tragen, der dem weiblichen Individuum jedoch als völlig natürlicher Ausdruck des persönlichen Geschmacks erscheint: »Fleisch, die nahrhafte Kost schlechthin, kräftig und Kraft, Stärke, Gesundheit, Blut schenkend, ist das Gericht der Männer; die zweimal zugreifen, während die Frauen sich mit einem Stückchen begnügen; das bedeutet nun nicht, dass sie etwas im strengeren Sinne entbehrten – sie haben nur wirklich keine Lust auf etwas, das den anderen fehlen könnte, nicht zuletzt den Männern, denen Fleisch per Bestimmung zukommt, und gewinnen so gewissermaßen Ansehen aus einem Verhalten, das als ›Entbehrung‹ von ihnen nicht empfunden wird; mehr noch, ihnen fehlt der Geschmack ›für Männerkost‹; wenn übermäßig von Frauen genossen, (…) kann sie sogar Ekel erregen.« (Bourdieu 1982, S. 309)

Die Tatsache, dass von allen Interviewten nur die beiden jüngeren Frauen große Teile der Erzählung auf diese geschlechtsspezifischen Aspekte verwendeten, zeigt, dass von Kindheit an und dann verstärkt mit der Geschlechtsreife eine spezifische

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weibliche Ernährungsweise kreiert wird, deren Folge einfacher Verzicht und Kasteiung bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheiten reicht. Eine Soziologie der Ernährung hat sich damit auch immer mit Gender-Fragen zu befassen. 4.5.9 Fallanalyse Caroline »Man überlegt sich, zahlt man jetzt den Bus oder den Strom. Da bleibt das Ernährungsbewusstsein auf der Strecke«

Biographische Kurzbeschreibung: Caroline ist 46 Jahre alt, alleinstehend und arbeitet in einem Wohnprojekt für sozial schwache Menschen als Ein-EuroJobberin. Aufgewachsen ist sie im ländlichen Österreich, in einer Familie in der saisonal und abwechslungsreich gekocht wurde. Sie lebte einige Jahre von Hartz IV und Gelegenheitsjobs. Ihre finanzielle Situation macht sie für ihren Ernährungsstil und ihre Magenprobleme verantwortlich. Sie glaubt, dass mit dem ihr zur Verfügung stehende Mittel die anvisierte, abwechslungsreiche und gesunde Kost nicht zu realisieren ist. Erzählte Biographie: Ihre Kindheit beschreibt sie ausführlich und als sehr glücklich. Auf dem Land, mit eigenem Garten, aufgewachsen, beschreibt sie die Vielfalt der selbstproduzierten Nahrungsmittel aus dem Garten, den Kontakten zu Bauern, von denen sie Fleisch bekamen. Ihre Mutter war Hausfrau und bereitete die Mahlzeiten selbst zu, und insbesondere ihre Tante und Taufpatin, welche Lehrerin für Kochen und Handarbeiten war, prägte sie. Sie erzählt ausführlich von der Nähe zur Natur und den Jahreszeiten, den einzelnen Kräutern, den verschieden Beeren, den Pilzen im Wald, den eigenen Tieren oder dem Großvater, der Imker war. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sie in Ihrer Kindheit die Produktion und Verarbeitung von Nahrungsmitteln in unmittelbarer Nähe erlebt hat und dies auch sehr zu schätzen wusste. Die erste große Umstellung ergab sich für sie im Alter von 25 Jahren, als sie nach Deutschland umsiedelte und dort in eine Stadt zog, wo sie ihren Ernährungsstil nicht mehr wie gewohnt umsetzen konnte. Was früher im Garten selber angebaut wurde, musste sie nun vom Supermarkt beziehen, und auch die Ernährungsgewohnheiten ihrer Partner trugen zu einer Erosion ihres alten Ernährungsmusters bei (vgl. Z. 18ff.). Die größte Schwierigkeit und den größten Wandel brachte jedoch nach ihrer Aussage, die finanziellen Schwierigkeiten mit sich, in welcher die Ernährung mehr und mehr abhängig vom Geldbeutel wurde. Durch die Arbeitslosigkeit oder vorrübergehende Minijobs begann sie auf die billigsten Nahrungsmittel auszuweichen. Sie belegt dies mit einer Fülle an Beispielen mit exakten Preisangaben, erzählt, auf welche Produkte sie verzichten muss und welche Methoden zur Einsparung sie

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unternimmt. Dass man sich mit Hartz IV ausgewogen ernähren kann, bezweifelt sie, insbesondere als alleinstehende Frau, da der Spielraum bei den Gesamtlebenshaltungskosten so gering ist, dass wenn, nur beim Essen gespart werden kann: »Wenn man einen Einzelhaushalt hat, so wie ich seit zwei Jahren und das Geld knapp ist, dann fängt man schon zum Schludern an. Man überlegt sich, zahlt man jetzt den Bus oder den Strom. Da bleibt das Ernährungsbewusstsein auf der Strecke« (Z. 42ff.). Die schlechte Ernährung, durch welche sie nach eigenen Angaben auch krank wurde, ist für sie in erster Linie Folge mangelnder Finanzkraft. Lebensgeschichtliche Interpretation: Caroline versucht sich im Interview als Person darzustellen, die durchaus eine große Ahnung von Ernährung hat. Sie gibt auch immer wieder Hinweise und Ratschläge was untersucht werden sollte, wo mehr analysiert werden müsste und was ihrer Meinung nach unternommen werden muss, um die Ernährungssituation im Allgemeinen zu verbessern. Sie möchte zeigen, dass sie, wenn sie über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen würde, durchaus wüsste, was gut und gesund ist. Sie beschreibt ausführlich, wie sie sich ernähren muss und wie sie sich ernähren würde, zeigt dabei, dass sie auch über einen gewissen Horizont verfügt und auch exotischere Genüsse zuzubereiten wüsste, wenn sie nur könnte: »Da würde ich mir auch mal Muscheln und Tintenfische holen und würde sie mir selber kochen. Ich würde mir Meeresfrüchte mit Spaghetti machen. Aber da ist das Geld nicht da« (Z. 352ff.). Ihre Krankheit, als Magenproblem beschrieben, führt sie auf ihre einseitige und gezwungenermaßen billige Ernährung zurück (vgl. Z. 45ff.). Sie unterstreicht damit ihre Meinung über ihre Ernährungsgewohnheiten, nämlich als Produkt fehlender finanzieller Ressourcen, welche sie daran hindert, sich so gesund zu ernähren wie sie eigentlich wollte und könnte. Dies im Gegensatz zu anderen sozial schwachen Menschen, mit welchen sie arbeitet. Diese würden oftmals über Wohltätigkeitsorganisationen, wie der Tafel, Lebensmittel zugeteilt bekommen, ohne diese nutzen zu können: »Die bekommen dann Gemüse und wissen aber oft nicht, wie sie es verarbeiten sollen. Oder sie bekommen Fleisch und wissen nicht, wie sie es machen sollen« (Z. 69ff.). So kommt sie auch zur Einschätzung, dass ein größerer finanzieller Spielraum für sie persönlich eine Verbesserung ihrer Ernährungslage bedeuten würde. Für einen Teil der Leistungsbezieher würde dies jedoch nicht gelten, diesen Leuten sollte man stattdessen Kochkurse anbieten (vgl. Z. 473). Gesellschaftliche Relevanz: Der Fall ›Caroline‹ gewährt einen Einblick in die Lebenssituation von finanzschwachen Personen beziehungsweise Hartz IV Empfängern. Der Gedanke, dass man am Essen, an der eigenen Ernährung und damit an seiner Gesundheit zuletzt sparen würde, wird in solchen sozialen Lagen auf den Kopf gestellt. Wenn Fixkosten wie Miete, Strom, Gas, Wasser, Telefon bezahlt werden müssen, Kleidung und Busgeld hinzukommen, erscheint es den Leuten am

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einfachsten, an der Ernährung zu sparen: »Wenn auf einmal eine Umstellung ist und man nicht mehr so viel Geld ausgeben kann, spart man am leichtesten bei der Ernährung« (Z. 99ff.). Im gesellschaftlichen Diskurs wird an dieser Stelle dann oft diffamierend davon gesprochen, dass sozial schwache Menschen ihr Geld wohl lieber in Alkohol und Zigaretten stecken als in Lebensmittel. Dass Menschen in sozial schwachen Lagen häufiger Alkohol und Tabak konsumieren ist zwar eine Tatsache, die Motivation dahinter, bleibt jedoch oftmals unklar. Eine Innenansicht liefert uns hier der Erklärungsansatz von Caroline: »Ich kann nicht kochen, weil ich den Strom nicht zahle. Habe einen alten Herd, da ist die Platte kaputt. Wenn ich den Kühlschrank aufmache, dann ist das Gefrierfach vielleicht schon kaputt, das surrt schon richtig. Dann soll ich auch noch zum Einkaufen gehen und Bananen für 2 Euro oder ein Fleisch kaufen. Ein Kilo Fleisch kostet mittlerweile fast 4, 5 Euro, außer es ist irgendwas Fettiges. Dann brauche ich noch Öl und einen Topf, da habe ich auch keinen gescheiten, und Geschirr. Dann lass ich es lieber. Da rauche ich doch lieber und trinke was.« (Z. 421ff.)

Bei der Betrachtung gesellschaftlicher Randschichten ist also von einer ganz anderen Motivation auszugehen, was bei Nichtbeachtung sicherlich zu Missbilligung und Unverständnis führt, da dann Faulheit und ein Nicht-Wollen erkannt wird, wo jedoch oftmals soziale Resignation vorherrscht. Der Gedanke einer gesunden Ernährung ist ja ein perspektivischer, wodurch man sich auch in zukünftigen Zeiten einen gesunden, fitten und leistungsfähigen Körper verspricht. Eine Voraussetzung zu solch perspektivischen Gedanken ist jedoch das Wahrnehmen und Vorhandensein von Perspektive. Sind Menschen schon länger in Armut, und ist ihr Dasein von Zukunfts- und Perspektivlosigkeit geprägt, so werden sie auch kaum einen perspektivischen Blick auf ihre Ernährung haben. Nicht mehr die Zukunft im Auge, geht es dann schlichtweg um die unmittelbare Befriedung des Momentes, in dem quasi als letzter Luxus, die Zigarette oder Alkohol zumindest kurzfristig Besserung verspricht. Eine solche Perspektive können beispielsweise die eigenen Kinder sein, wie das Interview 3 mit Eva zeigt, die versorgt werden müssen und denen man eine bessere Zukunft ermöglichen möchte. Dies könnte auch ein Ansatzpunkt sein, warum sich insbesondere alleinstehende Personen in Armut am schlechtesten ernähren, da sie weder für sich eine Perspektive sehen noch dies auf die Zukunft der eigenen Kinder umlegen können.

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4.5.10 Fallanalyse Annika »Da war mit Kochen gar nicht viel drin. Da habe ich am Abend Grießbrei gemacht, Pudding angerührt oder es gab Päckchenspaghetti mit der Fertigsauce. So haben wir uns ernährt.«

Biographische Kurzbeschreibung: Annika ist 36 Jahre alt, hat zwei Kinder und lebt mit diesen und ihrem neuen Lebensgefährten zusammen. Zwei Lehren hat sie abgebrochen, lebte dann von Aushilfsjobs und Hartz IV, im Moment hat sie eine Stelle als Ein-Euro-Jobberin. Nach dem Auszug von zu Hause ernährte sie sich von einfachsten Fertiggerichten, die sie nur noch zusammenrührte. Erst mit den Kindern beziehungsweise dem Druck aus dem Umfeld begann sie zu kochen und versucht den Ansprüchen an eine gesunde Ernährung gerecht zu werden, was ihr nach eigener Ansicht nicht immer gelingt. Eine ausgewogene, gesunde Ernährung mit Hartz IV-Bezügen hält sie für nicht machbar. Erzählte Biographie: Zu ihrer Kindheit fällt ihr wenig ein. Ihre Mutter hat zwar gekocht, sie hat jedoch selbst keine Erinnerung daran in der Küche mit involviert gewesen zu sein oder geholfen zu haben. Es scheint eine Kindheit in relativer Armut gewesen zu sein, da sie angibt, schon von klein auf an Sozialleistungen gewöhnt zu sein (vgl. Z. 57). Insgesamt scheint Ernährung in der Kindheit keine selbstständige oder bedeutende Rolle gespielt zu haben. Auch über die Jugendzeit kam sehr wenig seitens der Interviewten, außer der Aussage, dass sie damals ihre Lehre abgebrochen hat, da sie Geld benötigte, um mit ihrem Freund zusammen zu ziehen. Insgesamt hat sie zwei Lehren abgebrochen und zwischendurch immer wieder als Aushilfe gearbeitet. Die Ernährungssituation beschreibt sie nach ihrem Auszug als »eine Katastrophe« (Z. 85). Die Mahlzeiten bestanden ausschließlich aus Fertigprodukten, Grießbrei, Pudding oder auch mal Fertigspaghetti (vgl. Z. 86f.). Erst mit ihrem ersten Kind besserte sich die Ernährung etwas, auch auf Druck der Mutter. Es werden vor allem einfache und billige Gerichte zubereitet, wie Spätzle, die es dann auch mehrere Tage hintereinander gibt. Es gibt eher weniger Obst und Gemüse, auch selten Fleisch, da beides als zu teuer erachtet wird, dafür gibt es oft Nudeln, Kartoffelbrei und Fertiggerichte (»ein Päckchen Chicken«, Z. 126). Seitdem sie als Ein-Euro-Jobberin beschäftigt ist und sie einen neuen Lebensgefährten hat, der auch arbeitet, hat sich die Ernährungssituation gebessert. Lebensmittel, die früher zu teuer waren, kann man sich nun leisten. Mehr Salat, auch mal ein Hühnchen oder etwas teureren Käse. Früher hat es nur für den billigsten gereicht (vgl. Z. 116, 148f.). Ihr ist auch durchaus bewusst, dass ihre Ernährung und die der Kinder gesünder sein müsste, gibt allerdings auch an, dass sie neben den finanziellen Schwierigkeiten auch zeitlich, durch ihre Arbeit, Probleme hat, selber zu

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kochen (vgl. Z. 21f.). Sie ist davon überzeugt, dass eine gesunde Ernährung mit Hartz IV-Bezügen nicht möglich ist (vgl. Z. 52f.). Lebensgeschichtliche Interpretation: Man merkte von Interviewbeginn an, dass ihr die Befragung unangenehm war und sie auch froh war, als es vorbei war. Sie erzählt kaum selbständig und hat offenbar ein schlechtes Gefühl in der Interviewsituation. Sie ist stark übergewichtig und gibt mehrfach an, dass sie ja für sich und ihre Kinder gesünder kochen müsste und gesündere Produkte konsumieren müsste und rechtfertigt sich dafür vorauseilend. Allgemein kann man sagen, dass Ernährung, Kochen und Lebensmittel bei ihr nie einen genussvollen Stellenwert einnahm. Bevor sie Mutter wurde, war die Nahrungsaufnahme vor allem auf das schnelle Zubereiten von Fertiggerichten, die teilweise kaum als eigenständige Mahlzeit anzusehen sind, beschränkt. Mit den Kindern kam eine Besserung, jedoch war das Verhältnis zum Kochen kein anderes geworden, sondern eher als eine zu erfüllende Pflicht, »mit denen hat man kochen müssen« (Z. 94). Essen hat für sie eine Versorgungsfunktion, die sie auch oftmals möglichst schnell erledigen will, weil sie es erledigen muss. Bezeichnend ist ihre Antwort auf die Frage, was für sie denn ein schönes Fest- oder Abendessen wäre, wenn sie nicht auf Geld achten müsste. Dazu fiel ihr ein Abendessen mit drei Gängen ein, welches jedoch nicht sie, sondern ihre kleine Tochter aus einfachen Zutaten für sie zubereitet hatte. Gesellschaftliche Relevanz: Der Fall ›Annika‹ bedient sicherlich einige landläufige Klischees von Hartz IV-Empfängern, wie man sie oft in den Medien dargestellt sieht. Seit Kindesbeinen im sozialen Abseits, an Sozialleistungen gewöhnt, zwei abgebrochende Lehren, Übergewicht, geschieden, Kinder und eine Ernährung mit dick machenden Fertigprodukten. Die sozialpsychologischen Ursachen dieses Lebenslaufes und seiner Entstehung kann hier nicht geklärt werden, jedoch steht er exemplarisch für einen wachsenden Anteil von Menschen, die mit Armut aufwachsen und denen oftmals die Kompetenz fehlt, um erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Wenn man sich nur auf die Ernährungsgeschichte dieses Falles beschränkt, so zeigt sich, dass es von Anfang an keine positive oder überhaupt keine Verbindung zum Essen gab, außer derjenigen zur Aufrechterhaltung der Körperkraft. Für sich allein reicht es dann aus, sich mit Brei und Pudding zu sättigen, ohne weitergehende Ansprüche zu haben. Die Fähigkeit zum Kochen muss erst erlernt werden, um dann mit einfachen Mitteln wenigstens eine halbwegs ordentliche Ernährung der Kinder zu gewährleisten. Dass Wissen, das es eine gesunde oder gesündere Ernährungsweise gibt, ist zwar vorhanden, nicht aber das Wissen, wie eine solche mit den bescheidenen vorhandenen finanziellen Mitteln umgesetzt werden kann. Je niedriger oder geringer also der finanzielle Spielraum ist, desto wichtiger wird es, ein über ein gewisses ›Küchenkapital‹ zu verfügen, also Wissen und Know-How, welche

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Lebensmittel günstig und gesund sind, und wie diese vielfältig zu verarbeiten sind. Oft ist es jedoch wie in diesem Fall, dass geringes verfügbares Einkommen mit geringen Koch- und Ernährungskenntnissen korreliert, da diese nie erlernt wurden beziehungsweise in der Sozialisation gar nicht vorkamen. Eine Erhöhung der Sozialbeträge würde deshalb wahrscheinlich auch nicht automatisch eine bessere Versorgung und Ernährungsweise mit sich bringen und es ist eine zu diskutierende Frage, ob und mit welchen anderen Mitteln dieses Problem eventuell besser gelöst werden kann. 4.5.11 Fallanalyse Thomas »Ich sage immer, wenn es eine Pille gäbe, die satt macht, wäre mir auch recht.«

Biographische Kurzbeschreibung: Thomas ist 50 Jahre alt, führt ein mittleres Unternehmen und ist zudem im Vorstand eines Profi-Fußballclubs. Er hat ein Kind mit seiner Lebensgefährtin, ist beruflich viel unterwegs und finanziell gut situiert. In der Kindheit war er nicht in die Küchenarbeit involviert, eine Haushälterin war dafür zuständig. Seiner Alltagsernährung heute billigt er keinen Wert zu, kennzeichnet sie als zu viel und zu ungesund. Anders sieht es beim Wein aus. Hier sieht er sich als Kenner, der auch gerne mal größere Summen für eine gute Flasche Wein ausgibt. Erzählte Biographie: Thomas wuchs in einer relativ gut situierten Unternehmerfamilie auf. Für die Essenszubereitung gab es ein Hausmädchen. Das Essen selbst beschreibt er als normal, »gutbürgerlich« (Z. 25) eben, zum Mittag, wenn der Vater nach Hause kam, mit Suppe, Hauptgang und Nachspeise. In die Küchen- und Kocharbeit waren er und seine Geschwister nicht eingebunden. Zu den Essenszeiten musste man pünktlich zu Hause sein, darauf wurde großer Wert gelegt, auf das Essen selbst eher weniger: »Essen an sich hatte bei uns nie so den Stellenwert, also diese Luxusessen oder herausgehobenen Essen, eher das Versammeln um den Tisch« (Z. 122f.). In seiner Jugend hat Thomas seine Neigung zum Weintrinken entdeckt, während seine Freunde Bier tranken und sich damit auch betranken, bevorzugte er schon früh den Wein, »da war ich immer ein Exot« (Z. 191), eine Vorliebe die er später ausgebaut hat und bis heute kultiviert. Aufgrund seines von Anfang an sehr stressigen Berufs sieht Thomas sein Ernährungsverhalten als viel zu unregelmäßig an. Feste Mahl-Zeiten gibt es nicht, oft isst er zwischendurch, Fastfood oder dann abends das »volle Programm«, welches er wie folgt beschreibt: »Wenn du abends heimkommst, nachts, um neun oder zehn, dann vor den Fernseher, Mettwurstbrote, Leberwurstbrote und was weiß ich, eine halbe Bier und alles, was halt dick macht« (Z. 53ff.). Ernährung hat für ihn eher

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einen negativen als positiven Aspekt. Er betrachtet Essen als »Nahrungszufuhr« (Z. 86), verlorene Zeit, die seine Arbeit unterbricht oder »notwendiges Übel« (Z. 91f.), es hat für ihn schlichtweg keinen Stellenwert: »Ich sage immer, wenn es eine Pille gäbe, die satt macht, wäre mir auch recht« (Z. 88f.). Den Stellenwert, den das Essen für ihn nicht hat, weil er davon, wie er sagt, auch wenig versteht, hat dagegen der Wein. Hier ist er belesen und kennt sich aus, und gibt für gute Flaschen dann schon mehrere 100 Euro aus (vgl. Z. 220). Mittlerweile hat er nach seinen Angaben 20 kg Übergewicht. Er versucht, auf Anraten seines Arztes und eines ernährungsbewussten Kollegen, durch Trennkost zumindest sein Gewicht zu halten. Dies allerdings nicht strikt und akribisch, auch nicht aus der Überzeugung vom Vorteil einer gesunden Ernährung, sondern aus der Angst vor Folgeerkrankungen des Übergewichts: »Wenn ich nach wie vor meine 75 kg hätte, wie vor 20 Jahren, dann wäre mir das völlig wurst, dann würde ich mir weiterhin meine Currywurst und meine anderen Sachen reinhauen« (Z. 166ff.). Thomas hat also keinerlei Affinität zum genussvollen Essen, es muss satt machen und schmecken, stundenlanges Kochen und Zubereiten wäre ihm ein Greul, und auch die Luxusküche der Feinschmecker und Gourmets interessiert und begeistert ihn nicht. Essen ist ein Muss, Wein dagegen Genuss. Lebensgeschichtliche Interpretation: Auf die Frage, wie er sich den geringen Stellenwert des Essens erklärt, erzählt er lachend die Anekdote, dass er Wirsing essen musste, diesen nicht runter bekam und dafür von seiner Mutter einen Silberlöffel übergehauen bekam. Auch wenn diese Geschichte mit einem Augenzwinkern erzählt wurde, zeigt sie, dass in der Familie das Essen nicht so sehr eine lust- und genussbringende Funktion hatte. Was auf dem Tisch kam, musste gegessen werden (vgl. Z. 103), das Zeremonielle, wie das pünktliche Zusammenkommen zu Tisch, war das dominierende Element und nicht Freude und Genuss am Essen. Zudem war die komplette Familie aus der Nahrungszubereitung entlassen, da dies Aufgabe der Haushälterin war. Es fand auch kein Umgang mit Nahrungsmitteln statt und folglich konnte auch keine Freude am Zubereiten und Verarbeiten von Lebensmitteln entstehen. Wahrscheinlich blieb deshalb auch die Wertschätzung des Essens gering. Dabei würde er »gerne mehr vom Essen verstehen« (Z. 85), so wie er es beim Wein tut. Da kennt er sich aus, hat sich damit beschäftigt und Wissen angelesen, hat eine Ahnung vom Subjekt und damit einen ganz anderen Bezug dazu: »Umso mehr man weiß, umso mehr man sich damit beschäftigt, umso mehr macht es einem auch Freude« (Z. 213f.). Diese Wertschätzung von Wein hat sicherlich auch eine Statusfunktion, wie seine Antwort auf die Frage nach den Ausgaben für ein gute Flasche Wein zeigt: »Da kann ich schon 200–300 Euro ausgeben. Wenn sie einen schönen Bordeaux wollen, einen Petrus oder Rothschild, da legen sie schon in der Abfüllung 190 Euro hin« (Z. 220ff.). Um Status zu gewinnen, reicht es eben nicht aus, sich etwas Teures leisten zu können. Erst eine gewisse Kenntnis und Wissen, warum

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dieser Gegenstand so teuer ist, bringt den Status des Connaisseurs mit. Er demonstriert schon mit der Erwähnung der beiden renommierten Weingüter, dass er eine Ahnung hat. Da ihm dieser Zugang beziehungsweise dieses Wissen im Bezug auf Essen fehlt, verspricht es ihm auch kein Prestige. Er würde zwar gerne mehr vom Essen verstehen, um auch hier Status demonstrieren zu können. Da er aber dazu keinen Zugang hat, steht auch kein Prestige in Aussicht, so dass er daraufhin Essen und Nahrung komplett entwertet und auf seine physiologische Notwendigkeit reduziert. Gesellschaftliche Relevanz: Auch hier zeigt sich, dass eine gute finanzielle Ausstattung nicht zwangsläufig eine Ernährung mit guten Lebensmitteln und viel Genuss bedeutet. Wenn während der Primärsozialisation der Wert des Essens gering war, so bleibt er es später häufig auch. Interessant ist der Fall ›Thomas‹, da er bezüglich des Themas Ernährung und Geld eine Meinung vertritt, die sicherlich stellvertretend für einen Teil der Gesellschaft, nicht nur des besserverdienenden, steht. Für Thomas sind Lebensmittel in diesem Land so billig, dass er davon ausgeht, dass es auch mit niedrigem Einkommen beziehungsweise von Hartz IV-Bezügen gut möglich ist, sich gesund zu ernähren. Er glaubt zwar an einen Zusammenhang zwischen Bildung und Ernährung, glaubt aber nicht, dass eine ungesunde Ernährung im Zusammenhang mit Geld steht: »Wenn man will, kann man sich sicherlich damit ernähren. An der Legende stricken vielleicht manche Linke gerne, dass sich die Armen schlechter ernähren müssen wie die Reichen, das stimmt aber bei uns nicht« (Z. 331ff.). Diese Einstellung, dass man sich auch mit wenig Geld gut ernähren kann, wenn es nur richtig ausgegeben würde, ist sicherlich weit verbreitet und wurde auch schon von Bourdieu auf- und angegriffen. Der Geschmack der unteren Schichten »wird zu einer krankhaften oder morbiden Vorliebe für Lebensnotwendiges, eine Art angeborenen Armut, Aufhänger für Klassenrassismus, im ›Volk‹ mit dick, fett, gemein, grobassoziiert« (Bourdieu 1982, S. 290). Die Polemik, mit der diese Debatte oft geführt wird, verhindert einen klaren Blick auf das Problem. Es ist nämlich selten so, wie oft unterstellt, dass die Akteure wider besseren Wissens handeln und ihr Geld in Alkohol und Zigaretten investieren (obwohl einige Alkoholkranke dies sicherlich tun), sondern eher so, dass tatsächlich oftmals das Wissen fehlt, die Kompetenz, eine gesunde Ernährung auch mit wenig Geld zu verwirklichen. Dass dies mit wenig Geld viel schwieriger ist als mit gut gefüllten Geldbeutel, liegt auf der Hand. Das ausreichend Geld alleine keine Garantie für eine gesunde Ernährung ist, zeigt der Fall ›Thomas‹. Eine gesunde Ernährung mit wenig Geld zu gestalten, ist quasi eine Kunst, für die es vielerlei Talente bedarf, Wissen um Kochtechniken und Lebensmittel, Improvisationsvermögen, Disziplin und Zurückhaltung. Eine ungesunde Ernährung bedarf dagegen keinerlei Voraussetzung.

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4.5.12 Fallanalyse Gabriele »Aber es war eine Verpflichtung, es war nicht so, dass ich gesagt habe, ›hurra, ich darf jetzt kochen‹ und mache das mit Liebe, sondern es war, ja, jetzt nicht eine Passion. Einfach eine Verantwortung. Und das ist es auch geblieben.«

Biographische Kurzbeschreibung: Gabriele ist 63 Jahre alt und ist pensionierte Lehrerin. Sie wuchs mit vier Geschwistern in der DDR auf. Ihre Mutter verstarb jung, so dass sie und ihre Geschwister früh gezwungen waren, den Haushalt eigenständig zu führen. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt zusammen mit ihrem Mann in gut situierten Verhältnissen. Der Druck, für die gesunde Ernährung anderer täglich Verantwortung zu tragen, verleidet ihr von der Jugend an bis heute das Kochen und Essen. Erzählte Biographie: Die ersten Erinnerungen beschreiben die Eintönigkeit der Küche in der frühen DDR. Frisches Gemüse gab es nur im Sommer, im Winter dann eingelagertes Gemüse, wie Kartoffeln, Karotten und Sellerie. In Erinnerung ist ihr auch die partielle Mangelwirtschaft in der ehemaligen DDR geblieben, als sie mit der ganzen Familie durch die Stadt eilte, um die ersten Pro-Kopf Abgabe an Frühkartoffeln zu erhalten. Insgesamt fand sie die Ernährungslage als nicht abwechslungsreich und fade. Fleisch gab es eher selten, da man es sich auch nicht leisten konnte. Die Kochkünste in dieser Mangelversorgung beschreibt sie teilweise sehr drastisch: »Ich weiß, diese Tomatensauce wurde mit so einer Mehlschwitze gemacht, die man mit Tomatenmark und Wasser aufgegossen hat. Das war für mich als Kind ein Brechmittel« (Z. 45ff.). Im Haushalt musste sie sehr viel mithelfen, allerdings weniger bei Küchenarbeiten als bei Reinigungsarbeiten: »Also kam ich kaum in die Küche. Außer zum Dreck weg machen« (Z. 28). Das einschneidende Erlebnis ihrer Jugend war der Tod ihrer Mutter, als sie gerade 17 Jahre alt war. Da ihre ältere Schwester, die bis dato gekocht hatte, am Ende ihrer Ausbildung war, lag es nun an ihr, für ihren Vater und ihre Geschwister zu kochen, was ihr deutlich missfiel: »Da war von heute auf morgen ich plötzlich der Koch. Und das war echt scheiße« (Z. 31f.). Die Verpflichtung, für die Ernährung der ganzen Familie sorgen zu müssen, empfand sie als Belastung, zumal sie ihre eigenen Vorstellungen von Kochen, aufgrund des begrenzten finanziellen Budgets, nicht verwirklichen konnte. Ihre zwangsweise Tätigkeit als Köchin in der Familie war so von Anfang an negativ belegt, als eine lästige zu verrichtende Pflicht. Das Gefühl, kochen zu müssen, setzte sich auch im Erwachsenenalter fort; erst für ihren Mann, für den sie glaubte, dessen Lieblingsgerichte aus seiner Heimatregion erlernen und kochen zu müssen (vgl. Z. 89ff.), später dann bei der Versorgung der beiden Kinder. Neben ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin oblag es weiterhin ihr

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alleine, zu kochen und einzukaufen und das Mittagessen für ihren Mann und die aus der Schule kommenden Kinder zuzubereiten, was sie sehr unter Druck setzte und zudem als äußerst unbefriedigend empfunden wurde: »Am lästigsten war diese tägliche Kocherei, wenn immer irgendeiner meinte ›das schmeckt mir nicht‹. Der andere sagt ›oh, toll, morgen wieder‹. Man konnte es eigentlich nie allen Recht machen« (Z. 253ff.). Erst mit dem Auszug der Kinder fiel dieses Gefühl der Verpflichtung weg, »dieses ›jeden Tag unbedingt kochen müssen‹« (Z. 154f.). Seitdem bleibt die Küche öfters kalt, gibt es Salat, Obst oder einfache Wurst- und Käsebrote, was für sie auch mehr als genügend ist: »Wie gesagt, für mich alleine würde ich überhaupt nicht kochen« (Z. 159f.) Dabei ist ihre Haltung durchaus von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet, sie ist durchaus auch neugierig und experimentierfreudig, freut sich über exotisches Gemüse auf dem Markt und probiert dieses auch aus. Auch hin und wieder mal ein schönes Festmenü zu kochen, bereitet ihr durchaus Freude. Es ist insbesondere die Alltagsküche, die ihr gänzlich verleidet ist und auf die sie am liebsten ganz verzichten würde. Lebensgeschichtliche Interpretation: Einschneidendes Erlebnis für Gabriele war sicherlich der frühe Tod der Mutter und die damit verbundene Verantwortung und Last, mit 17 Jahren ohne irgendwelche Küchen- und Kocherfahrung eine ganze Familie versorgen zu müssen: »Es war müssen. Ich meine, ich habe für meine jüngeren Geschwister…da war einfach auch so die Vorstellung, ich bin jetzt für die gesunde Ernährung meiner Geschwister verantwortlich« (Z. 129ff.). Zum einem vergraulte die Verantwortung und der Zwang ihr die Lust am Kochen, welche durchaus vorhanden war; zum anderen aber auch die Unmöglichkeit, das Kochen nach ihren Vorstellungen zu gestalten: »(…) meine Vorstellungen, wie ich kochen wollte, das ging eigentlich nicht« (Z. 41f.). Etwas tun zu müssen, dies aber nicht nach seinen Vorstellung tun zu können, dürfte eine deprimierende Erfahrung sein, die Freude und Kreativität erstickt, und letztendlich dazu führt, dass das Kochen freudlos, als zu erfüllende Pflicht, erledigt wird. Fortgesetzt wird diese Erfahrung in der eigenen Familie, wo sie auch allein verantwortlich, mit über das Essen nörgelnden Kindern konfrontiert ist, dazu noch Vollzeit berufstätig ist und Einkauf und Küche quasi nebenbei erledigen musste. All diese Anforderungen und Grenzen spiegeln sich bis heute in ihrem Ernährungsstil. Frisches Gemüse, oft auch in Bioqualität, um ihrer Verantwortung für eine gesunde Ernährung der Familie gerecht zu werden, Einkauf von Fleisch und anderen Dingen im Großmarkt, man muss ja auch auf den Preis achten, und eine Vorliebe für Fix-Produkte, es muss ja auch schnell gehen. So erledigt sie ziemlich pragmatisch alle Anforderungen, die sie zu erledigen zu haben glaubt. Da Zwang und Genuss sich gegenseitig ausschließen, bleibt Kochen, das oft wiederholte ›kochen müssen‹, lästige Pflicht. Es ist das Kochen, welches als nötiger Schritt vorweg

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ihr das Essen, welches sie eigentlich ja mag, verleidet: »Ich esse schon gerne gut, aber ich hasse die Kocherei« (Z. 265). Gesellschaftliche Relevanz: Der Fall ›Gabriele‹ zeigt, dass auch dort, wo Wissen und Geld vorhanden sind, im Niveaumilieu, dies nicht gleichbedeutend ist, mit einer Affinität zur guten Küche, dass das Hochkulturschema, wie auch im Fall hier, mit einem Hang zu Literatur und klassischer Musik, nicht unbedingt bis in die Küche vordringt. In diesem Fall ist die prägende Kraft der persönlichen Erfahrung stärker als die gesellschaftliche Prägung durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Statusgruppe. Während sich ansonsten alle Merkmale des Niveaumilieus bei Gabriele finden lassen, die Liebe zur Jazz- und klassischen Musik, Literatur, die herumliegende Tageszeitung, fällt sie beim Themenbereich Essen und Genuss heraus. Da Kochen und Ernährung bei ihr nicht positiv wertbesetzt sind, haben sie nicht den Stellenwert, der ansonsten diesem Milieu zugeschrieben wird. Dieses Anderssein innerhalb eines Milieus ist ihr auch in gewissem Maß bewusst und wird auch verteidigt: » Wir essen komischer Weise sehr gerne Schweinefleisch, was von anderen immer abgelehnt wird. Aber Albert und ich, wir finden das herzhafter als zum Beispiel Kalbsfleisch« (Z.169ff.). Dieses Beispiel beschreibt eigentlich den Geschmacksunterschied zwischen den Klassen mit geringem und den mit höherer Kapitalstruktur, wobei erste eher Schweinefleisch bevorzugen und letztgenannte eher zu Rind und Kalbfleisch greifen (vgl. Bourdieu 1982, S. 288f.). Diese Statusinkonsistenz zeigt, dass die individuelle Erfahrung durchaus stärker wirken kann, als der gesellschaftliche, von Klassen oder Milieus geprägte, Habitus. Die Lage im sozialen Raum hat also keinen deterministischen Einfluss auf den Ernährungsgeschmack, sondern beeinflusst vor allem, in welcher Art und Weise dieser Geschmack manifest wird. Mit anderen Worten entscheidet Geld oder Bildung nicht allein darüber, welchen Ernährungsstil man pflegt, da dieser auch Resultat individueller Prägung sein kann. Die Prägung, ob nun individuell oder gesellschaftlich erfolgt, bildet sozusagen den Genotyp des Geschmacks. Das soziale und vor allem finanzielle Kapital bestimmt jedoch freilich, in welcher Art und Weise dieser Geschmack dann phänotypisch gelebt wird, also was im Topf landet, weil man es sich leisten kann oder nicht.

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4.6 T YPOLOGIE 4.6.1 Typenbildung Der Sinn und Zweck der Typenbildung ist die theoretische Verallgemeinerung ausgehend vom Einzelfall. Grundannahme hierbei ist der Gedanke, dass in jedem individuellem Einzelfall auch das Allgemeine aufzufinden ist, da der Einzelfall oder das Individuum immer auch Teil des Allgemeinen oder der Gesellschaft ist, wie auch das Allgemeine letztendlich aus der Summe der Einzelfälle besteht. Daher ist es auch möglich vom praktisch vorliegenden Einzelfall theoretische Verallgemeinerung abzuleiten: »Jeder einzelne Fall, der ja immer ein in der sozialen Wirklichkeit konstituierter ist, verdeutlicht etwas über das Verhältnis von Individuellen und Allgemeinen. Er entsteht im Allgemeinen und ist damit auch Teil des Allgemeinen. Damit gibt auch jeder einzelne Fall Hinweise auf das Allgemeine.« (Rosenthal 2008, S. 75)

Welche Typen anhand welcher Kriterien und Merkmale gebildet werden, hängt dann vom Forschungsinteresse und dementsprechend davon ab, welcher Schwerpunkt gesetzt werden soll. So ist es durchaus möglich, anhand einer Fallrekonstruktion verschiedene Typen zu bilden (vgl. Rosenthal 2008, S. 77). Nach der Kontrastierung der Fälle werden Typen gebildet, welche dann mit ideal-typischen Verläufen im Sinne Max Webers verglichen werden. Damit soll ein Verständnis von Zusammenhängen über den Einzelfall hinaus ermöglicht werden. Vorgehensweise ist hierfür die minimale und maximale Kontrastierung der Fälle. Beim minimalen Vergleich werden möglichst ähnliche, beim maximalen Vergleich möglichst verschiedene Fälle auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht. Empirische Typen sind dann Gruppen mit möglichst großen Ähnlichkeiten. Diese sollen sich dann auch von den anderen Typen unterscheiden. Die Trennschärfe ist in der Realität dabei jedoch nicht immer so genau wie bei idealtypischen Fällen, und es obliegt dem Forscher, die Kriterien für die Einteilung der Einzelfälle plausibel zu machen. Hilfreich kann es dabei sein, die Typen nochmals am jeweiligen Einzelfall auf Plausibilität zu prüfen. In der Ergebnisdarstellung wird dann für jeden Typ eine allgemeine Beschreibung angefertigt, typspezifische Alltagssituationen präsentiert und fallübergreifend analysiert (vgl. Flick 1996b, S. 254ff). In dieser Arbeit wurden die Typen auf Basis von Kategorien gebildet, die Aufschluss darüber geben, welchen Stellenwert, welche Bedeutung die Einzelfälle Essen und Ernährung zubilligen und diese dann im Alltag umsetzen. Dabei ergaben sich vier Ernährungstypen, die als Idealisten, anspruchsvolle Pragmatiker, Status-

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orientierte und Gleichgültige kategorisiert wurden und im Folgenden dargestellt werden sollen. 4.6.2 Typus 1 – Die Idealisten (Wilfried, Kerstin, Eva, Theresa) Der Ernährungsidealist hat feste Werte und Ideale bezüglich der Ernährung, die er auch unter widrigen Umständen einzuhalten beziehungsweise zu verteidigen sucht. Er ist vom Sinn frischer, saisonaler und regionaler sowie selbstzubereiteter Kost überzeugt, verbringt viel Zeit in der Küche und achtet sorgsam auf die Lebensmittel, die er zu sich nimmt. Allen gemeinsam ist eine sehr enge Bindung an die Küche seit frühester Kindheit, in der sie schon mit in die alltäglichen Arbeiten in der Küche integriert wurden. Bei allen waren Mütter oder Großmütter von starkem Einfluss. Sie bereiteten alles selbst zu und weckten die Liebe zum Kochen und guten Lebensmitteln. Von Kindesbeinen an mussten beziehungsweise durften sie bei der Nahrungszubereitung mithelfen, und hatten alle auch einen engen Bezug zu den unverarbeiteten Lebensmitteln selbst. Gemüse wurde selbst gezogen, Linsen noch nach Steinen ausgelesen. So gut wie alles, vom Brot über Nudeln wurde selber produziert. Die finanzielle Situation in der man sich befindet spielt bei der ideellen Ausrichtung so gut wie keine Rolle. Auch in finanziell angespannten Situationen wie der Familiengründung (Wilfried, Theresa), Arbeitslosigkeit (Eva) oder während des Studiums (Kerstin), wird weiterhin alles versucht, um die Ernährungsvorstellungen umzusetzen. Der finanzielle Spielraum beeinflusst hier nicht die qualitative Art der Ernährung, sondern nur deren Erscheinungsbild. Es wird gespart und auf Luxus verzichtet, der, je nach Situation und Person, verschieden definiert wird, an der Qualität des Essens selbst wird jedoch zu keiner Zeit gespart. Dann wird eher mit frischen aber günstigen Grundnahrungsmitteln gekocht, auf teures Fleisch oder Käse verzichtet, um sich die der Überzeugung entsprechenden Art der Ernährung weiterhin leisten zu können. Überhaupt herrscht bei den Idealisten die Meinung, dass eine gute Ernährung keine Frage des Geldes, sondern der Einstellung ist: »(…) ich gebe lieber ein bisschen mehr Geld für mein Essen aus, als dass ich mir einen neuen Rock kaufe. Das ist definitiv eine Prioritätensache« (vgl. Kerstin, Z. 182ff.). Der Verzicht auf mancherlei Dinge wird dann auch nicht als tragisch empfunden, sondern als Verzicht auf Luxus zur Durchsetzung der priorisierten Ernährungsweise. Ablehnend stehen sie Fertiggerichten und Convenience-Produkten gegenüber, gleichzeitig empfinden sie eine große Freude beim Verarbeiten, Kochen und Essen von Lebensmitteln. Das Essen und die Ernährung ist für sie viel mehr als die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, aber auch kein Luxus, den man sich hin und wieder gönnt, sondern fester Bestandteil einer Lebenseinstellung, die dem Essen, den Pflanzen und Tieren einen eigenen, hohen Wert zuschreibt, der über den Wunsch nach gesunder Ernährung hinausgeht, Spaß und Genuss am Essen sucht,

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und auch moralische Überzeugungen bezüglich einer fairen und ökologischen Landwirtschaft ist ihnen gemeinsam. Essen, Lebensmittel, Tiere, Pflanzen, die Arbeit der Hersteller sowie die Verarbeitung selbst haben für diese Menschen einen hohen Stellenwert, der sorgfältige Umgang damit ist für sie selbstverständlicher Alltag. Der hohe Stellenwert der Ernährung, das Wissen darüber beziehungsweise das Bewusstsein dafür, wird vom Typus ›Idealisten‹ dabei vielmehr als Privileg empfunden denn als Ausdruck von Überlegenheit. Privileg in dem Sinne, dass sie eine Erziehung und Kindheit genossen, die ihnen Wertschätzung und Freude zu Lebensmitteln, Kochen und Essen nahe brachte. Menschen, die einen weniger engagierten Ernährungsstil pflegen werden dabei nicht abgewertet (zumindest nicht direkt), da diese es nach Sicht der Idealisten schlichtweg nicht gelernt haben beziehungsweise nicht anders kennen. Kritisiert und abgewertet werden dagegen Supermärkte, Discounter und Großkonzerne, deren Profitstreben Massenproduktion und -konsum fördert und einer natürlichen, bewussten und nachhaltigen Einstellung zu Lebensmitteln, Kochen und Essen entgegenwirkt. Die Wertschätzung von biologisch produzierten Lebensmitteln ist allerdings auch nicht bedingungslos, im Gegenteil: Teilweise herrscht Skepsis gegen Bioprodukte allgemein, da daran gezweifelt wird, dass das, was versprochen, auch eingehalten wird. Ähnlich ist auch die Skepsis gegenüber Bioprodukten aus Supermärkten und Discountern zu werten, denen ein aufrichtiges Interesse an nachhaltiger Landwirtschaft und guten Lebensmitteln nicht abgenommen wird. Allen ›Idealisten‹ gemeinsam ist, dass ihnen der direkte Bezug zum heimischen Hersteller, die Regionalität, Saisonalität und Geschmack der Lebensmittel wichtiger sind, im Zweifel auch wichtiger als eine biologische Herstellung: »Also, wenn ich die Wahl habe zwischen einer Biotomate aus irgendwo oder einer konventionellen Tomate vom Bauer gegenüber, dann nehme ich die konventionelle« (Kerstin, Z. 161ff.). Auch im Fall ›Eva‹, bei der die finanzielle Situation eher angespannt ist und Bioware keine Rolle spielt, wird Wert auf frische Produkte vom örtlichen Bauernhof gelegt. Essen, regionale Lebensmittel, Tiere, Pflanzen, die Arbeit der Hersteller sowie die Verarbeitung selbst haben für diese Menschen einen hohen Stellenwert, der sorgfältige Umgang damit ist für sie selbstverständlicher Alltag. Alltag im Wortsinne, dass eine sorgfältige Auswahl und Zubereitung von Lebensmitteln, genauso wie deren Genuss tägliche routinierte Abläufe darstellen, die sich grundlegend weder durch äußere Umstände (Arbeit, Stress) beeinflussen lassen, noch einen besonderen Anlass oder spezielle Zutaten benötigen. Genuss versprechen dem Idealisten dann oft eher einfache, aber qualitativ hochwertige Speisen, vom Butterbrot über Kartoffelgerichte oder selber gemachten Nudeln. Ist die finanzielle Situation ausreichend, wird vieles auch direkt beim Erzeuger gekauft, das Reh aus heimischer Jagd etwa oder die Ziege direkt ab Hof.

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4.6.3 Typus 2 – Die Pragmatiker (Julia, Gerald, Herbert, Caroline) Diese Gruppe hat sowohl ein Bewusstsein für gute und gesunde Ernährung als auch die für sich gewonnene Erkenntnis, dass dies nicht immer und unter allen Umständen umsetzbar ist. Ganz pragmatisch wird jeden Tag mehrmals aufs Neue entschieden, ob Ernährung eine eher gesunde und genussbringende oder eher sättigende Funktion hat. Der Anspruch, sich ausgewogen und gesund zu ernähren bestand schon im Elternhaus: alle Interviewpartner des Typus ›Pragmatiker‹, berichten von einer guten, abwechslungsreichen und frischen Küche, mit Gerichten die selbst gekocht wurden. Sie wurden auch mehr oder weniger in den Küchenalltag mit einbezogen, halfen etwas mit beim Gemüse Schneiden, Eindecken und Aufräumen oder versuchten sich selbst an kleineren Gerichten, ähnlich den Idealisten, doch mit weniger Intensität. Eine gesunde, abwechslungsreiche, frische Küche ist auch heute noch der Anspruch. Wenn die Zeit und die Lust da sind, wird gerne mal gekocht, gewissenhaft eingekauft oder schön mit Partner oder Freunden gegessen. Lassen es die Umstände allerdings nicht zu, weil die Lust, aber noch öfter die Zeit fehlt, kann es auch mal schnell gehen, kauft man auch mal beim Imbiss oder der Bäckerei etwas Schnelles für zwischendurch, oder greift auf Convenience Food zurück. Man versucht relativ unaufgeregt einen Mittelweg zwischen Essen als Genuss und Essen als Nahrungszufuhr zu gehen, hat als Ziel eine möglichst gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, stört sich aber auch nicht daran, wenn dieser Vorsatz nicht immer realisiert werden kann. Dann hat man auch kein schlechtes Gewissen, da man es für einfach normal hält, sich ab und zu auch mal ohne großen Anspruch zu versorgen. Der entscheidende Faktor in welche Richtung das Pendel ausschlägt ist die zur Verfügung stehende Zeit: »Wenn man viel Zeit hat und man weiß jetzt, ja, ich habe heute nichts mehr vor oder ich habe die nächsten paar Stunden Zeit, dann kann man sich natürlich für das Kochen Zeit lassen (…). Ich glaube, das hängt ganz alleine von der Zeit ab. (…) Oder manchmal auch von der Lust. Es ist halt einfach zeitaufwändig. Dann nervt es vielleicht auch, sich eine Stunde in die Küche zu stellen.« (Julia, Z. 272ff.)

Wenn es die Arbeit, die Beziehung oder die Kinder nicht zulassen, sich ausgiebig um Einkauf, Zubereitung und Verzehr von Lebensmitteln zu kümmern, agiert dieser Typus pragmatisch und arrangiert sich mit den Gegebenheiten, sprich minimiert den Aufwand für Ernährung so, dass sich diese mit den momentanen Lebensumständen vereinbaren lassen. Dann isst man in der Kantine ein Fleischgericht, obwohl man das eigentlich vermeiden möchte, da man sonst nur Fleisch vom Metzger isst. Oder man nimmt in der Mittagspause einen Imbiss zu sich, obwohl man weiß, dass der wenig ausgewogen und gesund ist. Aber man hat nun mal nur kurz Mit-

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tagspause und muss in dieser Zeit satt werden, so gut es eben geht. Gutes, gesundes Essen ist auch hier ein Idealbild, welchem man versucht sich anzunähern, ohne jedoch allzu große Anstrengungen dafür in Kauf zu nehmen. Im Gegensatz zum ersten Typus ist dieses Ideal also eher ein Leitbild an dem man sich orientiert, keines das man zu verwirklichen beziehungsweise zu leben versucht. In welcher Form dieses Leitbild dann auch in der Realität zum Tragen kommt, bestimmt dann jedoch auch der Geldbeutel, die soziale Herkunft oder die zur Verfügung stehende Zeit. Motive der Nachhaltigkeit und Ökologie spielen bei hohen Einkommen durchaus eine Rolle, mit sinkenden Einkommen sinkt auch deren Bedeutung bis zur Irrelevanz. Im Falle des Apothekers zeigt sich dies in der abonnierten Biokiste, dem Fleischkauf beim Metzger, bei dem er sich auch mit Convenience Produkten eindeckt. Er kauft aber durchaus auch mal bei Aldi ein, guckt aber auch hier auf bestimmte Qualitätsmerkmale, wie etwa auf die Zusammensetzung beziehungsweise Herkunft der Fischstäbchen. Der Handwerker dagegen ist bemüht mehr Obst und Salat zu sich zu nehmen, um sich gesünder zu ernähren. Biologisch muss es nicht sein, im Gegenteil, Bio ist ihm zu teuer, generell herrscht Skepsis gegenüber BioNahrungsmitteln. Wie es mit wenig finanziellen Spielraum aussehen kann, zeigt der Fall ›Caroline‹. Alleinstehend, mit einem geringen Zusatzverdienst zu Hartz IV, fällt es ihr schwer, ihre Ernährung so zu gestalten wie sie will. Dennoch versucht auch sie mit bescheidenen Mitteln ihre Ernährung abwechslungsreich und gesund, soweit es ihr möglich ist, zu gestalten. Wenn das Geld nicht zu knapp ist, zeigt sich dies beispielsweise in einer Flasche von hochwertigerem Speiseöl, das heißt, sie muss nicht mehr das Billigste nehmen. Essen hat bei dieser Gruppe durchaus einen Stellenwert, jedoch keinen absoluten. Nicht jede Mahlzeit muss den Ansprüchen zu 100 Prozent genügen. Ist das Geld knapp, tut es dies nicht annähernd, da Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Doch auch die Ansprüche selbst sind nicht so kategorisch wie beim Typ ›Idealist‹: Das Biogemüse oder das Fleisch vom Metzger kann durchaus mit Lebensmitteln vom Discounter ergänzt werden. Man ist flexibler, pragmatischer und nicht dogmatisch an der Idealvorstellung ausgerichtet. Essen wird weder als genussvoller Selbstzweck betrachtet, aber auch nicht zur bloßen Nahrungszufuhr abgewertet, obwohl beides in der Realität auch mal vorkommen kann. Generell ist es aber eher der Mittelweg zwischen beiden Polen, den dieser Ernährungstyp zu leben versucht. Man versucht seinen Ernährungsalltag gesund und auch genussvoll zu gestalten, gibt sich aber unter Umständen auch mit weniger zufrieden. Dafür gönnt man sich dann zwischendurch auch mal was Besonderes, kauft sich etwas Außergewöhnliches oder geht schön Essen, versucht die Ernährung den Umständen entsprechend gesund und ausgewogen zu gestalten. Inwieweit dies umgesetzt werden kann, entscheidet meistens der Faktor Zeit.

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4.6.4 Typus 3 – Die Statusorientierten (Thomas, Marie) Der Typus der ›Statusorientierten‹ kennzeichnet sich durch ein ambivalentes Ernährungsverhalten, welches zwischen ›schnöder‹ Nahrungsaufnahme und exklusiven und teuren Genuss unterscheidet. Die frühesten Kindheitserinnerungen bezüglich Ernährung sind zwiespältig, eine Teilnahme an den alltäglichen Verrichtungen am Herd und in der Küche fand entweder gar nicht statt oder wurde zumindest teilweise als negativ, als Überforderung erlebt. Das typische Kennzeichen statusorientierter Esser ist die deutliche Unterscheidung von Alltagsernährung und hochpreisigem, statushohem Genuss. Während bei ›Idealisten‹ und ›Pragmatikern‹ der hohe Anspruch auf die Alltagsernährung bezogen ist, hat der Statusorientierte an die alltägliche Ernährung kaum einen Anspruch. Das alltägliche Essen ist eher Zeitverlust, eine lästige Pflicht, die es im beruflichen Alltag nebenbei zu erledigen gilt. Der Anspruch an das Alltagsessen geht gegen Null, man isst, um satt zu werden oder das Essen wird sogar ganz aufgeschoben und vom beruflichen Alltag an den (Tages-) Rand gedrängt. Dem Essen und Trinken des Alltags entgegen steht der besondere, anspruchsvolle Genuss in der raren Freizeit, am Abend, Wochenende oder im Urlaub. Es ist ein statusorientierter Genuss, der Prestige und gleichzeitig Distinktion verspricht, der auch benutzt wird, den eigenen Geschmack als überlegen darzustellen. Marie erzählt von Einkäufen, bei denen Geld keine Rolle spielt, sondern die Qualität zählt, und auch beim Essen gehen achtet man auf Empfehlungen von Restaurantführern und geht in besseren Lokalen essen, »auch [oder weil, d. V.] wenn da steht, das es sehr teuer ist« (vgl. Marie, Z. 425). Man zahlt gerne mehr, man will ja etwas Gutes haben, und isst »Branzino« beim exklusiven Italiener. Gleichzeitig wird Unverständnis gegenüber Familie und Freunden geäußert, welche weniger exklusiv einkaufen oder essen gehen und die Marie als anspruchslos etikettiert. Die Nahrung anderer und damit die Anderen werden abgewertet: »Bäh, was ihr alles esst« (Marie, Z. 130f.). Man wertet andere ab und den eigenen Status damit auf, da man nicht anspruchslos isst wie andere, sondern den guten Genuss zu schätzen weiß. Ein Connaisseur, der über das notwendige Wissen und Stil verfügt und zeigt, dass man es sich leisten kann und zu leben versteht. Auf den ersten Blick anders verhält sich der Fall ›Thomas‹. Für ihn hat Essen angeblich keinerlei Genussfunktion. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass er dem Essen weitaus mehr zugetan ist, als er zu glauben scheint: er isst nämlich viel und gerne, wie sein Übergewicht zeigt, zu viel, und auch zu fettig, süß und kalorienreich. Die vorgeschobene Nicht-Wertschätzung des Essens, als notwendiges Übel, rührt eher daher, dass sein Essverhalten keines ist, welches Anerkennung bringt, im Gegenteil. Dabei, so sagt er, ist er »leider Gottes kein Gourmet« und »würde gerne mehr vom Essen verstehen« (Thomas, Z. 84f.). Kompensiert wird dies mit seiner

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Vorliebe und Wertschätzung für Wein, hier kennt er sich aus: »Ich habe ein paar Bücher gelesen und mich mit den einzelnen Gütern ein bisschen beschäftigt. Dann hat man einen anderen Bezug dazu (…)« (Thomas, Z. 207ff.). Wenn ich nicht weiß, was Tanningeschmack ist, oder, oder, oder, dann erkenne ich ihn auch nicht.« Beim Wein ist er, im Gegensatz zu Anderen, der Kenner, der über Wein Bescheid weiß und zudem die feinen Unterschiede beim Wein auch schmecken kann (vgl. Thomas, Z. 212ff.). Während sein Essverhalten ihm den Statusgewinn verwehrt, kann er ihn durch sein Wissen und Interesse für Wein erzielen. Das Statusdenken zeigt sich dann auch beim Preis, mehrere hundert Euro werden für Flaschen von renommierten Weingütern ausgegeben. Er weiß also was gut ist, zeigt sich als Kenner von Tanninen und Weingütern und zeigt auch, dass er es sich leisten kann. Der Status durch Genuss hat heute allerdings etwas andere Voraussetzungen als nur finanzielle; der Genuss setzt hohe Qualität (und Wissen darüber) und mehr und mehr auch eine nachhaltige Produktion voraus: dadurch wird der Genuss moralisiert und gewinnt an Distinktionskraft (siehe dazu Absatz 8.3). Dort wo Distinktion und Status durch den Genuss von Genuss- und Lebensmitteln gewonnen werden kann, dort investiert der ›Statusorientierte‹ Zeit und Geld: ob beim Weingut, im Restaurant, auf dem Biomarkt oder in einer der mittlerweile ungezählten Manufakturen im Lebensmittelbereich, bleibt ihm überlassen. Im Alltag geht dieser hohe Anspruch komplett verloren, der Genuss- und Qualitätsanspruch wird in keiner Weise umgesetzt. Convenience und Fertigprodukte dienen dann zeitsparend dazu, das natürliche Hungerbedürfnis zu stillen. Genuss wird damit weder erzielt, noch ist er gesucht, da nur das Besondere, nicht das Alltägliche, Gewöhnliche diesen bieten kann. 4.6.5 Typus 4 – Die Gleichgültigen (Gabriele, Annika) Dieser Typus ist gekennzeichnet durch einen sehr funktionalen Stellenwert des Essens und der Ernährung. Genuss und Freude am Essen sind Motivationen, die bei diesem Typus kaum anzutreffen sind, die Ernährung ist eine Notwendigkeit mit der Funktion dem Körper die nötigen Nährstoffe zuzuführen. Typisch sind Aussagen wie zum Beispiel »für mich alleine würde ich überhaupt nicht kochen« (Gabriele, Z. 160). Dabei essen auch diese Menschen gerne etwas, das ihnen schmeckt und haben gewisse Vorlieben, allerdings ohne dabei einen besonderen Genuss zu empfinden. Man muss essen, deshalb isst man, und dabei wird das gegessen, was möglichst wenig Aufwand kostet und trotzdem schmeckt, Grießbrei (Annika) oder Wurstbrot (Gabriele). Essen und noch viel mehr das Kochen, Einkaufen und Verarbeiten von Lebensmitteln hat keinen eigenen Stellwert als genussvolles Vergnügen, sondern begnügt sich mit dem funktionalen Zweck der Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen, wenn es dabei auch mal schmeckt, auch recht, egal ob es sich

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nun um die gut situierte pensionierte Lehrerin oder eine Zusatzjobberin handelt. Ihnen gemeinsam ist, dass sie schon früh eine gewisse Distanz zum Essen entwickelt haben. Sie waren als Kinder überhaupt nicht in Ernährungsfragen wie dem Einkauf oder Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln involviert: Die Ernährung lag in den Händen anderer und dementsprechend haben sie auch keine positiven Kindheitserfahrungen diesbezüglich. Wenn sie heute kochen, dann weil sie müssen, nicht weil sie wollen. Sie empfinden weder Lust noch Freude beim Kochen, noch hat Essen für sie eine besondere Genussfunktion: »Für mich ist Essen satt werden« (Gabriele, Z. 263). Dementsprechend gering ist auch der eigene Anspruch an das Essen, man greift gerne auf Convenience-Produkte zurück, welche die Arbeit erleichtern und verkürzen, isst selbstgenügsam und verbindet mit Essen weder Status noch Genuss. Sie kochen nicht für sich, nicht nach ihrem Geschmack und für ihr Wohlbefinden, sondern sie kochen für andere, weil es von ihnen erwartet wird: sie sind zuständig für die Versorgung ihrer Familien. Diese Versorgung gestaltet sich mehr an den Ansprüchen die andere haben, an denen der Familie beziehungsweise der Gesellschaft als an den eigenen, sehr bescheidenen Ansprüchen. Es ist der Anspruch, seine Familie gesund zu ernähren, dem versucht wird gerecht zu werden. Inwieweit dies gelingt beziehungsweise wie die Ernährung dann tatsächlich gestaltet wird, hängt auch von der sozialen Herkunft ab. Eine gebildete und gut situierte Frau muss anderen Ansprüchen gerecht werden als eine Frau aus der Unterschicht ohne Ausbildung. So gestaltet sich die Ernährung von Gabriele de facto deutlich positiver als ihre gleichgültige Einstellung vermuten ließe. Es wird regelmäßig gekocht, mit frischen Zutaten, Obst und Gemüse genauso wie Eier kommen aus biologischem Anbau. Das Fleisch dagegen wird zumeist im günstigen Supermarkt gekauft und man greift gerne auf Convenience-Erleichterungen wie beispielsweise fertige Gewürzmischungen zurück. So soll der Spagat zwischen gesunder Ernährung für die Familie und möglichst geringem Aufwand geschafft werden. Die Einstellung zum Kochen als lästige Pflicht liegt bei Gabriele in der Jugend bedingt, durch den Tod der Mutter. In jungen Jahren musste sie dann für die komplette Familie kochen. Dieser Zwang für andere kochen und vor allem auch gesund kochen zu müssen, später dann auch für die eigene Familie, nahmen ihr jegliche Freude am Kochen: »Am Anfang? Es war müssen. Ich meine, ich habe für meine jüngeren Geschwister….da war einfach auch so die Vorstellung, ich bin jetzt für die gesunde Ernährung meiner Geschwister verantwortlich. Also muss ich was Ordentliches kochen. Aber es war eine Verpflichtung, es war nicht so, dass ich gesagt habe, ›hurra, ich darf jetzt kochen‹ und mache das mit Liebe, sondern es war, ja, jetzt nicht eine Passion. Einfach eine Verantwortung. Und das ist es auch geblieben« (Gabriele, Z. 129ff.)

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Eine Verantwortung die so groß war, dass Kochen und Essen nicht als Lust, sondern als Last empfunden werden. Auch im Fall ›Annika‹, die als Kind ebenfalls nicht in die Küchenarbeit mit eingebunden war, ist es (eingefordertes) Pflichtgefühl für die Kinder, welches sie dazu veranlasst zu kochen. Bevor die Kinder kamen, waren Brei, Pudding oder kleinere Fertiggerichte Standard-Verpflegung. Erst mit den Kindern und damit einhergehender Kritik Annikas Mutter an deren Koch- beziehungsweise Ernährungsgewohnheiten führten dazu, dass sie begann, mehr auf die Ernährung zu achten. Biologische Lebensmittel spielen keine Rolle und auch der gesundheitliche Aspekt erhält weniger Beachtung, man ist froh, wenn man mit dem wenigen Geld halbwegs über die Runden kommt und es gelingt, die Kinder mehr oder weniger gut satt zu bekommen. Dass Defizite bestehen, ist Ihr durchaus bewusst, es gibt zu selten frisches Obst und Gemüse und häufig eher ungesunde Convenience-Gerichte. Doch es wird zumindest täglich gekocht, und mit besser werdender finanzieller Situation nimmt auch die Abwechslung auf dem Speiseplan zu; weniger aus eigenem Anspruch, sondern um den Ansprüchen der Familie gerecht zu werden. Ohne Partner und Kinder würde die Ernährung beider Frauen sicher anders aussehen und sich in schnellen, anspruchslosen Gerichten, Broten und Brei, erschöpfen. Der Eigenwert von Kochen und Essen ist zu gering, als dass diesen Tätigkeiten Zeit und Aufwand eingeräumt würde: Wenn gekocht wird, dann weil gekocht werden »muss«: für die Kinder, für den Mann, für die Familie. 4.6.6 Vergleichende Typendarstellung Einen guten Überblick über Gemeinsamkeiten und vor allem Unterschiede gibt eine tabellarische Darstellung der verschiedenen Typen, ausgerichtet an den thematischen Kategorien der Interviews:

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Abbildung 8: Tabellarische Typendarstellung

Quelle: Eigendarstellung

Deutlich zu Tage tritt die psychosoziale Kernkategorie ›emotionale Verbundenheit‹ beziehungsweise ›Affinität‹ zu Ernährung, Kochen und Genuss in den grünen Pluszeichen. Die thematischen Kategorien ›Ernährungsinvolvement‹, ›Regionalität & Saisonalität‹, ›Genussfunktion‹, ›Lust & Freude am Kochen‹ und ein ›hoher Anspruch an die Ernährung‹ werden vom Typus ›Idealisten‹ voll und ganz erfüllt und positiv bewertet. Der Typus ›Anspruchsvolle Pragmatiker‹ hat dagegen zwar eben-

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falls einen relativ hohen Anspruch, schafft es im Vergleich zu den ›Idealisten‹ aber nicht, diesen alltäglich zu erfüllen. Dies zeigt sich bei den Themenpunkten ›Genussfunktion der Ernährung‹, der ›Umsetzung im Alltag‹ als auch im ›Nutzen von Convenience Produkten‹. Wenn die Zeit da ist, dann wird der Anspruch umgesetzt, fehlt sie, greift man auch auf Convenience zurück. Ähnlich ambivalent, doch vor einem anderen Hintergrund, stellt sich die Situation beim ›Statusorientierten‹ dar. Hier ist der Genuss, die Lust und Freude am Essen und / oder Trinken gekoppelt an die soziale Kernkategorie ›Status‹. Nur wenn der Konsum Status verspricht, wird er zelebriert, wird ein sehr hoher Anspruch hochgehalten, exklusive Restaurants aufgesucht oder teure Weine getrunken und auch ein Überlegenheitsanspruch deutlich. Diese Kernkategorie ›Status‹ zeigt sich ansatzweise noch bei zwei Vertretern der ›Idealisten‹: Diese pflegen jedoch keinen exklusiven Konsum und auch ihr Überlegenheitsanspruch ist ein anderer. Sie fühlen sich überlegen in dem Sinne, dass sie besser informiert sind als andere und der Lebensmittelindustrie entgegenwirken können. Bei den ›Statusorientierten‹ basiert der Überlegenheitsanspruch auf der Darstellung des exklusiven Konsums als Leistung des eigenen guten Geschmacks. Hier spielt dann auch die Abwertung anderer als anspruchslos eine Rolle und dient der Distinktion. Im roten Minus Bereich findet sich größtenteils der Typus ›Gleichgültige‹. Sowohl die psychische Kategorie der ›Emotionalen Verbundenheit‹ zum Themenkomplex Genuss und Ernährung als auch die soziale Kategorie ›Status‹ spielt für diesen Typ keine Rolle. Ernährung ist für sie nicht positiv besetzt und oftmals eher Last als Freude – es wird weder versucht Status noch Freude und Genuss durch Ernährung zu erzielen. Da man aber essen muss, wird dies möglichst aufwandsfrei erledigt, gerne auch im Rückgriff auf Convenience-Produkte. Auffällig, weil scheinbar atypisch, stellt sich der Fall Gabriele dar: Sowohl bei Biokost als auch bei der alltäglichen Umsetzung, also dem realen Kochverhalten weist sie ein grünes Plus auf, das heißt sie kauft Bio-Lebensmittel und kocht regelmäßig abwechslungsreiche, gesunde Mahlzeiten. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch schnell auf, wenn man das Interview genau studiert. Gabriele kommt aus einem gut situierten Haushalt mit bildungsbürgerlichem Anspruch. Gabriele selbst hat keinerlei Anspruch an das Essen, allerdings muss sie ihrer Ansicht nach den Anspruch erfüllen, gesund für ihre Familie zu kochen. Dass sie dies dann oftmals auch in Bioqualität tut, ist ihrer sozialen Schicht geschuldet. In Akademikerkreisen sind biologische Lebensmittel positiv besetzt und werden auch gekauft. Essen in Bioqualität ist hier nichts Außergewöhnliches, eher normaler Standard (auch wenn dieser nicht immer zu 100 Prozent erfüllt wird). Betrachtet man die Tabelle, fällt auf, dass Biokost ausschließlich bei befragten Akademikern positiv bewertet und auch gekauft wird, unabhängig vom Typus und den dazugehörigen thematischen Kategorien. Sowohl ›Idealisten‹ als auch ›Pragmatiker‹ ohne akademischen Hintergrund stehen biologische Lebensmittel dagegen eher ablehnend gegen-

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über. Der Konsum von Bio-Lebensmitteln korreliert stark mit der Bildung der Konsumenten (vgl. dazu Absatz 8.3.5). Bei den befragten, sozial schwachen Teilnehmern, die sich auf die Gruppen Idealisten, Pragmatiker und Gleichgültige gleichermaßen verteilen (naturgemäß fehlen sie beim Typus Statusorientierte), ist das Thema Biokost in den Interviews mit keinem Wort aufgegriffen worden. Für diese finanzschwachen Personen ist Einkauf und Ernährung mit den vorhanden Mittel ohnehin schon schwer genug zu bewältigen, eine Beschäftigung mit Biolebensmittel wäre illusorisch und findet deshalb gar nicht statt. Das Schweigen dieser Personengruppe sagt hier in der Tat mehr als tausend Worte: Biolebensmittel sind schlichtweg kein Thema in einkommensschwachen Schichten. Dass auch die Schülerin Julia keine Aussagen zu Bio-Lebensmittel machte, liegt darin begründet, dass sie noch zu Hause wohnt und ihre Mutter den Einkauf übernimmt.

5. Ernährungssozialisation in der frühen Kindheit – Primärsozialisation

5.1 Ü BER

DIE

B EDEUTUNG

DER

P RIMÄRSOZIALISATION

5.1.1 Begriffsklärung Als Primärsozialisation wird die erste Phase der Sozialisation bezeichnet, also die Sozialisation im Säuglings- und Kindesalter. Der Begriff geht auf den amerikanischen Soziologen Charles Cooley und dessen Unterscheidung zwischen Primärund Sekundärgruppen zurück. Die Primärgruppen sind für ihn von entscheidender Bedeutung für die Sozialisation des Individuums: »By primary groups I mean those characterized by intimate face-to-face association and cooperation. They are primary in several senses, but chiefly in that they are fundamental in forming the social nature and ideal of the individual.« (Cooley 1972, S. 23)

Naturgemäß findet deshalb die Primärsozialisation, charakterisiert durch unmittelbare face-to-face-Bindungen, fast ausschließlich in der Familie statt. Trotz der Übereinkunft in der Sozialisationsforschung, dass Sozialisation ein lebenslanger Prozess ist, ist ebenso unumstritten, dass der Primärsozialisation eine besondere Bedeutung zukommt, da in dieser ersten Sozialisationsphase der Grundcharakter festgelegt und die kindliche Persönlichkeit sozialisiert wird (vgl. Berger / Luckmann 2007, S. 141). Andere Sozialisationsinstanzen sind von nachrangiger Bedeutung, da diese erst auf die zu sozialisierende Person einwirken, wenn die Grundpersönlichkeit schon angelegt ist. Es ist also die Familie beziehungsweise Personen, welche die familiäre Erziehung übernehmen, die dem Kind aus deren Sichtweise heraus Werte, Normen und gesellschaftliche Erwartungen vermitteln. Hierbei wirkt sich dann deutlich die Position der Familie im sozialen Raum aus, was zur Folge hat, dass sich die soziale Herkunft nachhaltig und stark auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt (vgl. Mühler 2008, S. 50). Dieser Aspekt ist insbesondere für die

130 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Habitustheorie Bourdieus von entscheidender Bedeutung. Bevor jedoch auf diese eingegangen wird, sollen erst Erklärungsansätze betrachtet werden, welche die Bedeutung der Primärsozialisation empirisch beziehungsweise theoretisch untermauern. 5.1.2 Berger und Luckmanns soziologische Betrachtung der Primärsozialisation Die Konsistenz und Nachhaltigkeit primärer Sozialisation theoretisch zu erklären, versuchen die beiden Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann. Dabei greifen sie auf den theoretischen Ansatz zur Identität von Mead zurück, der Identität als ausbalancierte Persönlichkeitsstruktur begreift, welcher den Ausgleich zwischen dem impulsiven Trieben und Charaktereigenschaften eines Individuums und den verinnerlichten Erwartungen anderer gelingt. (vgl. Absatz 2.3.3) Diese Anderen bezeichnet Mead als »the generalized other« und meint damit die Ansprüche und Erwartungen der Gesellschaft. Berger und Luckmann gehen davon aus, dass in der Primärsozialisation die Interaktionspersonen zumeist die Eltern sind und sprechen in diesem Zusammenhang von »signifikanten Anderen« (Berger / Luckmann 2007, S. 141). Identifiziert sich das Kind mit diesen »signifikanten Anderen« internalisiert es deren Rollen und Einstellungen und macht sie sich selbst zu Eigen. Wichtig für die Konsistenz der Primärsozialisation ist dabei der Umstand, dass die »signifikanten Anderen« festgelegt sind und es sozusagen keine alternativ Anderen gibt. Das Kind ist fixiert auf die Eltern, ohne eine Wahlmöglichkeit zu haben und identifiziert sich so zwangsläufig mit diesen. Es ist nach Berger und Luckmann die Alternativlosigkeit in der Beziehung zu den Eltern, welche die Primärsozialisation so tiefgreifend und bedeutend werden lässt: »Es internalisiert die Welt seiner signifikanten Anderen nicht als eine unter vielen möglichen Welten, sondern als die Welt schlechthin, die einzige vorhandene und fassbare. Darum ist, was an Welt in der primären Sozialisation internalisiert wird, so viel fester im Bewusstsein verschanzt als Welten, die auf dem Wege sekundärer Sozialisation internalisiert werden.« (Berger / Luckmann 2007, S. 145)

Auch psychoanalytische Sichtweisen sehen die engen Eltern-Kind-Beziehungen in den ersten Lebensjahren als grundlegend für die Persönlichkeitsbildung an und sind darüber hinaus dort von Erklärungskraft, wo soziologische Sozialisationstheorien wenig hilfreich sind, beispielsweise bei der Frage, wie emotionale Affinität, also die Lust und Liebe zum Kochen und Essen entsteht, weshalb an dieser Stelle noch kurz auf psychoanalytische Grundansichten eingegangen wird.

P RIMÄRSOZIALISATION | 131

5.1.3 Psychoanalytische Ansichten zur Primärsozialisation 5.1.3.1 Psychoanalytische Grundlagen nach Freud Sigmund Freuds psychoanalytische Theorie bildete die Grundlage für ein neues wissenschaftliches Teilgebiet der Medizin, genauer gesagt für die medizinischpsychologische Therapie. Dabei sind Freuds Thesen über die Persönlichkeitsentwicklung, welche von einer zentralen Bedeutung der frühen Familienbeziehung ausgehen, auch für die Sozialisationsforschung beziehungsweise als Forschungsmethode von Bedeutung. Vor allem Freuds Annahmen zur Primärsozialisation sind für die Sozialisationsforschung von großem Interesse, da er als einer der Ersten davon ausging, dass sich die Grundstrukturen der Persönlichkeit in den ersten Lebensjahren durch die Art der Beziehung zwischen Eltern und Kind entwickeln. Freuds Entwicklungsschema beschreibt dabei verschiedene Entwicklungsphasen des Individuums mit besonderem Fokus auf die verschiedenen Phasen der Kindheit: Abbildung 9: Psychosexuelle Phasen in der frühen Kindheit nach Freud

Psychosexuelle Phasen in der frühen Kindheit:

Orale Phase 0–2 Jahre

In dieser ersten Entwicklungsphase sind Lippen und Mund zuständig für Nahrungsaufnahme und Erkundung der Umwelt und bereiten dem Kind Lustgewinn. Es ist völlig von der hauptsächlich betreuenden Person abhängig und auf deren Präsenz angewiesen.

Anale Phase 2–4 Jahre

Das Kind wird mobil und tritt nun auch in Kontakt und Konkurrenz zu anderen Familienmitgliedern. Befriedigung in dieser Machtkampfphase erreicht das Kind durch die bewusste Nutzung der Ausscheidungsorgane bis hin zu deren von den Eltern erwünschten Kontrolle.

Ödipale Phase 4–6 Jahre

Entdeckung der Zweigeschlechtigkeit und der Sexualorgane. Sexuelle Wünsche gegenüber dem andersgeschlechtlichen Elternteil kommen auf, werden aber durch Missbilligung sanktioniert, bis eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil erfolgt.

Quelle: Eigendarstellung

In der ersten Phase, welche auch Abhängigkeitsphase genannt wird, ist die Bindung vom Kind an die Betreuungsperson, in der Regel die Mutter, von enormer Bedeutung. Da das Kind komplett von der Versorgung durch die Mutter abhängig ist, entwickelt sich die Bindung so stark, dass eine längere Unterbrechung dieser Bindung spätestens ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres gravierende Folgen für das Kind mit sich bringt. In der zweiten Entwicklungsphase wird das Kind mobiler, tritt in Kontakt mit dem zweiten Elternteil und den Geschwistern. Auseinandersetzungen häufen sich und Befriedigung wird nicht mehr durch die Rundumver-

132 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

sorgung durch die Mutter gewährleistet, es tritt in Status- und Machtkonkurrenz. Um in dieser Aktivitätsphase Befriedigung zu erlangen, muss sich das Kind bemühen, sich an gewisse Ordnungen zu halten. Die Ausscheidungsorgane werden mit größerem Interesse betrachtet, ihr Gebrauch als lustvoll erlebt und das Kind lernt schließlich, sie zum Wohlwollen der Eltern zu kontrollieren. In der frühen genitalen oder eben ödipalen Phase werden sich die Kinder ihrer Geschlechtlichkeit bewusst und entdecken den Lustgewinn, den ihre Sexualorgane ermöglichen. Dabei wird für das Kind der andersgeschlechtliche Elternteil nun auch sexuell interessant. Der Junge beginnt mit dem Vater um seine Mutter zu konkurrieren, das Mädchen rivalisiert mit der Mutter um den Vater. Erst allmählich identifizieren sich der Junge mit dem Vater und das Mädchen mit der Mutter, wodurch die innerfamiliären Konflikte beigelegt werden können (vgl. Nave-Herz / Markefka 1989, S. 85f.). Freuds Theorie wurde und wird vielfach kritisiert. In ihrem originellen Anspruch und deren inspirativer Wirkung ist sie jedoch bis heute Grundlage psychoanalytischer Forschung, die Freuds Theorie weiterentwickelt und differenzierter ausgebaut hat. Für die Sozialisationstheorie fruchtbar ist insbesondere Freuds Konzept der Identifizierung, welches nach Hans-Joachim Busch bisher zu wenig beachtet wurde (vgl. Busch 1985, S. 32). Hier erkennt Freud in der Identifikation einen Weg, der über Nachahmung zur Einfühlung und letztendlich zu einem Zugang und Verständnis zu einem anderen Seelenleben, zum Mitmenschen, führt (vgl. Freud 1989a, S. 103). Das Kind entwickelt eine ursprüngliche und sehr enge Bindung an eine andere Person und möchte so sein wie diese: »Die Grundlage dieses Vorganges ist eine sogenannte Identifizierung, d.h. eine Angleichung eines Ichs an ein fremdes, in deren Folge dieses erste Ich sich in bestimmten Hinsichten so benimmt wie das andere, es nachahmt, gewissermaßen in sich aufnimmt.« (Freud 1989b, S. 501)

Eine psychoanalytische Theorie mit einer stärkeren Akzentuierung des Identifikationskonzepts ist nach Hurrelmann auch ein wertvoller Beitrag zur Sozialisationsforschung, da nun die Person in Interaktion mit der Umwelt tritt, was für eine Sozialisationstheorie konstituierend ist (vgl. Hurrelmann 2006, S. 54). Dem psychoanalytischen Ansatz in all seinen Weiterentwicklungen und Modifikationen gebührt der Verdienst, die herausragende Bedeutung der ersten Lebensjahre für die Sozialisation des Menschen erkannt zu haben, eine Einsicht, die sich auch in der modernen Bindungs- und Sozialisationsforschung erhalten und weiter verfestigt hat. 5.1.3.2 Erkenntnisse der modernen Bindungsforschung Die moderne soziologische Bindungsforschung widerspricht traditionellen soziologischen Vorstellungen genauso wie traditionellen psychoanalytischen Annahmen

P RIMÄRSOZIALISATION | 133

über das soziale Wesen des Menschen. Weder ist das Kind eine ›tabula rasa‹, wie in der Vorstellung Durkheims, der davon ausging, dass neugeborene Säuglinge asoziale Wesen sind, welche erst durch die Erziehung befähigt werden ein soziales Leben zu führen (vgl. Durkheim 1972, S. 31). Noch ist das Kind, wie von Freud betrachtet, ein egoistisches, narzisstisches Wesen, welches die Bindung zur Mutter primär wegen des Hungerbedürfnisses eingeht (vgl. Freud 1966, S. 115). Diese Sichtweisen sind nach heutigem Forschungsstand nicht mehr aufrecht zu halten. Christel Hopf kommt bei der Analyse der Ergebnisse der empirischen Bindungsforschung zu der Feststellung, dass Kinder von Geburt an die Fähigkeit besitzen, in soziale Interaktion zu treten (vgl. Hopf 2005, S. 28). Schon Säuglinge bauen im ersten Lebensjahr starke Bindungen an erwachsene Bezugspersonen auf, zuallermeist eben zu Müttern oder zu Vätern. Wie sich diese Beziehung dann entwickelt, hängt vom Verlauf dieser Bindung ab, von den Erfahrungen, die das Kind mit der Bezugsperson macht. Es wird davon ausgegangen, dass die Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Bindung eine Schutzfunktion für den Säugling hat, eine Art Überlebensfunktion. Der Pionier der Bindungsforschung John Bowlby sieht darin eine evolutionäre Entwicklung: »Im Laufe unserer Evolution, so dürfen wir annehmen, hat es einen starken Selektionsdruck gegeben, der die Individuen bevorzugte, die Nähe oder wenigstens einen sofortigen Zugang zu den anderen Individuen aufrechthielten, die höchstwahrscheinlich Schutz geben würden.« (Bowlby 2003, S. 43)

Es gibt vielerlei Hinweise, die darauf hindeuten, dass es bei Säuglingen eine biologische, angeborene Tendenz gibt, sich an Bezugspersonen zu binden. Die Art und Weise der Beziehung sowie deren Verlauf sind dagegen abhängig von der sozialen Interaktion. Diese frühen Bindungserfahrungen spielen für die spätere Entwicklung des Kleinkindes eine entscheidende Rolle. Die Gefühlsbindung zur Bezugsperson ist die Grundlage aller Prozesse der Sozialisation. Das Kind verinnerlicht die Elternbilder, besetzt diese positiv und identifiziert sich damit. Anna Freud erklärt, nah am Ansatz ihres Vaters, was unter der kindlichen Identifikation zu verstehen ist. Für sie ist das Kind die Summe aller Einflüsse Außenstehender, die während der Kindheit auf sie eingewirkt haben: »das Kind sammelt eine gewaltige Mischung von Haltungen, Eigenschaften, Verboten, Befehlen, Vorstellungen und Wünschen in sich an […]« (Freud 1993, S. 89f). Andere Bindungsforscher haben dagegen das Identifikationskonzept weiter differenziert. In einem Punkt aber sieht Hopf umfassende Übereinstimmung bei Psychoanalytikern und Bindungsforschern:

134 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG »Als Basis einer gelungenen Identifizierung oder auch Internalisierung werden die emotionalen Beziehungen zwischen Kindern und ihren Eltern angesehen und das Maß an Sicherheit und Zuneigung, was durch diese vermittelt wird.« (Hopf 2005, S. 102f.)

Wenn man also von einer enormen Bedeutung der frühen Lebensjahre auf die Entwicklung des Kindes ausgehen kann und muss (auch wenn dies empirisch kaum zu beweisen ist), dann hat sich auch eine Arbeit, welche sich mit der Sozialisation von Geschmack und Ernährung beschäftigt, mit dieser frühen Sozialisationsphase auseinanderzusetzen. Eine psychoanalytische Herangehensweise kann in dieser speziellen Lebens- und Sozialisationsphase zumindest in Teilaspekten mehr leisten als soziologische Theorien. 5.1.3.3 Ernährung und Emotion Die Auswahl beziehungsweise die Präferenz für bestimmte Lebensmittel, erfolgt – von Ausnahmen wie Giftigkeit oder Unverdaulichkeit abgesehen – aufgrund kultureller, also erlernter Motive (vgl. Barlösius 1999, S. 40). Die einzige Nahrungspräferenz mit einer hohen genetischen Determination ist die schon beim Säugling vorzufinden Präferenz für Süßgeschmack. Diese ist offenbar angeboren und frei von Lernerfahrung, was oft als evolutionärer Vorteil interpretiert wird, da süße Nahrungsmittel eine sichere und schnelle Energiequelle bieten. Andere Präferenzen, wie etwa die für Salziges und auch Bitteres, entstehen erst später. Ob diese nur auf Erfahrung und Lernen oder auch auf genetischen Faktoren beruht, ist in der Forschung nicht einstimmig geklärt. Jedenfalls hat das neugeborene Kind keinerlei Präferenzen oder Affinitäten außer der zu Süßgeschmack (vgl. Pudel / Westenhöfer 1991, S. 27ff.; Logue 1995, S. 126f., 138f.). Eines der ersten Bedürfnisse eines neugeborenen Säuglings ist das Stillen des Hungers, der erste Trieb, den das Neugeborene durch die süße Milch der Mutterbrust befriedigt. Vom ersten Tag an kommt es also nach psychoanalytischer Sicht bei jeder Befriedigung des Hungergefühls zur Triade von Sättigung, Lust und sozialer Bindung. Der Hunger wird an der Brust der Mutter gestillt, das Kind empfindet dabei Lust und Befriedigung und gleichzeitig bildet sich eine enge Bindung zur Mutter heraus. Dieses gemeinsame Auftreten von Nahrungsaufnahme, Lust und Bindung, welches vom ersten Tag an existiert, stellen quasi die ersten Erfahrungen des Kindes überhaupt dar. Die Lust an der Einverleibung geht einher mit der Lust der oralen Befriedigung. Die besondere Bedeutung von erster Nahrungsaufnahme, Lust und Bindung in den ersten Lebensmonaten ist konstituierend für die Psychoanalyse (vgl. Rudolf 2008a, S. 34). Es wird davon ausgegangen, dass die frühesten Erfahrungen des Kindes mit der Mutter prägend für alle späteren Beziehungen beziehungsweise Bindungen sind. Gestaltet sich die Bedürfnisbefriedigung der Nahrungsaufnahme regelmäßig, zuverlässig und in inniger Bindung zu einer festen Be-

P RIMÄRSOZIALISATION | 135

zugsperson, wird diese erste Beziehung eines Menschen als beglückend erlebt und legt den Grundstein für spätere Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Glücken diese ersten Erfahrungen nicht und die Umwelt und die Bezugsperson werden als abweisend, unruhig und unzuverlässig erlebt, wird der Aufbau eines gesunden Vertrauensverhältnisses und Bindungsverhalten gestört (vgl. Riemann 2006, S. 41f.), in einer Lebensphase, in der das Dasein mit Freude, Lust und Vertrauen empfunden werden sollte: »Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Mutter dem Kind diese Möglichkeiten bietet, damit es in die Lage kommt, einen Menschen ›in sein Herz zu schließen‹. Das Bild der Mutter und ihres Wesens bildet sich ja dem Kinde zugleich als seine ersten Eindrücke vom Menschen, vom Menschlichen überhaupt, ein. Ob es hier erstmals Zuneigung oder Ablehnung erfährt, sich als geliebt oder ungeliebt erlebt, hängt davon ab, wie die Mutter es anblickt, anfasst, behandelt und mit ihm umgeht, wobei die Sensibilität und Beeindruckbarkeit des Kindes schon auf feinste Eindrücke reagiert.« (Riemann 2006, S. 88)

Hinzuzufügen ist, dass auch ein zu viel an Bemutterung, Zärtlichkeit und Besorgtheit später zu unreifen Beziehungsmustern oder Depressionen im Erwachsenalter führen kann (vgl. Riemann 2006, S. 89ff.). Wenn nun also die ersten Erfahrungen von Essen von entscheidender Bedeutung für die Charakterentwicklung, psychische Gesundheit und das Bindungsvermögen, also für die gesamte Menschwerdung, wegweisend sind, so ist unbedingt auch davon auszugehen, dass diese Erfahrungen auch für die spätere Ernährung und die Beziehung des Menschen zu Essen und Lebensmitteln stark prägend sind. Nahrungsaufnahme und sexuelle, orale Lust gehen eine Verbindung ein, die es ermöglicht, Essen lustvoll, genießend zu erleben: »Die primäre Aneignung wird durch die sekundäre Aneignung des Genießens überformt« (Prahl / Setzwein 1999, S. 146). Wie eng diese beiden Motive miteinander verwoben sind, zeigt sich schon in der Umgangssprache: Man hat jemanden zum Fressen gerne oder möchte jemanden vor lauter Liebe mit Haut und Haaren verschlingen, was den Wunsch ausdrückt, sich die geliebte Person einzuverleiben, in sich aufzunehmen, wie das säugende Kind die Milch der liebenden Mutter in sich aufnimmt. Der Mund ist von Anfang an sowohl Organ des sexuellen Lustgewinns als auch Organ der Nahrungsaufnahme (vgl. Rudolf 2008b, S. 77). Dieser enge Zusammenhang zeigt sich später im Verhältnis des Individuums zum Essen: »Späterhin wird sich die Anlehnung der kindlichen Sexualbefriedigung an Nahrungsaufnahme verschieden auswirken: Eine besonders starke erogene Besetzung der Mund- und Lippenzone kann, je nachdem, ob sie ungehemmt [bzw. auf dem Wege der Perversion] zum Zuge kommt oder verdrängt wird, zu besonders lustvollem Essen [Trinken, Rauchen usw.] führen oder zu Nahrungsekel.« (Rath 1993, S. 157)

136 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Trieben ist dabei jedoch, dass die Bedürfnisse Hunger und Durst nur sehr begrenzt verdrängt werden können, die sexuelle Lust jedoch aufgeschoben und sublimiert werden kann (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 143f.). Ebenso können Störungen in der frühkindlichen Entwicklung zu Essstörungen, wie Adipositas oder Anorexie führen. Die Ursachen dieser Erkrankungen sind sicher vielfältig und verschieden, allerdings wird in der großen Mehrzahl der sich mit dieser Thematik befassenden Analysen davon ausgegangen, dass die Gründe dafür in der frühkindlichen Sozialisation zu finden sind, insbesondere im Verhältnis des Kindes zur Mutter (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 115; Pudel / Westenhöfer 1991, S. 27). Vor dem Hintergrund solcher extremen Zusammenhänge von früher Sozialisation und Ernährung wird häufig der Blick auf die Zusammenhänge im ›Normalbereich‹ vergessen. Doch auch hier kann man davon ausgehen, dass die Einstellung und Nähe zum Essen und zur Nahrung, die Fähigkeit zum Genießen, schon in der Frühphase der Sozialisation geprägt wird und auch in späteren Lebensjahren noch grundlegende Auswirkungen hat. Die oralen Lusterfahrungen des Säuglings finden sich auch beim Erwachsenen wieder: »Oralität bleibt in einer durchaus lustvollen Besetzung des Mundbereichs und der Nahrungsthematik bestehen, wobei Themen der Nahrungsaufnahme, des oralen Genießens, des Sattwerdens wichtige Erlebniskategorien bilden.« (Rudolf 2008b, S. 78)

Säuglinge, die von einer stabilen Persönlichkeit, zuverlässig, regelmäßig und zärtlich genährt werden und welchen man Zeit schenkt, um auf ihre individuellen Bedürfnisse bei der Nahrungsaufnahme einzugehen, dürften Essen und Nahrungsaufnahme lustvoll und genießend erleben und können im Erwachsenalter Essen immer noch als genussbringende, positive Angelegenheit erfahren. Kinder dagegen, die ihre Bedürfnisse als nicht adäquat befriedigt empfunden haben, werden wahrscheinlich auch später nicht die Genussfähigkeit beim Essen erreichen wie Erstgenannte. Gerade wenn Säuglinge Nahrung schlecht aufnehmen, sich wieder übergeben oder nur wenig Nahrung auf einmal aufnehmen und einer mehrfachen Fütterung bedürfen oder die Mutter aus psychischen oder zeitlichen Gründen nicht auf die spezifischen Nahrungsbedürfnisse des Säuglings eingehen kann, kommt es unter Umständen zu einer unbefriedigenden Nahrungsaufnahme. Bei Müttern, die psychisch nicht stabil sind oder wenig Zeit oder Geduld haben, kann dann die Milchgabe zu hastig erfolgen, sodass der Säugling nicht ausreichend Nahrung aufnehmen kann. Erfolgt sie lieblos und zu zwingend, erscheint die Nahrungsaufnahme dem Säugling nicht als lustvolle Befriedigung. Egal, ob diese ersten Wochen und Monate der Mutter-Kind-Beziehung nun glücken oder nicht, sie sind von grundlegender Bedeutung für das Verhältnis zu Nahrung und Essen des erwachsenen Menschen:

P RIMÄRSOZIALISATION | 137

»Das Begehren zu essen – das beim Säugling noch mit dem Begehren zu Trinken identisch ist – ist von Anfang an in einem Komplex von individuellen und gesellschaftlichen, von realen, symbolischen und imaginären Dimensionen eingewoben, denn das Begehren des Kindes ist nicht nur auf die durststillende und sättigende Milch gerichtet, sondern auch auf die labende Brust, und später, auf die Person, die ihm gibt oder verweigert. Die damit verbundenen Lusterlebnisse und Tragödien markieren zu einem gewissen Teil die Bedeutungen der Nahrungsaufnahme im Erwachsenalter.« (Rath 1993, S. 156)

Natürlich wird mit der frühkindlichen Sozialisation das Nahrungsverhalten späterer Zeiten nur zum Teil beeinflusst. Fortlaufend wirken weitere Einflüsse auf den Sozialisanden ein. Nach den ersten Lebensjahren tritt dann mehr und mehr der erweiterte Familienkreis in das Bewusstsein des Kindes und nimmt Einfluss darauf. Allerdings nicht mehr in Form der frühkindlichen Prägung, sondern in einem Prozess der Identifikation mit den Bezugspersonen: »Freud und andere Tiefenpsychologen nahmen an, dass das Kind auf die Inhalte und Verläufe dieser Phasen in seinen Interessen, emotionalen Einstellungen und sozialen Beziehungspräferenzen bedeutsam und nachhaltig geprägt wird. Außerfamiliäre Beziehungen zu anderen Kindern und Jugendlichen, zu elternähnlichen Autoritätspersonen, zu Freunden vom gleichen und anderen Geschlecht sind Anwendungen und Erweiterungen der Kindheitserfahrungen im Familienverband. Auch der Umgang mit Dingen, Tieren, Pflanzen, Geräten und Aufgaben bleibt häufig in den Bahnen, die in der Kindheit und frühen Jugend eingeschlagen wurden.« (Toman 1989, S. 86f)

Interessant ist dieser Identifikationsansatz vor allem auch deshalb, weil er nicht nur von Gewöhnungseffekten, Habitualisierung oder simpler Nachahmung ausgeht, sondern von einer wirklichen Identifikation mit den Einstellungen und Vorlieben der Eltern. Dementsprechend gehe ich davon aus, dass auch die Einstellung und die emotionale Nähe beziehungsweise Affinität dieser Bezugspersonen bezüglich Ernährung, Lebensmitteln, Kochen und Essen im Falle einer erfolgten Identifikation vom heranwachsenden Kind übernommen wird. Diese Einstellungen der Eltern zum Kochen und Essen, zu den Tieren und Pflanzen, also auch zu Lebensmitteln und ihr Umgang damit, dürften in hohem Maße auch prägend für die Kinder sein. Ohne es zu wissen, werden sie sich mit den elterlichen Einstellungen identifizieren und deren Affinität oder Distanz zu Küche, Herd und Lebensmitteln teilen. Der Grad der emotionalen Nähe zu Fragen des Ernährungskomplexes wird weitergegeben: »Es ist aber wohl plausibel anzunehmen, daß es sich hierbei um einen Sozialisationsprozeß handelt, in dessen Verlauf durch Imitation, Identifikation und Internalisierung Gedächtnisstrukturen ausgebildet werden, die die im Kontext des emotionsbedingten Eßverhaltens erforderlichen Schemata bereitstellen für die Bewertung einer Person-Umwelt / Selbst-Transak-

138 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG tion, für die daraus resultierende Verbindung zu einem Emotionsschema und für die nachfolgenden Regulierungsbemühungen.« (Grunert 1993, S. 220)

Dies bedeutet meines Erachtens nichts anderes, als dass schon sehr früh emotionale Bewertungsmuster aufgebaut werden, die dann entscheiden, ob Essen einen solchen Stellenwert einnimmt, dass es bei Nahrungszubereitung und Aufnahme auch zur emotionalen Befriedigung in Form von Genuss kommt. Deutlich zeigt sich dies auch bei den Interviews mit den Personen des Typus ›Idealisten‹. Erst die Auswertung dieser Interviews waren der Anlass für den Exkurs in die psychoanalytische Methodik und Theorie. Denn dabei wurde klar, dass es zu einer wie auch immer gearteten Prägung emotionaler Nähe zu Koch- und Ernährungsprozesses schon im frühen Kindesalter kommen muss, die nicht alleine mit soziologischen Theorien wie beispielsweise der des Habitus zu erklären ist. Alle Personen des Typus ›Idealist‹, welche aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen, haben beziehungsweise hatten von klein auf eine starke emotionale Bindung zum Kochen, Essen und zu Lebensmitteln. Alle gaben an, schon früh in die Prozesse der Nahrungsverarbeitung eingebunden gewesen zu sein: »Als Kind habe ich dann immer die Gerste aussuchen dürfen, weil früher in der Gerste immer noch kleine Steinchen und ähnliches drin waren, das war halt nicht ganz sauber. Diese Aufgabe habe ich gehabt, oder Bohnen schnippeln und solche Sachen mit der Maschine. Das habe ich auch gerne getan. Ich habe mich also schon mit Essen beschäftigt, nicht bewusst, aber einfach beschäftigt, weil ich zu so etwas angehalten worden bin und weil mir das eigentlich auch gefallen hat.« (Interview 1, Wilfried, Z.12ff)

Zudem hatten alle die Mutter oder auch die Großmutter als Vorbild genannt, die wiederum ihrerseits dem Essen und Kochen stark verbunden waren. Das Miteinbezogen werden in die Küchenprozesse durch Vorbilder beziehungsweise Bezugspersonen bleibt prägend in Erinnerung: »Das war schon intensives Auseinandersetzen mit dem Essen, würde ich sagen, im Vergleich zu anderen Kindern. Dann habe ich auch viel ziemlich viel gekocht, vor allem mit meiner Oma und mit meiner Mama. Ich habe im Haushalt immer den Kochteil übernommen, und einmal in der Woche musste ich für die ganze Familie kochen.« (Interview 2, Kerstin, Z. 10ff)

Der Konträrfall des Typus ›Gleichgültige‹, konnte diese emotionale Affinität nicht in den Bezugspersonen finden beziehungsweise aufbauen. Sie waren in der Kindheit so gut wie gar nicht in Einkauf, Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln involviert. Dementsprechend dürftig fällt die Erinnerung von Annika auf die Frage aus, ob sie in die Küchenarbeit miteinbezogen war: »Nein, weiß ich nicht,

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kann ich mich nicht mehr so erinnern, aber ich glaube nicht« (Interview 10, Annika, Z. 159f). Die Ernährung lag in den Händen anderer und dementsprechend haben sie auch keine positiv besetzen Kindheitserinnerungen und keine emotionale Verbindung zur Ernährungsthematik. Wenn dann später gekocht werden muss, kann kochen schnell negativ besetzt werden, wie der ›Fall Gabriele‹ zeigt: »Da war dann wirklich so eine Arbeitsteilung innerhalb der Familie bei den Kindern. Wir mussten dann einfach den ganzen Haushalt schmeißen. Und bei mir war das immer Putzen und Wäsche. Also kam ich kaum in die Küche. Außer zum Dreck wegmachen. Ich habe erst selber angefangen zu kochen als unsere Mutter starb und meine ältere Schwester, die bis dahin gekocht hatte, gerade so am Ende ihrer Ausbildung und nicht zu Hause war. Da war von heute auf morgen ich plötzlich der Koch. Und das war echt scheiße.« (Interview 12, Gabriele, Z. 25ff)

Neben diesen individuellen Sozialisationsschritten, bei denen das grundlegende emotionale Verhältnis des Menschen zum Essen in der frühesten Kindheit geprägt wird, wirkt aber auch die Gesellschaft schon früh sehr stark auf das Individuum ein und prägt dessen gesamten Lebensstil: den Habitus.

5.2 H ABITUALISIERUNG VON G ESCHMACK 5.2.1 Habitus und Primärsozialisation Der größere Teil der Sozialisationsprozesse in der Primärsozialisation und auch später geschieht über Prozesse der Habitualisierung. Nicht Zwang und Anpassung, sondern Gewöhnung und Übernahme von Denk- und Verhaltensmustern sind kennzeichnend für die Sozialisation. Die Position der Familie im gesellschaftlichen Hierarchiegefüge prägt den gesamten Lebensstil. Das Kind wiederum wird von den Normen und Werten dieser sozialen Gruppe geprägt. Peter Zimmermann beschreibt den Habitus wie folgt: »Jedes Kind erwirbt über alltägliche Handlungen, die es von Erwachsenen oder anderen Kindern nachahmt, Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsschemata, die Bourdieu als Habitus bezeichnet. Dieser Habitus ist eine allgemeine Grundhaltung, ein System dauerhafter Dispositionen gegenüber der Welt und als eine Art ›Handlungsgrammatik‹ zu verstehen, die wir in uns und nach außen tragen, sei es in Geschmacksvorlieben, in der Körperhaltung, im Gang, in Manieren und in der Sprache.« (Zimmermann 2003, S. 56)

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Dabei kommt der primären Sozialisation beziehungsweise dem primären Habitus ähnlich wie bei psychoanalytischen Konzepten eine herausragende Bedeutung zu, da sich hier die grundlegenden Strukturen des Individuums entwickeln, welche auch für spätere Entwicklungsstadien von prägender Bedeutung sind. Durch die Teilnahme des Kindes an der sozialen Lebenspraxis der Eltern und der Geschwister, eignet es sich die in diesem sozialen Raum gängigen Verhaltensformen, Denkmuster und Lebenskompetenzen an, welche richtungsweisend und langfristig prägend für das Individuum sind (vgl. Zimmermann 2003, S. 56f). Anschaulich beschreibt dies ein längeres Interview-Zitat von Kerstin: »[…] es war schon immer so, dass Lebensmittel bei uns gewachsen sind, und wir haben das als Kinder mitgekriegt, dass die wachsen und dass die nicht aus dem Regal kommen. Und das die Kartoffeln auch mal im großen Stil vergammeln. Dass die Äpfel auch mal einen ganzen Winter halten. Den natürlichen Verlauf des Essens, den haben wir schon extrem mitgekriegt. Auch mal ein Huhn zu schlachten oder wenn es sonntags hieß, wir backen einen Kuchen und die Oma sagt ›ich weiß es nicht, ich muss erst mal dem Huhn unter den Hintern gucken, was noch an Eiern da ist, ob wir einen Kuchen machen können‹. Ja, das war einfach eine aktive Auseinandersetzung mit Lebensmitteln, ich bin morgens mit meinem Opa in den Stall gegangen und habe geholfen die Kühe zu melken. Danach habe ich erst mal ein Glas warme Milch getrunken. Und ich glaube, das hat mich garantiert total geprägt. Ich glaube, das hat halt nicht jedes Kind.« (Interview 2, Kerstin, Z. 295ff)

Kindern eignen sich also die Lebenspraxis der Eltern an. Folgerichtig reproduzieren und verfestigen sich auch die ungleichen sozialen Verhältnisse, in die das Kind hineingeboren wird, fortlaufend: »Es ist eine tendenziell zirkuläre Struktur, die sich im Sozialisationsprozess entwickelt. Das Kind trifft auf die durch den Habitus der Eltern erzeugten Praxisformen; es nimmt mit zunehmender Dauer umso kompetenter an diesen Praxisformen teil; und es reproduziert in dem Maße, in dem es seine Kompetenzen entwickelt, die Praxisformen, in die es einsozialisiert worden ist – Praxisformen, die für die soziale Lage seiner Eltern passen.« (Liebau 1987, S. 83f.)

Diese Praxisformen der Eltern werden vom Kind übernommen und nachgeahmt. Bezogen auf Ernährung bedeutet dies, dass Kinder die Vorlieben, Haltungen und Umgangsformen der Eltern gegenüber Lebensmitteln, Kochen und Formen des Genusses in sich aufnehmen. Grundlegende Techniken und Praktiken der Nahrungszubereitung und Aufnahme, bestimmte Körper- und Geschlechtsbilder mitsamt ihren ernährungstechnischen Auswirkungen werden internalisiert. Das Kind lernt, welche Orte zur Nahrungsaufnahme geeignet sind, dass damit einhergehend bestimmte Zeiten der Nahrungsaufnahme verbunden sind und dass bestimmte Le-

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bensmittel bestimmte soziale Bedeutungen haben, wie etwa Süßigkeiten als Belohnung für erwünschtes Verhalten eingesetzt werden können. Es macht die Erfahrung, dass es bestimmte Formen der Nahrungsaufnahme gibt, bestimmte Regeln und Manieren einzuhalten sind und lernt soziale Funktionen des Essens kennen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 123). Im Spiel wird das Verhalten der Eltern imitiert und nachgeahmt. Im kleinen Kaufmannsladen wird der Einkauf nachgespielt, am Kinderherd wird gekocht oder beim gespielten Kaffee- und Kuchenzeremoniell mit kleinen Kindertassen werden Gesten der Höflichkeit und Funktionen des Small Talks in Verzehrsituationen nachgeahmt und eingeübt. Die Art und Weise wie diese kulturellen Praxisformen dann gestaltet werden, hängt nach Bourdieu stark von der Position der Familie im sozialen Raum ab, welche bestimmte Geschmacksmuster und Präferenzen bedingt und hervorruft. 5.2.2 Form und Substanz – grundlegende Geschmacks – und Konsummuster Bourdieu war nicht der erste, der differente Geschmacksmuster analog zu unterschiedlichen sozialen Schichten entdeckte. Edmond Goblot unterschied zwischen dem Geschmack der Bourgeoisie und dem des Proletariats, welcher zur Abgrenzung beider Klassen dient: »Was zur Grenzziehung beiträgt ist weniger der Reichtum als solcher denn der Gebrauch, den man von ihm macht, was natürlich auch ein gewisses Maß an Reichtum vorrausetzt, denn um einen bourgeoisen Lebensstil führen zu können, braucht man ein Mindestmaß an Ressourcen. Man muß sich kleiden, eine Wohnung unterhalten und ein gewisses Dekor bei der Einrichtung pflegen, man muß sich angemessen ernähren und bestimmte Höflichkeiten akzeptieren und erwidern.« (Goblot 1994, S. 61)

Goblot sieht unterschiedliche Motive zwischen den Klassen, in der die einen gut und gerne essen und die anderen wiederum ihr Augenmerk mehr auf bestimmte Formen beim Verzehr legen. So beschreibt Goblot die bürgerliche Mahlzeit als geordneter, hygienischer und formvollendeter als die der proletarischer Klasse (vgl. Goblot 1994, S. 61). Bourdieu belegt diesen Eindruck Jahrzehnte später mit seiner empirischen Studie über die feinen Unterschiede. Dabei stellte er fest, dass mit steigendem Einkommen beziehungsweise steigender sozialer Position »der Anteil schwer verdaulicher, fetthaltiger und dick machender Lebensmittel – Nudeln, Kartoffeln, Bohnen, Speck, Schweinefleisch – sowie für Wein zurückgeht, während die Ausgaben für magere Kost prozentual steigen [Rinder-, Kalb-, Hammel, Lammfleisch sowie Obst und Frischgemüse].« (Bourdieu 1982, S. 288f.)

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Der Erkenntnisgewinn Bourdieus lag darin, dass er diese Konsummuster nicht als Einkommensfunktion betrachtete, sondern darin spezifische Geschmacksrichtungen erkannte, die durch die sozialen Unterschiede entstehen. So verliert das Einkommen seine Erklärungskraft dort, wo gleiche Einkommen mit divergierenden Ernährungsmustern einhergehen. Die wahre Ursache für diese Divergenz verortet er in den aus materiellen Existenzbedingungen hervorgehenden verschiedenen Geschmacksrichtungen des Luxus- und Notwendigkeitsgeschmacks, die an anderer Stelle schon beschrieben wurden (vgl. Absatz 2.3.2.2). Die Ausrichtung dieser beiden Geschmäcker entwickelt sich am Gegensatz von Form und Substanz. Während der Notwendigkeitsgeschmack dem Primat der Funktion folgt, ist beim Luxusgeschmack die Form von entscheidender Bedeutung. Untere Schichten verfolgen die Moral des guten Lebens, man will es sich gut gehen lassen. Auf den Tisch kommen reichlich vorhandene Speisen wie Kartoffeln und Nudeln, der Eindruck von Fülle und Überfluss soll erweckt werden. Es ist ein ungezwungenes, freimütiges Essen, bei dem verschiedene Speisen oft gleichzeitig auf den Tisch kommen, ohne Rücksicht auf Förmlichkeiten. Das, was gegessen wird, soll vor allem schmecken und soll reichlich vorhanden sein, man möchte satt werden. Diesem freimütigen, ungezwungen Essen stellen die höheren Schichten das formvollendete Essen entgegen. Die Funktion des Sattwerdens rückt in den Hintergrund. Die Qualität des Essens ist wichtiger als die davon aufgetragene Menge. Es gibt geregelte Abläufe, festgelegte Speisefolgen, am Tisch herrscht Sauberkeit und Ordnung. Die Etikette muss gewahrt werden, Körpergeräusche wie etwa Schmatzen sind tabu, man verhält sich zurückhaltend statt gierig und gibt sich distinguiert (vgl. Bourdieu 1982, S. 313ff.). Die ursprüngliche lateinische Bedeutung des Wortes distinguiert war ›unterscheiden‹, und genau das ist auch die Intention des Primats der Form, nämlich Distinktion zu schaffen. Die Dichotomie von Notwendigkeits- und Luxusgeschmack ist allgegenwärtig und zeigt sich in den Antithesen von Substanz und Form, Materie und Manier, Quantität und Qualität (vgl. Bourdieu 1982, S. 288). Die Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft entscheidet über die Stellung in diesem Spannungsverhältnis von Form und Substanz und damit auch über die Ausformung des Habitus beziehungsweise eines Ernährungshabitus. 5.2.3 Ernährung, Habitus und Kindheit Der Unterschied zwischen Form und Substanz basiert auf den unterschiedlichen materiellen Existenzbedingungen, Voraussetzungen und Anforderungen der Individuen. Da die unteren Schichten notwendigerweise ihre Arbeitskraft kostensparend reproduzieren müssen, greifen sie auf nährende und sparsame Nahrung zurück, während die wohlhabende Bevölkerungsschicht von dieser Notwendigkeit befreit ist und Ästhetik und Gesundheit Motive der Ernährung werden. Der Dachdecker

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Thomas bringt dies im Interview auf den Punkt, als er über ein Gespräch mit einem sehr wohlhabenden Kunden erzählt: »Dann hat er gesagt, er isst halt meistens bloß einen Salat und einmal mindestens, also ein oder zweimal in der Woche einen Fisch und vielleicht bloß einmal im Monat Fleisch. Da habe ich für mich gedacht, wie soll ich jetzt den ganzen Tag mit der Schaufel und mit dem Schubkarren arbeiten, wenn ich bloß einen Salat esse. Das geht nicht, irgendwo muss ein bisschen Pfeffer herkommen.« (Interview 4, Herbert, Z. 443ff.)

Die klassenabhängigen Körperbilder bilden dann die klassenspezifischen Körper: »Der Geschmack: als Natur gewordene, d.h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ›Klassenkörpers‹« (Bourdieu 1982, S. 307). So erklärt sich auch der größere Verbrauch von fettreichen, sättigenden Lebensmitteln wie Wurstwaren, Schweinefleisch, Brot und billigen Beilagen aus Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln und Nudeln in den unteren, auch heute noch mehr körperlich arbeitenden Schichten, während die wohlhabenden Schichten mehr mageres und teureres Fleisch, mehr Fisch sowie Schalen- und Krustentiere, mehr frisches Obst und Gemüse sowie Käse konsumieren (vgl. Bourdieu 1982, S. 300, 306). Auch heutige Verzehranalaysen in Deutschland kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die zweite Nationale Verzehrsstudie (NVZ) zeigte, dass untere Schichten mehr Fette, Fleisch und Wurstwaren1 sowie bei Getränken mehr Limonaden, Bier und Spirituosen konsumieren, während höhere Schichten einen größeren Konsum an frischen Obst und Gemüse, Fisch und Schalentieren haben, bei den Getränken konsumieren sie deutlich mehr Wasser, Sekt und Wein (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 58-68). Neben Faktoren wie schlechtere Arbeits- und Wohnbedingungen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 68), ist dieser Habitus mitsamt seinen dazugehörigen Einstellungen zu Gesundheit und Körper ein Grund für die schlechtere gesundheitliche Verfassung von Angehörigen der unteren Schichten (vgl. Thiel / Thai 1995, S. 158). Der Habitus als Ausdruck der Gesamtheit von Gewohnheiten und Vorlieben des Individuums etabliert sich durch die Übernahme und Nachahmung von Einstellun1

Dies ist eine relativ neue und historisch gesehen ungewöhnliche Entwicklung. War der Konsum von Fleisch über Jahrhunderte hinweg ein Indikator für Wohlstand, hat sich dies in den letzten drei Jahrzehnten umgekehrt. Wachsender Wohlstand geht heute einher mit sinkendem Fleischverbrauch (vgl. Hirschfelder 2001, S. 255). Mit dem Aufkommen der Fleischindustrie und der billigen Verfügbarkeit von Fleisch verlor der Fleischverbrauch diese Funktion als Wohlstandsindikator. Fleisch musste man sich nun nicht mehr leisten können, da sich heutzutage nahezu jeder Fleisch leisten kann. Indikator für Wohlstand ist nicht mehr die Menge, also ob und wie viel Fleisch man sich leisten kann, sondern die Art und die Qualität des Fleisches.

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gen, Vorlieben und Gewohnheiten der Eltern. Nach neuesten Erkenntnissen der Ernähr-ungsphysiologie beginnt dieser Vorgang schon im Mutterleib. Eine Forschergruppe um die amerikanische Biologin Julie Menella konnte im Experiment die Bedeutung pränataler und früher postnataler Geschmackserfahrungen des Fötus auf dessen spätere Vorlieben belegen. Kinder, deren Mütter während des letzten Schwangerschaftsdrittels Karottensaft konsumierten, wiesen bei der späteren Umstellung auf feste Kost, ebenso wie Kinder, deren Mütter während der Stillzeit Karottensaft zu sich nahmen, eine größere Präferenz für mit Karotten versetztem Brei auf als die Kontrollgruppe. Die Studie kam zum Schluss, dass die Geschmackstoffe aus dem Essen der Mutter vom Kind über Fruchtwasser und Muttermilch aufgenommen werden und dadurch Geschmackspräferenzen ausgebildet werden. Was zu dieser frühen Lebenszeit aufgenommen wird, erscheint dem Kind bei der Umstellung auf feste Nahrung dann vertraut und wird gerne konsumiert. Auf diese Art und Weise werden also schon im Mutterleib (sozio)-kulturelle Geschmacksmuster angelegt. (vgl. Mennella / Jagnow / Beauchamp 2001, S. 5). Was im Mutterbauch beginnt, setzt sich nach der Geburt dann fort. Werden Kinder gestillt, nehmen sie über die Muttermilch eine Vielzahl an Geschmackstoffen auf und erfahren damit eine größ-ere Bandbreite an Geschmäckern als Kinder, die mit Säuglingsmilch aus der Flasche aufwachsen (vgl. Ellrott 2007, S. 168). Diese Kinder akzeptieren dann später bei der Umstellung auf feste Nahrung neue Lebensmittel auch deutlich besser (vgl. Sullivan / Birch 1994). Kinder gewöhnen sich an die Geschmacksvorlieben und Präferenzen der Eltern und werden später auch deren Ansichten und Einstellungen zu Körper und Ernährung teilen. Das, was dem Kind alltäglich serviert wird, wird dem Kind auch sehr wahrscheinlich schmecken – von spezifischen Abneigungen und Unverträglichkeiten abgesehen. Die Oecotrophologin Susanne Fehrmann geht davon aus, dass Kleinkinder zu den Speisen, die mit Eltern und Geschwistern geteilt werden eine Präferenz entwickeln: »Das sogenannte ›Kontaktlernen‹ ist für unsere ersten Esserfahrungen sehr wichtig. Kommen wir täglich mit einem bestimmten Lebensmittel in Kontakt, akzeptieren wir es, es schmeckt uns« (Fehrmann 2007, S. 21). Problematisch ist dies vor allem dann, wenn Eltern oft auf Convenience Food zurückgreifen. Diese Produkte haben standardisierte Geschmäcker durch die meist zugesetzten Aromastoffe und Geschmacksverstärker. Werden sie zu häufig konsumiert, wird die Geschmacksvariabilität natürlicher, selbst zubereiteter Speisen nicht mehr wahrgenommen und wertgeschätzt (vgl. Alexy et al. 2007, S. 400). Der Geschmacksinn wird durch die starken Geschmacksreize der Zusatzstoffe quasi desensibilisiert. Damit heute die Geschmacksrichtung ›bitter‹ wahrzunehmen ist, ist ein doppelt so hoher Geschmacksreiz wie vor 30 Jahren nötig, ähnliches gilt für süß, sauer und salzig. Der naturbelassene Geschmack wird dann als fade empfunden und aromatisierte Produkte werden gegenüber Naturprodukten präferiert (vgl. Theile 2005, S. 77). Industriell gefertigter Erdbeerjoghurt wird von Kindern dank hoher

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Zucker- und Aromazugaben dem Naturjoghurt mit frischen Erdbeeren vorgezogen. Einen Einblick, wie sich der Habitus des Kindes entwickelt und die Rolle von Gewöhnung und Wiederholung für diese Introjektion, gewährt der ›Mere Exposure Effekt‹. Dieser Effekt wurde schon 1968 von Robert B. Zajonc experimentell nachgewiesen. Zajonc fand heraus, dass neue Dinge, Personen und unbekannte Situationen umso positiver bewertet werden, je häufiger diese den Probanden dargeboten wurden (vgl. Zajonc 1968). Dieser Effekt wird vor allem von der Werbeindustrie genützt, er findet sich aber auch bei Nahrungspräferenzen und -gewohnheiten. Setzt man Kindern bestimmte Speisen in bestimmten Zeitabständen mehrmals vor, führt dies je nach Häufigkeit des Speisenangebots zu einer mehr oder weniger großen Präferenz für diese Speise (vgl. Diehl 1993, S. 75). Der ›Mere-Exposure Effekt‹ ist allerdings nicht beliebig einsetzbar, da nach Zajonc insbesondere bei vertrauten und bekannten Dingen der ›Mere-Exposure Effekt‹ nicht oder kaum mehr festzustellen ist: »[…] attitudinal enhancement produced by means of exposure will be more readily effected for novel objects than for familiar ones, It is likely that exposure effects for very familiar objects are absent completely or are so small that they cannot be detected at all by methods now available.« (Zajonc 1968, S. 24)

Die Kenntnis dieses Effektes kann bei der Ernährungserziehung durchaus hilfreich sein, da er es erleichtert, bei Kindern neue Nahrungsmittel zu etablieren. Jörg Diehl geht davon aus, dass dieser Kontakteffekt auch eine Erklärung ist, warum in verschiedenen Regionen der Erde, von den nachkommenden Generationen die dort jeweils übliche Nahrung bevorzugt wird. Zudem sieht er in diesem Effekt auch große Möglichkeiten, Geschmackspräferenzen von Kindern und Erwachsenen gezielt zu formen (vgl. Diehl 1993, S. 75). Hier wird der ›Mere-Exposure Effekt‹ meines Erachtens jedoch überbewertet und überschätzt. Neuere Ergebnisse aus der Marktforschung bestätigen zwar den Effekt, allerdings unterliegt er auch Einschränkungen. Kognitive Emotionstheorien gehen davon aus, dass jeder Emotion, also jeder Präferenz oder Abneigung, eine subjektive Einschätzung und Interpretation vorausgeht. Diese Interpretationen von Situationen, Ereignissen oder Dingen rufen Emotionen hervor. Folglich ist es also nicht die Präsentation eines Reizes beziehungsweise Stimuli, sondern die vorgeschaltete Einschätzung und Bewertung desselbigen, welche für die Entstehung von Emotionen verantwortlich ist. Dabei muss diese Einschätzung kein bewusster Prozess sein, sondern kann auch unbewusst ablaufen, was erklärt, warum der ›MereExposure Effekt‹ auch dann funktioniert, wenn die Darbietung des Reizes so kurz ist, dass dieser nicht bewusst wahrnehmbar ist. Die kognitive Emotionstheorie geht also davon aus, dass nicht die Emotion der Kognition vorausgeht, sondern die kognitive Einschätzung, ob bewusst oder unbewusst, die Art der Emotion beeinflusst.

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Dies erklärt auch, warum verschiedene Personen auf den gleichen Reiz mit unterschiedlichen Emotionen reagieren (vgl. Faullant 2007, S. 55ff.). Es ist also nicht so, dass Geschmackspräferenzen beliebig manipulierbar wären. Der ›Mere-Exposure Effekt‹ ist nur zu beobachten, wenn es beim Erstkontakt nicht zu einer starken negativen Bewertung – aus welchen Gründen auch immer – kommt. Dies kann zum Beispiel schon eine äußerliche Ähnlichkeit mit einem Lebensmittel sein, welches die Person nicht mag oder eine individuelle Unbekömmlichkeit gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln. Wenn ein Kind ein bestim-mtes Nahrungsmittel stark ablehnt, wird es auch bei mehrmaligem, weiteren Konsum keine Vorliebe dafür entwickeln, eher ist vom Gegenteil auszugehen. Die in der Kindheit, vor allem zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat auftretenden neophoben Tendenzen gegenüber unbekannten Nahrungsmitteln können jedoch durch häufigeres Anbieten neuartiger Nahrungsmittel verringert werden (vgl. Benton 2004, S. 861). Auch später kann der ›Mere-Exposure Effekt‹ dazu benützt werden, eine positive Geschmackstendenz zu entwickeln und fester zu verankern. Speisen mit besonderem symbolischen Wert, wie etwa Hummer, Kaviar oder Spargel, werden von Kindern zumeist geschmacklich nicht sonderlich geschätzt. Erst durch das Erlernen der Statusfunktion dieser Speisen und der damit verbundenen Anerkennung wird der Verzehr zu einer positiv besetzten Erfahrung und durch wiederholte Geschmackserfahrung als genussvoll verinnerlicht (vgl. Pudel / Westenhöfer 1991, S. 29). Noch größer als bei Nahrungspräferenzen2 zeigen sich Ähnlichkeiten bei Mutter und Kind bei Ablehnungen gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln: Lehnt die Mutter etwa den Verzehr von Äpfeln ab, so beträgt die Wahrscheinlichkeit 60 Prozent, dass das Kind ebenfalls den Verzehr von Äpfeln meidet. Da die Eltern bestimmte Lebensmittel meiden beziehungsweise nicht einkaufen, kommt es nicht zum ›Mere Exposure Effekt‹ bei den Kindern (vgl. Pudel / Westenhöfer 1991, S. 29). Viel wichtiger als diese gustatorischen Präferenzen einzelner Nahrungsmittel, die auch anderen Einflüssen unterliegen können3, ist jedoch der soziale Geschmack, 2

Die Tatsache dass in verschiedenen Untersuchungen der elterliche Einfluss auf Nahrungspräferenzen als eher gering gewertet wird (vgl. Diehl 1993, S. 77), erklärt Volker Pudel mit einigen Spezifika (etwa bei der Bewertung von Süßwaren) von Ablehnung und Präferenzen bei Müttern und Kindern, welche den Einfluss der Eltern in Untersuchungen kleiner erscheinen lässt.

3

So kann etwa eine körperliche Unverträglichkeit vorliegen wie zum Beispiel eine Apfelallergie. In einem mir bekannten Fall wurde ein Junge von seiner Mutter stets gezwungen ›gesunde‹ Äpfel zu essen, worauf er mit großem Widerwillen und physischen Beschwerden reagierte. Erst Jahre später stellte ein Arzt die Allergie gegen Äpfel fest. Ähnlich ist es bei Reiz-Reaktion-Vorgängen, das heißt, Situationen bei denen Geschmack und Erbrechen gekoppelt sind. Die Aufnahme eines Nahrungsmittels und das darauffolgende Er-

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der die Grenzen, Vorlieben und Abneigungen ganzer gesellschaftlicher Schichten über Generationen hinweg bestimmt: »Diese hier angesprochenen Lernprozesse bilden ein permanentes Erfahrungstraining über Jahre mit einer sehr großen Wiederholungsquote […], die zu einer Habitualisierung [Gewohnheitsbildung] führt. Darin ist auch der wichtigste Grund zu sehen, daß Eßverhalten ein sehr stabiles Verhalten ist, das sich nicht in kurzer Zeit grundlegend verändern lässt. Dieser Lernprozess sorgt für die Verhaltenskontinuität über die Generationen, da das Ziel des Trainings gerade darin besteht, die Muster des Essverhaltens der Eltern auf das Essverhalten der Kinder zu übertragen.« (Pudel / Westenhöfer 1991, S. 30)

Wie die ersten Ergebnisse der Greta-Studie4 zeigen, nehmen schon Kleinkinder, wie Erwachsene, zu viel Fleisch, Wurst und Zucker zu sich. Beim Übergang von der Breikost zur Teilnahme am Familienessen werden familiäre Ernährungsgewohnheiten übernommen, verinnerlicht und bleiben dann meist lebenslänglich stabil. Der Habitus bildet sich also in den sozialen Grenzen der Herkunftsfamilie und wird durch Gewöhnung, Kontaktlernen beziehungsweise dem Mere-Exposure Effekt positiv besetzt und verankert. Die Kleinkinder der Greta-Studie aus unteren Schichten weisen dementsprechend auch eine tendenziell schlechtere Ernährung auf (vgl. Stern.de 2011). Eine spätere Umstellung oder Änderung dieses Habitus ist äußerst schwierig und bedarf, je später diese erfolgen soll, eine ungeheure Anstrengung, deren Erfolg ungewiss ist. Der Habitus und die emotionale Beziehung zum Essen, die der Mensch in seiner frühen Kindheit erwirbt, sind sehr stabil und dauerhaft. Zwar kann es dem Individuum gelingen, seinen Habitus unter großen Anstrengungen anders zu gestalten, die Natürlichkeit des ersten Habitus, in den man quasi hineingeboren wird, wird er aber schwerlich erreichen. Ähnlich einem korpulent veranlagtem Menschen, der unter großen sportlichen Anstrengungen und gezügeltem Essverhalten sein Gewicht auf das gesellschaftliche anerkannte Idealmaß trimmt, wird er wie dieser, bei Reduzierung des Aufwands auf das ihm eigentliche, ›natürliche‹ Gewicht zurückfallen.

brechen können einen lebenslangen Widerwillen gegenüber diesem Nahrungsmittel mit sich bringen, auch wenn das Lebensmittel nicht der Grund des Erbrechens war, sondern etwa Magen-Darm Viren. Hinter diesem Phänomen werden archaische Schutzmechanismen des Körpers vermutet, welche von evolutionärem Vorteil sind. Deshalb sind diese Aversionen auch sehr stabil, da sie dem Erhalt des Individuums und der Art dienen (vgl. Gniech 2002, S. 29f.). 4

Die Greta-Studie (German Representative Study of Toddler Alimentation) untersuchte Kleinkinder im Alter von ein bis drei Jahren (vgl. Hilbig et al. 2011).

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5.3 E RZIEHUNG UND E RNÄHRUNG 5.3.1 Esserziehung als bewusste Sozialisation Erziehung ist der Teil der Sozialisation, bei dem bewusst versucht wird, die Persönlichkeit des zu Erziehenden zu beeinflussen und damit ein Teilbereich beziehungsweise ein Unterbegriff von Sozialisation. Während Sozialisation alle Einflüsse auf das Heranreifen einer Persönlichkeit, egal ob bewusst, zielgerichtet oder unbeabsichtigt und unbewusst, umfasst, ist Erziehung nur der Teil, der gezielt Einfluss auf den Reifeprozess eines Individuums nimmt und findet vor allem in der Interaktion von Eltern und Kindern in der Familie beziehungsweise später auch zwischen Pädagogen und Kindern in Kindergärten und Schulen statt (vgl. Hurrelmann 2006, S. 17). Erziehung in der Ernährung ist dabei ein relativ junger Themenkomplex, da die Frage, was wie gegessen wird, erst in Zeiten aufkommen konnte, in der die Ernährung überhaupt sichergestellt war, sprich Hunger und Mangelernährung zumindest für Teile der Bevölkerung besiegt waren. Zudem stellte sich die Frage der Erziehung erst mit dem Ende des Mittelalters und der damit verbundenen Auflösung der Haus- und Hofgemeinschaft und der sich daraus entwickelnden, intimeren Form des Zusammenlebens namens Familie. Ab dem beginnenden 17. Jahrhundert wuchs das Interesse am Kind und der Kindheit als eigenständige Lebensphase. Es entstand das Phänomen der Mutterliebe und erste pädagogische Ansätze in der Kindeserziehung keimten auf. Aufklärerische Gedanken brachten Ideale hervor, an welchen sich das aufkommende Bürgertum orientierte. Innerhalb der bürgerlichen Familie gewann eine pädagogische Esserziehung mehr und mehr an Einfluss. Allerdings war die Esserziehung zu dieser Zeit noch anders motiviert, Erziehung in der Ernährung war lange Zeit vor allem an Fragen von Benimmregeln, Tischsitten und Fragen der Moral orientiert. Bei der Kindeserziehung war es vor allem der Kampf gegen die »Leckerei«, einer Disziplinlosigkeit, die zum moralischen Verfall und letztendlich zur Destabilisierung der Gesellschaft führen würde. Das artige Benehmen, wie auch die Akzeptanz von Autorität und Hierarchie zu Tisch, welches durch abgesonderte Tischplätze für Kinder oder im Vorenthalten bestimmter Speisen Ausdruck fand, waren ebenfalls kennzeichnend für die frühe Ernährungserziehung (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 126ff.). In der Ernährungserziehung von heute sind die Themen gar nicht so unterschiedlich, geht der Kampf um Benimmregeln oder gegen einen übermäßigen Konsum von Süßwaren weiter, allerdings unter veränderten Bedingungen. Erst durch die große Verfügbarkeit einer mittlerweile nicht mehr zu überschauenden Lebensmittelauswahl kam es Mitte des 20. Jahrhunderts zum Aufbau eines wissenschaftlichen Apparates, der sich heute in Form von Ernährungswissenschaftlern und Ernäh-

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rungsberatern manifestiert, in der Absicht die Ernährungslage der Menschen zu verbessern. Dabei konkurrieren streng wissenschaftliche Ernährungslehren mit philosophischen oder spirituell-esoterischen Lehren. Problematisch dabei ist, dass alle Strömungen, auch die streng wissenschaftlichen, von bestimmten Voraussetzungen und Gesellschaftsbildern ausgehen (vgl. Barlösius 1999, S. 66ff.), auf denen ihre Empfehlungen basieren. Dies erklärt auch, dass trotz unzähliger Ratgeber und einer unüberschaubaren Flut an Ernährungsinformation, diese von der Bevölkerung gar nicht oder nicht im gewünschten Maß umgesetzt wird: »Wäre es mit rationaler Einsicht oder wohl besser: folgsamer Einsicht in die naturwissenschaftlichen Rationalisierungen getan, hätte die Ernährungsberatung es leicht, ihr Ziel zu erreichen – die Bereitstellung der entsprechenden ernährungsphysiologischen Informationen und Argumente müßte genügen, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Da das Ernährungsverhalten jedoch in höchstem Maße von kulturellen, sozialen und psychologischen Faktoren abhängt, muß sie sich auch diesen [unzutreffenderweise] als ›irrational‹ bezeichneten Zusammenhängen zuwenden.« (Prahl / Setzwein 1999, S. 139)

Wenn es nun schon schwierig ist, Erwachsene mit Ernährungsinformationen und Aufklärung zu erreichen, ist eine Esserziehung bei Kindern noch schwieriger, da sie noch keine eigenständige, rationale Auffassung und Einsicht gegenüber Ernährungsfragen haben und dem Verhalten und den Auffassungen der Eltern bezüglich Ernährung ausgeliefert sind. Die Frage danach, welche Lebensmittel welchen Einfluss auf Gesundheit, Entwicklung und Wohlbefinden haben, ist die Thematik einer Pädagogik in der Ernährung, die heute über die Vermittlungsinstanz der Eltern immer mehr Einfluss auf die Erziehung von Kindern nimmt. Die Bemühungen zur Ernährungsaufklärung und Information bedürfte deshalb dringend eine ernährungssoziologische Perspektive, welche auch kultur- und schichtspezifische Einflüsse auf das Ernährungsverhalten betrachtet. Wenn man etwa das Ernährungsverhalten bildungs- und einkommensschwacher Familien und insbesondere deren Kindern verbessern möchte, muss man auch die schichtspezifischen Ernährungsideale und die dahinter stehende Körperbilder kennen und eine an die Möglichkeiten angepasste Beratung bieten. Dass Artischocken sehr gesund sind, ist eine Information ohne Wert, wenn das Klientel, welches man aufklären und informieren möchte, weder die finanzielle Möglichkeit hat, sich diese zu leisten, noch das Wissen hat, wie man Artischocken verarbeitet. Wichtiger als das Vermitteln von Informationen, Wissen und Benimmregeln ist bei der Esserziehung von Kindern jedoch die Vermittlung von Freude und Genuss an Lebensmitteln sowie deren Zubereitung und Verzehr. Während die Ernährungserziehung in früheren Jahrhunderten vor allem über Zwang die damals vorherrschenden Ideale von Ernährung und Benimm durchzusetzen versuchte, vermittelt die Ernährungserziehung heute durch Spaß und Spiel in der Ernährung, den Kindern ein genussvolles und freudiges

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Verhältnis zu gesunder Ernährung. Unzählige Bücher (Trischberger – Was Kindern schmeckt; Gätjen – Essensspaß für kleine Kinder; Klug – Her mit dem Gemüse Mama!«) und Anleitungen zum fach- und kindgerechten Zurechtschnitzen und Anrichten von Gemüse und Obst etwa zeugen von den Bemühungen, Kindern eine gesunde Ernährung beispielsweise durch visuelle Reize näher zu bringen. Wichtiger als diese Bemühungen ist jedoch ein Erziehungsstil, der den Bedürfnissen und Anfordernissen der Kinder gerecht wird. 5.3.2 Erziehungsstile und ihre Auswirkung auf das Essverhalten Wenn Erziehung als bewusste Einflussnahme auf die Persönlichkeit eines heranwachsenden Kindes betrachtet wird, ist klar, dass es die Ziele der Erziehung sind, eine Persönlichkeit zu formen, die gewünschte und als wertvolle betrachtete Eigenschaften und Verhaltensweisen aufweist. Was von den Erziehenden als erwünschte Eigenschaft angesehen wird, hat sich in den letzen Jahrzehnten deutlich verändert. Während früher Ordnung, Sauberkeit, Gehorsam und Disziplin geschätzte Werte waren, hat sich das Ziel der Erziehung deutlich in Richtung Selbstwert und Selbständigkeit, sowie der Ansicht des Kindes als eigenständiges autonomes Wesen verschoben (vgl. Hurrelmann 2006, S. 156f). Die in den 60er und 70er Jahren konkurrierenden Erziehungsstile einer autoritären Erziehung sowie einer permissiven Laissez-faire Erziehung werden heute aus sozialisationstheoretischer Sicht abgelehnt, da ersterer sich über die Bedürfnisse der Kinder hinwegsetzt, während die Regellosigkeit des permissiven Erziehungsstils zu Irritation und Verwirrung des Kindes führt. Beide versäumen es, beim Kind Selbständigkeit, soziale Verantwortung und Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Sozialisationsforscher wie Hurrelmann plädieren für eine gesunde Mischung beider Elemente, einen Erziehungsstil, der sowohl autoritär ist, also die Eltern in der Lage sind auch Grenzen zu setzen, als auch partizipativ auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht und eine Mitgestaltung des Kindes zulässt. Dieser partizipative Erziehungsstil geht davon aus, dass eine gute Erziehung nur gelingt, wenn auch eine gute Beziehung zum Erziehenden besteht und betont deshalb die partnerschaftliche bezieh-ungsweise kooperative Seite der Erziehung. Hurrelmann geht allerdings davon aus, dass dieser Erziehungsstil sehr anspruchsvoll ist, sodass eine Mehrheit der Eltern diesen Stil zwar befürwortet, aber nur eine Minderheit auch dazu in der Lage ist, diesen umzusetzen. In seiner Zielsetzung für eine gelungen Erziehung entwirft er deshalb ein Dreieck der Erziehung, welches aus den Polen Anerkennung, Anregung und Anleitung besteht. Anerkennung meint, dem Kind gegenüber emotionale Wärme und Anerkennung zukommen zu lassen und dies in einem Ausmaß, das nicht zu gering ist, um die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls zu gefährden, aber gleichzeitig nicht zu groß ist, um eine freie Entfaltung des zu Erzie-

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henden zu behindern. Der Punkt Anregung meint dabei positives Feedback auf Erreichtes bei gleichzeitiger Motivation zur Weiterentwicklung, also die Bemühung das Kind weder über- noch zu unterfordern. Der letzte Punkt dieses Erziehungsdreiecks ist die Anleitung, bei der es darauf ankommt, ein dem Entwicklungsstand des Kindes angemessenes Regelwerk von Umgangsformen und Verhaltensweisen zu etablieren, in einer Dosierung, die nicht zu streng ist um beim Kind Rebellion oder Rückzug auszulösen und dabei gleichzeitig auch so konkret, dass das Kind nicht in einen anomischen Zustand gerät (vgl. Hurrelmann 2006, S. 158ff.). Welcher Erziehungsstil nun anvisiert beziehungsweise praktisch realisiert wird, wirkt sich auch stark auf die Ernährungserziehung und das Essverhalten von Kindern aus. Eine autoritäre Erziehung am Tisch beinhaltet oft kategorische Regelungen wie, wann und was gegessen werden soll und muss. Mit dem Essen nicht zu spielen, das Essen, was auf dem Teller ist, nicht zu langsam oder zu schnell zu essen, das Warten darauf, dass alle am Tisch aufgegessen haben, sind typische Beispiele einer autoritären Erzieh-ung, welche, wenn permanent eingesetzt, dem Kind eine mitbestimmte Ernährungsweise und genussvolles Essen unmöglich macht: »Machtdemonstrationen am Familientisch führen oft zu erbitterten Machtkämpfen und verhindern, daß Kinder einen Umgang mit Nahrung erlernen, den man als ›Hunger stillen mit Genuß‹ umschreiben könnte« (Hofmann 1995, S. 25). Ebenfalls typisch für diesen Erziehungsstil ist das Arbeiten mit Verboten und Belohnungen. Wird daraus am Esstisch ein System von positiven wie negativen Sanktionen, koppelt das Kind bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen mit Essen oder Hunger und dies erschwert ein natürliches Verhältnis zum Essen. Es besteht die Gefahr, dass sich die Gefühle von Lust und Unlust beim Essen verselbständigen und zum Ausgleich und zur Entspannung bei Wut und Ärger dienen, bei dem beispielsweise Süßes als Kompensation dient (vgl. Hofmann 1995, S. 22ff.). Dort wo zu sehr Wert auf das Einhalten von bestimmten Regeln und Sitten gelegt wird, wird es für das Kind schwer, ein natürliches und genussvolles Verhältnis im Umgang mit Nahrung zu erreichen: »Ich weiß, dass ich immer aufessen sollte. Und das mache ich auch heute noch, obwohl ich versuche davon loszukommen, man muss nicht immer alles aufessen. Ich weiß nicht ob es daran lag, dass wir früher nicht ganz so viel hatten aber es war einfach so, man musste aufessen. Was auf den Tisch kommt wird gegessen. Natürlich haben meine Eltern darauf Rücksicht genommen, ob man irgendwas gar nicht mag. Aber ich musste aufessen. In der Pubertät, kann ich mich erinnern, saß ich noch zwei Stunden nach dem Mittagessen in der Küche vor dem Teller, alle anderen haben schon etwas anderes gemacht. […] Ich wollte nicht aufessen, ob es mir wirklich nicht geschmeckt hat, das weiß ich nicht mehr so genau.« (Interview 5, Marie, Z. 107ff)

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Auch der gegenteilige Erziehungsstil, der permissive, ist ungeeignet, um bei Kindern einen vernünftigen Umgang mit Nahrungsmitteln zu fördern. Dort wo es keine Regeln und Grenzen gibt, die man einzuhalten braucht, wenn auf Wünsche und Äußerungen von Unlust sofort nachgebend reagiert wird, werden sich Ernährungsgewohnheiten aufbauen, die später schwer zu korrigieren sind. Ein Kind, welches auf Bitten oder Quengeln sofort Süßwaren erhält und dabei nicht einmal quantitativ begrenzt wird, wird es schwer haben, sich diese Grenzen später selbst zu setzten (vgl. Hofmann 1995, S. 28). Ein partizipativer Erziehungsstil dagegen frägt auch danach, was die Kinder essen möchten und geht auf deren spezielle Bedürfnisse und Vorrausetzungen – die man natürlich dazu erst kennen muss – ein. Für das Überleben der Menschen war die Energieversorgung durch die Nahrungsaufnahme sehr lange Zeit das wichtigste Kriterium und gerade Kleinkinder benötigen energiereiche Nahrung zum Wachstum. Wahrscheinlich haben aus diesem Grund Kleinkinder die Tendenz dazu, energiereichere Lebensmittel anderen gegenüber zu bevorzugen. So konnte in einem Versuch herausgefunden werden, dass Kinder unter den angebotenen Joghurtsorten mit neuartigem Geschmack zunehmend diejenigen bevorzugen, welche den größeren Fett- und Energiegehalt hatten (vgl. Johnson / Mc Phee / Birch 1991). Der junge Mensch neigt dazu, Nahrungsmittel zu präferieren, die sehr sättigend sind. Doch was in Zeiten knapper Nahrung sinnvoll war, könnte sich heutzutage bei einem riesigen Angebot an energiereichen, industriell und oftmals speziell für Kinder produzierten Lebensmitteln als problematisch erweisen beziehungsweise prädestinierend für späteres Übergewicht sein, da sich so Geschmackspräferenzen entwickeln, die später fortbestehen. Auch hier kann Erziehung regulierend korrigieren, denn genauso mächtig wie in der Natur angelegte Prädestination sind sozial erlernte Präferenzen. Vorbilder können hier auf das Kind einwirken, im Positiven wie im Negativen. Eltern, welche den Kindern ein großes Spektrum an gesunden Lebensmitteln anbieten und diese auch selbst konsumieren, legen dadurch den Grundstein für ein gesundes Ernährungsverhalten. Ein Erziehungsstil, welcher die Kinder in die Zubereitung und Verarbeitung der Lebensmittel integriert, ermöglicht ein entspanntes, lustvolles Begegnen mit Nahrungsmitteln. Die geführten Interviews haben gezeigt, dass alle Interviewten, welche einen besonders engen Bezug zu Nahrungsmitteln hatten, wie der Typus ›Idealisten‹, von klein auf mit Lebensmittel und deren Verarbeiten vertraut waren und diese Aufgaben freudig verrichteten. Der Psychologe David Benton entwarf dazu eine Tabelle, welche die wichtigsten Ratschläge für Eltern beinhaltet, um gesunde Ernährungsgewohnheiten bei Kindern zu fördern. Er geht davon aus, dass es vor allem positive, selbstbestimmte und abwechslungsreiche Erfahrungen sind, welche dem Kind einen vernünftigen Umgang mit Essen vermitteln:

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Abbildung 10: Erziehungsratschläge zur Förderung gesunder Ernährungsgewohnheiten von Kindern •

Die emotionale Komponente beim Essen ist zentral. Essenszeiten sollten für das Kind nicht mit negativen Themen (zum Beispiel Bestrafung) belegt werden. Bestrafen Sie ihr Kind auch nicht, wenn es nicht essen möchte.



Geschwister, Freunde und Eltern können von Kindern als Vorbilder zur Entdeckung neuer Speisen anerkannt werden.



Bieten Sie ihrem Kind Nahrungsmittel verschiedenster Geschmacksrichtung und Konsistenz an.



Wiederholtes Anbieten von Speisen, welche das Kind anfänglich ablehnt, kann helfen den Widerwillen gegenüber diesen Speisen zu überwinden.



Damit ihr Kind frühzeitig lernt, eine dem Energiebedarf gerechte Ernährung zu erlernen, sollte eine breite Auswahl an Nahrungsmitteln mit geringem Nährwert zur Auswahl gestellt werden.



Beschränkter Zugang zu bestimmten Nahrungsmitteln steigert die Vorliebe für diese Nahrungsmittel eher als dass sie abnimmt.



Wenn das Kind gezwungen wird, ein bestimmtes Nahrungsmittel zu essen, wird dieses weniger gemocht. Neophobische Reaktion sind normal und sollten nicht sanktioniert werden.



Ermutigen sie ihr Kind auf Sättigungsgefühle zu hören und erlauben sie ihnen, selbst zu bestimmen wie viel sie essen wollen. Wenn sie wollen dass der Teller aufgegessen wird, dann erlauben sie dem Kind die Menge auf dem Teller selbst zu bestimmen oder geben sie kleine Portionen, bis das Kind satt ist.



Eltern sollten darauf achten dass energiereiche Nahrungsmittel nicht als Belohnung oder Leckerei benützt werden.

Quelle: nach Benton 2004, S. 866

Da in den letzten Jahren der Druck auf die Eltern ohnehin groß wurde, dem Kind möglichst perfekte Bedingungen für ein gesundes und erfolgreiches Leben zu ermöglichen, sollten diese Ratschläge und Erkenntnisse nicht dazu führen, nun auch am Tisch Druck und Schuldgefühle bei Misserfolgen sowohl bei den Eltern als auch beim Kind zu erzeugen. Wer selbst auf eine ausgewogene Ernährung achtet und sich dafür Zeit nimmt, tut das Möglichste, um dies auch seinem Kind zu vermitteln. Deshalb kann man davon absehen, sein Kind auf Geschmacksschulungen oder in Kinderkochkurse zu schicken, auch wenn dies mehr und mehr in Mode kommt. Auch wenn sich das Kind nach dem zwanzigsten Mal immer noch weigert, den

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großartigen Wert von Spinat anzuerkennen, ist das kein Grund um an seinen erzieherischen Fähigkeiten zu (ver)-zweifeln. Das Elternhaus ist zweifelsohne von besonderer Bedeutung, doch spielen daneben – wie schon angeführt – noch eine Vielzahl andere Faktoren, auch individuell-physiologische oder soziale Einflüsse eine wichtige Rolle, welche außerhalb des Machtbereichs der Eltern stehen. Die grundlegende Haltung und Nähe zu genussvollem Essen wird ohnehin nicht bewusst erzieherisch geboren, sondern entsteht quasi nebenbei, in den Prozessen der Habitualisierung.

5.4 N AHRUNGSNORMEN , T ISCHSITTEN

UND

B RÄUCHE

Einer der ersten Sozialisationsprozesse ist die Enkulturation, in der dem Individuum die grundlegenden kulturellen Praktiken einer Gesellschaft zumeist unbewusst vermittelt werden. Ein zentrales Element der Enkulturation ist die Fähigkeit zur Kommunikation, anfangs durch Mimik und Gestik, vollendet dann durch das Erlernen der Sprache. Auch die Ernährung ist Teil der Enkulturation in der das Individuum grundlegende kulturelle Kompetenzen für die Nahrungsaufnahme verinnerlicht: »Früh lernen Kinder, welche Dinge dem Nahrungssystem ihrer Kultur angehören und die Grenze des Körpers passieren dürfen und welche nicht. Sie lernen, die Befriedigung des Appetits aufzuschieben und daß es bestimmte Zeiten, Orte und Techniken der Nahrungsaufnahme gibt.« (Prahl / Setzwein 1999, S. 123)

Die Verinnerlichung solcher Normen und legitimen Ernährungsmuster beginnt schon im Kleinkindalter. Das Kind übernimmt trinkend und essend diese Strukturen, sie werden unbewusst internalisiert und später nicht mehr in Frage gestellt. Dieser Sozialisationsprozess ist für alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von sozialstrukturellen Faktoren, der Gleiche und stellt im Sinne Parsons einen gesellschaftlichen Zusammenhalt und Stabilität her. Dadurch wird ein gesellschaftlicher Standard generiert, welcher für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich ist, eine Art »generalisierte Verhaltenserwartung« (Prahl / Setzwein 1999, S. 89), die zu erfüllen ist. Der Grad der Internalisierung und die Stärke der Sanktionierung bei abweichendem Verhalten, bestimmt dann die Bedeutungsstärke der Normen, also den Unterschied, ob es sich um Nahrungsmeidungen im Sinne von Sitten und Bräuchen oder um Nahrungsverbote und Tabus handelt (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 94). Der Einfluss von Sitten und Bräuchen hängt dabei auch davon ab, inwiefern sich die Instanzen der Primärsozialisation an diese gebunden sehen. In einer individualisierten Gesellschaft, in der alte Prägekräfte wie die Kirche an Einfluss verlie-

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ren, verlieren auch Sitten und Bräuche an Bedeutung, wie etwa der früher übliche fleischfreie Freitag. Eine ambivalente Entwicklung findet bei den Tischsitten und den Gepflogenheiten einer kultivierten Nahrungsaufnahme statt. Einerseits sehen Ernährungswissenschaftler eine gewisse Entformalisierung am Esstisch, eine Auflockerung der Benimmregeln, welche früher deutlich rigider gefordert wurden. Andererseits zeugen Benimmkurse, auch schon für Kinder, vom weiterbestehenden Wert der Etikette und Kultiviertheit (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 129). Stillsitzen, nicht mit vollem Mund sprechen, das Benutzen von Messer und Gabel sowie eine ordentliche Körperhaltung beim Essen sind weiterhin hoch eingeschätzte Sitten, welche Eltern an ihre Kinder vermitteln wollen (vgl. Faullant 2007, S. 124). Dabei handelt es sich meist um Gewohn- und Gepflogenheiten, unter denen die Eltern selbst sozialisiert wurden. Die Langlebigkeit der guten Sitten, von denen eigentlich keiner weiß, warum sich diese gehören, zeigt die ungeheure Wirksamkeit einer Internalisierung, die mitunter ohne, oft aber durch Zwang durchgesetzt wird. Die Ursachen beziehungsweise Auslöser solcher guten Sitten, die mit scheinbar rationalen Argumenten begründet werden, entlarvte Norbert Elias an vielerlei Beispielen durch die Jahrhunderte hinweg als Konsequenz vorrückender Scham- und Peinlichkeitsschwellen. Den Gebrauch einer Gabel etwa sieht er nicht in ihrer angeblichen hygienischen Funktion begründet, sondern darin, dass das Essen mit den Händen die Finger schmutzig macht und es in einem langsamen Prozess dazu kam, dass dieser Umstand mehr und mehr als peinlich empfunden wurde. Der Unterschied zwischen kultiviertem und unkultiviertem Verhalten bei Tisch ist für Elias das Peinlichkeitsgefühl (vgl. Elias 1993, S. 170ff.). Was peinlich ist oder nicht, ist der Standard, den die jeweils ältere Generation an die jüngere weitergibt. Kinder, welche diese Peinlichkeitsschwellen nicht haben und noch sehr von ihren Trieben gesteuert sind, werden so erzogen, dass sie die geltenden Vorstellungen vom guten Benehmen im Sozialisationsverlauf übernehmen: »Zum guten Teil aber wird das Verhalten und Triebleben des Kindes nun dadurch, daß ein bestimmter Gebrauch von Messer und Gabel in der Erwachsenengesellschaft völlig durchgesetzt ist, also durch das Beispiel der umgebenden Welt, auch ohne Worte in die gleiche Form und die gleiche Richtung gezwungen. Es wird nun, da sich dem Druck oder Zwang einzelner Erwachsener der Druck und das Beispiel der ganzen umgebenden Welt zugesellt, von den meisten Aufwachsenden relativ frühzeitig vergessen oder verdrängt, daß ihre Scham und Peinlichkeitsgefühle, ihre Lust und Unlustempfindungen durch Druck und Zwang von außen modelliert und auf einen bestimmten Standard gebracht wurden. Alles das erscheint ihnen als ihr Persönlichstes, als etwas ›Inneres‹, ihnen gleichsam von Natur mit auf den Weg Gegebenes.« (Elias 1993, S. 173)

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Die Feststellung, dass sich heute einige Gebräuche entformalisieren, wie etwa das Essen mit den Händen, was, wie der Trend zum Fast- oder Fingerfood zeigt, unter bestimmten Umständen zum legitimen Lifestyle gehört, lässt annehmen, dass die Scham- und Peinlichkeitsschwellen in bestimmenden Bereichen der modernen Gesellschaft etwas aufgelockert wurden. Ambivalent wird die Entwicklung dadurch, dass es meines Erachtens auch zu neuen Scham- und Peinlichkeitsgefühlen kommt, die man bisher nicht kannte. In einem Lehrbuch der Ernährungserziehung aus den 80er Jahren heißt es noch, dass Esserziehung von den Erziehenden vor allem als Vermittlung bestimmter Verhaltensnormen, also eben Tischsitten und Essbräuche, verstanden werden (vgl. Koscielny 1983, S. 17). Hier ist es in den letzen dreißig Jahren zu einem deutlichen Wandel gekommen. Nicht mehr das gute Benehmen am Tisch steht im Mittepunkt der Ernährungserziehung, sondern das gute Essen an sich. Nicht mehr die Frage nach dem Wie, sondern die Frage Was gegessen wird, gerät immer mehr in den Mittelpunkt. Qualitäts- und Gesundheitsaspekte werden als wichtige Aufgabe einer Ernährungserziehung begriffen. Daraus resultieren jedoch auch neue Scham- und Peinlichkeitsgrenzen: Übergewicht, welches über das tolerierbare Maß hinausgeht, wird als abstoßend empfunden, man schämt sich für die scheinbare unersättliche und unanständige Gier der Betroffenen. Wer heute dick ist, erregt sozusagen öffentliches Ärgernis, da man sich nicht an den Konsens eines körperbewussten Zeitgeistes hält (vgl. Absatz 5.4 und 8.1). Vor nicht allzu langer Zeit noch ein Zeichen von Wohlstand, ist es peinlich geworden dick zu sein und man wird von der verzichtenden Meinungsmehrheit diffamiert und ausgegrenzt. Das gehört sich ebenso wenig, wie das Rülpsen oder Schmatzen am Tisch und wird genauso missbilligt und sanktioniert. Die Ausrichtung der Esserziehung auf qualitative Ernährungsaspekte führte meiner Meinung nach auch zu einer dementsprechenden Erweiterung der Peinlichkeitsgrenzen.

5.5 N AHRUNGSTABUS Anders als Tischsitten, Bräuche und Normen halten sich Tabus hartnäckig und dauerhafter, sind sie doch so fest internalisiert, dass die dahintersteckenden Verbote gar nicht als Verbote, sondern als natürliche Gegebenheiten wahrgenommen werden: »Eßtabus sind kulturell tiefsitzende und zugleich emotional hochbesetzte Eßverbote. Sie drücken ein kollektives moralisches Gefühl oder moralisches Empfinden aus, das vor allem moralischen Bewußtsein bereits besteht« (Eder 1988, S. 103).Dies gelingt, da die Tabus schon im Kleinkindalter internalisiert werden und deren Nichtbeachtung stark sanktioniert werden. Da Kleinkinder in ihrem Ernährungssystem noch keine Grenzen kennen und insbesondere in den ersten Lebensjahren ihre Umwelt mit dem Mund erkunden, werden dabei auch Dinge wie Würmer

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oder Erde gekostet, die beim Erwachsenen Abscheu hervorrufen. Das Kind, welches keinerlei Kenntnisse über die Nahrungsbeschränkung hat, wird dann oft stark bis übertrieben sanktioniert, bis es gelernt hat, die Anforderung der Gesellschaft zu erfüllen. Die Strenge der Sanktionen liegt auch darin begründet, dass der Tabubruch Ängste und Schamgefühle weckt, deren Herkunft dem Erwachsenen selbst unklar sind: »In dieser Situation erklärt der Erwachsene seine Verhaltensforderung nicht. Er kann sie gar nicht zureichend erklären. Er ist so konditioniert, daß er sich mehr oder weniger automatisch dem gesellschaftlichen Standard gemäß verhält. […] Und der eigentümlich emotionale Unterton, der sich oft mit der moralischen Forderung verbindet, die aggressive und bedrohliche Strenge, mit der die moralische Forderung häufig vertreten wird, sie sind Reflexe der Gefahr, in die jede Durchbrechung der Verbote das labile Gleichgewicht all jener bringt, für die das Standardverhalten der Gesellschaft mehr oder weniger zur ‚zweiten Naturǥ geworden ist; sie sind Symptome der Angst, die in ihnen aufsteigt, sowie auch nur von Ferne der Aufbau des eigenen Triebhaushalts und mit ihm zugleich ihre eigene soziale Existenz, wie die Ordnung ihre gesellschaftlichen Lebens bedroht sind.« (Elias 1993, S. 228f.)

Das Kind wird dann mit zum Teil hanebüchenen Drohungen und angsteinflößenden Mahnungen seitens der Eltern konfrontiert, welche den Tabubruch zukünftig unterbinden sollen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 129). Ganz im Sinne der strukturfunktionalistischen Theorie Parsons zwingt die Gesellschaft durch Sanktion und Sanktionsandrohung das Individuum zur Übernahme der gesellschaftlichen Erwartungen und Normen, bis diese ebenso fest in das Kind integriert sind wie bei den Eltern. Über den Ursprung und die Bedeutung von Tabus gibt es dagegen mehrere, konkurrierende Theorien. Strukturalistische Erklärungsansätze sehen in den Eßtabus das Abbild der gedachten Ordnung innerhalb einer Gesellschaft. Da man Tiere gut in verschiedene Gruppen einteilen und klassifizieren kann, lässt sich an ihnen eine Ordnung vornehmen, die auch zum Denken einer sozialen Ordnung genutzt werden kann, die Natur wird Mittel zum Zweck der Schaffung von Ordnung (vgl. Eder 1988, S. 109f.). Der Strukturalismus geht davon aus, dass es eine allgemeine kognitive Ordnung gibt, Denkschemata, die die Wahrnehmung und Beurteilung sozialer oder natürlicher Prozesse festlegen (vgl. Barlösius 1999, S. 101). Der Platz in dieser Ordnung wird durch binäre Schematisierungen festgelegt, welche klassifizierend wirken. Binäre Schematisierungen, wie etwa die Unterscheidung von Mensch und Tier, ordnen nach strukturalistischem Verständnis die Welt. Dies hat für Phänomene, welche sich diesen binären Schematisierungen entziehen, zur Folge, dass sie als problematisch gelten, da sie die gedachte Ordnung stören. Tiere, die solche Anomalien in Klassifikationsschemata darstellen, da sie sich nicht klar einordnen lassen, sind auch solche, die tabuisiert werden (vgl. Eder 1988, S. 111). Mary Douglas hat

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dies anhand der mosaischen Speisegesetze untersucht, in denen sie ein Klassifikationsschema erkennt, welches Heiliges beziehungsweise Reines, von Unheiligem beziehungsweise Unreinem trennt. Die Ordnung der Tiere in rein und unrein hat dabei einen gesellschaftlichen Bezug. Heilig und rein sind makellose und vollkommene Dinge, während »hybride Erscheinungen und Mischformen« (Douglas 1985, S. 73) ein Gräuel, also unrein sind. Aus funktionalistischer Sichtweise haben Nahrungstabus einen gesellschaftlich bedingten Ursprung, sie dienen zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und dementsprechend der sozialen Integration innerhalb einer Gesellschaft sowie zur Abgrenzung nach außen gegenüber anderen Gruppen oder Gesellschaften. Man geht davon aus, dass sich Systeme zur Sicherung ihrer Stabilität von der Umwelt beziehungsweise anderen Systemen unterscheiden müssen und Nahrungstabus legen dabei symbolisch fest, was zu diesem System gehört und was nicht, was verboten und was erlaubt ist und schaffen damit eine innere soziale Ordnung (vgl. Eder 1988, S. 108). Das jüdische Schweinefleischverbot entstand demnach zu einer Zeit, in der nach dem Ende der ägyptischen Gefangenschaft eine eigenständige jüdische Geschichte mit einer eigenen politischen Ordnung begann, die stets von anderen Völkern bedroht war. Um die jüdische Identität zu festigen, wurde durch strenge Nahrungsregeln ein Wertesystem geschaffen, welches nach innen zur Solidarisierung und nach außen zur Abgrenzung diente und damit die gesellschaftlichen Machtstrukturen stabilisierte (vgl. Eder 1988, S. 130ff.). Rationalistische Erklärungsmodelle für Nahrungstabus gehen von einer materiellen Fundierung der Tabus aus. Welche Nahrungsmittel für den Verzehr geeignet sind und welche nicht, hängt von deren ökonomischer Effizienz ab. Einer der bekanntesten Vertreter dieses Ansatzes ist Marvin Harris, der zwar nicht bestreitet, dass Lebensmittel auch symbolische Bedeutung haben und Botschaften übermitteln, jedoch davon ausgeht, dass dieser Symbolik eine rational-ökonomische Begründung zu Grunde liegt (vgl. Harris 1990, S. 9). Demnach geht es bei Nahrungstabus um Aspekte der Nützlichkeit. Es stecken ökologisch-ökonomische Kosten-NutzenKalküle dahinter, welche eine effiziente Nutzung natürlicher Gegebenheiten ermöglichen. So sieht Harris beispielswiese hinter dem religiös bedingten Verbot von Schweinfleisch völlig rationale Beweggründe. Schweine sind schlichtweg schlecht an die Umwelt des Nahen Ostens angepasst. Sie müssen mit Wasser und Schatten versorgt werden und ihnen muss Nahrung zugeführt werden, die auch zum menschlichen Verzehr geeignet wäre. Zudem entfallen bei Schweinen Zusatznutzen wie Milch, Wolle oder Arbeitskraft, welche Wiederkäuer bieten. Diese rationalen Beweggründe wurden theologisch aufgegriffen und überformt. Die theologische oder moralische Ausformung solcher Nahrungstabus ist nach Harris also relativ beliebig, denn die Ursachen für die Verbote sind für ihn eindeutig ökologisch-ökonomischer Art.

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Festzuhalten ist, dass kein Ansatz alleine für alle Nahrungstabus eine umfassende Erklärung bietet und Tabus aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden müssen. Tabus sind trotz ihrer großen Stabilität auch Wandlungen unterworfen. So können Tabus, die möglicherweise zu Beginn aus rational-ökonomischen Erwägungen entstanden sind, auch weiterbestehen, wenn diese wegfallen und durch funktionale Motive ersetzt werden (vgl. Barlösius 1999, S. 104). Bei der Vielzahl von Nahrungstabus unterschiedlichster Art in der ganzen Welt, ist es höchst zweifelhaft, dass eine einzige Theorie, die hinter den Tabus steckenden eigentlichen Beweggründe umfassend erklären kann, weshalb jeder Fall einzeln und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden soll5. Bei Nahrungstabus wird zumeist erst an für europäische Verhältnisse ›exotische‹ Tabus wie das der heiligen Kühe in Indien gedacht. Die hier herrschenden Tabus sind so selbstverständlich, dass sie auf den ersten Blick nicht als solche wahrgenommen werden, dabei gibt es auch in unserer Gesellschaft eine Fülle an Nahrungstabus. Ein universales Tabu ist der Verzehr von Menschenfleisch. Spezifischer für unsere Gesellschaft dagegen ist der Verzicht auf den Verzehr von Schoßtieren, Raubtieren, Insekten oder Reptilien. Doch nicht nur bestimmte Tiere unterliegen Tabus, auch Aas oder nicht durch Schlachtung verendetes Tier wird verweigert, genauso wie Tierfutter oder liegen gebliebene Nahrungsreste fremder Personen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 89f.). Hier ist der Tabucharakter aber weniger mystisch, sondern eher durch befürchtete gesundheitliche Folgen aufgrund unklarer Hygieneverhältnisse bedingt. Am stärksten wirkt das Tabu immer dort, wo keine offensichtliche Erklärung erkennbar ist und unklare, mystische Gefahren im Falle eines Tabubruchs drohen: »Die Angst vor einer Tabuverletzung ist im allgemeinen groß bis unermeßlich, weil die Folgen als unkontrollierbar und als schicksalhaft gelten. Sie werden außerhalb der diesseitigen, sinnlich wahrnehmbaren Welt vermutet – also im Religiösen.« (Barlösius 1999, S. 105)

Beim letzten Punkt ist Barlösius allerdings zu widersprechen – weder alle Nahrungstabus noch die Folgen bei deren Nichtbeachtung sind religiöser Natur. Das Tabu, Katzen- oder Hundefleisch zu essen, hat meiner Meinung nach keinerlei religiösen Hintergrund und auch die Folgen beim Verstoß sind nicht religiöser, sondern moralischer Art. Man hat einen Widerwillen und Ekel, Haustiere wie Hunde und Katzen zu verspeisen, und dieser Widerwille mitsamt den Konsequenzen im Falle eines Tabubruchs, haben hierzulande keinerlei religiöse Fundierung. Hierfür gibt es

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Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen theoretischen Erklärungen von Nahrungstabus bietet Barlösius (vgl. Barlösius 1999, S. 98–108).

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plausiblere und auch divergierende Theorien6. Die große emotionale Besetzung, die Angst vor Tabubrüchen, ist jedoch kennzeichnend und auch Teil des Sozialisationsprozesses. Bei Kindern, die nicht selten von Kleintieren kosten oder zu viel Süßes oder auch Erde essen, wird dieses Verhalten nicht geduldet und mit angstauslösenden Drohungen behaftet: »Wenn du so viel Süßigkeiten isst, wirst du platzen« oder »Wenn du Sand verschluckst, wachsen riesige Würmer in deinem Bauch« sind zwei Beispiele7, die Prahl / Setzwein anführen, um zu verdeutlichen, welche Mittel Eltern einsetzen, um den Übertritt von Verboten und Tabus zu vermeiden. Die Angst der Kinder wird dann dazu benutzt, um eine besonders tiefe Verinnerlichung zu erreichen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 128f.).

5.6 Z USAMMENFASSENDES F AZIT Die Primärsozialisation des Kindes ist von besonderer Bedeutung, da sich hier die entscheidenden Weichen für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen stellen. Der Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz kommt in dieser Phase herausragende Bedeutung zu und mit ihr die Familienposition im sozialen Raum. Aus ihr resultieren spezifische Normen und Werte, ein milieuspezifischer Habitus, der grundlegende Geschmacks- und Konsummuster prägt und sich auf die Art und Weise sich zu ernähren niederschlägt. Die geführten Interviews erbrachten jedoch Hinweise da-

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Harris argumentiert in diesem Fall wiederum mit einer Kosten-Nutzen Rechnung: Verglichen mit Kühen, Schweinen, und Hühnern sind Hunde und Katzen höchst unergiebige Nahrungsquellen, und da von erstgenannten Tieren genug zu Verfügung stehen, was Hunde und Katzen als Nahrungsquelle uninteressant macht. Die andere Seite der Rechnung ist der Nutzfaktor, beim Hund früher etwa die Schutzfunktion eines Wachhundes. Heute haben diese Tiere vor allem eine Gesellschaftsfunktion, deren entscheidender Nutzen das Leisten von Gesellschaft ist, oder wie Harris es ausdrückt, deren Status als »Ersatzmenschen« (Harris 1990, S. 214). Andere Theorien sehen den Grund im Verhältnis Nähe- Distanz, wie strukturalistische Ansätze, in der Dichotomie von sehr nah und sehr fern. Hierbei werden Nahrungsnormen mit den Normen sexueller menschlicher Beziehung in Relation gesetzt. Sehr nah, in der Familie, gilt danach das Inzesttabu. Analog dazu gilt das Verzehrtabu von Tieren, die ebenfalls sehr nah, als Teil der häuslichen Gemeinschaft betrachtet werden (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 98f.).

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Letzteres Beispiel ist dabei gar nicht so abwegig wie Prahl / Setzwein denken. Hinter diesem scheinbar irrationalen Verbot steckt nämlich die Tatsache, dass Kinder durch den Verzehr von verunreinigter Erde, Sand oder Staub nicht selten an Würmern wie Madenwürmer oder Spulwürmern erkranken können, wobei letztere im Darm ein Länge von bis zu 35 cm erreichen.

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rauf, dass es auch einen schichtunabhängigen Einfluss geben muss, von dem die Bedeutung und Affinität zu Prozessen des Kochens und Essens abhängt. Eine Hypothese dieser Arbeit ist, dass eine grundlegende Haltung zu Prozessen der Ernährung schon sehr früh, quasi mit der Muttermilch aufgenommen wird. Die Art und Weise, wie der Säugling die Nahrungsaufnahme erfährt und empfindet, schlägt sich später in einer distanzierten oder affinen Haltung gegenüber Nahrungsmitteln und Nahrungsaufnahme nieder. Auf dieser emotionalen Einbindung des Essens baut dann der schichtspezifische Habitus auf, welcher unterschiedliche geschmackliche Vorlieben und Körperbilder mit sich bringt, die dem einzelnen Individuum als ihm eigener, persönlicher Geschmack erscheinen. Der Habitus bildet sich innerhalb der sozialen Grenzen und Gepflogenheiten der Herkunftsfamilie, wird durch Gewöhnung, Prägung und Kontaktlernen positiv besetzt und verankert. Der Anteil der bewussten Esserziehung ist demgegenüber weniger bedeutend. Zum einem, da der Habitus sich durch unbewusste Prägung und ständige Wiederholung etabliert und viel tiefgreifender wirkt als der kleine Anteil der bewussten Erziehung an den Sozialisationsprozessen. Zum anderem aber auch deshalb, da die Art und Weise der Erziehung selbst schon sehr stark vom Habitus der Eltern abhängt. Innerhalb dieser Grenzen können aber gerade Vorbilder wie Eltern und Lehrer, durch einen partizipativen Erziehungsstil, welcher die Kinder in die Lebensmittelzubereitung mit einbezieht, das Ernährungsverhalten in positive Bahnen lenken. Auch die Verinnerlichung von Nahrungsnormen, Tischsitten und Bräuchen werden von Kindern zumeist unbewusst internalisiert und als selbstverständlich wahrgenommen. Welches Verhalten angebracht und welches peinlich ist und sanktioniert wird, wird im Sozialisationsprozess von den Eltern an die Heranwachsenden weitergegeben. Ändern sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, können sich auch Bräuche und Sitten zu Tisch ändern und sich an den neuen gesellschaftlichen Standard anpassen. Sowohl der Grad der Internalisierung als auch die Stärke der Sanktion bestimmen dabei, wie stark solche Sitten und Bräuche etabliert sind. Die größte Bedeutungsstärke sowie den höchsten Grad an Sanktionierung haben Nahrungsverbote beziehungsweise Tabus. Sie sind so fest und dauerhaft über Generationen internalisiert, dass sie gar nicht als Verbote wahrgenommen werden und von den Eltern auch nicht rational gerechtfertigt und erklärt werden können. Wissenschaftliche Erklärungen beleuchten die Thematik von verschiedensten, durchaus plausiblen Ansätzen. Allerdings sind Nahrungstabus so zahlreich und von unterschiedlichster Art, dass bisher kein Ansatz eine allgemein gültige und stimmige Erklärung für Tabus liefern konnte und es am sinnvollsten erscheint, jedes Tabu vor seinem kulturhistorischen Entstehungshintergrund zu untersuchen.

6. Sekundäre Sozialisation und Ernährung

6.1 Z UR B EDEUTUNG SEKUNDÄRER S OZIALISATION Unter sekundärer Sozialisation versteht man die Sozialisation in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Hier arbeiten professionell ausgebildete Erzieher und Lehrer, die mit ihrer Arbeit auf die in der Familie stattfindende Primärsozialisation aufbauen. Nach Hurrelmann haben Bildungseinrichtungen wie Schulen und Kindergärten zwei miteinander verknüpfte Ebenen, auf denen sie Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen nehmen. Zum einen wirken erzieherische Einflüsse durch die Persönlichkeit und das Verhalten der Erzieher und Erzieherinnen auf das Kind ein, zum anderen aber auch die Organisationsstruktur der Einrichtung mitsamt ihren Erziehungs- und Lehrplänen bis hin zur finanziellen Ausstattung der Einrichtung. Diese professionelle Erziehung in Kindergärten und Schulen erfuhr in den letzten Jahrzehnten einen enormen Bedeutungszuwachs. Lag früher die Erziehung fest in den Händen der Familie, bekommt nun die geplante und organsierte Erziehung durch gesellschaftliche Institutionen immer mehr Gewicht. Dies ist auf den enormen Wandel gesellschaftlicher Strukturen zurückzuführen, den der Wandel von der traditionellen Industriegesellschaft zur modernen Dienstleistungsgesellschaft mit sich brachte. Die Ausbildungszeiten werden länger und auch die Ausbildung allgemein erfährt einen immer größeren Bedeutungszuwachs, da sich immer mehr Menschen deren Schlüsselrolle im Zuweisungsprozess der gesellschaftlichen Positionen bewusst werden. Die bedeutendste Rolle in diesem Zusammenhang spielt jedoch der Eintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt. In den fünfziger Jahren noch die Ausnahme, ist die arbeitende Frau mittlerweile der Normalfall geworden und damit einhergehend vollzog sich ein bedeutender Wandel in der Familienstruktur. Die traditionelle Rolle der Frau als Hausfrau und Erzieherin wird immer seltener und die Lücke, welche die nun arbeitende Frau im Familienheim hinterlässt, muss gefüllt werden. Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen

164 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

übernehmen nun in zunehmendem Maße diese Aufgaben, welche früher viel stärker in der Familie beheimatet waren: »Im historischen Rückblick zeigt sich, dass diese Einrichtungen Schritt um Schritt einen höheren Anteil der Kinder und Jugendlichen eines Jahrganges in sich aufgenommen haben. Immer mehr Komponenten der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen wurden seit dem 19. Jahrhundert aus dem Verantwortungsbereich der Familien herausgenommen und den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen übergeben. Für Kinder und Jugendliche wird es damit charakteristisch, große Zeitabschnitte ihres Lebens in organisierten Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zu verbringen.« (Hurrelmann 2006, S. 189)

Die Bedeutung und der Einfluss solcher Sozialisationsinstanzen wird also immer größer, weshalb es auch wichtiger wird, herauszuarbeiten, was diese Einrichtungen leisten sollen und wie sich diese Ziele unter welchen Bedingungen verwirklichen lassen.

6.2 S OZIALISATION IN K INDERTAGESSTÄTTEN UND K INDERGÄRTEN War Deutschland lange Zeit sehr zurückhaltend in der außerfamiliären Betreuung und in eher traditionellen Erziehungsvorstellungen verhaftet, wurde durch die gesellschaftlichen Fakten die Notwendigkeit von flächendeckender Betreuung langsam erkannt. Das Angebot ist jedoch noch immer unzureichend, da der Bedarf weit schneller wächst, als das Angebot (vgl. Sadigh 2010). Die Angebote frühkindlicher Betreuung sind oftmals unzureichend oder gewähren nur Halbtagsangebote, welche am Bedarf gerade vieler berufstätiger Mütter und Alleinerziehender vorbeigeht und es den Erziehenden schwer macht, Beruf und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren. Hurrelmann spricht sogar von einem »Erziehungsnotstand« (Hurrelmann 2006, S. 193). Da man davon ausgeht, dass die Sozialisation in Kindertageseinrichtungen für drei Viertel aller Zwei- bis Dreijährigen und der Hälfte aller Ein- bis Zweijährigen zum Normalfall wird, ist es an der Zeit, bestehende Vorbehalte und Ängste seitens der Eltern abzubauen, damit Kindertagesstätten und Kindergärten auch als »vollwertige Sozialisationsinstanz« (Hurrelmann 2006, S. 195) wahrgenommen werden, welche entgegen weit verbreiteter Meinung durchaus positive Auswirkungen und Vorteile sowohl für das Kind als auch die Familie haben (vgl. Tietze 2008, S. 282ff.; Hurrelmann 2006, S. 191). Die Ansprüche an Kitas, Horte und Kindergärten haben sich entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gewandelt:

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 165

»Ausgehend von der These der Pluralisierung von Lebensführungen ist das Wechselverhältnis Familie-Kindergarten neu zu analysieren. Gegenwärtige Konflikte und Diskussionen in der Kindergartenpraxis machen deutlich, dass von Seiten der Familien der Sozialisationsbeitrag des Kindergartens zunehmend auch in der Funktion, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienleben zu stützen und den Familien erweiterte Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu erleichtern, gesehen wird.« (Colberg-Schrader / von Derschau 1991, S. 349)

Dementsprechend ist auch klar, dass mit dem Ausbau der Betreuungsangebote insbesondere im Ganztagsbereich, auch die Ernährung der Kinder in solchen Einrichtungen stattfindet und die Funktionen der Ernährungssozialisation übernehmen.

6.3 S OZIALISATION

IN DER

S CHULE

Allein der Umstand, dass der Schulbesuch für alle Kinder verpflichtend ist, unterstreicht die große Bedeutung, die der Sozialisationsinstitution Schule beigemessen wird. War noch im Kindergarten die Erziehung der Kinder Fokus pädagogischer Arbeit, tritt nun die Bildung in den Vordergrund. Ausgehend von der strukturfunktionalen Theorie Parsons beschreibt Zimmermann die Aufgabe schulischer Sozialisation anhand vier Funktionen: der Qualifikationsfunktion, der Selektionsfunktion, der Legitimationsfunktion sowie die Funktion der Kulturüberlieferung. Die Qualifikationsfunktion soll die Teilhabe am gesellschaftlichen wie beruflichen Leben ermöglichen, indem sie grundlegende Kenntnisse wie Rechnen und Schreiben vermittelt, aber auch Identifikation mit gesellschaftlichen Grundwerten wie Fleiß, Ordnungssinn und Leistungsbereitschaft ermöglichen. Die Selektion beziehungsweise Allokationsfunktion sortiert die Kinder auf verschiedene Schulformen und verordnet den Schüler in bestimmte soziale Positionen, während die Legitimationsfunktion dazu dient, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bei den Schülern zur Akzeptanz zu bringen. Oftmals geschieht dies auch quasi im Verborgenen des alltäglichen Schullebens, welches Schüler dazu bringt, sich Verhaltenskonform zu benehmen, beispielsweise sich in Gruppen einzuordnen. Da diese Erfahrungen nicht vom offiziellen Lehrplan intendiert sind, spricht der Erziehungspsychologe Jackson vom »hidden curriculum« oder in der deutschen Übersetzung vom ›heimlichen Lehrplan‹ (vgl. Jackson 1975, S. 29). Die letzte Funktion ist die der Kulturüberlieferung, welche die Ausbildung einer kulturellen Identität fördern soll. Oftmals sind es Institutionen, die ihren Einfluss durch Lobbyarbeit geltend machen, um Kunst, Musik oder Sportförderung an den Schulen verwirklicht zu sehen:

166 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG »Die Gesellschaft im ganzen und vor allem jene Institutionen […] erwarten von der Schule, daß sie der nachwachsenden Generation wenigstens ein Mindestmaß, einen Grundstock von Verständnis, Interesse, Kenntnissen und Fähigkeiten und damit die Zugangsmöglichkeit zu den genannten Dimensionen des kulturellen Lebens eröffnet.« (Klafki 1989, S. 25)

Ähnlich den Kindertagesstätten hat auch die Schule in den letzen Jahrzehnten einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Im Wettbewerb um die besten Bildungsabschlüsse, welche über die Positionierung im Erwerbsleben entscheiden, geht ein immer größer werdender Teil der Kinder länger in Schulen und weiterführende Bildungseinrichtungen. Ähnlich wie bei Kitas bleiben auch mehr Schüler den ganzen Tag in der Schule, sei es in der stetig wachsenden Zahl von Gesamtschulen oder an Schulen mit Nachmittagsunterricht, sodass auch immer mehr Schulen Versorgungsund Verpflegungsaufgaben übernehmen, die über den Verkauf von Pausenbrot hinausgehen. Betrachtet man nun Schulen als die bedeutende Sozialisationsinstanz neben der Familie, mit einer jahrelangen Verweildauer der Kinder, sowie die Tatsache, dass immer mehr Kinder in Schulen verpflegt werden, so kann man nur zu dem Schluss kommen, dass Schulen auch in der Ernährungssozialisation auf Kinder Einfluss nehmen können und diese Sozialisationsaufgabe annehmen und erfüllen müssen. Es ist an der Zeit, dass auch Essen und Ernährung als Kulturgut entdeckt und auch Wissen und Kenntnisse darüber an der Schule vermittelt werden. Die schulische Funktion der Kulturüberlieferung muss auch das Kulturthema Essen beinhalten. Ernährung an der Schule war bisher im besten Fall Randthema und spiegelte somit den randständigen geprägten Stellenwert der Ernährung insbesondere in seiner Sättigungsfunktion in der Gesellschaft wieder. Da die Folgen einer unreflektierten und ungesunden Ernährung immer offensichtlicher werden, ist es auch nötig, Ernährung als eine kulturelle Praxis zu betrachten, deren kompetente Ausübung an der Schule vermittelt werden muss.

6.4 E RNÄHRUNGSSOZIALISATION IN E RZIEHUNGS UND B ILDUNGSEINRICHTUNGEN Wie im Kapitel 5 dieser Arbeit dargestellt, bilden sich Geschmackspräferenzen und Ernährungsgewohnheiten schon sehr früh aus und halten sich dann umso dauerhafter. In der Familie wird der Habitus geprägt und damit der Grundstein für das spätere Ernährungsverhalten gelegt. Kitas, Kindergärten und Schulen haben daher als einzige außerfamiliäre Institutionen eine besondere Bedeutung für die Ernährungssozialisation, da nur sie neben der Familie relativ früh auf die Kinder einwirken und dadurch auch Einfluss auf den Habitus nehmen können (vgl. Lampert / Richter 2009, S. 225). Aufgrund der steigenden Zahlen von adipösen Kindern ist auch die

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Politik auf die Bedeutung der Kindesernährung aufmerksam geworden und versucht durch Aufklärungsarbeit und Projekte für eine gesunde Ernährung zu werben (vgl. Bundesministerium für Ernährung 2010a). Es soll gar nicht erst versucht werden einen Überblick über die unzähligen Programme, Projekte, Kurse und Ratgeber zu geben, welche im Sinn haben, einen gesunden Ernährungsstil bei Kindern zu etablieren. Vielmehr stellt sich die grundsätzliche Frage, unter welchen Vorrausetzungen dies überhaupt möglich ist. Damit sich Ernährungsgewohnheiten dauerhaft verfestigen, müssen sie sich habitualisieren, ein Prozess, der wie gezeigt sehr früh beginnt und durch ständiges Nachahmen und Wiederholen gekennzeichnet ist und genau dadurch seine langlebige Konstanz und dauerhafte Prägekraft erhält. Will man nun die Ernährungsgewohnheiten von Kindern mit Erfolg in gesunde Bahnen lenken, muss dieser Prozess der Habitualisierung aufgenommen werden. Projekte und Programme müssen, um wirksam zu werden, ein hohes Maß an Kontinuität haben und zudem so geplant werden, dass über Lehrer und Erzieher auch Vorbildfunktionen erzielt werden. Im Klartext heißt dies, dass kurzfristige oder einmalige Aktionen wie Sinnerlebnisse oder Geschmacksschulungen (vgl. Bucej 2010) zwar sicherlich gut gemeint sind und einen Unterhaltungswert für die Kinder haben, aber kaum nachhaltige Effekte auf deren Ernährungsgewohnheiten haben. Dementsprechend gilt es alles zu unternehmen, um langfristig Verhaltensänderungen zu erreichen. In Kitas und Kindergärten muss eine kostenlose, gesunde, abwechslungsreiche und qualitativ hochwertige Kost Standard werden, die auch von den Erziehern zu sich genommen wird. Auch das Mithelfen bei der Zubereitung und ein freudiger, spielerischer Umgang mit Lebensmitteln ist sicherlich ein hilfreicher Ansatz, wenn dies nicht nur sporadisch geschieht. An Schulen gilt das gleiche, dort muss es ein gesundes, abwechslungsreiches Angebot an frischen Speisen und Getränken geben. Lehrer sollten gemeinsam mit den Kindern essen und dabei eine Vorbildfunktion für die Kinder übernehmen. Erste Projekte in dieser Richtung, wie etwa das EU-Schulfruchtprogramm, welches jedem Kind eine regionale und saisonale Obstmahlzeit garantieren möchte, ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Der Erfolg solcher Aktionen wird umso größer sein, je früher und länger diese Maßnahmen ansetzen. Nur so können eventuelle Defizite im Elternhaus ausgeglichen werden, können sich die Grenzen des elterlichen Habitus beim Kind verschieben und erweitern. Dass die Qualität des Essens in Kitas und Schulen meist die gesellschaftliche Bedeutung des Essens eines Landes widerspiegelt, zeigt ein Blick nach Frankreich, der Heimat der Haute Cuisine, wo 2001 feste Richtlinien für die Schulverpflegung im »Restauration Scolaire« festgelegt wurden: »Hier werden konkrete Mengen an Calcium, Eisen und Protein vorgeschrieben, so dass die Speisen praktisch alle berechnet werden müssen. Es werden täglich fünfmal Obst und Gemüse, Wasser zur freien Verfügung und Fisch zweimal pro Woche gefordert. Softdrinks sind verboten. Das Dekret fordert eine hohe Qualifikation des Verpflegungspersonals, das Schul-

168 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG ungen über die ernährungsphysiologischen Anforderungen der Verpflegung von Kindern und Jugendlichen und die Hygiene absolvieren muss. Das Dekret betont aber auch ausdrücklich das Vergnügen, das Essen bereiten soll – mit abwechslungsreicher Auswahl, ansprechender Garnierung und möglichst unbehandelten Lebensmitteln. Auch die Sinnesschulung als Aufgabe der Schulen findet Erwähnung. Das Erziehungsministerium hat darüber hinaus einen Leitfaden für Schüler und Eltern herausgegeben, um für den Alltag Empfehlungen für ein gesundes Frühstück und für Pausensnacks zu geben.« (Augsburg 2007)

Hier zeigt sich, was alles möglich ist, wenn der gesellschaftliche Stellenwert von Ernährung entsprechend hoch ist. Insbesondere Kitas und Ganztagsschulen haben hier große Möglichkeiten, präventiv das Ernährungsverhalten zu steuern und spätere ernährungsbedingte Folgeerkrankungen zu vermeiden. Beispielhaft in Frankreich ist auch die besondere Erwähnung, dass Essen Vergnügen bereiten soll, Essen als Genuss propagiert wird und auch zur Schulung der Sinne dienen soll. In Deutschland ist das Thema Ernährung insgesamt und auch bei Kindern im Besonderen vor allem von ernährungsphysiologischen Positionen dominiert, die sicherlich auch sehr wichtig sind. Doch eine Fokussierung auf den Nährstoffbedarf, mit Hinweisen darauf, wie viel von welchen Vitaminen, Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen in welchen Nahrungsmittel enthalten sind und wie viel davon konsumiert werden sollten, um sich vollwertig und gesund zu ernähren, reduziert Ernährung auf seine biologische Funktion (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2004b; Westerfeld 1999; Hell / Spatz / Sporer 2000). Andere wichtige Faktoren kultureller oder psychosozialer Art werden oftmals nur am Rande betrachtet. Deshalb ist der französische Ansatz bemerkenswert, da er eine gesunde Kost im Sinn hat, aber auch die Sinnschulung und die Freude am Essen fördern will und damit das komplexe Thema Ernährung viel besser erfasst. Fehlt dieser Ansatz, hinterlässt die Schulspeisung keinen bleibenden Eindruck, man kann sie geradezu ›vergessen‹: »Was in der Schule war, da kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Ich weiß, dass wir gemeinsam gegessen haben, da gab es zum Beispiel Eier in Senfsauce. […] Ich weiß, dass wir einen Raum hatten, in dem alle Schüler saßen. Dort gab es Milchflaschen. An Essen kann ich mich nicht erinnern, außer Eier mit Senfsauce, aber das wird es nicht jeden Tag gegeben haben.« (Interview 5, Marie, Z. 232ff).

Eine gesunde Ernährung erreicht man nicht dadurch, dass man einfach das dazu benötigte Wissen weitergibt und unterrichtet. Hier wiederholt sich der Fehler, den die Ernährungsberatung schon seit jeher bei den Erwachsenen macht. Hier wird seit Langem versucht, den Menschen durch Darlegung der neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse auf ein vernünftiges, gesundes Essverhalten zu trimmen. Doch trotz rationaler Argumente gelingt es nicht. Im Gegenteil, es steigen die Zah-

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len ernährungsbedingter Krankheiten wie etwa Diabetes mellitus oder HerzKreislauferkrankungen (vgl. Hahn / Ströhle / Wolters 2006, S. XVII). Dass bei Kindern und Jugendlichen noch viel weniger mit rationaler Einsicht zu rechnen ist, liegt auf der Hand und zeigt sich an den Lieblingsspeisen von Kita- und Schulküchen bis zur universitären Mensa, wo regelmäßig die Speisen am beliebtesten sind, die am wenigsten empfohlen werden, also Pommes, Currywurst und Schnitzel. Kinder und Jugendliche lassen sich von ganz anderen Motiven leiten als von gesundheitlichen: »Bei allen [vernünftigen] Ernährungslehren wird darauf hingewiesen, daß Essen und Trinken die Voraussetzungen für optimale Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Körpers schaffen und Freude machen sollen. Diese Funktionen hat die Ernährung aber offensichtlich nur für einen kleinen Teil der Jugendlichen. Bei realistischer Betrachtung muß eingestanden werden, daß in der Regel weder Jungen noch Mädchen essen, um jetzt und ein langes Leben lang gesund zu sein.« (Diehl 1996, S. 72)

Dementsprechend ist auch auf Forderungen zu reagieren, welche der Ernährung mehr Platz im schulischen Unterricht einräumen wollen. Ernährung war bisher ein Randthema, etwa in Biologie oder Sport, und dabei immer nur auf seine ernährungsphysiologischen Dimensionen beschränkt. Sinnvoll wäre es, Ernährung im Unterricht auch im Rahmen sozialer und psychologischer Kontexte zu behandeln. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aus ernährungswissenschaftlicher Sicht der Ausbau von Ganztagsangeboten an Kitas sowie Ganztagsschulen zu fördern ist, in denen eine qualitativ hochwertige Ernährung gewährleistet ist, welche neben gesundheitlichen Aspekten auch den Genuss und die Sinnesschulung der Kinder im Auge hat. Die Mahlzeiten sollten abwechslungsreich sein und zusammen mit dem Lehr- beziehungsweise Erziehungspersonal eingenommen werden, um Vorbildeffekte zu erzielen. Durch diesen dauerhaften Einfluss könnten negative Ernährungsgewohnheiten korrigiert oder vermieden werden. Zusätzlich hilfreich ist ein in frühen Jahren spielerischer Umgang mit Lebensmitteln durch Beteiligung an den Koch- und Verarbeitungsprozessen in Kitas und Schulen. Wichtig in der Schulzeit ist auch kontinuierlicher Unterricht über alle relevanten Bereiche der Ernährung, also biologische, soziale, psychologische und kulturelle Aspekte, um Kinder und Jugendliche nicht nur über Nährwerte und Körperbedürfnisse aufzuklären, sondern auch auf Einflüsse von Werbung oder geschlechtsspezifische Körperideale vorzubereiten und aufzuklären. Von besonderer Bedeutung ist vor allem, dass die Maßnahmen, die ergriffen werden, möglichst frühzeitig ansetzen und dann kontinuierlich beibehalten werden, um erfolgreich und langfristig auf das Ernährungsverhalten einwirken zu können. Das größte Problem bei der Umsetzung ist sicherlich monetärer Art: wer soll und kann für die Verpflegung der Kinder in den Schulen und Kitas aufkommen? In

170 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Schweden und Finnland übernimmt dies der Staat (vgl. Augsburg 2007), ansonsten müssen die Eltern für die Schulspeisung ihrer Kinder aufkommen. Pro Kind sind das pro Monat um die 50 Euro. Aus dem finanziell gesicherten Bürgertum kommt schnell der leicht empörte Zwischenruf, soviel Geld müsse einem die gesunde Ernährung der Kinder doch Wert sein. Und es gibt natürlich Eltern, die sich nicht angemessen um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern. Viele Eltern aus einkommensschwachen Schichten haben allerdings nicht mal diese 50 Euro (vgl. Augsburg 2006), die sich bei zwei oder drei schulpflichtigen Kindern schnell auf 100–150 Euro addieren, womit in solchen Familien oft der Einkauf für einen halben Monat getätigt wird. Deshalb ist es unumgänglich, dass das Essensgeld bei finanzschwachen Familien vom Staat getragen wird. Natürlich ist es auch Aufgabe der Erziehungsberechtigten, für eine ausreichende und ordentliche Ernährung der Kinder zu sorgen. Doch wenn Eltern nicht willens oder nicht in der Lage sind, diese zu gewährleisten, kann es nicht sein, dass diese ohnehin benachteiligten Kinder vom Schulessen beziehungsweise einer ordentlichen Verpflegung ausgeschlossen sind. Die neueste Entwicklung, im Rahmen des Bildungspaketes auch die Teilnahme am Mittagessen in Kita oder Schule größtenteils zu finanzieren1 ist daher mehr als begrüßenswert. Denn gerade diese Kinder aus finanziell oder sozial schwachen Familien sind es, welche von Kita- und Schulspeisungen profitieren würden beziehungsweise ansonsten am häufigsten ernährungsbedingte Mängel und Folgeerkrankungen aufweisen. Wenn diese Kinder aus den Maßnahmen und Programmen herausfallen, ist die Hauptzielgruppe außen vor und es profitieren nur diejenigen Kinder, welche aus privilegierteren Familien kommen und ohnehin gesünder ernährt werden. Eine armselige Ernährung ist nicht immer, aber zunehmend auch Ausdruck von realer, finanzieller Armut (vgl. dazu Absatz 6.9).

6.5 E RNÄHRUNG

UND

M EDIEN

6.5.1 Sozialisation und Massenmedien Ob Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet – Massenmedien sind omnipräsent und gewinnen dadurch immer mehr an Bedeutung. Erwachsene kommen auf eine tägliche Mediennutzung von 9,05 Stunden, gefolgt von 7,3 Stunden der Jugendlichen (vgl. van Eimeren / Krist 2004, S. 12). Die Medien gelten mittlerweile als wichtige eigenständige Sozialisationsinstanz, welche Normen, Einstellungen und Wissen vermitteln. Die neuen, digitalen Medien haben in kürzester Zeit das Freizeit- sowie

1

Der Eigenanteil der Eltern an einem Mittagessen beträgt 1 Euro pro Tag (vgl. Bundesministerium für Arbeit 2012).

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 171

das Arbeitsleben völlig neu gestaltet und dienen sowohl der Information als auch der Kommunikation und der Unterhaltung weltweit. Wenn also Verbreitung und Einfluss der Medien heutzutage so groß ist wie nie, muss auch davon ausgegangen werden, dass der Einfluss der Medien im Sozialisationsprozess eine immer größer Bedeutung erhält (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 131). Umstritten und unklar ist, welchen Einfluss beziehungsweise welche Wirkung die Medien auf den Rezipienten ausüben und ob und inwieweit dieser Einfluss von den Rezipienten gelenkt und gesteuert werden kann. ›Was machen die Menschen mit den Medien?‹, ist die Frage die sich aus der Medienselektionshypothese ergibt, ›Was machen die Medien mit den Menschen?‹, ist die Frage, welche die Medienwirkungshypothese hervorbringt (vgl. Lukesch 2008, S. 387). Am sinnvollsten scheint es, beide Ansätze nicht diametral gegenüberzustellen, sondern wie Hurrelmann von einem »Interdependenzmodell der Medienwirkung« (Hurrelmann 1994, S. 400) auszugehen. Weder ist der Mensch souveräner Nutzer, noch völlig manipulierbarer Rezipient. Persönliche beziehungsweise soziale Kontexte haben einen großen Einfluss auf Wirkungsprozesse der Medien: »Wie stark sie in Sozialisationsprozessen sein können, hängt davon ab, wieviel Macht ihnen in den entsprechenden sozialen Zusammenhägen eingeräumt wird: Längst bevor Medienbotschaften und Medienformen ›wirken‹ können, bestimmt das soziale Umfeld die Art und Stärke der möglichen Wirkung im Prozeß der Sozialisation.« (Hurrelmann 1994, S. 399)

Für den Sozialisationsprozess interessant sind dabei sowohl die Botschaften, die Medien transportieren als auch die Konsequenzen, die sich aus ihrer Nutzung ergeben. Als gesicherte Sozialisationseffekte durch Medien gelten beispielsweise die Beeinträchtigung des Schulerfolgs sowie die Aneignung aggressiver Verhaltensmuster durch Fernseher und Computerspiele. Kinder, welche ein eigenes TV-Gerät besitzen und lange fernsehen, viel Computer oder nicht altersgemäße Computerspiele spielen, haben bedeutend schlechtere Schulnoten (vgl. Mößle 2006, S. 300ff.). Gewalthaltige Medien, egal ob Filme oder Computerspiele, fördern bei Kindern und Jugendlichen aggressive und delinquente Verhaltensmuster (vgl. Möller / Krahé 2009 / Anderson 2004). Problematisch sind diese Umgangsweisen mit Medien vor allem deshalb, weil damit verschiedene Effekte und Konsequenzen einhergehen, die sich ebenfalls nachteilig auf die Kinder und Jugendlichen auswirken: »Ein einseitiger und ausgedehnter Medienkonsum führt zu einer Begrenzung der Freizeitinteressen und -tätigkeiten und zu schlechteren Schulleistungen; zugleich werden aggressive Dispositionen gefördert, was zu sozialer Ausgrenzung bzw. Anschluss an gleichgesinnte Peers führt;« (Lukesch 2008, S. 392)

172 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Zu einer souveränen Nutzung von Medien gehört deshalb auch eine Medienkompetenz. Diese Kompetenz muss im Umgang mit Medien von Kindern und Jugendlichen erworben werden und befähigt zu einer reflexiven Nutzung selbiger. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, unterschiedliche Formen und Macharten von Information, etwa Reportagen und Werbung, differenzieren und ihre Wirkung einschätzen zu können(vgl. Hurrelmann 2006, S. 257f.). Denn ein falscher Umgang mit Medien kann gleich mehrdimensional schlechten Einfluss auf die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen nehmen. Inwieweit dies auch auf die Sozialisation der Ernährung zutrifft, ist eine Frage, die kontrovers diskutiert wird. 6.5.2 Ernährungssozialisation und Medien Obwohl in den Massenmedien das Thema Ernährung so präsent ist wie nie zuvor – man denke nur an die unzähligen Kochshows, Diätbücher, Ernährungsratgeber, Genussführer und Werbespots – ist der Einfluss von Massenmedien auf die Sozialisation der Ernährung bisher eher spärlich untersucht worden (vgl. Lücke / Rössler 2003, S. 407). Ein Teilbereich, der vergleichsweise gut untersucht wurde, ist der Einfluss des Fernsehens und hier insbesondere der Food-Werbung. Gerade beim Thema Übergewicht geraten die Medien und deren möglicher Einfluss auf das Konsum- und Ernährungsverhalten speziell von Kindern schnell in die Kritik. Es werden Befürchtungen geäußert, dass Kinder insbesondere durch TV-Werbung zu ungesunden Ernährungsweisen verführt werden. Vielfach wird davon ausgegangen, dass Massenmedien manipulierend auf das Ernährungsverhalten einwirken, etwa über die Art und Weise wie Essen und Trinken im Fernsehen dargestellt wird oder direkt über Food-Werbung. So wurde von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) eine Studie durchgeführt, welche sich auch mit dem Bild von Ernährung befasste, das im Fernsehen vermittelt wird. Dazu wurden auf den verschiedenen Sendern die Ernährungsdarstellungen in ihrer Häufigkeit als auch ihrer Intensität in den verschiedensten TV-Gattungen von Spielfilmen über Serien, Magazinen, Ratgebern bis zur Werbung untersucht. Das Ergebnis zeigte, dass ausgerechnet diejenigen Lebensmittel, welche man nur äußerst beschränkt konsumieren sollte, am häufigsten dargestellt wurden: Süßes, fette Snacks und Alkohol. Andersherum gilt, dass die Lebensmittel, deren Genuss die DGE für besonders empfehlenswert hält wie Brot, Obst und Gemüse, im TV stark unterrepräsentiert sind:

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 173

Abbildung 11: Ernährungsdarstellung im TV

Quelle: Rössler / Willhöft 2004, S. 361

Der hohe Anteil an süßen und fetthaltigen Snacks geht vor allem auf deren Darstellung in Talkshows, Trickfilmen und der Werbung zurück. Verstärkt am Wochenende während des Kinderprogramms, zur ›Primetime‹ der Kinder also, werden Foodspots geschaltet und davon wiederum entfällt ein sehr hoher Anteil auf Werbung für stark zuckerhaltige Süßwaren (vgl. Diehl 1999b, S. 43). Gerade im Privatfernsehen, das sich bei Kindern größter Beliebtheit erfreut, werden die Jugendlichen mit einer großen Anzahl von Werbespots für Nahrungsmittel konfrontiert. Typisch für die beworbenen Produkte ist zum einen, dass es sich dabei überwiegend um SnackArtikel handelt, welche spontan zwischendurch konsumiert werden, zum anderem sind es zumeist Produkte mit einem hohen Zucker oder Fettgehalt (vgl. Diehl 2007, S. 36). Allgemein lässt sich festhalten, dass das Fernsehbild der Ernährung deutlich von den Normen einer als gesund und empfehlenswert erachteten Ernährung abweicht. Als Medium für positive Aufklärungsinformation wird das Fernsehen dagegen, trotz der Reichweite und des Potenzials des Mediums Fernsehen, kaum genutzt (vgl. Rössler / Willhöft 2004, S. 369f.). In Anbetracht dieser negativen Ernährungsbotschaft des Fernsehens und der durchschnittlichen täglichen Sehdauer von 212 Minuten2 (vgl. Zubayr / Gerhard 2010, S. 107) ist es nicht verwunderlich, dass Fernsehen in der Kritik steht. Vor allem die Lebensmittelwerbung, die auf Kindern abzielt, welche noch nicht über eine kritische und gefestigte Meinung verfügen,

2

Bei Kindern im Alter von 3–13 Jahren betrug 2009 die durchschnittliche Sehdauer 88 Minuten, bei Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren waren es 100 Minuten.

174 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

wird für deren ungesundes Ernährungsverhalten verantwortlich gemacht. Parteien und Verbände fordern deshalb ein Werbeverbot für süße und fettreiche Lebensmittel im Umfeld von Kindersendungen (vgl. Stern.de 2010; Gerlach 2010). Unstrittig ist, dass Werbung bestens dafür geeignet ist, um neue Produkte auf den Markt einzuführen oder um den Absatz bestimmter Marken zu steigern. Jugendliche, die viel fernsehen und damit viel Werbung konsumieren, verzehren die beworbenen Produkte der Hersteller signifikant häufiger (vgl. Diehl 2005, S. 44). Dies beweist, dass Werbung Einfluss auf Marktanteile nimmt, nicht aber, dass Fernsehwerbung Kinder zu einem größeren Konsum von Süßwaren, Snacks und Fastfood verführt. Im englischsprachigen Raum sorgt eine Veröffentlichung von Gerard Hastings für Furore. In seinem Report »Review of research on the effects of food promotion to children« analysierte er den Forschungsstand und kam zum Ergebnis, dass Lebensmittelwerbung auf Kinder einen negativen Einfluss auf Nahrungspräferenzen, Einkaufsverhalten und Konsum hat (vgl. Hastings et al. 2003). Einer näheren Betrachtung kann diese Schlussfolgerung jedoch nicht standhalten. So sind die zwei der wichtigsten Studien allein von den methodischen Standpunkten her fragwürdig, als auch kaum beweiskräftig in ihren Aussagen (vgl. Ashton 2004). Dennoch wurden die Thesen von den Medien gierig aufgegriffen, obwohl Hastings nur sehr wenige und sehr vage Hinweise, jedoch keinerlei Beweise für seine Thesen liefern konnte, wie David Ashton feststellt: »Taken together, these and other observations effectively undermine the main conclusions of the Hastings Review. Despite media claims to the contrary, there is no good evidence that advertising has a substantial influence on children's food consumption and, consequently, no reason to believe that a complete ban on advertising would have any useful impact on childhood obesity rates.« (Ashton 2004, S. 51)

Zum gleichen Ergebnis kam auch der deutsche Ernährungspsychologe Diehl. In seiner Studie stellte er fest, dass übergewichtige Kinder und Jugendliche nicht größere Mengen an Süßwaren, Snacks und Fastfood Produkten als normalgewichtige Gruppen (vgl. Diehl 2005, S. 45) verzehren. Auch andere Studien konnten ebenfalls keine Belege dafür finden, dass Produktgruppen, die im Fernsehen beworben werden, von Jugendlichen, die viel fernsehen und Werbung sehen, tatsächlich auch häufiger verzehrt werden (vgl. Pudel 2000, S. 142f.; Koletzko / Toschke / von Kries 2004, S. 232). Die Kinder und Jugendlichen sind also nicht übergewichtig, weil sie durch Fernsehwerbung zu größerem Konsum der beworbenen Süßwaren verleitet werden. Belegt wird dies auch durch Erfahrungen in Schweden und Kanada: Dort ist Fernsehwerbung für Kinder unter 12 beziehungsweise 13 Jahren verboten. Eine positive Auswirkung auf die Häufigkeit von Überwicht bei Kindern konnte allerdings nicht festgestellt werden (vgl. Diehl 2007, S. 38).

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Es ist wohl eher der Umstand des Fernsehens selbst, welcher ein Risikofaktor für Übergewicht darstellt. Tatsächlich gibt es zahlreiche Studien, die den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Übergewicht nachweisen (vgl. Gortmaker 1996; Dennison / Erb / Jenkins 2002; Dietz / Gortmaker 1985; Lampert / Sygusch / Schlack 2007). Problematisch ist also nicht das, was die Kinder sehen, sondern eher, dass sie zu viel fernsehen. Wer vor dem Fernseher sitzt, hat automatisch einen geringeren Energieverbrauch und verbringt weniger Zeit körperlich aktiv (vgl. Lampert / Sygusch / Schlack 2007, S. 649ff.). Dazu kommt oft eine höhere Kalorienzufuhr durch Konsum und Verzehr energiereicher Speisen und Getränke während des Fernsehens. Nicht der übermäßige Konsum der beworbenen Produkte, sondern schlechte Ernährungsgewohnheiten allgemein, zu viel Fernsehen und der daraus resultierende Bewegungsmangel sind problematisch, wie auch Nancy Signorelli nach Auswertung einer Vielzahl an Studien konstatiert: »Diese Ergebnisse können die These nicht stützen, daß das Fernsehen oder die Medien allgemein zu ungesunden Angewohnheiten und zu einer mangelnden Kenntnisnahme von Gesundheitsinformationen führen – obwohl sie mit einem solchen Befund im Einklang stehen. Sie weisen jedoch darauf hin, daß diejenigen, die das Fernsehen und die Massenmedien als Hauptquelle für Informationen nutzen, nicht zum gesundheitsbewußten Teil der Bevölkerung gehören.« (Signorielli 1995, S. 161)

Übergewicht und Adipositas haben immer eine Vielzahl an Ursachen, das Fernsehen ist dabei nur ein Risikofaktor unter vielen. Dabei sind es jedoch nicht die Botschaften3, welche das Medium Fernsehen transportiert, sondern die übermäßige Nutzung des Mediums mit seinen Begleiterscheinungen selbst, welche zum Risikofaktor wird. Die soziale Dimension dieses Faktors offenbart sich, wenn man sieht, dass vor allem Kindern auf Haupt- und Förderschulen einen eigenen Fernseher oder eine Spielkonsole4 im Zimmer haben und deutlich mehr fernsehen und an Konsolen spielen als Kinder und Jugendliche, welche ein Gymnasium besuchen (vgl. Lampert / Sygusch / Schlack 2007, S. 647ff.; Baier et al. 2010, S. 23). So reiht sich ein weiterer Risikofaktor zu den ohnehin durch Faktoren wie psychischen Stress, schlech3

Anders sieht dies bei geschlechtsspezifischen Ernährungsweisen aus. Hier prägen die Medien die Idealvorstellungen von Körperbildern sehr stark und nehmen dadurch Einfluss auf das Ernährungsverhalten (vgl. dazu Absatz 6.7 und 6.8).

4

Oftmals wird darauf hingewiesen dass der TV Konsum, im Gegensatz zum Übergewicht, von Kindern und Jugendlichen nicht steigt (vgl. Diehl 2007, S. 38). Dabei wird oft vergessen darauf hinzuweisen, dass das Fernsehen nur einen Teil der Medien bildet, welche Jugendliche bevorzugt nutzen und das Internet, Handy und Spielkonsolen mittlerweile ebenfalls sehr zeitintensiv genutzt werden (vgl. Lampert / Sygusch / Schlack 2007, S. 646f.).

176 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

tere Ernährungsgewohnheiten und weniger sportlichere Aktivitäten gefährdeten Jugendlichen unterer Schichten und sorgt für das Profil sozialer Ungleichheit von Übergewicht und Adipositas (vgl. dazu Absatz 6.9.4).

6.6 S OZIALISATION

IN DER

G LEICHALTRIGENGRUPPE

6.6.1 Bedeutung und Einfluss der Peers Neben dem steigenden Sozialisationseinfluss der Massenmedien ist auch der Einfluss der Gleichaltrigengruppe von wachsender Bedeutung, sodass von diesen beiden Sozialisationsinstanzen auch schon von der ›tertiären‹ Sozialisation gesprochen wird (vgl. Hurrelmann 2006, S. 239). Schon Parsons maß der Peergroup eine große Bedeutung in Sozialisationskontext zu. Nach Parsons werden hier andere Rollenerwartungen als in der emotional ausgerichteten Familie vermittelt: Eher abstrakte Werte wie Leistung und Anerkennung unter Statusgleichen erhalten wachsende Bedeutung (vgl. Parsons 1968b, S. 174). In diesen Gruppen von Gleichaltrigen finden sich Kinder und Jugendliche zwanglos und frei von anderen, autoritären Sozialisationseinflüssen durch Lehrer oder Eltern zusammen und bilden eine Gemeinschaft, deren Werte, Regeln und Sanktionen von ihnen selbst bestimmt werden (vgl. Hurrelmann 2006, S. 240). Die Kinder lernen in diesem geschützten Raum der Gleichaltrigen soziales Handeln und gleichzeitig wird ihnen dabei ermöglicht, in einer Lebenswelt zu agieren, die selbst gestaltet ist und somit einen Freiraum zur Selbstverwirklichung bietet. Man grenzt sich demonstrativ von den Eltern und Lehrern beziehungsweise von den Erwachsenen allgemein ab und baut sich im Verband der Peers eine eigene Lebenswelt auf: »In den Gleichaltrigengruppen wird durch selbst geschöpfte, oft frei erfunden, meist von einer Alterskohorte zur nächsten wechselnde Sprach-, Kleidungs-, Verhaltens- und Ausdrucksformen das Lebensgefühl einer Altersgruppe repräsentiert.« (Hurrelmann 2006, S. 242)

Dadurch werden Kinder und Jugendliche auch auf die Freizeit- und Konsumgestaltung vorbereitet, welche durch immer größere Möglichkeiten der Mediennutzung und dem stetig wachsenden Konsumangebot von noch nie da gewesener Bedeutung ist. Schon wird von einer ›Selbstsozialisation‹ in der Peer Group gesprochen, da gleichzeitig der Einfluss von traditionellen Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule scheinbar mehr und mehr zurückgeht. Der »Strukturwandel der Jugendphase« (Tillmann 2006, S. 267) führte zu einer längeren Jugendphase, einer Vervielfältigung der Möglichkeiten beim Übergang ins Erwachsenenleben sowie einer Vielzahl an Lebens- und Bindungsformen, sodass Jugendliche viel mehr Wahlmöglich-

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keiten, aber auch Entscheidungszwänge haben. Dabei sind Entscheidungen zu treffen, deren Konsequenzen kaum absehbar sind und deshalb verunsichern (vgl. Tillmann 2006, S. 268ff.). Für Jürgen Zinnecker sind es die Peers, welche die Rolle der Eltern und Lehrer übernommen haben und solche Verunsicherungen auffangen. Nach Zinnecker findet in der Gesellschaft der Moderne eine Selbstsozialisation innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen statt (vgl. Zinnecker 2000, S. 277, 282f.). Dieser Ansatz übersieht jedoch, dass sich traditionelle Strukturen des Sozialisationsverlaufs wie auch der Sozialisationsinstanzen zwar verändert haben, diese ihren Einfluss jedoch weiterhin aufrecht halten können. Eltern haben beispielsweise neben den unbestritten wichtigen Peers weiterhin eine bedeutende Rolle für die Kinder und Jugendlichen als emotionale Anlaufstelle und man kann nicht von einer Dominanz des Peer-Einflusses, sondern vielmehr von einem Nebeneinander beider Sozialisationsinstanzen ausgehen (vgl. Oswald 2008, S. 326f.). Die Individuation in einer sich selbst organisierenden Gruppe jedenfalls ist von zentraler Bedeutung für die Ausbildung einer Identität, welche das eigene Handeln reflektieren kann und sich dafür verantwortlich zeigt (vgl. Hurrelmann 2006, S. 242). Wenn es nicht gelingt, seinen Platz in einer solchen Gruppe zu finden, man von der gleichaltrigen Gruppe abgewiesen wird beziehungsweise nur einen sehr geringen, abwertenden Status hat, kann dies zu psychischen Problemen, Devianz und Delinquenz führen (vgl. Oswald 2008, S. 325). Insbesondere auch für das Freizeit- und Konsumverhalten ist die Gruppe der Gleichaltrigen prägend. Markenprodukte werden wichtig und emotional besetzt. Die Kinder und Jugendlichen werden über solche Markenprodukte als zugehörig oder außenstehend betrachtet. Diese Fixierung auf Marken und Labels ist verbunden mit eigener innerer Unsicherheit und hilft diese zu überwinden und ein Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen. Durch die gewachsene Bedeutung und Verbreitung alter und neuer Medien ist der Marken- und Konsumdruck stark gestiegen und eine große Zahl der Kinder und Jugendlichen verfügt zudem über beachtliche Geldmengen, um sich die angesagtesten Produkte, ob Turnschuhe oder iPhones, kaufen zu können. Anerkennung erhält man dann vor allem durch den richtigen Konsum: »Sie müssen durch ihre Kleidung, teilweise auch durch die Gestaltung von Kleidung und Körper und ihre Gesten und Verhaltensweisen demonstrieren, dass sie zu einer der sozialen Gruppen gehören, die im Schul- und Freizeitbereich Anerkennung genießen. Gelingt ihnen das nicht, können sie schnell ausgegrenzt und diskriminiert werden.« (Hurrelmann 2006, S. 247)

Inwiefern der Konsum von Nahrungsmitteln in der Jugendphase von speziellen Funktionen und Bedürfnissen gelenkt werden, welche Anforderungen Jugendliche an Ernährung stellen, soll nun im Folgenden dargestellt werden.

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6.6.2 Peer Group und Ernährung Jugendliche befinden sich wie beschrieben in einer Übergangssituation, in der sie noch nicht komplett eigenverantwortlich ohne Führung durch Erwachsene agieren und dennoch innerhalb der Gleichaltrigengruppe ein selbstständiges und selbstbestimmtes Eigenleben führen. Diese Ambivalenz ist kennzeichnend für die Jugendphase und findet sich auch im Bereich Ernährung wieder. Mahlzeiten werden sowohl im häuslichen Kontext der Familie eingenommen, gleichzeitig wächst mit steigendem Alter der Anteil an Eigenversorgung mit Lebensmitteln und Mahlzeiten. Einen Großteil der Mahlzeiten, etwa 80 Prozent, nehmen Erwachsene und Jugendliche dabei immer noch zu Hause ein (vgl. Stix 2000, S. 14). Dabei wird davon ausgegangen, dass in der Moderne die Mahlzeit nicht mehr in dem Ausmaß verbindlich ist. Sie kann tagestrukturierend sein, aber muss es nicht. Die Teilnahme ist tendenziell freiwillig und die Familien müssen eine große Koordinationsleistung aufbringen, um gemeinsame Mahlzeiten zu verwirklichen. Gleichzeitig hat sich die Funktion der Mahlzeit in der Familie verändert. Nicht mehr allein die Sättigungsund Versorgungsfunktion ist es, weshalb man sich am Tisch versammelt, zunehmend ist es die Kommunikationsfunktion als Möglichkeit innerfamiliären Austauschs (vgl. Bartsch 2008, S. 58). Barlösius stellt eine ungebrochene Bedeutung des familiären Mahls fest, auch wenn sich dieses aufgrund der veränderten Arbeitsund Familienstrukturen nicht mehr so einfach und häufig verwirklichen lässt (vgl. Barlösius 1999, S. 186). Deshalb sind Jugendliche auch häufiger selbst für ihre Ernährung zuständig, man bedient sich aus dem Kühlschrank oder greift auf Convenience-Produkte zurück (vgl. Diehl 2000, S. 68ff.). Der Ernährungsstil der Familie bleibt dabei auch in dieser Zeit weiterhin entscheidend für das Ernährungsverhalten der Jugendlichen. Innerhalb des familiären Habitus entscheiden die Jugendlichen, was schmeckt, zubereitet und wann wie gegessen wird: »Familie ist der Ort der primären Ernährungssozialisation und Enkulturation. Hier erleben Heranwachsende, wie über Auswahl von Lebensmitteln, Art der Zubereitung und des Verzehrs im Alltag mit seinen komplexen Anforderungen entschieden wird.« (Bartsch 2008, S. 69)

Das Essen zu Hause erfüllt dabei andere Funktionen und hat andere Bedeutung für die Jugendlichen als das Essen außer Haus im Kreis der Peers. Und gerade weil Ernährung nicht mehr ausschließlich zu Hause in der Familie stattfindet, wächst der Einfluss der Peergroup auch im Bereich der Ernährung, freilich unter gänzlich anderen Prämissen. Wie schon erwähnt, spielt hier das Gefühl des Dazugehörens, der Akzeptanz durch die anderen eine große Rolle, so dass Konsum eine Möglichkeit der Selbstdarstellung und auch der Zusammengehörigkeit ist, die es gleichzeitig er-

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laubt, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Natürlich geht es dabei vor allem um Kleidung und Prestigegegenstände, aber auch Nahrungsmittel und vor allem die Art und Weise des Verzehrs können dafür benützt werden. Dazu gehören vor allem Lebensmittel und Getränke, die außer Haus im Zusammensein mit Freunden konsumiert werden, vor allem Fastfood wie Pizza, Döner und Hamburger, Snacks und Süßigkeiten. Für Letzteres geben insbesondere jüngere Jugendliche (10–13 Jahre) den Großteil ihres Taschengeldes aus (vgl. Feil 2003, S. 60f.). Gerade Fastfood ist zum Synonym für jugendliche Esskultur geworden. Dabei spielt eine große Rolle, dass solche Imbissläden den Jugendlichen einen öffentlichen Treffpunkt bieten. Man möchte unter sich und nicht bei den Eltern sein. Aber auch das Angebot der Speisen und vor allem der Freiraum von erwachsenen Verzehrregeln und Normen spielt eine bedeutende Rolle. Diese ›informelle Nahrungsaufnahme‹, frei von Benimmregeln und Besteck, ermöglicht eine lockere, ungezwungene Nahrungsaufnahme. Diese Regellosigkeit ist auch der Grund für die Beliebtheit des Snacks unter Jugendlichen, also der beiläufigen Nahrungsaufnahme von belegten Brötchen, Riegeln oder etwa Pizzaschnitten, welche ohne Aufwand schnell sättigen: Das gemeinsame ›Snacken‹ schafft das Gefühl von zwangloser Zusammengehörigkeit, das Erleben ist Haupt-, das Essen Nebensache (vgl. Bartsch 2008, S. 81). Das Essen selbst spielt eine sehr untergeordnete Rolle, es findet quasi nebenbei statt. Viel wichtiger sind jugendspezifische Elemente wie das Gefühl des Zusammengehörens und des Zusammen-Erlebens (vgl. Bartsch 2008, S. 83). Silke Bartsch stellte zudem die interaktionistische Hypothese auf, dass die konsumierten Snacks zudem eine jeweils spezifische symbolische Botschaft haben: Analog zu Konsum von Kleidung und Musik haben auch Snacks ein bestimmtes Image, mit dem in der Peergroup bestimmte Lebensstile und Stimmungslagen ausgedrückt werden. Dies konnte in ihrer Untersuchung nicht bestätigt werden, allerdings erkennt sie Hinweise auf einen jugendspezifischen »kulinarischen Code« (vgl. Bartsch 2008, S. 155). Ob dies tatsächlich der Fall ist und wie dieser Code genau aussehen soll, ist allerdings noch unklar und bedarf weiterer Forschung. Das ›Snacken‹ beziehungsweise der Fastfood-Konsum Jugendlicher darf dabei nicht überwertet werden. Jugendliche geben zwar große Teile ihres (Taschen-)Geldes, welches sie für den Einkauf von Lebensmittel verwenden, für Süßigkeiten, Eis und Snacks aus (vgl. Barlovic 1999, S. 13). Den Großteil ihrer Nahrung nehmen sie aber immer noch im Rahmen der Familie ein, wo die Versorgungsfunktion und die innerfamiliäre Kommunikation im Vordergrund stehen. In der Peergroup außer Haus hat Essen einen anderen Stellenwert und ordnet sich den allgemeineren Funktionen innerhalb von Gleichaltrigengruppen wie eben der Abgrenzung zur Erwachsenenwelt und dem Aufbau von Zusammengehörigkeitsgefühlen unter. Man trifft sich auf eine Kleinigkeit, einen Snack, später dann einen Kaffee oder später auch auf ein Bier, um unter- und miteinander zu sein. Auf die Frage, was beim Ausgehen wichtig ist, bringt die 19-jährige Schülerin Julia die Prioritäten (älterer) Jugendli-

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cher illustrativ auf den Punkt: »Ja, nur das Trinken [lacht] an sich, Spaß haben, das Feiern, das Tanzen spielt eine große Rolle, Freunde treffen. Eher das. Also, da hat Essen eigentlich gar keinen Stellenwert, überhaupt nicht, nein« (Interview 8, Julia, Z. 169ff.). Auf grundlegende Ernährungsmuster und Gewohnheiten haben die Peers so gut wie keine Auswirkung, da innerhalb der Gruppe Ernährung keinen eigenen, besonderen Stellenwert hat, im Gegensatz zu anderen Verhaltensweisen: Abbildung 12: Gesundheitsverhalten und soziale Ungleichheit

Quelle: Klocke 1995, S. 195

Gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen wie Rauchen oder das Trinken von Alkohol bei Jugendlichen, korrelieren nicht mit sozialen Ungleichheitslagen. Andreas Klocke sieht dies als Beleg dafür, dass der Konsum von Alkohol und Tabak stark über die Gleichaltrigengruppen geprägt wird. Im Gegensatz dazu korreliert eine ungesunde Ernährung deutlich mit der sozialen Herkunft. Meine Hypothese ist also, dass auch im Jugendalter die Herkunftsfamilie sowie deren soziale Einbettung die Ernährungsgewohnheiten beeinflussen und nicht die Peers. Jugendspezifische Essgewohnheiten wie Fastfood oder das ›Snacken‹ sind nur eine Facette jugendlicher Esskultur, nicht aber typischerweise kennzeichnend und sind eher von jugendkultureller Bedeutung. Die Esskultur bleibt weiterhin von der Familie geprägt. Wie schon erwähnt, werden 80 Prozent der Mahlzeiten von Jugendlichen zu Hause eingenommen, Mahlzeiten die vom Ernährungsstil der Eltern geprägt sind, von diesen oft vor- oder zubereitet sowie eingekauft werden.

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Meistens haben Peergroups also keinen Einfluss auf grundlegende Essgewohnheiten, auf den Habitus. Es gibt allerdings auch gewichtige Ausnahmen und zwar dann, wenn die Art und Weise der Ernährung zur Identitätsbildung genützt wird. Die Gleichaltrigengruppe spielt eine große Rolle bei der Vermittlung und Internalisierung von kulturellen Idealen, insbesondere auch von Körper und Schönheitsidealen. Jugendliche, deren Körper sich in der biologischen Umstellung vom Kindeszum Erwachsenalter befindet, sind von den körperlichen Umstellungsprozessen verunsichert, insbesondere auch deshalb, weil in diesem Alter auch die Internalisierung von Idealen körperlicher Attraktivität stattfindet und Unsicherheit darüber herrscht, ob diese vom heranwachsenden Individuum erfüllt werden kann. Das Vergleichsverhalten ist deshalb unter Jugendlichen stark ausgeprägt und kann zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und einer erhöhten Anfälligkeit für gestörtes Essverhalten führen (vgl. Brunner / Resch 2008, S. 10). Davon sind sowohl Mädchen als auch Jungen betroffen, allerdings sind der Selbstwert und das Selbstkonzept junger Frauen deutlich enger mit körperlicher Attraktivität verbunden als bei jungen Männern (vgl. dazu Absatz 6.7.2): »Empirische Studien zeigen jedoch, dass Mädchen in der Adoleszenz im Vergleich zu Jungen größeren Druck verspüren, ihr Gewicht zu regulieren, sich mehr mit den Peers vergleichen, eine höhere körperliche Unzufriedenheit sowie eine höhere Internalisierung von soziokulturellen Einstellungen bezüglich des Erscheinungsbildes sowie ein nachfolgend gestörtes Essverhalten zeigen.« (Brunner / Resch 2008, S. 10)

Um problematische Ernährungsweisen und Körpereinstellungen in der Adoleszenz zu verringern, wäre es deshalb notwendig, den Heranwachsenden schon frühzeitig andere, stabilere Quellen und Möglichkeiten für ein gesundes Selbstwert- und Identitätskonzept anzubieten. Kompetenzen, welche im Gegensatz zu körperlichen Merkmalen, die zu großen Teilen genetisch festgelegt sind, selbst zu gestalten und zu erreichen sind. Ähnlicher Peereinfluss findet sich, wenn auch wesentlich unproblematischer, im Fall des jugendlichen Vegetarismus. Die Gründe und Motive sich vegetarisch beziehungsweise vegan zu ernähren, sind äußerst vielfältig. Der Einfluss von Freunden ist jedoch einer der häufig genannten Gründe (vgl. Mitte / Kämpfe 2007; Schwarz 2005, S. 89). Gerade in der Jugendphase beginnen vegetarische Ernährungskarrieren. Vegetarische Ernährung ist dann mehr als eine Art zu essen, vielmehr Teil der jugendlichen Identität, ein scheinbar selbstgewählter Lebensstil, der einerseits individuelle, sich abgrenzende, aber auch vergemeinschaftende Motive in der Gruppe gleichgesinnter Peers hat. Insbesondere zu Beginn dürfte der Einfluss von Gleichaltrigen sehr groß sein:

182 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG »Als ich 12 oder 13 war, waren meine Freundinnen alle Vegetarier, da war der Hype so, die armen Pferde, die armen Tiere, das kann man doch nicht essen und ich fand es immer total toll, ich habe die irre bewundert […]«. (Interview 3, Kerstin, Z.97ff.)

Als auslösendes Moment für den Einstieg in das vegetarische Leben hat die Peergroup also große Bedeutung, wie auch quantitative Studien zeigen. Von den zehn wichtigsten Auslösern des Vegetarismus zum Einstieg liegt der Einfluss von Bekannten und Freunden auf Platz zwei (vgl. Mitte / Kämpfe 2007). Unter bestimmten Umständen kann eine vegetarische Lebensweise dann stilbildend für Jugendsubkulturen werden. Vegetarismus im Zusammenhang mit bestimmten Musikgruppen führten in der schwedischen Stadt Umeå dazu, dass sich 16 Prozent aller 15Jährigen vegetarisch ernährten (vgl. Larsson et al. 2003, S. 61). Wie stabil und andauernd der vegetarische Lebensstil ist, ist unklar. Wird der Lebensstil jedoch beibehalten, nimmt der Einfluss der Gleichaltrigen ab beziehungsweise ist dieser mit zunehmendem Lebensalter mehr und mehr idealistisch motiviert und nimmt dann auch dauerhaft Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten. Die jugendspezifische Dimension eines vegetarischen Lebensstils wird deutlich, wenn man die Altersstruktur der Vegetarier betrachtet: Etwa zwei Drittel der Vegetarier sind zwischen 10 und 29 Jahre alt. Die Anhänger des vegetarischen Lebensstils nennen als Motive vor allem idealistische, moralische (vgl. Mitte / Kämpfe 2007) und zunehmend auch sozial-ökologische Gründe (vgl. Foer 2010). Vor dem Hintergrund solcher moraltheoretischer Diskussion wird die sozialstrukturelle Komponente des Vegetarismus meines Erachtens viel zu wenig beachtet, obwohl sie offensichtlich ist: »Der typische Vegetarier in dieser Studie ist weiblich, jung, überdurchschnittlich gebildet und lebt in einer Großstadt« (Mitte / Kämpfe 2007).Die Tatsache, dass Vegetarier vor allem weiblich sind, zeigt, dass das Geschlecht eine große Rolle für die Ernährungssozialisation hat. Dieser Zusammenhang soll im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden.

6.7 E RNÄHRUNG

UND

G ESCHLECHT

6.7.1 Sozialisation und Geschlecht Das Geschlecht ist sicher ein Faktor von immenser Bedeutung für die Sozialisation eines Individuums alleine dadurch, dass er von Geburt an festgelegt ist und auch lebenslänglich Bestand hat. Eingeordnet aufgrund biologischer Geschlechtsmerkmale, werden Kinder von Geburt an auch soziokulturell verschieden betrachtet und behandelt und somit geschlechtsspezifisch sozialisiert. Kinder erhalten männliche beziehungsweise weibliche Vornamen und werden durch Frisuren, Kleidung und Ac-

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cessoires als Jungen oder Mädchen gekennzeichnet, lange bevor sie sprechen können und ihnen ihre Geschlechtszuordnung selbst bewusst ist. Dabei entwickeln sie scheinbar von allein Eigenschaften, welche dann als jungen- oder mädchentypisch interpretiert werden. Eine viel diskutierte Frage ist dabei, inwieweit biologische Anlagen für diese Sozialisationsprozesse relevant sind, da gerade in letzter Zeit immer wieder versucht wird, Unterschiede zwischen den Geschlechtern vor allem auf genetische beziehungsweise hormonelle Faktoren zurückzuführen. So behauptet die amerikanische Psychiaterin und Bestsellerautorin Louann Brizendine in ihrem Buch ›Das weibliche Gehirn‹, dass es spezifisch weibliche Eigenschaften wie etwa Einfühlsamkeit gibt, welche evolutionsbiologisch angelegt sind (vgl. Brizendine 2007, S. 32ff.). Solche Behauptungen werden gerne aufgenommen, da sie bestehende Unterschiede quasi als naturgegeben auffassen und es weder Anlass noch Möglichkeit gibt, bestehende (Miss-)Verhältnisse zu ändern. Solche stark deterministischen Ansätze gibt es immer wieder und vermelden mit scheinbar naturwissenschaftlicher Gewissheit5 die genetische Verankerung geschlechtsspezifischer Unterschiede und beschränken damit die Bedeutung soziokulturelle Sozialisationsfaktoren auf ein Minimum. Dabei sind diese eher deterministischen Ansätze auch in der Humanbiologie in der Minderheit, wo die Mehrheit der Forscher von einer Interaktion von Anlage und Umwelt ausgeht. Auch der Sozialisationsforscher Klaus-Jürgen Tillmann kommt nach intensiver Beschäftigung mit den Ergebnissen biologischer Forschung zu der Erkenntnis, dass es vor allem kulturelle und gesellschaftliche Faktoren sind, welche das Geschlechterverhalten bestimmen (vgl. Tillmann 2006, S. 56ff.). Über die Gewichtung beziehungsweise Anteile beider Faktoren herrscht jedoch Uneinigkeit. Neuere Forschungserkenntnisse der Neurobiologie deuten jedoch darauf hin, dass die genetischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern relativ gering sind und erst durch die Umwelt bestehende kleine Differenzen eine Dimension erhalten, welche dann als unveränderbare Geschlechtsmerkmale erscheinen (vgl. Eliot 2010). Warum Theorien, welche vor allem von natürlichen Anlagen der Ge5

So fand eine Wissenschaftlergruppe um den Cambridge Psychologen Simon BaronCohen heraus, dass neugeborene Mädchen länger auf menschliche Gesichter reagierten als Jungen, welche länger auf ein aufgehängtes Mobile blickten. Daraus wurde geschlussfolgert, dass Mädchen und Frauen von Natur aus eher auf Interaktion mit anderen Menschen, Jungen dagegen eher auf Beschäftigung mit Objekten und Apparaten ausgerichtet sind. Schnell wurden diese Ergebnisse verallgemeinert und auf ihrer Basis die späteren Geschlechterunterschiede bei Sprache, Einfühlungsvermögen und Technikverständnis erklärt. Dass die Ergebnisse der Studie weder sehr eindeutig waren, methodische Fragwürdigkeiten vernachlässigt wurden und zahlreiche andere Studien zu völlig widersprechenden Ergebnissen kamen, wurde kaum wahrgenommen (vgl. Eliot 2010, S. 117f.).

184 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

schlechtermerkmale ausgehen, so gerne aufgegriffen werden und unhinterfragt bleiben, könnte an der Art und Weise des geschlechtlichen Sozialisationsprozesses liegen. In der Diskussion um Geschlecht und Sozialisation sind die Theorien und Meinungen vielfältig, so dass verschiedene Ansätze Gemeinsamkeiten, aber auch Widersprüchlichkeiten teilen (vgl. Bilden / Dausien 2006). Vor allem subjektzentrierte Ansätze, welche von konstruierten Geschlechterrollen ausgehen und eher klassisch sozialisationstheoretischen Ansätze, welche von gesellschaftlicher Strukturierung der Geschlechterrollen ausgehen, standen sich lange opponierend gegenüber. Doch mittlerweile gibt es immer mehr Stimmen, welche versuchen, beide Positionen – wenn auch unterschiedlich akzentuiert – miteinander zu kombinieren und zu verbinden. Die Soziologin Carol Hagemann-White erkennt die Notwendigkeit »[…] die kulturelle Gestaltung des Geschlechts konsequent im Wechselverhältnis von strukturierenden Bedingungen und handelnden Individuen zu denken, und dabei das Ineinander greifen unterschiedlicher Differenzaspekte in den Blick zu nehmen.« (Hagemann-White 2006, S. 85)

Ein gelungener Versuch einer solchen Kombination ist meines Erachtens der Ansatz von Faulstich-Wieland, welche interaktionistische Theorie mit dem Habitusansatz von Bourdieu zusammenbringt. Sie geht davon aus, dass Sozialisationsprozesse in beziehungsweise durch die alltägliche Lebensgestaltung vermittelt werden und dabei dennoch immer wieder neu ausgehandelt werden. Kinder erhalten mit der Geburt geschlechtsspezifische Namen, werden entsprechend ihrem Geschlecht gekleidet und auf geschlechtsadäquate Verhaltensweisen getrimmt. Schon im zweiten Lebensjahr entwickeln Kinder geschlechtsspezifische Verhaltensweisen, erworben durch direkte oder indirekte Erfahrungen und erlernen dadurch, sich dem eigenen Geschlecht angemessen zu verhalten (vgl. Bussey / Bandura 1999, S. 694ff.). Solche geschlechtsadäquaten Verhaltensweisen werden dann positiv begleitet, im Gegensatz zum abweichenden Fall des geschlechtlich inadäquaten Verhaltens von Kindern. Wer sich nicht wie ein richtiger Junge oder ein richtiges Mädchen verhält, wird abqualifiziert und als Baby behandelt, zu klein um die Regeln zu verstehen. Dadurch werden wiederum gleichgeschlechtliche Kontakte gefördert und damit auch geschlechtstypische Verhaltensweisen verstärkt (vgl. Rohrmann 2008, S. 76ff.). Dies wird dann fälschlicherweise von Erziehern und Eltern gerne als Ausdruck eines tatsächlichen biologischen Unterschiedes wahrgenommen (vgl. Faulstich-Wieland 2008, S. 243). Diese geschlechtstypischen Verhaltensweisen sind jedoch konstruiert beziehungsweise werden in Interaktionsprozessen erst hergestellt und fortlaufend im Sozialisationsprozess wiederholt, indem sich Mädchen als Mädchen und Jungs als Jungs inszenieren und das andere Geschlecht als distinktiv erleben. Dieser Prozess ist es, was unter dem Begriff ›doing gender‹ (vgl. West / Zim-

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merman 1987; Gildemeister 2008) verstanden wird: Geschlecht als Produkt sozialer Konstruktion. Diese ständige Reproduktion von geschlechtsadäquaten Verhaltensweisen, von Goffman auch »Genderismus« (Goffman 1994, S. 113) genannt, verbindet Faulstich-Wieland mit dem Habitusansatz von Bourdieu beziehungsweise einem geschlechtlichem Habitus oder Geschlechtshabitus. Durch das Aufwachsen in der Familie und die alltäglichen Gewohnheiten sowie unhinterfragte Selbstverständlichkeiten erwirbt das Kind schnell einen (geschlechtlichen) Habitus, der dann selbst geschlechtsspezifische Verhaltensweisen produziert beziehungsweise sich selbst reproduziert (vgl. Faulstich-Wieland 2008, S. 241). Das ›doing gender‹ liegt nicht ausschließlich im Ermessen des sozial Handelnden, denn dessen Spielraum ist durch den Habitus begrenzt. Michael Meuser beschreibt diesen Umstand in seiner Studie zum männlichen Habitus zutreffend: »Der geschlechtliche Habitus ist Basis von ›doing gender‹, garantiert als ›modus operandi‹ dessen Geordnetheit. Für das Individuum bedeutet das: Im Habitus hat es ein Geschlecht [›modus operatum‹], indem es ein Geschlecht ›tut‹ [›modus operandi‹]. Insofern als dieses Tun nicht voluntaristisch beliebig ist, sondern im Rahmen des Habitus geschieht, ist Geschlecht – obwohl dem Individuum als Merkmal zugeschrieben – keine individuelle Eigenschaft. Andererseits reproduziert sich der Habitus nur im Handeln, sodass Geschlecht nicht etwas dem Handeln der Akteure Externes ist.« (Meuser 1998, S. 113)

Nach Bourdieu ist der Mensch allein schon durch seine körperliche Existenz Teil der sozialen Welt, mit der er von klein an durch Blicke, Bewegungen und Gesten interagiert. Diese soziale Welt wird tagtäglich inkorporiert, die Interaktion des ›doing Gender‹ erfolgt dann entlang dieser vorstrukturierten Praxis, welche im Individuum steckt, aber nicht vom Individuum stammt, sondern nach dessen Schemata das Individuum sein Denken und Handeln ausrichtet (vgl. Engler 2008, S. 252f.). In seinem Aufsatz ›Die männliche Herrschaft‹ stellt Bourdieu dar, dass diese so omnipräsent ist und als naturgegeben wahrgenommen wird, weil sie Teil des Habitus ist und im Habitus sich wiederum reproduziert, ohne dabei als strukturierende Macht wahrgenommen zu werden (vgl. Bourdieu 1998, S. 166–173). Das Grundschemata dieser Herrschaft ist dabei die Herstellung eines allgegenwärtigen Geschlechtsdualismus, in dem sich männlich und weiblich diametral entgegenstehen, d.h. was nicht männlich ist, ist weiblich und umgekehrt. Der männlichen Herrschaft entspricht die weibliche Unterwerfung, der starke Mann steht der schwachen Frau vor. Die Liste solcher Dichotomien könnte endlos fortgesetzt werden: »Das Klassifikationsschema, in dem männlich und weiblich als binäre Opposition konstruiert ist, geht in den Habitus ein und wird angewendet, um unsere Sicht der Welt hervorzubringen.

186 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG Als Oppositionsschema ist es in ein unerschöpfliches System homologer Opposition verstrickt, die ›einander wechselseitig verstärken‹.« (Engler 2008, S. 254)

Ein Gedankenexperiment Bourdieus soll zeigen, wie allgegenwärtig dieses Schema anzutreffen ist, wie selbstverständlich es wirkt und immer auch Ausdruck symbolischer Gewalt und Herrschaft zu verstehen ist: »Bitten Sie einen Kellner im Restaurant, Ihnen Käse und Desserts zu bringen. Sie werden beobachten, dass er in fast allen Fällen spontan die salzigen Speisen den Männern und die Süßen den Frauen serviert« (Bourdieu 1997, S. 92). Dem Mann wird also das Deftige, der Frau das Süße zugeordnet. Wenn der Habitus als »in den Körper eingeschrieben, inkorporierte Geschichte« (Engler 2008, S. 253) oder als »das Körper gewordenen Soziale« (Bourdieu / Wacquant 1996, S. 161) zu verstehen ist, dann ist davon auszugehen, dass gerade im Körperlichen, im Körperbild und im Nahrungsverhalten das dichotome Herrschaftsverhältnis der Geschlechter abgebildet und sichtbar wird. Dabei erscheint es wiederum als so natürlich, dass es nicht als solches erkannt wird und durch eine »Naturalisierung der Differenz« (Gildemeister 2008, S. 141) erhalten und fortgesetzt wird. Deshalb sind Anlagetheorien, welche von einer Natur der Frau beziehungsweise des Mannes ausgehen, auch gern gelesen und beliebt, da sie bestätigen, was den Menschen als naturgegeben erscheint. Dies ist der Habitus Bourdieus, als »einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte« (Bourdieu 1987, S. 105). Bevor nun auf geschlechtsspezifische Körperbilder und Ernährungsweisen eingegangen wird, soll noch ein kurzer Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des Geschlechterverhältnisses gegeben werden. Im Zuge der Modernisierung und der damit einhergehenden Veränderungen im alltäglichen Leben, den Paarbeziehungen, den Familienformen und Arbeitsverhältnissen etwa, hofft Hannelore FaulstichWieland darauf, dass bisherige Geschlechtsverhältnisse obsolet und neu verhandelt werden (vgl. Faulstich-Wieland 2008, S. 251). Hagemann-White sieht ebenfalls einen Wandel in der Geschlechterhierarchie, allerdings keinen Wandel der Substanz, sondern der Form. Auch sie konstatiert die veränderten Lebensbedingungen und Möglichkeiten der heutigen Frauen, sieht aber fortbestehende geschlechtsspezifische Belastungen, welche in der Moderne nicht mehr offensichtlich, sondern verdeckt zum Tragen kommen: »Alle sozialen Zuschreibungen an weibliche Positionen und Rollen haben ihre Verbindlichkeit verloren […]. Zugleich ist aber die Basiskategorie Geschlecht erhalten geblieben, womöglich fester als je zuvor, weil das handelnde Individuum, das sich dazu entschließen soll Führungskraft zu werden oder Elternzeit zu nehmen, ohne Geschlecht nicht denkbar und nicht erfahrbar ist – denn ein Individuum lebt nur in einem Körper. Und bei aller Verschiebung hin zur Präsentation und bewussten Gestaltung des Körpers hat er offenbar eine basale, tragende Bedeutung.« (Hagemann-White 2006, S. 83)

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Der Körper an sich und die Körperbilder und -vorstellungen, welche generiert werden, bilden zentrale Kategorien von Weiblichkeit und Männlichkeit ab. Ernährung ist dabei immer auch Mittel, um diese Körperbilder zu gestalten und dadurch wird in der Ernährung auch der Geschlechtsdualismus besonders deutlich. 6.7.2 Geschlechtsspezifische Körperbilder, Wertorientierungen und Ernährungsweisen Körpernormen und Körperbilder sind immer stark von Schönheitsidealen geprägt. Diese sind interkulturell verschieden und auch abhängig von den jeweiligen geschichtlichen Epochen, so dass etwa das hier und heute verpönte Übergewicht in anderen Kulturen oder Zeiten Ausdruck von Schönheit und Attraktivität waren oder sind (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 102). Konstant blieb dabei immer die Bedeutung und Bindekraft solcher Körpernormen und Schönheitsideale, insbesondere für Frauen. Das heutige Ideal eines schlanken und jugendlichen Körpers hat für Frauen eine weitaus größere »Wirkungsmacht« (Prahl / Setzwein 1999, S. 106) als für Männer. Diese Wirkungsmacht nimmt ihren Einfluss schon in den ersten Jahren der Pubertät. Jedes vierte 12 bis 17-jährige Mädchen hat schon Diäterfahrung und im letzten Jahr ein oder mehrere Diäten probiert. Bei den männlichen Jugendlichen ist der Anteil geringer, nur jeder zehnte Junge im gleichen Alter hatte eine Diät zur Gewichtsreduktion ausprobiert (vgl. Mensink et al. 2007, S. 76). Der Gedanke an das Gewicht ist ständiger Begleiter vieler junger Frauen, wie die 19-jährige Julia im Interview erklärt: »Ich habe auch viele Freundinnen, die wirklich extrem auf das Essen achten. Die essen kein Stück Pizza nebenbei oder kaufen sich mal in der Stadt schnell irgendwo chinesische Nudeln, ohne da vorher viel darüber nachzudenken.« (Interview 8, Julia, Z. 194ff)

Auch von Essstörungen sind junge Frauen signifikant häufiger betroffen, fast 30 Prozent aller Mädchen zeigen Symptome einer Essstörung, Jungen sind nur halb so oft betroffen (vgl. Hölling / Schlack 2007, S. 795). Junge Mädchen und Frauen sind dem Druck des Schönheits- beziehungsweise Schlankheitsideals deutlich stärker unterworfen: »Das sieht man schon, in meinem Alter gilt es als attraktiver, schlank zu sein. Das dann bei den Mädchen in meinem Alter ein gewisser Druck vorhanden ist, gerade bei denen, die eigentlich, wenn sie normal essen würden, ganz anders aussehen würden. Dieses mager sein, das ist zurzeit auch so aktuell, ziemlich angesagt. Das Tragen enger Leggings, dieses magere oder knabenhafte Figur bei Frauen, ich glaube, das ist wieder im Kommen. Und es hat halt mal nicht jeder eine knabenhafte Figur.« (Interview 8, Julia, Z. 215ff.)

188 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Prahl / Setzwein erklären diesen Unterschied damit, dass der Wert von Frauen vor allem über das Aussehen erfolgt, über deren Attraktivität, während Männern eine ganze Reihe von Kompensationsmöglichkeiten in Form von Geld, Erfolg oder Statussymbolen zur Verfügung steht. Für Frauen war und ist Schönheit immer noch häufig Mittel zur Sicherung des materiellen und sozialen Status (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 107). Ein Status, der dann freilich von der Anerkennung oder Ablehnung des anderen Geschlechts abhängig ist und somit einer hierarchischen Geschlechterbeziehung Vorschub leistet: »Kulturelle und gesellschaftliche Bilder weiblicher Körperlichkeit, wie sie in westlichindustriellen Gesellschaften vorherrschen, sind stark geprägt durch Schönheitsideale und einen spezifischen Bezug zum anderen Geschlecht. Dieser Bezug sieht nicht zentral ebenbürtige Wechselseitigkeit und Selbsttätigkeit vor, sondern für Frauen, trotz deutlicher Veränderungen im Geschlechterverhältnis in den letzten drei Jahrzehnten, eine Wendung von Aktivität zu Passivität, zum Sich-zum-Objekt-Machen, zum Objekt männlicher Blicke und männlichen Begehrens.« (Flaake 2001, S. 113)

Diese Hierarchie der Körper und Geschlechter findet ihren Ausdruck im körperlichen Umgang, in der Körperhaltung oder Körpernutzung, immer entlang des Oppositionsschemas von Mann und Frau. Der kräftige Händedruck, der aufrechte Gang, die männliche Art und Weise zu sitzen oder der direkte Blick zum Gegenüber signalisieren Männlichkeit. Dementsprechend sind es weiche, zarte Körperhaltungen, Gestiken und Mimiken, welche als weiblich gelten: der entsprechende Gang, der weiche Händedruck, das Aufschauen oder das Niederschlagen der Augen. So entsteht eine spezifisch weibliche und männliche »somatische Kultur«6 (Boltanski 1976, S. 153), ein Habitus des Körpers, den Bourdieu Hexis7 nennt. Eine Hexis, die nicht als soziokulturelles Konstrukt, sondern als natürliche Gegebenheit wahrgenommen wird, als grundlegende Muster, welche die Hierarchie der Geschlechter abbilden (vgl. Setzwein 2004, S. 89). Diese spezifischen Körperleitbilder werden von Jungen und Mädchen sehr früh verinnerlicht und bleiben dann zeitlebens bestehen: »Die für die Einzelnen nie zu erreichenden Idealformen und Körperleitbilder, die ja erst in ihrer lückenlosen Erfüllung die gesellschaftliche Minderbewer-

6

Luc Boltanskis Artikel ist sehr eng an Bourdieu angelehnt. Unter »somatischer Kultur« versteht Boltanski einen spezifischen Kodex für den Körperumgang innerhalb bestimmter sozialer Gruppen, welche etwa schicht- oder geschlechtsspezifisch sein können, ähnlich dem Hexisbegriff von Bourdieu (vgl. Boltanski 1976, S. 154ff.).

7

Das griechische Hexis wird von Bourdieu in Abgrenzung zum lateinischen Habitus vor allem in körperlichen Zusammenhängen benutzt, als Körperhabitus beziehungsweise körperliche Hexis (vgl. Bourdieu 1982, S. 254, 283).

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tung zu kompensieren versprechen, werden zum zentralen Faktor lebenslanger Selbstdisziplinierung« (Sobiech 1994, S. 247). Für Mädchen und Frauen ist die Körpersozialisation dabei von weitaus größerer Bedeutung als für Jungen und Männer, da Männer zum einen – wie erwähnt – eine Fülle an Kompensationsmöglichkeiten nutzen können, um mangelnde körperliche Attraktivität auszugleichen. Zum anderen, da Frauen in weit größerem Umfang ihren Status über ihren Körper beziehen, der Selbstwert der Frau in starkem Maß von ihrer körperlichen Attraktivität abhängt. Diese Attraktivität wird jedoch von Männern bewertet, so dass Frauen mit Beginn der Pubertät einem stetigen Druck ausgesetzt sind, die gesellschaftlich dominierenden Körperideale zu erfüllen. Diese Abhängigkeit von der Gunst des anderen Geschlechts führen zu tiefgreifender Verunsicherung. Mit Beginn der Pubertät steigt die Bedeutung des eigenen Aussehens und Körpers, die Schönheitsideale werden zum kaum verwirklichbaren Anspruch und zur Quelle von großen Selbstzweifeln, die danach fragen, ob man denn diesen Ansprüchen gerecht wird. Im Laufe der Adoleszenz sinkt dabei bei einem Großteil der Mädchen das Selbstwertgefühl, ihre schulische Leistungen werden als unbedeutender empfunden, das Aussehen gewinnt dagegen enorm an Bedeutung (vgl. Flaake 2001, S. 114f.). Der Körper der Frau wird zum Kapital, die Attraktivität des Körpers zu einer bedeutenden Quelle von Selbstwertgefühl. Daraus resultiert eine Körperzentrierung8 der Frau, welche versucht, ihren Körper gemäß den von Männern definierten Schönheitsnormen zu gestalten. Körperliche Aktivität, vor allem aber die Art und Weise sich zu ernähren, erhält dadurch für Frauen eine enorme Bedeutung, über welche versucht wird, bestehende Schönheits- und Körperideale zu erreichen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 8

Diese Körperzentrierung ist für Prahl / Setzwein eine »patriarchale Strategie«, welche die Handlungsenergien von Frauen und damit deren Potenzial an den Körper bindet. Der Schlankheitskult wird als Programm erachtet, welches Frauen in neue Schranken zwingt. Naomi Wolf, auf welche sie sich berufen, sieht das Aufkommen des Schlankheitsideals nicht zufällig in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich die Frauen in den westlichen Gesellschaften gerade das Wahlrecht erkämpft hatten: »Die massive Reduzierung des Normalgewichts bürdete den Frauen, genau zu dem Zeitpunkt, als sie genügend Freiheit erlangt hatten, das alles hinter sich zu lassen, neue Spielarten eines reduzierten Selbstbewusstseins, Kontrollverlust und sexuelle Scham auf. Auf elegante Weise wurde ein allgemeiner Wunsch erfüllt: Indem man das Normalgewicht einfach zehn bis fünfzehn Pfund unter dem Durchschnittsgewicht der meisten Frauen ansetzte und weibliche Formen mit der neuen Definition ›zu dick‹ versah, erreichte man, daß eine Welle von Selbsthaß die Frauen der Ersten Welt erfaßte, daß eine reaktionäre Psychologie perfektioniert wurde und ein neuer Industriezweig sich etablieren konnte. Aalglatt konterte man den über Jahre anhaltenden Anstieg erfolgreicher Frauen damit, daß man sie mit der Überzeugung versah, sie seien Versager auf einem Gebiet, das implizit als weiblich galt«. (Wolf 1992, S. 262)

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108f.). Es ist deshalb kaum wunderlich, dass Frauen sich anders ernähren und ein anderes Ernährungsbewusstsein haben als Männer, da für diese die Form und Schönheit des Körpers eine immensere Bedeutung haben als für Männer. Die Art und Weise sich zu ernähren ist dabei immer eine Art des »doing gender«, bei der geschlechtliche Identität durch spezifische Wertorientierung konstruiert wird. So werden Frauen, welche kleine Portionen beziehungsweise Nahrungsmengen zu sich nehmen, als weiblicher und attraktiver wahrgenommen, als Frauen, die normale oder größere Mengen zu sich nehmen (vgl. Chaiken / Pliner 1987). Die herrschende Vorstellung ist einfach, dass Männer aufgrund des durchschnittlich höheren Gewichts und der Differenzen in der Körpergröße mehr essen müssen, kräftigere Nahrungsmittel und mehr Fleisch als Frauen brauchen. Tatsächlich ist der energetische Grundumsatz von Frauen im Durchschnitt etwas kleiner als der von Männern, da letztere einen höheren Anteil an Muskelmasse haben, durchschnittlich größer sind und ein höheres Körpergewicht haben (vgl. Biesalski / Grimm 2007, S. 26ff.). Aus dem tatsächlichen Umstand, dass Frauen im Mittelwert einen geringeren Energiebedarf haben, wird dann eine ›natürliche Regel‹, welche die Varianz des Durchschnittswertes völlig ausblendet und für alle Frauen, unabhängig ihrer tatsächliche Größe und ihres tatsächlichen Bedarfs, gültig wird: »Dass es jedoch auch umgekehrte Verhältnisse und vor allem einen erheblichen Bereich der Überschneidung gibt, in dem sich gleich große Männer und Frauen von ähnlicher Statur finden, wird zugunsten der markanten Differenz ausgeblendet, welche die ›kulinarischen Geschlechterglaubensvorstellungen‹ beherrscht.« (Setzwein 2004, S. 173)

Diese konstruierten Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Ernährung prägen dabei nicht nur die verzehrten Mengen und Portionen, sondern auch das, was gegessen wird und wie es gegessen wird. Betrachtet man das Verzehrverhalten von Mann und Frau, finden sich typisch weibliche und typisch männliche Präferenzen bei Nahrungsmitteln und Gerichten. In zahlreichen Studien zeigt sich dabei, dass Frauen einen Ernährungsstil pflegen, der deutlich ›gesundheitsbewusster‹ ist als der der Männer, also näher an Vorgaben der Ernährungsmedizin und Beratung, gekennzeichnet durch einen höheren Verbrauch von Obst und Gemüse sowie einem geringeren Konsum von Wurstwaren, Fleisch und Fetten sowie Alkohol (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 29–57). Frauen kaufen zudem häufiger biologisch produzierte Lebensmittel als Männer (vgl. Rohlfing 2010, S. 33ff.). Exemplarisch zeigen sich die unterschiedlichen Präferenzen der Geschlechter an der Verzehrhäufigkeit von Gemüse und Fleisch. Der tägliche Gemüsekonsum ist in den mittleren Altersklassen bei Männern deutlich geringer als bei Frauen. Erst im Alter schließen die Männer beim Gemüseverzehr wieder auf. Beim Fleisch ist der Verbrauch in allen Altersgruppen deutlich geschlechtsspezifisch, vor allem junge Frauen essen weit weniger Fleisch als junge Männer:

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 191

Abbildung 13: Verzehrhäufigkeit von Gemüse nach Alter und Geschlecht (»täglich«)

Quelle: Heseker 1994, S. 50

Abbildung 14: Verzehrhäufigkeit von Fleisch nach Alter und Geschlecht (»täglich«)

Quelle: Heseker 1994, S. 48

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Auch andere Studien bestätigten diese Tendenzen, wonach Frauen eher Obst, Gemüse und Käse präferieren, Männer dagegen vor allem Wurst und Fleisch bevorzugen, und dies schon in jungen Jahren (vgl. Diehl 1999a). Eine schon in die Jahre gekommene Studie zu geschlechtsspezifischen Speisepräferenzen von Diehl zeigt immer noch eindrucksvoll die geschlechtsspezifischen Vorlieben in der Nahrungswahl: Abbildung 15: Geschlechtsspezifische Speisepräferenzen Speisen, die Frauen signifikant stärker präferieren Folienkartoffeln Kartoffelbrei Gebackene Nudeln mit Zutaten Pellkartoffel mit Quark Dampfnudeln mit Vanillesauce Nudelauflauf Eierpfannkuchen mit Fleischfüllung Italiensicher Salat Zucchini Spaghetti mit Hackfleisch-Tomatensauce Bohnensalat Heiße Apfeltasche Überbackener Toast Reissalat Apfelstrudel Kabeljau / Schellfisch, gegrillt Kohlrabi Zwetschgenknödel Müsli Rotkraut, gekocht Risotto Fleischfondue in Öl Chicorée, gekocht / gebraten Nudelsalat Salzmandeln Hühnerfrikassee Spinat Kartoffelsuppe Kartoffelauflauf Fischfilet, gedünstet Karpfen, gebacken Blumenkohl, überbacken Rote Beete Rotkrautsalat Gurkensalat Nudeln

Speisen, die Männer signifikant stärker präferieren Jägerschnitzel Currywurst mit Brötchen Rindswurst mit Pommes frites Currywurst mit Kartoffelsalat Schweinesülze Schlachtplatte Currywurst mit Pommes frites Rebhuhn, gebraten Pfeffersteak Bauerngröstl Zigeunerschnitzel Hirschgoulasch Schweinshaxe Ochsenschwanzsuppe (Tütensuppe) Porridge Hirschfilet Rehgoulasch Austern Hammelkotelett Hirschbraten Wildschweinfilet Bockwurst mit Brötchen Hammelragout Hasenbraten Rumpsteak Leberkäse Wildschweingulasch Wildschweinbraten Rindswurst mit Kartoffelsalat Erbsensuppe Erbseneintopf Bratwurst mit Pommes frites Lammkotelett Eisbein Kalbshaxe Sellerie

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Heilbutt, gebraten Grießbrei mit süßer Zutat Käsesalat Scholle, gebraten Matjes, nach Hausfrauenart

Strammer Max Rindersteak Bockwurst mit Pommes frites Erdnüsse, gesalzen

Quelle: Diehl 1983, S. 305

Dabei gab es natürlich auch Speisen, bei welchen keine signifikanten Geschlechtsdifferenzen festzustellen waren. Interessant sind jedoch vor allem die Speisen, bei denen dies der Fall war. Frauen bevorzugen einen Mix aus Gemüse, Kartoffel-, Nudel- und Fischgerichten sowie Salate und Süßspeisen. Die Speisen, welche Männer signifikant bevorzugen, sind dagegen an einer klaren Kernkategorie orientiert, nämlich Fleisch. Auffällig ist dabei, dass es sich oft um rotes Fleisch (Rind, Kalb, Schwein, Lamm) handelt beziehungsweise der Anteil an Wildgerichten (Hirsch, Reh, Wildschwein) enorm ist, Fleischsorten die wiederum bei Frauen nicht selten Abscheu erregen. Das einzige Gemüse, welches Männer präferieren, ist Sellerie. Fisch ist nicht dabei, dafür Austern. Diese Präferenzen dürften jedoch nicht am leckeren Geschmack von Austern und Sellerie liegen, der besonders Männer anspricht, sondern eher daran, dass der Volksmund beiden Speisen potenzsteigernde Wirkung nachsagt. Die männlichen Vorlieben basieren vor allem darauf, die Kraft des männlichen Körpers zu reproduzieren und Fleisch spielt bei dieser Konstruktion geschlechtlicher Identität eine ganz entscheidende Rolle. Fleisch wird seit jeher mit Kraft, Stärke, Potenz und Macht verbunden9. Vor allem rotes Fleisch, gerne am Stück und noch etwas blutig10, gilt als das typische männliche Nahrungsmittel, Virilität zum Einverleiben (vgl. Prahl / Setzwein 1999,

9

Die Bedeutung des Fleisches als Machtsymbol ist heute nicht mehr unumstritten. Fleisch ist ein Massenprodukt geworden, welches allzeit verfügbar ist und dessen Wert, Ansehen und Image am Sinken ist (vgl. Fiddes 1993, S. 274f.). Immer mehr Einfluss gewinnen Ansätze und Forderungen, welche mit einer sozialökologischen Argumentation für einen Fleischverzicht beziehungsweise einen geringeren Konsum von Fleisch plädieren (vgl. dazu Absatz 8.3.3).

10 Weit verbreitet ist die Annahme, dass rotes Fleisch rot ist, weil es blutig ist. Die rote Färbung kommt jedoch vor allem vom Protein Myoglobin, welches sich im Muskelfleisch befindet und dem Blutfarbstoff Hämoglobin ähnlich ist. Der Myoglobingehalt im Muskel hängt von der Beanspruchung der Muskeln, der Art der Muskelfasern und dem Alter der Tiere ab, so dass ältere Tiere dunkleres Fleisch haben als jüngere, und Muskelfleisch, welches öfter beansprucht wird, dunkler ist als solches, welches kaum genutzt wird. Deshalb ist die Brust von Masthühnern, die sich kaum bewegen, weiß, während die umherfliegende Taube rotes Brustfleisch hat (vgl. Barham 2004, S. 102f.).

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S. 79). Ein Ansatz der kulturanthropologischen Forschung geht davon aus, dass es in der Menschheitsgeschichte durch den Wandel von der Treibjagd zur Pirschjagd11 zu einer Aufgabenteilung der Geschlechter kam, welche den Mann in die alleinige Rolle des Jägers brachte (vgl. Mellinger 2003, S. 25). Dadurch gewannen die männlichen Jäger Verfügungs- und Verteilungsgewalt, welche zu diesen Zeiten auch über Leben und Tod entscheiden konnte. Fleisch wurde zum männlichen Nahrungsmittel und zum natürlichen Symbol von Macht und Herrschaft über die Natur (vgl. Fiddes 1993, S. 64). Heute ist Fleisch für jedermann verfügbar. Allerdings essen Männer immer noch deutlich mehr Fleisch und auch statushöhere Fleischprodukte wie Steaks und Filet als Frauen. Prinzipiell steht der Zugang zum Fleisch jedoch beiden Geschlechtern gleichermaßen offen. Anders verhält es sich bei der Herstellung und Verarbeitung von Fleisch, beim Schlachten und Zerlegen. Dies ist weiterhin traditionelle Männerdomäne, während Frauen, die schlachten, töten, schneiden und zerlegen an Tabus rühren (vgl. Setzwein 2004, S. 134). Es ist quasi ungeheuerlich und unweiblich, eine Frau beim Verrichten dieser Arbeit zu sehen oder sich vorzustellen. Das Schlachten steht symbolisch für die Unterwerfung der Natur durch den Menschen, genauer, durch den Mann. Die Beherrschung und Unterwerfung wird aus der Überlegenheit des Kulturellen gegenüber der Natur abgeleitet. Aus dieser Natur-Kultur-Dichotomie wird auch die Nachrangigkeit des Weiblichen abgeleitet, da Frauen aufgrund biologischer Funktionen, wie des Gebärens und Stillens des Säuglings als naturnäher kategorisiert werden, während der Mann eine eher kulturelle Wertigkeit erhält (vgl. Ortner 1974, S. 74ff.). Die Hierarchie der Kultur gegenüber der Natur führt so zur Hierarchie des kulturellen Mannes gegenüber der naturnahen Frau. Deshalb ist das Töten und Zerlegen von Tieren weiterhin eine männliche Aufgabe, da so symbolisch die Unterwerfung der Natur beziehungsweise des Naturnahen, also auch der Frau, fortgeführt wird: »Die Verteidigung des männlichen Privilegs auf das Töten und Zerlegen der Tiere kann damit als Absicherung der männlichen Vorrangstellung im Verhältnis der Geschlechter gelesen werden: Legte man die Messer in weibliche Hände, geriete die symbolische Geschlechterordnung aus den Fugen. Dies vor allem auch deshalb, weil der Verfügung über Fleisch zugleich eine sexuelle Komponente innewohnt.« (Setzwein 2004, S. 135)

11 Man geht davon aus, dass bei der Triebjagd auch Frauen und Kinder beteiligt waren, und die Menschen in lärmenden Gruppen das Wild in Schluchten und ähnliche Fallen trieb. Mit dem Rückgang des Großwildbestände entwickelte sich die Pirschjagd, bei der das selten gewordene Wild aufgespürt und aufgelauert werden musste, eine Art der Jagd bei der lärmende Kinder stören und diese deshalb mit ihren Müttern im Lager blieben (vgl. Mellinger 2003, S. 25).

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Die Verbindung von Sexualität und Fleisch zeigt sich dabei vor allem in der Sprache. Frauen werden mittels Tiernamen beschrieben, sind Küken, Hündin, Stuten, Häschen, Mäuschen oder Kätzchen. Männer gehen auf die ›Jagd‹ nach ›weiblicher Beute‹, Frauen werden zu ›Frischfleisch‹ und ›Freiwild‹ erklärt, welches ›gezähmt‹, ›zugeritten‹ und ›vernascht‹ werden kann. Vor allem in der Pornografie werden solche Assoziation offensichtlich, wenn Ketten, Peitschen und Halsbänder zum Einsatz kommen und Frauen wie ein Stück Fleisch betrachtet und behandelt werden, welches der (Macht-)Lust und dem Genuss des Mannes dient (vgl. Fiddes 1993, S. 177f.; Setzwein 2004, S. 135f). Nick Fiddes beschreibt das Verhältnis Geschlecht / Fleisch und die dahinter stehenden Machtansprüche treffend: »Männer sind Fleisch in dem Sinne, daß Fleisch voller Kraft ist, wogegen Frauen es in dem Sinne sind, daß es ein Ausdruck von Kraft ist, ihr Fleisch zu konsumieren« (Fiddes 1993, S. 184). Vor dem Hintergrund der Parallele der Nutzung von der Unterwerfung des Tieres und der Frau sieht die Feministin Carol Adams in der vegetarischen Lebensweise eine Möglichkeit des Aufbegehrens und der Ablehnung der herrschenden Geschlechterordnung. Das Ablehnen des Fleischgenusses symbolisiert die Ablehnung der männlichen Verfügungsgewalt über den weiblichen Körper (vgl. Adams 2010, S. 216ff.). Diese Theorie eines feministischen Vegetarismus erscheint auf den ersten Blick plausibel, da in den modernen westlichen Gesellschaften die vegetarische Lebensweise vor allem von Frauen praktiziert wird. Setzwein geht aufgrund der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Vegetarier, welche vor allem weiblich, jung und gut gebildet sind und eine Nähe zu alternativen Lebenswelten pflegen, davon aus, dass der Fleischverzicht auch mit egalitären Tendenzen im Geschlechterverhältnis einhergeht. Eine vegetarische Bewegung als Abwehr der männlichen Geschlechtshegemonie sieht sie jedoch nicht. Sie verweist darauf, dass die Entstehungsgeschichte vegetarischer Lebensweise im Deutschland des 19. Jahrhunderts vor allem Ausdruck sozialer Konflikte zwischen den Klassen waren und die Anhängerschaft vegetarischer Ernährung sich vor allem aus dem männlichen, kleinbürgerlichen Milieu speiste (vgl. Setzwein 2004, S. 138f.). Sie stimmt mit Barlösius darüber ein, dass sich die vegetarische Bewegung vor allem aus sozialen Aufsteigern speiste, für die die vegetarische Lebensweise einerseits »kulturelle Selbstbehauptung« (Barlösius 1997, S. 170) gegenüber dem etablierten Bürgertum, andererseits auch Mittel zur »kulturellen Verbürgerlichung« (Barlösius 1997, S. 171) in Abgrenzung zum Proletariat war. Die vegetarische Lebensweise war also ursprünglich geprägt von sozialen Fragen und nicht von Konflikten der Geschlechter. Auch aus meiner Sicht – jedoch aus einem anderen argumentativen Blickwinkel – ist die These eines feministischen Vegetarismus schwer haltbar. Im Gegenteil, es lassen sich auch starke Anhaltspunkte dafür gewinnen, dass der moderne, weiblich geprägte Vegetarismus geradezu Ausdruck und freilich unbewusste, Akzeptanz der männlich dominierten Geschlechterhierarchie ist. Meines Erachtens erfolgte die Feminisierung des Vegetarismus in etwa zur selben Zeit, zu welcher der Kult um

196 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

den Körper immer größere Bedeutung gewann. War das Einwirken auf den Körper zwar schon seit der Antike gängig, erhielt die Pflege und Darstellung des Körpers in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts einen bis heute anhaltenden enormen Aufschub (vgl. Schroer 2005, S. 34f). Seitdem wird auf vielfältigste Art und Weise versucht den Körper gemäß bestimmter Schönheitsideale durch bewusste Ernährung, Diäten, Fitnesstraining, Schönheitsoperation zu formen: »Der Körper erscheint nicht mehr länger als biologische Gegebenheit, mit der man alternativlos zu leben hat. Vielmehr wird es möglich, ihn neu zu gestalten, zu verändern und zu erweitern« (Schroer 2005, S. 35). Dies gilt mittlerweile vermehrt auch für Männer, für Frauen jedoch in weit größerem Umfang, wie an anderer Stelle schon ausgeführt. Die Bedeutung des Körpers und die Möglichkeit diesen zu verändern, oder der Druck diesen angemessen zu gestalten, dürfte gerade für junge Frauen ungeheuer groß sein. So kam es mit dem Einsetzen des Körperkultes und Schlankheitsideals auch zu einem deutlichen Anstieg von Essstörungen (vgl. Absatz 6.8) wie etwa der Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), ein Krankheitsbild, welches bis Ende der siebziger Jahre weitgehend unbekannt war (vgl. Pirke 2004, S. 332). Das Schlankheits- und Schönheitsideal ist von ungeheurer Wichtigkeit, da das körperliche Erscheinungsbild auch über den Erfolg oder das Scheitern in Beruf, Beziehung und Freizeit abhängt (vgl. Schroer 2005, S. 38). Die an anderer Stelle beschriebene Körperfixierung der Frau, die Schönheits- und Schlankheitsideale, führen dann zu einer spezifisch weiblichen Ernährung, die oftmals als ›gesundheitsorientiert‹ beschrieben wird. Dass sich Frauen nach den Maßstäben der Ernährungsmedizin gesünder ernähren, ist belegt, die dahinterstehenden Motive sind allerdings eher ästhetischer als gesundheitlicher Art, das heißt Frauen wählen diese Ernährungsweise nicht, um vor allem gesünder, sondern schöner zu sein (vgl. Setzwein 2004, S. 179). Während Männer vor allem das essen, was ihnen schmeckt und dabei weniger auf ihre Ernährung achten, ist es bei Frauen umgekehrt. Frauen achten auf ihre Ernährung und ihre Figur und richten danach, und nicht am Geschmack, ihren Speiseplan aus (vgl. Noelle-Neumann 1993, S. 225, 295). Gerade im jugendlichen Alter sind Frauen (und Männer) verunsichert. Eine spezifisch als weiblich erscheinende Art der Ernährung dient dann zur Konstruktion weiblicher Identität und dem Gewinn von Anerkennung (vgl. Kolip 1997, S. 74–80, 98ff.). So kann meiner Ansicht nach eine vegetarische Ernährung auch als eine konsequente Form weiblicher Ernährungsweise gesehen werden. Natürlich gibt es auch eine nicht geringe Anzahl männlicher Vegetarier und eine Vielzahl verschiedener Motive12 für den Verzicht auf Fleisch. Das Geschlecht als 12 Als Hauptbewegründe nennt Claus Leitzmann vor allem ethisch-philosophische Gründe und gesundheitliche Gründe (vgl. Leitzmann 2007, S. 15), ähnlich der Studie von Kristin Mitte und Nicole Kämpfe, welche von hauptsächlich emotionalen, moralischen und gesundheitlichen Motiven spricht (vgl. Mitte / Kämpfe 2006). An den Motiven wird auch nicht gezweifelt, allerdings die These aufgestellt, dass die vordergründigen Motive auch von im Hinter-

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›heimliche‹ Motivation wurde in seiner Bedeutung bisher meist übersehen, obwohl einiges dafür spricht, dass spezifisch weibliche Körper- und Ernährungsideale eine bedeutende Einflussgröße für eine vegetarische Ernährungsweise bei Frauen ist. Aufschlussreich ist dabei auch die Altersstruktur13 der Vegetarier: Abbildung 16: Altersstruktur der Vegetarier

Quelle: Mitte / Kämpfe 2007 grund wirkenden Strukturen geprägt werden. Interessant sind Hinweise darauf, dass für Frauen emotionale und moralische Gründe wichtiger sind als für männliche Vegetarier, bei denen gesundheitliche Überlegungen ein größeres Gewicht haben. Möglicherweise konstruiert nicht nur die fleischlose Ernährung weibliche Identität, sondern wird auch durch eine als feminin geltende Motivation, der Empathie und dem Mitgefühl mit den Tieren, hergestellt. Eine genauere und tiefgründige Untersuchung von vegetarischer Lebensweise und Geschlecht ist dringend nötig, da dies bisher, wenn überhaupt, nur sehr oberflächig geschah. 13 Die Daten wurden im Rahmen einer Online Befragung gewonnen. Es ist also wahrscheinlich, dass vor allem junge, internetaffine Vegetarier daran teilgenommen haben, so dass die Daten mit Vorsicht zu genießen sind. Allerdings liefern sie, auch in Ermangelung anderer, repräsentativer Datensätze, einen guten Anhaltspunkt, um sich einen Einblick über die sozialstrukturelle Zusammensetzung von Vegetariern zu verschaffen. Ausgewertet wurden die Daten von 2517 Teilnehmern, von denen 70 Prozent weiblich waren. In anderen Studien wird das Verhältnis Frau-Mann meist mit 60 zu 40 angegeben (vgl. Leitzmann 2007, S. 38). Setzwein geht davon aus, dass die Geschlechter noch deutlich weiter auseinander liegen, wenn man auch alternative Ernährungsweisen mit nur eingeschränktem Fleischverzehr miteinbeziehen würde (vgl. Setzwein 2004, S. 137).

198 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Es sind vor allem junge Frauen und Mädchen, welche sich für eine vegetarische Lebensweise entscheiden, beginnend mit dem Einsetzen der Pubertät und einem Höhepunkt zwischen 20 und 30 Jahren. Danach sinken die Zahlen kontinuierlich. Je nach Definition sind also 80 bis 90 Prozent aller Vegetarier im gebärfähigen Alter. In dem Alter, in welchem die Partnersuche, Partnerwahl und Familiengründung naturgemäß am bedeutendsten ist, sind auch die allermeisten Vegetarier zu finden. Zu dem Zeitpunkt also, in dem die eigene, weibliche Attraktivität sehr bedeutend ist, um einen attraktiven männlichen Partner und potentiellen Kindesvater zu finden, ernähren sich Frauen am ehesten vegetarisch, also an typisch weiblichen Ernährungsweisen orientiert. Der Verzicht auf Fleisch wird dabei kaum als solcher empfunden, da Frauen ohnehin weniger Fleisch essen oder teilweise gar eine ›natürliche‹ Abscheu gegenüber Fleisch entwickeln: »Fleisch, die nahrhafte Kost schlechthin, kräftig und Kraft, Stärke, Gesundheit und Blut schenkend, ist das Gericht der Männer, die zweimal zugreifen, während die Frauen sich mit einem Stückchen begnügen; das bedeutet nun nicht, daß sie etwas im strengen Sinne entbehrten – sie haben nur wirklich keine Lust auf etwas, das den anderen fehlen könnte, nicht zuletzt den Männern, denen Fleisch per Bestimmung zukommt, und gewinnen so gewissermaßen Ansehen aus einem Verhalten, das als ›Entbehrung‹ von ihnen nicht empfunden wird; mehr noch, ihnen fehlt der Geschmack ›für Männerkost‹; wenn übermäßig von Frauen genossen, […] kann sie sogar Ekel erregen.« (Bourdieu 1982, S. 309)

Frauen essen weniger oder immer öfter gar kein Fleisch, weil ihnen sozialisationsbedingt die Affinität fehlt, welche Männer zum Fleisch haben. Zum Teil entsteht daraus eine regelrechte Abneigung gegenüber Fleisch, deren Herkunft den Frauen unklar ist, wie auch in einem geführten Interview exemplarisch deutlich wird: »Vom Geschmack, ich esse mittlerweile ziemlich wenig Fleisch, weil es mir nicht so schmeckt, lieber Fisch. Ich mag auch kein rohes Fleisch anfassen und mag es auch nicht am Stück, also Steak ekelt mich eher an. Mit Fleisch habe ich immer mehr meine Probleme, merke ich, aber nicht wegen dem Fett, gesund wäre es ja eigentlich.« (Interview 8, Julia, Z. 229ff.)

Wenn Fleisch Männlichkeit symbolisiert, dann produziert entsprechend der These vom Dualismus der Geschlechter der Verzicht auf Fleisch eine Aura der Weiblichkeit14 und verspricht schlanke, für Männer attraktive Körper. Meine Hypothese ist deshalb, dass eine vegetarische Ernährungsweise nicht als symbolischer Protest 14 Die weibliche Aura ist dann auch der Grund, warum männliche Vegetarier, oder, Männer, welche auf Alkohol (ein anderes, beliebtes Mittel zur Herstellung von Männlichkeit) verzichten, oftmals verspottet und beargwöhnt werden (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 80f.)

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gegen die herrschende Geschlechterordnung (vgl. Adams 2010), sondern als Anpassung an die bestehende Hierarchie zu werten ist. Eine Hierarchie, die freilich kaum bemerkt wird, sind die jungen Frauen, die sich vegetarisch ernähren, doch meist gut gebildet und durchaus im ›landläufigen Sinne‹ emanzipiert. Der große Einfluss des Geschlechtskörpers bleibt dabei verborgen und die Ernährungsweise erscheint als alleiniger Akt des freien Willens. Hagemann-White spricht in diesem Zusammenhang von einer »Verdeckung der Hierarchie« (Hagemann-White 2006, S. 79) und meint damit spezifische Belastungen im Leben der Frauen, die heute im Verborgenen weiterwirken. Schlankheitsdiäten oder eine ›bewusste Ernährung‹ sind für sie keine Konsequenzen allgemeinen Wohlstandes, dieser verdeckt nur den wahren Beweggrund, die basale Bedeutung des Geschlechtskörpers (vgl. Hagemann-White 2006, S. 80f., 85). Auch bei der Entscheidung junger Frauen für eine vegetarische Lebensweise dürfte meines Erachtens diese Bedeutung eine große Rolle spielen. Mit dem Fleischverzicht konstruieren junge Frauen eine weibliche Identität und erhöhen mit einer vegetarischen Lebensweise ihr ›Körperkapital‹. Dieser geschlechtsspezifische Habitus, der als Ausdruck persönlichen Geschmacks wahrgenommen wird, erhält umso mehr Bedeutung, umso relevanter der Körper und dessen Attraktivität wird. Natürlich stellen auch Männer über Genuss- und Nahrungsmittel Geschlechtsidentität her, immer in Opposition zum anderen Geschlecht: »Entlang der Achse von »starker« und »schwacher« Nahrung finden sich zentrale geschlechtlich konnotierte Oppositionen in den Gegenüberstellungen von vegetabiler und carnivorer Kost, leichter und schwerer Küche, süßen und scharfen Speisen.« (Setzwein 2004, S. 183)

Fisch etwa ist eine Speise, die nicht als ›echtes‹ Fleisch gilt, zudem als nicht gerade sättigende und kräftigende Speise. Nicht zuletzt aber auch die Art und Weise, mit der Fisch gegessen wird, ist schwer vereinbar mit klassischen männlichen Verzehrweisen: »Nicht zuletzt aber will Fisch auf eine Weise gegessen sein, die in allem dem männlichen Essen zuwider läuft; mit Zurückhaltung, maßvoll, in kleinen Happen, durch sachtes Kauen mit Vordermund und Zungenspitze [wegen der Gräten]. In beiden Arten des Essens steht die gesamte männliche Identität – und das heißt: Virilität – auf dem Spiel.« (Bourdieu 1982, S. 308)

Männliche Nahrung und männliche Verzehrweise muss Stärke demonstrieren, weibliche Nahrung fällt dann der Gegenpol zu. So sind das Naschen und der Verzehr von Süßwaren und Süßspeisen nicht zufällig eine weibliche Passion, gilt insbesondere Schokolade als typisch weibliche Leckerei und Laster15. Frauen sind ›süß‹ 15 Bis zum 18.Jahrhundert war Schokolade etwas exklusives, dass vor allem von männlichen, erwachsenen Aristokraten verzehrt wurde. Erst im 19.Jahrhundert wurde Schokola-

200 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

und werden von Männern bei Gefallen anerkennend als ›süßes Mädchen‹ bezeichnet. Vor allem im englischen Vokabular finden sich vielerlei Beispiele für die Verbindung von Süße und Weiblichkeit, wie etwa ›Honey‹, ›Sugar‹, ›Sweetheart‹ oder ›Sweetie‹ (vgl. Sandgruber 2004, S. 392). Die Nascherei und der Verzehr von Süßigkeiten sind dabei nicht nur weiblich konnotiert, sondern sie sind auch mit kindlichen Assoziationen belegt. Kinder und Frauen haben also die gleiche ›Schwäche‹ und dies nicht zufällig: »In dem Maße, so das Argument, in dem sich die in Schokolade schwelgende Frau in ihrer Lust am Süßen gehen lasse, die Praline zum Seelentröster wähle und sich damit kulinarische Streicheleinheiten verschaffe, setze sie – gewollt oder ungewollt und dem um Süßigkeiten bettelnden Kind nicht unähnlich – ihre Schwäche und ihre Abhängigkeit von Zuwendung und Belohnung in Szene.« (Setzwein 2004, S. 184)

Weiblicher Essstil überschneidet sich immer wieder mit kindlichen Ernährungsweisen, worin Setzwein einen Ausdruck der Nachrangigkeit von Frauen und Kindern gegenüber Männern sieht. Ähnlich den Kindern und Frauen geschieht dies auch bei alten Menschen, die typische Ernährung aller drei Gruppen ist charakterisiert durch eine milde, leichte und bekömmliche Kost, in kleineren Portionen und wenig Fleisch (vgl. Setzwein 2004, S. 184). Der geringere Konsum von Fleisch wird dabei oft durch medizinische Argumente rationalisiert. Dabei wird verschleiert, dass es sich bei Gruppen mit eingeschränktem Fleischverzehr um diejenigen handelt, welche gesellschaftlichen Machtpostionen eher fern stehen (vgl. Fiddes 1993, S. 189). Aus dieser Sicht ist der gemaßregelte Fleischverzehr als Ausdruck zur Aufrechterhaltung hierarchischer Verhältnisse zu deuten, bei der eine schwache oder starke körperliche Konstitution, einer schwachen beziehungsweise starken sozialen Position und diese wiederum schwacher oder starker Nahrung entspricht. Das ›Doing-gender‹ konstruiert dabei eine Geschlechterhierarchie, die in der Ernährung vor allem auf den gesellschaftlichen Vorstellungen und Wertungen des Geschlechtskörper basiert (vgl. Setzwein 2004, S. 184f.). Die geschlechtsspezifischen Vorlieben und Abneigungen der Geschlechter sind dabei nicht als Ausdruck eines Unterschiedes zu sehen, vielmehr wird durch diese Vorlieben der Unterschied zwischen den Geschlechtern geschaffen und täglich reproduziert. Der Geschmack wird über das de zum beliebten Präsent und Getränk für Kinder und Frauen. Der Schokoladenkonsum der Männer zu dieser Zeit war gering, und über Marketingaktionen wie dem Verkauf von Bitterschokolade unter dem Begriff Herrenschokolade sowie dem Einsatz von Schokolade als nahrhafte Militärverpflegung wurde versucht, die Schokolade ›an den Mann zu bringen‹. Relativ vergeblich, noch in den 1990er Jahren wurde 40 Prozent der Schokolade von Kindern und Jugendlichen und weitere 35 Prozent von erwachsenen Frauen verzehrt, nur 25 Prozent der Schokolade ging an Männer (vgl. Sandgruber 2004, S. 394).

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Körpergeschlecht und dessen Interpretation ausgehandelt und konstruiert und bezieht daraus auch seine Natürlichkeit als ›typisch‹ weiblicher oder männlicher Geschmack: »Die in diesem Zusammenhang zentrale Dimension des Geschmacks erfährt im Fall des Essens und Trinkens dabei eine ganz besondere Zuspitzung: Hier fallen die physischen Schmeckempfindungen mit den sozialen Geschmacksurteilen zusammen: Auf diese Weise wird eine intensive leibliche Verankerung geschlechtsstiftender Routinen hervorgebracht, die sich im Ernährungshandeln perpetuiert.« (Setzwein 2004, S. 187)

6.7.3

Geschlechtsspezifische Zubereitungsarten und Verzehrsituationen

Wenn Männer bei den ersten warmen Temperaturen große Säcke mit Kohle und Fleischpakete ins Freie schleppen, weiß man(n), dass die Grillsaison begonnen hat. Männer, die sich sonst eher weniger für die Zubereitung des Essens am heimischen Herd begeistern können, werden an der frischen Luft zu begeisterten Hobbyköchen. Die Kohle ranschaffen, Glut entfachen, die richtige Grilltemperatur erreichen, Fleisch marinieren und auf den Rost legen und dann schön kross grillen, typische Männeraufgaben bei einem Grillvergnügen, welches sich kaum ein Mann nehmen lässt, schon gar nicht von einer Frau. Diese sind meist ohnehin beschäftigt, sie machen Salate, decken den Tisch, räumen ab und haben gar keine große Lust am Grillrost zu stehen. Die Aufgaben sind zwischen den Geschlechtern klar verteilt, so die Soziologin Nina Degele, Leiterin des Forschungsprojekts ›Grillen und Lebensstil‹ an der Universität Freiburg (vgl. Handelsblatt 2004). Was sich anhört wie ein stereotypes Klischee, kann man jederzeit wieder aufs Neue in der Realität beobachten. Das Hantieren mit Feuer und rohem Fleisch wird als archaisch und männlich empfunden und eignet sich deshalb bestens, um Geschlechtsidentität herzustellen (vgl. Handelsblatt 2004). Dies geschieht jedoch nicht nur durch archaische Symbolik von Fleisch und offenem Feuer, welches das Freiluftgrillen16 auszeichnet, sondern auch die damit verbundene und hergestellte Öffentlichkeit. Setzwein sieht diese im doppelten Sinne, zum einen, da das Grillen selbst in Gemeinschaft mit anderen stattfindet, zum anderen, weil der Garprozess des Fleisches ebenfalls sichtbar und nicht verborgen in Topf oder Pfanne ist. Das Grillen in Gemeinschaft von Bekannten, Freunden oder Familie schafft dabei eine offene, entspannte Atmosphäre. Legere Kleidung und wenig Konventionen prägen

16 Andere Arten des Grillens, wie etwa der Einsatz elektronischer Tischgrills oder Küchenherden mit Grillfunktion sind für die Darstellung von Männlichkeit ungeeignet. Das ›männliche‹ Grillen ist ›Freiluftgrillen‹ (vgl. Setzwein 2004, S. 190).

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das Grillen im Gegensatz zu den Benimmregeln und Tischsitten im Hause. Mit den Händen essen, mit dem Essen nicht auf andere warten und mit der Bierflasche in der Hand von Gast zu Gast schlendern, sind beim Grillen geduldete, wenn nicht gar erwünschte Verhaltensweisen, die in anderem Kontext als ungehobelt und ungebührend empfunden würden. Diese Ungezwungenheit, das Natürliche, Raue und Authentische entspricht nach Setzwein der traditionellen Männerkultur und bedingt zum Teil die Beliebtheit des Grillens bei Männern (vgl. Setzwein 2004, S. 190f). Noch viel bedeutender ist die Öffentlichkeit als Möglichkeit der männlichen Präsentation und Selbstdarstellung. Das Grillen ist dann Möglichkeit der Statusaufwertung, wenn ein Publikum anwesend ist, welches dem Grillenden Anerkennung und Respekt zollen kann. Dieses Muster ist meines Erachtens grundlegend und auschlaggebend für männliches Engagement in der Küche. Nur dort, wo Beifall geklatscht wird, wird der Mann gerne den Kochlöffel in die Hand nehmen17. Petra Frerichs und Margareta Steinrücke fanden in ihrer qualitativen Studie heraus, dass Frauen vor allem das (all-)tägliche Kochen im familiären Rahmen übernehmen, welches an Aspekten der Versorgung und Gesundheit orientiert und dabei eher pragmatisch und unspektakulär daher kommt. Männer dagegen kochen für Gäste, die nicht dem innersten Familienkreis zuzurechnen sind, es werden besondere Speisen gekocht, spezielle Fertigkeiten und Küchenkenntnisse werden zelebriert und soziale Kontakte gepflegt. Dies gilt nicht für alle Männer gleichermaßen. Männer aus dem Arbeitermilieu18 kochen so gut wie gar nicht, da dies als Frauensache erachtet wird, während mit steigendem sozialen Status auch die Männer kochen und das Kochen dabei selbst mehr und mehr zum Mittel von Distinktion und zu einem »männlichem Spiel« (Frerichs / Steinrücke 1998, S. 254) wird. In diesem Spiel geht es dann weniger darum, die Gäste möglichst ansprechend zu sättigen, sondern darum, die Gäste dazu bekom17 Natürlich ist das Kochen für Gäste auch für die Frau eine Möglichkeit, Anerkennung durch die Demonstration der Kochkünste zu erreichen. Setzwein sieht jedoch aufgrund des »Minderheitenstatus« kochender Männer eine größere Anerkennung für diese, da Männer nicht nur Anerkennung für ein gelungenes Gericht bekommen, sondern allein schon dafür, dass sie als Männer auch am Herd stehen und überhaupt kochen können und wollen (vgl. Setzwein 2004, S. 193). 18 Frerichs / Steinrücke sehen in der alleinigen Zuständigkeit der Frau für das Kochen in Arbeiterfamilien eine komplementäre Arbeitsteilung, bei der der Mann arbeitet und die Frau sich um die Aufgaben des Haushaltes kümmert, ohne dass dabei eine hierarchische Dimension oder Bewertung zu Tage treten würde. Diese Einschätzung erscheint mir als eine sozialromantische Darstellung der ›einfachen Leute‹, und zurecht weist Setzwein darauf hin, dass allein der Umstand, dass die außerhäusliche Arbeit des Mannes bezahlt ist, im Gegensatz zur häuslichen, unbezahlten Arbeit der Frau, eine enorme hierarchische Komponente darstellt (vgl. Setzwein 2004, S. 192).

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men, dass sie den Koch bewundern. Frauen dagegen kochen im Alltag, vor allem unprätentiöse, gesunde Gerichte aus ihrem Erfahrungsschatz, Männer eher außergewöhnliche Gerichte, gerne für Gäste und bestreiten auf der Basis von »quasi intellektuell angeeignetem (Koch-)Buchwissen« (Frerichs / Steinrücke 1998, S. 254) den Konkurrenzkampf in der Küche, in dem sie sich beweisen können. Männlichkeit und sozialer Status durch Darstellung des Küchen-Know-How werden demonstriert. Das weibliche Kochen aus Notwendigkeit wird zu einem männlichen Hobby, bei dessen Ausübung zuweilen auch ganz auf Frauen verzichtet wird, wie die Journalistin Marie über ihren beruflich-erfolgreichen Freund und Hobbykoch erzählt: »Das heißt einfach Männerkochen. Und die treffen sich jede Woche wieder, mal dort und mal da, und machen Männerkochen. Nur Männer – Frauen sind nicht zugelassen – und dann kochen die die ausgeflipptesten Sachen. Da gibt es mal Hirsch und dann mal dies und das, ich bin nie dabei gewesen.« (Interview 5, Marie, Z. 394ff.)

Die auf Anerkennung ausgerichtete männliche Kochkunst zeigt sich auch in der Spitzengastronomie. Freilich ist kochen dort kein Hobby, sondern dem Selbstverständnis der Köche nach eine Kunst, bei welcher der mit Sternen dekorierte Koch dem Gast am Tisch eigenhändig einen Strich aus blauem Kartoffelpüree auf den Teller ›malt‹. Wo die Öffentlichkeit und Anerkennung am größten ist, in der Sterneküche, tummeln sich auch nur Männer. Unter den 225 deutschen Sterneköchen befinden sich gerade einmal acht Frauen, die jeweils einen Stern haben (vgl. Gourmet Globe – Die Zeitung für Genießer 2010), also gerade einmal 3,6 Prozent aller Sterneköche sind weiblich. Die Abschiebung der Frau ins Häusliche, Private hat dabei schon jahrhundertelange Tradition. Insbesondere ab dem 17. Jahrhundert, mit dem Aufkommen des Bürgertums, wurden in den bürgerlichen Familien vermehrt Frauen als Köchinnen engagiert. Der bürgerliche Kochstil diente dabei sowohl der Abgrenzung gegenüber den bäuerlichen Schichten nach unten, als auch gegenüber dem luxuriösen Kochgebaren der Aristokratie und war charakterisiert als natürlicher, gesunder Kochstil. Männliche Köche, die teurer waren, kochten vor allem in aristokratischen Häusern, nach der französischen Revolution dann in den überall entstehenden Restaurants und sahen sich als Kochkünstler, zuständig für den außeralltäglichen Genuss. Die billigeren, weiblichen Köche in den bürgerlichen Haushalten waren dagegen eher kochende Haushälterinnen, die sich an bürgerlichen Werten wie Reinlichkeit, Sparsamkeit und Ordnungssinn orientierten und in der Küche auf gesunde Weise die alltäglichen Nahrungsbedürfnisse befriedigen sollten. Frauen kochten vor allem zur Befriedigung der körperlichen Nahrungsbedürfnisse, während ihre männlichen Kollegen für die Befriedigung der Sinne und des Genusses zuständig waren (vgl. Barlösius 1991, S. 213ff.). Eine Struktur, die auch heute noch weitgehend intakt ist,

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eine Struktur, die der Frau das Notwendige, Häusliche und Alltägliche zuweist, und den Männer das Künstlerische, Öffentliche und Außergewöhnliche zuschreibt. Setzwein beschreibt diesen Dualismus anhand der Geschichte des Kaffeekonsums. Als Anfang des 17. Jahrhunderts die ersten Kaffeehäuser eröffneten, waren dies Männerdomänen und wurden schnell zum wichtigsten Ort, der sich neu herausbildenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Erst nach und nach eroberten auch die Frauen den Kaffee für sich, weniger über den Weg in das Kaffeehaus, der ihnen größtenteils verwehrt war, sondern über die ›Kaffeekränzchen‹ zu Hause. Kaffee wurde vom ›intellektuellen‹ und ›radikalen‹ Getränk der Herrenrunden zum Teil familiärer Kultur, zu einem Getränk, das am besten in weiblicher Runde mit einem Stück Kuchen beim ›Kaffeeklatsch‹ schmeckte. Idealtypisch betrachtet erkennt Setzwein, dass das weibliche, im privaten Raum stattfindende Kaffeekränzchen, welches auch mittlerweile in Kaffees und Konditoreien durchaus in der Öffentlichkeit stattfindet, durch die Art und Weise der dabei betriebenen Kommunikation weiterhin geschlechtsspezifisch geprägt ist. Klatschgeschichten und Persönliches bestimmen die Gespräche, nicht das Neueste aus Politik und Wirtschaft (vgl. Setzwein 2004, S. 195f.; Sandgruber 2004, S. 394f.). Männer treffen sich dagegen in Kneipen, wo sie in geselliger, lockerer Runde Gemeinschaft erleben und beim Biergenuss das Tages- und Weltgeschehen diskutieren. Natürlich ist Setzwein klar, dass es sich hierbei um eine stereotype Darstellung handelt. Auch Männer treffen sich auf einen Kaffee und Frauen gehen abends aus und sprechen über politische Themen (vgl. Setzwein 2004, S. 194f.). Frauen dringen zunehmend in Bereiche19 vor, welche vor nicht langer Zeit als typisch männlich galten, wie etwa der Alkoholkonsum. Dieser wurde immer als Lust und Laster der Männer betrachtet und man schrieb es vornehmlich den männlichen Jugendlichen zu, den Übergang in den Erwachsenenstatus mit hohem Alkoholkonsum zu demonstrieren (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 91). Doch jetzt wird erstaunt festgestellt, dass der exzessive Alkoholkonsum bei Frauen und insbesondere jungen Mädchen in den letzten Jahren stark ansteigt. Abends ausgehen und sich betrinken ist schon lange kein exklusiv männliches ›Vergnügen‹ mehr. Die Zahlen junger Mädchen, die mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen, steigt rasant (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2009b)20. Die Gründe, die zur Erklärung gereicht wer19 Nach Setzwein dringen Frauen zunehmend in Männerdomänen ein, während Männer sich weiterhin deutlich zum ›Weiblichen‹ abgrenzen. Das männliche Festhalten am »Gleichheitstabu« erklärt sie damit, dass aufgrund der hierarchischen Geschlechterdifferenz Männer bei Angleichung etwas zu verlieren hätten, während Frauen durch das Vordringen in männliche Bereiche etwas zu gewinnen haben (vgl. Setzwein 2004, S. 195). 20 Die stark ansteigenden Zahlen junger Menschen (10–20 Jahre), die aufgrund Alkoholkonsums stationär behandelt werden, (Jahr 2000: 9514 / Jahr 2008: 25709) muss auch vor dem Hintergrund des gestiegenen medialen Interesses betrachtet werden. Aufgrund der starken

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den, sind verschiedenster Art und reichen von einem verändertem Rollenverständnis junger Frauen über vermutete psychische Probleme bis hin zum Gruppendruck (vgl. Müller-Lissner 2009; Haag 2007, S. 97f.). Hinter diesen Zahlen verschwindet jedoch die Tatsache, dass Frauen und auch junge Mädchen (vgl. Stolle / Sack / Thomasius 2009) weiterhin deutlich weniger Alkohol konsumieren als Männer21, welche im Schnitt immer noch fast vier Mal so viel Alkohol pro Kopf konsumieren als Frauen: Abbildung 17: Alkoholkonsum nach Geschlecht Durchschnittlicher Verzehr von alkoholischen Getränken (g / Tag) Männer Frauen Alkoholische Getränke 308 81 Davon: Bier 253 39 Wein, Sekt 47 38 Spirituosen 4 1 Sonstiges (Alkopops, 3 3 alkoholische Cocktails) Quelle: Max Rubner-Institut 2008, S. 55

Präsenz des Themas in der Berichterstattung von Zeitschriften, Radio und Fernsehen dürfte auch die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit diesbezüglich gestiegen sein, so dass Menschen eher als in früheren Jahren bei einer alkoholbedingten Symptomatik in ärztliche Behandlung gebracht werden. Ein vorsichtiges Indiz ist, dass auch in allen höheren Altersgruppen die Anzahl der Patienten mit Alkoholvergiftung gestiegen ist, in bestimmten Altersgruppen sogar in etwa im gleichen Maße wie bei Jugendlichen, doch können hierbei auch andere Faktoren eine Rolle spielen (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2009a). 21 Aus der Tatsache, dass junge Mädchen (10–14 Jahre) mittlerweile genauso häufig beziehungsweise sogar etwas häufiger wie gleichaltrige Jungen aufgrund von Alkoholintoxikationen behandelt werden (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2009b), wird oft der Trugschluss gezogen, es würden die gleichen Mengen getrunken. Dabei ist es so, dass Frauen aufgrund biologischer Anlagen weniger Alkohol vertragen als Männer, bei gleicher Alkoholmenge pro Kilogramm Körpergewicht also eine höhere Blutalkoholkonzentration haben als Männer. Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche allgemein Alkohol schneller aufnehmen und wenig daran gewöhnt sind. Diese Unerfahrenheit und Unkenntnis der körperlichen Vorrausetzung führt dann dazu, dass junge Mädchen schon nach relativ ›geringem‹ Alkoholgenuss Ausfallerscheinungen haben und in der Altersgruppe 10– 14, und nur in dieser Altersgruppe, mittlerweile öfter stationär behandelt werden als Jungen. In den folgenden Altersjahrgängen sind es dann wieder die Jungen, welche deutlich häufiger aufgrund akuter Alkoholintoxikation eingeliefert werden.

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Frauen trinken also nicht nur deutlich weniger, sondern auch anders als Männer. 80 Prozent des Alkoholverbrauchs nehmen Männer als Bier zu sich und nur zu 15 Prozent als Wein, während Frauen nur 48 Prozent des Alkohols in Form von Bier zu sich nehmen und dafür 47 Prozent über Weingenuss decken. Bier war und ist immer noch mit einem männlichen Image verbunden, und wer viel davon trinken kann, gilt als besonders kräftig und männlich (vgl. Sandgruber 2004, S. 399f.). Dass dies auch heute noch so ist, zeigt sich jedes Jahr zum Oktoberfest, wenn männliche Oktoberfestbesucher in ihren Erzählungen so gut wie immer die Anzahl der Biere aufzählen, die sie ›geschafft‹ haben. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind mittlerweile auch von der Werbeindustrie entdeckt worden, welche mit ›Gender food‹, also Lebensmitteln, die gezielt für männliche oder weibliche Konsumenten kreiert wurden, versuchen, Marktanteile zu vergrößern. So gibt es mittlerweile ein Bier namens ›EVE‹, speziell auf die vermeintlichen Bedürfnisse von Frauen abgestimmt. Beworben wird das Produkt, das aus Reis und Malz gebraut wird, von jungen Frauen, welche auch die Zielgruppe darstellen. Das schicke Getränk für die Frau, in der schlanken, schicken Flasche mit nur 3,1 Prozent Alkohol, hat einen leichten Fruchtgeschmack und dabei laut Hersteller 49kcal / dl, also Kalorien pro Deziliter (siehe www.cardinal-eve.ch). In dieser Angabeform erscheint es wenig, die Kalorienzahl ist aber genauso groß wie bei einem gewöhnlichen Bier. Wie erfolgreich sich dieses Getränk in der Zielgruppe etablieren kann, bleibt abzuwarten. Festzuhalten bleibt jedenfalls eine ambivalente Entwicklung bei geschlechtsspezifischen Verzehrsituationen und Verhaltensweisen. Einerseits gehen Frauen heute selbstverständlich in Kneipen und Wirtshäuser, trinken dort öffentlich Alkohol und holen auch bei der Menge des konsumierten Alkohols auf. Andererseits kann auch die steigende Zahl von jungen Frauen und Mädchen mit Alkoholexzessen nicht darüber hinweg täuschen, dass Frauen weiterhin einen deutlich geringeren Alkoholkonsum als Männer haben und auch weiterhin bestimmte Arten von Alkohol meiden oder präferieren beziehungsweise der übermäßige Alkoholgenuss bei Frauen ganz anders und vor allem negativer bewertet wird als der von Männern (vgl. Haag 2007, S. 51). Ähnliches gilt in der Küche, wo immer häufiger auch Männer den Kochlöffel schwingen, was bei oberflächlicher Betrachtung als Angleichung der Geschlechter beziehungsweise als Egalisierung ehemals bestehender Differenzen betrachtet werden kann. Dabei sind Motive und Situationen, bei denen Mann kocht, deutlich andere als bei Frauen. Männer erkochen sich Prestige und Ansehen, während Frauen vor allem die gewöhnliche Nahrungsversorgung im Alltag übernehmen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind nicht mehr so grob und offensichtlich hierarchisch wie noch vor einigen Jahrzehnten, sondern sind feiner geworden. Von einer Nivellierung jedoch ist man weit entfernt, die Unterschiede wirken im Verborgenen weiter und erhalten so eine Persistenz, da durch die »Verdeckung der Hie-

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rarchie« (Hagemann-White 2006, S. 79) die Unterschiede kaum mehr als solche wahrgenommen und kritisiert werden.

6.8 ABWEICHENDES E RNÄHRUNGSVERHALTEN – E SSSTÖRUNGEN 6.8.1 Krankheitsbild Essstörung Das Abweichen von gängigen Ernährungsnormen ist kein neuzeitliches Phänomen. Die Reduzierung der Nahrungsaufnahme bis hin oder gar über das lebensnotwendige Minimum hinaus hat eine lange Tradition in der religiösen und mystischen Askese und diente in vielen Kulturkreisen als Technik zur Herstellung transzendenter Erfahrungen und Visionen. Auch das Verschlingen großer Mengen von Nahrungsmitteln mit darauf folgendem Erbrechen, also das, was heute unter Ess-Brech Sucht verstanden wird, findet sich schon in den antiken Vomitorien Roms dokumentiert. Ob solches Verhalten nun als krankhaft pathologisiert oder sozial akzeptiert wird, hängt von soziokulturellen Umständen ab, die je nach Gesellschaft, Kulturkreis und Epoche variieren. Dazwischen gibt es zudem noch Fälle von abweichenden Ernährungsformen, die zwar an Tabus rühren, aber dennoch geduldet werden, allerdings nur in klar definierten und auch zeitlich begrenzten Ausnahmesituationen. Solche Ausnahmesituationen können Extremsituationen sein, bei denen, um zu überleben, sonst tabuisierte Nahrungsmittel wie etwa Insekten oder gar menschliche Leichenteile gegessen werden. Häufiger als solche Extremsituationen sind Abweichungen bei Schwangeren, deren Schwangerschaftsgelüste, welche sich in der Präferenz bestimmter und ungewöhnlicher Speisen sowie Verzehrorten und -zeiten manifestieren, den Frauen zur Bewältigung der Ausnahmesituation zugestanden wird (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 109ff.). Die größte Aufmerksamkeit von devianten Ernährungsverhalten wird heute allerdings den Essstörungen zu Teil. Dabei ist es gar nicht so einfach festzulegen, wo die Grenzen zwischen normalen und krankhaften Ernährungsverhalten sind, da die Übergänge fließend sind. Die spezifisch modernen Essstörungen wie Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brech Sucht (Bulimia nervosa) unterscheiden sich gegenüber älteren, asketisch-mystisch motivierten Essstörungen durch die überbewertete und irrationale Sorge um das Körpergewicht. Tillmann Habermas vertritt dabei die Theorie, dass mit Beginn der medizinischen Beschäftigung mit dem Phänomen Übergewicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit einhergehenden festgelegten (Über-)Gewichtsgrenzen, der Sorge um das Gewicht sowie der »Kulturtechnik des dafür eingesetzten Diäthaltens« eine besondere Legitimation zukam, was wiederum zur Verbreitung von Magersucht und Bulimie beigetragen

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haben könnte (vgl. Habermas 2008, S. 7). Diese beiden Erkrankungen sind es auch heute, welche im engeren Sinne als Essstörungen22 gelten. Bei beiden Erkrankungen kommt es zu einem stark veränderten Essverhalten, bedingt durch die Angst zu dick zu sein oder dicker zu werden. Die Betroffenen leiden unter psychischen Problemen, die auf den Körper beziehungsweise dessen Form übertragen werden. Die Betroffenen sind mit ihrem Körper unzufrieden und versprechen sich meist ein glücklicheres, erfolgreicheres Leben durch einen schlanken Körper (Zeeck 2008, S. 16, 21). Die häufigsten Essstörungen sind jedoch nicht Bulimie (Punktprävalenz23 für Frauen im Risikoalter zwischen 15–35 Jahren: ca. 1 Prozent) oder Magersucht (Punktprävalenz: ca. 0,4 Prozent) in ihrer vollen Ausprägungen (vgl. Fichter 2008, S. 41), sondern die weitaus größere Zahl von sogenannten ›atypischen‹ beziehungsweise ›nicht näher bezeichneten‹ Essstörungen, bei der nicht alle Kriterien der ›klassischen‹ Essstörungen auftreten, die jedoch zu ähnlich schweren Belastungen führen (vgl. Zeeck 2008, S. 16, 22). Die Ergebnisse aus dem Kinder und Jugendgesundheitssurveys (KiGGs) bezüglich Essstörungen im Kindes- und Jugendalter zeigen, dass mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen Symptome einer Essstörung zeigen (vgl. Hölling / Schlack 2007, S. 795). Diskutiert wird zudem, ob die ›Binge-Eating Störung‹ nicht mehr als atypische Störung, sondern als drittes, eigenständiges Krankheitsbild gelten soll. Bei dieser Binge-Eating Störung nehmen die Betroffenen, ähnlich den Bulimikern, in unkontrollierten Essanfällen große Mengen Nahrung zu sich, allerdings mit dem Unterschied, dass danach keinerlei Maßnahmen (sogenanntes Purging24-Verhalten) wie Erbrechen oder Konsum von Laxanzien (Abführmitteln) zur Vermeidung einer Gewichtszunahme ergriffen werden. Dabei sind die Übergänge zwischen Bulimie, Magersucht und atypischen Störungen oft fließend, wechseln sich bulimische, anorektische und auch atypische Phasen ab, so dass einige Forscher die Trennung aller drei Essstörungsformen aufheben wollen, und wie Christian Fairburn von der Universität Oxford mit Kollegen für ein »transdiagnostisches Modell« plädieren, bei dem von einem fließendem 22 Adipositas wird trotz der deutlich größeren Verbreitung in der Bevölkerung und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken nicht als Essstörung im klassischen Sinne gewertet. Adipositas ist keine psychische Erkrankung und damit keine Essstörung, sondern vielmehr ein Problem der modernen Industriegesellschaft, welcher immer mehr Nahrung bei gleichzeitigen Bewegungsmangel zur Verfügung steht (vgl. Zeeck 2008, S. 15) 23 Prävalenz ist die Gesamtanzahl der Krankheitsfälle in der Bevölkerung und wird zumeist in Prozent dargestellt. Die Punktprävalenz ist die Prävalenz bezogen auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehungsweise zum heutigen Zeitpunkt (vgl. Fichter 2008, S. 38). 24 Das englische Wort ›Purging‹ bedeutet ›Reinigung‹, und bezeichnet Maßnahmen, welche eine Gewichtszunahme vermeiden sollen, wie etwa selbstinduziertes Erbrechen oder der Einsatz von Abführmitteln (vgl. Zeeck 2008, S. 19).

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Übergang zwischen verschiedenen Formen der Essstörung ausgegangen wird (vgl. Fairburn et al. 2008, S. 582). Die Gründe und Faktoren, welche zu Essstörungen führen können, sind vielfältig und individuell verschieden und lassen sich somit nicht auf einzelne, spezifische Auslöser reduzieren. Die Forschung geht von einem komplexen Zusammenspiel von psychischen, sozialen und biologischen Faktoren aus. Der Einfluss genetischer Faktoren wird bei Magersucht auf etwa 50–75 Prozent geschätzt, ähnlich der Heritabilität bei Übergewicht, bei der Bulimie geht man von einem geringeren genetischen Einfluss aus. Ob diese genetischen Dispositionen dann zum Tragen kommen, hängt wiederum maßgeblich von Umwelteinflüssen und sozialisationsbedingten Faktoren ab. Eine bedeutende Rolle spielen hier etwa soziokulturelle Faktoren wie das in den industrialisierten Ländern vorherrschende Schlankheitsideal und psychosoziale Faktoren, wie das familiäre Umfeld, deren Beziehungsstrukturen sowie die individuelle psychische Konstitution (vgl. Zeeck 2008, S. 74ff.; Groß 2008, S. 55f.). Essstörungen beginnen meistens in der Pubertät, die Magersucht im Durchschnitt von 16 bis17 Jahren, die Bulimie etwa ein bis zwei Jahre später, betroffen sind vor allem Mädchen und Frauen, etwa 10 Prozent der Betroffenen sind Jungen und Männer (vgl. Zeeck 2008, S. 42). Die körperlichen und hormonellen Veränderungen der Pubertät sowie die psychischen Belastungen durch emotionale Unsicherheit und diffusen Identitätsvorstellungen während der Adoleszenz gehen einher mit ersten eigenständigen Lebensschritten, wie der Loslösung von den Eltern. Gerade Magersüchtigen gelingt der Übergang in diesen Lebensabschnitt unzureichend, sie haben häufig Angst vor dem Erwachsenwerden, den damit einhergehenden körperlichen Veränderungen, und der zunehmenden Eigenständigkeit und Verantwortung. Die sexuelle Entwicklung wird ebenfalls als beängstigend empfunden, Partnerschaften werden häufig viel später als von anderen Gleichaltrigen eingegangen. Die Magersucht bietet dann die Möglichkeit vor diesen Anforderungen zurückzuweichen, die Betroffenen hungern ihren Körper auf den eines hilfsbedürftigen Kindes zurück. Zudem verlieren sie alle weiblichen Formen und Rundungen, auch die Menstruation bleibt aus. Die Ablösung vom Elternhaus und die Entwicklung einer eigenständigen Identität wird ebenfalls aufgeschoben, da sich die Magersüchtige zwar durch die Essstörung von den Eltern distanziert, durch die Erkrankung und dem kindlich-hilfsbedürftigen Körper den Eltern weiterhin in kindlicher Weise verbunden bleibt. Auch bei Bulimie kann das Thema ›Erwachsen werden‹ eine Rolle spielen, doch gibt es hier auch Patientengruppen, für welche das Erwachsenwerden wenig bedeutsam oder problematisch ist. In diesen Fällen steht hinter der Essstörung zumeist ein großer Mangel an stabiler Identität und Selbstwertgefühl (vgl. Zeeck 2008, S. 56–60). Ein großer Teil der Bulimieerkrankungen beginnt mit Magersucht oder Diäten, welche zu Heißhunger führen. Daraus entwickelt sich der Teufelskreis der Bulimie, bei dem gehungert wird bis der nächste Essanfall folgt und die Betrof-

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fenen aus Angst vor Gewichtszunahme Erbrechen herbeiführen oder zu Abführmitteln greifen. Bulimische Menschen sind häufig perfektionistisch und leistungsorientiert, die ihre Essanfälle als Versagen erleben, wofür sie sich schämen und Schuldgefühle entwickeln. Die großen Ansprüche, ein von außen vorgegebenes Gewicht zu halten oder zu erreichen, welches unterhalb des persönlichen ›Set-Points‹ liegt, dem wahrscheinlich genetisch festgelegten optimalen Körpergewicht, können nicht erfüllt werden. Das Gewicht wird kontrolliert und es gelingt sogar häufig, die Kontrolle über längere Zeiträume aufrecht-, und die Angst vor dem zu dick werden klein zu halten. Doch Hunger und Appetit nehmen zu und irgendwann kommt es zur Heißhungerattacke. Dem Rausch des Genusses folgt dann wiederum die Scham und Angst, da das schlechte Selbstbild sich in der Zügellosigkeit bestätigt hat, als auch eine Gewichtszunahme droht, die dann mit selbstinduzierten Erbrechen verhindert werden soll (vgl. Groß 2008, S. 56; Zeeck 2008, S. 33ff.). Hauptbehandlungsmethode bei Essstörungen ist die Psychotherapie, der Einsatz von Medikamenten spielt dabei, wenn überhaupt, eine ergänzende Rolle. Während bei der Magersucht oftmals aufgrund des lebensbedrohlichen Untergewichts eine stationäre Behandlung nötig ist, kann die Bulimie, je nach Schwere des Falls, auch ausreichend mit relativ kurzer ambulanter therapeutischer Therapie behandelt werden. Psychologische Behandlung und Ursachenforschung ist unerlässlich für die Behandlung und Klärung der individuellen Einzelfälle. Daneben sollten Essstörung aber auch aus makroperspektivischer Sicht betrachtet werden, um so ein tieferes Verständnis für die hinter den manifesten Essstörungen der Individuen verborgenen, förderenden und aufrechterhaltenden Gesellschaftsstrukturen und Motive zu erkennen. 6.8.2 Makrosoziologische Erklärungsmodelle der Essstörung Die feministische Forschung richtet ihren Fokus nicht auf die privaten, psychosozialen Probleme und Ursachen, welche Essstörungen beim Individuum bedingen, sondern auf die gesellschaftlichen Machtstrukturen, welche Essstörungen erst ermöglichen beziehungsweise produzieren: »Frauen essen oder hungern nicht nur im Rahmen privater Beziehungen, sondern im Rahmen einer öffentlichen Gesellschaftsordnung, die ein materielles Interesse an ihren Eßproblemen hat« (Wolf 1992, S. 266). Wolf sieht in der Nahrung das Symbol, welches den Wert, den man innerhalb oder für eine Gesellschaft hat, ausdrückt. Derjenige, der als wertvoll erachtet wird, wird gut ernährt und ihm wird quantitativ wie qualitativ mehr zugeteilt. Wolf sieht im Hungern der Frau eine uralte Tradition, die Frauen in der ganzen Welt dazu verdammte, weniger und schlechter zu essen als Männer. Egal auf welchem Kontinent, egal zu welcher Zeit, wenn Nahrungsmittel knapp wurden, wurde zuerst an den Zu-

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teilungen der Frauen gespart (vgl. Wolf 1992, S. 268f.). Und auch heute, in der westlichen Konsum- und Überflussgesellschaft, essen Frauen weniger, gilt es als weiblich, kleinere Portionen und Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Früher allein in der Superiorität des Mannes begründet, bedient man sich heute rationaler Argumente gesundheitlicher Art, flankiert von Schlankheits- und Schönheitsidealen, um das mittlerweile ›freiwillige‹ Hungern der Frauen, welches sich in Essstörungen und weitverbreiteten Diäterfahrungen manifestiert, zu erklären. Die Paradoxie, dass Frauen in Gesellschaften hungern, in denen Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind, sieht Wolf als patriarchalische Strategie, welche Frauen von der Teilhabe gesellschaftlicher Macht abhält. Das Hungern ist für sie das »wirkungsvollste politische Sedativ in der Geschichte der Frau«, »Hunger reduziert das, worauf sich ein Verstand konzentrieren kann […]« (Wolf 1992, S. 264, 283). Kraft und Energie der Frauen werden mit dem alltäglichen Kampf um das Idealgewicht und Schönheit gebunden. Das Ideal eines schlanken Körpers führt dazu, dass es für viele junge Frauen und Mädchen zum Alltag gehört, stark auf die Ernährung zu achten. Diese somatische Kultur der Frau, in der Diäthalten zur Konstitution von Weiblichkeit dient, kann dann der Einstieg in die Essstörung sein. Diäten führen dazu, dass es zur Hungeradaption kommt, dass heißt, der Stoffwechsel verringert sich und passt sich an das mangelnde Nährstoffangebot an. Bei Nahrungszufuhr führt dieser niedrige Stoffwechsel dann zu einer beschleunigten Gewichtszunahme, welche wiederum zu neuen Diätphasen, Kontrollverhalten und Fixierung auf Nahrungsthemen zur Folge hat und in der Essstörung enden kann. Dass Essstörungen in allen Industrieländern häufiger auftreten als in Entwicklungsländern, legt die Vermutung nahe, dass es einen starken Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation eines Landes, dem dortigem Nahrungsangebot und dem vorherrschenden Schönheitsidealen gibt (vgl. Zeeck 2008, S. 48). Insbesondere Länder die sich rasant an westliche Werte und damit auch an westliche Medieninhalte und Schönheitsideale anpassen, scheinen besonders anfällig für Essstörungen. Naturgesellschaften ohne nennenswerten westlichen Einfluss, haben keinerlei Bezug zum Schlankheitsideal: Peruanische Indios bezeichneten den Gesundheitszustand der ihnen präsentierten weiblichen Silhouette eines Models als ›fast tot‹. Für die Bulimie gilt die kausale Verknüpfung zwischen einer Rezeption sehr schlanker Models und der Ausbildung von Bulimie als gesichert (Jäger 2008, S. 75ff.). Tilmann Habermas erklärt dies mit seinem kulturtheoretischen Ansatz, bei dem er davon ausgeht, dass Essstörungen nur unter spezifischen kulturellen Voraussetzungen auftreten, und dann als abweichende, jedoch auch anerkannte und etablierte Möglichkeit der psychischen Konfliktentlastung darstellt. Die Veränderungen der Lebensbedingungen der Frauen in den letzten Jahrzehnten, die Teilnahme an Bildung, am Arbeitsmarkt und der Loslösung aus traditionellen Geschlechter- und Familienrollen brachten völlig neue Leistungsanforderungen an die jungen Mädchen und Frauen mit sich (vgl. dazu Absatz 7.2.2). Weiterhin bestehen bleibt zudem der

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Druck dieser Mädchen und Frauen, attraktiv zu sein und dem Schönheits- und Schlankheitsideal zu entsprechen. Der Leistungsanspruch und Verantwortungsdruck bei der Gestaltung des individuellen Lebensentwurfs, kann dann gerade in der Adoleszenz so groß werden, dass durch deviantes Ernährungsverhalten eine Entlastung herbeigeführt werden soll (vgl. Habermas 1994, S. 190ff.). Die bulimische Person bricht durch Essanfälle und darauffolgendes Erbrechen die Regeln des gesitteten Essens und der Selbstkontrolle, und unterwirft sich ihnen gleichzeitig, durch die Anerkennung derselben durch die Scham und Schuldgefühle nach den EssBrech Anfällen (vgl. Habermas 1990, S. 113ff.). Das sich die Nahrungsaufnahme überhaupt dazu eignet, intrapsychische Spannungen abzubauen liegt daran, dass Essen und Trinken einem starken Prozess zunehmender Affekt- und Körperkontrolle unterliegt. Nicht nur bei den Tischsitten kam es zum schon beschriebenen Prozess der Zivilisierung (vgl. Absatz 5.4), sondern auch bei der Ess- und Trinklust selbst rückten Scham – und Peinlichkeitsschwellen vor, wurden und werden Lust– und Unlustempfindungen im Sozialisationsprozess von außen modelliert, bis sie als innerer Anspruch der Persönlichkeit selbst erscheinen (vgl. Elias 1993, S. 173). Je mehr im Sozialisationsverlauf die Triebe und Affekte des Kindes zurückgedrängt werden, umso stärker werden die einstigen Fremdzwänge später vom erwachsenen Individuum als Selbstzwänge wahrgenommen, die, um Scham und Peinlichkeit zu vermeiden, das Trieb- und Affektleben des Individuums bekämpfen. Als im Laufe des 18.–20. Jahrhunderts die Versorgungslage sich langsam so veränderte, dass nicht mehr der Mangel und Hunger Normalfall, sondern eine relativ sichere Nahrungsversorgung gewährleistet war, war der natürliche äußer Zwang des Hungers und Maßhaltens obsolet geworden. Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte die Medizin Übergewicht als Krankheitsbild und Auslöser, Übergewichtsgrenzen wurden festgelegt und damit einhergehend der Präventionsgedanke, die Gewichtskontrolle und das Diäthalten populär. Im Zug der damals immer restriktiveren Definitionen von Übergewicht und damit einhergehenden Fastenbemühungen entstand zu dieser Zeit auch die Magersucht in ihrer modernen Form, als Angst zu dick zu sein (Habermas 2008, S. 5, 6). Die Versuche von Kirche, Staat und Medizin, die Esslust zu kontrollieren wurden dabei von einer sich zunehmend differenzierteren Gesellschaftsstruktur begleitet und durchgesetzt. Die aufstrebenden bürgerlichen Schichten begannen aufgrund der immer besser werdenden Nahrungsmittelversorgung das Ernährungsverhalten des Adels zu imitieren, diesem reichte nun als Mittel der Distinktion die Quantität der Nahrung nicht mehr aus. Die Qualität der Lebensmittel wurde nun bedeutend, vor allem in seiner distinktiven Funktion. Der kultivierte Esser, der weiß was gut ist und wie es sich zu Speisen gehört, trat in Erscheinung, mit Verfeinerung und Mäßigung der Essgewohnheiten wurde auf den sozialen Konkurrenzkampf reagiert (vgl. Setzwein 2004, S. 277f.). Damit einher gehend setze sich der schlanke Körper beziehungsweise das Schlankheitsideal von der Oberschicht ausgehend als gesellschaftliches Leitbild

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durch. Essen und trinken war nicht mehr nur die Befriedigung des Esstriebes und der Esslust, sondern wurde mehr und mehr rationaler Kontrolle unterstellt, deren Motive bis heute die gleichen geblieben sind: Aufrechterhaltung und Herstellung von Gesundheit und Wohlbefinden, Körpergestaltung nach dem gesellschaftlichen Idealbild des schlanken, gesunden und attraktiven Körpers und Teilhabe an den Status und geschlechtsspezifischen Sozialbeziehungen (vgl. von Ferber 1980, S. 230– 235). Diese rationale Kontrolle entwickelte sich langsam zu einem Selbstzwang der Individuen, der nur unter großen Anstrengungen aufrecht zu halten ist: »Im historischen Prozess der zunehmenden Körper- und Affektkontrolle beim Essen etablierten sich also über einen langen Zeitraum hinweg soziale Normen, die an die Selbstdisziplin und -kontrolle der einzelnen Menschen immer härtere Anforderungen stellten. Und nur vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass abweichendes Essverhalten in Gestalt von Kontrollüberschüssen [Anorexie] und Kontrollverlusten [Bulimie, Ess-Sucht] zu geeigneten Instrumenten der intrapsychischen Konfliktentlastung werden konnten. Die Übertreibung der Selbstdisziplinierung durch eine Unterdrückung von Trieben und Bedürfnissen kann ebenso wie der temporäre Verlust der Selbstdisziplin als Ausdruck eines Kampfes gedeutet werden, den das Individuum mit der Umwelt um seinen Körper in und gegen sich ficht.« (Setzwein 2004, S. 279)

Dass 90 Prozent der Betroffenen Frauen sind, erklärt Setzwein damit, dass diese einem höheren Druck der Affekt- und Körperkontrolle unterliegen als Männer, da Status, Identität und Selbstwert der Frau in weit größerem Umfang von ihrem Körper bestimmt wird als bei Männern. Essstörungen sieht sie vor dem Hintergrund auch als »geschlechtskonforme, weibliche Lösungsstrategien« an, während Essstörungen dem männlichen Habitus zuwider laufe. Die betroffenen Männer sieht sie als »habituell verunsicherte Männer« (Setzwein 2004, S. 279), welche nicht über eine stabile, heterosexuell-männliche Geschlechtsidentität verfügen, eine These die auch darauf basiert, dass bi- oder homosexuelle Männer deutlich häufiger von Essstörungen betroffen sind als heterosexuelle Männer25. Barbara Mangweth-Matzek erklärt dies damit, dass homo- und bisexuelle Männer, ähnlich Frauen, ihren Körper stärker als sexualisiertes Objekt wahrnehmen, weist aber auch darauf hin, dass insbesondere der sexuellen Identität, im Sinne einer klaren Zuordnung zur Männlichkeit oder Weiblichkeit, in der aktuellen Forschungsdiskussion die größte Bedeutung beigemessen wird (vgl. Mangweth-Matzek 2008, S. 89). Zudem haben auch für 25 Homo- und bisexuelle Männer haben deutliche höhere Prävalenzraten bei Essstörungen als heterosexuelle Männer (0,3 Prozent). Umgekehrt haben essgestörte Männer auch größere Prävalenzraten von Homo beziehungsweise Bisexualität (10–42 Prozent) im Vergleich zu denen der Allgemeinbevölkerung (5–10 Prozent) (vgl. Mangweth-Matzek 2008, S. 89).

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Männer Körper und Schönheitsideale an Bedeutung gewonnen, versuchen immer mehr junge Männer sich einen athletischen, muskulösen Körper anzutrainieren. Während Diäthalten für die weibliche Identität konstituierend ist, ist bei Männern körperliche Leistungsfähigkeit von großer Bedeutung, was sich auch bei Essstörungen bemerkbar macht. Männer erkranken zumeist einige Jahre später daran, beiden Geschlechtern gleich ist die eigene Unzufriedenheit mit dem Körper. Männer versuchen durch Sport und restriktive Ernährung ihren Muskelmasseanteil zu erhöhen, während Mädchen Sport treiben, um ihren von Natur aus größeren Körperfettanteil abzubauen. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass Männer meist erst im Fall realen Übergewichts mit Diäten beginnen, während bei Frauen dies unabhängig vom realen Gewicht geschieht, was die Bedeutung des Diäthaltens für die weibliche Identität belegt26 (vgl. Mangweth-Matzek 2008, S. 88). Dass bei den Essstörungen vor allem die Fallzahlen der Bulimie steigen, für die das Schönheitsideal eine wichtigere Einflussgröße ist, und weniger die der Magersucht, ist eine Indiz für eine anwachsende und unangefochtene Dominanz des Schlankheitsideals. Die ersten nennenswerten Häufigkeiten von Bulimie traten in den 1950er Jahren auf, die erste umfassende Beschreibung als Krankheitsbild stammt aus dem Jahre 1979, die Anerkennung als Krankheitsentität erfolgte 1980. Gleichzeitig sind auch die ersten Barbiepuppen mit anorektischen Körperproportionen auf den Markt gekommen und wurden die in (Mode-)Zeitschriften und Männermagazinen abgebildeten Modells und Pin-Ups immer schlanker und wichen immer mehr vom realistischen Körpergewicht gleichaltriger Frauen ab (vgl. Jäger 2008, S. 78). Die Folge ist, dass sich nach einer Studie zum Körperempfinden Jugendlicher, fast die Hälfte (45 Prozent) der Mädchen mit Normalgewicht als übergewichtig empfinden (vgl. Haffner et al. 2007, S. 14). Der Druck schön und schlank zu sein, wird dabei nicht nur von Medien, sondern auch von der Familie oder dem Vergleich mit Gleichaltrigen ausgeübt und vermittelt. Eine zufriedenstellende Identität ist für viele Mädchen, aber auch junge Männer, nur mit einem schlanken, schönen Körper vorstellbar. Doch nicht nur der schlanke Körper kann der Identitätsfindung dienen, sondern auch die Krankheit selbst. Mit der Definition von Bulimie als Krankheit 1980 oder der größeren öffentlichen Aufmerksamkeit für Magersucht in den 70er Jahren, wurden diese Krankheiten zu öffentlichen Phänomenen, aus denen ein »sekundärer Krankheitsgewinn« gezogen werden konnte, denn nun war durch die medizinische Diagnose auch möglich, die Krankheiten als »primäre Identität« (Habermas 2008, S. 7) zu wählen, weil 26 Diäten sind zudem für Männer eng mit bestimmten Absichten verbunden, etwa zur Steigerung sportlicher Leistung, Vermeidung von Hänseleien und Spott wegen Übergewicht, zur Gesundheitsprävention oder auch zur Verbesserung homosexueller Beziehungen. Für Frauen hat Diäthalten weit umfassendere Bedeutung: »Bei Frauen wird hingegen das kontrollierte Essen meist zu einer Lebenshaltung« (Mangweth-Matzek 2008, S. 88).

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man sein Selbstbild über die Magersucht oder Bulimie definierte. Es wird angenommen, dass durch die Anerkennung als Krankheit ein iatrogener, also von der Medizin verursachter Faktor zur epidemischen Verbreitung der Essstörungen beigetragen hat (vgl. Klotter 1993, S. 89; Jäger 2008, S. 77). Die Medizin als Wissenschaft und die Erkrankten selbst bilden dabei eine Interessengemeinschaft wie Setzwein feststellt: »Die Wissenschaften begehren und erhalten Einlass ins Innere der Individuen, während die Betroffenen ihrerseits den wissenschaftlichen Diskurs als Resonanzfläche nutzen, die es ihnen ermöglicht, über ihr bulimisches Verhalten Identität herzustellen.« (Setzwein 2004, S. 281)

Wenn man bedenkt, dass sich klassische Geschlechterrollen immer weiter ausdifferenzieren, Frauen, aber auch Männer, mit neuen Arbeits-; Lebens- und Familienformen konfrontiert werden, in denen bei gleichbleibenden Idealvorstellungen von Schönheit und Körper zudem immer größere, historisch neue Anforderungen und Erwartungen an die Geschlechter gestellt werden, ist zu vermuten, dass Essstörungen auch weiterhin zu den häufigsten chronischen Gesundheitsproblemen im Jugendalter zu zählen sind (vgl. Hölling / Schlack 2007, S. 794).

6.9 E RNÄHRUNG

UND

ARMUT

6.9.1 Materielle und soziale Ernährungsarmut Wie schwierig und dauerhaft aktuell dieser Themenbereich ist, zeigt sich an den Diskussionen, wie viel Geld ein Mensch braucht, um sich ernähren zu können beziehungsweise wie hoch die Hartz IV-Sätze sein müssen, um diesen Menschen das tägliche Brot zu ermöglichen. In den wohlhabenden Ländern der Welt wie Deutschland ist mit dem täglichen Brot nicht eine Lebensmittelversorgung gemeint, welche das physische Überleben sichert, wie es in den armen Regionen und Ländern der Welt der Fall ist. Es herrscht keine materielle Armut, welche zum Hungern zwingt. Es ist klar, dass die Versorgung für alle sichergestellt ist und niemand in diesem Land verhungern muss, obwohl es Randschichten gibt, in denen die Ernährung nicht entfernt dem Mindestanspruch an eine menschenwürdige Ernährung genügt und man mit Recht von materieller Armut sprechen kann (vgl. Kutsch 1995, S. 256ff.). Eine solche Armut ist in Deutschland jedoch die extreme Ausnahme und nicht kennzeichnende Massenerfahrungen wie in vielen Ländern der Dritten Welt. Doch die Frage um die Höhe der Regelsätze ist dennoch eng mit der Frage verbunden, wie viel der Mensch braucht, um ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen überleben zu können. Dieses Minimum, wo immer man es auch festsetzt, wird den

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Bedürftigen zugestanden, nicht mehr und nicht weniger. Der »materiellen Ernährungsarmut«, als Mangel sowohl an Quantität als auch an physiologischer und hygienischer Qualität verstanden, stellt Feichtinger den Begriff der »sozialen Ernährungsarmut« zur Seite: »Unter sozialer Ernährungsarmut wäre jede Ernährung zu subsumieren, die es nicht erlaubt, in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise soziale Beziehungen aufzubauen, Rollen und Funktionen zu übernehmen, Rechte und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen oder Sitten und Gebräuche einzuhalten, die jeweils im sozialen und kulturellen Umgang mit Essen in einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen.« (Feichtinger 1995, S. 295)

Nicht mehr die Wahl haben, sondern das Billigste kaufen müssen oder die Substitution von statushohen durch statusniedrigere Lebensmittel sind typische Kennzeichen sozialer Ernährungsarmut. Dazu gehört auch die Erosion sozialer Beziehungen, durch die Ausschlagung von Einladungen etwa, aus Angst sich nicht revanchieren zu können oder das Wegfallen sozial hoch bewerteter Festtagsmenüs (vgl. Feichtinger 1995, S. 300; Prahl / Setzwein 1999, S. 73). Abbildung 18: Dimensionen und Funktionen der Ernährung Dimension

Funktionen

Probleme in Armut

physiologisch

Versorgung mit Energie und Nährstoffen

Beeinträchtigung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit

sozial

Soziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, Kommunikation

Beeinträchtigung sozialer Beziehungen (zum Beispiel wenn Einladungen nicht erwidert werden können)

kulturell

Normative Wertesysteme, Ernährungssitten und - gebräuche, Essbarkeit, Geschmack

Abweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (zum Beispiel Braten statt Hackfleisch als ›unangebrachter Luxus‹)

psychisch

Genuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, Selbstwertgefühl

Verlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (zum Beispiel ›Leistungshungern‹ oder Hamstern)

Quelle: nach Feichtinger 1995, S. 292

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 217

6.9.2 Ernährungsanspruch in Armut – Über die Möglichkeiten Betroffener und Diffamierungstendenzen von außen Die soziale Ernährungsarmut ist so gut wie nie Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Den von Armut Betroffenen und speziell den staatlichen Leistungsbeziehern wird nur eine materielle Grundversorgung zugestanden. Von Ihnen wird verlangt, sich ihrer Lage angemessen zu verhalten, zu verzichten, zu sparen. Der ernährungsphysiologische Bedarf soll auf die wirtschaftlichste Weise gedeckt werden, durch Einkauf von Sonderangeboten, Aufsuchen von Discountern und der bevorzugten Auswahl von Grundnahrungsmitteln: »Es wird von Armen erwartet, daß sie völlig anders essen als der Rest der Gesellschaft, in der sie leben. Sie sollen auf ihre eigenen wie auch auf gesellschaftlichen Vorstellungen von ›richtigem‹ Essen verzichten« (Feichtinger 1995, S. 301). Neben dieser vorausgesetzten Bereitschaft zum Verzicht auf unüberlegte Lustund Luxuskäufe, wird armen Menschen zudem noch schlechtes Ernährungsverhalten unterstellt wie etwa schlechte Ausgabenplanung, mangelndes Ernährungsbewusstsein oder unüberlegte Einkäufe. Oder anders ausgedrückt, wer es nicht schafft, sich mit wenig Geld gut zu ernähren, der wird wohl selbst schuld sein (vgl. Feichtinger 1995, S. 302). Dieser unterstellte Unwille zeigte sich auch in einem informellen Gespräch, welches ich mit einer Person führte, die ihr Geld mit Weinseminaren verdient und welche mir ihr Unverständnis über finanziell bedingte Ernährungsengpässe und Klagen Betroffener kundtat: »Dann mache ich halt öfter mal Bratkartoffel, das ist billig und das mögen die Kinder auch«. Wenn man nur wolle, könne man sich auch mit wenig Geld gut ernähren, wer dies nicht schafft, will dies auch nicht, so der Tenor. Ähnlich wird oft privat, in Ratgebern und Zeitungsartikeln argumentiert, und stets sind die gut situierten Gutmenschen dann enttäuscht und wütend, wenn das Lumpenproletariat, heute Prekariat genannt, wie üblich auf die gut gemeinten Ratschläge, Tipps und Anleitungen des Bürgertums für ein besseres Leben pfeift. Dies liegt jedoch nicht an der wollüstigen Veranlagung zum Faul- und Fettsein, als vielmehr einem Leben unter völlig anderen Voraussetzungen und Wertigkeiten, welches vom Geschmack der Notwendigkeit gekennzeichnet ist und damit von einer nahrhaften und kostensparenden Ernährung und der von Bourdieu konstatierten »Moral des guten Lebens« (Bourdieu 1982, S. 292) geprägt ist. Wenn man wenig besitzt, also an das eigene Auto, das Haus und den Garten gar nicht zu denken braucht, ist das Essen oftmals der einzige Bereich, an dem man sich auch ohne dicken Geldbeutel etwas leisten, sich verwöhnen, sich etwas gönnen kann. Diese Moral des guten Lebens, manifestiert sich in dickeren Bäuchen durch reichhaltiges, sättigendes Essen oder auch durch regelmäßigen Biergenuss und steht dem dominierenden und legitimen Lebensentwurf der Mäßigung um Gesundheit und Schlankheit (vgl. dazu Absatz 8.1) willen diametral

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entgegen. Eine Übernahme der legitimen Verhaltensweisen käme einer Aufgabe der eigenen kulturellen Identität gleich: »Wahrscheinlich resultiert die Resistenz des Notwendigkeitsgeschmacks daraus, daß von der Ernährungsberatung ein Eßstil, der dem Luxusgeschmack ähnelt, allgemein verbindlich gemacht werden soll und damit gleichzeitig der Notwendigkeitsgeschmack kulturell entwertet wird. Insofern könnte der Eindruck stimmen, daß die Hartnäckigkeit des ›guten Essens und Lebens‹ einen sozialen Protest ausdrückt, der sich weniger auf das Körperbild und die Gesundheit bezieht, als vielmehr das Beharren und die Wertschätzung der eigenen kulturellen Ausdrucksweisen meint.« (Barlösius 1995, S. 314)

Dabei soll nicht der Eindruck erweckt werden, eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung wäre mit wenig Geld unmöglich. Dass dies nicht der Fall ist, zeigt das Fallbeispiel ›Eva‹. Sogar in Phasen, in denen die fünfköpfige Familie von Arbeitslosigkeit betroffen und auf Hartz IV angewiesen war, wurde stets großer Wert darauf gelegt, weiterhin gesund und abwechslungsreich zu essen, gerade auch wegen der Kinder. Gespart wurde nicht am Essen, nicht an den Bedürfnissen der Kinder, sondern an denen der Eltern: »Ja, ich habe meinen Pullover ewig getragen, die Kinder haben was für die Schule gebraucht, die Kinder sind da vorgegangen. Ich sage, meine Miete muss einbezahlt werden, mein Strom muss bezahlt werden, mein Telefon und das Essen brauche ich. Und das ist wichtig.« (Interview 3, Eva, Z.193ff.)

Auch wenn wenig Geld zur Verfügung steht, versuchen Eltern oftmals alles zu tun, um zumindest den Kindern eine möglichst optimale Versorgung zu gewährleisten. Ob und vor allem wann dies gelingt, ist eine andere Frage. In diesem Fallbeispiel schaffen es die Eltern durch enormen psychischen Willen und kreativen Einsatz, unterstützt von einer ganzen Reihe positiv wirkender Umstände, Bewältigungsstrategien zu entwickeln: Ein Wirt, welcher der Großfamilie Spezialpreise gewährte, die Großeltern, welche Lebensmittel schickten, eine Frau mit Geschick und Einfallsreichtum in der Küche, der arbeitslose Mann, der im Haushalt mit anpackt, kurzum, ein intaktes psychosoziales Familienleben (vgl. Interview 3, Eva). All dies wird neben enormen Einsatz benötigt, um die Ernährung im gewohnten Umfang zu sichern, und nur unter solch positiven Umständen kann dies auch gelingen. Sind diese Umstände nicht gegeben, so kommt es in finanziellen Mangelzeiten schnell zu einer mangelhaften Ernährungsweise, wie im Fall ›Caroline‹ (vgl. Interview 9, Caroline, Z.243ff.). Ungesundes Essen kann in solchen Fällen Normalität werden, aus der nur langsam und unter Druck wieder herausgefunden wird, wie das Interview mit der Ein-Euro-Jobberin Annika und deren Antwort auf die Frage nach der Ernährung mit ihrem Kind zeigt:

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 219

»Also, die Anfangszeit, als ich mit meinem damaligen Freund zusammen war, war eine Katastrophe. Da war mit Kochen gar nicht viel drin. Da habe ich am Abend Grießbrei gemacht, Pudding angerührt oder es gab Päckchenspaghetti mit der Fertigsauce. So haben wir uns ernährt. […] Meine Mutter hat dann auch geschimpft.« (Interview 10, Annika, Z. 84ff.)

Festhalten kann man, dass eine gesunde, ausgewogene Ernährung also auch mit wenig Geld zu verwirklichen ist, allerdings nur unter bestimmten Umständen, welche nicht einmal innerhalb arbeitsmarktintegrierten und gut situierten Familien selbstverständlich anzutreffen sind. Hier aber kann das vorhandene Geld einiges kompensieren, indem man zum Beispiel qualitativ hohe und dann auch teure Convenience Produkte kauft, wenn man keine Zeit oder Lust zum Kochen hat oder sich mit Bio-Gemüse frei Haus versorgen lassen kann (vgl. Interview 7, Gerald, Z. 97, 105ff.). 6.9.3 Ungleiche Gesundheit Dass sich diese verschiedenen finanziellen Möglichkeiten auf die Gesundheit und Ernährung auswirken und die Kompensation finanzieller Mängel nicht immer gelingt, zeigen die Daten aus der Gesundheitsforschung. Niedrigere Schichten weisen spezifische, gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen auf, in der Ernährungsweise, der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder dem Konsum von Alkohol und Nikotin. Daneben spielen aber auch verhaltensunabhängige Faktoren wie die Arbeits- und Wohnverhältnisse eine bedeutende Rolle (vgl. Hradil 2009, S. 42). Alles zusammen führt zu schichtspezifischen Risiken und damit zu einer schlechteren Gesundheit sowie geringerer Lebenserwartung: »Lower socioeconomic status [SES] is probably the most powerful single contributor to premature morbidity and mortality, not only in the United States but worldwide« (Williams 1998, S. 1745). Sehr problematisch daran ist, dass die Risikofaktoren für besonders häufige Krankheiten im Erwachsenalter, zum Beispiel koronare Herzkrankheiten oder Atemwegserkrankungen zeigen, dass diese Krankheiten durch Einflüsse über den kompletten Lebenslauf, angefangen in den frühesten Entwicklungsstufen der Kindheit, zur Ausbildung kommen. Ernährungsbedingte Einflüsse dieser Art sind etwa geringer Obstund Gemüsekonsum sowie die Aufnahme vieler ungesunder Fette (vgl. Power / Kuh 2008, S. 47f). Soziale Ungleichheit wirkt sich dabei schon im Kindesalter stark auf die Gesundheit aus und dies zieht sich oftmals durch den gesamten Lebenslauf. Die soziale Herkunft prägt dabei in allen Lebensphasen die Gesundheit des Menschen (vgl. Dragano / Siegrist 2009, S. 191f.). Schon im Kindesalter können schichtspezifische Gesundheitszustände und Ernährungsweisen nachgewiesen werden. Kinder der untersten Schicht verzehren signifikant mehr Chips, Pommes Frites, Kaffee und Softdrinks wie Cola, dagegen weniger Gemüse, Obst, Vollkorn-

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brot und Vollmilch als Kinder und Jugendliche aus der obersten Schicht (vgl. Klocke 1995, S. 193). Je niedriger die soziale Position in der Gesellschaft, umso schlechter auch die Ernährung: Abbildung 19: Ernährungsverhalten nach sozialer Ungleichheit

Quelle: nach Klocke 1995, S. 195

6.9.4 Von fetten Armen – Sozialstruktur, Übergewicht und Adipositas Auch in anderen Studien konnte der Zusammenhang von sozialer Schicht und Ernährung nachgewiesen werden. Zudem wurde festgestellt, dass Kinder mit niedrigem sozioökonomischen Status (SES) neben schlechteren Ernährungsgewohnheiten oft weniger körperlich aktiv sowie seltener Mitglied in Sportvereinen sind und mehr Zeit vor dem Fernseher und Computer verbringen als Kinder mit hohem SES (vgl. Walter / Friedrich / Leonhäuser 2008, S. 64). Dementsprechend hoch sind die Zahlen übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher aus ärmeren Familien:

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Abbildung 20: Häufigkeit von Adipositas nach Sozialstatus

Quelle: nach Kurth / Schaffrath / Rosario 2007, S. 216

Adipositas ist also in erster Linie ein Problem der Unterschicht. In Deutschland ist der Prozentsatz an Betroffenen in der Unterschicht etwa dreimal höher als bei Kindern und Jugendlichen der einkommensstarken Schichten (vgl. Kurth / Schaffrath Rosario 2007, S. 216). Die soziale Dimension der Krankheit wurde bisher meist unterbewertet und es wurde bevorzugt das kalorische Missverhältnis von Aufnahme und Verbrauch in den Fokus der Betrachtung gestellt (vgl. Helmert 2008, S. 86). Natürlich wirkt sich die Zufuhr energiereicher, aber ballaststoffarmer Lebensmittel mit geringer Sättigungswirkung, wie etwa bei Convenience Produkten27 oder der Konsum zuckerhaltiger Limonaden auf die Energiebilanz beziehungsweise das Gewicht aus. Doch Adipositas ist eben nicht nur bedingt durch falsche Ernährung. Adipositas hat vielerlei Ursachen, von denen immer mehrere zusammenwirken:

27 Der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer geht davon aus, dass Convenience Produkte, welche Aromastoffe enthalten, den Appetit erhöhen. Da die Aromastoffe dem Gaumen etwas vorspielen, was dann jedoch realiter nicht im Magen eintrifft, wird der Hunger gefördert. Der Körper verlangt nach dem Essen, welches über die Geschmacksinne angekündigt wurde (vgl. Theile 2005, S. 77).

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Abbildung 21: Ursachen von Adipositas

Quelle: Eigendarstellung basierend auf Daten aus Biesalski / Grimm 2007, S. 348

Die genetische Veranlagung spielt dabei sicher eine bedeutende Rolle. Zwar hat sich das genetische Material in den letzten 40.000 Jahren nicht wesentlich verändert, so dass man die Ursachen für den Anstieg der Prävalenz bei Adipositas in den veränderten Lebens- und Ernährungsgewohnheiten suchen muss. Und in der Tat bleiben genetische Prädispositionen ohne negative Auswirkungen, wenn die Energieversorgung, wie während fast der gesamten Menschheitsgeschichte, unzureichend beziehungsweise gerade so sichergestellt werden kann. Der Genetiker James Neel stellte dazu die ›Thrifty-Gene‹ Hypothese auf, welche besagt, dass Gene, welche Diabetes (oder Adipositas) prädisponieren, zu Zeiten von Mangelernährung genetische Konstellationen von evolutionärem Vorteil waren. Solche ›thrifty genes‹, auf Deutsch wirtschaftliche oder sparsame Gene, führten zu rascher Gewichtszunahme bei ausreichendem Nahrungsangebot und bildeten Reserven für Notzeiten aus. Solche Notzeiten mit Mangelversorgung waren bei den früher jagenden und sammelnden Kulturen der Normalfall, sodass sich der Genotyp des guten Nahrungsverwerters selektiv erhalten hat. Dieser einstige Vorteil wirkt sich nun aber, in Zeiten veränderter Lebensbedingungen und in Gesellschaften, in denen Lebensmittel immer und überall verfügbar sind, gegenteilig aus. Die verän-

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derten soziostrukturellen und psychosozialen Bedingungen sind zu Risikofaktoren für Übergewicht und Adipositas geworden (vgl. Hahn / Ströhle / Wolters 2006, S. 354; Neel 1962). Genetische Veranlagung, psychosoziale Probleme, soziokulturelle Faktoren: die Ursachen für Adipositas sind individuell und komplex. Doch die hohen Zahlen von Adipositas und Übergewicht in armen Schichten zeigen, dass insbesondere diese Kinder mehr Risikofaktoren unterliegen als Kinder aus statushohen Familien: schlechtere Ernährungsgewohnheiten, häufigerer TV-Konsum bei gleichzeitig geringer sportlicher Aktivität28 sowie größere psychische Belastungen (vgl. Hölling 2007, S. 785f) durch prekäre Lebenssituationen in den Familien. Adipositas ist keine Unterschichtenkrankheit, hervorgerufen durch ignorantes Ernährungsverhalten. Es spiegelt oftmals soziale Not, welche in Wohlstandszeiten und -gesellschaften heutzutage nicht mehr in der Gestalt des hungernden, dünnen, sondern in der des zu dicken Kindes auftritt: »Adipositas ist so gesehen nur eine von vielen Ausdrucksformen zunehmender sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit« (Hölling 2007, S. 121). Diese Einsicht ist auch dringend nötig, wenn man bedenkt, dass etwa jedes sechste Kind in Deutschland in Armut aufwächst29. Insgesamt sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren übergewichtig, weitere 6,3 Prozent leiden an Adipositas. Das bedeutet, dass in Deutschland etwa 1,9 Millionen Kinder übergewichtig sind, davon sind 800.000 adipös. Verglichen mit Werten aus den 80er und 90er Jahren ist der Anteil an Übergewichtigen und Adipösen 50 Prozent höher (vgl. Kurth / Schaffrath Rosario 2007, S. 215). Insgesamt sind in Deutschland etwa 16 Millionen Menschen übergewichtig bis adipös, mit den damit erhöhten Risiken für Folgeerkrankungen wie Typ2-Diabetes und Herz- und Kreislauferkrankungen30. Die finanzielle Belastung durch Adipositas für das deutsche

28 Kinder aus sozial schwachen Familien sind dreimal seltener Mitglieder in Sportvereinen als privilegierte Altersgenossen. Gründe dafür sind wahrscheinlich die Kosten für Mitgliedschaft und Ausrüstung (vgl. Lampert 2007, S. 639, 641). 29 Als Armutsdefinition wird hier der Schwellenwert vom Statistischen Amt der EU (Eurostat) genommen. Als arm gilt danach, wer in einem Haushalt lebt, dessen Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Einkommensmedians der Gesamtbevölkerung liegt. Demnach galten 2006 16,3 Prozent der Kinder bis zehn Jahre, und 18,7 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 11–20 Jahren als arm, also in etwa jedes sechste Kind, Tendenz steigend (vgl. Deutschland. 2008, S. 165, 167). 30 Es gibt auch einige Ernährungswissenschaftler und Mediziner welche die Ergebnisse, Analysen und Ratschläge der Adipositasforschung sehr skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Sie hinterfragen die Aussagekraft des Body-Mass Index, auf dessen Grundlage Übergewicht und Adipositas definiert werden. Sie zweifeln zudem daran, dass Übergewicht für Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen verantwortlich ist und lebensver-

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Gesundheitssystem wird auf etwa 13 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt (vgl. Kompetenznetz Adipositas 2010). Betrachtet man diese Zahlen vor dem Hintergrund der mit 20 Prozent relativ geringen Erfolgsaussichten von Adipositastherapien (vgl. Hahn / Ströhle / Wolters 2006, S. 361), so wird die Bedeutung und der Bedarf an präventiven Maßnahmen sehr deutlich offenbart. Denn wer als Kind stark übergewichtig ist, wird es sehr wahrscheinlich auch im Erwachsenenalter bleiben. Die soziale Ungleichheit zwischen den Schichten wird sich nicht einfach verringern lassen, wohl aber einige der daraus resultierenden Risikofaktoren. Kitas und Schulen kommt meines Erachtens hierbei eine Schlüsselrolle zu. Ganztagseinrichtungen mit einem gesunden, kostenlosen Mittagsessen, Sportangeboten am Nachmittag sowie einer guten psychosozialen Betreuung könnten deutliche Akzente setzen und präventiv wirken. Eine sehr frühe Präventionsmaßnahme scheint auch das Stillen des Säuglings zu sein. Eine Studie mit beinahe 10.000 Kindern zeigte deutlich, dass gestillte Kinder eine geringere Wahrscheinlichkeit aufwiesen übergewichtig zu werden, als solche, die nicht gestillt wurden31 (vgl. Koletzko / von Kries 2001, S. 18).

6.10 Z USAMMENFASSENDES F AZIT Da Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit in institutionalisierten Bildungs- und Erziehungseinrichtungen verbringen und diese somit recht frühzeitig und länger als früher auf die Heranwachsenden wirken, wird der Einfluss dieser Sozialisationsinstanzen zunehmen. Ernährung von Kindern findet immer häufiger auch in Kindergärten und Schulen statt, so dass hier auch Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten genommen werden kann. Ganztagseinrichtungen mit einer hochwertigen Versorgung, welche neben gesundheitlichen Aspekten auch den Genuss frühzeitig und kontinuierlich im Auge hat, könnten zumindest in Teilen negative Ernährungsgewohnheiten korrigieren oder vermeiden. Da eine schlechte Nahrungsversorgung von Kindern vor allem in sozial schwachen Familien vorkommt, sind Lösungen zu finden, welche es auch Kindern aus finanzschwachen Familien ermöglicht, an Kitaund Schulspeisungen teilzunehmen (vgl. Absatz 6.4). Armut wirkt sich nämlich direkt auf die Gesundheit aus, je niedriger die Schicht, desto schlechter fällt das Ernährungsverhalten der Kinder aus. Zusammen mit genetischen und psychosozialen Faktoren hat das zur Folge, dass in den unteren Schichten die Zahl der übergewichtigen und adipösen Kindern deutlich höher ist als in einkommensstarken Schichten.

kürzend wirkt. Diäten werden abgelehnt, da sie keine dauerhafte Gewichtreduktion erzielen und sich zudem negativ auf den Gesundheitszustand auswirken (vgl. Pollmer 2008). 31 Es wird vermutet, dass dies an der speziellen Zusammensetzung der Muttermilch liegt. Allerdings können andere Kausalfaktoren noch nicht ausgeschlossen werden.

S EKUNDÄRE S OZIALISATION | 225

Eine ausgewogene, gesunde Ernährung ist zwar auch mit relativ wenig Geld möglich, allerdings nur unter bestimmten, positiven Rahmenbedingungen, die nicht selbstverständlich anzutreffen sind. Der Einfluss der Gleichaltrigengruppe auf die Ernährungsgewohnheiten ist im Normalfall dagegen gering. Jugendlich geprägte Essgewohnheiten wie Fastfood und das ›Snacken‹ bilden zwar eine auffallende Facette der Esskultur Jugendlicher, sie bleibt aber zum allergrößten Teil weiterhin von der Familie geprägt. Hier zeigt sich die Vorrangstellung der Primärsozialisation. Ausnahmen sind dann gegeben, wenn die Art und Weise sich zu ernähren zur Identitätsfindung beziehungsweise Identitätsbildung genutzt wird. Vor allem junge Mädchen haben in der Pubertät großen Druck gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen und verbinden ihr Selbstkonzept häufig mit Idealen körperlicher Attraktivität. Auch eine vegetarische Lebensweise kann in der Adoleszenz zum Identitätsaufbau genützt werden. Das Geschlecht spielt eine zentrale Rolle für die Ernährungsweise des Einzelnen. Ganz besonders gilt dies für Frauen, deren Weiblichkeit, Attraktivität und Status im großen Maß von der Nähe oder Distanz zum geltenden Schönheits- beziehungsweise Schlankheitsideal abhängt. Der Körper der Frau ist wichtiges Kapital und über die Ernährung wird versucht, diesen Körper attraktiv zu halten oder attraktiver zu gestalten. Frauen haben ein anderes Verhältnis zur Ernährung, ein anderes Ernährungsbewusstsein und andere Ernährungsgewohnheiten. Die Art und Weise zu essen, wie viel man isst und vor allem was man isst, ist deutlich vom Geschlecht geprägt. Frauen konsumieren mehr Obst und Gemüse und dafür weniger Fleisch, Wurstwaren, Fette und Alkohol als Männer und weisen damit ein gesünderes Ernährungsverhalten auf. Vor allem am Genuss von und Verhältnis zum symbolträchtigen Fleisch zeigt sich die Hierarchie der Geschlechter, gilt Fleisch als typisch männliches Nahungsmittel und Symbol der (männlichen) Macht über die (weibliche) Natur. Eine Hypothese dieser Arbeit ist, dass der heutzutage vor allem von Frauen geführte vegetarische Lebensstil kein Gegenimpuls, sondern Ausdruck der männlich dominierten Geschlechterhierarchie ist. Der Genuss von Fleisch symbolisiert Männlichkeit, der Verzicht auf Fleisch dagegen produziert eine Aura der Weiblichkeit und verspricht zudem schlanke, attraktive Körper. Die vegetarische Ernährung ist letztendlich eine sehr konsequente Art des weiblichen Ernährungsstils. Mit dem Fleischverzicht konstruieren die mehrheitlich jungen und weiblichen Vegetarier eine weibliche Identität und erhöhen ihr Körperkapital. Der Einfluss des Geschlechts bleibt dabei jedoch verborgen und die Art und Weise sich zu ernähren erscheint Männern wie Frauen als Ausdruck des eigenen persönlichen Geschmacks. Allgemein lässt sich festhalten, dass die geschlechtsspezifischen Vorlieben und Abneigungen nicht Ausdruck eines Unterschiedes zwischen den Geschlechtern sind, sondern dadurch geschaffen und reproduziert werden. Aus dem Aushandeln der Geschlechterrollen, dem ›doing gender‹ resultieren auch unterschiedliche, geschlechtsspezifische Zubereitungsarten und Verzehrsituationen. Die Unterschiede

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zwischen Mann und Frau sind dabei nicht mehr so öffentlich, wirken aber im Verborgenen weiter. Die Frau ist nicht mehr allein in der Küche, auch Männer sind dort nicht selten zu finden, kochen und zelebrieren das Essen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern zeigt sich sowohl darin wie, als auch darin was und für wen gekocht wird. Das weibliche, alltägliche Kochen aus Notwendigkeit, wird bei Männern zum Freizeitvergnügen, bei dem besondere Gerichte dem Koch Status und Anerkennung sichern sollen. Die Bedeutung des Geschlechtskörpers und des Schönheitsideals zeigen sich deutlich beim Thema Essstörungen, 90 Prozent der Betroffenen sind Mädchen und junge Frauen. Die Ursachen für solche Erkrankungen sind vielfältig, doch erscheint ein gestörtes Essverhalten vor allem Frauen als adäquates Mittel, bestimmte Konflikte, Probleme und Defizite zu bewältigen, als geschlechtskonforme, weibliche Entlastungsstrategie. Das Geschlecht ist sicherlich ein zentraler und bedeutender Faktor für das Ernährungsverhalten und kommt am deutlichsten in der Pubertät zu tragen, wenn biologische Unterschiede offensichtlich, und sexualisierte Geschlechtsidentitäten mit ihren dazugehörigen Körper- und Schönheitsidealen konstruiert werden.

7. Ernährungseinflüsse im Erwachsenenalter

7.1 S OZIALISATION

DES

L EBENSLAUFS

Bis in die 70er Jahre dominierte die Vorstellung von Sozialisation als Prozess, der in den ersten Lebensphasen, in der Kindheit und Jugend stattfindet. Dort wurden die Grundlagen geschaffen, die dem Individuum eine Teilnahme an der Gesellschaft ermöglichte und man ging im Allgemeinen davon aus, dass nach erfolgter und im besten Falle erfolgreicher Sozialisation das erwachsen gewordene Individuum sein Leben selbstständig zu leben und seinen Beitrag für die Gesellschaft leisten kann. Im Gegensatz zu Kindern und Jugendlichen wurde der Erwachsene als im Grunde ›fertiger‹ Mensch betrachtet, der nun alle Voraussetzungen zur erfolgreichen und selbständigen Lebensgestaltung besitzt und keinen weiteren Sozialisationseinflüssen unterliegt, weil davon ausgegangen wurde, dass im postadoleszenten Lebenslauf keine weiteren bedeutenden Sozialisationserfordernisse mehr auftauchen würden (vgl. Faltermaier 2008, S. 157). Spätestens mit dem gesellschaftlichen Wandel beziehungsweise den Individualisierungsprozessen der modernen Industriegesellschaft war dieses Konzept von Sozialisation überholt. Die von Beck beschriebene Individualisierung führte zu einer Herauslösung aus traditionellen Lebensformen und ihren bestimmen Faktoren wie Klasse, Geschlecht und Familie und damit auch zur Freisetzung von diesen Faktoren vermittelter Sicherheit. Das Individuum war nun in weit größerem Maße auf sich gestellt und wurde nun zum Akteur der eigen Arbeits- und Lebensbiographie (vgl. Beck 1986, S. 205–219). Die Kontinuität des Erwachsenenalters wurde brüchig, aus der Normalbiographie wurde die Bastelbiographie, um die sich das Individuum aktiv bemühen muss und welche auch die Möglichkeit des Scheiterns enthält. Die Anforderungen im Berufsleben wurden vielfältiger, die einst stabilen Erwerbsbiographien wurden in einer immer flexibleren und mobileren Arbeitswelt, genauso wie Beziehungs- und Familienstrukturen, prekär und unverbindlich. Das erwachsene Individuum hat also zum einem eine Vielzahl mehr an Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebenslaufes, zum anderen aber auch eine Vielzahl mehr an

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Anforderungen, Unsicherheiten und Krisen zu bewältigen. Das geforderte ›lebenslange Lernen‹, die immer neuen, zu bewältigenden Anforderungen und Entwicklungsprozesse im Erwachsenalter führen selbstverständlich auch zu spürbaren Veränderungen im Lebenslauf und der Persönlichkeit des Individuums, welches auf die neuen Gesellschaftsbedingungen reagieren muss. Das Konzept einer Sozialisation in den frühen Lebensphasen war damit ernsthaft erschüttert und die Bedeutung von Sozialisations- und Entwicklungsprozessen auf die gesamte Lebensspanne beziehungsweise den Lebenslauf von Erwachsenen offensichtlich geworden. Etwa gleichzeitig geriet das Erwachsenenalter auch in den Blickpunkt der Entwicklungspsychologie, welche aufgrund von Forschungen zur Intelligenzentwicklung immer mehr zur Erkenntnis kam, dass sich auch im Erwachsenenalter intellektuelle Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale weiterentwickeln. Diesen beiden Entwicklungen, dem gesellschaftlichen Wandel und den neuen Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie waren grundlegend für eine Perspektive der Sozialisation im Lebenslauf beziehungsweise für das wachsende Interesse der Sozialisationsforschung am Erwachsenenalter (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 18–23). Die Umstände der Sozialisation im Erwachsenenalter sind dabei naturgemäß verschieden von denen in der Jugend und Kindheit. Sozialisation ist zwar immer ein interaktiver Prozess zwischen Individuum und Umwelt, der zum einem das Individuum gesellschaftsfähig formt, es zum anderen aber auch zu einem eigenständigen, konstruktiven Handeln ermächtigen soll. Doch ist in unterschiedlichen Lebensphasen auch die Gewichtung des Einflusses von Individuum und Umwelt auf Sozialisationsprozesse verschieden. In der frühen Sozialisation der Kindheit und Jugend ist der Einfluss gesellschaftlicher Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule von großer Bedeutung, während mit zunehmendem Alter das Individuum selbst- und eigenständiger wird. Dadurch wird wiederum der Einfluss auf die das Individuum umgebende Personen und gesellschaftliche Bereiche größer. Das Individuum entwickelt sich zu einem aktiven Subjekt und Gestalter sowohl seines eigenes Lebens, als auch sozialer und gesellschaftlicher Prozesse. Für die Sozialisationsforschung stellt sich damit zum einem die Frage, welche Gesellschaftsstrukturen den Lebenslauf ordnen und wie sich diese verändern und zum anderem die Frage, wie das Individuum mit diesen Strukturen und ihrem Wandel umgeht und wiederum selbst Einfluss darauf nimmt (vgl. Faltermaier 2008, S. 158ff). Von großer Bedeutung innerhalb der Lebenslaufforschung ist dabei die Lebensereignis- beziehungsweise Life-Event-Forschung. Hier wird davon ausgegangen, dass besondere Lebensereignisse oder auch kritische Status- und Rollenübergänge im Lebenslauf von großer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung als auch Anstoß von Sozialisationsprozessen sind. Solche Lebensereignisse werden als normative beziehungsweise nicht-normative Ereignisse unterschieden. Als normativ gelten Ereignisse dann, wenn sie mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit auftreten und auch mehr oder weniger an bestimmte Altersphasen gebunden sind

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wie etwa Berufseinstieg, die Geburt des ersten Kindes, der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus oder die Pensionierung. Nicht-normative Ereignisse sind solche, welche als unerwartet und ungewöhnlich im Lebenslauf auftreten, wie etwa der frühe Tod eines Familienangehörigen oder eine schwere Krankheit (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 74f.). Inwieweit diese Ereignisse positive oder negative Folgen mit sich bringen, hängt vom Erfolg der Bewältigungsstrategien ab, also ganz entschieden davon, wie solche Ereignisse vom Individuum und seiner Umgebung erlebt und verarbeitet werden. Auf jeden Fall können solche Ereignisse entscheidenden Einfluss auf die Identität des Individuums nehmen: »Die Identität kann sich im Erwachsenenalter an sozialen Übergängen oder kritischen Lebensereignissen wesentlich verändern und gerade durch die dabei erlebten Belastungen und Krisen weiter entwickeln, weil sie die bisherige Identität verunsichern.« (Faltermaier 2008, S. 170)

Neben solchen besonderen Lebensereignissen spielen aber auch der Alltag und die Gestaltung des selbigen in dominanten Lebensbereichen wie Beruf, Familie und Beziehungen eine bedeutende Rolle für die Sozialisation im Erwachsenenalter. Gerade diese Bereiche unterlagen in den letzten Jahrzehnten einem starken Wandel, wie die wachsende Pluralität von Arbeitsverhältnissen, Lebens-, Beziehungs- und Familienformen zeigt. Diese gesellschaftliche Individualisierung bringt auch große Veränderungen in den sozialen Beziehungen und damit auch für die tragenden Sozialisationsinstanzen wie der Familie. Interessant ist hier vor allem, wie sich unter den gewandelten Bedingungen die Verhältnisse und die Vereinbarkeit von Arbeit, Freizeit, Familie und Geschlechterrollen entwickeln, wie sich die Individuen mit den neuen Verhältnissen arrangieren und welche Bewältigungsstrategien für diese Herausforderungen entwickelt werden (vgl. Faltermaier 2008, S. 165). Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich das Individuum nicht nur an die Gesellschaftsverhältnisse oder spezifischen Lebensereignisse anpasst, sondern immer auch versucht, auf diese Verhältnisse einzuwirken und seine Umwelt nach den eigenen Maßstäben zu gestalten. Diese Maßstäbe hängen von der Identität des Individuums ab, welche sich über die gesamte Lebensspanne entwickelt und modifiziert (vgl. Fuhrer / Trautner 2005, S. 408). Jutta Heckhaussen und Richard Schulz gehen davon aus, dass der Mensch ein Grundbedürfnis hat, seine Umwelt zu kontrollieren und diese in seinem Sinne positiv beeinflussen will. Eine Möglichkeit diese Kontrolle zu erreichen, ist die sogenannte ›primäre Kontrolle‹: »Primary control refers to behaviors directed at the external environment and involves attempts to change the world to fit the needs and desires of the individual« (Heckhausen / Schulz 1995, S. 284). Sekundäre Kontrolle dagegen ist die Anpassung der Person an die herrschenden Umweltbedingungen beziehungsweise das zu sich Zu-Eigen-machen dieser Bedin-

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gungen, wenn die bevorzugte primäre Kontrolle nicht im gewünschten Ausmaß umsetzbar ist oder als unterstützende Maßnahme bei der primären Zielverfolgung. Der Wunsch nach größtmöglicher primärer Kontrolle ist das ganze Leben konstant, die Möglichkeit dies auch umzusetzen ist, je nach Lebensphase, allerdings unterschiedlich. Über die Lebensspanne hinweg betrachtet ist die Möglichkeit, Einfluss im Sinne primärer Kontrolle zu nehmen, im Erwachsenenalter am größten, in der frühen Kindheit und im hohen Alter am geringsten, so dass in diesen Lebensabschnitten vermehrt auf sekundäre Kontrollmöglichkeiten zurückgegriffen wird (vgl. Glück / Heckhausen 2006, S. 709f.). Diesem Ansatz, wenn auch noch theoretischabstrakt und aus entwicklungspsychologischer Perspektive gesehen, gelingt es, das Individuum in seiner Bedeutung als handelndes und gestaltendes Subjekt hervorzuheben. Freilich muss dabei beachtet werden, dass dem subjektiven Gestaltungswillen des Individuums durch objektive, gesellschaftliche Bedingungen auch Grenzen gesetzt sind (vgl. Faltermaier 2008, S. 168). Die eben dargestellten Perspektiven lebenslanger Lern- und Sozialisationsprozesse, sich wandelnder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in ihrer Vielfalt, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit, die Rolle einschneidender Lebensereignisse und auch das Gestaltungs- und Handlungspotenzial des Subjekts sind grundlegend für ein Verständnis von (Ernährungs-)Sozialisation im Erwachsenenalter.

7.2 G ESELLSCHAFTLICHER W ANDEL UND E RNÄHRUNG 7.2.1 Esskultur im gesellschaftlichen Wandel 7.2.1.1 Industrialisierung der Landwirtschaft – Massenproduktion und Entfremdung Um die Entwicklungen im Ernährungsverhalten auf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Weltrisikogesellschaft verstehen zu können, ist ein kurzer Rückblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse während der Industrialisierung nötig. Erst mit der einsetzenden Hochindustrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es endgültig die Mangelwirtschaft mit den damit einhergehenden, periodisch wiederkehrenden Hungersnöten zu überwinden. Zwar gab es auch zu späteren Zeiten immer wieder Hungersituationen und Mangelernährung in breiten Bevölkerungsteilen, doch waren diese Kriegen und Katastrophen geschuldet. Die Ernährungsversorgung war wohl zum ersten Mal seit Menschengedenken dauerhaft gesichert; zumindest in Deutschland beziehungsweise Mitteleuropa konnten über das ganze Jahr hinweg genug Lebensmittel erzeugt werden, um auch eine stets wachsende Bevölkerung zu ernähren. Dass dies gelang, war Verdienst mehrerer

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Faktoren. Der bedeutendste Faktor war dabei sicher die Agrarrevolution. Der Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft, zum Kunstdüngereinsatz, die Mechanisierung der Landwirtschaft (zum Beispiel die Erfindung des Dampfpflugs) sowie eine veränderte Agrargesetzgebung führten zu einer enormen Steigerung der Produktivität. Ebenfalls bedeutend war die Transportrevolution: Vor allem die Überseeschifffahrt und die Eisenbahn veränderten die Nahrungsversorgung, da durch sie der Lebensmittelhandel völlig neue Dimension bekam. Der Kleinhandel expandierte, kleine Läden, aber auch Waren- und Kaufhäuser eröffneten und ermöglichten den Menschen den Einkauf auch importierter Waren in der unmittelbaren Umgebung (vgl. Hirschfelder 2001, S. 189f.). Auf der einen Seite verschwanden so ehemals wichtige Kulturpflanzen wie Hirse oder Buchweizen beinahe vollständig, während der Verbrauch von Reis und Zitrusfrüchten sprunghaft anstieg (vgl. Wiegelmann 2006, S. 66). Ein weiterer Grund für die verbesserte Nahrungsversorgung waren neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technische Errungenschaften in der Lebensmittelherstellung. Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der Tierzucht ließen Rinder und Schweine größer werden, die Fleisch- und Milcherträge stiegen. Neue Produktionsweisen und Konservierungsmethoden, die industrielle Herstellung von Grundnahrungsmitteln wie Nudeln, oder die Herstellung von Obst-, Gemüseund Fleischkonserven gingen einher mit einem enormen Anstieg des Zuckerverbrauchs, seit man zu Beginn des Jahrhunderts Zucker aus der Zuckerrübe herzustellen wusste. Neue Lebensmittel, wie die Margarine, die billige ›Sparbutter‹, welche aus Ochsenfett, Wasser, Pottasche, Tiermägen, Salz und zerhackten Kuheutern bestand, wurden erfunden. Der Butterersatz wurde, wie die von Justus von Liebig geschaffenen Neuheiten Backpulver und Fleischextrakt, zum etablierten Massenprodukt (vgl. Hirschfelder 2001, S. 194–197). Einen tiefgreifenden Wandel in der Ernährungskultur brachte auch der Einzug des Sparherds in die Küchen. Diese wurden industriell gefertigt und schufen durch die Möglichkeit, mit mehreren Töpfen und dem Backrohr gleichzeitig zu kochen, die Vorrausetzung für eine vielseitigere Kultur des Kochens. Es entstand eine neue, bürgerliche Kochkultur, welche schnell ihren Einfluss auch auf bäuerliche Haushalte nahm. Die gutbürgerliche Küche etablierte sich dauerhaft in der Gesellschaft, wie etwa in der typischen Speisefolge eines ›städtischen Menüs‹. Dieses bestand aus der Vorsuppe, meist eine Fleischbrühe mit Einlage, dem Hauptgericht, Fleisch mit Kartoffeln, Knödeln, Nudeln als Beilage und einer Nachspeise (vgl. Hirschfelder 2001, S. 197ff., 202). Ganz so, wie es auch heute noch vielerorts am Sonntag oder in Gaststätten üblich ist. Kennzeichnend für die Ernährungssituation zu Zeiten der Industrialisierung war jedenfalls der starke Anstieg der zur Verfügung stehenden Lebensmittel: Der quantitativen Verbesserung stand allerdings eine qualitative Verschlechterung von Lebensmitteln gegenüber. Industriell gefertigte Nahrungsmittel waren ärmer an Vitaminen und Ballaststoffen. Die synthetische Herstellung von Vitaminen gelang erst

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in den 1920er Jahren. Gleichzeitig wurden die industriell produzierten Lebensmittel immer fettreicher und salzhaltiger (vgl. Hirschfelder 2001, S. 206). Im Zuge der Industrialisierung wurde der Hunger überwunden, in den Städten etablierten sich neue Lebensmittel, Handelsformen, Kochkulturen und Hauswirtschaftsgewohnheiten. Warenhäuser, Cafés, Restaurants und Kneipen ließen eine neuartige Konsumkultur in die Ernährung einziehen. Diese Trends waren jedoch auf die Städte beschränkt. In den ländlichen, landwirtschaftlich geprägten Gegenden und Bevölkerungsschichten, welche noch immer die Mehrheit bildeten, blieben die vorindustriellen Strukturen und Gepflogenheiten noch bis ins 20. Jahrhundert dominant. Die Eigenproduktion und Selbstversorgung von und mit Nahrungsmitteln blieb für die Mehrzahl der Deutschen der alltägliche Normalfall (vgl. Teuteberg 1987, S. 11ff.). Doch nahm hier eine Entwicklung ihren Anfang, welche heute typisch für die Ernährungskultur ist: »Die bessere Grundversorgung musste mit einer zunehmenden Entfremdung von der täglichen Kost erkauft werden. In dem Maße, in dem die Quantität der Nahrungsmittel zunahm, verminderte sich ihre Qualität« (Hirschfelder 2001, S. 208). Ob letzteres auch heute ebenfalls so stimmt, ist höchst umstritten. Während die einen darauf verweisen, dass aufgrund von Kontrollen, Hygienebestimmungen und Qualitätssicherung das Essen qualitativ so gut und sicher sei wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, gehen andere vor dem Hintergrund immer neuer Lebensmittelskandale vom Gegenteil aus (vgl. dazu Absatz 8.3.6). Eindeutig ist dagegen, dass sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung vom Anbau, Herstellung, Schlachtung, und Verarbeitungsprozessen abgewendet hat, und dem fertigen Produkt im Supermarkt entfremdet gegenübersteht. Diese Entfremdung setzte sich auch nach den Weltkriegen, welche außer dem schon überwunden geglaubten Mangel und Hunger kaum Neuerung in der Ernährung mit sich brachte (vgl. Hirschfelder 2001, S. 233), weiter fort. Deutlich wird dies, wenn man bestimmte numerische Entwickelungen in der Landwirtschaft betrachtet: Während 1950 noch beinahe ein Viertel der Erwerbstätigen, also etwa fünf Millionen Menschen in der Landwirtschaft arbeiteten, waren 2003 nur noch weniger als 900.000 Personen oder etwa 3 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Zahl der Vollzeit-Erwerbstätigen in der Landwirtschaft betrug gerade noch 1 Prozent (vgl. Geißler 2008, S. 151f.). Das unmittelbare Erleben der Lebensmittelproduktion, der Kontext von Pflanzen, Tieren und Menschen in der Herstellung von Nahrungsmitteln, ist für einen Großteil der Bevölkerung keine alltägliche, sinnliche Erfahrung und lässt Lebensmittel zu abstrakten Konsumprodukten werden. Der Kontakt mit der Landwirtschaft, den dort arbeitenden Menschen, dort kultivierten Pflanzen und gehaltenden Tieren ist für viele nicht mehr gegeben Die Herstellung und Verarbeitung von Lebensmitteln ist anonymisiert und findet im Verborgenen statt. Das Endprodukt erscheint dem Verbraucher ohne Entstehungsgeschichte (vgl. Kutsch 1993, S. 101). Dass für den Schinken auf der Pizza ein Schwein geschlachtet wurde, dessen hintere Körperhälfte oder Schulter erst durch pökeln, trocknen, brühen oder räu-

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chern zum Schinken wird (vorausgesetzt, es handelt sich nicht um Schinkenimitat1) und der Käse aus verarbeiteter, dem Euter einer Kuh entnommener Milch besteht (falls es sich nicht um künstlichen Analogkäse2 handelt), sind Zusammenhänge, die nicht nur Kindern immer weniger bewusst sind: »Analog dem Spruch: ›Der Strom kommt aus der Steckdose‹ ist zunehmend zu registrieren, daß Kinder [aber nicht nur diese!] z.T. nach der Einstellung leben: ›Die Milch kommt aus dem Pappkarton‹« (Kutsch 1993, S. 101). 7.2.1.2 Konsumverhalten und technischer Fortschritt Die Entfremdung von den Nahrungsmitteln setzte sich auch in anderen Bereichen fort. Während des Krieges und auch noch einige Jahre danach, waren Hunger und Mangel wieder ständiger Begleiter der deutschen Bevölkerung. Der Schwarzmarkt blühte, man fuhr zum Hamstern aufs Land und versuchte sich irgendwie mit den Hilfeleistungen und Zuweisungen der Alliierten am Leben zu halten. Als sich mit Beginn der 50er Jahre die Versorgungslage allmählich, aber spürbar für die gesamte Bevölkerung verbesserte, hatten die Menschen einen enormen Nachholbedarf und verschlangen alles, was fett, nahrhaft und lange Jahre knapp beziehungsweise gar nicht zu haben war. Die steigenden Löhne, die das in Fahrt kommende Wirt1

Schinkenimitat oder Schinkenersatzprodukte werden sehr häufig in der Gastronomie eingesetzt. In Deutschland sollten Schinken, Vorderschinken und Formfleischerzeugnisse einen Fleischgehalt von circa 95 Prozent aufweisen, der Gehalt an über die Pökellake zugesetztem Wasser liegt bei maximal 5 Prozent. Ersatzschinken haben einen Fleischgehalt von 50–60 Prozent, oftmals weniger. Die kleinen Fleischreste stammen meist aus dem Ausland, die fehlende Fleischmasse wird mit Wasser ausgeglichen und mit Gelier- und Verdickungsmittel zu einer schnittfesten Masse verklebt. Dieser billige Schinkenersatz wird in der Gastronomie sehr häufig eingesetzt, nicht aber als solcher deklariert, sondern illegal als Hinter-, Vorder- oder Formschinken ausgegeben (vgl. Kugler 2009).

2

Unter Analogkäse versteht man Erzeugnisse, die ähnlich aussehen wie Käse, aber nicht aus Milch hergestellt werden. In der Produktion wird das Milchfett ganz oder teilweise durch billigere pflanzliche Öle beziehungsweise Fette ersetzt. Wird ein Milchbestandteil ganz oder teilweise ersetzt, darf die Bezeichnung ›Käse‹ – auch in Wortbestandteilen nicht mehr verwendet werden. Ob entsprechende Produkte verwendet wurden, kann der Verbraucher also nur daran erkennen, dass in der Zutatenliste nicht das Wort ›Käse‹ oder eine bestimmte Käsesorte auftaucht, sondern pflanzliche Fette, Öle, Stärke und Aromastoffe. Problematisch ist die Verwendung einer Mischung aus Käse und Käseimitaten, da in der Zutatenliste der Käse erwähnt wird, vom ›Imitat‹ allerdings nur die Bestandteile angegeben sind. Analogkäse findet seinen Einsatz vor allem in gefrorenem Convenience Food, in Bäckereien (Käsestangen, Croissants) und in der Gastronomie, dort vor allem bei der Pizzaherstellung (vgl. Werkmeister 2009).

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schaftswunder mit sich brachte, führten zu einem enormen Anstieg des Konsums und zu deutlichen Veränderungen im täglichen Essverhalten. Der Verbrauch von Roggen-, Misch- und Schwarzbrot, von Mehl, Hülsenfrüchten und Kartoffeln ging stark zurück. Man hatte diese billigen Grundnahrungsmittel, welche jahrelang oft das einzige waren, was zur Versorgung zur Verfügung stand, buchstäblich satt. Dagegen stieg der Konsum von Backwaren, Obstkonserven, Zucker, Quark, Butter, Süßigkeiten, Südfrüchten und Feingemüse wie Tomaten rasant. Ebenso war es beim Fleisch, das in den 50er Jahren noch nicht Alltagsessen war, aber gerade beim günstigen Schweinefleisch und Geflügel waren starke Zuwächse im Verbrauch zu verzeichnen. Auch Genussmittel waren gefragt. Die Ausgaben für Tabak, Bohnenkaffee, Tee, Wein, Bier und Spirituosen verdreifachten sich (vgl. Wildt 1993, S. 214ff. / Teuteberg 1986), so dass der Volkskundler Gunther Hirschfelder nicht nur eine ›Fresswelle‹, sondern auch eine »Rauch- und eine Trinkwelle« (Hirschfelder 2001, S. 242) konstatiert. Diese Verschiebungen in der Verbrauchsstruktur waren auch richtungsweisend und prägend für die kommenden Jahrzehnte, in denen sich die Tendenzen der 50er Jahre zu großen Teilen fortsetzten. Der Verbrauch von Kartoffeln, Grobgemüse (zum Beispiel Rüben, Kohl) und Getreide sank kontinuierlich, der Konsum von Zitrusfrüchten, Feingemüse, Zucker, Quark, Schweinefleisch und Geflügel stieg kontinuierlich bis in die 90er Jahre (vgl. Weggemann 1996, S. 23–30). Die Politik hatte die steigenden Konsumzahlen nachhaltig gefördert, etwa mit dem Grünen Plan von 1955, eine Bundesinitiative, welche den heimischen Agrarsektor wettbewerbsfähiger machen und vor billigen Importen schützen sollte. Mit hohen Subventionen wurden so beispielsweise riesige Hühnerfarmen gefördert, deren Tiere nicht nur als Nachschub für die damals gegründete und stark expandierende Schnellkost-Kette Wienerwald dringend benötigt wurden. Es gelang damit eine erhebliche Produktionssteigerung, allerdings nur um den Preis einer Mechanisierung, Chemiesierung und Standardisierung der gesamten Landwirtschaft (vgl. Hirschfelder 2001, S. 242). Dies führte letztendlich zum Ende der kleinbäuerlichen Landwirtschaft mit all ihrer Mühsal, aber auch all ihren regionalspezifischen Pflanzensorten, Tierrassen und traditionellen Bewirtschaftungsweisen. Wer etwa in der oberbayerischen Alpenregion noch an der alten, autochthonen Rinderrasse Murnau-Werdenfelser festhielt, mit ihrem langsameren Wachstum und ihrem geringeren Leistungen, war sozusagen der ›Dorfdepp‹. Ein Umstand, der maßgeblich dazu beitrug, dass diese Rasse (neben ungezählten anderen) beinahe ausgestorben wäre3. Die Spezialisierung der Landwirte auf Fleisch oder Milch führte vor dem Hintergrund einer auf Masse aus3

Auch heute noch ist der Bestand des Murnau-Werdenfelsers bedroht. Allerdings finden sich langsam wieder mehr und mehr Landwirte, welche die Weiden wieder mit ›heimischen‹ Tieren beschicken, so dass sich der Bestand zu erholen scheint (vgl. Slow Food Deutschland 2010).

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gerichteten Agrarpolitik zum Einsatz von Hochleistungsrinderrassen, die zum Standard im Stall wurden und alte, heimische Rassen verdrängten. Diese Entwicklung hin zu einer standardisierten Massenproduktion in der Landwirtschaft, welche natürlich nicht nur auf den Nutztierbereich beschränkt war, nahm in den 50er Jahren ihren Anfang. Ein Prozess, der zwanzig Jahre später schon für Argwohn bei der aufkommenden Umweltbewegung sorgen sollte. Doch Ende der 50er Jahre war außer den quantitativen Veränderungen im Verbrauch kaum ein Wandel in Haushalt, Küche und Ernährungsgewohnheiten festzustellen. Erst mit den 60er und 70er Jahren kam es zu größeren qualitativen Neuerungen in der Esskultur. Ein bedeutender Faktor dieses Wandels waren dabei neue technische Errungenschaften und Veränderungen in der Beschaffung, der Zubereitung und Vielfalt von Nahrungsmitteln. 7.2.1.3 Die Technisierung des Haushalts und der Wandel im Handel In den 60er Jahren begannen technische Errungenschaften bis in die Küche und damit in das Alltagsleben der Bevölkerung vorzudringen. Bis weit in die 50er Jahre waren, vor allem auf dem Land, viele Küchen noch nicht mit fließendem Wasser ausgestattet, teilweise war man auch noch nicht an das Strom- und Gasnetz angeschlossen. In den 60er Jahren sollte sich dies ändern und zudem der Siegeszug der Elektrogeräte in der Küche beginnen. Die Kältemaschine wurde schon im 19. Jahrhundert erfunden, war aber teuer und sperrig und kam nur in der Großgastronomie und Industrie zum Einsatz (vgl. Schlegel-Matthies 1998, S. 77).Der Haushaltskühlschrank schaffte es erst jetzt in deutsche Küchen einzuziehen, dies dafür schnell und flächendeckend. Anfang der 60er hatte etwa die Hälfte der Bevölkerung einen Kühlschrank, zehn Jahre später stand bereits in fast jedem Haushalt ein solches Gerät (vgl. Weggemann 1996, S. 37). Alte Konservierungsmethoden wie Trocknen, Einsalzen, Räuchern und Einmachen befanden sich von nun an auf dem Rückzug. Frische Nahrungsmittel, die sich nun besser hielten, wurden öfter gekauft und verzehrt. Die etwas langsamer verlaufende Ausbreitung der Gefrierschränke machte die Menschen unabhängig von den bis dahin den Speiseplan gestaltenden Jahreszeiten. Wenn nun im Herbst geschlachtet wurde, konnte man das Fleisch einfrieren, was die Herstellung von Wurstkonserven und Wurstgläser obsolet machte (vgl. Hirschfelder 2001, S. 245). Obst und Gemüsekonserven ersetzten nach und nach selbst Eingemachtes. Sie waren praktisch, leicht zu bevorraten, machten weder Arbeit noch Dreck und sparten dadurch viel Zeit (vgl. Wildt 1993, S. 221). Nach und nach kamen immer weitere Geräte hinzu, welche die Art und Weise des Hauswirtschaftens veränderten: Mixer, Rührgeräte, Küchenmaschinen. Für die Nutzer dieser Geräte, den Frauen, welche sich zu dieser Zeit größtenteils noch als Hausfrauen verstanden und zu verstehen hatten, wurden diese Geräte als Segen empfunden. Sie hoben das Selbstwertgefühl, galten als modern und waren zeit- und kraftsparend (vgl. Wildt 1993, S. 220). Zuvor war etwa das Kuchenbacken mit dem An-

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rühren und Kneten des Teiges eine anstrengende und zeitintensive Tätigkeit. Heute gehören alle diese Geräte zur Standardausstattung in der Küche, ergänzt um Elektroherde, Geschirrspüler, Mikrowellen, Dunstabzugshauben, Toaster und Kaffeemaschinen (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 186). Die neuen Errungenschaften führten dazu, dass die Selbstproduktion sukzessive zurückging, Tiefkühl-, Halbfertig- und Fertigprodukte, die heute unter dem Begriff Convenience4 geläufig sind, begannen den Markt zu erobern. Anfangs der 60er Jahre betrug der Pro-Kopf-Verbrauch von Tiefkühlkost (ohne Speiseeis) gerade einmal 830 Gramm pro Jahr und stieg innerhalb zehn Jahren auf 10 Kilogramm pro Jahr (vgl. Deutsches Tiefkühlinstitut e.V. 2010a). Im Jahr 2009 erreichte der Pro-KopfKonsum mittlerweile eine Menge von 39 Kilogramm pro Jahr, Tendenz steigend (vgl. Deutsches Tiefkühlinstitut e.V. 2010b). Der größte Vorteil des Convenience Food ist, wie der Name schon andeutet (Convenience = Bequemlichkeit), der geringe Arbeitseinsatz und die enorme Zeitersparnis. Vieles von dem, was gegessen wird, wird dabei gar nicht mehr als Fertigprodukt wahrgenommen und empfunden. Brot, Nudeln, Joghurt und Eis werden zu beinahe 100 Prozent fertig gekauft und werden dennoch vom Verbraucher nicht als Fertigprodukte wahrgenommen. Fertige Produkte wie Mayonnaise und Pommes Frites, Soßen und Kartoffelpüree haben mittlerweile Marktanteile bis zu 80 Prozent und verdrängen mehr und mehr die selbst zubereiteten Varianten (vgl. Weggemann 1996, S. 31). Mit dem zunehmenden Anteil an Fertigprodukten stieg auch der Einsatz von künstlichen Aromen, Konservierungsmitteln und Geschmacksverstärkern wie Natriumglutamat, um die Produkte schmackhafter und haltbarer zu machen. Doch nicht nur in den Haushalten, vor allem auch in der Gastronomie und in den scheinbar handwerklich arbeitenden Lebensmittelbetrieben, wird mit Convenience-Produkten gearbeitet. Bäckereien und Konditoreien arbeiten oft mit vorgefertigten Teigwaren oder kaufen beispielsweise die fertig geputzten, geschälten und geschnitten Apfelstückchen für ihre Kuchen und ihr Gebäck. In der Gastronomie werden vorgekochte Spätzle, Knödel und Soßen serviert, und das nicht nur in der Imbissbude um die 4

Der Begriff Convenience Food bedeutet bequemes Essen und ist ein relativ unscharfer Begriff für Lebensmittel, welche zum Teil oder komplett vorgefertigt sind und die Zubereitung des Essens erleichtern und verkürzen soll. Unter Convenience Food wird also sowohl Tiefkühlkost, Konserven und Fertiggerichte verstanden, als auch Suppenwürze, fertig geputztes Gemüse oder Sandwichs. Mittlerweile werden innerhalb der Convenience Sparte die Kategorien Chilled-Food und Cook & Chill Food geführt. Damit sind vorgefertigte und fertige, relativ frische und deshalb gekühlte Lebensmittel gemeint, wie etwa servierfertiger Salat mit Dressing im Extrabecher, frisches Obst in mundgerechten Häppchen, Nudel- und Reisgerichte oder Hamburger. Chilled Food ist dabei vorbereitet, aber noch roh, während Cook & Chill Food mindestens zu 90 Prozent vorgegart ist und nur noch erwärmt werden muss (vgl. Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2000).

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Ecke. Auch Sterneköche greifen zum Teil auf die eine oder andere Erleichterung zurück und lassen sich beispielsweise das Brot von einem, natürlich sehr gutem Bäcker, vorfertigen. Dieser backt dann das Brot nur zu 70 bis 80 Prozent durch, verschickt es in die ganze Republik und darüber hinaus. Das Brot ist so eine gute Weile haltbar, im Sternerestaurant muss es nur noch einmal kurz aufgebacken werden und kommt dann ›frisch‹ auf den Tisch. Das Angebot und die Vielfalt von Convenience Produkten ist mittlerweile enorm. Allein das Großhandelsunternehmen Lekkerland – »the covenience company«, welches vor allem die Shops von Tankstellen beliefert – hat etwa 6000 Artikel im Food-Sortiment (vgl. Lekkerland 2011). Die enorme Produktvielfalt, welche heute kennzeichnend für den Lebensmittelmarkt ist, nahm ebenfalls in den 60er Jahren ihren Anfang. In den Gefriertruhen der Lebensmittelgeschäfte fand man damals nicht viel mehr als Rahmspinat und Tiefkühlhähnchen (vgl. Hirschfelder 2001, S. 245). Noch in den 50er Jahren hatte ein Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung ein Angebot von 500 bis 700 Artikeln, 1967 standen schon durchschnittlich 3000 Artikel in den Regalen (vgl. Weggemann 1996, S. 34f.). Dementsprechend wandelten sich auch die Verkaufssysteme, wurden die selbständig geführten, kleinflächigen Bedienungsläden der Vor- und Nachkriegszeit von den entstehenden Supermärkten und Warenhäusern mit Selbstbedienung verdrängt (vgl. Teuteberg 1998, S. 57f.). Die Selbstbedienung wurde vom Kunden gerne angenommen, jetzt konnte die Ware begutachtet und angefasst und in Ruhe ausgewählt werden. Da nun das Aussehen der Ware wichtiger wurde, wurde auch die Präsentation und Verpackung wichtiger. Eine der Konsequenzen daraus war sicherlich, dass bei gleichzeitiger Steigerung der Produktvielfalt auch die Relevanz von Markenprodukten stieg (vgl. Böcher 1998). Heute stehen in einem Supermarkt mehrere tausend5 Lebensmittel im Regal. Im scharfen Wettbewerb des Lebensmitteleinzelhandels werden ständig neue Produkte auf den Markt gebracht und alte aus dem Sortiment genommen. Es wird versucht, das Sortiment so auszuweiten und zu gestalten, dass neue Bedürfnisse geweckt werden und deren Befriedigung zu steigenden Marktanteilen führt. Der Verbraucher wird genau analysiert, dass Sortiment angepasst und unter neuen Begriffen wie Functional- oder Chilled-Food vermarket. »Wellfood6«, so der Verband, ist der 5

Genaue Angaben können nicht gemacht werden. Sowohl REWE als auch Edeka konnten auf Nachfrage nicht sagen, wie viele Lebensmittel in den verschiedene Supermarktformen zu finden sind. Rewe teilte schriftlich mit, dass je nach Markttyp und Größe zwischen 8.000 und 45.000 Produkte im Sortiment sind. Der Anteil an Lebensmittel daran konnte wiederum nicht benannt werden und schwankt sicher nach Größe des Marktes.

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Unter ›Wellfood‹ oder ›Wohlfühl-Lebensmitteln‹ wird in der Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) und der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie (BVE) frisches Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, fett- und zuckerreduzierte/-freie

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neue Trend, welcher auf die Bedürfnisse der Verbraucher nach Gesundheit beziehungsweise gesunder, nachhaltiger Ernährung eingeht und von dem man sich enormes Umsatzpotenzial verspricht. Der Verbraucher steht jedenfalls vor endlosen Regalen und hat die Qual der Wahl. Scheinbar ist alles zu haben, was man sich vorstellen kann oder auch nicht vorstellen konnte. Die Vielfalt ist allerdings nicht so überwältigend wie sie zu sein scheint. Viele neue Produkte sind alte Hüte im neuen Gewand. Ein Großteil der Vielfalt von zigtausend Lebensmitteln rührt daher, dass ein Produkt in vielerlei Variationen und Marken angeboten wird. Man kann in jedem Supermarkt zwischen mehreren Dutzend Müsli und Cornflakes-Varianten wählen. Sucht man dagegen nach verschieden Kartoffelsorten, ist die Vielfalt zu Ende. Mit Glück kann man sich zwischen festkochenden und mehlig kochenden Kartoffeln entscheiden. Es ist die Ambivalenz der gegenwärtigen Gesellschaft, die zum einem eine unglaubliche Anzahl und Menge an Lebensmittel zur Verfügung hat und andererseits doch immer ärmer an Gemüse und Obstsorten wird. Wer sein Gemüse im Supermarkt kauft, wird sich kaum vorstellen können, dass es viele hundert Tomatensorten gibt, dass Karotten nicht nur orange, sondern auch weiß, rot, violett oder schwarz sein können. Die meisten werden dies verkraften, denn das Angebot im Supermarkt ist für den Durchschnittsverbraucher, von den Freunden und Fürstreitern alter Kultursorten einmal abgesehen, ohnehin mehr als ausreichend. Vielmehr scheint es, dass trotz des riesigen Angebots eine individuelle, abwechslungsreiche und kreative Ernährung nicht der Normalfall ist, sondern sich oft einseitig und standardisiert gestaltet. Gunther Hirschfelder erklärt dies damit, dass Unbekanntes keine emotionale Sicherheit verschafft, gerade dies aber in einer globalisierten und individualisierten Gesellschaft, welche kaum mehr von traditionellen Normen und Werten geprägt ist, gesucht wird: »Sobald diese Normen verloren gehen, zieht sich der Konsument auf die wenigen Geschmacksinseln zurück, die ihm bleiben, und er sucht das standardisierte Mahl« (Hirschfelder 2001, S. 256). Die Erklärung von Gunther Hirschfelder klingt plausibel, bleibt in ihrem Ansatz jedoch zu eindimensional. Die oben beschriebenen Entwicklungen werden flankiert und maßgeblich gefördert von tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt und den Lebensformen während der letzen fünf Jahrzehnte, die für die Esskultur und die Ernährungsweise von großer Bedeutung waren.

Produkte, diätetische Lebensmittel, probiotische Lebensmittel und biologisch erzeugte Lebensmittel verstanden. Der Begriff ist relativ weit gefasst, da gesunde Ernährung und gesunde Lebensmittel Begriffe sind, die individuell verschieden interpretiert werden.

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7.2.2 Wandel des Geschlechterverhältnisses und der Arbeitsformen und deren Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten 7.2.2.1 Geschlechterrollen im Wandel Bis Mitte der 60er Jahre waren Frauen im starken Maß von traditionellen Rollenvorstellungen der Geschlechter geprägt. Die Rolle des Mannes war die des autoritären Familienoberhauptes, welcher für das Einkommen sorgt, während die Frau sich um den Haushalt und die Familie kümmerte. Junge Frauen arbeiteten nach der Ausbildung im Regelfall solange, bis sie verheiratet waren und gaben dann den Beruf auf, um sich ganz den Bedürfnissen von Haushalt und Familie zu widmen. Wenn Frauen arbeiteten, dann meistens, weil die Einkünfte des Mannes allein nicht ausreichten, um den Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. Pfeil 1968, S. 87). Diese Rollenverteilung wurde von beiden Geschlechtern mehrheitlich akzeptiert und befürwortet. In einer Umfrage von 1958 sprachen sich 55 Prozent der Männer und 61 Prozent der Frauen für ein Verbot der Erwerbstätigkeit für Frauen mit Kindern unter zehn Jahren aus (vgl. Pfeil 1961, S. 36). Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre wirkten sich die Individualisierungsprozesse auch auf den weiblichen Lebenslauf aus. Die Veränderungen und Wandlungsprozesse in der Lebenswelt der Frau, von der Abhängigkeit zur Selbstständigkeit, überschrieb Elisabeth Beck-Gernsheim mit dem Weg »Vom ›Dasein für andere‹ zum Anspruch auf ein Stück ›eigenes Leben‹« (Beck-Gernsheim 1983). Auslöser dieses Wandlungsprozesses war ein ganzes Bündel an Ursachen. Die Industrie hatte zu dieser Zeit einen enormen Bedarf an Arbeitskräften, gleichzeitig forcierte die staatliche Bildungspolitik die Angleichung der Bildungschancen, sorgte für eine bessere Qualifikation und Ausbildung und damit auch für einen Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit und wachsender finanzieller Selbstständigkeit. Auch das gesellschaftliche Klima änderte sich, die Studenten- und Frauenbewegung brachte eine neue Moral und ein neues Selbstbewusstsein hervor. Die Einstellung zur Sexualität der Frau, welche zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung bis dahin erst mit der Ehe begann, wurde liberaler und selbstbestimmter, auch, da durch die ›Pille‹ Schwangerschaft nun besser und sicherer planbar wurde. Auch rechtlich zeigte sich der intellektuelle Umschwung dieser Zeit, das Ehe-, Familien- und Scheidungsrecht wurde neugestaltet, die gesetzlich fixierte Zuständigkeit der Frau für die Hausarbeit und Familie beispielsweise abgeschafft (vgl. Peuckert 2008, S. 229f.). Gerade von der Bildungsexpansion profitierten die Frauen in großem Ausmaß. Der Anteil der Frauen mit höheren schulischen Abschlüssen und auch Universitätsabschlüssen stieg in den letzten Jahrzehnten deutlich, so dass die jungen Frauen die jungen Männer an Realschulen, Gymnasien und Universitäten nicht nur zah-

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lenmäßig überholt haben, sondern auch die besseren Abschlüsse erzielen. Mit den Bildungserfolgen wandelte sich auch das Selbstbild der Mädchen und Frauen. Durch die eigene berufliche Tätigkeit entwickelten sie ein neues (Selbst-)Bewusstsein und neue Denkweisen, welche auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit ausgerichtet sind (vgl. Peuckert 2008, S. 230). Das Hausfrauen-Dasein ist für den Großteil der jungen Frauen nicht mehr vorstellbar oder gar erstrebenswert, vielmehr wird unter großen Anstrengungen versucht, Familie, Kinder und Beruf miteinander zu vereinbaren. Inwieweit das gelingt, ist eine andere Frage. 7.2.2.2 Geschlecht, Erwerbstätigkeit und Hausarbeit Wenn nur (oder immer) noch 20 Prozent der Frauen zwischen 18 und 38 Jahren Hausfrauen sind (in höheren Altersgruppen sind es noch etwa ein Drittel), stellt sich die Frage, wie der Familienhaushalt7 geführt wird und sich die Ernährung gestaltet, wenn Mann und Frau arbeiten. Die »Entfamilialisierung der Frauen« (Peuckert 2008, S. 231) zeigt sich deutlich am Anstieg der Erwerbsquote: lag diese Anfang der 70er Jahre bei 48 Prozent, betrug sie im Jahr 2004 65 Prozent, das heißt zwei Drittel der Frauen im erwerbsfähigen Alter (15–65 Jahre) waren erwerbstätig, trotz starker Rückgänge bei jüngeren Frauen, welche vermehrt weiterführende Schulen und Universitäten besuchen. Auch die Erwerbstätigenquote von Müttern mit minderjährigen Kindern ist stark gestiegen und hat sich zwischen 1965 und 2004 von 35 Prozent auf 62 Prozent beinahe verdoppelt. Allerdings verschleiert die Erwerbstätigenquote, dass der Zuwachs der Erwerbstätigkeit von Frauen sich auf Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung8 beschränkt (vgl. Peuckert 2008, S. 231f.). Das Partnerschaftsmodell mit mütterlicher Erwerbsarbeit in Form von Teilzeitbeschäftigung wird in der Geschlechtersoziologie als »modernisierte Versorgerehe« (Pfau-Effinger 2001, S. 497) bezeichnet, in Abgrenzung zur traditionellen männlichen Versorgerehe eines Vollzeit erwerbstätigen Mannes und einer nicht erwerbstätigen Hausfrau. Wenn nun diese modernisierten Versorgerehen zunehmen, Frauen mitverdienen und die Mehrheit der Frauen und Männer eine gleichberechtige Organisation der Hausarbeit befürworten, könnte man davon ausgehen, dass sich die Arbeitsteilung im Haushalt, also für Einkaufen, Kochen und Waschen zwischen Mann und Frau mittlerweile egalitärer gestaltet. Verglichen mit den 60er Jahren hat sie das auch, Männer beteiligen sich heute stärker an Haushaltstätigkeiten (vgl. 7

Bezüglich Alleinstehende / Singles siehe Absatz 7.2.3.2.

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Mit dieser Ungleichheit im Erwerbsverhalten gehen weitere, sich deutlich nachteilig auswirkende Ungleichheiten bei Einkommen, Karriere und sozialer Sicherung einher. Das geringere Arbeitsvolumen führt beispielsweise zu einem geringeren Lebenserwerbseinkommen und dies wiederum wirkt sich stark auf die Rentenbezüge im Alter aus (vgl. Peuckert 2008, S. 232f.)

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Künzler et al. 2001, S. 82f). Dennoch bleibt die Arbeitsteilung im Haushalt höchst ungleich verteilt. Die Gesamtarbeitsbelastung9 pro Woche liegt für Mann und Frau bei 86 Stunden, jedoch unterschiedlich aufgeteilt. Während Frauen von diesem Zeitkontingent 40 Stunden für die Hausarbeit aufwenden, sind es bei Männern nur 16 Stunden. Diese haben wiederum mit 52 Wochenstunden einen deutlich höheren Zeitaufwand als Frauen (18 Stunden) in der bezahlten Erwerbsarbeit (vgl. Walter / Künzler 2002, S. 106). Die ungleiche Beteiligung an der Hausarbeit hängt in hohem Maße10 von der Zeit ab, welche für die Erwerbsarbeit aufgebracht wird: je stärker Frauen am Erwerbsleben teilnehmen, umso größer ist auch die Mithilfe des Partners im Haushalt. Zu einem ausgeglichenen Verhältnis kommt es jedoch nie. Unabhängig vom Haushaltstyp beziehungsweise des Umfangs der Erwerbstätigkeit des Partners, ist es nach wie vor die Frau, welche den größten Teil der Hausarbeit leistet. Das bedeutet, dass nicht nur die erwerbslose Hausfrau mehr Hausarbeit, sondern auch die Frau, welche Vollzeit beschäftigt ist, mehr Zeit (im Schnitt zehn Stunden pro Woche) für den Haushalt aufbringt als der ebenfalls Vollzeit erwerbstätige Partner (vgl. Künzler et al. 2001, S. 85). Insbesondere das Kochen ist dabei eine Tätigkeit, die anscheinend typisch weiblich konnotiert ist. Das alltägliche Kochen bleibt traditionell im Aufgabenbereich der Frau: beinahe in 80 Prozent aller Paarhaushalte ist das Essenkochen eine Aufgabe, die immer oder meistens von der Frau erledigt wird (vgl. Scheller 2005, S. 218). Kochen ist also noch immer Frauensache, von daher ist es doch verwunderlich, dass die eher ›gesundheitsbewusste‹ Ernährung der Frau nicht auf die Männer abfärbt beziehungsweise sich darauf auswirkt. Dies legt die Vermutung nahe, dass Frauen das Essen zubereiten, dieses aber nicht nach ihren Vorstellungen gestalten, sondern nach den Vorstellungen und Wünschen der Männer (und Kinder) ausrichten. Is[s]t Frau alleine, wird anders gekocht, als wenn ein Mann mit am Tisch sitzt und bekocht werden will (vgl. Empacher et al. 2002, S. 190). Insgesamt haben Frauen ihren Zeitaufwand für Hausarbeiten in den letzten zehn Jahren um eine halbe Stunde verringert. Diese Zeitersparnis ist jedoch nicht der Mithilfe der Männer geschuldet. Nach Rüdiger Peukert liegt dies vor allem11 am

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Darunter wird sowohl bezahlte, also Erwerbs- und Produktionsarbeit, als auch unbezahlte Reproduktionsarbeit (darunter fallen alle Arbeiten im Haushalt, die Kinderpflege und -betreuung sowie sonstige Tätigkeiten, wie beispielsweise die Aufrechterhaltung von verwandtschaftlichen Kontakten oder Pflege von Angehörigen) verstanden (vgl. Peuckert 2008, S. 247).

10 Weiter Faktoren sind das Alter, das Bildungsniveau, das Haushaltseinkommen sowie generelle Einstellungen zum Geschlechterverhältnis (vgl. Künzler et al. 2001, S. 92). 11 Peuckert führt zudem noch bezahlte Dienstleistungen als Grund an. Eine Haushaltshilfe ist jedoch nur für finanziell besser gestellte Haushalte zu verwirklichen. Für Normal- und

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steigenden Technisierungsgrad der Haushalte sowie der wachsenden Nutzung von Convenience Produkten (vgl. Peuckert 2008, S. 249, 253). 7.2.2.3 Erwerbstätigkeit und Ernährungsverhalten Wenn Menschen arbeiten und zumindest einen Teil ihrer Zeit außer Haus verbringen, wird auch die Nahrungsaufnahme zunehmend aus dem häuslichen Bereich in die Arbeitsstätten verlagert. Schon in den 1870er entstanden aus diesem Grund die ersten Betriebskantinen für Arbeiter, welche man Menagen nannte, zum einem, um die Arbeiter auf dem Fabrikgelände zu versorgen, zum anderen auch, um diese enger an das Unternehmen zu binden. Die neu entstandene Klasse der Angestellten nahm ihre Mahlzeiten getrennt von den Arbeitern ein, in sogenannten ›Erfrischungsräumen‹, welche sich deutlich von den Kantinen der Arbeiter unterschieden (vgl. Hirschfelder 2001, S. 205f.). Heutzutage verbringt ein Vollzeit Erwerbstätiger zwischen neun und zehn Stunden außer Haus (vgl. Groß / Thoben / Bauer 1989, S. 140), von Heimarbeitern und Selbständigen, die ihren Arbeitsplatz zu Hause haben, abgesehen. Die Nahrungsversorgung in dieser Zeit wird auf die unterschiedlichsten Weisen gestaltet. Die häufigsten Versorgungsarten sind das Essen in der Kantine oder Cafeteria12, das Essen zu Hause und der Verzehr von mitgebrachtem Essen. Das Essen in Restaurants oder der Verzehr von gekauften Speisen oder Snacks stellen dagegen eher ergänzende Alternativen dar (vgl. Köhler 1996, S. 267). Frauen essen eher zu Hause und bringen ihr Essen häufiger selbst mit als Männer, da sie öfter Teilzeit arbeiten und die Versorgung so besser von zu Hause aus koordinieren können (vgl. Kutsch 1996, S. 264). Eine Kantine steht etwas weniger als der Hälfte der Beschäftigen zur Verfügung, genutzt wird sie von etwa einem Drittel aller Erwerbstätigen (vgl. Köhler 1996, S. 267). Die Nutzung ist dabei stark schichtabhängig. Beamte und Angestellte nutzen die Kantinen am häufigsten, am wenigsten werden sie von an- und ungelernten Arbeitern aufgesucht (vgl. Köhler 1996, S. 273f.). Wer mit 1000 Euro netto im Monat zu Recht kommen muss, kann es sich kaum leisten, täglich in der Kantine zu essen und zu trinken. Rechnet man 5 Euro pro Mahlzeit mit Getränk, summiert sich dies im Monat auf etwa 100 Euro, was Geringverdiener-Haushalte dürfte die Bedeutung von Haushaltshilfen bei der Zeiteinsparung kaum eine Rolle spielen. 12 Gerade in Großküchen wie Mensen, Kantinen und Cafeterien werden immer mehr Convenience Produkte angeboten oder weiterverarbeitet. So hat sich der Verbrauch von Tiefkühlkost bei Großverbrauchern (Gastronomie, Kantinen, Anstalten) in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt (vgl. Deutsches Tiefkühlinstitut e.V. 2011). Problematisch ist dies, wenn Menschen auf die Nutzung solcher Versorgungseinrichtungen angewiesen sind (zum Beispiel in Betriebskantinen) und im Bedarfsfall nicht ohne weiteres beziehungsweise großen Aufwand auf Alternativen ausgewichen werden kann.

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einem Zehntel des Nettoeinkommens entspricht. Mit sinkendem Einkommen wird der Anteil der Außer-Haus- Verpflegung, vor allem die Bereitschaft eine Kantine oder ein Restaurant aufzusuchen geringer (vgl. Karg 2004, S. 84). Dort wo keine Kantine vorhanden ist, zumeist in kleineren Betrieben, wird, wenn nicht zu Hause gegessen wird, das Essen mitgebracht und zu Teilen zugekauft. Problematisch für diese Beschäftigten ist, dass es in Klein- und Kleinstbetrieben oftmals an geeigneten Pausenräumen fehlt (vgl. Köhler 1996, S. 271f.). Dieses Problem teilen sie sich mit der Vielzahl an Beschäftigten mit wechselnden Einsatzorten wie beispielsweise Bauarbeitern. Diese haben zum Teil schwere körperliche Arbeiten zu verrichten, aber nur sehr begrenzte Möglichkeiten, die Ernährung am Arbeitsplatz zu gestalten. Über das Ernährungsverhalten dieser Gruppe von Erwerbstätigen ist sehr wenig geforscht worden und deshalb auch kaum etwas bekannt, doch gibt der Dachdecker Herbert im Interview einen guten Einblick über seine Ernährungsweise während der Arbeitszeit: »Wir fahren in der Früh zum Bäcker, da nimmt man sich ein paar Brezen mit, so ein, zwei Brezen und das ist dann mein Frühstück. Mittags, je nachdem wo wir sind, gehen wir entweder in eine Metzgerei und holen was, oder jetzt, in Stadt B, ist der Gasthof A nicht weit. Da fahren wir hin zum Mittag machen. Brotzeit machen wir keine mehr und wenn, dann unterm arbeiten. Wir machen eine Stunde Mittag und gehen dann irgendwo hin zum Pause machen wo man vielleicht, je nachdem, was Vernünftiges zum Essen bekommt.« (Interview 4, Herbert, Z. 141ff.)

Essen gehen, Snacks und Convenience Produkte13, die Versorgung wird täglich improvisiert und an die Umstände angepasst. Die Zeit ist knapp, die Mahlzeiten müssen schnell, am besten sofort, verzehrbereit sein. Die mangelnde Zeit ist ein Faktor, den alle Berufstätigen gemeinsam haben (vgl. Köhler 1996, S. 272ff.). Zu kurze Pausen oder ein großes zu bewältigendes Arbeitspensum stehen einer gepflegten Mahlzeit oft im Weg – nicht nur auf Baustellen, auch im Büro: »Aber de facto ist es nicht so, dass ich mich in meiner Arbeitszeit mal ein Viertelstunde ausklinken und das Essen genießen kann. Ich schiebe es mir halt quer rein, nebenbei. Ungesünder geht es nicht« (Interview 5, Marie, Z. 484ff.). 7.2.2.4 Zur Fastfood Kultur Fastfood, Convenience, Fertiggerichte oder die Take-Away-Kultur sind keine neuen Erfindungen. Schon im antiken Griechenland und Rom wurden im öffentlichen 13 Herbert ist alleinlebender Single. Für verheiratete Handwerker dürfte auch das Mitnehmen von belegten Broten und Mahlzeiten, welche die Ehefrauen zubereiten, eine größere Rolle spielen.

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Raum Snacks und Kleinigkeiten wie zum Beispiel Bratfisch, Brote und Breie für den Hunger zwischendurch angeboten. Die Imbisskultur, wie wir sie heute kennen, entstand mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Zu Zeiten der Hochindustrialisierung gab es in England über 10.000 Fish & Chips-Buden, welche vornehmlich in der Nähe von Fabriken und Arbeitersiedlungen angesiedelt waren und den Hunger der Arbeiter stillten (vgl. Prahl / Setzwein 1999, S. 197f.). Nach dem Krieg hielt die mobile Esskultur nach und nach auch in Deutschland Einzug. Die britischen Soldaten in den Besatzungszonen, welche es schon gewöhnt waren, im Gehen zu essen, wurden bald von Einheimischen nachgeahmt. Die Versorgung durch die sogenannten Trümmerbuden, welche beispielsweise Buletten verkauften, war jedoch marginal und spielte kaum eine Rolle. Erst in den 60er Jahren, mit steigendem Wohlstand, konnte sich der Schnellimbiss in Deutschland durchsetzen. Das Angebot wurde immer breiter, Gulasch, Würste, Brathähnchen wurden von immer mehr Imbissbuden angeboten. Die Reisewelle, welche die Deutschen erfasste, brachte neue Ideen und Bedürfnisse mit sich und bereicherte das Angebot beispielsweise um die in den Niederlanden und Belgien üblichen frittierten Kartoffeln, die Pommes Frites. Die Imbisskette Wienerwald erhält Konkurrenz aus Übersee. Ende der 60er eröffnete Kentucky Fried Chicken seine erste deutsche Filiale, 1971 kam McDonald's mit seinem ersten Restaurant nach München, gefolgt von hunderten Filialen und anderen amerikanischen Fastfood-Ketten wie Burger King oder Pizza Hut14. Solche Systemgastronomien sind gekennzeichnet durch eine Rationalisierung der Arbeitsabläufe und einer Standardisierung des Speiseangebotes. Zutaten, Zubereitungsart, Dauer und Verpackung sind genauestens festgelegt und überall auf der Welt die gleichen, sodass der Hamburger, der ohne Wartezeit über die Selbstbedienungstheke gereicht wird, an jedem Ort gleich schmeckt. Für Prahl / Setzwein ist diese Rationalisierung der Betriebsabläufe der Grund für den Erfolg des Fastfoods: »Erst die moderne Industriegesellschaft bereitete nämlich den Boden für die Etablierung des Fastfood als Massenphänomen. Eine Rolle spielen hierbei die Synchronisierung und Rationalisierung der Zeit, welche das Einsparen von Zeit zu einem gesellschaftlichen Grundprinzip werden ließen, ebenso wie die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte, die Urbanisierung sowie der Wandel der Lebensformen, der sich heute als andauernder Prozeß der Individualisierung fortschreibt.« (Prahl / Setzwein 1999, S. 198)

14 Diesen folgten dann noch tausende von kleinen Einzelunternehmen wie Dönerläden oder Asia-Imbisse ecetera. Mitte der 90er Jahre setzten bereits über 10.000 Dönerbuden in Deutschland weit mehr um, als der Fastfood Gigant und Branchenprimus McDonald's (vgl. Seidel-Pielen 1996, S. 11f.).

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Der amerikanische Soziologe Ritzler sieht McDonald's auf vier Prinzipien ausgerichtet, welche auch für viele gesellschaftliche Bereiche handlungsweisend sind: Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle15. Nicht nur die Ernährung, die gesamte Lebensführung von der Arbeit über die Freizeit bis zum Konsum ist danach ausgerichtet, möglichst schnell, zeitsparend und dabei wirtschaftlich zu sein (vgl. Ritzer 1995). Und nichts anderes verspricht Fastfood. Hier wird man schnell für wenig Geld satt. Zeit ist ein begehrtes Gut geworden und für diejenigen, die dem Essen keinen hohen individuellen Stellenwert beimessen, bietet Fastfood die Möglichkeit Zeit zu sparen. Zeit, die anderweitig als durch Kochen und Essen zur individuellen Selbstverwirklichung genützt werden kann. Für wen Essen dagegen einen hohen Stellenwert hat, ist die dabei verwendete Zeit keine Last, sondern Genuss und Selbstverwirklichung. Dass diese Prinzipien gesamtgesellschaftlich wirken, zeigt der Umstand, dass das Prinzip des schnellen Essens mittlerweile in allen Schichten zu finden ist. Nicht nur der Arbeiter holt sich seine Currywurst an der Imbissbude, sondern auch der Schlipsträger, und natürlich hat sich das Angebot auch im Exklusivbereich erweitert. Die am Stehtisch verzehrten Scampi oder geschlürften Austern oder die Sushi vom Laufband werden nur nicht als solche bewertet. Fastfood ist negativ etikettiert und wird mit fettigen und ungesunden Nahrungsmitteln verbunden. Doch trotz aller Kampagnen für eine gesunde Ernährung, Diskussionen um wachsendes Übergewicht, trotz Gegenbewegungen wie Slow Food oder Filmen wie Super Size Me, erfreut sich der Fastfood Genuss weiterhin großer Beliebtheit. Momentane Trends, egal ob Lifestyle oder Gesundheit, werden einfach in das Konzept integriert. So bietet McCafé hippe Kaffee und Kuchen Kreationen an, ein Frühstücksangebot ist entwickelt, die Produktpalette um einen vegetarischen Burger, neue Salate und Wraps erweitert worden. Als erstes Gastronomie-Unternehmen werden von McDo15 Diese vier grundlegenden Elemente des Erfolges von McDonald's und der McDonaldisierung im Allgemeinen beschreibt Ritzler wie folgt: »Erstens: McDonald's bietet Effizienz. […] In den meisten Fällen bedeutet das, daß McDonald's über die bestmöglichen Mittel verfügt, um uns vom Zustand des Hungers in den Zustand der Sättigung zu befördern. […] Zweitens: McDonald's bietet Essen und Service, die sich leicht quantifizieren und berechnen lassen. […] Wir können alle diese Dinge in ihrer Menge erfassen und haben das Gefühl, daß wir nur eine geringe Geldmenge ausgeben. […] Drittens bietet McDonald's Vorhersagbarkeit: […] Es ist sehr tröstlich, wenn man weiß, daß es bei McDonald's keine Überraschungen gibt, daß die Mahlzeit, die wir an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort einnehmen, genau einer anderen gleicht, die wir an einem anderem Tag an einem anderem Ort verzehren. […] Und viertens schließlich wird Kontrolle über die Menschen ausgeübt, die sich in die Welt von McDonald's begeben, vor allem, indem menschliche Arbeitskraft durch nicht-menschliche Technologie ersetzt wird.« (Ritzer 1995, S. 27ff.)

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nald's auch Nährwerte und deren durchschnittlicher Tagesbedarf auf den Verpackungen angegeben. Das Firmenlogo soll bald auf grünem, und nicht mehr rotem Hintergrund platziert sein und man verweist stolz auf die hohe Qualität der verwendeten Produkte: »Und unser Ketchup enthält mehr Tomaten als vom Deutschen Feinkostverband festgelegt« (McDonald's 2011). Mittlerweile hat in Paris sogar eine McDonald's Filiale eröffnet, in der es überhaupt keinen Hamburger mehr gibt, sondern frisch zubereitete Salate. Es ist der Testlauf für eine fleischlose Salatfiliale, weg vom schlechten Fett- und Fritten-Image, rauf auf die grüne Welle einer gesunden, leichten und ökologisch korrekten Ernährung (vgl. Simons 2011). Mit den traditionellen McDonald's Filialen hat diese nur noch eines gemeinsam: es muss schnell gehen. 7.2.2.5 Mahl-Zeiten Auch die Zeiten, in denen das Essen eingenommen wird, sind stark von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Barlösius geht davon aus, dass die Notwendigkeit gemeinsam zu wirtschaften, um die Nahrungsversorgung zu gewährleisten, der Grund dafür war, warum Menschen gemeinsam essen. Lange Zeit waren die Produktionstechniken des Menschen so primitiv, dass nur in Gruppen genug gejagt, angebaut und erwirtschaftet werden konnte, also gemeinsam gewirtschaftet und gemeinsam gespeist wurde (vgl. Barlösius 1999, S. 170ff.). Während des Mittelalters war es üblich, dass das auf adeligen Höfen arbeitende Gesinde zusammen speiste und zentral versorgt wurde (vgl. Hirschfelder 2001, S. 107,126). Die Nahrungsaufnahme erfolgte solange in der Haus- und Hofgemeinschaft, die gleichzeitig auch Wirtschaftsgemeinschaften waren, bis durch die beginnende Industrialisierung die Produktion von Haus und Hof mehr und mehr ausgegliedert wurde und die Wirtschaftsgemeinschaft von der Tischgemeinschaft getrennt wurde. Die ursprüngliche Funktion des gemeinsamen Mahls verlor ihre Bedeutung, wurde »funktional überflüssig und statt dessen sozial üblich« (Barlösius 1999, S. 175). Der heute übliche Mahlzeitenrythmus von drei täglichen Mahlzeiten, dem Frühstück, dem Mittag- und Abendessen, entstand erst im 19. Jahrhundert mit dem Erstarken der bürgerlichen Familie. Die speziell im bürgerlichen Milieu täglich gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten demonstrierten die enge Familienbande und unterstrichen die Bedeutung des Privaten in der bürgerlichen Familie. (vgl. Barlösius 1999, S. 180, 183). Mit dem in den 1950er und 1960er Jahren beginnenden gesellschaftlichen Wandel, vor allem durch die Pluralisierung der Lebens- und Familienformen sowie der vermehrten Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt, begann das bürgerliche Familienmahl zu erodieren. Heute ist die Familienmahlzeit nur noch eine Ausnahme und schon lange nicht mehr die Regel (vgl. Abt 1993, S. 99). Schulische und berufliche Anforderungen, die erhöhte Mobilität in vielen Lebensbereichen, die steigende Flexibilisierung der Arbeitswelt müssen mit persönlichen

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Wünschen und Erfordernissen in Einklang gebracht werden. Insbesondere die vom Einzelnen kaum zu verändernden Bedingungen des Berufslebens wirken sich auf die Gestaltung des Essens aus. Der Anteil des Außer-Haus-Verzehrs stieg in den letzten Jahren deutlich an, vor allem in den jüngeren Altersgruppen. Die Ergebnisse weisen auf eine stark zunehmende Bedeutung des Außer-Haus-Versorgung hin, ohne dabei den Wert und die Dominanz der häuslichen Ernährungsversorgung in Frage zu stellen (vgl. Karg 2004, S. 80). Trotz der gestiegenen zeitlichen Belastungen und Anforderungen des Schulund Berufslebens nehmen sich die Deutschen mehr Zeit für das Essen. 2002 nahm sich jeder Bürger eine Stunde und 43 Minuten für das tägliche Essen Zeit, gute 20 Minuten mehr als zehn Jahre zuvor. Der größere Teil dieser Zunahme (13 Minuten) entfiel dabei auf die häusliche Verpflegung, der Anteil der außerhäuslichen Verpflegung stieg um acht Minuten. Trotz aller Belastung wird den Mahlzeiten also mehr Zeit eingeräumt, dabei nicht nur im Außer-Haus Bereich, sondern vor allem beim Essen in der Familie (vgl. Karg 2004, S. 77). Dass sich das alltägliche Berufsleben deutlich auf die Mahlzeitenstruktur auswirkt, zeigt sich auch am unterschiedlichen Zeitbudget für das Essen an Werktagen und am Wochenende. Fallen die zeitlichen Verpflichtungen am Wochenende weg, werden 24 Minuten mehr dem Essen gewidmet als werktags, so dass etwa zwei Stunden statt gute eineinhalb Stunden für die Nahrungsaufnahme aufgebracht werden (vgl. Karg 2004, S. 79f.). Das Abendessen hat sich in Mehrpersonen- und Familienhaushalten als wichtigste Mahlzeit des Tages gegenüber dem ehemals bedeutenderem Mittessen durchgesetzt (vgl. Karg 2004, S. 82). Das ›Abendbrot‹ hat mittlerweile den Status einer Hauptmahlzeit, unabhängig davon, ob es warm oder kalt ist. Die Bedeutung des Abendessens ist gestiegen, da es sich heute am ehesten für eine gemeinsame Mahlzeit eignet und am häufigsten zusammen eingenommen wird, nämlich in etwa der Hälfte aller Haushalte. Nach dem Pflichtprogramm von Arbeit, Schule und Freizeit findet sich die Familie am ehesten zum Abendessen zusammen und verbringt dabei gemeinsame Zeit. Der Stellenwert der gemeinsamen Mahlzeit ist dabei trotz der seltener werdenden Verwirklichung weiterhin ungebrochen hoch. Das gemeinsame Essen soll, wenn immer möglich, realisiert werden und dies gelingt vor allem dadurch, dass Familienmahlzeiten für den Abend oder das Wochenende eingeplant werden: »Das ist auch heute noch so, meine Mutter, die kocht schon mal am Sonntag alleine, aber eigentlich ist es schon eher so, dass alle zusammen kochen und alle zusammen was machen. Es ist nicht so, als wäre sie allein dafür verantwortlich. Das passiert immer in Gemeinschaftsarbeit, auch früher als Kinder wurden wir da mit einbezogen. Auch das Tischdecken, also dieser komplette Prozess Essen, Mittagessen oder Abendessen ist schon ein gemeinsamer. Es ist nicht so, als würde das alles schon auf dem Tisch stehen und wir essen, stehen auf und gehen. Sondern Essen ist immer mit der ganzen Familie am Tisch. Also nicht so, dass jeder vor sich

248 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG hin isst, wann er will, sondern das war schon immer so ein Familientreff.« (Interview 8, Julia, Z. 67ff.)

Sinn und Bedeutung zeigen sich auch darin, dass Frauen und Mütter, welche schon gegessen oder keinen Hunger haben, sich trotzdem mit an den Esstisch setzen, um ihren Männern und Kindern Gesellschaft zu leisten (vgl. Abt 1993, S. 98ff.). Die Mahlzeit in ihrer gemeinschaftsstiftenden Funktion findet zwar nicht mehr so häufig statt, hat aber vielleicht sogar eine größere integrative und kommunikative Bedeutung als früher: »Familien und Lebensgemeinschaften nutzen die Mahlzeit als Institution, um Gemeinschaft zu schaffen. Sie setzen sich nicht unbedingt an den Tisch, weil sie Hunger haben, sondern weil sie miteinander kommunizieren wollen.« (Barlösius 1999, S. 185)

7.2.3 Wandel der Lebens- und Familienformen Von großem Einfluss auf die Ernährungsgewohnheiten war und ist auch der Wandel der Lebens- und Familienformen im Zuge des Individualisierungsprozesses. Die moderne Kleinfamilie war ein von allen angestrebtes gesellschaftliches Ideal, welches besonders für die 50er und 60er Jahre prägend war. Kennzeichen dieser ›modernen Kleinfamilie‹ war die in der Ehe begründete Gemeinschaft der Eltern mit ihren leiblichen Kindern, geprägt von einer in diesem Ausmaß nie dagewesenen Betonung von Liebe und emotionaler Verbundenheit. Die Rollenteilung zwischen den Geschlechtern, der Mann als Alleinversorger, die Frau als Mutter und Hausfrau war von beiderlei Geschlechtern anerkannt und akzeptiert. Der Kinderwunsch war Allgemeingut und Ehescheidungen noch eine seltene Ausnahme, fast alle Kinder lebten mit den leiblichen Eltern zusammen (vgl. Peuckert 2007, S. 36). Die Pluralisierung der Familienformen begann in den 60er Jahren mit der Bildungsexpansion und den davon profitierenden Frauen. Das Mehr an Bildung ließ die jungen Frauen eigenständiger und autonomer werden, die Berufskarriere wurde zu einer ernsthaften Option für Frauen. Die individuellen Lebenspläne von Männern müssen nun mit denen der Frauen koordiniert und in Einklang gebracht werden. Die Teilnahme beider Geschlechter am modernen Arbeitsmarkt, der keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Familien nimmt, erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassung. Die Organisation von Partnerschaft, Familie und Beruf muss neu strukturiert und gedacht werden und bringt neue Familienformen und Lebensweisen hervor (vgl. Peuckert 2007, S. 54). Die ›moderne Kleinfamilie‹ ist mittlerweile nur mehr eine von mehreren möglichen Formen von Familie und hat ihre Quasi-Monopolstellung eingebüßt. Dass sie weiterhin die bedeutendste Familienform ist, liegt auch an ihrer noch fortbestehenden Funktion als gesellschaftliches

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Leitbild. Sie ist immer noch das angestrebte Familienideal für breite Schichten der Bevölkerung. Dass sie es in der Realität nicht mehr uneingeschränkt ist, zeigt ein Blick auf die Geburtenzahlen, die Heiratshäufigkeit und die Scheidungszahlen. In Westdeutschland werden nur noch zwei Drittel der Kinder geboren, die nötig wären um die momentane Größe der Bevölkerung ohne Zuwanderung stabil zu halten, in Ostdeutschland noch weniger (vgl. Peuckert 2007, S. 37). Inwieweit und in welchem Umfang sich der 2010 festgestellte Trend ansteigender Geburtenzahlen (vgl. Wermelskirchen 2011) fortsetzt, bleibt abzuwarten. Von einer grundlegenden Trendwende ist jedoch nicht auszugehen. Wichtigster Grund für den Geburtenrückgang ist heute die wachsende Kinderlosigkeit: es wird prognostiziert, dass in Zukunft beinahe jede dritte Frau kinderlos bleiben wird (vgl. Dorbritz / Lengerer / Ruckdeschel 2005, S. 36). Gründe dafür sind zum einem vor allem der Wunsch nach einem individuellen Lebensstil, bei dem die Kinderlosigkeit gewollt ist um Unabhängigkeit und Flexibilität nicht zu verlieren, zum anderen eine hohe Karriereorientierung, welche Kinder als Hemmnis für die berufliche Laufbahn betrachtet (vgl. Dorbritz / Lengerer / Ruckdeschel 2005, S. 39). Auch die Ehe hat einen enormen Bedeutungsverlust erlitten. Einerseits sinkt die Heiratsneigung, da die Ehelosigkeit mittlerweile kulturell akzeptiert und die mit der Eheschließungen verbundenen Vorteile zurückgegangen sind (vgl. Peuckert 2007, S. 38). Von den heute lebenden jungen Männern und Frauen wird wohl fast ein Drittel zeitlebends ledig bleiben (vgl. Meyer 2008, S. 335). Andererseits wächst das Scheidungsrisiko. Etwa 40 Prozent der in den letzten Jahren geschlossenen Ehen werden irgendwann in der Scheidung enden, bedingt durch veränderte und gestiegene Ansprüche an die Beziehung (vgl. Peuckert 2007, S. 39). Diese demographischen Entwicklungen führen natürlich auch zu einer größeren Vielfalt familiärer wie nichtfamiliärer Lebensformen. Der Familiensektor, zu dem neben der modernen Kleinfamilie auch Ein-Eltern-Familien, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern und Stieffamilien (Patchwork-Familien) zählen, ist kontinuierlich am Schrumpfen. Etwa ein Drittel der Lebensformen entfällt mittlerweile auf den NichtFamiliensektor, zu dem Alleinwohnende (Singles), kinderlose, nichteheliche Lebensgemeinschaften dazugehören genauso wie getrennt Zusammenlebende (living apart together / Partnerschaft mit zwei Haushalten) und kinderlose Ehepaare (vgl. Peuckert 2007, S. 40). Daneben gibt es noch weitere, relativ neue, doch schon etablierte Lebensformen wie Wohngemeinschaften und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, deren quantitative Bedeutung eher nebensächlich ist (vgl. Meyer 2008, S. 340). Nachfolgend sollen vor allem die grundlegenden Lebensmuster und ihre Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten betrachtet werden: Das Leben mit Kindern, das Leben mit Partner ohne Kinder und das Leben als Alleinwohnender.

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7.2.3.1 Ernährung in Familien – Lebensereignis Kind Das Ernährungsverhalten im Erwachsenalter ändert sich vor allem dann, wenn bedeutende Lebensereignisse das bisherige Ernährungsmuster in Frage stellen oder dieses an neue Umstände angepasst werden muss (vgl. Absatz 2.3.3.2). Solche Ereignisse können ein Arbeitsplatz- oder Partnerverlust oder eine schwere Krankheit16 sein (vgl. Brunner 2005, S. 207). Eines der bedeutendsten Lebensereignisse für Erwachsene ist sicherlich die Geburt eines Kindes. Egal, ob klassisch bürgerliche Familie, wilde Ehe oder Alleinerziehende – das Leben mit Kind ist, insbesondere für die jungen Mütter, eine große Herausforderung und geht einher mit gravierenden Veränderungen im Alltag. Kinder kosten Zeit, Geld und Kraft, versprechen aber auch Sinn, Glück und Erfüllung (vgl. Schütze 2002, S. 77). Dies war allerdings nicht immer so. Bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein wurde das Kind vor allem in seiner materiellen Funktion betrachtet und sollte zum Unterhalt der Familie beitragen. Erst mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, der damit einhergehenden Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und der wachsenden Intimisierung und Emotionalisierung innerhalb der Familie änderten sich die Rollenerwartungen, wurden mit Kindern nicht mehr materielle, sondern immaterielle Werte verbunden (vgl. Nave-Herz 2006, S. 192). Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist für Helmut Fend von einer Individualisierung von Kindheit und Jugend geprägt, welche die größtmögliche Entfaltung aller individuellen Kräfte in den Mittelpunkt stellte (vgl. Fend 2003, S. 165). Die Ansprüche der Eltern an die Kinder wandelten sich vom ökonomischen Nutzen hin zu psychosozialen Erwartungen von Status, Freude und Glück. Kinder werden heute um ihrer selbst willen und zur eigenen psychischen Bereicherung geplant und gezeugt (vgl. Nave-Herz 2006, S. 194). Die enorm gestiegene Bedeutung von Kindern und Kindheit führt auch zum enormen Bedeutungszuwachs für das Lebensereignis Kind. Von Anfang an soll dem Kind alles ermöglicht, alle Chancen gegeben und ein Aufwachsen unter bestmöglichen Bedingungen garantiert werden, schließlich ist das Wohlempfinden und Glück des Kindes eng mit dem der Eltern verbunden. Dies heißt, dass Kinder auch von Anfang an bestmöglich und gesund ernährt werden sol16 Das Interview mit dem Dachdecker Herbert zeigt, dass ein Beziehungsende mit veränderten Ernährungsgewohnheiten einhergehen kann (vgl. Interview 4; Herbert, Z. 49ff.). Besonders betroffen sind davon Männer, die in traditionellen Familien- oder Partnerschaftsmodellen lebten. Mit dem Verlust des Partners durch Trennung, Scheidung oder Tod sind diese plötzlich gezwungen, die Versorgung selbst zu gestalten, ohne über erforderliche Kenntnisse und Fertigkeiten zu verfügen. Die Zubereitung des Essens oblag bis dahin dem Zuständigkeitsbereich der Frau. Schwere Krankheiten können auch dazu führen, das Ernährungsverhalten umzustellen oder zumindest in Frage zu stellen (vgl. Interview 4, Herbert, Z. 88ff.).

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len: »Ja, wie sie [die Tochter, d. V.] dann mitgegessen hat, ist es qualitativ hochwertiger geworden und es ist auch öfter gekocht worden« (Interview 7, Gerald, Z. 89f.). In allen Interviews, egal welches Verhältnis zum Kochen bestand oder aus welcher sozialen Schicht die Befragten stammten, herrschte Einigkeit darüber, dass man die Ernährung der Kinder unbedingt gesund und ausgewogen gestalten muss. Das Primat der Gesundheit gilt ganz besonders auch für Säuglinge und Kinder. Junge Mütter, die ihre Kinder nicht stillen, obwohl sie es könnten, stehen sofort unter Verdacht, eine ›Rabenmutter‹ zu sein. Für sein Kind will man nur das Beste und mit dem Besten kann man nicht früh genug anfangen. Sobald Kinder den Haushalt erweitern, beginnt das Bewusstsein für Umwelt, Gesundheit und Ernährungsthemen zu steigen. Besonders gilt dies in den ersten Lebensjahren der Kinder, 60 Prozent aller Babykost im Gläschen wird in Bio-Qualität verkauft (vgl. Caplan et al. 1998, S. 175f.; Michels / Bien 2007, S. 9). »Da ist dann auch das Einfallstor für eine nachhaltigere Ernährung weit offen und es kann vorkommen, dass bisher ›öko-abstinente‹ Haushalte plötzlich Bio-Baby-Nahrung verwenden«. (Brunner 2005, S. 208)

In vielen Haushalten geht der Verbrauch an Bio-Lebensmitteln dann wieder zurück, wenn die Kinder nicht mehr getrennt mit Babynahrung versorgt, sondern in die gewöhnliche Familienverpflegung integriert werden. Eine komplette Umstellung der familiären Ernährung auf ökologische Produkte findet selten statt, obwohl die BioOrientierung in Haushalten mit älteren Kindern größer ist als bei Familien mit sehr jungen Kindern17 (vgl. AC Nielsen 2006, S. 56). Die Ursachen dafür dürften vielfältig sein. Für viele Familien, worunter auch Ein-Eltern-Haushalte, also Alleinerziehende fallen, ist eine komplette Bioverpflegung für alle Familienmitglieder nicht zu finanzieren. Oftmals muss der Lebensunterhalt mit Kindern aus knappen Mitteln bestritten werden, so dass nicht jeder Anspruch auch umgesetzt werden kann. Eine gesunde Ernährung bleibt jedoch weiterhin Anspruch und Leitbild in Familien. Die Umsetzung erfolgt dann natürlich unterschiedlich und kann sich auch in (ungesundem) Convenience Food und Fertiggerichten realisieren. Gerade wenn auch die Mutter berufstätig ist, wird gerne davon ausgegangen, dass solche zwischen Beruf und Familie gehetzten Frauen auf Tiefkühlkost und andere Convenience Produkte zurückgreifen. In Zeiten, in denen auch Kinder einen straffen Stunden- und Freizeitplan haben, muss das Essen für alle Familienmitglieder täglich flexibel gestaltet werden. Mikrowellen- und Tiefkühlkost versprechen hier nicht nur erwerbstätigen Müttern Erleichterung. Tiefkühlkost ist schnell zubereitet und vor allem auch sehr 17 Familien deren jüngstes Kind schon zwischen 6 und 17 Jahren ist, haben eine größere Ökoorientierung als Familien, deren jüngstes Kind unter 6 Jahren ist.

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gut geeignet für die Vorratshaltung. Ältere Kinder können das vorgekochte Essen je nach individuellen Zeitplan und Hungergefühl schnell und einfach alleine aufwärmen: »Entweder hatte ich noch was Aufgewärmtes, was meine Mutter vom Vortag zu viel gekocht hatte, oder ich hatte dann teilweise, ja, diese komischen Fertigsuppen mit heißem Wasser, Minuto oder so hießen die, zum Aufgießen« (Interview 5, Marie, Z.38ff.). Neben dem Zeitdruck spielen aber auch andere Faktoren vielleicht bedeutendere Rollen. Berufstätige Frauen, welche Freude am Kochen haben, nutzen sowohl Tiefkühlprodukte als auch Fertiggerichte deutlich seltener, als berufstätige Frauen, denen das Kochen keine Freude bereitet. Der gleiche Zusammenhang wurde auch bei der Kochhäufigkeit ermittelt: wer öfter kocht, nutzt Convenience und Fertiggerichte seltener (vgl. Lange 1996, S. 289f.). Ob und inwieweit das Idealbild einer gesunden, frischen Zubereitung von Lebensmitteln umgesetzt wird, hängt meines Erachtens in hohem Maße von der emotionalen Nähe und der Wertschätzung ab, welche das Individuum dem Essen beimisst. Andere, strukturelle Faktoren wie Arbeitszeiten und finanzielle Ausstattung setzen dieser emotionalen Verbundenheit zur Freude am Kochen und Essen zwar noch Grenzen, sind aber nicht von grundlegender Wirkung. Der Einsatz von Convenience Produkten ist dann nicht Konsequenz der Lebensumstände, sondern der Versuch, die hohen Ansprüche an die Ernährung mit einer ökonomischen Haushaltsführung zu verbinden: »Die Zuschreibung von Ernährungsverantwortung ist oft mit unvereinbaren Erwartungen verknüpft, etwa dass die widersprüchlichen Ziele einer Ökonomisierung von Zeit und Ressourcen auf der einen und der Zubereitung gesunder, ›richtiger‹ Mahlzeiten auf der anderen Seite unter eine Hut gebracht werden, Ökonomie und Liebe verbunden werden. Stress und Zeitknappheit kann dann die Verwendung von ›Convenience-Food‹ nach sich ziehen, jedoch nicht als logische Folge […], sondern oft in einem Arrangement, wo die ›lieblosen‹ Convenience Produkte mit ›liebevollen‹ Eigenzutaten gleichsam aufgewertet werden.« (Brunner 2005, S. 204).

Die schnelle und bequeme Küche für den Alltag wird gesucht und dabei kann trotzdem Wert auf Qualität gelegt werden, auch beziehungsweise gerade dann, wenn auf Convenience Produkte zurückgegriffen wird: »Und jetzt ist es so, dass Maria natürlich am Mittag für die Kinder kocht. Da macht sie immer Kleinigkeiten, Nudeln mit Lachssauce, oder wir kochen einfach einen Topf Hackfleischsauce, gefrieren was ein und wärmen es wieder auf. Ich kaufe beim Metzger manchmal fertige Maultaschen. Fleisch haben wir eigentlich bloß vom Metzger, wir kaufen gar nichts, weder Wurst noch Fleisch beim Aldi oder Tengelmann.« (Interview 7, Gerald, Z. 94ff.)

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Zudem lohnt es genauer hinzusehen, welche Convenience Produkte in Familien konsumiert werden. Insbesondere Haushalte mit mehreren Erwerbstätigen und erwerbstätige Mütter mit Kindern im schulpflichtigem Alter verbrauchen mehr Tiefkühlkost als Singles (vgl. Rosenkranz 2000, S. 145). Dabei handelt es sich jedoch mitnichten immer um Tiefkühlpizzen oder Ähnliches. Die drei größten Warengruppen im Tiefkühlsegment sind Backwaren, Gemüse sowie Fleisch, Wild und Geflügel im Rohzustand (vgl. Deutsches Tiefkühlinstitut e.V.). Wer als Beilage zum Fleisch dann auf tiefgekühlte Erbsen zurückgreift, hat aus gesundheitlicher Sicht alles richtig gemacht. Die tiefgekühlten Erbsen enthalten wahrscheinlich mehr Vitamine als das Frischprodukt auf dem Markt. Natürlich ist auch klar, dass nicht nur Erbsen und andere Gemüsesorten, sondern gerne Pommes und Fischstäbchen im Gefrierschrank von Familien landen. Dennoch kann die Ernährung, auch wenn man vermehrt Tiefkühlkost nutzt, gesund gestaltet werden, gerade wenn im Haushalt Zeit ein knappes Gut ist. Ein differenzierter Blickwinkel wäre deshalb auch bei Studien über den Konsum von Tiefkühlprodukten wünschenswert. Generell ist die Ernährung mit Kindern, unabhängig von der Familienform, von dem ambivalenten Anspruch die Nahrungsaufnahme der Familie möglichst gesund zu gestalten und gleichzeitig den Anforderungen der individualisierten Gesellschaft nachzukommen. Ein Anspruch, dessen Umsetzung nach wie vor zum größten Teil von Frauen erledigt wird und dabei auch von den oft zitierten ›neuen Männern‹ meist nur verbal unterstützt18 wird (vgl. Peuckert 2008, S. 258ff). Dies dürfte von den strukturellen Rahmenbedingungen her betrachtet für erwerbslose Hausfrauen mit Ehemann leichter zu bewerkstelligen sein als für die arbeitende, alleinerziehende Mutter. Ob diese Rahmenbedingungen sich dann in der Realität wirklich in ihrer Wirkung völlig entfalten, hängt von der Bedeutung und Wertschätzung ab, welche dem Essen in und für die Familie gegeben wird. Je größer diese ist, umso unbedeutender werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

18 Die Gründe dieser »verbalen Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre« (Beck 1986, S. 169) sieht Peuckert vor allem in den derzeitigen gesellschaftlichen Strukturen. Unter rationalen Gesichtspunkten ist es nämlich sinnvoll, dass derjenige mit dem guten Verdienst und den besseren Aufstiegschancen (meistens der Mann) sich dem Beruf widmet, während derjenige mit dem schlechteren Arbeitslohn (meistens die Frau) seine Arbeitszeit reduziert oder das Arbeiten komplett einstellt um sich verstärkt der Familienarbeit zuzuwenden. Insgesamt hält Peuckert fest, sind die Einstellungen der Männer trotzt Beharrungstendenzen im Wandel (vgl. Peuckert 2008, S. 260f.).

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7.2.3.2 Ernährung als Single Alleine zu wohnen war lange Zeit eine Lebensweise, welche in erster Linie von jungen, ledigen Menschen gewählt und als Übergangsphase auf dem Weg in die Ehe gesehen wurde oder notgedrungener Lebensabschnitt vor allem für ältere, verwitwete oder geschiedene Menschen war. In den 70er Jahren jedoch entwickelte sich das Alleinwohnen auch zu einem Lebensstil, der vermehrt von Menschen in der mittleren Altersphase (25 bis 55 Jahre) geführt wurde, in welcher bis dato die meisten Menschen zu zweit oder in Familien lebten. Mittlerweile zählt diese Gruppe von Alleinwohnenden sieben Millionen Menschen (8 Prozent der Bevölkerung), von denen vier Millionen (5 Prozent der Bevölkerung) partnerlos Alleinlebende sind (vgl. Peuckert 2008, S. 48). In der soziologischen Fachliteratur gibt es eine Vielzahl an Bezeichnungen und Unterscheidungen, welche den populären und landläufigen Begriff Single in seiner Bedeutung zu fassen und zu kategorisieren versuchen. Alleinlebende, Alleinwohnende, freiwillig oder erzwungenermaßen, auf Dauer angelegter alternativer Lebensstil oder vorübergehende Lebensphase – das Alleinsein hat viele Namen und Facetten (vgl. Peuckert 2008, S. 47f.) und ist mittlerweile weit verbreitet. 1939 waren nur 10 Prozent aller Haushalte Einpersonenhaushalte, im Jahr 2005 waren es 37 Prozent. Im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter sind es häufiger Männer, die alleine leben, da diese öfter als Frauen ledig bleiben. Mit zunehmendem Alter sind es dann häufiger Frauen, die vor allem aufgrund von Verwitwung, allein leben (vgl. Peuckert 2008, S. 49). Die große Gruppe alleinstehender alter Frauen ist vor allem der Altersstruktur geschuldet. Das zumeist niedrigere Alter bei Heirat beziehungsweise in der Partnerschaft führte zusammen mit der höheren Lebenserwartung von Frauen dazu, dass der Großteil (73 Prozent) der alleinlebenden, älteren (über 60 Jahren) Frauen verwitwet ist (vgl. Weinmann 2010b, S. 45). Insgesamt sind 38 Prozent der Alleinstehenden19 im Seniorenalter, das heißt 65 Jahre oder älter (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2006, S. 30). Der Anstieg Alleinlebender in den jüngeren Altersgruppen hat dagegen vor allem mit dem oben beschriebenen Wandel der Lebens- und Familienformen zu tun (vgl. Peuckert 2007, S. 51f.). Junge, ledige Frauen und Männer stellen aus Karrieregründen Beziehung und Ehe zurück oder sind bei der Partnersuche bisher erfolglos geblieben, während andere dagegen bewusst und dauerhaft allein leben möchten. Geschiedene, die erst mal nicht wieder heiraten wollen, treffen auf Geschiede19 Alleinstehende leben ohne ledige Kinder und Lebenspartner, müssen aber nicht unbedingt allein einen Haushalt führen, sondern können diesen auch mit familienfremden oder verwandten Haushaltsmitgliedern teilen. Alleinstehende in Einpersonenhaushalten werden hier als Alleinlebende bezeichnet. 91 Prozent der Alleinstehenden leben allein in einem Einpersonenhaushalt (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2006, S. 30).

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ne, die auf der Suche nach dem neuen Glück sind. Gemeinsam ist allen, dass sie allein wohnen. Interessant ist dabei für diese Arbeit vor allem, wie Menschen, die allein wohnen und leben, ihre Ernährung gestalten. Deshalb soll es in diesem Kapitel um Singles beziehungsweise Alleinlebende20 gehen, um alle Menschen, die ihren Haushalt allein unterhalten und ihre Mahlzeiten zum allergrößten Teil für sich allein einnehmen. Es ist klar, dass diese große Gruppe von Alleinlebenden sehr heterogen zusammengesetzt ist und pauschale Rückschlüsse auf das Ernährungsverhalten wenig sinnvoll sind (vgl. Rosenkranz 1998, S. 23f.). Innerhalb der Gruppe der Singles spielen Faktoren wie Alter und Geschlecht eine bedeutende Rolle: Weibliche Singles legen beispielsweise mehr Wert auf eine gesunde Ernährung als männliche. Ältere Alleinlebende konsumieren häufiger nach gesundheitlichen Aspekten, während bei jungen, berufstätigen Singles eher der Zeitaspekt die Produktwahl beeinflusst (vgl. Ott 1996, S. 317). Doch unabhängig von Lebensstil, Geschlecht, Alter oder Einkommen verbindet sie alle, dass ihnen bei der Nahrungsaufnahme allein die soziale Funktion und Bedeutung des Essens abhandenkommt. Die in Familien hoch bewertete integrative und kommunikative Funktion der Mahlzeit fällt für Singles weg: »In diesen Haushalten gibt es im Alltag keine ›Tischgemeinschaft‹, keinen Dialog über das einzukaufende Sortiment von Lebensmitteln und damit auch nicht die als Kompromiß zwischen den Präferenzen der Haushaltsmitglieder angelegte Überlegung des ›Was kochen wir heute‹; vielleicht aber auch weniger den Antrieb, aufwändig oder warm zu kochen.« (Kutsch 1995, S. 276)

Wie Georg Simmel in seiner »Soziologie der Mahlzeit« feststellte, ist die gemeinsame Nahrungsaufnahme von großer Bedeutung für das Essen, da erst dadurch ein kultureller Akt daraus wird: »Daß wir essen müssen, ist eine in der Entwicklung unserer Lebenswerte so primitiv und niedrig gelegene Tatsächlichkeit, daß sie jedem Individuum fraglos mit jedem anderem gemein ist. Dies eben ermöglicht das Sichzusammenfinden zur gemeinsamen Mahlzeit, und an 20 Singles können auch in einer Wohngemeinschaft leben und Alleinwohnende können auch einen Partner mit eigenem Haushalt haben. In beiden Fällen hängt dann die Ernährungsweise von der individuellen Lebensweise des Einzelnen ab. Man kann in der Wohngemeinschaft komplett allein wirtschaften und essen, oder eher familiär, zusammen mit den Mitbewohnern. Ein Alleinwohnender mit Partner kann sowohl seine Ernährung allein gestalten, als auch täglich zusammen mit dem Partner. Über die Ernährung in solchen Lebens- beziehungsweise Wohnformen ist wenig Genaues bekannt, da sie quantitativ nicht sehr bedeutend, zumeist von vorübergehender Art ist und die Ernährungsweise stark vom Einzelfall abhängt.

256 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG der so vermittelten Sozialisierung entfaltet sich die Überwindung des bloßen Naturalismus des Essens.« (Simmel 1957, S. 250)

Im Umkehrschluss heißt dies, dass bei der Nahrungsaufnahme ohne Gesellschaft die naturalistische Funktion des Essens an Bedeutung gewinnt. Dies bedeutet, dass Menschen, wenn sie allein essen, eher auf zweckrationale Funktionen der Ernährung achten, das heißt, Wert auf eine ökonomisch-effiziente Versorgung mit dem Lebensnotwendigen legen. Der Umgang mit Lebensmitteln, deren Einkauf, Zubereitung und Verzehr wird rationaler und verliert an Emotionalität. Die einsame Mahlzeit büßt ihre »gemeinschaftsbildende Kraft« (Prahl / Setzwein 1999, S. 95f.) und damit an Bedeutung ein. Egal, ob jung und berufstätig oder Senior im Ruhestand, das Konsumverhalten von Singles ist motiviert von Aspekten der Bequemlichkeit, der Portionierung, der Vorratshaltung und der Abwechslung (vgl. Ott 1996, S. 317). Diese Zweckrationalität führt in Verbindung mit der Variable Alter zu zwei differenten Ernährungsmustern von Singles. Junge, berufstätige oder studierende Singles verzichten oft auf eigene Essenszubereitung, essen häufig außer Haus oder lassen sich Fertiggerichte nach Hause liefern (vgl. Brunner 2005, S. 207). An Werktagen ist der Ernährungsstil von berufsstätigen Singles bei über der Hälfte durch Außer-Haus-Verzehr (mind. einmal täglich) geprägt (vgl. Karg 2004, S. 85). Eine aufwändige Essenzubereitung für einen allein scheint sich nicht zu lohnen: »Da hat man sich immer irgendwo etwas geholt. Beim Bäcker irgendwas und dann war ich auch viel bei McDonald's. […] abends ein bisschen Brot oder was, Wurst oder Käse hatte ich eigentlich auch nie. Ich bin dann oft nach dem Weggehen zum McDonald's, zwei Burger, und dann war es wieder gut bis Mittag am nächsten Tag. Dann eine Leberkäsesemmel oder sonst was. Das war als Student.« (Interview 7, Gerald, Z. 62ff.)

Gerade nach dem Auszug aus dem Elternhaus, mit der ersten eigenen Wohnung, ist Außer-Haus-Verzehr typisch. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Prioritäten in diesem Lebensalter vor allem auf Freizeitaktivitäten und weniger auf die Ernährung ausgerichtet (vgl. Spiller 2006, S. 20). Hinzu kommt, dass die Kochlust und auch die Kochkompetenz bei jungen Menschen geringer ist (vgl. Diehl 2001a, S. 94). Für männliche Singles gilt dies noch mehr. Sie schätzen ihr Kochvermögen deutlich schlechter ein als Frauen. Fast 30 Prozent geben an, gar nicht kochen zu können, weitere 41 Prozent glauben, dass sie nur ein bisschen oder wenig kochen können (vgl. Diehl 2001b, S. 121). Es verwundert daher nicht, dass männliche Singles häufiger auswärts essen gehen als ihre weiblichen Pendants (vgl. Brunner 2005, S. 207). Convenience Food dagegen garantiert beiden Geschlechtern ein sicheres Gelingen bei geringem Aufwand. Junge Singles haben deshalb auch die größte Affinität zu Convenience Food (vgl. Diehl 2001a, S. 94). Einige Autoren widersprechen dieser Ansicht und verweisen darauf, dass Alleinlebende unabhängig von Einkommen und Alter am seltensten Tiefkühlkost nachfragen und auch am seltensten

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eine Mikrowelle besitzen (vgl. Rosenkranz 2000, S. 144f.). Der Zusammenhang von zunehmender Nutzung von Convenience Produkten und der Zunahme von Einpersonen-Haushalten wird bestritten (vgl. Brunner 2005, S. 208; Kutsch 1996, S. 276). In der Tat sprechen einige Zahlen dagegen. Dies liegt jedoch daran, dass nicht nur Singles eine heterogene Gruppe sind, wie Rosenkranz selbst feststellt, sondern auch Convenience Produkte eine höchst heterogene Kategorie darstellen. Tiefkühlgemüse, Tiefkühlpizzas, frisch zubereite Salate oder Obstportionen, Fertigsaucen oder abgepackte Wurst, die Bandbreite an Convenience Food ist unglaublich groß und vielfältig. Die Definition von Convenience Food sind unklar, die Unterkategorien sind grob und verdecken eher die Produktvielfalt als diese sichtbar zu machen (vgl. Diehl 2001a, S. 91). Ebenso unklar ist, was der Konsument unter Convenience versteht beziehungsweise wie er welche Convenience Produkte bewertet. Der Einsatz tiefgekühlter Erbsen wird sicher anders empfunden als der von Instanttütensuppen oder Pulver für Kartoffelpüree. Statt die »Globalkategorien« (Diehl 2001b, S. 122) ›Convenience Food‹ oder ›Fertiggerichte‹ zu nutzen, sollten Einstellungen und Verhalten der Verbraucher an klaren, spezifischen Produktgruppen gemessen werden. Wenn Singles weniger Tiefkühlkost konsumieren, heißt das nicht, dass ihre Convenience Orientierung wiederlegt wäre. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie auf andere Convenience Produkte zurückgreifen und vielleicht fertige (Obst-) Salatportionen, belegte Brötchen und Sandwichs oder vorgefertigte Pasta(-saucen) bevorzugen. Hier sind noch genauere Analysen und Studien gefragt, doch kann von einer fortbestehenden Affinität von Singles in jungem und mittlerem Alter ausgegangen werden, wie auch die Daten aus der Marktforschung zeigen (vgl. AC Nielsen 2006, S. 56). Problematisch ist zudem, wenn Untersuchungen bezüglich des Konsumverhaltens von Singles, das Alter jener nicht berücksichtigen. Ältere Alleinlebende haben nämlich gänzlich andere Konsum und Ernährungsgewohnheiten als jüngere. Ältere Menschen legen bei der Produktwahl mehr Wert auf gesundheitliche Aspekte und kaufen gerne kalorienreduzierte Produkte (vgl. Ott 1995, S. 160). Sie gehen deutlich seltener zum Essen aus als junge Singles, die Mahlzeiteneinnahme ist traditionell an den eigenen Haushalt gebunden. Wenn man Essen geht, dann zu einem besonderen Anlass in ein Restaurant (vgl. Ott 1995, S. 160f.). Ältere Singles kochen deshalb auch häufiger, und verwenden dabei etwas weniger Convenience Produkte (vgl. Diehl 2001a, S. 94), doch auch hier bedarf es genauerer Analysen, welche Convenience Produkte speziell von Älteren nachgefragt und genützt werden. Generell kochen und backen ältere Menschen lieber als jüngere und verfügen auch über eine große Erfahrung und Kochkompetenz (vgl. Diehl 2001b, S. 121). Dennoch ist davon auszugehen, dass gerade im höheren Alter die Gerichte einfacher werden, große, aufwändige Zubereitungen seltener werden, da zum einem der Aufwand immer schwerer zu bewältigen ist und zum anderen sich dieser Aufwand für einen

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allein doch ›nicht rentiert‹. Ernährung soll vor allem gesund sein und keinen großen Aufwand bereiten, denn die Bedeutung der Gesundheit ist in dieser Gruppe deutlich größer als der Genuss (vgl. Ott 1995, S. 160f.). Den Singles aller Altersgruppen gleich sind Probleme mit der Portionierung. Wer selber kocht und allein ist, wird auf Gerichte verzichten, bei denen die Menge kaum auf eine Person zu reduzieren ist, wie beispielswiese beim Braten: »Was soll man groß kochen, klar. Man kann ja dann auch nicht riesen Mengen kochen. Wenn man manche Sachen zweimal isst oder ein drittes Mal, dann wird es einem eh irgendwann zu viel, dann steht es einem oben an. Klar schmeckt es, wenn man einen Schweinebraten machen würde – ich mache den für mich selber nicht – aber wenn man jetzt einen machen würde, schmeckt es von einem größeren Teil besser, als wenn man den Braten nur für einen alleine macht.« (Interview 4, Herbert, Z. 250ff.)

Produktgrößen und Abpackungen sind auch oftmals nicht auf Singles abgestimmt. Obwohl die Industrie mittlerweile – allerdings vor allem in der Convenience Sparte – einiges unternimmt, sind gerade in Verbrauchermärkten, Supermärkten und Discountern viele Lebensmittel nur in großen Einheiten zu bekommen. Ein einzeln vakuumiertes Schnitzel oder eine kleine Portion Hackfleisch ist vielerorts nicht zu finden. Da die Bereitschaft selbst zu kochen bei jungen Singles nicht sonderlich ausgeprägt ist, scheint hier der Lebensmitteleinzelhandel auch keinen Bedarf beziehungsweise keine Profitmöglichkeit zu sehen. Auch kleine Einheiten von leicht verderblicher Ware wie Käse oder Wurst, Gemüse oder Frischobst sind in Discountern und Supermärkten Mangelware und wenn doch verfügbar, dann sind sie im Vergleich zu Familienpackungen überteuert (vgl. Ott 1995, S. 136ff.). Ältere Singles sind deshalb auch häufig Kunden von kleinen Einzelhändlern oder Metzgereien, in denen eine freie Mengenwahl besteht und man auch nur eine Zwiebel, zwei Äpfel und 50 Gramm Wurst oder Käse kaufen kann. Die damit verbundene Beratungsund Kommunikationsmöglichkeit mit der Verkäuferin ist dabei sicherlich auch eine Motivation für ältere Singles (vgl. Löwenbein 1994, S. 124f.). 7.2.3.3 Ernährung in Paarbeziehungen Die Ernährung zu zweit kann sehr verschiedene Formen annehmen und auch Paarbeziehungen haben unterschiedliche strukturelle Rahmen und müssen getrennt betrachtet werden. Dies gilt insbesondere für die jungen, erwerbstätigen Paare einerseits, und für die älteren Paare, deren Zweisamkeit häufig mit dem Auszug der eigenen Kinder beginnt, andererseits. Paare jungen und mittleren Alters, deren Leben nicht auf Familie, sondern Karriere ausgerichtet ist, pflegen einen eigenen, flexiblen und ambivalenten Ernährungsstil. Seit der Individualisierung weiblicher Lebensläufe in den 60er und 70er Jahren haben solche ›Doppelkarrierepaare‹ enorm

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an Bedeutung gewonnen (vgl. Peuckert 2008, S. 264). Aufgrund der fehlenden Kinder und des doppelten Einkommens verfügen die DINKS (Double Income No Kids), wie die kinderlosen Doppelverdiener auch genannt werden, über ein überdurchschnittliches Einkommen und durch die Karriereorientierung über ein unterdurchschnittliches Zeitbudget für Haushalt und Privates. Dieses ungleiche Verhältnis von Zeit und Geld manifestiert sich dann auch im Ernährungsstil. Unter der Arbeitswoche wird Ernährung eher als lästige Pflicht empfunden, ähnlich dem Single wird kaum selber gekocht und sich vor allem mit Restaurantbesuchen, Kantinenmahlzeiten oder Convenience Food gesättigt: »Viel selber kochen? […] Ich krieg es oft mit dem Alltag so gar nicht hin. Mein Freund und ich arbeiten getrennt voneinander. Da sehen wir uns oft gar nicht. Für mich alleine koche ich dann nicht unbedingt. Er isst sowieso jeden Mittag in der Kantine warm, […] folglich will er dann abends nicht unbedingt was Warmes. Wenn wir uns mal sehen, koche ich abends nicht zwingend.« (Interview 5, Marie, Z. 315ff.)

Die Gestaltung der Ernährung ist eher zeitökonomisch gestaltet. Ganz anders gestaltet sich die Ernährung in der gemeinsamen Freizeit, am Abend und vor allem am Wochenende. Dann werden der Einkauf, die Zubereitung und der Verzehr der Lebensmittel oft mit großem Aufwand betrieben. Exklusive und zeitaufwändige Menüs mit frischen, besonderen Zutaten werden gekocht und von Weinen begleitet, welche beim Fachhändler gekauft werden und bei denen der Preis keine Rolle spielt (vgl. Empacher / Hayn 2005, S. 233f.). Man entschädigt sich für die strapaziöse Woche und sucht den gesunden Genuss, gerne auch in der Spitzengastronomie. Da in dieser Gruppe der Anspruch an qualitativ hochwertiger Ernährung eigentlich groß ist, kommt es zum einem ambivalenten Nebeneinander von schneller, funktionaler Ernährung unter der Woche, welche wieder gut gemacht werden soll durch eine genussvolle Ernährung am Wochenende. Die aufwändigen oder besonderen Mahlzeiten haben dann auch, ähnlich bei Familien, ganz besonders gemeinschaftsstiftende und kommunikative Funktionen, dient dazu, Partnerschaft und Freundschaften zu pflegen und selbigen Wert zu geben: »Aber dafür genieße ich es vielleicht umso mehr, wenn ich dann wirklich mal sagen kann: Heute gehe ich essen, heute kochen wir zusammen. Gestern haben wir ganz bewusst [betont] zusammen den Abend verbracht, mein Freund und ich, und wir haben Burger gemacht, am Grill. An unserem neuen Grill, in unserem neuen Garten.« (Interview 5; Marie, Z. 169ff.)

In solchen Paarbeziehungen ›switcht‹ man sozusagen zwischen den Ernährungsstilen hin und her und lebt sowohl in der einen, als auch anderen Richtung exzessiver als dies jeweils Singles oder Familien tun. Anders gestaltet sich die Ernährung zu zweit bei älteren Menschen, gerade wenn diese sich in Lebensereignisphasen befin-

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den oder darauf zusteuern wie das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben oder der Auszug der eigenen Kinder aus dem Haushalt, der ›Empty-Nest‹-Phase. Diese auch ›postparentale‹ oder ›nachelterlich‹ genannte Phase, ist ein gesellschaftlich relativ junges Phänomen, welches erst durch die steigende Lebenserwartung im 20. Jahrhundert von der breiten Mehrheit der Bevölkerung erlebt wird. Dies bedeutet nicht, dass damit die Elternschaft endet, vielmehr verändert sich die Elternrolle und wird neu interpretiert (vgl. Scherger 2007, S. 182f.). Die ›EmptyNest‹-Phase liegt im Durchschnitt bei den meisten Eltern zwischen dem 55. und 65. Lebensjahr und wird von den Eltern ambivalent erlebt (vgl. Burkart 2008, S. 217). Für alle Familienmitglieder ist es eine Umstellung und erfordert große Anpassungsleistung, insbesondere von den Müttern, für die dieser Wandel meist mit größeren Umstrukturierungs- und Orientierungsprozessen verbunden ist (vgl. Widmer / Bodenmann 2008, S. 180; Burkart 2008, S. 217). Oft wurde die Zeit nach dem Auszug des letzen Kindes deshalb einseitig als kritisch und krisenhaft dargestellt, die Beschreibung von selten auftretenden Depressionen oder die steigenden Scheidungszahlen während dieser Zeit in den Vordergrund gestellt. Insgesamt wird diese Phase jedoch eher als positiv empfunden und beurteilt, es entstehen psychische, zeitliche und teilweise auch finanzielle Freiräume, insbesondere für Mütter, die bisher stark mit Hausarbeit und Erziehungsaufgaben belastet waren (vgl. Scherger 2007, S. 182f.). Diese Freiräume können dann bei entsprechender Neigung21 auch für eine intensivere Auseinandersetzung mit Ernährung und Essen genutzt werden. Gleiches gilt auch für das Lebensereignis Ruhestand, welches oftmals in zeitlicher Nähe zur ›Empty Nest‹-Phase stattfindet. Wenn das zeitliche Korsett des Arbeitslebens wegfällt, kann das Kochen ein neues Betätigungsfeld darstellen: »Ich habe das Glück gehabt, dass ich jetzt nach meiner Pensionierung vor sechs Jahren, die Maria [seine Frau, d.V.] musste noch im Geschäft arbeiten, sechs Jahre sozusagen für das Kochen im Haus zuständig war. Das war für mich ein Erlebnis […]«. (Interview 1, Wilfried, Z. 74ff.)

War die Ernährung bisher eher an den arbeitszeitlichen Bedingungen oder den Bedürfnissen der Kinder und dem eigenem Anspruch, diese gesund zu ernähren, orientiert, können nun die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt gerückt werden, muss nicht mehr versorgt, sondern kann genossen werden. Generell weisen ältere Paare, deren Kinder den Haushalt schon verlassen haben, eine große Ökoorientierung auf, 21 Wenn diese Neigung nicht vorhanden ist oder gar eine gleichgültige Haltung zum Essen und Kochen da ist, kann es in der ›Empty-Nest‹ Phase auch zur Einstellung oder Verringerung solcher Aktivitäten kommen. Wenn das für die Kinder Kochen müssen entfällt, bleibt in diesen Haushalten dann öfter die Küche kalt und man begnügt sich mit eher einfachen Gerichten (vgl. Interview 12, Gabriele, Z. 154ff.).

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sie legen großen Wert auf biologische Nahrung, Öko-Siegel und Umweltfreundlichkeit (vgl. AC Nielsen 2006, S. 56). Vor allem mit steigendem Bildungsniveau und höherem Einkommen wird Ernährung oft zu einem sehr bedeutenden Thema, um welches viel Aufwand betrieben wird: »Wir kaufen bewusst ein, das heißt, wir haben bestimmte Produzenten, wo wir kaufen, wo ich weiß, dass sie zum Beispiel ihre Tiere artgerecht halten, wo das Gemüse ordentlich angebaut wird« (Interview 1; Wilfried, Z. 313ff.). Es ist ein Lebensstil mit hoher Gesundheitsorientierung, welcher der Ernährung einen hohen Stellenwert beimisst. Kochen wird zur genussvollen Freizeitgestaltung, es wird gerne und viel gekocht. Die möglichst naturbelassenen Zutaten werden auf Märkten, in Fachgeschäften oder direkt beim Erzeuger gekauft (vgl. Empacher / Hayn 2005, S. 232f.). Interessant ist nun die Frage, zu welchem Zeitpunkt Genuss, Essen und Ernährung so bedeutsam wurde, warum diese Bedeutung mit Einkommen und Bildung zunimmt, weshalb die Biobranche so boomt und im Fernsehen, so scheint es, rund um die Uhr gekocht wird.

7.3 Z USAMMENFASSENDES F AZIT Die Bedingungen der modernen Gesellschaft in ihrer pluralisierten und individualisierten Gestalt sowie auftretende besondere Lebensereignisse wie etwa die Geburt eines Kindes oder der Eintritt in den Ruhestand sind Faktoren, welche auch im Erwachsenenalter die Art und Weise sich zu ernähren beeinflussen. Zum einem brachte die Industrialisierung der Landwirtschaft eine bessere Grundversorgung mit sich und ermöglichte durch die Technisierung des Haushaltes wie Tiefkühltruhen, Mikrowellen und Convenience-Food, völlig neue Wege der Vorratshaltung, Zubereitung und Verzehr. Zum anderem kam es zur Entfremdung von Lebensmitteln, deren Ausgangsprodukten und den dazugehörigen Verarbeitungsprozessen. Einem scheinbar vielfältigen und riesigen Angebot an Lebensmitteln steht eine wenige abwechslungsreiche und standardisierte Ernährung gegenüber. Flankiert wurden diese Entwicklungen in Industrie und Technik von einem Wandel der Arbeitsformen und des Geschlechterverhältnisses. Das Hausfrauen-Dasein entwickelte sich zu einem Minderheiten-Phänomen, die in unterschiedlichen Umfang berufstätige Frau zum Normalfall. Die wachsende Erwerbstätigkeit der Frau führt zu einer Verknappung der Ressource Zeit, welche nun einen immer größeren Einfluss auf das Ernährungsverhalten der Menschen nimmt. Die zur Verfügung stehende Zeit entscheidet immer mehr, wie man sich ernährt, ob man kocht und genießt oder sein Hungerbedürfnis im Vorbeigehen befriedigt. Das Resultat dieser Entwicklung ist die ständige Zunahme von Convenience-Produkten und einer Fastfood Kultur, in der alles to-go angeboten wird.

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Trotz alledem ist der Stellenwert der gemeinsamen Mahlzeit ungebrochen hoch: gerade weil sie seltener geworden ist, hat sich ihr Wert behaupten können und hat vielleicht sogar eine größere integrative und kommunikative Bedeutung als früher. Dies gilt sowohl für die klassische Familie mit Kindern, als auch für neue Lebensformen wie beispielsweise das kinderlose Zusammenleben mit Partner. Für Singles ist die gemeinsame Mahlzeit ein wohl eher seltenes Ereignis, wenn nicht regelmäßig Ersatz beim Essen gehen mit Freunden gesucht wird. Das Essen allein hat keine kommunikative oder integrative Kraft, aufwändiges Kochen erscheint für einen allein kaum lohnenswert. Stattdessen wird daher eher an rationalen, praktischen Aspekten ausgerichtet und greift gerne auf passend portionierte Fertig- oder Convenience-Gerichte zurück. Der gesellschaftliche Wandel führte zu einer Rationalisierung des Essens und Kochens, in der Entscheidungen weniger emotional und dafür rational, nach (zeit-)ökonomischen Aspekten getroffen werden. Die Sehnsucht nach einem emotionalen Umgang mit Essen wächst dabei und ist wohl auch ein Grund dafür, dass die Menschen einerseits häufiger auf Convenience-Produkte zurückgreifen und ihre Mahlzeiten unterwegs einnehmen, andererseits in den Medien durch Berichte, Artikel und Kochshows immer häufiger aufwändige Zubereitungsarten und Menüs vorgestellt und zelebriert werden.

8. Gesundheit, Nachhaltigkeit und Genuss – Die Ideologisierung der Ernährung

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DIE

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DER

G ESUNDHEIT

8.1.1 Das Auftreten der Biomacht Nachdem diese Arbeit sich mit der Primär- und Sekundärsozialisation des Kindesund Jugendalters auseinander gesetzt und die Ernährungseinflüsse im Erwachsenenalter untersucht hat, soll nun auf die Ideologisierung der Ernährung eingegangen werden. Eine Thematik, die auf den ersten Blick wenig stringent im bisher auf die Sozialisationsphasen ausgerichteten Aufbau dieser Arbeit wirkt. Dass dies gerade an dieser Stelle geschieht, liegt darin begründet, dass die Auswirkungen und Einflüsse dieser Ideologisierung ganz besonders auf das Individuum im Erwachsenenalter wirken und deshalb auch nur schlüssig im Zusammenhang mit dieser Lebensphase behandelt werden können. Einer der frühesten und einflussreichsten Veränderungen, welche das Ernährungsverhalten betreffen, war das Auftreten eines neuen Machtmechanismus, den Foucault als Bio-Macht bezeichnete. Diese Bio-Macht entwickelte sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Hunger, Seuchen und Krankheiten alltäglicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, war der Tod stets unmittelbare Bedrohung. Vor allem die landwirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehende rasante Produktivitätssteigerung milderten die elementaren Bedrohungen des Lebens. Die großen Hunger- und Seuchenkatastrophen waren, bis auf Ausnahmen, spätestens mit der französischen Revolution Geschichte geworden. Der Tod war nicht mehr alltägliche Bedrohung, sondern wurde mehr und mehr zum Endpunkt einer immer längeren Lebensspanne einer immer größer werdenden Bevölkerung. Die landwirtschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Leben und die Gesundheit schufen die Möglichkeit, das Leben zu beherrschen und befreiten es von der schicksalhaften Drohung des Todes, welcher bis dahin die Bevölkerung dezimierte und regulierte (vgl. Foucault 1983, S. 137). Die Prozesse

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und Mechanismen der Macht wandten sich dem Leben zu. Macht war nun nicht mehr wie vormals ein Ausbeutungsmechanismus zur Aneignung von Reichtümern beziehungsweise von Arbeit, Diensten bis hin zum Leben der Untertanen, sondern eine Machtform, welcher an der Organisation und Kontrolle der unterworfenen Kräfte lag: »Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen [Hervorhebung im Original]« (Foucault 1983, S. 134). Die höchste Funktion der Macht war nun nicht mehr das Töten, sondern die Durchsetzung des Lebens. Diese Bio- oder Lebensmacht steuert, berechnet und kontrolliert von nun an die Prozesse des Lebens und ist dabei um zwei Pole beziehungsweise Hauptformen organisiert. Der eine Pol konzentriert sich auf die Mikroebene, auf die Funktionen und die Funktionalität des individuellen Körpers, seine Fähigkeiten, deren Nutzbarmachung und Integration in das ökonomische System. Der Körper wird kontrolliert und diszipliniert und somit zum politischen Instrument der BioMacht. Der zweite Pol fokussiert die Makroebene, den ›Gattungskörper‹, also die gesellschaftlichen Dimensionen des Körpers. Fortpflanzung, Geburten- und Sterberaten, Lebensdauer und Gesundheitsverhalten werden festgestellt, analysiert und reguliert und zum Gegenstand einer »Bio-Politik der Bevölkerung« (Foucault 1983, S. 134f.). »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann.« (Foucault 1983, S. 137f.)

Kennzeichnend für die Bio-Macht ist dabei das ihr zugrunde liegende Funktionsprinzip, das Leben zu organisieren, zu verwalten und zu bewirtschaften, Gesellschaften wachsen zu lassen und diese Kräfte zu ordnen, statt diese, wie ehemals zu unterwerfen oder zu vernichten (vgl. Foucault 1983, S. 132). Konsequenz dieser das Leben regulierenden Bio-Macht, welche mit ihrer Disziplinarmacht und Kontrollhoheit auf die Körper, die Gesundheit und die Ernährung der Menschen einwirkt, ist die Etablierung regulierender Normen. Das Subjekt wird vermessen, abgeschätzt und eingestuft und damit an der Norm ausgerichtet. Die Gesellschaft entwickelt sich zu einer »Normalisierungsgesellschaft« (Foucault 1983, S. 139). Übergewicht wurde deshalb zum Problem, als der moderne Staat erkannte, dass er zur Aufrechterhaltung und Schaffung neuer militärischer (Massenheer) und ökonomischer (Fabrikarbeiter) Strukturen eine ausreichende große und gesunde Bevölkerung benötigt (vgl. Klotter 1994, S. 138). Die Einteilung des Körpers in normalgewichtig oder übergewichtig hatte dann auch nicht nur die Funktion, Übergewicht in Grenzen zu halten, sondern brachte auch gesellschaftspolitische Konsequenzen mit sich. Eine Normierung des Gewichts ermöglichte eine systematische Ordnung der Bevölkerung, verlieh dem gesellschaftlichen Körper sozusagen Koordinaten und Konturen

G ESUNDHEIT , N ACHHALTIGKEIT

UND

GENUSS | 265

und schuf damit die Möglichkeit der Intervention, indem nun festgelegt werden konnte, wer was und wie viel zu essen hat (vgl. Klotter 1994, S. 140). 8.1.2 Wissen und Ernährung Der Eingriff der Bio-Macht auf Körper und Ernährung der Individuen gelingt über die Produktion von Wissen. Wissen und Macht bilden bei Foucault eine symbiotische Allianz, da beide aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig verstärken. »Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt […]; daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.« (Foucault 1976, S. 39)

Das vorhandene Wissen legitimiert und vergrößert die Macht, die wiederum neues Wissen produzieren lässt, um die Machtsteigerung zu perpetuieren. Wissen wird genutzt, um den Menschen, als Einzelnen wie als Gruppenmitglied, zu kontrollieren. Die kontrollierte Erfassung des Menschen führt zur Produktion von noch mehr Wissen, welches wiederum die Macht legitimiert und zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt wird. Das Wissen über die Körper der Individuen wird dazu eingesetzt, diesen Körper zu steuern, zu kontrollieren und im Sinne der Macht zu verändern. Die Macht selbst bleibt dabei im Hintergrund, während das scheinbar objektive Wissen die handlungsanweisende Lenkung legitimiert, die Ideologie fortwährend verbreitet wird. In der Ernährung sind es vor allem die Medizin und die Ernährungswissenschaften, welche die Deutungshoheit innehaben und den Diskurs über Ernährung, vor allem durch gesundheitliche Argumentation, prägen und sich selbst dadurch Legitimation und Deutungsmacht verschaffen. Anhand von Ernährungsund Gesundheitsstatistiken1 werden Kategorien und Risikogruppen gebildet, wird veröffentlicht, mit welchen Nährstoffen die Bevölkerung unter- oder überversorgt ist, worauf im Dienste der Gesundheit verzichtet werden soll beziehungsweise was dafür getan werden muss. Sie lenken den Diskurs, beeinflussen die Medien und deren Rezeption des Themas Ernährung, schaffen damit eine Deutungshoheit und legitimieren und reproduzieren ihre Macht. Staatsinteresse ist es, die Bevölkerung ef-

1

Setzwein misst hierbei vor allem den amtlichen Statistiken eine große Bedeutung zu, da diese sowohl durch ihre Wissenschaftlichkeit als auch ihren rechtlichen Status legitimiert sind. Hinzu kommt, dass Staaten quasi ein Monopol auf Erfassung und Auswertung großer Datenmengen haben, da nur sie Zugriffsmöglichkeiten auf solche großen und heiklen Datenmengen haben beziehungsweise die Teilnahme an Befragungen auch rechtlich erzwingen können wie etwa bei der Volkszählung (vgl. Setzwein 2004, S. 261).

266 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

fizient zu ernähren, die Gesundheitskosten zu senken sowie das Leistungsvermögen von Körper und Gesellschaft zu erhöhen (vgl. Setzwein 2004, S. 260f.). Um dies zu erreichen, muss der Staat dauerhaft Einfluss auf das einzelne Individuum nehmen: »Der moderne Staat hat sich nach Foucault christliche Bemächtigungstechniken, die das Individuum betreffen, also die aufmerksame individuelle Betreuung von der Wiege bis in den Tod, angeeignet. Die so verstandene Pastoralmacht2 begleitet nun von staatlicher Seite aus jeden einzelnen. Sie hält die Opposition vom guten und schlechten Körper aufrecht, indem gut nun meint, daß ein gefügiger und disziplinierter Körper den staatlichen Interessen zur Verfügung steht [Hervorhebungen im Original].« (Klotter 1993, S. 28)

Was nun gut oder schlecht ist, entscheiden in zunehmendem Maß nicht mehr Konsumenten und Verbraucher, sondern Spezialisten der Ernährungswissenschaft. Es ist nicht mehr das Angebot, die Erfahrung, die Tradition oder der eigene Geschmack, der bestimmt, was auf den Tisch kommt, sondern die Empfehlungen der zertifizierten und selbsternannten Experten, die festlegen, welche Nahrungsmittel gut und empfehlenswert sind. Die richtige Ernährung wird von den zuständigen staatlichen Stellen für alle kollektiv festgelegt und gilt als verbindlich, auch wenn der Anspruch bei Weitem nicht von allen Individuen erfüllt wird. Das Fachwissen der Ernährungswissenschaft hat eine uneingeschränkte Richtlinienkompetenz, die kaum hinterfragt wird, da der normale Durchschnittsverbraucher auch gar nicht in der Lage ist, Ernährungsempfehlungen kritisch zu überprüfen. Fragen muss sich vielmehr das Individuum, weshalb es die richtige Ernährung nicht vollständig umsetzen kann, wieso die Ernährung immer noch zu fettig ist und das Körpergewicht immer noch über dem Normalbereich liegt. Die Diskursivierung der Ernährung führt zu einer ständigen Beschäftigung und Kontrolle des Individuums und seiner Nahrungsaufnahme und wirkt so im Sinne der Disziplinarmacht auf eine Normierung und Kontrolle der Körper hin (vgl. Setzwein 2004, S. 262f.). Diese Normierungstendenzen stehen scheinbar im Widerspruch zum Individualisierungstheorem. Demnach wird der Körper dazu genutzt, um aus eigener Wahl und Verantwortung individuelle Identität herzustellen. In gewisser Weise stimmt das auch, ein gesunder, formschöner Körper wird gewissermaßen dem Einzelnen zur Pflicht, zu einem ihm eigenen Wunsch und Ziel. Gesundheit und Krankheit werden immer weniger als Schicksal begriffen, sondern als vom Individuum gestaltbar dargestellt. Diese Ambivalenz zur normativen Kraft der Biomacht löst sich auf, wenn man den ideologischen Charakter der Individualisierung begreift. Es ist eine Ideologie, welche nicht willens oder nicht in der Lage dazu ist, latent wirkende Machtstrukturen 2

Foucault versteht unter der Pastoralmacht eine aus dem Christentum hervorgegangene Form der Machtausübung, welche in jeder Lebenssituation bis ins Detail die Lebensführung der Individuen bestimmen und Einfluss auch auf das Innerste des Individuums nehmen will (vgl. Ruoff 2007, S. 161f.).

G ESUNDHEIT , N ACHHALTIGKEIT

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zu erkennen und die im Hintergrund wirkenden Kräfte der Biomacht übersieht. Scheinbar losgelöst aus allen Zwängen obliegt der Körper den Gestaltungswünschen des Einzelnen, wobei die individuellen Wünsche der Einzelnen erstaunlicherweise alle auf das gleiche Ziel zulaufen, einen gesunden, leistungsfähigen Körper. 8.1.3 Normierungsinstanzen und -techniken der Bio-Macht Eine der wichtigsten Normierungsinstanzen ist – wie schon erwähnt – die Medizin. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Übergewicht zu einem öffentlichen Thema, welches die Medizin aufgriff. Mit Formeln und Tabellen wurde das Normalgewicht berechnet, die Definition von Übergewicht dabei Stück für Stück restriktiver gehandhabt und dementsprechend nahm das Normalgewicht immer mehr ab (vgl. Habermas 2008, S. 5). Eine Formel des belgischen Mathematikers Adolphe Quetelet aus dem 19. Jahrhundert ist der heute verbreitete Body-Mass Index3, der sich aus dem Quotienten des Körpergewichts in Kilogramm und der Körpergröße in Metern im Quadrat berechnet. Andere Formeln, wie das in den 60er Jahren populäre BrocaNormalgewicht, berechnen das Normalgewicht als Körpergröße in Zentimeter minus 100, das Idealgewicht ist das Ergebnis der Formel abzüglich 10 Prozent bei Männern und 15 Prozent bei Frauen. Dieses Idealgewicht wurde als gesundheitlich optimal betrachtet, jedes Gewicht darüber dagegen als lebensverkürzend, was heute sehr umstritten ist, aber ausreichte, um über Nacht große Bevölkerungsteile als übergewichtig zu definieren (vgl. Klotter 2007, S. 20). Solche Gewichtsnormen führten dann, zusammen mit den Erkenntnissen und Entdeckungen der aufkommenden Ernährungswissenschaft, wie etwa der Identifizierung der Nahrungsbestandteile Proteine, Fette und Kohlehydrate, zu einer fortschreitenden Quantifizierung und Rigidisierung des Essverhaltens. Mit dem sich durchsetzenden Schlankheitsideal im 20. Jahrhundert entwickelte sich in noch stärkerem Maße eine »metrisierte Nahrungsaufnahme« (Klotter 1993, S. 72), welche eine ständige Beschäftigung mit dem Thema Essen mit sich brachte. Die Frage danach, wie viel wovon noch gegessen werden darf, um das Idealgewicht zu erreichen oder zu halten, brachte dann auch die heutige Diätindustrie hervor. Eine bedeutende Normalisierungstechnik ist neben der Erstellung und Etablierung von Normgewichten sowie den Referenzwerten des täglichen Nährstoffbedarfs das Standardisieren und Wiegen. Setzwein verweist hier insbesondere auf die Bedeutung von Konfektionsgrößen. So werde bei Diäten der Erfolg nicht nur in verlorenen Kilogramm, sondern auch in Kleidergrößen gemessen. Oftmals sind bestimmte Konfektionsgrößen Ziel einer solchen Diät. Die richtige Kleidergröße wird mit Erfolg, At-

3

Männer gelten ab einem BMI von weniger als 20, Frauen ab einem Wert von unter 19kg/m² untergewichtig, ab einem BMI von über 25kg/m² gilt man als übergewichtig.

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traktivität, Jugendlichkeit und Charaktereigenschaften wie Disziplin und Selbstbewusstsein assoziiert, die »Übergrößen« etikettieren den Träger dagegen mit abwertenden Zuschreibungen, sind das negative Äquivalent zu Attraktivität, Disziplin und Erfolg (vgl. Setzwein 2004, S. 265f.). Auch das Wiegen ist eine Alltagspraktik mit bedeutender Normierungsfunktion. Beinahe zwei Drittel der Frauen (bei den Männern nur 42 Prozent) wiegen sich mindestens einmal pro Woche zum Zweck der Gewichtskontrolle (vgl. Pudel / Westenhöfer 1991, S. 144). Die Waage zeigt an, ob die Nahrungsaufnahme reduziert werden muss, ob eine Diät erfolgreich war oder gescheitert ist. Mittlerweile wird nicht mehr nur das Körpergewicht in Kilogramm gewogen, sondern Körperfettwaagen ermitteln auch den Fettanteil des Körpers, da Menschen mit einem zu hohen Fettmasseanteil als gesundheitliche Risikopersonen eingestuft werden. Es kommt zum »Kreuzzug gegen Fette« in seiner doppelten Bedeutung: gegen Übergewichtige als auch gegen jegliches Fett in Nahrungsmitteln. Übergewichtige werden als disziplin- und verantwortungslos diffamiert, fettreiche Lebensmittel aus dem Speiseplan verbannt (vgl. Schorb / Schmidt-Semisch 2008, S. 7ff.). Die Ablehnung und Verteufelung von Fett zeigt sich dann in unzähligen Sport- und Fitnesskursen mit speziellen Programmen zur Körperfettminimierung und Problemzonenbehandlung, in Fatburner-Diäten und Kochbüchern, die eine leichte Küche lancieren (vgl. Setzwein 2004, S. 267). Alles um die festgesetzte Norm des Ideal-, zumindest aber des Normalgewichts zu erreichen. Der Staat nützt dabei die Erkenntnisse der modernen Ernährungswissenschaft, um die Bevölkerung, welche als ›Produktivkraft‹ verstanden wird, ökonomisch und effizient zu ernähren und versucht in diesem Sinne auf die Bevölkerung einzuwirken. Es wird ein Ernährungsideal propagiert, dem die Bevölkerung Folge zu leisten hat, und wer sich nicht daran hält, muss mit Konsequenzen rechnen (vgl. Klotter 1993, S. 91). Durchsetzen lässt sich dies, weil die BioMacht sich dabei eines Arguments bedient, dass von jedem Gesellschaftmitglied als legitim und von höchster Bedeutung erachtet wird: der Gesundheit. 8.1.4 Das Primat der Gesundheit »Es gibt Menschen, die auf alles Essbare, Trinkbare, Rauchbare verzichten, das ein irgend schlechtes Ansehen bekommen hat. Sie machen dieses Opfer für die Gesundheit. Und alles, was sie davon haben, ist Gesundheit. Wie merkwürdig. Es ist, wie wenn man ein Vermögen bezahlte für eine Kuh, die keine Milch mehr gibt.« (Mark Twain)

Die Gesundheit spielt in der Biopolitik der Ernährung eine entscheidende Rolle. Nahezu der gesamte Ernährungsdiskurs legitimiert sich durch gesundheitliche Argumente. Eine Macht, deren höchste Funktion der Erhalt des Lebens ist (vgl. Foucault 1983, S. 135), muss naturgemäß der Gesundheit höchste Priorität einräumen um ihren Machtanspruch nicht zu verlieren. Die Bio-Macht hat deshalb ein enormes Interesse daran, ihr Wissen

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so einzusetzen, dass sie auch als Garant des Lebens und der Gesundheit wahrgenommen wird. Jeder Mensch will überleben, und die Macht, die dieses Überleben gewährleistet, erfährt Legitimation. Was und in welchen Mengen Kinder, Männer, Frauen oder alte Menschen zu sich nehmen sollen – alle Empfehlungen und Richtwerte der Medizin und Ernährungswissenschaft versprechen eine Verbesserung der Gesundheit und eine Verlängerung des Lebens. Gesundheit als Selbstzweck war für Mark Twain noch die Beobachtung einer Ausnahme, heute ist es die Regel geworden. Beim Essen und Trinken muss darauf geachtet werden, sich nicht an seiner Gesundheit zu versündigen, Gesundheit wird zu einer Art Ersatzreligion: »Die Sorge um einen heilen Körper, zentraler Gedanke jeder Religion, hat in der zunehmend säkularisierten Welt inzwischen selbst kultische Züge angenommen« (Wirz 1998, S. 84). Die Pflicht, sich gut und gesund zu ernähren, bürdet dem einzelnen Menschen eine enorme Verantwortung auf, die für viele zur Last wird und eine Sehnsucht nach Entlastung durch Ernährungsideologien und Expertenratschläge weckt (vgl. Setzwein 2004, S. 262f). Ein gesundes und glückliches Leben scheint kein Gott mehr garantieren zu können, sondern Mediziner, die ›Halbgötter in Weiß‹, Homöopathen, Ernährungsberater mit ihren Ideologien von Trennkost, Vollwertkost, Vegetarismus, Veganismus, Makrobiotik, Ayurveda und ähnlichem. Die Vorstellungen einer gesunden Lebensweise nehmen immer öfter und immer mehr religiöse Züge an, nur dass aus der Gottesfürchtigkeit die Gesundheitsfürchtigkeit wurde: »In this secular age, focusing upon one’s diet and other lifestyle choices has become an alternative to prayer and righteous living in providing a means of making sense of life and death. ›Healthiness‹ has replaced ›Godliness‹ as a yardstick of accomplishment and proper living. Public health and health promotion, then, may be viewed as contributing to the moral regulation of society, focusing as they do upon ethical and moral practices of the self.« (Lupton 1995, S. 4)

Noch problematischer wird die Sache dadurch, dass es keine freiwillige Entscheidung des Einzelnen ist, sondern dass es gelungen ist, die Pflicht zur Gesundheit für alle verbindlich zu machen, sie zu sozialisieren. Die erhöhte Stellung der Gesundheit mit teils quasireligiösen Zügen führt auch dazu, dass Abweichler vom gesunden Lebensstil immer weniger toleriert, sondern mit legitimierter Autorität kritisiert und diffamiert werden, was manche schon von der »Tyrannei der Gesundheit« sprechen lässt (vgl. Fitzpatrick 2001). Ein gesunder Lebensstil im Allgemeinen und eine gesunde Ernährung im Speziellen werden zur moralischen Pflicht des Individuums. Gesundheit und Krankheit gelten nicht mehr als schicksalhafte Bestimmung, sondern als gestaltbare beziehungsweise vermeidbare Zustände, wenn sich das Individuum an die Erkenntnisse und Ratschläge der Wissenschaft hält, zu seinem eigenen Wohle, als

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auch zum Wohle der Gesellschaft. Im Falle einer Erkrankung wird immer mehr dazu tendiert, die Ursache der Krankheit in der Schuld des Erkrankten zu suchen: »Many […] now think that anyone who has a MI [myocardinal infarction] must have lived the live of gluttony and sloth […]. We seem to view raising a cheeseburger to one's lips as the moral equivalent of holding a gun to one's head.« (Marantz 1990, S. 1186)

Anschaulich wird dies im Interview mit dem Dachdecker Herbert, der an Krebs erkrankt war. Bei der Krebserkrankung handelte es sich nicht um Magen- oder Darmkrebs, wo neben genetischen und anderen Faktoren auch ein bestimmter Ernährungsstil als Risikofaktor gilt, sondern um Hodenkrebs, bei dem es keinerlei gesicherte Erkenntnisse oder Hinweise darauf gibt, dass das Erkrankungsrisiko vom Ernährungsstil abhängig ist. Dennoch wurde er von einer Vielzahl von Menschen ohne jegliche medizinische Ausbildung darauf gedrängt, seine Ernährung umzustellen: »Ich habe ja Krebs gehabt und da habe ich den Doktor auch gefragt, ob ich mich anders ernähren soll, weil halt ein paar Bekannte oder Nachbarn damals gemeint haben, ich soll mich anders ernähren und auf dies oder jenes schauen. Dann hat der Doktor aber gemeint, ich soll das essen, was mir schmeckt.« (Interview 4, Herbert, Z.95ff.)

Erkrankungsrisiken und der Heilungserfolg werden auch von Teilen der Ärzteschaft individualisiert, man hat es scheinbar selbst in der Hand, eine Erkrankung zu vermeiden oder zu überwinden. Vorbeugung und Prävention versprechen ein langes, gesundes Leben. Wer dagegen die berechneten Risiken und Erkenntnisse der Wissenschaft ignoriert oder diesen gar zuwider handelt, ist im Falle einer Erkrankung selbst schuld und gilt zudem als unmoralischer Schädling der Gesamtheit, der mit seiner selbstverschuldeten Krankheit die Gesundheitskosten in die Höhe treibt (vgl. Setzwein 2004, S. 263). Der Einzelne wird dazu angehalten, seine Erkrankungsrisiken zu minimieren. Dort, wo die Gesundheit zur Ersatzreligion wird, wird das Risiko zum Ersatz der religiösen Sünde: »Risiko ist heute das weltliche Gegenstück zur Sünde. Sich einem Risiko auszusetzen dann, wenn auch andere Wege gangbar sind, wird als sündhaftes Handeln angesehen« (Marsh 2003, S. 31). Und auch wenn sich bei Weitem noch nicht alle an eine gesunde Lebens- und Ernährungsweise halten und sich versündigen, weil sie zu viel essen, sich zu fettig ernähren, übermäßig Alkohol trinken, rauchen und sich nicht sportlich betätigen, gilt: Gesundheit hat einen von Lebenslage und Schicht relativ unabhängigen und übergreifenden Wert und eine Leitfunktion für die gesamte Bevölkerung (vgl. Setzwein 2004, S. 262f.). Das Primat der Gesundheit ist für mich die entscheidende Neuerung, welche die Bio-Macht entwickelte und von umfassender Bedeutung für die Ernährung aller ist. Es weiß heute buchstäblich jedes Kind, dass man sich gesund ernähren muss. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet Gesundheit nicht als Lebensziel, son-

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dern als Ressource zur Alltagsbewältigung (vgl. World Health Organization [WHO] 1984, S. 20). Allerdings definiert sie Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, sondern als einen Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und auch sozialen Wohlergehens4. Gesundheit ist also letztlich vollkommene Glückseligkeit, ein Heilsversprechen für die Bevölkerung, welche zum allergrößten Teil qua Definition nicht gesund ist, sei es aufgrund von Schnupfen, Einsamkeit oder Arbeitslosigkeit und angetrieben ist, alles Mögliche zu unternehmen, um gesund und damit glücklich zu werden. Der Gesundheit wird eine überragende Stellung eingeräumt, sie wird zur Aufgabe jedes Einzelnen und zum Versprechen für alle: »Der Imperativ der Gesundheit: Pflicht eines jeden und gemeinsames Ziel.« (Foucault 1996, S. 315)

8.2 D AS AUFTAUCHEN DER N ACHHALTIGKEIT DIE M ORALISIERUNG DER E RNÄHRUNG

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8.2.1 Risikowandel – vom Schicksal zur Selbstverschuldung Als Beck 1986 sein berühmtes Buch der »Risikogesellschaft« veröffentliche, sah er die Gesellschaft in einem Umbruch von der klassischen Industriegesellschaft, der »ersten Moderne«, hin zu einer anderen, »zweiten Moderne« (vgl. Beck 1996, S. 22), welche er eben auch als Risikogesellschaft betitelte. Die Ursachen für diesen Wandel sieht Beck in den vormals verdeckten Nebenwirkungen der industriellen Produktion, welche in der Risikogesellschaft immer offener zu Tage treten: »Als Motor des Gesellschaftswandels gilt nicht länger die Zweckrationalität, sondern die Nebenfolge [Hervorhebung im Original]: Risiken, Gefahren, Individualisierung, Globalisierung« (Beck 1996, S. 40). Der wissenschaftliche und technische Fortschritt bringt nicht nur neue zivilisatorische Errungenschaften und Wohlstand hervor, sondern schafft quasi als Nebenprodukt ein stetig wachsendes Gefahrenpotenzial von mehr oder weniger kalkulierbaren Risiken. Diese Risiken sind selbstgeschaffen, sind menschengemachte Produkte des industriellen Fortschritts von unabsehbaren Folgen und unterscheiden sich dadurch von Risiken früherer Zeiten (vgl. Schroer 2009, S. 497). Dabei ist Beck klar, dass auch in vormodernen Zeiten Gefahren und Risiken herrschten, doch sieht er diese als Risiken persönlicher Art. Die neuen Risiken jedoch haben ein glo-

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Die seit 1948 unveränderte Definition lautet im Original: »Health is a state of complete physical, mental and social well being and not merely the absence of disease or infirmity« (World Health Organization (WHO), S. 100).

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bales Gefährdungspotenzial, welches sich nicht an die Grenzen von Raum und Zeit, Klassen und Nationen hält. Die Risiken der Atomenergie, der Umweltverschmutzung oder der verseuchten Lebensmittel können jeden treffen, unabhängig von der Position im sozialen wie geographischen Raum, von Klasse und Stand, von Länderund Kontinentgrenzen (vgl. Beck 1986, S. 28ff.). Die gesellschaftlichen Konflikte verschieben sich und erhalten eine neue Qualität. Während Mangelgesellschaften mit materieller Not von Verteilungskonflikten geprägt sind, bilden sich die Konfliktlinien in der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft vermehrt an Definition und Verteilung der wissenschaftlich-technisch produzierten Risiken (vgl. Beck 1986, S. 25). Zentral für die Risikogesellschaft ist, dass diese Risiken vor allem ökologischer Art sind: Natur- und Umweltzerstörung, Gifte und Rückstände in Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen sowie Chemie- und Reaktorunfälle (vgl. Beck 1986, S. 50f). Aus den ökologischen Katastrophen resultieren dann wiederum soziale und ökonomische Konflikte, weshalb Beck eine Infragestellung und Neubewertung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft beziehungsweise deren Gegenüberstellung für zwangsläufig und unabdingbar hält: »Mit der industriell forcierten Zersetzung der ökologischen und natürlichen Grundlagen des Lebens wird eine historisch beispiellose, bislang völlig unbegriffene gesellschaftliche und politische Entwicklungsdynamik freigesetzt, die in ihrer Konsequenz auch zum Umdenken des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zwingt.« (Beck 1986, S. 107)

Spätestens in den 70er Jahren begann zumindest in Teilen der Bevölkerung dieses Umdenken, überlagerten und verdrängten nach und nach die ökologischen Themen und Bedrohungen, die bisher dominierende Frage nach sozialer Gerechtigkeit (vgl. Schroer 2009, S. 498). Der Wohlfahrtsstaat und seine Erfolge im Kampf gegen materielle Armut ließen ökologische Fragen sukzessive dringlicher erscheinen als soziale Fragen und wurden von der sich formierenden Umweltbewegung aufgegriffen und zum Gegenstand des gesellschaftlichen Diskurses gemacht. Auf die neuen, selbstproduzierten und entgrenzten Risiken reagierte die Gesellschaft mit neuen, postmateriellen Werten der Selbstverantwortung, welche banalen Alltagshandlungen eine grenzenlose Bedeutung verleihen können: »Der Kauf beispielsweise eines bestimmten Kleidungsstückes oder individuelle Ernährungsgewohnheiten können Konsequenzen nach sich ziehen, die sich auf den Lebensunterhalt eines Menschen am anderen Ende der Welt auswirken oder die den ökologischen Zerstörungsprozess beschleunigen, der wiederum Folgen für die ganze Menschheit hat.« (Giddens 2000, S. 68)

Die Verantwortung des Einzelnen in der Weltrisikogesellschaft ist größer geworden und führte zur Etablierung neuer Werte, durch deren handlungsweisende Kraft versucht wird, die neuen Risiken zu begrenzen und einzudämmen.

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8.2.2 Wertewandel – von der Verantwortung zur Nachhaltigkeit In den 70er Jahren machten verschiedene Ansätze der empirischen Sozialforschung die gemeinsame Feststellung, dass sich die Gesellschaft in einem grundlegenden Wertewandel befindet. Die Schwerpunkte dieses Wertewandels waren eine zunehmende Säkularisierung aller Lebensbereiche, die Emanzipation der Frauen und der Sexualität, die wachsende Bedeutung von Selbstentfaltung und Lebensgenuss sowie eine höhere Bewertung von Freizeit, Gesundheit, intakter Umwelt und Natur (vgl. Stengel 2011). Bedingungen und Ursachen dieses Wertewandels wurden jedoch unterschiedlich interpretiert. Ronald Inglehart sah einen Wandel vom materialistischen zum postmaterialistischen, also immateriellen, emanzipativen, ökologischen oder ästhetischen Werten (vgl. Schubert / Klein 1997, S. 221) und die Ursachen dafür im wirtschaftlichen Aufschwung der westlichen Welt. Während in Mangelgesellschaften materielle Werte größere Bedeutung haben als soziale, intellektuelle oder ästhetische Werte, werden diese in Gesellschaften mit relativem Wohlstand und relativer materieller Sicherheit aufgewertet. In Zeiten materieller Not sind die Bedürfnisse des Menschen physiologsicher Art, das heißt, das wichtigste Anliegen ist das Stillen lebensnotweniger Bedürfnisse wie etwa der Zugang zu ausreichend Nahrung. In Gesellschaften, die sich aus dieser materiellen Not befreien konnten, stellt sich dann nicht mehr die Frage, ob man seine lebensnotwendigen Bedürfnisse befriedigen kann, sondern nach qualitativen, sozialen und ökologischen Werten innerhalb der gesicherten materiellen Existenz (vgl. Inglehart 1989, S. 93). Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow stellt dies in seiner Bedürfnis-Pyramide dar: Abbildung 22: Bedürfnispyramide nach Maslow

Quelle: Maslow 1943

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Auf die Ernährung bezogen bedeutet dies, dass nicht mehr gefragt wird, ob es etwas zu essen gibt, sondern danach, wie das Essen schmeckt, wie es aussieht, wo es herkommt und wie es produziert wurde. In der Konsequenz dieser Hypothese geht Inglehart dann davon aus, dass mit steigender Wirtschaftskraft sich postmaterielle Werte ausbreiten und materielle Werte zurückgehen. Zudem ist er der Ansicht, dass sich solche Wertprioritäten nicht aus den unmittelbaren ökonomischen Verhältnissen entwickeln, sondern aus dem sozio-ökonomischen Umfeld der frühen Jugendzeit und spricht damit der frühen Sozialisation eine entscheidende Bedeutung hinsichtlich der Wertentwicklung zu (vgl. Inglehart 1989, S. 92f.). Eine differenziertere Analyse des Wertewandels liefert Helmut Klages. Statt von einem Wandel von materiellen zu postmateriellen Werten spricht er von einem Wandel von »Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten«, wobei letztere im Großen und Ganzen deckungsgleich mit den postmateriellen Werten Ingleharts sind. Einen wesentlichen Unterschied beider Ansätze sieht Klages in der Eindimensionalität des Ansatzes von Inglehart beziehungsweise der Mehrdimensionalität seines Ansatzes. Bei Inglehart liegen materielle wie postmaterielle Werte auf einer Ebene. Dies bedeutet, dass ein Wachstum des einen Wertes die Schrumpfung der anderen Wertegruppe zur Folge hat. Für Klages dagegen sind die Pflichtund Akzeptanzwerte sowie die Selbstentfaltungswerte voneinander unabhängige Dimensionen im Werteraum. Daraus resultiert, dass diese Wertegruppen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den verschiedensten Kombinationen auftreten können (vgl. Klages 1985, S. 22ff.). In dieser Interpretationsweise hat der Wertewandel zwar eine ziemlich eindeutige »Gesamttrendrichtung« (vgl. Klages 1998, S. 699), dabei aber auch einen weitaus offeneren und pluraleren Charakter. Individuen wählen also ihre Werte nicht nach dem Entweder-oder-Prinzip aus, sondern kombinieren verschiedene Werte untereinander in vielfältiger Weise. Sie basteln sich ihren Wertekatalog zusammen, der auch ambivalenten Charakter haben kann. Trotz der tendenziellen Zunahme von Selbstentfaltungswerten verlieren traditionelle, ältere Werte nicht automatisch an Bedeutung. Typische Akzeptanz- und Pflichtwerte, wie etwa Ordnungsliebe und Fleiß, konnten ihre Bedeutung im Wesentlichen erhalten, bei vielen Menschen finden sich gleich hohe oder gleich niedrige Ausprägungen beider Wertegruppen (vgl. Klages 1985, S. 23, 1998, S. 702). Manche Werte erreichen dabei unabhängig von sozialstrukturellen Faktoren eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz und damit eine allgemeine Richtlinienkompetenz und Gültigkeit. Umwelt-, Natur- und Tierschutz bilden einen ökologischen Wertekomplex, welcher einstmals Alleinstellungsmerkmal der Grünen war und heute von allen Parteien, natürlich mit unterschiedlicher Gewichtung, als zentrales und bedeutendes Thema der heutigen Gesellschaft erachtet wird. Die Weltrisikogesellschaft, in der Beck uns mittlerweile angekommen sieht (vgl. Beck 2007, S. 13–54), hat nicht nur neue Risiken mit sich gebracht, sondern analog dazu auch neue Werte und Verantwortlichkeiten geschaffen. In einer Gesellschaft, die immer

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weniger durch traditionelle Größen geprägt und bestimmt ist, erhält der Einzelne ein Mehr an Reflexionsmöglichkeit und Entscheidungsfreiheit sowie eine größere Selbstständigkeit, aber auch eine größere Verantwortung. Diese Verantwortung erstreckt sich auf alle Lebensbereiche, natürlich auch auf die Ernährung und der Art und Weise, wie man diese gestaltet: »Kann ich weiterhin noch Rindfleisch essen oder nicht? Sind die Nahrungsmittel, die ich kaufe, mit Giftstoffen belastet oder verseucht? Welche Lebensmittel kaufe ich, um eine vollwertige und ausgewogen Ernährung zu haben?« (Giddens 2000, S. 70)

Das Individuum der Risikogesellschaft wird in die Verantwortung genommen, ist durch sein individuelles Ernährungs-, Konsum- und Kaufverhalten verantwortlich für seine Gesundheit, sein Wohlbefinden, für eine intakte Umwelt, artgerechte Tierhaltung und eine fair bezahlte Erzeugung seiner Lebensmittel. Es ist der vielzitierte ›mündige Verbraucher‹, der mit seiner Marktmacht darüber entscheiden kann, ob der Regenwald gerodet oder geschützt wird, ob das Huhn, welches das Frühstücksei spendet, in Massenhaltung zerrupft im Käfig sitzt oder vollbefiedert in der Wiese nach Würmer sucht, und ob mit fair gehandelten Kaffee ganze Familien in Südamerika vor der Armut bewahrt werden und auf den die Politik setzt: »Das Konsumverhalten der Menschen hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Natur. Unser Ziel ist es, die Verbraucher zu einem nachhaltigen Lebensstil zu bewegen, der neben rein wirtschaftlichen Überlegungen auch ökologische und soziale Kriterien mit berücksichtigt.« (Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz Baden-Württemberg 04.11.2010 / Nr. 319)

Ob und in welchem Umfang dies zutrifft, ist höchst umstritten. Der Kulturwissenschaftler Nico Stehr erkennt eine durch Wissens- und Wohlstandswachstum entstandene »Moralisierung der Märkte«, in welchen die Konsumenten nicht mehr nur zweckrational handeln, sondern »das Marktgeschehen beeinflussende, politisch denkende und moralisch handelnde Akteure« (Stehr 2007, S. 232) sind. Oliver Geden dagegen sieht die Zusammenhänge, Hintergründe und nicht intendierten Folgen einer ökologischen Lebensführung als so komplex an, dass der Verbraucher gar nicht in der Lage ist, diese zu beurteilen, er also nicht ermächtigt, sondern von unzähligen, sich widersprechenden Verhaltensratschlägen verwirrt wird: »Welcher Verbraucher versteht schon, dass ein Großteil der auf dem Markt angebotenen Ökostromtarife keinerlei positive Umwelteffekte mit sich bringt, da diese Tarife meist nicht zu einem Neubau von Anlagen zur regenerativen Energieerzeugung führen, sondern lediglich den europaweiten Handel mit Ökostromzertifikaten ankurbeln? Wer vermag schon mit Sicherheit zu sagen, ob Biogemüse aus Spanien gegenüber konventionell angebautem aus der

276 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG Region zu bevorzugen wäre? Wer würde erwarten, dass die Produktion von Rindfleisch in ökologischer Aufzucht bisweilen ›klimaschädlicher‹ ist als in der konventionellen Landwirtschaft? Wer kann schon einschätzen, wie es um die CO2-Bilanz verschiedener Sorten von biogenen Treibstoffen bestellt ist und welchen Einfluss auf die weltweiten Nahrungsmittelpreise deren Förderung tatsächlich hat?« (Geden 2008, S. 136)

Geden sieht die Bedeutung der Konsumgewohnheiten des mündigen Verbrauchers bei Weitem überschätzt, da dieser weder über ausreichend Information verfügt, noch auf wichtige Produktionsprozesse Einfluss nehmen kann (vgl. Geden 2008, S. 139). Die Abwälzung der Verantwortung auf das einzelne Individuum führt zu einer »Moralisierung und Depolitisierung des Nachhaltigkeitsdiskurses« (Geden 2008, S. 133). Der mündige Verbraucher ist für ihn wenig effektiv und kann kein Ersatz für eine politische Regulierung sein. Die Antwort auf die Frage, ob diese Moralisierung der Verbraucherentscheidungen sich nun positiv oder negativ auf eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung auswirken, ist an dieser Stelle dabei weniger interessant, als der Umstand, dass die Moralisierung und Individualisierung sozial-ökologischer Fragen von allen als Fakt betrachtet wird, der gerade auch in der Ernährung zur Wirkung kommt. Die zweite Moderne ist geprägt von der »Moralisierung des Essens« (Setzwein 2004, S. 261), die aus den beschriebenen neuen individualisierten Risiken und dem darauffolgenden Wertewandel resultiert. Das Essverhalten orientiert sich nun noch mehr als ohnehin schon am Primat der Gesundheit, für die das Individuum allein verantwortlich wurde, und welches nun auch von sozialökologischen Komponenten flankiert wird. »Nicht zuletzt befördert durch die sich in immer hastigerer Folge ablösenden Lebensmittelskandale avancieren ›gesunde‹, ›nachhaltige‹, ›umweltbewusste‹ und ›sozial verträgliche‹ Formen der Ernährung zu einer moralischen Verpflichtung für die ›informierten BürgerInnen‹. Beim Essen und Trinken muss darauf geachtet werden, dass man sich weder an seinem eigenen Körper noch am ökologischen Gleichgewicht und an den Nutztieren, weder an der Gesundheit künftiger Generationen nach an den Menschen in den Dritte-Welt-Ländern versündigt.« (Setzwein 2004, S. 261f.)

Zwischen dem Anspruch einer gesunden, sozialen wie ökologischen Ernährung und deren Umsetzung in der Wirklichkeit des Alltags klafft natürlich eine große Lücke. Was ist gesund, was ist ökologisch, welche Inhaltsstoffe machen möglicherweise krank, wie werden diese gekennzeichnet, welches Gütesiegel verspricht was und wird das Versprechen auch eingehalten? Dem Verbraucher stellen sich unzählige Fragen, die er kaum zu beantworten im Stande ist. Die Industrie verspricht auf der Verpackung »frei von kennzeichnungspflichtigen Geschmacksverstärkern« und in der Tüte ist der nicht-kennzeichnungspflichtige Geschmacksverstärker Hefeextrakt. Die Verunsicherung und Unwissenheit des

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Verbrauchers, die von der Lebensmittelindustrie maßgeblich mit produziert wird, wird von selbiger auch ausgenützt. Functional Food5 verspricht eine gesunde Ernährung ohne aufwändige Ernährungsumstellung, eine gesunde Darmflora oder eine Reduzierung des Cholesterinspiegels durch Verzehr der richtigen Joghurtdrinks oder Margarine. Selbiges gilt auch für den Biomarkt: Bio-Eier in (Bio-)Supermärkten und Discountern suggerieren Eier von Hühnern, welche in kleinen Herden auf einem Bauernhof in der Region gehalten werden, beinhalten aber Eier von Biomassenbetrieben mit bis zu 3000 Hühnern pro Stall und mehreren Ställen nebeneinander, so dass es auch Biohöfe auf einen Bestand bis zu 30.000 Legehennen bringen (vgl. Sabersky 2010). Beim EU-Bio-Siegel darf 5 Prozent des Futters aus konventioneller Produktion sein, Futtermittel dürfen zudem zugekauft werden (vgl. Bundesministerium für Ernährung 2010b). Es stellt sich die Frage, welches Wissen man vom Verbraucher erwartet, welche Verantwortung ihm übertragen werden kann. Im jüngsten Skandal um dioxinverseuchtes Futtermittel ist es wieder der Verbraucher, der von der zuständigen Ministerin Ilse Aigner ermahnt wird, »den Wert von Lebensmitteln besser zu schätzen«, denn: »Qualität hat ihren Preis« (Tageschau.de 2011). Erneut wird der Verbraucher in die Verantwortung genommen, der durch seine Kaufentscheidung mithelfen könne, Lebensmittelskandale zu vermeiden. Doch hätte der Verbraucher wirklich irgendwas gegen das Dioxin im Futtermittel tun können? Natürlich nicht. Es ist noch nicht lange her, als auch teure Bio-Eier durch Dioxin belastetes, zugekauftes Futtermittel aus dem Ausland verseucht wurden (vgl. Spiegel Online 2010). Es ist die Politik, welche es durch laxe gesetzliche Rahmenbedingungen (sei es bedingt durch Unwissenheit, Untätigkeit oder Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Interessen der Agrarindustrie) versäumt hat, Futtermittel sicherer zu machen. Dabei ist es Aufgabe des Staates für sichere und saubere Futter- und Lebensmittel zu sorgen und die Ausführung auch nur von diesem zu gewährleisten. Auch der Verbraucher, der billige, konventionelle Eier kauft, hat für mich ein Recht darauf, gesundheitlich unbedenkliche Ware zu bekommen. Der Verbraucher ist keineswegs der ›Mündige Verbraucher‹, als der er immer öfter dargestellt wird, sondern ein hilfloser Verbraucher, der mit hohem Anspruch einem riesigen und unüberschaubaren Lebensmittelangebot gegenübersteht und der geforderten Verantwortung allein kaum gerecht werden kann: »Die Moralisierung des Essens, die Ängste und Schuldgefühle produziert, bürdet den einzelnen Menschen eine Verantwortung auf, die kaum zu bewältigen ist. Sie schürt damit das Verlangen nach Entlastung, die in Ernährungsideologien […] und Expertentum gefunden werden kann.« (Setzwein 2004, S. 262) 5

Darunter versteht man Lebensmittel, die mit zusätzlichen Inhaltstoffen angereichert wurden, um einen gesundheitlichen Mehrwert zu erzielen. Ob dieser für die Gesundheit funktionale Mehrwert erzielt wird, ist allerdings fragwürdig (vgl. Dowideit 2011).

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8.3 D ER › GUTE G ENUSS ‹ – D ISTINKTION DURCH M ORAL 8.3.1 Ernährung als Lebensstil – Zur Stilbildung des Genusses Als Schulze 1992 sein Buch »Die Erlebnisgesellschaft« veröffentlichte, traf er den Nerv der Zeit. Was in den Feuilletons abwertend als hedonistische Spaßgesellschaft kritisiert wurde, beschrieb Schulze als den Wandel einer Gesellschaft hin zur Erlebnisorientierung und Glückssuche. Das Projekt eines subjektiv schönen Lebens brachte eine neue gesellschaftliche Dimension mit sich, die bis dahin ein Schattendasein fristete und sich zur dominanten Bedeutungsebene in der Gesellschaft aufschwang: der Genuss. Das der Genuss zu Beginn der 90er Jahre einen solchen Bedeutungsaufschwung erlebte, ist kein Zufall. Es war die Zeit, in der die erste Generation, die ohne materielle Not aufwuchs, gesellschaftlichen Wandel mit sich brachte und ökologische Fragen auf die Tagesordnung setzte, beruflich arriviert war und ihre ebenfalls von materiellen Sorgen freien Kindern langsam in die Unabhängigkeit entließ. Die Generation, aus der 20 Jahre vorher die Umweltbewegung hervorging, welche in Dritte Welt- und kleinen Bioläden einkaufte und den Müsligenuss als Ausdruck ökologischen Lebensstils betrieb, war jetzt etwa um die 40 bis 50 Jahre alt, beruflich und finanziell gefestigt. Die Kinder, wenn man welche hatte, waren aus dem Gröbsten heraus. Das, was einem in jungen Jahren fehlte, namentlich das Geld, stand nun zur Verfügung. Das, was einem mit Arbeitseintritt und Elternschaft abhandenkam – die Zeit – kehrte langsam wieder zurück. Man hatte nun also Zeit und Geld, man konnte und wollte jetzt genießen. Die postmateriellen Werte der 70er und 80er Jahre wurden dabei nicht verdrängt, sondern um Genuss, Erlebnisorientierung und Glückssuche erweitert und ergänzt. Deutlich wurde dies im Bedeutungswandel des Konsums. Bis in die 90er Jahre war die konsumkritische Haltung die dominierende. Materieller Konsum, der auf ressourcenintensiver Produktion basiert, wurde abgelehnt. Konsum sollte weit möglichst eingeschränkt und von der Lebensqualität entkoppelt werden (vgl. Pratt 2008, S. 117). Dieses kritische Konsumkonzept verlor jedoch seine Deutungshoheit: »Seit Ende der neunziger Jahre wird das Konzept der Konsumkritik jedoch abgelöst - oder zumindest überlagert – von dem Konzept des andersartigen Konsums. Dieser kann auch als strategischer Konsum im engeren Sinne verstanden werden. Ihm liegt die Auffassung zugrunde, dass Konsumenten durch ihre Entscheidungen am Kaufregal das Angebot steuern und somit zu nachhaltigem Konsum beitragen können.« (Pratt 2008, S. 117)

2005 beschreibt Schulze die Erlebnisgesellschaft als verfeinert und gereifter, sie habe dazugelernt. Die Gesellschaft sucht nicht mehr den Kick, die Steigerung und

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Beschleunigung um jeden Preis, strebt nicht mehr nach unbedingter ökonomischer Rationalität. Sattdessen sieht Schulze jetzt die Ausbreitung neuer Denkmuster der Nachhaltigkeit (vgl. Schulze 2005, S. VIIIf.) und greift den Ansatz Klages (vgl. Absatz 8.2.2) auf: Der Genuss, das Erlebnis, das Glücksgefühl stehen ökologischen und moralischen Werten nicht entgegen, sondern ergänzen und verbinden sich. Biologische Lebensmittel sollten von nun an nicht mehr nur gesund und ökologisch korrekt sein, sie sollten auch appetitlich aussehen und gut schmecken (vgl. Wenzel / Kirig / Rauch 2007, S. 74). Weg vom Müsli-essenden ›Öko‹ im Strickpullover, hin zum genießenden Bio-Konsumenten im chicen Anzug. Der individuelle Wohlfühlfaktor ersetzt die Konsumkritik: »Demnach ist unter anderem eine Einstellungsveränderung zu verzeichnen von Verzicht zu Genuss, sowie von themenzentriertem zu egozentriertem Konsum, von Konsum als ›schwer und ernst‹ zu Konsum als ›leicht und optimistisch‹.« (Pratt 2008, S. 118)

Damit Ernährung überhaupt erst zum Teil eines Lebensstils werden und diese Bedeutung in Gesellschaft und Medien erreichen konnte, bedurfte es des Faktors Genuss. Genuss ist für Schulze der Inhalt einer innenorientierten Sinngebung, das, wonach die Menschen der Erlebnisgesellschaft streben. Der Wandel von der zweckrationalen Außenorientierung zur Innenorientierung des Genusses fand auch im Ernährungsverhalten seinen Niederschlag. Die zweckrationale Bedeutungsebene einer sättigenden, kraftspendenden Mahlzeit zum Erhalt körperlicher Vitalität geriet in den Hintergrund, während sich die Bedeutungsebene des Genießens, des guten Geschmacks durchsetzte. Qualitative Aspekte wurden wichtiger als quantitative. Essen sollte von nun an vor allem schmecken und nicht in erster Linie satt machen. Kochen und Essen sind keine profanen Tätigkeiten mehr, keine bloße Zubereitung und Einverleibung von Lebensmitteln – Kochen und Essen sind Genuss, Erlebnis, Kultur. Der Genuss holte die Ernährung aus dem Status einer Alltagsverrichtung und ließ sie stilbildend werden: »Genuß ist eine der möglichen Bedeutungsebenen persönlichen Stils« (Schulze 2005, S. 108). Ernährung wurde Teil des persönlichen Stils, nach außen sicht- und wahrnehmbar und dient sowohl als Mittel der Distinktion als auch der Identifikation, zur Abgrenzung wie auch zur Eingrenzung und als Bekenntnis zu grundlegender Handlungsorientierung und Lebensphilosophie (vgl. Schulze 2005, S. 112). Für Schulze sind Distinktion und lebensphilosophische Bekenntnisse jedoch nur fakultativ und gehen nicht zwangsläufig mit dem Genuss einher. Er wirft Bourdieu eine Fixierung der Distinktionsbedeutung von Stilen vor, der zudem die Freiwilligkeit der Milieuzugehörigkeit ebenso nicht wahrnimmt, wie die tatsächlich wirkenden Kräfte und stattdessen an der sozialstrukturellen Determiniertheit von Milieus festhält (vgl. Absatz 2.4.4). In der Tat sind die Milieus pluraler und vielfältiger geworden. Das Alter und die Bildung sind bedeutende Faktoren der Erlebnisgesellschaft geworden,

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deren Ideal eines schönen Lebens von fast allen gesellschaftlichen Schichten übernommen wird. Dennoch sind Klasse und Schicht weiterhin für einen großen Teil der Bevölkerung prägend und nur für privilegierte Bevölkerungsteile scheinbar bedeutungslos geworden. Hinter den anscheinend frei gewählten und persönlichen Lebensstilen sind es weiterhin Schichtzugehörigkeit und Einkommen, welche gewisse Lebens- und Ernährungsstile ermöglichen oder ausschließen. Zudem bin ich davon überzeugt, dass Distinktion nicht nur ein fakultatives Element der Erlebnisorientierung ist, sondern eine obligatorische Konnotation und eine bedeutende Funktion des Genussschemas darstellt. Genuss ist nicht nur Inhalt und Zweck einer innenorientierten Gesellschaft, sondern auch ein neues Distinktionsmittel innerhalb selbiger, was im folgenden Abschnitt genauer dargelegt werden soll. 8.3.2 Distinktion und Status Sozialer Status weist in der Struktur von Gruppen, Organisationen und Gesellschaften einem jeden seine Position zu. Damit diese Position in der Hierarchie der Sozialstruktur deutlich und klar sichtbar ist, geht Status immer einher mit Distinktionsformen, welche die eigene Position von anderen Positionen in der Hierarchie abgrenzen und gerne durch Statussymbole zum Ausdruck gebracht werden. Der Status einer Person entschied schon immer über sein Essverhalten. Im Mittelalter unterschied man zwischen gemeiner Speise und Herrenspeise, der Status bestimmte die Zusammensetzung der Nahrung wie etwa den Anteil von tierischen Produkten (vgl. Hirschfelder 2001, S. 132). Der Statusunterschied manifestierte sich jahrhundertelang vor allem über Verfügbarkeit und Quantität, wer wie viel von begehrten Gütern erhielt und wer mit Grundnahrungsmitteln abgespeist wurde. Die statushohen Personen konnten sich viel Fleisch leisten und man reservierte ihnen die besten Stücke, wie das noch heute sogenannte Bürgermeister- oder Pfaffenstück zeigt. Die Statusniedrigen mussten mit Arme-Leute-Essen Vorlieb nehmen. Während der Fresswelle in den 50er Jahren war es noch immer die Menge, die man sich leisten konnte, welche Status demonstrierte und lange Jahre war ein gutes Restaurant jenes, welches die größten Portionen und die größten Karten hatte. Erst langsam, mit dem Wandel von materiellen zu immateriellen Werten, begann sich langsam eine kleine Feinschmeckerszene zu etablieren, welche die Qualität der Quantität vorzog. Die nun eher postmateriell ausgerichtete Generation war noch jung und finanziell nicht so gut ausgestattet. Ein nicht unbedeutender Teil derer pflegte einen alternativen, ökologischen Ernährungsstil. Mit der Erlebnisgesellschaft der 90er Jahre verband sich diese ökologische Ernährungsweise mit dem Genussideal, ermöglicht durch den Zuwachs an Zeit und Geld dieser Generation. Ökologie und Genuss wurden ausgesöhnt und verbunden, kleine Bioläden erhielten Konkurrenz durch Biosupermärkte im modernen Design. Statusträchtig ist nun

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nicht das Mehr, sondern das Weniger. Weniger Fleisch, weniger Fett, weniger fressen. Das Mehr zählt nur noch beim Genuss. Nachhaltige Produktion, biologischer Anbau und hohe Qualität sind dafür Voraussetzungen. Nicht zufällig, denn der Genuss, und zwar der moralisch überformte, wurde meines Erachtens zum neuen Distinktionsmittel einer Gesellschaft, in der quantitativ alles zu haben ist. Fleisch ist für jedermann erschwinglich und wird oft täglich genossen. Exotische Früchte, frischer Fisch, fremde Lebensmittel aus aller Herren Länder, ausgefallene Produkte und Spezialitäten aus aller Welt, alles zu günstigen Preisen im nächsten Discounter für jedermann zu haben. Alle Lebensmittel verloren ihre Wertigkeit, sobald sie für alle verfügbar waren und im Regal der Discounter standen. Distinktion und Status war damit nicht mehr zu erreichen, das ehedem Exklusive war gewöhnlich geworden. Der Genuss in seiner immateriellen und innenorientierten Prägung brachte neue Distinktionsmöglichkeiten mit sich. Das Gewöhnliche wurde exklusiv, das Einfache wurde das Besondere. Im selben Maße wie unterprivilegierte Schichten Zugriff auf höher bewertete Fleischsorten haben und weniger Innereien essen, greifen die Feinschmecker nun auf die ehedem verpönten Innereien zurück. Das ehemalige ArmeLeute-Essen wird dann in Feinschmeckerkreisen hochgeschätzt (vgl. Mennell 1988, S. 397f). Die Qualität wurde nun entscheidend für den Status von Lebensmitteln und derjenigen, die sie konsumieren, ergänzt und kombiniert mit Merkmalen einer gesunden und nachhaltigen Produktion. Das Rinderfilet aus dem Supermarkt ›verliert‹ nicht nur gegen das Rinderfilet vom guten Metzger nebenan, sondern auch gegen dessen Schweinbacken, Innereien und Suppenfleisch, sogar gegen Gemüse – Bioqualität vorausgesetzt. Frühere Arme-Leute-Essen gewinnen dagegen wieder an Ansehen. Alte Rüben und Krautsorten sind wieder gefragt, Weinbergschnecken, welche früher den Speiseplan der armen Landbevölkerung bildeten und in Deutschland vom Speiseplan verschwunden waren, werden wieder gezüchtet und sogar alte Breigerichte feiern Wiederauferstehung (vgl. Slow Food Deutschland 2011). Der gute Genuss ist der moralische Genuss und bedarf artgerechter Tierhaltung, ökologischer und regionaler Landwirtschaft sowie handwerkliches Wissen. Ist dies erfüllt, werden auch vormals verpönte Gerichte akzeptabel und können zum Trend avancieren, wie das Beispiel des Slow Food Mitglieds Wilfried zeigt: »Ich esse zum Beispiel sehr gerne Innereien, die ja zum Teil verpönt sind. Es gibt ja sogar Schlachter, die sagen, das schmeißen wir weg, das bekommen wir nicht mehr los. Eine Leber vielleicht schon noch, aber wer isst heute schon eine Lunge. Eine Lunge ist schon nicht mehr so ohne weiteres zu bekommen. Also wenn das kreativ ist und wenn das geschmacklich gut zubereitet ist und wenn die Zutaten in Ordnung sind, das ist für mich ein gutes Essen.« (Interview 1, Wilfried, Z. 262ff.)

»Wenn die Zutaten in Ordnung sind« heißt in diesem Milieu, dass man sich qualitativ hochwertiges Fleisch bei einem guten Metzger oder beim Tierhalter selbst be-

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sorgt (vgl. Interview 1, Wilfried, Z. 313ff.), wo man von artgerechter Tierhaltung und handwerklich einwandfreier Verarbeitung ausgeht. Der Einkauf ab Hof, von handwerklich arbeitenden Metzgern, Bäckern oder Markthändlern, die man persönlich kennt, gehört zum guten Genuss dazu. Meine Hypothese ist, dass es nun zwei Wege gibt, um seinen Ernährungsstatus zu erhöhen. Den althergebrachten, welcher sich in den Interviews dieser Arbeit als Typus ›Statusorientierte‹ zeigt, oder den des guten, moralischen Genießers, der unter dem Typus ›Idealisten‹ auftaucht. Erstere konsumieren hochpreisige, statusträchtige Lebensmittel, besuchen exklusive, edle Restaurants wie Marie (vgl. Interview 5, Marie, Z. 422ff.) oder geben viel Geld für Wein aus renommierten Weingütern aus wie Thomas: »Da kann ich schon 200–300 Euro ausgeben. Wenn sie einen schönen Bordeaux wollen, einen Petrus oder Rothschild, da legen sie schon in der Abfüllung 190 Euro hin« (Interview 11, Thomas, Z.220ff). Beide demonstrieren, dass sie es sich leisten können, beide betonen aber auch, dass mehr als Geld dazu gehört, dass sie zu leben wissen, das Gute schätzen und erkennen, im Gegensatz zu anderen: »Man muss manchmal fünf Wochen vorher reservieren, aber das machen wir dann auch. Das genießen wir dann schon. Da merke ich, dass ich auch bereit bin, für ein gutes Essen dementsprechend zu bezahlen. Freunde von mir, die da sparen, sagen, das ist doch rausgeschmissenes Geld, da bezahlt man ja bloß den Blick. Den zahle ich dann gern.« (Interview 5, Marie, Z. 425ff.)

Dass sich diese statusorientierte Ernährung nicht in der eigenen Erhöhung genügt, sondern auch auf Distinktion durch Abwertung anderer Ernährungsstile aus ist, zeigt sich an anderer Stelle: »Und wenn es irgendwas gab, also ich sehe das heute noch bei Verwandten und Bekannten, wo ich mir denke, bäh, was ihr alles esst. Echt schlechte Küche, so Hausmannskost […]« (Interview 5, Marie, Z. 129ff.). Der Mangel an Geschmack wird auch nicht als Ausdruck mangelnder Finanzkraft gewertet, sondern als Unvermögen und Anspruchslosigkeit der anderen: »Wobei ich jetzt ja in Stadt D war, mit Freunden im Restaurant, ich habe sie eingeladen, aber die geben sich auch mit so wahnsinnig wenig zufrieden. […] Waren dann ganz glücklich, als ich sie auf eine Pizza einlud. Ich hätte gerne mehr gegeben. Aber da merke ich halt, dass denen das nicht so wichtig ist.« (Interview 5, Marie, Z. 491ff.)

Zu diesem Status durch Finanzkraft, der teuren Wein oder Restaurantbesuche ermöglicht, gesellt sich aus meiner Sicht nun ein neuartiger Status, der sich aus moralischer Überlegenheit speist. Dieser Status bedingt eine hochwertige, saisonale und regionale Ernährung, welche den Anspruch an einen gesunden und nachhaltigen Genuss erfüllt. Der Überlegenheitsanspruch basiert auf der Vorstellung des moralisch guten Konsums: Diesen Statusinhabern ist weniger daran gelegen andere Er-

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nährungsstile abzuwerten, als den eigenen durch die Betonung des Wissensvorsprungs zu erhöhen: »Wenn auch dort die Großkonzerne und die großen Erzeuger nicht so sehr das Sagen hätten, die natürlich dann auch wieder Augenwischerei betreiben und die auf diese Bio- und Ernährungswellen aufspringen und mitmachen. Sieht man auch bei Lidl und bei Sonstigen, die dann also auch Bio anbieten, weil sie halt gerade meinen, da ist noch ein Geschäft zu machen. Es wäre schön, wenn sich das in diese Richtung weiter entwickeln würde, also mehr Bewusstsein.« (Interview 1, Wilfried, Z. 420ff.)

Man selbst hat schon ein Bewusstsein für den guten Konsum, unterscheidet zwischen Billig-Bio der Discounter und guten, biologischen Produkten und setzt sich damit ab, dass man gegenüber anderen schon weiter ist. Im Interview zeigt sich dies in Äußerungen wie »diese Leute kennen es nicht besser«, sie haben »dafür gar kein Bewusstsein« oder ihnen »fehlt oft der Bezug zu Lebensmitteln« (Interview 2, Kerstin, Z. 77f., 362, 391f.) Diese beiden Arten von Status stehen dabei nicht isoliert, sondern vermischen sich. Es kommt zur Symbiose des exklusiven mit dem moralisch guten Genuss. Deutlich wird dies beispielsweise in der exklusiven Sterneküche, wo Menüs weit über 100 Euro Kosten: biologische Lebensmittel sind dort Mindeststandard, Fleisch nur von extensiven und langsam gemästeten Tieren mit Freilandauslauf, Fische kommen aus nachhaltiger Leinenfischerei. Dies nicht weil alle Sterneköche besonders engagierte Umweltschützer sind, sondern vor allem auch deshalb, weil sie auf beste Qualität und höchsten Status ihrer Produkte aus sind. Sehr interessant zur Veranschaulichung finde ich in diesem Zusammenhang das Verhältnis und die Bewertung von Fleisch und Gemüse. 8.3.3 Statussymbol Fleisch – Niedergang oder Rückkehr? ›Das Fleisch ist tot, es lebe das Gemüse‹ – so könnte man die Entwicklungen und Trends der letzten Zeit umschreiben. Während früher der Fleischkonsum ein Privileg der Wohlhabenden war, weisen diese heute den niedrigsten Fleischkonsum auf, umgekehrt haben die unteren Schichten den größten Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 60f.). Schon zu Beginn der 90er Jahre sahen einige Autoren das Ende der Vormachtstellung des Fleisches heranziehen (vgl. Fiddes 1993, S. 275). Der Wert, das Ansehen und Image von Fleisch sinkt scheinbar. In der Sterneküche werden rein vegetarische Menüs angeboten, Titelblätter und ganze Magazine beschäftigen sich mit Gemüse (vgl. Reichardt 2010a; Stern 2011; Süddeutsche Zeitung Magazin 2010). Gemüse wird als das neue Fleisch beschrieben und es wird darauf verwiesen, dass die Zukunftsküche auf jeden Fall

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vegetarisch sei (vgl. Platt 2011). Doch der Trend zum Gemüse ist mitnichten so eindeutig wie er scheint, die Gegenmacht des Fleisches sammelt sich. Neue Magazine behandeln ausschließlich und ausführlich den Fleischgenuss (Beef!, Meatpaper), Feinschmeckerzeitschriften widmen dem Fleisch ihren Themenschwerpunkt (vgl. Slow Food 2011) und das Zeit-Magazin titelt: »Fleisch ist das neue Gemüse« (Kippenberger 2009). Der Untertitel verrät freilich schnell, dass damit nicht jedes Fleisch gemeint ist: »Hochwertig muss es sein – kein Massenprodukt, sondern ein Luxusgut, geliefert von Züchtern, die man kennt.« Der Wert und die Symbolkraft des Fleisches hängen heute von der Art und Weise seiner Produktion und dem daraus resultierenden besonderen Genuss ab. Einige 100 Euro kosten dann die besten Stücke Fleisch pro Kilo, von besonderen Rassen, welche unter mehr als artgerechten Bedingungen aufwachsen und aus denen Fleisch gewonnen wird, welches fast schon mystisch glorifiziert wird (vgl. Kippenberger 2009). Ein Genuss, der freilich auch unter Aspekten der Gesundheit und Ökologie legitimiert werden muss, um seine distinktive Wirkung zu entfalten. Die Ökobilanz von Fleisch und der Viehzucht ist jedoch deutlich schlechter als von vegetarischen Erzeugnissen und deren Produktion (vgl. Pimentel / Pimentel 2003; Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] 2006). Zudem wird übermäßiger Fleischgenuss gesundheitlich als bedenklich betrachtet. Diese Diskrepanz zwischen Genuss, Gesundheit und Ökologie wird entschärft, indem man wenig Fleisch isst, dieses dann aber von höchster Qualität und aus artgerechter, am besten biologischer Haltung wählt, gekauft bei einem Metzger beziehungsweise Fachhändler mit Renommee. Dadurch wird der Genuss moralisch legitimiert, wodurch der Genuss nicht als dekadent, sondern als nachhaltig und gut empfunden wird. Man kann mit gutem Gewissen genießen, Distinktion erzielen und den Status aufwerten. Und wenn man auf Fleisch verzichtet, dann versprechen biologisch angebaute Gemüsesorten, die beinahe schon vergessen waren, einen korrekten, nachhaltigen und dennoch schmackhaften Genuss (vgl. Reichardt 2010b). Interessant ist, dass sich auch die Argumentation von Teilen der Vegetarierbewegung verändert hat. Es wird weniger mit einem ethischen Ansatz, welcher den Tieren ein Recht auf Leben zubilligt und dem Menschen das Recht auf Töten abspricht, argumentiert. Es sind nun bevorzugt ökologische Ansätze, mit welchen argumentiert wird, welche auf kritische Ökobilanzen, Lebensmittelskandale und mangelhafte Haltungsbedingungen der industriellen Fleischproduktion verweisen und die Lösung dieser Probleme in der vegetarischen Lebensweise sehen (vgl. Foer 2010 / Duve 2011). Interessanterweise lassen diese Autoren jedoch auch Fleischessern ein Hintertürchen offen, um an der Problemlösung mitzuarbeiten. Wenn schon Fleisch essen, dann selten und aus ökologischer, kleinbäuerlicher Haltung. Dann hat das Tier wenigstens gut gelebt und das Klima und die Umwelt werden geschont (vgl. Sezgin 2010 / Heidmann 2011). Die Argumentation dieser vegetarischen Autoren ist dabei ganz auf der Wellenlänge derer, welche den Fleischgenuss schätzen und propagieren,

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wenn er nur qualitativ hochwertig, nachhaltig und maßvoll ist (vgl. Pollan 2011, S. 426–468). Es entstehen argumentative Allianzen zwischen Vegetariern und Fleischessern, welche auf der gemeinsamen Basis nachhaltigen Konsums fußt. Die Distinktion wirkt von beiden Seiten. Wer gut ist, isst vegetarisch, zumindest aber beschränkt man den Fleischverbrauch quantitativ und achtet auf qualitative Aspekte der Tierhaltung und Nachhaltigkeit. Es geht nicht mehr vordringlich darum, ob getötet werden darf, sondern darum, unter welchen Umständen dies geschieht. Entsprechen diese Umstände nicht den Kriterien von artgerechter Tierhaltung und nachhaltiger Landwirtschaft, verliert der Fleischgenuss seine Legitimation. Es ist meines Erachtens nicht das Ansehen von Fleisch allgemein, welches sinkt, sondern nur das Fleisch, welches aus anonymer Massentierhaltung stammt und zu Sonderangebotspreisen fertig verpackt im Supermarkt liegt. Nicht das Ansehen von Gemüse allgemein steigt, sondern jenes von biologisch und regional produzierten Gemüsesorten, welche im besten Fall noch alte, traditionelle Landsorten sind und keine Standardsorten der Industrie. Das Ansehen stieg und steigt zusammengefasst dort, wo der Konsum Distinktion verspricht, also den Ernährungsgewohnheiten der unteren Schichten entgegengesetzt ist. Wenn die Unterschicht das Besondere sucht, suchen die Privilegierten nach dem Einfachen, allerdings in seiner edelsten Form. Nicht irgendwelche Innereien, sondern die vom Spitzen-Metzger in Bio-Qualität; nicht irgendwelche Tomaten, sondern bestimmte, alte und geschmacksintensive Sorten aus bestimmten Regionen, Lagen und Böden; nicht irgendein Olivenöl sondern Tropföl aus Ligurien. Nur diejenigen Lebensmittel, welche seit jeher rar, teuer und exklusiv waren, konnten ihren Luxus unverändert behaupten, wie beispielsweise der Trüffel. Andere Produkte, welche auch ein industrielles Pendant haben, gewinnen ihren Status durch besondere Qualitäten, aufwändige, traditionelle Herstellungsweisen und nachhaltiger, ökologischer Produktion. Um mit Wein Status zu gewinnen, muss der Wein auf eine Art und Weise besonders sein, von besonderen Lagen, besonderen Weingütern und dementsprechenden Preisen wie im Fall ›Thomas‹. Allerdings muss man auch was davon verstehen: Der Kauf einer teuren Flasche zeigt schließlich nur, dass man vermögend oder gar nur ›neureich‹ ist. Anerkennung erzielt man als Kenner mit spezifischem Wissen, welches als Eigenleistung bewertet wird und den Status erst richtig legitimiert: »Natürlich beschäftigt man sich im Laufe der Jahre damit. Ich habe ein paar Bücher gelesen und mich mit den einzelnen Gütern ein bisschen beschäftigt. Dann hat man einen anderen Bezug dazu. […] Wenn man den Unterschied zwischen einer Rinderlende und, was weiß ich, nicht kennt, dann kennt man ihn nicht. Und so ist es beim Wein auch. Wenn ich nicht weiß, was Tanningeschmack ist, oder, oder, oder, dann erkenne ich ihn auch nicht.« (Interview 11, Thomas, Z.206ff.)

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8.3.4 Pluralisierung der Geschmacksstile? Für Bourdieu wäre das eben beschriebene Geschmacksbild der Luxusgeschmack, der einhergeht mit einem großen Distinktionsbedürfnis und für den es eines hohen ökonomischen und kulturellen Kapitals bedarf. Kann dieser finanziell nicht umgesetzt werden, bei gleichzeitigem Anspruch dies zu tun, entsteht der prätentiöse Geschmack. Bei diesem handelt es sich jedoch nicht um einen eigenständigen Geschmackstil, sondern um ein Verharren kulturell aufgestiegener Gruppen, welche nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, den legitimen Geschmack umzusetzen. Und letztlich fehlt noch der Notwendigkeitsgeschmack der breiten Massen, welche im Discounter für möglichst wenig Geld möglichst viel Lebensmittel haben wollen. Die Soziologin Barlösius geht dagegen davon aus, dass sich auch die Geschmackstile pluralisiert haben und identifiziert zumindest einen dritten, eigenständigen Geschmacksstil: den ›naturgemäßen‹ Geschmack, der nach reiner, gesunder und natürlicher Nahrung strebt und sich schon in der vegetarischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts zeigte (vgl. Barlösius 1999, S. 117ff.). Dieser naturgemäße Geschmack grenzt sich eindeutig vom distinguierten Luxusgeschmack ab: »Im Gegensatz zum prätentiösen, der sich darum bemüht, den distinguierten nachzuahmen, aber aufgrund geringer Ressourcen zur Askese getrieben wird, wählt [Hervorhebung im Original] der ›naturgemäße‹ Eßstil die Entsagung, weil er sich damit eindeutig vom distinguierten abgrenzen kann. Er tritt stärker in Konkurrenz um das symbolische Kapital – einen moralisch überlegenen Eßstil – als um geschmackliche Vorherrschaft.« (Barlösius 1999, S. 117)

Enthaltsamkeit und Mäßigung bildeten das Zentrum dieses Essstils, der sich sowohl vom Luxus als auch vom Notwendigkeitsgeschmack distanzierte, welche beide als maßlos erachtet wurden. Der distinguierte Geschmack wurde als exzessiv und unzeitgemäß kritisiert, genauso wie dessen Anspruch auf Distinktion (vgl. Barlösius 1999, S. 121). Es geht dem naturgemäßen Lebensstil weniger um eine geschmackliche Vorherrschaft, als um eine moralische Überlegenheit des Essstils. Wer mit dem Geschmack argumentiert, so Barlösius, will keinen sozialen Konsens, sondern Unterschiede deutlich machen, Distinktion schaffen. Eine moralische Argumentation hingegen beansprucht eine gesamtgesellschaftliche Geltung über alle Unterschiede hinweg (vgl. Barlösius 1999, S. 117). Diesem dritten Geschmacksmuster gelang dann auch der Zugriff auf diese symbolische Macht. Vor dem Hintergrund zweier zentraler gesellschaftlicher Themenfelder, Gesundheit und Ökologie, wurde der naturgemäße zum Leit-Lebensstil, dessen Grundelemente auch in die Gesundheits-, Ernährungs- und Umweltpolitik übernommen wurden:

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»Die Orientierungen, sich gesund zu ernähren und die Natur zu schützen, und die praktische Umsetzung dieser ›Ideen‹ durch einen bestimmten Eßstil ist damit keine Geschmacksfrage mehr, sondern zu einer moralischen Aufforderung geworden.« (Barlösius 1999, S. 122)

In der Tat ist Gesundheit ein gesamtgesellschaftlich wirksames Thema und Leitbild, welches auf alle Schichten wirkt, allerdings nicht aufgrund der moralischen Qualität des naturgemäßen Lebensstils, sondern als Effekt einer auf Gesundheit ausgerichteten Biomacht, welche unter Absatz 8.1 beschrieben wurde. Bei den Themen Nachhaltigkeit und Ökologie dagegen, erscheint die gesamtgesellschaftliche Verankerung fraglich und nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen von praxisrelevanter Bedeutung für die Ernährung. Ökologie und Nachhaltigkeit sind keine uneingeschränkten Leitbilder, sondern stellen eine Wertorientierung dar, die in der Realität sehr verschiedene Bedeutungen und Relevanz hat und mitunter auch sehr ambivalent interpretiert werden kann (vgl. Spiller 2006, S. 3f.). Meines Erachtens ist der naturgemäße Lebensstil von heute die erneuerte und modernisierte Variante des Luxusgeschmacks. Die Umweltbewegung mit ihrem alternativen Ernährungsstil war geprägt von eher gut gebildeten Menschen mittleren und jüngeren Alters, bei denen postmaterielles Wertebewusstsein mit gleichzeitig (noch) begrenzten materiellen Mitteln einherging (vgl. Görtemaker 2004, S. 270–280). Mit steigenden finanziellen Möglichkeiten stieg auch das Bedürfnis nach Genuss, während umgekehrt der distinguierte Geschmack wie beschrieben auf der Suche nach neuen Wegen der Distinktion war. Genuss und Moral vereinigten sich. Der naturgemäße Geschmack im dritten Jahrtausend ist meiner Ansicht nach ein Luxusgeschmack: wer sich heute rein, natürlich und ökologisch korrekt ernähren will, braucht nicht nur ein bestimmtes Wissen, sondern vor allem auch finanzielle Mittel. Freiwillige Mäßigung, Askese und Enthaltsamkeit, welche den naturgemäßen Lebensstil nach Barlösius ausmacht, sind Attribute, die auf den heutigen ökologischen – nachhaltigen Lebensstil schlichtweg nicht zutreffen. Es ist teurer Luxus, sich frisches, ökologisch erzeugtes Gemüse zu kaufen, sich nur regional und von handwerklichen arbeitenden Erzeugern mit Lebensmitteln einzudecken. Das Einfache, Natürliche ist das Besondere geworden, und nur für wenige erschwinglich. Der nachhaltige Konsum von Lebensmitteln hat dabei natürlich auch eine moralische Komponente, aber diese ist im höchsten Grade distinktiv. Der gute Geschmack, der gute, moralische Konsum, ist nur einer kleinen finanzkräftigen Minderheit vorbehalten. Kartoffelsorten, deren Kilopreis den von Fleisch im Supermarkt zum Teil deutlich überschreitet und bis zu 10–20 Mal so viel kostet wie gewöhnliche Handelskartoffeln, sind sicher sehr gut im Geschmack, biologisch angebaut und haben durchaus ihre Berechtigung, nur, ein Zeichen von Mäßigung und Askese sind sie jedoch nicht. Vielmehr ein Zeichen von gutem Geschmack und Distinktionsanspruch. Gemüse, Brot, Fleisch, Wurst und Molkereiprodukte aus regionalem Bioanbau und handwerklicher Produktion sind exklusiv und haben ihren Preis. Wer

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sich überwiegend mit günstigeren Biolebensmitteln eindeckt, im Discounter etwa, lebt im prätentiösen Geschmacksmuster in seinen freilich verschiedenen, pluralisierten Ausformungen. Biolebensmittel sind auch bei Aldi angekommen, auch der Kleinbürger kann dem Leitbild der nachhaltigen Ernährung nacheifern – nur Status lässt sich mit dem Billig-Bio nicht erzielen. Es ist auch ein kleiner, aber feiner Unterschied, ob der EU-Biosiegel auf einem Produkt platziert ist, oder ein Siegel der Bioverbände mit strengeren Richtlinien wie Bioland, Demeter oder Naturland. Bio ist eben nicht bio, sondern es gibt das gute, ›echte‹ Biolebensmittel und das billige Bio-Massenprodukt aus dem Discounter. Ob man wie Bourdieu von Luxusgeschmack und Notwendigkeitsgeschmack mit dem prätentiösen Lebensstil dazwischen spricht oder wie Spiller zwischen BioIntensivkäufern und Nicht-Käufern sowie den Selten- beziehungsweise Gelegenheitskäufern unterscheidet (vgl. Spiller 2006), es läuft auf dasselbe hinaus. Die Ausrichtung des Essstils auf natürliche, biologische und reine Lebensmittel ist die modernisierte Version des Luxusgeschmacks: »Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Milieus in der Oberschicht und oberen Mittelschicht verortet, das heißt ökologische Ernährung ist bis jetzt noch weitgehend ein Elitenphänomen« (vgl. Brunner 2005, S. 203). Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf die ökoaffinen und nachhaltigen Konsumenten in ihrer soziostrukturellen Zusammensetzung zu werfen. 8.3.5

Einkommen und Bildung – Deutungsmacht und Distinktionsanspruch des Bio-Milieus

In den 90er Jahren war der Konsum biologisch produzierter Lebensmittel vor allem auf das alternative Milieu konzentriert und ging mit weltanschaulichen und politischen Überzeugungen einher. Heute ist Biokonsum stärker auf verschiedene Milieus6 verteilt:

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Die Einteilung der Sinus Milieus wird ausgehend von der Lebenswelt und dem Lebensstil der Menschen gebildet, sie fassen die Menschen zusammen, die sich in Lebenseinstellung und Lebensweise ähneln, erfasst also nicht nur vertikale Faktoren sondern auch horizontale Faktoren wie Werteinstellungen beziehungsweise Grundorientierungen. Deutlich wird dabei, dass vertikale Faktoren wie eben die Schichtzugehörigkeit weiterhin von großer Bedeutung sind und entscheidenden Anteil für die Milieuverortung der Individuen haben.

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Abbildung 23: Sinus Milieus in Deutschlands 2009

Quelle: Sinus-Institut Heidelberg, 2009 Biokonsum findet sich nicht mehr nur im alternativen beziehungsweise postmateriellen Milieu, sondern auch in gehobenen, konservativ geprägten Milieus ebenso wie bei der jungen Leistungselite im Milieu der ›Modernen Performer‹ (vgl. Wippermann / Carsten / Hübsch 2007, S. 25f.). Im eher älteren konservativen Milieu haben Tradition und Heimat, Regionalität und Saisonalität, das Kochen und gutes, qualitativ hochwertiges Essen an sich einen hohen Stellenwert, im jüngeren postmateriellen Milieu, mit eher linksliberaler politischer Orientierung wird der Fokus eher auf den nachhaltig und ökologisch korrekten Genuss gelegt. Der ›Moderne Performer‹ dagegen ist eher von Motiven des Genusses, Fitness, Ästhetik und Status orientiert (vgl. Brunner 2005, S. 203; Spiller 2006, S. 6). Da die Bio-Kerngruppe in den Milieus der ›Konservativen‹, der ›Modernen Performer‹ und vor allem der ›Postmateriellen‹ verortet wird (vgl. Wippermann / Carsten / Hübsch 2007, S. 26), kommt Karl-Michael Brunner zu dem Schluss, dass ›Schwarz-Grün‹ die bevorzugte Koalitionsform bezogen auf nachhaltige Ernährung sei (vgl. Brunner 2005, S. 203). Auf diese Kerngruppe der Bio-Intensivkäufer entfällt mehr als drei Viertel des gesamten Umsatzes ökologischer Lebensmittel und umfasst dabei etwa 10 Prozent der deutschen Haushalte (vgl. Spiller 2006, S. 11). Diese Konsumenten leben in unterschiedlicher Ausprägung7 den Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS), für

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Diese Konsumentengruppe ist dabei durchaus heterogen strukturiert. Es gibt Untergruppen mit unterschiedlichem Fokus und Wertorientierung. Sie alle eint das Bemühen um nachhaltigen Konsum (vgl. Pratt 2008, S. 118).

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den potenziell 30 bis 40 Prozent der Haushalte beziehungsweise der Bevölkerung aufgeschlossen sein sollen (vgl. AC Nielsen 2008; Spiller 2006, S. 10). Die relativ heterogene Gruppe der LOHAS eint vor allem die Orientierung an Gesundheit und Genuss, gepaart mit Nachhaltigkeit und Verantwortung (vgl. Wenzel / Kirig / Rauch 2007, S. 31ff). Bezüglich des Alters sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Studien nicht ganz eindeutig. Beim Alter werden leichte Schwerpunkte bei älteren (55 bis 64 Jahre) Käufern gesehen (vgl. Niessen 2008, S. 139), andere Studien stellen dagegen keine beziehungsweise nur marginale Altersunterschiede zum Durchschnitt der Bevölkerung fest (vgl. Michels / Schmanke / Linnert 2003, S. 26). Alleinstehenden Senioren wird ein großes Interesse an Bioprodukten und ökologischen Themen attestiert (vgl. AC Nielsen 2006, S. 56), in einer anderen Studie weisen selbige zusammen mit jungen Singles die größte Distanz zu Bioprodukten auf (vgl. Michels / Müller / Schmanke 2004, S. 18). Einigkeit besteht dagegen bei zwei zentralen Merkmalen der Sozialstruktur, dem Einkommen und dem Bildungsniveau. Die allermeisten Studien kommen zur Erkenntnis, dass die Nachfrage und der Konsum mit der Höhe des Einkommens und der Bildung steigt (vgl. Bolten / Kennerknecht / Spiller 2006, S. 33ff.; Niessen 2008, S. 141f.; Bundesministerium für Umwelt 2010, S. 66). Dies bestätigte sich auch empirisch bei den geführten Interviews dieser Arbeit. Diejenigen Interviewten, die regelmäßig Biolebensmittel kaufen, hatten allesamt akademischen Hintergrund. Aufschlussreich ist hier auch, dass alle Befragten, welche nur über ein niedriges Einkommen verfügen, Biolebensmittel überhaupt nicht thematisierten (vgl. Abbildung 8). Dieses nicht Erwähnen, nicht darüber sprechen, sagt vielleicht mehr aus als viele Worte. Dort wo das Geld ohnehin schon knapp ist, scheinen Biolebensmittel schlichtweg kein Thema zu sein. Die Aufgabe, mit den wenigen Mitteln, die zur Verfügung stehen, den Lebensunterhalt zu bestreiten ist, wenn überhaupt, gerade so zu bewältigen: »Ja, ich habe meinen Pullover ewig getragen, die Kinder haben was für die Schule gebraucht, also die Kinder sind da vorgegangen. Ich sage, meine Miete muss einbezahlt werden, mein Strom muss bezahlt werden, mein Telefon und das Essen brauche ich. Und das ist wichtig.« (Interview 3, Eva, Z. 193ff.)

Man ist froh, den Lebensunterhalt und die Ernährung überhaupt stemmen zu können. Mehrausgaben für Biolebensmittel kommen vor diesem Hintergrund nicht in den Sinn, Gedanken darüber wären realitätsfern und fremd, so dass sie unterbleiben. Bio-Intensivkäufer verfügen also sowohl über deutlich gehobenes Einkommen als auch über ein hohes Bildungsniveau. Der Konsum von Bio-Lebensmitteln ist demnach stark schichtabhängig:

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»Insgesamt ist die Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln in erstaunlich hohem Maße eine Frage der sozialen Schicht, d.h. von Einkommen, Bildung und Beruf. Mehr als jedes andere Kriterium erklärt die Zugehörigkeit zur Oberschicht bzw. oberen Mittelschicht den Bio-Konsum.« (Spiller 2006, S. 26)

Mit den höheren Bildungsabschlüssen einher geht auch ein spezifischer kognitiver Zugang zur Ernährung. Es gibt eine deutliche Korrelation der Bildungslage mit dem Interesse, neueste ernährungsphysiologische Erkenntnisse zu akzeptieren und umzusetzen (vgl. Kutsch 1993, S. 107). Diese Gruppe gutgebildeter und relativ wohlhabender Menschen, bei denen die Biopräferenz am stärksten ausgeprägt ist, sind bevorzugt in den gesellschaftlichen Leitmilieus8 verortet, deren Konsummuster von anderen Gruppen zum Vorbild genommen und imitiert wird (vgl. Wippermann / Carsten / Hübsch 2007, S. 22). Eine relativ kleine Gruppe mit großer Diskursmacht setzt so Maßstäbe, die dann zu gesamtgesellschaftlichen legitimen Leitbildern werden: »Den Versuch eines ›nachhaltigen Lebensstils‹ unternimmt lediglich eine kleine, wenn auch diskursmächtige Minderheit, die sich nicht zuletzt durch eine Kombination von höheren Bildungsabschlüssen und mindestens durchschnittlichen Einkommen auszeichnet.« (Geden 2008, S. 133)

Ein Ernährungsstil, der Genuss mit Nachhaltigkeit paart und auf qualitativ hochwertige Produkte aus ökologischer, regionaler Herstellung ausgerichtet ist, ist offensichtlich nur von gutgebildeten und gutsituierten Teilen der Bevölkerung umsetzbar. Es ist ein Luxusgeschmack finanzstarker Schichten mit hoher distinktiver Funktion. Wie Achim Spiller feststellt, wird der Kauf von Biolebensmitteln zumeist als Ausdruck eines allgemeinen Umweltbewusstseins beziehungsweise einer umweltbewussten Wertorientierung verstanden. In der Realität sind umweltbezogene Werthaltungen für den Großteil der Bevölkerung aber nicht grundlegend verhaltensprägend und vorrangige Orientierung, sondern nur eine stilbildende Facette von mehreren, welche innerhalb verschiedener Lebensstile auch in ambivalenter Weise kombiniert werden können: »Der Kauf ökologischer Lebensmittel verbindet sich nicht selten mit der Präferenz für Fernreisen, der sparsame 3-Liter-High-Tech Diesel mit dem material- und energieintensiven Wohnen auf der grünen Wiese. Umweltbewusstsein kann einhergehen mit Hedonismus, Genussorientierung und Abenteuerlust, genauso aber mit Skeptizismus, Traditionalität und Sparsamkeit […]. Die Kerngruppe der ernsthaft Umweltinteressierten ist jeweils in keiner 8

Als gesellschaftliche Leitmilieus gelten ›Etablierte‹, ›Postmaterielle‹, und ›Moderne Performer‹ (vgl. Wippermann / Carsten / Hübsch 2007, S. 22).

292 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG Lebensstilgruppe mehrheitsfähig, ihr Anteil an der Gesamtheit der Bundesbürger wird auf deutlich unter 10% geschätzt. Umweltschutz ist nicht ›typenbildend‹, ›den‹ ökologischen Lebensstil gibt es in der Realität fast nicht (mehr).« (Spiller 2006, S. 4)

Das klassische alternative Milieu, Kern und Keimzelle der Biobewegung, hatte eine umweltpolitische Motivation. Das postmaterielle Milieu, welches daraus hervorging, ist weltanschaulich weniger festgelegt, ist allerdings immer noch das Milieu, welches neben egoistischen Kaufmotiven auch altruistische Motive des Umweltund Tierschutzes aufweist, stark auf den Naturkostfachhandel setzt und auch über ein relativ profundes Wissen bezüglich ökologischer Produktion verfügt. In den anderen Kernzielgruppen sind Wissen um den ökologischen Landbau und altruistische, ökologische Kaufmotive deutlich geringer ausgeprägt (vgl. Spiller 2006, S. 6). Wirklich ökologische Motive spielen nur für relativ kleine Käuferschichten eine bedeutende Rolle, vielmehr stehen hinter Kaufentscheidungen für nachhaltig und ökologisch produzierte Lebensmittel eher individualistische Motive, gewinnen Gesundheit, Lebensmittelsicherheit sowie Genuss und Geschmack dagegen mehr Relevanz für tatsächliche Kaufentscheidungen: »Der Kauf von Bio-Lebensmitteln ist im Zeitablauf immer weniger eine rein umweltpolitisch motivierte Entscheidung. Im Vordergrund steht ein tiefes Misstrauen gegenüber der konventionellen Lebensmittelwirtschaft und der Wunsch, etwas für den eigenen Körper und das Wohlbefinden zu tun, zum Teil auch ein moralischer Impetus, persönlich einen Beitrag zu einer ehrlichen und fairen Lebensmittelproduktion zu leisten. Es ist erstaunlich, wie erfolgreich ›die Marke Bio‹ in den letzen Jahren zu einem für ›Vertrauen und Genuss‹ in der Lebensmittelwirtschaft geworden ist.« (Spiller 2006, S. 27)

Die Befürwortung nachhaltigen Konsums ist nicht mehr vor allem altruistisch und moralisch motiviert, sondern eher aus Eigennutz für Gesundheit und Genuss. Die moralische Argumentation trägt also deutlich egoistische Motive. Dies wäre an und für sich nicht problematisch, da so Individuum und Umwelt beidermaßen profitieren. Problematisch wird eine moralische Argumentation jedoch dann, wenn der moralisch geforderte, nachhaltige und ökologische Konsum nicht von allen umgesetzt werden kann. Wer mit dem Geschmack argumentiert, so Barlösius, will keinen sozialen Konsens, sondern Unterschiede deutlich machen, Distinktion schaffen. Eine moralische Argumentation hingegen beansprucht eine gesamtgesellschaftliche Geltung über alle Unterschiede hinweg. Meine Hypothese ist, dass es gerade die moralische Argumentation ist, welche Distinktion schafft. Wer einen Ernährungsstil mit gesamtgesellschaftlichen Anspruch propagiert, der nur von einem begrenzten und privilegierten Teil der Bevölkerung auch umgesetzt werden kann, will nicht über Unterschiede hinweg wirken, sondern stellt diese her. Die Betonung und Wertschätzung von Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein dient dann auch in großem

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Maße dazu, durch die Darstellung solcher Lebens- und Ernährungsstile als moralisch überlegen zu gelten und Distinktion herzustellen. Eine wirkliche Geltung über alle sozialen Unterschiede hinweg bedarf keiner moralischen Argumentation, sondern einer Argumentation der Vernunft. Sie sollte geprägt sein von der Vernunft, dass eine soziale und ökologische Landwirtschaft nicht mit der bisherigen großindustriellen Landwirtschaft zu verwirklichen ist, aber auch einer Vernunft, welcher gewahr ist, dass eine im Wortsinn vernünftige Ernährung aus vielerlei Gründen von Teilen der Bevölkerung noch nicht umgesetzt werden kann. Dazu bedarf es nicht nur entsprechend finanzieller Mittel, sondern auch Einsicht und Verständnis für die Risiken und Probleme, welche die Lebensmittelindustrie und die mit ihr verbundene Agrarindustrie verursacht. 8.3.6 Risikowahrnehmung und Überlegenheitsanspruch der Gourmetklasse Als Beck seine Risikogesellschaft veröffentlichte, ging er davon aus, dass die neuen Modernisierungsrisiken, die Gefährdung der Natur, der Gesundheit, der Ernährung, zu einer Relativierung sozialer Unterschiede führt. Die drohenden Gefahren der Atomkraft oder des Klimawandels halten sich nicht an die Grenzen von Klasse und Schicht sondern haben egalisierende Wirkung, ihr Bedrohungspotenzial wirkt unabhängig von Klassenlagen (vgl. Beck 1986, S. 48). Allerdings erkannte er schon damals, dass bestimmte Risiken, wie etwa Arbeitslosigkeit, sozialstrukturell ungleich verteilt sind und auch die Möglichkeiten und Fähigkeiten mit Risiken umzugehen beziehungsweise sie zu vermeiden, von der Schichtzugehörigkeit geprägt ist: »Eine hinreichend gefüllte Geldbörse versetzt in die Lage, Eier von ›glücklichen Hühnern‹ und Blätter von ›glücklichen Salatköpfen‹ zu verschmausen. Bildung und sensibles Informationsverhalten eröffnen neue Umgangs- und Ausweichmöglichkeiten. […] Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, daß es in Reaktion auf die Vergiftungsnachrichten in Presse und Fernsehen zu schichtspezifisch verteilten, ›antichemischen‹ Ernährungs- und Lebensgewohnheiten kommt. Diese alltägliche ›Antichemie‹ wird in ›ernährungsbewußten‹, einkommensstarken Bildungsschichten alle Bereiche der Versorgung – vom Essen bis zum Wohnen, von Krankheit bis Freizeitverhalten – umkrempeln […].« (Beck 1986, S. 46f)

Beck ging zwar davon aus, dass Risiken im Wissen um selbige produziert werden und durch Wissen verändert, vergrößert oder verharmlost werden können, sprich, sozialen Konstruktionsprozessen unterliegen (vgl. Beck 1986, S. 30). Dennoch sieht Beck, dass mit den neuen Risikolagen private Ausweich- und Kompensationsmöglichkeiten geringer werden, obwohl sie gleichzeitig stärker propagiert werden (vgl. Beck 1986, S. 47). Die gemeinsamen Risikolagen sollten zu einer ›Solidarität

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aus Angst‹ führen, jenseits von Klasse und Stand eine neue Ökomoral hervorbringen (vgl. Beck 1986, S. 66, 102) Inwieweit dies zutrifft ist meines Erachtens fraglich, auch wenn manche Indizien dafür sprechen. Biologisch produzierte tierische Lebensmittel enthalten genauso viel chlor- und bromorganische Kontaminaten9 wie konventionelle Produkte. Dioxine sind in Bio-Eiern im gleichen Ausmaß zu finden wie in konventionellen, bei Rindfleisch sind die Belastungen bei Bioprodukten sogar geringfügig höher als bei konventionellen Produkten10. Da bei tierischen Lebensmitteln solche Rückstände hauptsächlich durch Kontamination der Umwelt (Boden, Wasser, Luft) und der Futtermittel eingetragen werden, sind ökologische Produkte in der Regel genauso betroffen wie konventionelle. Das Ausweichen auf biologisch produzierte Lebensmittel ist also kein Garant für saubere und sichere Lebensmittel. Allerdings kann die Belastung beziehungsweise das Belastungsrisiko auch deutlich reduziert werden, Bio-Gemüse und Bio-Obst jeglicher Art weisen im Durchschnitt viel geringere Belastungen11 von Schadstoffen und Pestiziden auf (vgl. Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz BadenWürttemberg 2010). Bei tierischen Lebensmitteln im Biobereich wird von weniger Rückständen von Pestiziden und Medikamenten ausgegangen, weil deren Gebrauch strenger limitiert oder ganz verboten ist (vgl. Ganschow 2008). Auch Beck sieht mittlerweile ein, dass die neuen Risiken und Gefahren zwar weltweit für alle soziale Lagen bedrohlich sind, soziale Unterschiede jedoch nicht egalisiert werden, sondern die Risikoverteilung weiterhin zu Lasten der sozial Benachteiligten erfolgt (vgl. Beck 2007, S. 77f., 113). Auch betont Beck mittlerweile, dass Risiken und Gefahrenlagen kulturell konstruiert und wahrgenommen werden (vgl. Beck 2007, S. 163). Er nähert sich klassischen konstruktivistischen Positionen an und bringt diese mit seinem realistischen Ansatz beziehungsweise der Annahme objektiver Risiken zu 9

Dabei handelt es sich um Kontaminaten und Altpestizidrückstände wie Lindan, HCB, DDT oder PCB, deren Einsatz in der Landwirtschaft längst verboten ist (vgl. Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz Baden-Württemberg 2010, S. 51).

10 Als Ursache wird hier die zusätzlichen Aufnahmemöglichkeiten von Dioxinen und dioxinähnlichen, ebenfalls sehr toxischen Stoffen wie PCB (Polychlorierte Biphenyle) bei ökologischer Erzeugung erachtet, da die Tiere durch den Weidegang über den Boden und in der Mutterkuhhaltung über die Muttermilch größere Anteile dieser Stoffe aufnehmen (vgl. Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz BadenWürttemberg 2010, S. 57). 11 Bei Gemüse beträgt der mittlere Pestizidrückstandsgehalt pro genommener Probe 0,360 mg/kg, im Vergleich zu 0,003 mg/kg im ökologischen Landbau, beim Obst sind es 0,390 mg/kg im konventionellen gegenüber 0,002mg/kg im ökologischen Anbau (vgl. Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Verbraucherschutz Baden-Württemberg 2010, S. 18).

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einem »konstruktivistischem Realismus« zusammen (vgl. Beck 2007, S. 167). Der kulturtheoretische, konstruktivistische Ansatz, basierend auf Mary Douglas und Aaron Wildavsky, betont dagegen, dass Risiken nicht objektiv zu bestimmen sind, sondern die Wahrnehmung und Interpretation von Risiken ein sozialer Konstruktionsprozess ist (vgl. Douglas / Wildavsky 1982, S. 6). Auch Douglas erkennt die Realität von Gefahren und Risiken an, doch ihr Interesse gilt vor allem den Prozessen, die erklären wie diese Risiken von welchen sozialen Gruppen dargestellt und instrumentalisiert werden (vgl. Douglas 1990, S. 8). Welche Risiken als sozial bedeutend empfunden werden, ist dabei durch die Zugehörigkeit zu sozialmoralischen Milieus bestimmt: »Our book is about why, at this time, pollution has been singled out for special concern. Our answer will be that the choice of risks to worry about depends on the social forms selected. The choice of risks and the choice of how to live are taken together. Each form of social life has its own typical risk portfolio. Common values leads to common fears […].« (Douglas / Wildavsky 1982, S. 8)

Werden Werte und Regeln, welche für bestimmte soziale Gruppen konstituierend sind, von bestimmten Entwicklungen verletzt oder als gefährdet erachtet, werden diese als Risiko und Gefahr für den Zusammenhalt der Gruppe erachtet und bekämpft. Risiken werden in verschiedenen Milieus verschieden wahrgenommen, interpretiert und konstruiert. Während Beck Individualismus und Ökomoral als allgemeine gesellschaftliche Trends begreift, sind diese bei Douglas / Wildavsky dementsprechend in unterschiedlichen sozio-kulturellen Gruppen verortet. Was als riskant bewertet, erlebt oder vermieden wird, hängt von der Perspektive und Bewertung bestimmter sozial-moralischer Milieus ab (vgl. Zinn, S. 5f., 9). Dieser Ansatz, der milieuspezifische Unterschiede berücksichtigt, erklärt auch die unterschiedliche Risikowahrnehmung verschiedener sozialer Schichten in Bezug auf Ökologie und Ernährung. Mit steigendem Einkommen wächst das Umweltbewusstsein, der Konsum wird ökologischer gestaltet, Bio-Ernährung spielt eine wachsende Bedeutung. Mit steigender Bildung und steigendem Einkommen sensibilisieren sich die Menschen bezüglich Ernährung und entwickeln eine kritische Einstellung gegenüber der Lebensmittelindustrie. Umgekehrt ist in den unteren Einkommens- und Bildungsschichten Umweltschutz, ökologischer Konsum und biologische Lebensmittel am wenigsten bedeutend (vgl. Bundesministerium für Umwelt 2010, S. 65f.). Die große Gruppe der Nicht-Käufer von Bio-Produkten wird von einer Vielzahl von Gründen vom Kauf abgehalten, vor allem aber zeigt sich ein niedriges Umweltbewusstsein, ein geringeres Ernährungsinvolvement, das heißt eine fehlende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Themen aus den Bereichen Umwelt, Ernährung und Landwirtschaft, sowie wenige Kenntnisse über Bio-Lebensmittel. Gesundheitliche Risiken durch Lebensmittelskandale und Krisen werden als gering eingeschätzt

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(vgl. Spiller 2006, S. 19f.). Untere Schichten haben also andere Bedürfnisse (vgl. dazu Abbildung 25) und Probleme,sehen sich von anderen Risiken bedroht wie etwa von (drohender) Arbeitslosigkeit oder finanziellen Notlagen. Am Rande der Gesellschaft, in der Armut, spielt Essen dann kaum mehr eine Rolle. Ein solches Szenario beschreibt im Interview Caroline, welche ihr Sozialgeld als Ein-Euro Kraft aufbessert: »Ich kann nicht kochen, weil ich den Strom nicht zahle. Habe einen alten Herd, da ist die Platte kaputt. Wenn ich den Kühlschrank aufmache, dann ist das Gefrierfach vielleicht schon kaputt, das surrt schon richtig. Dann soll ich auch noch zum Einkaufen gehen und Bananen für 2 Euro oder ein Fleisch kaufen. 1 Kilo Fleisch kostet mittlerweile fast 4, 5 Euro, außer es ist irgendwas Fettiges. Dann brauche ich noch Öl und einen Topf, da habe ich auch keinen gescheiten, und Geschirr. Dann lass ich es lieber.« (Interview 9, Caroline, Z. 421ff.)

Ernährung und eventuell damit einhergehende Risiken werden zu unbedeutenden Nebenaspekten, es existiert kein ausgeprägtes Risikobewusstsein, man verlässt sich diesbezüglich auf die Politik und Wirtschaft, eine Eigenverantwortung wird nicht erkannt (vgl. Spiller 2006, S. 19). Die obere Mittelschicht und die Oberschicht dagegen haben ein Risikobewusstsein entwickelt, setzen auf mehr Eigenverantwortung, misstrauen Wirtschaft und Politik. Mit Niklas Luhmann und dessen Definition von Risiko und Gefahr könnte man sagen, dass belastete oder vergiftete Lebensmittel von unteren Schichten als Gefahr verstanden werden, deren mögliche Schäden auf Auslöser zurückgeführt werden, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen. Für wohlhabendere Schichten erscheinen vergiftete oder belastete Lebensmittel dagegen als Risiko, deren mögliche Schäden als Folge eigener Entscheidung betrachtet werden. Hier herrscht dann die Annahme vor, dass die Schäden nicht eintreten könnten, wenn andere Entscheidungen getroffen würden (vgl. Luhmann 1990, S. 22f.). Wenn Ernährung also unter Risikoaspekten betrachtet wird, so ist es kaum verwunderlich, dass dann mit allen Mitteln, Bio-Kost, spezielle Ernährungsweisen, Nahrungsergänzungsmittel und ähnlichem, versucht wird, dieses Risiko zu minimieren oder ganz auszuschalten. Wenn andere Risiken fehlen, Arbeit und Geld vorhanden sind und in Gesellschaften gelebt wird, in denen Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind, werden neue Risikobereiche ›entdeckt‹: »Am einfallsreichsten ist dabei der wohlhabende Teil der Gesellschaft. Diejenigen, die am wenigsten Sorgen haben, sehen in jedem Lebensmittel eine Lebensgefahr – es sei denn, es wird mit äußerster Sorgfalt eingekauft« (Marsh 2003, S. 28). Problematisch wird dies wiederum erst dann, wenn privilegierte Schichten ihre Risikowahrnehmung und Weltsicht zur verbindlichen Leitkultur machen wollen und können. Wenn ein kleiner Teil der Bevölkerung Risiken definiert und diese Definition allgemeinverbindliche Geltung erzielt, dann legt dieser privilegierte Teil der Bevölkerung fest, welcher Lebensstil gesund ist, welche Ernährung angemessen ist

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und kategorisiert gleichzeitig abweichende Ernährungsstile in abwertender Weise als schädigend, riskant, maß- und verantwortungslos: »Cultural values and social location have always provided the materials for self-serving construction of epidemiological risk. The poor, the alien, the sinner have all served as convenient objects for such stigmatizing speculations.« (Rosenberg 1988, S. 329)

Rauchen, Alkoholgenuss, fettiges und ungesundes Essen sind Verhaltensmuster, die sich bevorzugt in sozial schwächeren Bevölkerungsschichten finden, sie werden angeprangert und wegen ihres Fehlverhaltens kritisiert (vgl. Marsh 2003). Der eigene, legitime Geschmack wird zum Maß aller Dinge, zum guten Geschmack, mit weniger gibt man sich nicht zufrieden. Die Stigmatisierung folgt jedoch zunehmend auch in ökologischen Dimensionen. Wer viel Fleisch isst und dieses aus Massentierhaltung im Supermarkt kauft, wer sein Obst und Gemüse nicht nach regionalen und saisonalen Kriterien einkauft, wird zusätzlich noch verantwortlich für das Abholzen der Regenwälder und den Klimawandel gemacht, während sich andere für ihre nachhaltige Ernährung mit korrekter Ökobilanz feiern lassen. Der mündige Verbraucher, der durch seinen Einkauf, durch seine Nachfrage Druck auf die Industrie ausübt und so eine nachhaltigere, umweltfreundlichere und fairere Welt fördert, ist das Ideal. Ein Ideal, welches freilich wünschenswert wäre: aufgeklärte Verbraucher, die sich durch strategischen Konsum eine bessere Welt kaufen. Und natürlich kann der Verbraucher bestimmte Entwicklungen forcieren oder bremsen. Strittig ist dabei, in welchem Umfang der Konsument Einfluss nehmen kann (vgl. Absatz 8.2.2). Unstrittig sollte dagegen sein, dass dieser Lebensstil nicht für alle umsetzbar ist. Dort wo es an Bildung, Arbeit oder Geld fehlt, wo kognitive Fähigkeiten weniger ausgeprägt sind, sind Fragen der Ökologie und Ernährung weniger bedeutend, wird nicht strategisch konsumiert, sondern versucht ökonomisch zu überleben, kommt, nach Brecht, erst das Fressen, dann die Moral. Wenn Milieus und deren Konsum und Lebensstile als ignorant und fahrlässig gebrandmarkt werden, welche aus verschiedenen Gründen gar nicht in der Lage sind, anders zu konsumieren, geht es meiner Ansicht nach darum, diese Unterschiede zwischen den sozialen Lagen darzustellen und zu moralisieren, und nicht darum, diese Unterschiede zu verringern. Es geht darum Distinktion und moralische Überlegenheit zu kreieren: »Das sich in solchen Haltungen manifestierende Distinktionsbedürfnis geht in der Regel mit einer Individualisierung und Moralisierung der ökologischen Frage einher, die soziale und ökonomische Dimensionen des Klimaschutzes tendenziell ausblendet. Aus Sicht der ÖkoAvantgarden ist das eigene Verhaltensrepertoire das Maß der Dinge.« (Geden 2008, S. 135)

Ob das eigene Verhalten dem Anspruch auch Stand hält, ist mehr als fraglich. Studien zeigen, dass gerade solche ökoaffinen Haushalte mit einem an Nachhaltigkeit

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ausgerichteten Ernährungsstil, deutlich schlechtere Ökobilanzen aufweisen als die Schichten, denen man moralisches und ökologisches Versagen vorwirft. Ihr Ressourcenverbrauch ist trotz ausgeprägten Umweltbewusstseins deutlich höher, da sie sich aufgrund ihres ökonomischen Status mehr Produkte und Dienstleistungen als andere Milieus leisten können. Der nachhaltigen Orientierung beim Lebensmitteleinkauf stehen Zweitwagen und Fernreisen entgegen. Den größten Beitrag zum Schutz des Klimas und der Umwelt leisten, wenn auch unbewusst, die Milieus im unteren Drittel der Sozialstruktur. Weniger umweltverantwortlich in der Haltung, ist ihr Lebensstil dennoch umweltfreundlicher, da ihr geringes Einkommen einen ressourcenintensiven Lebensstil nicht zulässt. Nicht nur global, sondern auch innerhalb der deutschen Gesellschaft gilt, dass 20 Prozent der Bevölkerung 80 Prozent der natürlichen Ressourcen verbrauchen (vgl. Liedtke / Welfens / Stengel 2007, S. 147f.). Die Stigmatisierung unterer Schichten aufgrund ihres weniger ausgeprägten Umweltbewusstseins ist unter Beachtung des realen Ressourcenverbrauchs nicht nur geprägt von der Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten, sondern auch von einer ordentlichen Portion Scheinheiligkeit.

8.4 Z USAMMENFASSENDES F AZIT

UND I DEOLOGIEKRITIK

Ein früher gesellschaftlicher Wandel fand durch das Auftreten der Bio-Macht beziehungsweise deren Funktionsprinzip, das Leben zu verwalten und zu organisieren statt. Die Gesundheit entwickelte sich daraufhin zum höchsten Gut der Gesellschaft, die Bio-Macht nimmt durch ihre Disziplinarmacht und ihre Kontrollhoheit Einfluss auf die Ernährung, den Körper und die Gesundheit der Menschen und schafft regulierende Normen, an denen sich die Gesellschaft ausrichtet. Das Individuum wird dafür verantwortlich gemacht, sich gut und gesund zu ernähren, eine gesunde Lebensführung und Ernährung werden zur moralischen Pflicht des Individuums. Gesundheit wird Pflicht und Heilsversprechen und nimmt dabei teilweise quasi religiöse Züge an, wurde zum einem von Lebenslage und Schicht unabhängig und übergreifendem Wert und Leitbild für die Bevölkerung. Durch die Risikogesellschaft mit ihren neuen, selbstproduzierten Risiken wandelte sich die Gesellschaft, etablierten sich neue, postmaterielle Werte und eine neue, ökologische Sensibilität, mit der von nun an versucht wird, die neuen Risiken zu begrenzen und einzudämmen. Das Individuum wird nun in die Verantwortung genommen, ist durch sein Ernährungs- und Kaufverhalten verantwortlich für seine Gesundheit und eine intakte Umwelt. Diese Moralisierung der Nahrungsaufnahme bürdet dabei dem Einzelnen eine Verantwortung auf, der er kaum gerecht werden kann, da er hilflos vor unzähligen Lebensmitteln und Kaufentscheidungen steht, deren Tragweite er kaum überblicken kann. Dass es soweit kam, lag auch an einer

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Vielzahl von Veränderungen, die mit der Entwicklung der Risikogesellschaft einhergingen. Zuerst brachte der industrielle Wandel die Massenproduktion von Lebensmitteln mit sich und veränderte mit wachsendem Wohlstand, gewandeltem Konsumverhalten sowie technischen Neuerungen in Haushalt und Handel das Gesicht der Landwirtschaft vom kleinbäuerlichen Antlitz zum heutigen Agribusiness. Flankiert wurde diese Entwicklung von folgenreichen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Der Wandel im Geschlechterverhältnis führte zur steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen und pluralisierten Familien und Lebensformen, was sich wiederum auf die Haushaltsführung und das Ernährungsverhalten auswirkte. Convenience- und Fastfood traten ihren Siegeszug an, die Mahlzeitenstruktur änderte sich, das Abendessen löste beispielsweise das Mittagessen als Hauptmahlzeit ab. Die Familien- und Lebensformen wandelten und pluralisierten sich auch in ihren Ernährungsweisen: Singles, Familien mit Kindern, Lebensgemeinschaften ohne Kinder, jede Lebensform geht mit spezifischen Ernährungsweisen einher. Die Erlebnisgesellschaft mit ihrer Suche nach dem subjektiv schönen Leben verhalf dann in den 90er Jahren dem Genuss zu gesellschaftlicher Bedeutung und ergänzte die Leitbilder Gesundheit und Ökologie. Der Genuss, das Erlebnis und das Glücksgefühl ergänzten und verbanden sich mit ökologischen und moralischen Werten. Durch den Genuss wurde die Ernährung zum Lebensstil, mit dem Persönlichkeit ausgedrückt wurde und der Mittel zur Identifikation und Distinktion war. Die Genuss-Qualität wurde nun entscheidend für den Status von Nahrungsmitteln und derer, die sie konsumieren, kombiniert mit den Merkmalen einer gesunden, nachhaltigen Produktion. Der Genuss in seiner immateriellen und innenorientierten Prägung schuf neue Distinktionsmöglichkeiten, das Gewöhnliche, Einfache wurde zum exklusiven Besonderen. Das Ansehen von Nahrungsmitteln steigt dort, wo der Konsum Distinktion verspricht und den Ernährungsgewohnheiten der unteren Schichten entgegengesetzt ist. Wenn diese das Besondere suchen, suchen die Privilegierten nach dem Einfachen, allerdings in seiner edelsten Form. Fleisch aus Massentierhaltung verliert rapide an Wert und Ansehen, im gleichen Maße feiern Innereien, einstiges Arme-Leute-Essen, Wiederauferstehung in Feinschmeckerkreisen. Sie müssen jedoch von ausgezeichneter Qualität sein, hochwertig erzeugt, verarbeitet und zubereitet. Das Einfache ist das Besondere geworden, so besonders, dass es nicht für jeden erschwinglich ist. Der Konsum handwerklich erzeugter Nahrungsmittel, biologisch erzeugtem Obst und Gemüse, hochqualitativem Fleisch aus artgerechter Haltung ist deshalb einer finanzstärkeren Minderheit vorbehalten, kein eigenständiger, naturgemäßer Geschmackstil, sondern die modernisierte Variante des Luxusgeschmacks. Ein solcher Ernährungsstil korreliert dementsprechend auch deutlich mit höheren Bildungsabschlüssen und Einkommen. Mit steigender Bildung und höherem Einkommen sensibilisieren sich Menschen bezüglich Ökologie und Ernährungsfragen, umgekehrt ist in unteren Schichten ein eher geringes Bewusstsein für Umwelt- und Ernährungsfragen festzustellen. Die

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Risikodefinition ist jeweils eine andere, untere Schichten haben ein anderes Risikobewusstsein, Gefahren und Risiken durch die Nahrungsaufnahme werden als gering betrachtet. Wohlhabende und gebildete Schichten dagegen sehen in Lebensmittelskandalen, belasteten und vergifteten Lebensmitteln eine große, unmittelbare Gefahr, die man durch entsprechende Eigenmaßnahmen bei Kauf und Konsum verhindern, minimieren oder auszuschließen versucht. Aufgrund ihrer Diskursmacht gelingt es diesem Teil der Bevölkerung, die Risiken zu definieren und gleichzeitig abweichendes Verhalten als schädigend, riskant, maß- und verantwortungslos abzuwerten, um durch diese Individualisierung und Moralisierung Distinktion und moralische Überlegenheit zu erzielen. Diese Abwertung anderer ist ein typisches Kennzeichen von Ideologien, welche alles Abweichende als Feindbild auffassen und diffamieren. Ideologisch ist auch die Dogmatik, mit der Werte und Weltanschauungen als absolute Wahrheiten verkauft werden und kaum Kritik zulassen (vgl. Salamun 1989). Sichtbar beispielsweise in der sich quasi feindlich gegenüberstehenden biologischen und konventionellen Landwirtschaft, in der kaum konstruktive Kritik, geschweige denn ein gewinnbringender Dialog möglich ist. Man arbeitet sich lieber in Grabenkämpfen auf. Kennzeichnend für heutige Ideologien ist aber auch, dass sie im Gegensatz zu klassischen Ideologien kaum rational aufzudecken sind, da sie selbst höchst rational auftreten. Aufklärung und Entlarvung der wahren Verhältnisse und Machtstrukturen sind Mittel einer veralteten Ideologiekritik, die bei den Ideologien neuerer Art nicht mehr wirken. Gesundheit, Ökologie und Genuss sind keine entfremdeten Gedanken eines ideologischen Überbaus, keine Scheinwerte die es zu entlarven und aufzudecken gilt: es sind Werte, die dem ureigensten Interessen jedes Einzelnen entsprechen: Menschen wollen gesund sein, streben ein genussvolles, schönes Leben an und wollen Umwelt und Natur für weitere Generationen erhalten. Ideologiekritik heute ist deshalb keine Frage von Wahrheit oder Lüge, keine Frage der Wertung von Weltanschauungen, sondern eine Frage der funktionellen Verwertung und Verwendung des im Rationalisierungsprozesses von Wissenschaft und Technik produzierten Wissens (vgl. Spinner 1994, S. 101ff., 176ff., S. 132). Es stellt sich dementsprechend die Frage wie dieses Wissen von wem und mit welcher Absicht eingesetzt wird: »Während diese [herkömmliche Ideologiekritik, d. V.] im ›interessierten‹ Verfehlen, Verzerren, Verfälschen der Wahrheit die antiaufklärerische Kraft und in der bösartigen Falscherkenntnis den unwissenschaftlichen Kern der Ideologien sieht, geht es in der heutigen Kritik an Wissenschaft und Technologie um die Erzeugung und Anwendung sachlich richtigen, geltungsmäßig unbedenklichen Wissens – in Umkehrung der klassisch ideologiekritischen Problemstellung: um die ›interessierte‹ Verwertung und Verwendung entfesselter Wahrheiten, insbesondere im Hinblick auf die außerwissenschaftlichen Folgen [Umwelt, Rüstung, Medienmacht, u.a.] des exponentiellen Wissenswachstums und seiner exzessiven technologischen Umsetzung.« (Spinner 2000, S. 132)

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Das Ziel einer nachhaltigen, gesunden und genussvollen Ernährung ist dabei die logische Konsequenz sachlich richtigen Wissens, es sind gute, nachvollziehbare Ziele die im Interesse aller sind. Gerade deshalb erscheint es seltsam irrational, Kritik zu üben. Die Kritik zielt jedoch nicht auf die Ziele selbst ab, sondern darauf, ob und wie diese Ziele instrumentalisiert werden. Was unter einer gesunden, nachhaltigen oder genussvollen Ernährung verstanden und definiert wird entscheiden kleine Minderheiten. Ob, von wem und wie eine solche Ernährung umgesetzt und eingesetzt werden kann sind Fragen, denen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Gesundheit, Ökologie und Genuss ist der Dreiklang einer Ernährungsweise, der aus meiner Sicht zum Leitbild der Gesellschaft geworden ist: Ergänzt beziehungsweise in der Art und Weise der Ausprägung beeinflusst wird dieses Leitbild durch die Faktoren Geschlecht und soziale Herkunft. Alle Faktoren zusammen bestimmen zu großen Teilen das Ernährungsverhalten der Individuen: Abbildung 24: Gesellschaftliche Einflussfaktoren der Ernährung

Quelle: Eigendarstellung

Doch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist momentan sowohl Willens als auch in der Lage, diese Ernährungsweise in der Realität umzusetzen, bleibt der gute, nachhaltige und faire Konsum vor allem den einkommensstarken und gebildeten Schichten vorbehalten. Bildungsferne und einkommensschwache Schichten dagegen müssen all ihre Ressourcen aufwenden, um die elementaren Bedürfnisse der

302 | SOZIALISATION DER E RNÄHRUNG

Ernährung, ausreichend Essen und Trinken, zu befriedigen. Erst wachsende finanzielle Möglichkeiten und ein Mehr an Bildung schaffen die Voraussetzung für Bedürfnisse der Gesundheit, Ökologie und Genuss: Abbildung 25: Bedürfnispyramide der Ernährung

Quelle: Eigendarstellung

Während für die einen Gesundheitsbedürfnisse durch sichere, ungiftige Nahrungsmittel und sauberes Trinkwasser befriedigt sind, sehen andere dies erst in einer auf Schlankheit, Fitness und Prävention ausgerichteten Ernährung gewährleistet. Ökologische Bedürfnisse, vor allem aber genussvolle Erlebnisse des ›guten Geschmacks‹, bedürfen dagegen schon gewisser Voraussetzung an Geld und Bildung und sind deshalb auch nicht die Bedürfnisse aller. Problematisch ist dies, da in Anbetracht der ständig wachsenden Weltbevölkerung, dem Klimawandel und der Begrenztheit natürlicher Ressourcen die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Neuausrichtung in der Landwirtschaft und des Konsums besteht. Die industrielle Landwirtschaft erzielt zwar beträchtliche Produktionserfolge, allerdings verbunden mit hohen Folgekosten für die Gesundheit der Menschen und der Umwelt. Mit ihren Monokulturen verbraucht sie Unmengen fossiler Energie, Düngemittel, Pestizide und Süßwasser, zu Ungunsten ganzer Ökosysteme mit samt den darin lebenden Menschen und Tieren. Die biologische Landwirtschaft kann das Leitbild einer neuen agrarökologischen Landwirtschaft sein, wenn sie nicht zur heilbringenden Ideo-

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logie stilisiert wird. Es wird noch lange Übergangsysteme zwischen konventionellen und nachhaltig-ökologischen Landwirtschaftsformen geben, bis sich die konventionelle Landwirtschaft mit ihrem Fokus auf Ertrag zu einer effizienten, aber auch nachhaltigen Landwirtschaft gewandelt hat. Die Menschen bei diesem Wandel mitzunehmen ist dabei Aufgabe der Sozialwissenschaften wie auch der Politik. Gut und nachhaltig produzierte Lebensmittel müssen Grundlage der Ernährung aller Menschen werden und nicht nur einer Minderheit als Mittel zur Distinktion dienen. Dies gelingt dann, wenn abseits aller ideologischen Grabenkämpfe und Distinktionsansprüche pragmatisch versucht wird, gesunde, gute und nachhaltige Lebensmittel den Produzenten und Verbrauchern, jenseits von Klasse und Schicht erschwinglich und schmackhaft zu machen. Dazu bedarf es meiner Ansicht nach einerseits langfristige Anstrengungen um habituell verfestigte Ernährungsgewohnheiten aufzubrechen und umzustellen. Vor allem bedarf es aber auch einer breiten Unterstützung der Politik. Essen und Ernährung muss vom Status des privaten Genusses und der individuellen Verantwortung zu einem zentralen Thema in Politik und Gesellschaft werden. Verbraucher müssen besser informiert, aufgeklärt und geschützt werden und sich auf die Sicherheit von Lebensmitteln verlassen können. Die Politik muss sich den Interessen der Verbraucher annehmen, indem sie diesen eine Vorrangstellung vor den Interessen der Agrar- und Lebemittelindustrie einräumt und durchsetzt. Klare gesetzliche und politische Rahmenbedingungen ohne Schlupflöcher, deren Umsetzung streng kontrolliert wird, sind dazu nötig. Daneben bedarf es aber auch einer Neuausrichtung der Landwirtschaft. Lokale Agrarsysteme, kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe sowie eine an Kriterien der Nachhaltigkeit ausgerichtete Betriebsweise müssen stärker gefördert werden. Flächenbezogene Direktzahlungen wie bisher fördern einseitig Großbetriebe; sie sind – in weitaus größerem Maße als von den im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) vorgeschlagenen Legislativvorschläge der Europäischen Kommission12 geplant – an ökologische Auflagen zu binden. So könnte meines Erachtens die Preisdiskrepanz zwischen Discount-Lebensmitteln und nachhaltig produzierten Lebensmitteln zugunsten letzterer verringert werden und diese damit für breitere Gesellschaftsschichten interessant werden. Zudem muss in nachhaltige Forschung, Beratung, Vermarktung und Bildung investiert werden und klare gesetzliche und politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche nicht den Interessen der agrarischen Großkonzerne, sondern denen der Bauern und Verbraucher dient (vgl. Zukunftsstiftung Landwirtschaft 2010, S. 34f.; International Assessment of Agricultural Knowledge 2009, S.107). Bei diesem Wandel nicht nur die aufgeklärten, gutverdienenden Schichten mitzunehmen, sondern den Wandel zu einem gesamtgesellschaftlichen zu machen, ist die große Herausforderung. 12 Siehe dazu http://ec.europa.eu/agriculture/cap-post-2013/legal-proposals/index_de.htm.

9. Ernährung und Sozialisation im Alter

9.1 S OZIALISATION

IM ALTER IM K ONTEXT GESELLSCHAFTLICHEN W ANDELS

Wie schon erörtert, betrachtet die moderne Sozialisationsforschung Sozialisation als einen lebenslangen Prozess, der weder nach Ende der Adoleszenz oder des Erwachsenenalters zum Erliegen kommt, sondern bis in das hohe Alter weiter wirkt (vgl. Absatz 2.2). Unterschiedliche Altersphasen gehen mit unterschiedlichen Ereignissen, Möglichkeiten und Anforderungen einher. Der gesellschaftliche Wandel veränderte und pluralisierte die Lebenslagen im Alter genauso wie althergebrachte Normen, Traditionen und Lebensweisen. Die Art und Weise der Lebensgestaltung älterer Menschen in einer alternden Gesellschaft unterliegt einem starken Wandel, der nicht nur die alternden Individuen betrifft, sondern auch gesellschaftliche Strukturen betrifft, welche auch die Lebensbedingungen der jüngeren Generationen beeinflussen (vgl. Backes / Clemens / Künemund 2004, S. 7). Der soziale Prozess des Alterns ist weniger eindeutig und verfügt über mehr Handlungsspielraum als früher, gleiches gilt dementsprechend auch für Altersnormen und Altersrollen. Der Ansatz einer Sozialisation des Lebenslaufs geht, ähnlich der Theorie der Altersschichtung von Riley (vgl. Riley / Johnson / Foner 1972, S. 3–26), nur in anderer Gewichtung davon aus, dass die Gesellschaft dem Individuum bestimmte Rollen vorgibt, welche ihrerseits stark an bestimmte Altersphasen gebunden sind. Es gibt bestimmte Altersphasen um eine berufliche Ausbildung zu beginnen, eine Familie zu gründen und bestimmte Altersphasen, in denen gesellschaftlich erwartet wird aus diesen Rollen wieder auszusteigen und etwa den Beruf aufzugeben und in den Ruhestand zu treten. Die sozialen Rollen und die damit korrespondierenden Altersnormen bilden die Eckpfeiler eines sozial geregelten institutionalisierten Lebenslaufs, einer ›Normalbiographie‹. Durch die Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse allerdings sind die Rollenabfolgen und Lebenslaufpassagen spürbar variabler geworden. Biographien sind nun flexibel gestaltbar, die Normalbiographie weicht der Bastelbiographie, Altersnormen und Erwartungen sind weniger verbindlich. Die so-

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ziale Regelung des Lebenslaufs wirkt zwar weiter und ist nicht aufgehoben, hat allerdings deutlich an Verbindlichkeit verloren (vgl. Faltermaier 2008, S. 164f.). Die Spielräume und Möglichkeiten sind, zumindest potentiell, für alle größer und vielfältiger geworden: »Keine andere Lebensphase weist eine derartig umfangreiche und vielfältige (mögliche) Entwicklungsspanne auf wie das Alter – bei allerdings großer interindividueller Varianz« (Clemens 2004, S. 45). Umstritten und fragwürdig ist auch, wann man überhaupt vom Alter sprechen kann, wann das Altern anfängt beziehungsweise wie die Altersphase abgegrenzt werden kann. Biologisch betrachtet beginnen körperliche Abbauerscheinungen teilweise schon während des Dritten Lebensjahrzehntes, wie etwa bei der Sehfähigkeit. Bestimmte Lebensereignisse wie zum Beispiel schwere Krankheiten und Tod von Gleichaltrigen treten auch schon im mittleren Erwachsenenalter nicht selten auf. Und auch die kalendarische Lösung, welche den Alterseintritt zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr festlegt, der Zeit, in der aus dem Berufsleben ausgeschieden werden kann, ist vielleicht aus administrativer Sicht sinnvoll, jedoch nicht dafür geeignet, den Alterseintritt zu markieren. Der Eintritt in den beruflichen Ruhestand ist mittlerweile viel variabler handhabbar, ebenso gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass in diesem Alter die persönliche Entwicklung abgeschlossen ist und auch nicht zwangsläufig geistige oder körperliche Abbauerscheinungen einsetzen. Altersbedingte Veränderungen sind intraindividuell, das heißt Veränderungen der Intelligenz, der körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten können von Mensch zu Mensch verschieden verlaufen (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 163ff). Die kalendarische Einteilung in junge Senioren, Hochbetagte, Höchstbetagte und Langlebige ist daher nur eingeschränkt aussagekräftig. Sinnvoller auch als Einteilungen in frühes (‫ ޒ‬75 Jahre) und spätes (‫ ޓ‬75 Jahre) Alter (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 169) sind Einteilungen in ein chancenreiches drittes Lebensalter (vgl. Laslett 1995) und eher eingeschränktes bis abhängiges viertes Lebensalter1 (vgl. Rosenmayr 1996, S. 35), da diese sich an wichtigen Kriterien zur Beschreibung der Lebenslagen älterer Menschen orientieren: Gesundheit sowie die Familien und Wohnsituation. Physische und psychische Gesundheit stellen bedeutende Kriterien dar, anhand derer die Lebenssituation älterer Menschen eingeschätzt werden kann. Diese unterscheidet sich bei körperlich und geistig fitten Senioren deutlich von jenen, welche unter schwereren oder chronischen Erkrankungen leiden oder gar wegen körperlicher Schwächung oder psychischen Erkrankungen wie Demenz auf Hilfe angewiesen oder komplett pflegebedürftig sind. Auch die Familien- und Wohnsituation gibt Aufschluss über die Lebenssituation älterer Menschen, allerdings müsste die Erfassung der Familien- und Haushaltssituation noch spezifischer 1

Leopold Rosenmeyer spricht von einem chancenreichen dritten, einem eingeschränkten vierten und einem abhängigen fünften Lebensalter (vgl. Rosenmayr 1996, S. 35). Im Folgenden wird jedoch nur zwischen einem dritten und vierten Lebensalter unterschieden.

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werden. Familienstand und Haushaltsgröße können zwar als Indizien für bestimmte Lebensumstände herangezogen werden, aber erst eine differenzierte Betrachtung hinsichtlich der sozialen Einbettung und der Hilfe oder Pflegebedürftigkeit ermöglicht eine wirklichkeitsnahe Einschätzung. Ob ledig im Einpersonenhaushalt im Rahmen eines Angebots zum Betreuten Wohnen, ledig und vereinsamt, oder ledig im Einpersonenhaushalt mit familiärer Unterstützung, die Unterschiede bezüglich der Lebensführung sind beträchtlich (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 168ff.). In wie weit das Alter als gestaltbar erlebt wird und die sich bietenden Möglichkeiten genützt werden können, oder das Alter als einschränkend und Aspekten der Abhängigkeit erlebt wird, hängt von solchen Faktoren des sozialen Umfelds und des Gesundheitszustandes ab und nicht nur von der Anzahl der Lebensjahre, auch wenn Einschränkungen im hohen und höchsten Alter naturgemäß häufiger werden. Die Möglichkeiten und Entwicklungspotenziale werden geringer. Je weiter das Alter fortschreitet, desto mehr schrumpft die Pluralität der Lebensformen. Die sozialen Netzwerke werden kleiner, die Verwitwung nimmt zu und mit ihr Singularisierung und Alleinleben. Die gesellschaftliche Teilnahme wird geringer, man beschränkt sich zunehmend auf familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen. Insbesondere bei den Höchstbetagten über 85 Jahren häufen sich geistige und körperliche Gebrechen, nehmen die Hilfsbedürftigkeit und der Pflegebedarf durch Angehörige, ambulante Pflegedienste oder Seniorenheime zu (vgl. Clemens 2004, S. 45f.). Solche Phasen der Abhängigkeit und Unselbstständigkeit haben dann mit einer Sozialisation im Alter, mit dem Erlernen neuer Rollen, Normen, Werte und Fähigkeiten wenig gemein. Aktive und gesundheitlich fitte Senioren können sich auf die Gestaltung der vorhandenen Freizeit konzentrieren, müssen mit dem Verlust des Lebenspartners umgehen und neue Aufgaben übernehmen wie die Groß- oder gar Urgroßelternrolle. Hier ist der Begriff des lebenslangen Lernens und einer lebenslangen Sozialisation durchaus berechtigt und erfüllt. Wenn aber die Abhängigkeit durch Abbauerscheinungen und Krankheiten so hoch ist, dass kaum mehr von selbstständigen Entscheidungen und Gestaltungsmöglichkeiten gesprochen werden kann, können dementsprechend auch keine neuen Rollen und Fertigkeiten mehr erlernt werden. Diese Menschen werden in keine neuen Gruppen integriert, erlernen keine neuen Rollen außer der des Pflegebedürftigen und auch keine neuen Fertigkeiten. Statt Prozessen der Integration und Sozialisation herrschen nun Prozesse der Desintegration und Desozialisation vor (vgl. Schumacher 1980). Die Lebenslagen älterer Menschen sind also durch unterschiedliche Handlungsspielräume gekennzeichnet, bei denen neben der finanziellen und materiellen Versorgung auch die sozialen Beziehungen und der Gesundheitszustand eine bedeutende Rolle spielen. Wie mit solchen Handlungsspielräumen umgegangen wird, ob sie genutzt werden können und auch positiv genutzt werden, hängt dabei von in früheren Lebens- und Sozialisationsphasen erlernten Fähigkeiten und Gewohnheiten ab.

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Handlungskompetenzen werden in lebenslangen Sozialisationsprozessen entwickelt, befähigen in geeigneter Art und Weise mit den Anforderungen der Umwelt umzugehen (vgl. Clemens 2004, S. 47f.). Diese Kompetenzen sind dabei stark geprägt von der Geschlechts- und Schichtzugehörigkeit während des Lebenslaufs: »Damit sind für ältere Menschen nicht nur biographische Erfahrungen, sondern vor allem auch schichten- und geschlechtsspezifische Ausprägungen dieser Erfahrungen bedeutsam. Diese manifestieren sich in jeweils spezifischen Dispositionsspielräumen und Handlungskapazitäten, insbesondere in Statuspassagen und bei kritischen Lebensereignissen, aber auch in der Fähigkeit zur ›subjektiven‹ Ausgestaltung ›objektiver‹ Bedingungen der Lebenslage.« (Clemens 2004, S. 48f.)

Die objektiven Bedingungen der Lebenslagen im Alter sind auch hinsichtlich der materiellen und finanziellen Möglichkeiten sehr unterschiedlich. Die soziale Schichtung der Gesellschaft bleibt auch im Alter bestehen, die materielle Lage mit der Schichtzugehörigkeit verknüpft. Die soziale Position während des mittleren Lebensalters beziehungsweise der Status zum Ende des Erwerbslebens wird in die Altersphase mitgenommen (vgl. Mayer / Wagner 2010). Beeinträchtigte Lebenslagen im Alter korrelieren stark mit der sozioökonomischen Stellung. Gertrud Backes unterscheidet hier von einem ›positiven Alter‹, gekennzeichnet durch hohe Einkommens- und Vermögensverhältnisse und einer aktiven Freizeitorientierung, guter sozialer Integration sowie einer unabhängigen und selbständigen Lebensführung gegenüber dem ›negativen Alter‹ der unteren sozialen Schichten mit entsprechend geringeren Aktivitäten, Kompetenzen und Potenzialen (vgl. Backes / Amrhein 2008, S. 72f.). Die Lebensphase Alter ist also zu einer mittlerweile lang andauernden Lebensund Entwicklungsphase, zum anderen in ihren Ausprägungen, Möglichkeiten und Bedingungen äußerst vielfältig geworden. Faktoren zentraler Bedeutung in dieser Altersphase, wie materielle Lage, gesundheitliche Verfassung oder die emotionale Teilnahme an sozialen Gemeinschaften spielen unabhängig vom Alter auch in der Ernährung eine bedeutende Rolle. Wie Ernährung und Alter gegenseitig Einfluss aufeinander nehmen, soll nun geklärt werden ohne dabei nur biologische Prozesse zu betrachten.

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9.2 ALTERSSPEZIFISCHE L EBENS G ESUNDHEITSLAGEN

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UND

9.2.1 Allgemeine Lebensumstände von Senioren Im Jahr 2010 waren 20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre, 5 Prozent über 80 Jahre. Ein Viertel der Bevölkerung ist also »alt«, Tendenz deutlich steigend. Altersspezifische Lebenslagen, Situationen und Ereignisse werden sowohl in ihrer Häufigkeit als auch Bedeutung zunehmen. Das Altern ist dabei vor allem eine weibliche Angelegenheit2: über zwei Drittel (69 Prozent)3 der über 80-Jährigen sind Frauen (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2010, S. 44). Diese Frauen sind mit zunehmendem Alter zumeist auf sich allein gestellt, über drei Viertel der über 85jährigen Frauen leben allein und sind zumeist verwitwet. Diese Singularisierung birgt auch das Risiko sozialer Isolation und Vereinsamung. Männer dagegen erleben ihren Lebensabend zumeist zusammen mit ihrer Ehefrau (vgl. Weinmann 2010a, S. 42ff.). Der Gesundheitszustand im Alter ist, wie oben dargelegt, sehr variabel, dennoch lässt sich festhalten, dass mit steigendem Alter sowohl chronische Krankheiten als auch akute Gesundheitsprobleme zunehmen. Häufig medikamentös behandelte körperliche Krankheiten bei über 70-Jährigen sind dabei kardiale Erkrankungen, Bluthochdruck, arterielle Gefäßkrankheiten wie Arteriosklerose, Osteoarthrosen, Hyperlipidämie (Fettstoffwechselstörung), Varikosis (Venenleiden), Diabetes Mellitus und Dorsopathien (Rückenleiden) (vgl. Steinhagen-Thiessen / Borchelt 2010, S. 178f.). Typisch für ältere Patienten ist zudem das Auftreten mehrere Krankheiten und gesundheitlicher Beeinträchtigungen gleichzeitig, die Multimorbidität. Dementsprechend haben ältere Menschen einen hohen Medizinbedarf, oftmals wird täglich eine Vielzahl verschiedener Medikamente eingenommen (vgl. Volkert 1997, S. 8ff.). Problematisch kann dies deshalb sein, weil der Medikamentenkonsum sich direkt oder indirekt auf den Ernährungszustand ältere Menschen auswirken kann: bestimmte Medikamente können zu Veränderungen der Mundschleimhaut, zu Durchfall, Übelkeit und Erbrechen führen, woraus sich wiederum eine allgemeine Abneigung gegen Nahrung entwickeln kann. Andere Arzneimittel dagegen verringern die Resorption von Vitaminen und Mineralstoffen. Bestimmte

2

Auch die Lebensweise im Alter unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern: Frauen sind im Alter eher von sozial und finanziell schwierigen Lebenslagen häufiger und stärker betroffen als Männer. Lebenslagen, Lebensstil und Umgang mit dem Alter sind bei Frauen zudem heterogener und pluralisierter als bei Männern, allgemein stellt Backes fest, bleiben die im Lebenslauf angelegten ungleichen Geschlechterverhältnisse bis in das hohe Alter bestehen (vgl. Backes 2008, S. 448f.)

3

Der Prozentwert wurde durch Eigenberechnung ermittelt.

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Arzneimittel gegen Infektionen, sogenannte Tetrazykline, beeinträchtigen beispielsweise die Aufnahme von Calcium. Andererseits kann die Ernährung auch die Wirkung von Medikamenten beeinflussen (vgl. Arens-Azevedo 2002, S. 21f. / Volkert 1997, S. 199ff.). Trotz aller Gesundheitsprobleme und Medikamente ist der größte Teil alter Menschen frei von größeren Behinderungen und Beschwerden, welche eine selbstständige Lebensführung im Alltag verhindern. Bei den 70 bis 80-Jährigen sind über 90 Prozent der Männer und Frauen in der Lage, sich selbst zu versorgen. Auch in der Gruppe der über 85-Jährigen sind noch über 70 Prozent in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen, nur 21 Prozent der Männer und 28 Prozent der Frauen dieses Alters weisen einen regelmäßigen Pflegebedarf auf (vgl. Lehr 2000, S. 122f.). Pflegebedürftigkeit, genauso wie das Leben im Heim, ist für ältere Menschen nicht der Normalfall. 83 Prozent der 70-Jährigen und älteren in der Bevölkerung leben in der eigenen Wohnung. Auch im sehr hohen Alter, bei den über 95Jährigen, sind nur 37 Prozent dieser höchstbetagten und langlebigen Senioren in einem Alten- oder Pflegeheim untergebracht (vgl. Linden et al. 2010, S. 505f.). Der Normalfall, auch im hohen Alter, ist das Leben zu Hause. Zudem ist der Großteil (63 Prozent) der älteren Menschen subjektiv zufrieden oder sogar sehr zufrieden mit ihrem gegenwärtigen Leben und blicken positiv in die Zukunft (vgl. Smith et al. 2010, S. 533). Bemerkenswert ist dies deshalb, da das gesellschaftliche Bild älterer Menschen grundsätzlich negativ ist und mit Isolation, Einsamkeit und Abhängigkeiten assoziiert wird (vgl. Lehr 2000, S. 196f.). Zweifellos nehmen Krankheiten und Behinderungen im Alter zu und auch ohne Erkrankung nimmt die Rüstigkeit ab und steigt die Gebrechlichkeit. Allerdings ist auch nicht jede pathologische Veränderung im Alter diesem auch geschuldet. Die Theorie des »sucessful aging«, des erfolgreichen Alterns unterscheidet deshalb zwischen physiologischen und pathologischen Altersveränderungen. Dem »usual aging« mit den Alterungsprozessen, die durch Krankheiten sowie Lebensstilfaktoren negativ verstärkt werden, wird das ›sucessful aging‹ gegenübergestellt, bei dem die Alterungsprozesse nicht durch Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren beeinflusst werden. Aus den Vergleichen beider Modelle erhofft man sich Kenntnisse über die Faktoren, welche entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise des Alterns nehmen (vgl. Rowe / Kahn 1987). Dahinter steckt natürlich auch der alte Wunsch, den Alterungsprozess verhindern zu können, der sich auch in unzähligen Kräutermischungen, Vitamin- und Mineralstofftabletten sowie anderen angebotenen Stärkungs- und Wundermitteln bemerkbar macht. Die Ernährung bietet sich dazu gerade an, gesunde Lebens-Mittel versprechen Vitalität und Gesundheit und damit ein besseres und längeres Leben. Und im Gegensatz zu genetischen Faktoren, welche das Alter in hohem Maße mitbestimmen (vgl. Backes / Clemens 2008, S. 93ff.), sind Ernährungsweisen steuerbar, eignen sich sowohl zur Prävention wie zur Intervention bei Krankheiten. In wie weit die Ernährung Einfluss auf Altersprozes-

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se, Entwicklung von chronischen Krankheiten und die Lebenserwartung nimmt, ist eine wichtige und relativ offene Frage. Bei einigen Alterskrankheiten oder besser gesagt altersassoziierten Krankheiten4 wie der Osteoporose, scheint es so, als könne man durch eine calciumreiche Ernährung in jungen Jahren einer Erkrankung im Alter vorbeugen. Vielfach werden auch typische Alterskrankheiten wie Diabetes mellitus oder Herzkrankheiten mit dem Ernährungsstil, das heißt vor allem mit Übergewicht in Verbindung gebracht. Doch nicht nur in der Prävention, auch in der Therapie spielt das Ernährungsverhalten eine Rolle und kann sich bei bestehenden Alterskrankheiten wie zum Beispiel Gicht positiv oder negativ auswirken (vgl. Heseker 1997, S. 140–151). Offen bleibt weiterhin, ob durch Ernährung der Alterungsprozess allgemein beeinflusst wird. Erkenntnisse und Annahmen diesbezüglich stammen aus Tierversuchen bei Nagetieren. Verschiedene Studien machten wiederholt die Entdeckung, dass die Begrenzung der Nahrungsmenge bei diesen Tieren zu einer Verringerung und Verlangsamung von Altersprozessen und auch zur langsameren Entwicklung chronischer Krankheiten führt (vgl. Volkert 1997, S. 29ff.). Diese Ergebnisse wurden dann zum Anlass genommen, von einer verzögerten Alterung durch Kalorienreduktion auch beim Menschen auszugehen. Auch in der Praxis, vor allem in Amerika, fand eine kalorienrestriktive Diät Anhänger, wie etwa in der ›Calorie Restriction Society‹. Eine neuere Studie konnte, ebenfalls im Tierversuch mit Mäusen, jedoch nachweisen, dass die Kalorienreduktion nicht bei allen Mäusen lebensverlängernd wirkt und die Lebensspanne eher vom Gleichgewicht des Energieverbauchs und der Energieaufnahme beeinflusst wird5. Demnach wirkt eine kalorienreduzierte Ernährung nur bei guten Futterverwertern, also Individuen beziehungsweise Mäusen mit adipösen Neigungen, lebensverlängernd und bleibt ansonsten wirkungslos (vgl. Sohal et al. 2009). Klar ist aber auch, dass völlig unklar ist, ob überhaupt, und falls ja, in wie weit, die Ergebnisse solcher Tierversuche an Nagern auf den Menschen übertragbar und aussagekräftig sind. Sicher dagegen ist, dass das Alter mit 4

Die meisten sogenannten Alterskrankheiten betreffen keineswegs ausschließlich alte Menschen. Auch junge Menschen erkranken an Gicht, Diabetes oder Osteoporose. Diese Krankheiten treten im Alter nur häufiger auf und werden daher mit älteren Menschen assoziiert.

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In der Studie wurde festgestellt, dass in Tierversuchen sehr häufig ein bestimmter Mäusestamm eingesetzt worden ist und wird, die C57BL/6-Maus. Bei dieser hat eine kalorienreduzierte Diät eine lebensverlängernde Wirkung, bei einem anderen Mäusestamm, der DBA/2-Maus, bleibt eine Kalorienrestriktion folgen- und wirkungslos. Der Unterschied zwischen den Mäuse-Stämmen ist die Neigung der C57BL/6-Maus zu Übergewicht, während die DBA/2-Maus bei gleicher Energiezufuhr mehr Sauerstoff verbraucht, die Stoffwechselrate höher ist und damit das Futter schlechter verwertet wird (vgl. Sohal et al. 2009).

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spezifischen, physiologischen Veränderungen einhergeht, die für die Nahrungsaufnahme von großer Bedeutung sind. 9.2.2 Physiologische Altersveränderungen und Lebensumstände mit Auswirkung auf die Ernährung Mit dem Alter setzen vielerlei Prozesse ein, welche Körperzusammensetzung, Organfunktionen und Stoffwechsel verändern und beeinflussen. Bedeutende Änderungen im Alter sind die Abnahme der fettfreien Körpermasse, das heißt der Anteil der Muskelmasse, des Körperwassergehalts und der Knochenmasse sinkt bei gleichzeitiger Ausbreitung von Fettgewebe, dementsprechend steigt der Körperfettanteil. Die Muskulatur wird weniger, der alte Mensch verliert an Muskelkraft, die Hautspannung nimmt ab, Falten bilden sich und die Knochen werden brüchiger. Verringerte Muskelkraft bringt verminderte Leistungsfähigkeit mit sich, welche zusammen mit ebenfalls daraus resultierenden Mobilitäts- und Gleichgewichtsproblemen zu wachsender Abhängigkeit führen kann (vgl. Volkert 1997, S. 81ff.). Eng verbunden mit der Zusammensetzung des Körpers ist auch der Energiestoffwechsel, der mit steigendem Alter abnimmt. Der Grundumsatz und damit der Energiebedarf sinkt. Der Bedarf an wichtigen Nährstoffen wie Proteinen, Vitaminen und Mineralstoffen bleibt jedoch weitgehend gleich6. Dann muss mit einer aufgrund des geringeren Energiebedarfs verringerten Nahrungsmenge die gleiche Nährstoffmenge aufgenommen werden, um den weiterhin gleich großen Bedarf an Proteinen, Kohlehydraten, Fetten, Vitaminen und Mineralstoffen zu decken und Mangelerscheinungen vorzubeugen (vgl. Schmid 2005). Diese Annahme ist allerdings nicht mehr unumstritten. Aufgrund der unterschiedlichen physiologischen Verfassung, die bei einer Altersspanne zwischen 65 und 100 Jahren auftritt, erscheint es Dorothee Volkert unwahrscheinlich, dass der Nährstoffbedarf wirklich konstant bleibt. Es ist relativ wenig darüber bekannt, inwiefern Altersveränderungen den Nährstoffbedarf beeinflussen, tendenziell geht Volkert aber davon aus, dass er mit dem Gesundheitszustand, dem Ernährungszustand und sehr hohem Lebensalter variiert (vgl. Volkert 1997, S. 98f.).

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Einige Nährstoffe (zum Beispiel Calcium) werden im Alter schlechter absorbiert, so dass der Aufnahmebedarf sogar höher ist. Die Fähigkeit Vitamin D durch Sonnenlicht über die Haut zu bilden nimmt im Alter ab, hinzu kommt, dass gerade ältere Menschen und vor allem Heimbewohner sich weniger im Freien aufhalten und weniger Sonnenlicht ausgesetzt sind. Bei Calcium und Vitamin D kommt es bei Senioren deshalb häufiger zu Unterversorgung und damit zu einem erhöhten Knochenbruchrisiko durch Osteoporose (vgl. Elmadfa / Meyer 2008).

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Häufiger kommt es im Alter auch zu Veränderungen beziehungsweise Verminderung des Hunger-, Appetit- und Durstempfindens, welche sich erheblich auf die Nahrungsaufnahme und damit auf den Ernährungszustand auswirken können. Schlechter Appetit und vermindertes Durstgefühl gelten als bedeutende Ursache für eine schlechte Nährstoffversorgung und Mangelernährung. Als Erklärung für vermindertes Verlangen nach Nahrung im Alter werden der geringere Stoffwechsel und verminderte körperliche Aktivität aber auch altersspezifische physiologische Veränderungen wie eine gesteigerte Aktivität von Sättigungsfaktoren oder Veränderungen von Neurotransmittern angeführt (vgl. Volkert 1997, S. 47). Von großem Einfluss auf den Appetit sind sicherlich auch die im Alter häufiger abnehmenden Sinneswahrnehmungen. Es kommt vermehrt zur Verringerung des Geruchs- und Geschmacksempfindens. Die Geschmacksrezeptoren im Mund sowie die Sinneszellen in der Nase benötigen eine gewisse Mindestkonzentration oder Schwellenkonzentration der Aromen, welche zu schmecken oder zu riechen sind. Im Alter sind diese Schwellenwerte zum Teil7 deutlich höher als in jüngeren Jahren (vgl. Volkert 1997, S. 54f.). Wurde lange Zeit angenommen, dass dies für alle Geschmacksqualitäten gleich gilt, geht man heute davon aus, dass die fünf Grundgeschmacksrichtungen nicht gleichermaßen betroffen sind. Insbesondere bei süßen Speisen und Aromen bleibt die Wahrnehmung bis in das hohe Alter beinahe vollständig erhalten (vgl. Weiffenbach / Baum / Burghauser 1982; Ahne et al. 2000; Mojet / Christ-Hazelhof / Heidema 2001). Dies könnte eine Ursache für die Bevorzugung von Süßspeisen bei älteren Menschen sein. In einer anderen Studie konnte festgestellt werden, dass die subjektive Intensitätswahrnehmung von Reizstärken bei alten Menschen anders ist, das heißt, dass Aromen, insbesondere bei niedrigen Konzentrationen anders beziehungsweise verzerrt wahrgenommen und empfunden werden als von jüngeren Menschen. Zum einen benötigen Senioren also oftmals eine größere Menge an Aromastoffen, um diese überhaupt zu schmecken, zum anderen reagieren sie oftmals empfindlich, da ihnen zum Beispiel leicht bis moderat saure, süße oder bittere Lösungen, subjektiv deutlich intensiver, saurer, süßer oder bitterer erscheinen als jüngeren Menschen. (vgl. Bartoshuk et al. 1986; Klimek / Moll / Kobal 2000). Das heißt, dass Senioren oftmals länger brauchen um Saures oder Bitteres überhaupt zu schmecken, es dann subjektiv aber als saurer und bitterer und damit eventuell unangenehmer empfinden als junge Menschen. Lange galt die Annahme, dass das geringere Schmeckvermögen im Alter einem Rückgang an Anzahl und Dichte der Geschmacksrezeptoren geschuldet ist. Mittlerweile gibt es auch Ansätze, die davon ausgehen, dass der Rückgang des Schmeckvermögens weniger 7

Die Erhöhung der Geschmacksschwellen ist kein genereller Alterseffekt, der alle älteren Menschen gleichermaßen trifft. Es gibt auch viele Senioren, die eine niedrigere Schmeckschwelle als der Durschnitt der jüngeren Vergleichspersonen aufweisen (vgl. Klimek / Moll / Kobal 2000, S. 917).

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auf die sinkende Quantität, als auf eine geringere Qualität beziehungsweise Funktionalität der Geschmacksknospen im Alter zurückzuführen ist (vgl. Boyce / Shone 2006). Häufiger und stärker als Schmeckstörungen, treten im Alter Riechstörungen auf. Diese werden jedoch oftmals als Schmeckstörungen wahrgenommen. Doch der Geruchsinn, die olfaktorische Wahrnehmung, ist für die Geschmacksempfindung weit wichtiger als der gustatorische Geschmack, denn ein Großteil des Geschmacks und der Aromen wird über die Nase wahrgenommen. Ähnlich wie beim Schmecken kann es auch beim Riechen zu Schwellenänderungen bei einzelnen Geruchsqualitäten kommen, zumeist kommt es jedoch zu einer allgemeinen Verringerung des Riechvermögens. Störungen des Riechvermögens liegen bei etwa 30 Prozent der über 75-Jährigen vor (vgl. Kiefer et al. 2007, S. 241). Wenn also die olfaktorische Wahrnehmung für die Geschmacksempfindung sehr bedeutend ist, ist davon auszugehen, dass ein reduzierter Geruchssinn sich auch bei der Nahrungswahl bemerkbar macht. Ein reduzierter Geruchssinn korreliert mit einer Präferenz für süße Speisen, während Präferenzen für bittere und saure Nahrungsmittel sinken. Bei Störungen beziehungsweise Verringerung des Geruchssinns verringert sich durch die eingeschränkte geschmackliche Wahrnehmung der Speisen auch die Vielfalt und Abwechslung der Speisen. In einer Studie präferierten ältere Frauen, die ihre Speisen selbst auswählten und zubereiteten, Obst, Gemüse, Vollkornprodukte und fettarme Milchprodukte deutlich weniger als Frauen der Kontrollgruppe ohne Riechstörungen. Zudem war ihr Speiseplan weniger vielfältig gestaltet, bevorzugt konsumiert im Vergleich zur Kontrollgruppe wurden vor allem kalorien- und fettreiche8 Speisen sowie Süßspeisen. Auch das Interesse an ernährungsbezogenen Aktivitäten wie zum Beispiel der Suche nach neuen Rezepten und die Vor- und Zubereitung von Nahrungsmitteln war in der riechgestörten Gruppe signifikant verringert (vgl. Duffy / Backstrand / Ferris 1995). Verminderte Schmeck- und Riechfähigkeit wirken sich auch auf die Lebensqualität der Betroffenen aus. Für eine genussvolle Nahrungsaufnahme ist das Riechen unerlässlich. Je eingeschränkter dieser Sinn, umso weniger entfalten sich Aromen und Geschmacksvielfalt von Speisen und Getränken, bleiben Speisen fad und geschmacklos, können Weinsorten nicht mehr unterschieden, Gewürze und Kräuter herausgeschmeckt werden. Viele Speisen werden vor allem anhand ihres Geruchs identifiziert9, es ist der Geruch feiner Speisen, der uns das Wasser im Mund zu8

Fette sind Aromen beziehungsweise Geschmacksträger, die meisten Aromastoffe sind lipophil, das heißt fettlöslich, folglich schmecken fetthaltige Lebensmittel intensiver und besser als fettreduzierte.

9

Ian Fisher führt als Beispiel Versuche an, bei denen Versuchspersonen mit verbundenen Augen heißes Wasser tranken, während der Raum mit Kaffeeduft erfüllt war. Alle Teilnehmer waren davon überzeugt echten Kaffee zu trinken (vgl. Fisher 2003, S. 180).

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sammen laufen lässt und Appetit macht. Und nicht zuletzt sind mit Gerüchen, gerade in der Küche, eine Vielzahl von Emotionen verknüpft, erinnert man sich beim Genuss bestimmter Speisen oder Wahrnehmung von spezifischen Gerüchen an bestimmte Personen oder Ereignisse und umgekehrt. Die Verminderung von Geruchsund Geschmackssinn im Alter könnte auch erklären, warum ältere Menschen öfter feststellen, dass bestimmte Speisen und Lebensmittel früher anders oder besser geschmeckt haben10. Gefährlich kann dies werden, wenn verdorbene Nahrung beispielswiese nicht mehr am Geruch erkannt wird. Auch das Sehvermögen ist im Alter oft eingeschränkt, so dass schimmelige und abgelaufene Lebensmittel nicht immer erkannt werden und der Appetit nicht so groß ist, wenn das Auge nicht mehr mit isst (vgl. Wetzel 2004, S. 10f.). Es bleibt festzuhalten, dass Geruchs- und Schmeckstörungen einen großen Einfluss auf Gesundheit, Ernährung und Lebensqualität nehmen und gerade dort, wo ältere Menschen nicht mehr selbstständig agieren und ihre Ernährung gestalten können, Berücksichtigung finden muss. Vielfach sind die Empfehlungen zur Nahrungsaufnahme standardisiert und ausschließlich an ernährungsphysiologischen Kriterien ausgerichtet. Weitere körperliche Beschwerden die sich auf die Ernährung auswirken können, sind Kaubeschwerden11. Kaubeschwerden sind bei Senioren relativ weit verbreitet, sie nehmen mit steigendem Alter zu und sind vor allem bedingt durch Zahnverlust. Beim Auftreten von Kauproblemen wird insgesamt weniger Nahrung aufgenommen, die Betroffenen beschränken sich auf weiche, weichgekochte und pürierte Nahrung, die Lebensmittelvielfalt wird geringer, die eher weichen Lebensmittel enthalten weniger Ballaststoffe und andere Nährstoffe, die zudem durch langes Kochen noch verringert werden (vgl. Volkert 1997, S. 204). In einer Studie gaben 18 Prozent der befragten Senioren an, unter Kauproblemen wie etwa beim Essen von Äpfeln oder Brot zu leiden (vgl. Stehle 2000, S. 155). Desweiteren kommt es zu Problemen bei der Nahungsaufnahme durch körperliche Behinderungen in Folge von Krankheiten wie Lähmungserscheinungen nach einem Schlaganfall oder starkem Zittern bei Parkinson. Solche Erkrankungen führen zur Hilfsbedürftigkeit beim Essen, zur sogenannten Essabhängigkeit. Diese Hilfe reicht vom Bereitstellen der Speisen, über die Zubereitung in mundgerechte Por10 Auch andere Gründe können hier eine Rolle spielen, wie zum Beispiel positive emotionale Verbindungen mit bestimmten Speisen oder schlicht und einfach der Umstand, dass Lebensmittel wie zum Beispiel Milch früher anderes oder besser schmeckten, da die Futtermittel andere waren (vgl. dazu Interview 6 / Theresa, Z. 16ff.). 11 Schluckstörungen (Dysphagie) treten ausschließlich im Zusammenhang mit Krankheiten auf und werden vor allem durch neurologische Störungen wie Schlaganfälle, Parkinson und Demenz oder durch Tumore und Abszesse von Rachen, Zunge oder Speiseröhre ausgelöst (vgl. Volkert 1997, S. 268f.).

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tionen, dem Streichen von Brot bis hin zur völligen Abhängigkeit im Falle eines kompletten Fütterungsbedarfs, bei dem das Essen und Trinken den Betroffenen an den Mund geführt werden muss. Zu solchen Essabhängigkeiten kann es auch bei geistigen Beeinträchtigungen und Erkrankungen kommen (vgl. Volkert 1997, S. 203). 9.2.3 Geistige und psychische Beeinträchtigungen bei der Nahrungsaufnahme im Alter Durch die steigende Lebenserwartung ist ein immer größerer Teil der Bevölkerung von Beeinträchtigungen der Hirnleistung betroffen, nehmen Vergesslichkeit, Verwirrtheit und Demenz im Alter zu. Kognitive und intellektuelle Fähigkeiten reduzieren sich, was sich zumeist auch auf die Ernährung auswirkt. Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln können nicht mehr bewältigt werden, es kommt vermehrt zu Störungen der Geschmacks- und Geruchswahrnehmung. Das Essverhalten selbst verändert sich, Mahlzeiten werden vergessen oder doppelt eingenommen, bestimmte Lebensmittel werden besonders bevorzugt und in übertriebenen Mengen zu sich genommen, verdorbene Lebensmittel oder für den Verzehr ungeeignete Dinge gegessen, Essabhängigkeiten infolge von Koordinationsmangel oder Gedächtnisverlust häufen sich. Außerdem kann es zu Appetitveränderungen kommen, so dass es entweder zu einem übermäßigen Appetit und Beschäftigung mit Essen kommt, oder zum Appetitverlust bis hin zur völligen Nahrungsverweigerung (vgl. Volkert 1997, S. 207). Auch psychische Belastungen und Depressionen nehmen Einfluss auf das Ernährungsverhalten. Belastende Lebensumstände wie schwere Krankheiten, der Tod des Lebenspartners oder soziale Isolation und Einsamkeit können auf den Magen schlagen oder bis hin zur Depression führen. Depressionen treten im Alter häufiger auf und gehen oft einher mit Appetitverlust beziehungsweise Gewichtsverlust. Durch die Depression kommt es zudem zu Verhaltensänderungen, die sich auf die Ernährungs- und Gesundheitssituation auswirken, Kochen und Einkaufen werden vernachlässigt, und gerade im Alter kommt es dann häufiger zum erstmaligen Auftreten von Alkoholismus (vgl. Volkert 1997, S. 212). 9.2.4 Psychosoziale, sozioökonomische und anderweitige Beeinträchtigungen Wie in dieser Arbeit gezeigt wurde hängt die Lebensmittelauswahl beträchtlich vom Bildungsstand wie auch von den finanziellen Verhältnissen ab, daran ändert sich auch im Alter nichts. Auch die materielle Ungleichheit des Berufslebens bleibt im Alter bestehen. Die materielle Lage im Alter ist stark von der Zugehörigkeit zur

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sozialen Schicht während des Erwerbslebens geprägt (vgl. Mayer / Wagner 2010, S. 296). Geringes Einkommen führt dann auch im Alter dazu, dass bei finanziellen Schwierigkeiten zuerst am Essen gespart und auf eine vielfältige, abwechslungsreiche und frische Kost sowie hochwertige Lebensmittel verzichtet wird beziehungsweise verzichtet werden muss. Finanzielle Engpässe können sich aber auch indirekt auf die Ernährung auswirken, wenn Geld für Zahnsanierungen oder neue Zahnprothesen fehlen und das Essen darunter leidet (vgl. Nitschke / Hopfenmüller 2010, S. 467). Allerdings gibt es keinen Beleg für eine verbreitete Altersarmut, alte Menschen haben kein höheres Armutsrisiko. Sehr alte Frauen und Geschiedene sind am ehesten von Armut im Alter betroffen (vgl. Wagner et al. 2010, S. 318). Die Armutsquote in Deutschland war 2006 in der Altersgruppe über 61 Jahre bis in das hohe Alter mit etwa 10 Prozent geringer als die der restlichen und vor allem der jungen Bevölkerung (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (Hg.) 2008, S. 167f.). Die Situation könnte sich jedoch zukünftig verschärfen, wenn Langzeitarbeitslose, geringfügig Beschäftigte, Beschäftigte mit unterbrochener Arbeits- und Versicherungsbiographie, Arbeiter und Angestellte in Niedriglohnbranchen und Niedriglohnregionen sowie kleine Selbstständige in das Rentenalter eintreten: Diesen zahlenmäßig nicht unbedeutenden Gruppen, welche sich auch überschneiden, droht ein erhöhtes Risiko für Altersarmut (vgl. Bäcker 2008, S. 366). Andererseits gibt es auch die wachsende Gruppe der »aktiven, neuen Alten«, deren Anteil bei den 55 bis 70-jährigen bei etwa 25 Prozent liegt. Sie wollen das Leben in vollen Zügen genießen, sind fit und aktiv und verfügen über einen hohen Bildungsstandard und hohe Kaufkraft. Sie können und wollen das Geld ausgeben, haben Anspruch, suchen den guten, gesunden Genuss und sind daher auch immer interessanter für die Marketingstrategen (vgl. Hoffmann-Kramer 2007, S. 47). Auch im Alter bleiben also die sozialen Unterschiede und die damit einhergehenden Ernährungsstile bestehen. Ebenfalls von großem Einfluss ist die soziale Einbettung der Mahlzeiten. Die soziale Funktion der Mahlzeit und ihre integrative und kommunikative Funktion dürfte im Alter von noch größerer Bedeutung sein, sie wird zum sozialen Ereignis, in einer Lebensphase in der soziale Interaktion durch den Austritt aus dem Berufsleben, geringere Mobilität, aber auch Todesfälle im Freundes- und Bekanntenkreis weniger wird (vgl. Volkert 1997, S. 213). Wenn also soziale Kontakte weniger werden, der Beruf aufgegeben wurde, kann Essen im Allgemeinen beziehungsweise die Mahlzeiten im Speziellen zum zentralen Ereignis des Tages werden, vor allem dann, wenn es gemeinsam mit anderen, dem Partner, Familienangehörigen oder Freunden eingenommen wird. Eine Einnahme der Mahlzeiten ohne Gesellschaft kann dagegen zur Vernachlässigung der Ernährung führen: »Einsamkeit und Isolation, alleine leben und alleine essen werden oft als Ursache für eine unbefriedigende Nahrungsaufnahme genannt [Hervorhebung im Original]« (Volkert 1997, S. 213). Allerdings bedeutet dies nicht, dass ältere Menschen dazu angehalten werden

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sollen, unbedingt gemeinsam zu essen. Die Nahrungsaufnahme allein bedeutet nicht automatisch eine schlechtere Nährstoffversorgung, es kommt darauf an, wie das Alleinsein und Allein-Essen vom Betroffenen empfunden wird, als angenehm oder eher negativ (vgl. Volkert 1997, S. 214; Graber-Dünow 1999, S. 142). Das emotionale Befinden und die Ernährung stehen in direkter Wechselwirkung: Eine schlechte, negative emotionale Verfassung kann einem den Appetit vergehen lassen und sich auf den Magen schlagen, gute Stimmung den Appetit wecken. Andererseits werden tiefgreifende Emotionen und Erinnerungen oft durch Gerichte, Aromen und Düfte ausgelöst und wirken sich stark auf das Befinden und die Identität12 der Menschen aus: »In diesem Kontext von Prägung und Erinnerung bedeutet Essen nichts Geringeres als eine Aktivität der Beheimatung und der Selbstvergewisserung, als eine Aktualisierung jenes Konglomerates von Herkunft, Gemeinschaft und Weltanschauung, dass sich in der Auswahl und dem Verzehr der Speisen, den Anmutungen ihrer Geschmäcker und den Bewertungen ihrer Positionen im Speisesystem artikuliert. In diese Handlungen, Anmutungen und Bewertungen sind oralsinnlich vermittelte Botschaften über die Ordnung der Welt eingeschrieben, über Kategorien wie gut und schlecht, vertraut und fremd, nah und fern, hoch und niedrig, erlaubt und verboten.« (Hartmann 2006, S. 150)

Diese emotionale Bedeutung und Verankerung von Ernährung gilt es im Alter zu erhalten, gerade wenn alte Menschen nicht mehr selbstständig ihre Mahlzeiten zubereiten können und Mangelernährung ein Risiko ist. Das Essen sollte auch im Alter, so weit als möglich, den emotionalen Wünschen und Bedürfnissen der älteren Menschen entsprechen und trägt damit zu einem Teil zur psychischen und damit auch physischen Gesundheit der Menschen bei. Auch wenn die Mobilität im Alter eingeschränkt ist, kann sich dies auf den Ernährungszustand auswirken. Supermärkte und Discounter sind zumeist am Stadtrand zu finden, die Vielfalt insbesondere von frischen Lebensmitteln in den kleineren, erreichbaren Lebensmittelgeschäften geringer (vgl. Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 62). Hinzu kommen Probleme mit der Verpackung. Eine Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) ergab, dass viel Senioren die Beschriftung der Lebensmittelverpackungen schlecht lesen können, zwei Drittel der Befragten hatten beispielsweise Probleme, das Mindesthaltbarkeitsdatum zu entziffern. Viele Verpackungen von Lebensmitteln berei12 Wie sehr die Identität eines Menschen mit der Ernährung verknüpft ist, zeigt sich auch an den Ernährungsgewohnheiten von Migranten. Deren ethnische Identität ist eng verknüpft mit einer ethnischen Ernährungsweise. Oft werden über Generationen hinweg traditionelle Ernährungsweisen und -gewohnheiten aus dem Heimatland aufrecht erhalten und damit auch die kulturelle Identität gefestigt (vgl. Schmid 2003).

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ten Senioren zudem Schwierigkeiten beim Öffnen. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an, mehrmals pro Woche eine Verpackung nur unter Schwierigkeiten öffnen zu können. Entweder war der Öffnungsmechanismus zu kompliziert oder die Kräfte reichten nicht aus um Eingeschweißtes, Flaschen, Dosen und Gläser zu öffnen (vgl. Engel 2004, S. 19ff.). Wenn sich das Einkaufen immer schwieriger gestaltet, wird auch eine ausgewogene Ernährung immer schwieriger. Wie eine Schweizer Studie zeigt, kann ein Blick in den Kühlschrank älterer Menschen ein guter Indikator für den Ernährungszustand sein: Senioren, die mit einem leeren Kühlschrank angetroffen wurden, wurden im Folgemonat häufiger und auch dreimal früher in ein Krankenhaus eingeliefert, als Senioren mit vollem Kühlschrank (vgl. Boumendjel et al. 2000).

9.3 L EBENSEREIGNISSE IM ALTER UND AUSWIRKUNGEN AUF DIE E RNÄHRUNG Neben diesen physischen, psychischen und sozioökonomischen Faktoren die sich im Alter auf die Ernährung auswirken, kommt es in dieser Lebensphase auch zu spezifischen Lebensereignissen, die sich ebenfalls auf die Ernährungsweise ältere Menschen auswirken kann. Gerade das Alter ist von kritischen Lebensereignissen geprägt, mit denen vielfältige Veränderungen der alltäglichen Lebensgestaltung einhergehen können. Solche Lebensereignisse können sowohl bereichernd und entwicklungsfördernd für alte Menschen sein, als auch in tiefe Krisen führen, welche den einzelnen Menschen überfordert. Ob Lebensereignisse im Alter als Entwicklungsmöglichkeit oder Krise erlebt werden, hängt dabei von vielerlei Faktoren ab, vom körperlich-geistigen Zustand des Individuums, dessen soziokultureller Verortung und individueller Krisen beziehungsweise Krisenbewältigungskompetenz (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 194f.). Ein einschneidendes Lebensereignis ist der Eintritt in den Ruhestand, einhergehend mit Rollenveränderungen, Reduzierung oder gar Verlust von sozialen Kontakten und einer kompletten Neustrukturierung des alltäglichen Tagesablaufs. Dieser war über viele Jahre und Jahrzehnte am Beruf ausgerichtet, und das Vakuum, welches der Austritt aus dem Berufsleben mit sich bringt, muss nun mit außerberuflichen Aktivitäten gefüllt werden. Gelingt dies nicht, wird das Vakuum nicht als Chance, sondern als Leere empfunden, das postberufliche Leben als sinnlos und einsam. Dabei bietet die freigewordene Zeit auch Platz für neue, selbstbestimmte Tätigkeiten und Hobbys. Man kann schlichtweg tun und lassen was man will, und Dingen frönen, die nicht zweck- oder fremdbestimmt sind, sondern einem vor allem Freude machen (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 195ff.). Die Lebensmittelauswahl, der Einkauf, die Verarbeitung, das Kochen und der Verzehr

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können solche Tätigkeiten sein, wie das Beispiel des Pensionärs Wilfried zeigt, der sich seinem Hobby Kochen nach Eintritt in den Ruhestand nun noch ausgiebiger widmen konnte (vgl. Interview 1, Wilfried, Z. 74ff.). Einkauf, Kochen und die Mahlzeiten in ihrer Abfolge und ihrem Zeitpunkt können im Alter dann auch dazu dienen, der freien Zeit beziehungsweise dem Tagesablauf wieder Struktur zu geben. Ein einschneidendes Alterserlebnis ist auch die Verwitwung, der Tod des Lebens- oder Ehepartners, der das bisher gewohnte Leben in seinen Routinen völlig verändert. Nicht nur muss der Alltag von nun an allein gemeistert werden, man verliert auch seinen persönlichen Vertrauten. Inwieweit ein solcher Verlust zu psychosozialen Problemen, zu Depression, Einsamkeit und Unzufriedenheit oder zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität führt, hängt sehr von den individuellen Umständen und Rahmenbedingungen ab (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 198ff.). Die Ernährung, der Einkauf, die Zubereitung und der Verzehr müssen von nun an jedenfalls alleine gestaltet und bestritten werden. Für Frauen, die ihren Partner meist überleben, könnte dies eine freiere, an den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben ausgerichtete Ernährung bedeuten, wenn diese bisher vor allem an den Bedürfnissen des Partners ausgerichtet waren (vgl. Empacher et al. 2002, S. 190). Männer, die ihre Frau verlieren, stehen dagegen oftmals vor dem Problem, dass, wenn die Ernährung vornehmlich der (Haus-)Frau oblag, sie kaum in der Lage sind, sich selber ausgewogen, frisch und abwechslungsreich zu versorgen, da sie schlicht nicht in der Lage sind, zu kochen und Nahrungsmittel zuzubereiten. Ein Problem, das beide Geschlechter gleichermaßen betrifft, ist, dass die soziale Situation einer Mahlzeit mit dem Tod des Partners wegfällt. Die kulturelle und kommunikative Funktion der Mahlzeit schwindet, was dazu führen könnte, dass Betroffene ihre Ernährung funktionaler gestalten, diese mehr nach Aspekten des Aufwands, der Sättigung und der Gesundheit ausrichten und weniger am Genuss und Wohlbefinden (vgl. Absatz 7.2.3.2). Der emotionale Bezug zum Essen erodiert, was in der Einstellung »Für mich allein rentiert es sich nicht groß zu kochen« ihren Ausdruck findet. Genauere Untersuchungen zu diesem Thema fehlen jedoch bisher. Sowohl Verwitwung als auch der Ruhestand können bedeutende finanzielle Einbußen mit sich bringen. Während manche Pensionäre im Ruhestand ein ordentliches monatliches Auskommen beziehen, erhalten andere Renten, die am Rande des Existenzminimums liegen. Besonders ältere Frauen mit geringer Lebensarbeitszeit beziehungsweise geringen eigenen Rentenansprüchen sind betroffen, insbesondere dann, wenn mit dem Tod des Partners, dessen Einkünfte nur noch in Form der verknappten Witwenrente zur Verfügung stehen (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 196, 198f.). Ob Essen und Kochen zum neuen Hobby des Lebensabends wird, hängt auch davon ab, inwieweit man an finanzielle Zwänge gebunden oder von ihnen entbunden ist, in anderen Worten davon, ob man sich dieses Hobby auch leisten kann.

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Eine weitere einschneidende Veränderung im Alter können Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit beziehungsweise der Umzug in das Altenheim oder in das betreute Wohnen darstellen. Ältere Menschen erkranken häufiger als jüngere, vor allem chronische und degenerative Erkrankungen nehmen zu und treten häufig auch gleichzeitig auf. Der Gesundheitszustand älterer Menschen ist dabei sehr heterogen und interindividuell, das heißt während ein Großteil der alten Menschen relativ gesund und fit ist, gibt es auch einen nennenswerten Anteil unter den Senioren, welche durch physische oder psychische Erkrankungen ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben nur eingeschränkt führen können. Die im Alter häufig auftretenden chronischen Erkrankungen des Bewegungsapparates, Diabetes, Herzkrankheiten, Seh- und Durchblutungsstörungen können sich empfindlich auf die selbstständige Lebensführung der Betroffenen auswirken und führen früher oder später häufig zu Hilfe- und Pflegebedürftigkeit (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 204). Ernährung kann bei einigen dieser Erkrankungen eine nicht unbedeutende Rolle bei Prävention und Therapie spielen. Falsche Ernährung im mittleren Lebensalter kann später zu ernährungsmitbedingten Erkrankungen, eine gesunde Ernährung im Alter zu einem besseren Krankheitsverlauf führen. Eine calciumreiche Ernährung in jungen Jahren beugt Osteoporose vor, kann sich aber auch bei Erkrankung positiv auswirken. Übergewicht ist ein Risikofaktor für Herzerkrankungen, Diabetes und Gicht. Eine Gewichtsreduktion kann bei diesen Krankheiten zu einem deutlich besseren Gesundheitszustand führen (vgl. Heseker 1997). Auch Krebserkrankungen werden mit Übergewicht und Ernährung in Verbindung gebracht. Es gilt als gesichert, dass zu hohes Körpergewicht das Erkrankungsrisiko an speziellen Tumorformen wie etwa Speiseröhrenkrebs oder Darmkrebs erhöht, genauso wie starker Alkoholkonsum das Risiko bestimmter Krebsformen erhöht. Dass der Verzehr von Obst und Gemüse oder der Verzicht auf rotes Fleisch sowie geräucherte oder gepökelte Lebensmittel vor bestimmten Krebsarten, vor allem Magen und Darmkrebs, schützt, wird als wahrscheinlich, jedoch nicht als gesichert und bewiesen erachtet (vgl. Krebsinformationsdienst [KID] 2007). Es verwundert daher nicht, dass ältere Menschen ihre Ernährung vor allem nach gesundheitlichen Aspekten ausrichten, um so ihre Gesundheit möglichst lange zu erhalten beziehungsweise zu verbessern. Krankheiten ziehen im Alter oft weitreichende Folgen mit sich und führen im Alter auch zu Problemen in der alltäglichen Lebensführung. Gerade im hohen Alter führen chronische Erkrankungen dazu, dass sich alltägliche Verrichtungen wie das Einkaufen, Kochen aber auch das Essen selbst problematisch gestalten und Betroffene mehr oder weniger auf Hilfe angewiesen sind. Der Großteil der Hilfe- und Pflegleistungen wird dabei von den Familienangehörigen übernommen (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 205). Ein Umzug in ein Heim oder Einrichtungen des betreuten Wohnens wird häufig erst in Betracht gezogen, wenn die Erkrankungen zu einschränkend, schwerwiegend und belastend sind, also ein intensiver Versorgungsbedarf besteht, den die Angehö-

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rigen nicht mehr zu leisten im Stande sind (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 200). Ein solcher Umzug bringt natürlich nochmals gravierende Veränderungen mit sich, schließlich wird nicht nur die selbstständige Wohnsituation, sondern auch eine autonome Lebensführung aufgegeben: »Die zeitliche Rhythmisierung des Tages wird weitgehend durch organisatorische Abläufe im Heim wie Zeiten für Frühstückseinnahme, Mittagessen oder nachmittägliche Veranstaltungsangebote geprägt.« (Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 201)

Die Anforderungen des Betriebsablaufs strukturieren den Tag, der Bewohner eines Heimes muss sich gezwungenermaßen daran anpassen. Wann, wo und was gegessen wird, bestimmt nicht das Individuum selbst, sondern wird von der Heimleitung und der Heimküche vorgegeben. Individuelle Speisezeiten oder spezifische Geschmacksvorlieben können nicht immer in vollem Umfang Berücksichtigung finden. Insgesamt gehen mit dem Einzug in ein Heim vielerlei grundlegende Veränderungen einher, die sich in psychischen Problemen, Belastungen und Depression niederschlagen können. Ein Heimumzug muss jedoch nicht zwangsläufig als Belastung empfunden werden, sondern kann unter Umständen13 auch entwicklungsfördernd wirken (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 203). Inwieweit sich Heimunterbringung und eine fremdbestimmte Ernährungssituation auch auf den Ernährungs- und Gesundheitszustand auswirken, soll nun im Folgenden untersucht werden.

9.4 E RNÄHRUNGSZUSTAND

VON

S ENIOREN

9.4.1 Allgemeiner Ernährungszustand und Verzehrgewohnheiten Bei der großen Spannbreite des Alters und des unterschiedlichen Gesundheitszustandes ist klar, dass allgemeine Aussagen über den Ernährungszustand und die Ernährungsgewohnheiten von Senioren nur begrenzt sinnvoll sind und bei vielen Fragen ein differenzierter Blick nötig ist. Gemeinsam ist allen Senioren vor allem das Mahlzeitenverhalten, das sich sehr ähnlich und traditionell gestaltet. Beinahe al-

13 Belastend wird das Wohnen im Heim vor allem dann empfunden, wenn der Umzug nicht freiwillig erfolgte, oder das Heim stark reglementiert ist. Ein freiwilliger Umzug, Möglichkeiten der Mitbestimmung und Handlungsspielräume für die Bewohner, sowie Anreize zum aktiv werden und neue Anforderungen wirken sich dagegen positiv auf das Befinden der älteren Menschen und die Akzeptanz dieser Wohnform aus (vgl. Faltermaier / Mayring / Strehmel 2002, S. 203).

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le Senioren, egal ob nun selbstständig lebend oder in Alten- und Pflegeheimen untergebracht, halten sich an regelmäßige Essenszeiten und essen einmal am Tag warm. Die Mehrheit der Senioren nehmen dabei drei bis fünf Mahlzeiten am Tag ein, nahezu alle halten dabei die drei Hauptmahlzeiten Frühstück, Mittagessen und Abendessen ein. Darüber hinaus werden Zwischenmahlzeiten vor allem nachmittags verzehrt (vgl. Volkert 2002, S. 27, 66,84). Bei Verzehrhäufigkeit sowie der Energie- und Nährstoffaufnahme zeigen sich bei den 65 bis 80-jährigen Befragten der Nationalen Verzehrsstudie Tendenzen, die auf alle Altersgruppen in Deutschland zutreffen. Nährstoffreiche Nahrungsmittel wie Obst, Gemüse und Fisch werden seltener, fettreiche Nahrung wie Fleisch und Wurst häufiger als empfohlen verzehrt. Dementsprechend ist der Anteil an Fetten und Proteinen in der Ernährung zu hoch, der Kohlehydrat- und Ballaststoffanteil zu niedrig. Die Lebensmittelauswahl richtet sich bei alten Menschen nach traditionellen Ernährungsgewohnheiten und ist von habituellen Vorlieben geprägt. Frühstück und Abendessen sind wie von Kindheit an gewöhnt, Brotmahlzeiten, das Frühstück eher süß, das Abendessen traditionell herzhaft mit Käse oder Wurst. Die Hauptmahlzeit war (und ist) für Senioren von Kindesbeinen an das warme Mittagessen, abends dagegen blieb auch am Sonntag die Küche kalt, das Abendbrot bestand dem Wortsinn entsprechend aus Brot und Aufschnitt (vgl. Wildt 1996, S. 102–111). Ältere Menschen weisen dabei insgesamt günstigere Verzehrmuster auf als junge Erwachsene, wie die zweite Nationale Verzehrsstudie zeigt. Sie essen mehr Gemüse und Gemüsegerichte als Jugendliche und junge Erwachsene: Sehr beliebt bei alten Menschen sind Kartoffel und Kartoffelerzeugnisse, in keinem Alter werden mehr Kartoffel verspeist als von über 65-Jährigen. Auch Obst wird von Senioren in größeren Mengen verzehrt als von jungen Menschen, bei Männern ist der Verzehr von Obst und Gemüse in der Altersgruppe der 65 bis 80-Jährigen sogar am höchsten. Bei Milchprodukten ist die Entwicklung ambivalent, zum einem geht der Konsum von Milch und Milch-Mischprodukten mit dem Alter kontinuierlich zurück, andererseits steigt der Konsum von Käse und Quark dagegen deutlich an. Der Verzehr von Fleisch- und Wurstprodukten geht im Alter zurück, der von Suppen und Eintöpfen steigt deutlich an, auch der Verzehr von Fisch nimmt im Alter zu. Süßigkeiten, Speiseeis und Knabbereien werden mit fortschreitendem Alter weniger konsumiert, die Nutzung süßer Aufstriche dagegen ist im Alter ab 65 Jahren am höchsten. Gleichzeitig werden im Alter auch größere Mengen an Streichfetten, vor allem Butter verzehrt, bei einem über alle Altersphasen konstanten Brotkonsum (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 29–52).

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Abbildung 26: Altersspezifische Veränderungen im Nahrungsmittelverzehr; Präferenzen von Senioren im Vergleich zu jungen Menschen zwischen 14–34 Jahren Lebensmittel Obst Gemüse Kartoffel Fleisch Wurstwaren Fisch / Fischgerichte Suppen und Eintöpfe Milch- und Milchgetränke Käse und Quark Milcherzeugnisse (z.B. Joghurt) Brot Butter / Margarine Süße Aufstriche Süßigkeiten Knabbereien

× tägliche Aufnahme um mind. 50% höher als die Referenzgruppe Ü tägliche Aufnahme um mind. 10%,aber weniger als 50% höher Ù gleich hohe Aufnahme Þtägliche Aufnahme um mind. 10, aber weniger als 50% geringer Ø tägliche Aufnahme um mind. 50% geringer als die Referenzgruppe

Konsum ab 65 Jahren × Ü Ü Þ Þ Ü Ü Ø Ü Ü Ù Ü × Ø Ø

Quelle: nach eigener Berechnung; basierend auf Daten der NVSII (Max Rubner-Institut 2008)

Zusammenfassend festhalten kann man also, dass die Ernährung von älteren Menschen sich gesünder gestaltet als von jüngeren. Die traditionelle Bedeutung von Brot beim Frühstück und Abendbrot zeigt sich auch im hohen Verbrauch von Butter und süßen Aufstrichen, was auch ein Hinweis auf die altersbedingte Präferenz für Süßes ist. Auch gesundheitliche Überlegungen spielen wahrscheinlich eine Rolle, der Wurstverbrauch geht zurück, der Käsekonsum dagegen steigt. Im Alter verdrängen Marmeladen- und Käsebrote das Wurstbrot. Das sich die Ernährung gesünder als die der jungen Menschen gestaltet ist das eine, das der Verzehr von Fleisch, Wurst, Eiern und Butter im Alter immer noch zu hoch, von Gemüse und Obst meist zu gering ist, das andere. Die Fettzufuhr ist zu hoch, die Aufnahme von Kohlehydraten und Ballaststoffen meistens zu gering (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 97ff.). Die Flüssigkeitsaufnahme ist im Alter geringer, dennoch kommen Senioren im Durchschnitt auf etwa zwei Liter alkoholfreie Getränke, vor allem durch Wasser, Kaffee und Tee. Der Genuss alkoholischer Getränke geht im Alter ebenfalls leicht zurück, geschlechtsspezifische Mengenunterschiede bleiben dabei bestehen (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 52–56). Allerdings dürften auch erhebliche interindividuelle Unterschiede bestehen (vgl. Aurich et al. 2001).

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Im Allgemeinen jedoch ist die Versorgung mit den essentiellen Vitaminen und Mineralstoffen auch im Alter gewährleistet. Bei den meisten Nährstoffen wurde der D-A-CH- Referenzwert14 eingehalten oder überschritten. Auffällig ist, dass auch mit steigendem Alter, also zwischen den 65 bis 74-Jährigen, den 75 bis 84-Jährigen und auch den über 85-Jährigen, nur relativ geringe Unterschiede in der Nährstoffzufuhr bestehen. Hohes Alter allein ist an sich also kein Risikofaktor für eine Mangelaufnahme von Vitaminen und Mineralstoffen. Nicht sichergestellt ist im Alter die Versorgung mit Vitamin D, Calcium, Folsäure und Vitamin B12. Letzteres Vitamin wird zwar über die Nahrung mehr als genug aufgenommen, wird aber bei einem Teil der älteren Menschen nur unzureichend absorbiert. Bei Folsäure führt die geringe Zufuhr nicht zu Mangelsymptomen, weshalb Heseker den Referenzwert für Senioren bezüglich der Folsäure für überhöht einschätzt (vgl. Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 61; Stehle 2000, S. 167ff.). Bei Vitamin D und Calcium ist die Lage problematischer, da ein Mangel dieser beiden Nährstoffe sich deutlich auf den Gesundheitszustand auswirkt, zum Beispiel Osteoporose begünstigt und die Versorgung bei weiten Teilen der Senioren unter dem Referenzwert liegen. Circa zwei Drittel der Frauen und Männer erreichen diesen Wert bei Calcium nicht. Bei Vitamin D liegt die Versorgung in allen Altersgruppen unterhalb der empfohlen Zufuhr. Ab 65 Jahren ist der Referenzwert für Vitamin D doppelt so hoch wie in anderen Altersgruppen, um Osteoporose vorzubeugen: Die Zufuhrmenge wird jedoch nicht an den erhöhten Bedarf angepasst, 94 Prozent der männlichen und 97 Prozent der weiblichen Senioren erreichen die empfohlene Menge an Vitamin D nicht (vgl. Max Rubner-Institut 2008, S. 107–142). Allerdings zeigt sich hier, dass Senior nicht gleich Senior ist und die Lebensumstände eine bedeutende Rolle spielen. Da beispielsweise Vitamin D vor allem über die UV Bestrahlung der Haut gebildet wird, dürfte der Vitamin D Mangel bei immobilen, pflegebedürftigen Senioren deutlich schlechter sein als bei selbstständigen, aktiven Senioren (vgl. Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 61). Deshalb soll das selbstständige Dritte und das abhängige vierte Lebensalter getrennt betrachtet werden. 9.4.2 Ernährungszustand im Dritten Alter Bei den rüstigen, selbstständig lebenden Senioren im dritten Alter ist der Gesundheitsund Ernährungszustand nach den Erkenntnissen einer bundesweiten Seniorenstudie der Universität Bonn durchaus positiv zu bewerteten. Der Großteil dieser Senioren hat einen guten Appetit, wenig Probleme beim Kauen und Schlucken und befindet sich

14 Der D-A-CH-Referenzwert ist der empfohlene Wert der Gesellschaften für Ernährung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. D-A-CH ist ein Kunstwort für diese drei Länder und bildet sich anhand deren KFZ-Nationalkennzeichen D, A, und CH.

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allgemein in einem ordentlichen Gesundheitszustand ohne größere Beeinträchtigungen. Fast die Hälfte der Senioren schätzt den eigenen Gesundheitszustand als sehr gut oder gut ein, nur etwa 20 Prozent dagegen als weniger gut. Das Mahlzeitverhalten ist äußerst regelmäßig, die traditionelle Einteilung von Frühstück, Mittag und Abendbrot wird eingehalten, die Zwischenmahlzeit bildet meist der Nachmittagskaffee, alles zu bestimmten Zeiten im Tagesablauf, die eingehalten werden (vgl. Stehle 2000). Männer essen zum Großteil mit ihrer Lebenspartnerin, Frauen essen zum größten Teil allein, da ihr Lebenspartner häufiger schon verstorben ist (vgl. Volkert 2002, S. 44ff.). Bei der Versorgung mit den notwendigen Nährstoffen herrschen keine gravierenden Mängel, der Ernährungszustand ist durchaus zufriedenstellend (vgl. Volkert 2002, S. 54). Nach dem äußeren Erscheinungsbild wurden 33 Prozent der Senioren als überernährt eingeschätzt. Weniger subjektiv erscheint dagegen der BMI, dessen mittlerer Wert bei deutschen Senioren 26,5 kg/m² beträgt und in anderen Studien sogar noch höher ist. Aufgrund der physiologischen Veränderungen im Alter, der abnehmenden Körpergröße und der veränderten Körperzusammensetzung, ist der BMI Wert im Alter jedoch anders zu ›gewichten‹ (vgl. Volkert 2002, S. 35f, 56). Das National Research Center empfahl deshalb schon 1989 den BMI Normalbereich für Senioren zwischen 24–29 kg/m² zu legen (vgl. National Research Council 1989, S. 564), was nach gewöhnlicher Lesart beziehungsweise WHO-Norm auch deutliches Übergewicht miteinschließen würde. Dies ist durchaus sinnvoll, denn Studien zeigen immer wieder, dass das Mortalitätsrisiko im Alter in diesem BMI Bereich, also mit Übergewicht, am geringsten und geringer als mit Normalgewicht ist (vgl. Janssen 2007; Flicker et al. 2010). Die Einteilung der WHO erscheint vor diesem Hintergrund sehr restriktiv und unverhältnismäßig zu sein. Doch auch mit der liberaleren BMI Variante bleiben ein Fünftel der Männer und ein Viertel der Frauen im übergewichtigen Bereich mit einem BMI größer 29 (vgl. Volkert 2002, S. 57). Starkes und nicht eben moderates Übergewicht, ist für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Senioren ein Problem, doch unterscheiden sie sich damit nicht vom Rest der Bevölkerung. Bei den selbständigen Senioren scheint insgesamt keine außergewöhnliche, dem Alter geschuldete Ernährungsproblematik zu bestehen: »Zwischen jungen gesunden Seniorinnen bzw. Senioren und noch im Berufsleben stehenden Erwachsenen gibt es kaum Unterschiede hinsichtlich der Ernährungssituation. Übergewicht, Adipositas und damit verbundene Folgeerkrankungen stellen in dieser Gruppe das zentrale Ernährungs- und Gesundheitsproblem dar.« (Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 60)

9.4.3 Ernährung im Vierten Alter Der Übergang zwischen dem Dritten und Vierten Alter ist ein fließender und wird in der Zeit zwischen dem 80. und 85. Lebensjahr verortet und geht einher mit nach-

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lassender Leistungskraft, Eigenständigkeit und dem vermehrten Auftreten von Krankheiten (vgl. Küpper 2008, S. 548). Während bei selbstständig lebenden Senioren die Versorgungslage weitgehend positiv zu bewerten ist, stellt sich die Situation bei hilfe- und pflegebedürftigen Senioren im Vierten Alter anders dar. Pflegebedürftige Personen im Privathaushalten, Heimen und geriatrischen Kliniken leben unter ganz anderen Ernährungs-Bedingungen, da sie auf die Versorgung durch andere angewiesen sind. Über die Ernährungslage der stets wachsenden Bevölkerungsgruppe der pflegebedürftigen Senioren, die in Privathaushalten betreut und gepflegt werden, gibt es keine Erkenntnisse, obwohl der Großteil der pflegebedürftigen alten Menschen in Privathaushalten lebt und von Angehörigen und mobilen Versorgungs-15 und Pflegediensten umsorgt wird (vgl. Linden et al. 2010, S. 509ff.). Die ErnSIPP Studie zur Ernährungssituation von Senioren in Privathaushalten mit Pflegebedarf der Universitäten Bonn, Erlangen-Nürnberg und Paderborn soll diese Wissenslücke schließen, die Ergebnisse werden im Ernährungsbericht 2012 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) veröffentlicht. Besser untersucht ist dagegen die Versorgungssituation und Gesundheitslage von älteren Senioren in Heimen und geriatrischen Kliniken, allerdings ist hier die Befundlage sehr heterogen. Eine Studie über hochbetagte Heimbewohner in Heidelberg kam zum Ergebnis, dass Ernährungsgewohnheiten und Ernährungszustand bei älteren Heimbewohnern, dem der selbständig lebenden Senioren relativ ähnlich und zufriedenstellend ist und es keine schwerwiegende Ernährungsprobleme gibt (vgl. Volkert 2002, S. 63–76, 186). Andere Studien konstatieren Mangelernährung16 in Heimen in nicht unerheblichem Ausmaß (vgl. Heseker / Stehle 2008). In der neuesten deutschen Studie im Rahmen einer Europäischen Prävalenzerhebung pflegebezogener Daten zur Mangelernährung waren je nach Definition, 11 Prozent beziehungsweise 27 Prozent der Bewohner in Altenpflegeinrichtungen von Mangeler-

15 Mobile Mahlzeitendienste versorgen ältere und hilfsbedürftige Menschen, die an ihre Wohnung gebunden sind und Schwierigkeiten haben, Einkauf und Zubereitung selbstständig zu gestalten. Sie werden mit warmen, zubereiteten oder tiefgekühlten Gerichten versorgt, wodurch ein eigenständiges Leben in den eigenen vier Wänden weiterhin gewährleistet werden kann (vgl. Volkert 1997, S. 325f.). 16 Es gibt keine international einheitliche Definition für Mangelernährung. Jürgen Bauer und Rebecca Kaiser definieren Mangelernährung als Zustände eines Ungleichgewichts zwischen Nährstoffzufuhr und Nährstoffbedarf, gestörter Nährstoffverwertung und unkontrolliertem Abbau von Körpersubstanzen. Davon unterschieden werden krankheitsbedingter Gewichtsverlust (Malnutrition) und Unterernährung als Zustand einer unzureichenden Kalorienzufuhr mit primärer Reduktion der Körperfettmasse, sowie weiteren speziellen Krankheitsbildern, die mit Gewichtsverlust einhergehen (vgl. Bauer / Kaiser 2011).

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nährung betroffen und jeweils ebenso viele wiesen ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung auf (vgl. Reuther / Bartholomeyczik 2010, S. 66f.). Die unterschiedlichen Ergebnisse erklären sich aufgrund verschiedener Faktoren, darunter unterschiedliche Erhebungsmethoden, Ein- und Ausschlusskriterien, herangezogene Referenzwerte, der Qualität der Heime bezüglich Pflege und Ernährung, einer sehr heterogenen Zusammensetzung der Heimbewohner sowie unterschiedlicher Definitionen von Mangelernährung (vgl. Volkert 2002, S. 75f.; Reuther / Bartholomeyczik 2010, S. 58). Die oben genannte Studie, welche keine Ernährungsprobleme bei Altenheimbewohnern in Heidelberg feststellen konnte, fand zum einen in angesehenen Heimen statt, zum anderen waren die Teilnehmer nach positiven Kriterien selektiert, das heißt sie waren mit durchschnittlich 80 Jahren verhältnismäßig jung, gut situiert und gebildet, mit einem hohem Grad an Selbstständigkeit und Mobilität ausgestattet und zudem frei von schweren geistigen und körperlichen Gebrechen (vgl. Volkert 2002, S. 71). Die positive Ernährungslage dieser Heimbewohner verwundert daher nicht. In durchschnittlichen Heimen mit durchschnittlichen Patienten fallen die Ergebnisse entsprechend anders aus. Sicher ist jedenfalls, dass das große Problem bei der Ernährung Pflegebedürftiger nicht Übergewicht, sondern Untergewicht ist17. Unter- oder mangelernährte Menschen sind nicht mehr ausreichend mit Energie, Eiweiß, Vitaminen oder Mineralstoffen versorgt. Diagnostiziert wird die Mangelernährung durch sorgfältige Anamnese des Patienten vor allem bezüglich seiner Trink- und Ernährungsgewohnheiten, sowie der Überprüfung von anthropometrischen Daten (Größe, Gewicht, Gewichtsverlaufskurve, Hautfaltendicke, Arm- / Wadenumfang) und biochemischen Daten (Erhebung der Blutwerte für Proteine, Vitamine, Mineralstoffe). Häufig wird dabei mit standardisierten Screeninginstrumenten18 gearbeitet, welche die wichtigsten Para17 Sehr problematisch ist auch die Flüssigkeitsversorgung von älteren Menschen, da das Durstempfinden im Alter reduziert ist und es schnell zu Austrocknungszuständen (Exsikkose) kommt: Die Folgen sind Verwirrtheitszustände, Schwäche und Schwindel bis hin zu Kreislauf- und Nierenversagen, Flüssigkeitsmangel und die Folgen sind ein häufiger Grund für Krankenhauseinlieferungen. Gerade Hilfe- und Pflegebedürftige sind auf Angehörige und Pflegepersonal angewiesen und müssen permanent zum Trinken aufgefordert beziehungsweise erinnert werden. Es gibt kaum eigenständige empirische Untersuchengen zu diesem Thema. Schätzungen gehen davon aus, dass bei geriatrischen Krankenhauspatienten etwa die Hälfte von Austrocknungszuständen betroffen ist (vgl. Volkert 1997, S. 282ff.; Schreier / Bartholomeyczik 2004, S. 66f.). 18 Der Mini Nutritional Assessment (MNA) ist beispielsweise ein Instrument zur Erfassung des Ernährungszustandes, welche Anthropometire, Allgemeinzustand, Ernährungsgewohnheiten und Selbsteinschätzung der Senioren erfasst (vgl. www.mna-elderly.com/ forms/MNA_german.pdf). Andere Screening Instrumente die ähnlich strukturiert sind, sind das Malnutrition Universal Screening Tool (MUST), das Nutritional Risk Screening

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meter diesbezüglich erheben. Die Symptome von Mangelernährung können sehr vielseitig sein und reichen von offensichtlichen Gewichtsverlusten über Müdigkeit, Apathie bis zu Hauterkrankungen, Schwindel, und Sehschwäche (vgl. Volkert 1997, S. 160f.) Das Risiko der Mangelernährung erhöht sich im vierten Alter deutlich, da aufgrund verschiedenster Veränderungen eine bedarfsgerechte Ernährung beziehungsweise das Aufrechterhalten eines gesunden Ernährungszustandes erschwert ist. Veränderungen, die mit einem erhöhten Risiko für Mangelernährung einhergehen können sind von körperlicher, geistiger und psychosozialer Art und behindern den älteren Menschen bei Einkauf, Zubereitung und Verzehr von Lebensmitteln. Eine ausreichende Ernährung ist dann nicht mehr gewährleistet. Dabei führen schon relativ kleine Mängel beim Energie- und Nährstoffbedarf zu negativen Folgen für die körperliche Verfassung alter Menschen. Wenn zu den normalen Begleiterscheinungen des Alters akute Krankheiten hinzukommen, beeinträchtigt dies oft den Appetit als auch die Nährstoffaufnahme. Andererseits wirkt sich ein schlechter Ernährungszustand auch negativ auf Genesungsprozesse aus und macht betroffene Senioren anfällig für neue Krankheiten, es entsteht oftmals ein Teufelskreis der Mangelernährung, welcher den Gesundheits- und Ernährungszustand kontinuierlich zu verschlechtern droht und die Morbidität und Mortalität alter Menschen erhöht (vgl. Volkert 2002, S. 3ff). Abbildung 27: Kreislauf der Mangelernährung

Quelle: Volkert 2002, S. 5

(NRS) und der Short Nutritional Assesment questionnaire (SNAQ) (vgl. Reuther / Bartholomeyczik 2010, S. 61).

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Mangelernährung findet sich vor allem in Seniorenheimen, doch ist diese Tatsache nicht nur den Versorgungsbedingungen in den Heimen anzurechnen, sondern auch dem Umstand geschuldet, dass Unterernährung von pflegenden Angehörigen und behandelten Ärzten oftmals nicht erkannt wird und der Ernährungszustand schon beim Eintritt ins Altenheim mangelhaft ist. In der Paderborner Altenstudie war die Versorgung in den Heimen qualitativ nicht zu beanstanden, die Speisepläne ausgewogen. Das Essen enthielt ausreichend Nährstoffe und Energie und wurde auch ansprechend dargeboten. Aufgrund reduzierten Appetits wurden die Speisen allerdings nur teilweise verspeist (vgl. Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 63f.). Noch verbreiteter als in Altenheimen ist Mangelernährung in geriatrischen Krankenhäusern. Die Bethanien-Ernährungsstudie, welche sich als erste mit dem Ernährungszustand geriatrischer Patienten befasste, kam bei subjektiver klinischer Einschätzung des Ernährungszustandes zu dem Ergebnis, dass fast ein Viertel der Patienten unterernährt waren. Einschätzungen anhand des BMI kamen auf eine Quote von beinahe 60 Prozent19 (vgl. Schlierf 1996, S. 233). Eine neuere Studie stellte eine Mangelernährung bei 43 Prozent der über 70-jährigen Krankenhauspatienten fest (vgl. Pirlich et al. 2006). Erkrankte Senioren in Kliniken sind also deutlich häufiger von Mangelernährung betroffen als gesunde Senioren, so dass davon auszugehen ist, dass der Gesundheits- beziehungsweise Krankheitszustand von großer Bedeutung für den Ernährungszustand ist. Da die 43 Prozent der Mangelernährten dies bei Aufnahme in das Krankenhaus waren, müssen entscheidende Faktoren der Mangelernährung schon vor der Einlieferung bestanden haben. Häufig sind Patienten also schon bei Einlieferung von schlechter körperlicher Verfassung, klagen über mangelnden Appetit, Kaubeschwerden, Schluckbeschwerden und Immobilität und nehmen eine Vielzahl an Medikamenten ein (vgl. Volkert 2002, S. 100ff). Allerdings kommt es auch während des Krankenhausaufenthaltes des Öfteren zur Verschlechterung des Ernährungszustandes, gerät die Ernährung durch krankenhausspezifische Abläufe und Notwendigkeiten in den Hintergrund, fehlt es Pflegekräften und Medizinern an ernährungsmedizinischer Qualifikation (vgl. Heseker / Overzier / Strathmann 2007, S. 65). Betrachtet man die Ergebnisse der verschiedenen Studien, kommt man zum Schluss, dass nicht das Alter per se oder das institutionalisierte Leben im Heim sich in Mangelernährung niederschlägt, sondern vielmehr die gesundheitliche Verfassung und die davon abhängige Mobilität und Selbstständigkeit der Senioren für den Ernährungszustand entscheidend ist. Pflegebedürftige Senioren in Altenheimen oder geriatrische Patienten weisen also mehr Risikofaktoren für Mangelernährung auf als gesunde Senioren im Privathaushalt, aber auch als gesunde Senioren in den 19 Allerdings wurde hier der altersspezifische Normbereich des National Research Councils (vgl. National Research Council 1989) gewählt, der bei über 65 jährigen zwischen 24– 29kg/m² liegt, und damit relativ hoch angesetzt ist.

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Altenheimen. Bei gutem Gesundheitszustand und einer qualitativ hochwertigen Unterkunft und Betreuung ist auch in Altenheimen ein zufriedenstellender Gesundheitszustand zu gewährleisten, ›erfolgreiches‹ Altern möglich. Bei kranken und abhängigen Senioren in Heimen und Krankenhäusern ist die Gefahr der Mangelernährung dagegen groß, insbesondere dann, wenn Senioren ihre Nahrung nicht selbstständig zu sich nehmen können und das Essen gereicht bekommen (vgl. Schmid et al. 2001). Die Konsequenzen von Mangelernährung sind vielseitig und zahlreich, das Allgemeinbefinden verschlechtert sich genauso wie zahlreiche Organfunktionen, sie wirkt sich auf das psychosoziale Befinden aus und erhöht die Morbidität (Krankheitshäufigkeit) und Mortalität (Sterblichkeit) (vgl. Löser 2011). Aufgrund der hohen Prävalenz von Mangelernährung im hohen Alter und den damit verbundenen schwerwiegenden Konsequenzen zählt die Prävention und Therapie von Mangelernährung zu den wohl wichtigsten Aufgabenfeldern der Geriatrie. Zum einen gilt es vorzubeugen, einen guten Ernährungszustand aufrecht zu erhalten und Mangelernährung zu vermeiden. Zum anderen muss der Ernährungszustand mangelernährter Personen therapiert und verbessert werden. Volkert verglich verschiedene Therapie Ansätze20 und kommt dabei zu dem Schluss, dass die effektivste Möglichkeit zur Verbesserung der Ernährungssituation von mangelernährten Patienten in der Darreichung von flüssiger Zusatznahrung ist, konstatiert aber auch einen hohen Forschungsbedarf bezüglich einer optimalen Therapie (vgl. Volkert 2002, S. 181,185ff.). Es gibt zwar eine Vielzahl von Hinweisen und Studienergebnissen, die auf gute Erfolge durch individuelle Beratung und kompetente Betreuung sowie Maßnahmen zur Verbesserung des Essensangebotes, der Umgebung und Atmosphäre der Verzehrlokalitäten schließen lassen. Allerdings handelt es sich hierbei um Einzelstudien und Einzelfallanalysen oder Studien ohne exakte Datenangaben, so dass diese Ergebnisse nicht als gesichert gelten (vgl. Volkert 2002, S. 146ff.). Doch scheint hier noch ein enormes Potenzial an Verbesserungsmöglichkeiten zu liegen. Gerade der Qualität der Pflege kommt eine besondere Rolle zu: Ausbildungsstand und Kompetenzen des Pflegepersonals, Art und Weise der Nahrungseingabe sowie deren zeitlicher Umfang wirken sich auf den Ernährungszustand von Pflegebedürfti20 Volkert verglich drei Studien mit unterschiedlichem Therapieansatz. Eine Studie versuchte durch regelmäßige, individuelle poststationäre Ernährungsberatung Ernährungsgewohnheiten und Ernährungszustand positiv zu beeinflussen, während dies in der zweiten Studie durch individuelle Ernährungsbetreuung (Beratung, Betreuung und Gesellschaft bei der Nahrungsaufnahme, Angebot von Wunschkost und ähnliches) während des stationären Aufenthalts versucht wurde. Beide Studien führten nicht zum gewünschten Erfolg. Erfolgreich dagegen war die Studie, welche mit flüssiger Zusatznahrung während beziehungsweise nach dem Krankenhausaufenthalt den Ernährungszustand verbessern konnte (vgl. Volkert 2002, S. 105–180).

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gen aus. Häufig steht sowohl dem Personal als auch den Senioren selbst zu wenig Zeit für die Nahrungsaufnahme zur Verfügung, so dass die Nahrungseingabe durch das Pflegepersonal erfolgt, obwohl durchaus ein selbstständiges Essen, wenn auch nur sehr langsam, möglich wäre. Oftmals werden individuelle Ernährungsbiographien, Gewohnheiten, Wünsche und Bedürfnisse nicht erkannt, Selbständigkeit nicht gefördert, zudem mangelt es teilweise an Fachwissen oder dessen Umsetzung in der Praxis, wie beispielsweise das Einhalten einer angemessenen Sitzposition bei der Nahrungsaufnahme (vgl. Schreier / Bartholomeyczik 2004, S. 50ff., 68ff.). Auch soziokulturellen Faktoren wird eine große Bedeutung beigemessen. So soll eine angenehme, familiäre, vertraute Atmosphäre den Appetit fördern, selbiges gilt, wenn der Patient die Speisen und die Portionsgrößen selbst bestimmen kann. Auch sinnlichen Anreizen, wie etwa ruhiger Begleitmusik, werden positive Auswirkungen zugesprochen (vgl. Hardenacke / Schreier 2010). Der Gerontologe und Heimleiter Markus Biedermann, der als gelernter Koch auch Küchenchef in verschiedenen Altenheimen war, versucht deshalb bei der Ernährung insbesondere von dementen Heimbewohnern neue Wege zu gehen. Seine Vorschläge den Ernährungszustand von geriatrischen Patienten beziehungsweise Heimbewohnern zu verbessern, reichen von Finger-Food Angebot über ›Eat by Walking‹21 bis hin zum Kochen am Bett (vgl. Biedermann 2004). Festzuhalten ist, dass diese Ansätze und Hinweise auf Praxiserfahrungen und Einzelstudien beruhen, welche noch nicht ausreichend untersucht sind (vgl. Hardenacke / Schreier 2010, S. 54; Schreier / Bartholomeyczik 2004, S. 62f.). Gerade bezüglich sozialer und kultureller Einflussfaktoren auf die Ernährung von unselbstständigen Senioren herrscht großer Forschungsbedarf.

9.5 Z USAMMENFASSENDES F AZIT Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass ältere Menschen ihre Ernährung gesünder gestalten und günstigere Verzehrmuster aufweisen als jüngere. Rüstigere Senioren im Dritten Alter unterscheiden sich bezüglich ihres Ernährungszustandes kaum von der jüngeren Bevölkerung, Übergewicht und damit verbundene Erkrankungen

21 Hinter ›Eat by walking‹ steckt die Idee, ruhelos umhergehende Demenzkranke durch das Platzieren von kleinen Happen an verschiedenen, häufig frequentierten Stellen, zum Essen zu animieren, ihre Ruhelosigkeit am Tisch zu akzeptieren und ihre Versorgung quasi im Vorbeigehen sicherzustellen. Das Angebot an Finger Food richtet sich an Senioren, die nicht mehr die motorischen Fähigkeiten haben, mit Messer und Gabel umzugehen, mundgerechte Happen jedoch selbstständig zu sich nehmen können. Das Kochen am Bett soll die Sinne bettlägeriger Patienten stimulieren (vgl. Biedermann 2004).

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stellen das zentrale Problem dar. Mit fortschreitendem Alter kommt es dennoch zu spezifischen, physiologischen Veränderungen, die sich auf die Nahrungsaufnahme auswirken. Muskulatur baut ab, der Stoffwechsel verändert sich, Hunger- und Durstempfinden verringern sich genauso wie das Geruchs- und Geschmacksempfinden. Diese körperlichen Umstellungsprozesse sind relativ gut erforscht und auch Thema in Ratgebern, Zeitschriften, Arztpraxen und Altenheimen. Im vierten Alter, mit zunehmender Hilfs- und Pflegebedürftigkeit, ist nicht mehr Übergewicht sondern Untergewicht das größere Problem. Je höher der Grad der Hilfs- und Pflegbedürftigkeit ist, desto größer wird auch das Risiko der Mangelernährung. Weder das Alter noch das Leben im Heim per se begünstigen Mangelernährung, vielmehr sind der gesundheitliche Zustand, Mobilität und Selbständigkeit der Senioren bedeutende Einflussfaktoren für den Ernährungszustand älterer Menschen. Während altersbedingte körperliche Veränderungen und Problematiken relativ gut untersucht sind, herrscht bei sozialen, psychischen und kulturellen Faktoren großer Forschungsbedarf. Soziale Funktion, Emotionale Bedeutung und Verankerung von Mahlzeiten und Nahrungsmitteln auf den psychischen und physischen Zustand sind weitgehend unerforscht, genauso wie der Einfluss von Lebensereignissen im Alter. Sehr interessant wäre hier beispielsweise die Frage, in wie fern sich die Ernährung und der Ernährungshabitus nach dem Tod des Partners gestaltet und verändert. Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft sind dies wichtige Fragen, die ebenso zu klären sind, wie die Frage, welche Maßnahmen und Faktoren den Ernährungszustand insbesondere von älteren Menschen im abhängigen, vierten Alter verbessert werden kann. Dass bei dieser Fragestellung soziokulturelle Aspekte berücksichtigt und nicht von medizinischen und ernährungsphysiologischen Ansätzen verdrängt und dominiert werden, ist Aufgabe einer Soziologie der Ernährung.

10. Resümee und Ausblick

Ein erstes wichtiges Ergebnis dieser Arbeit war die Entdeckung, dass die Neigung und Nähe zu allen Prozessen der Ernährung, des Erzeugens, Einkaufens, der Verarbeitung und Zubereitung bis zum Genuss von Lebensmitteln von den emotionalen Verbindungen abhängt, die beim Kleinkind und dessen Mutter-Kind Verhältnis angelegt werden. Die geführten Interviews zeigen, dass bevor Vernunft, Geld oder Status, Geschlecht und Habitus wirken können, sich in der Art und Weise wie die Nahrungsaufnahme als Kleinkind erlebt wird, die Basis für das spätere Verhältnis zur Ernährung bildet. Das Unbewusste, frühe Erfahrungen und Emotionen sind von großem Einfluss auf die Entwicklung und das Handeln eines Individuums und dürften insbesondere aufgrund der archaischen, triebhaften Elemente der Nahrungsaufnahme für das Ernährungsverhalten von großer Bedeutung sein. Freilich bleibt es eine Hypothese, die sich kaum beweisen lässt, jedoch immer plausibler wird. Darauf weist auch David Brooks, der Autor des 2011 erschienenen Buches »The Social Animal«, in einem Interview hin: »Die Ergebnisse in den verschiedenen Feldern, von der Bewusstseinsforschung über die Neurologie bis hin zur Psychologie, deuten allesamt in eine Richtung. Viele unserer Entscheidungen spielen sich unter der Oberfläche ab, sie werden gesteuert vom Unterbewussten, von Emotionen und Erfahrungen, von unserer Umgebung, von Vorurteilen, von menschlichen Verbindungen.« (Brooks / Brinkbäumer / Schulz 2011, S. 82)

Emotionen und Erfahrungen von frühester Kindheit an scheinen das Ernährungsverhalten grundlegend auszurichten. So erklärt sich meiner Ansicht nach, dass die Liebe zum Essen und Kochen unabhängig von der sozialen Herkunft ist, sich aber in unterschiedlichen Formen, vom idealistischen Genießer über den pragmatischen Esser bis zum gleichgültigen Konsumenten, in allen Schichten manifestiert. Über die wechselseitige Verbindung von Emotion und Ernährung ist wenig bekannt. Hier herrscht noch erheblicher Forschungsbedarf.

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Wie sich diese emotionale Nähe (oder Distanz) zum Thema Ernährung dann später im realen Ernährungsverhalten gestaltet, ist wiederum sehr stark von der sozialen Herkunft, vom Habitus geprägt. Der Habitus bildet sich innerhalb der sozialen Grenzen und Gepflogenheiten der Herkunftsfamilie, wird durch Gewöhnung, Prägung und Kontaktlernen positiv besetzt und verankert. Der schichtspezifische Habitus bringt dabei unterschiedliche geschmackliche Vorlieben und Körperbilder mit sich, die dem einzelnen Individuum als ihm eigener, persönlicher Geschmack erscheinen. Ernährungsgewohnheiten sowie die Affinität zum Kochen und Essen entstehen und festigen sich über emotionale Bindung und Gewöhnung durch sich ständig wiederholende Erfahrungen im Alltag, von denen man geprägt wird. Dies erklärt auch, warum Esserziehung und Ernährungsberatung scheitern: Basierend auf Vernunft, Zahlen sowie neuesten medizinischen und ernährungsphysiologischen Daten und Fakten wird erzogen, beraten und vorgegeben, welches Lebensmittel in welchen Mengen gesund ist beziehungsweise gemieden werden sollte, um Gesundheit und Wohlbefinden bestmöglich zu fördern. Emotionale Verankerung und Besetzung bestimmter Lebensmittel und Ernährungsweisen, schichtspezifische Körperbilder und Ernährungsmuster, die tief im Menschen verwurzelt sind, werden so gut wie nicht beachtet. Wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe, ist das Ernährungsverhalten durch emotionale Prägung und Habitus bedingt und kann kaum durch rationale Einsicht und Vernunft geändert werden. Vielmehr muss bei Erziehenden und Beratenden die Einsicht wachsen, dass es vernünftig ist, emotionale und habituelle, psychische und soziale, geschlechts- und schichtspezifische Faktoren zu erkennen und diese Erkenntnisse zu nutzen. Erst dann kann man Phänomene wie das der hohen Adipositasrate bei unteren Schichten wirklich verstehen und erst aus dieser Erkenntnis heraus wirksame Gegenstrategien entwickeln. Arme Kinder sind dicker, nicht weil die Eltern nicht willens sind, die modernen Erkenntnisse der Ernährungsforschung umzusetzen, sondern weil in der Unterschicht negativ wirkende psychosoziale Faktoren häufiger auftreten und sich der schichtspezifische Habitus direkt auf die Ernährungsweise auswirkt. Wer Ernährungsgewohnheiten ändern will, muss deshalb auf mehreren Ebenen agieren. Zudem muss, um dauerhaft und nicht nur kurzfristig Erfolge zu erzielen, Einfluss auf den Habitus genommen werden, was sehr frühes und auch kontinuierliches Engagement erfordert. Auch das Geschlecht spielt eine zentrale Rolle für die Ernährungsweise des Einzelnen; die Art und Weise zu essen, Verzehrmengen und Lebensmittelpräferenzen sind geschlechtsspezifisch verschieden. Ganz besonders gilt dies für Frauen, deren Weiblichkeit und Status davon abhängt, wie sehr dem gängigen Schönheits- und Schlankheitsideal entsprochen wird. Der Körper der Frau ist wichtiges Kapital und um dieses zu mehren oder zu erhalten, wird versucht, über die Ernährungsweise darauf Einfluss zu nehmen. Daraus resultieren ein anderes Ernährungsbewusstsein und andere Ernährungsgewohnheiten. Allgemein lässt sich festhalten, dass die ge-

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schlechtsspezifischen Vorlieben und Abneigungen nicht Ausdruck eines biologischen Unterschiedes zwischen den Geschlechtern sind, sondern der Unterschied durch die Interaktion der Geschlechter hergestellt und reproduziert wird. Aus dem Aushandeln der Geschlechterrollen, dem ›doing gender‹, resultieren unterschiedliche, geschlechtsspezifische Präferenzen, Zubereitungsarten, Verzehrsituationen und Ernährungsgewohnheiten. Frauen pflegen einen gesünderen Ernährungsstil, nehmen mehr Obst und Gemüse und dafür weniger Fleisch, Wurstwaren, Fette und Alkohol als Männer zu sich. Solche Unterschiede in der Ernährungsweise werden jedoch nicht als geschlechtsspezifisch wahrgenommen, sondern erscheinen dem Einzelnen als Ausdruck des individuellen Geschmacks. Fleisch ist männlich und seit jeher Symbol für Macht und Status, auf das Frauen scheinbar naturgemäß eher verzichten. Der Verzicht verspricht dafür eine Aura der Weiblichkeit sowie schlanke, dem Schönheitsideal entsprechende Körper. Die gesündere Ernährung von Frauen ist nicht nur vernunftgeprägt, der geringere Konsum oder der Verzicht auf Fleisch nicht individueller Geschmack, sondern Ausdruck einer weiblichen Art der Ernährung, die den männlichen Erwartungen an das Frau-Sein entspricht. Eine solche Ernährungsweise führt nicht nur zu gesünderen, sondern auch zu schlankeren, schöneren Körpern. Die vegetarische Ernährung ist letztendlich auch eine sehr konsequente Art des weiblichen Ernährungsstils und eine Erklärung für die Sozialstruktur der heutigen Vegetarier. Mit dem Fleischverzicht konstruieren die mehrheitlich jungen und weiblichen Vegetarier eine weibliche Identität und erhöhen ihr Körperkapital. Die Motive für eine vegetarische Ernährungsweise sind zwar vielfältig und reichen von ökologischen Ansätzen bis zu ethischen Motiven, wie etwa dem Mitgefühl für das Leid der Tiere. Aber auch dieses Mitgefühl für das tierische Leid produziert Weiblichkeit, wird doch die Empathie mit den tierischen Mitgeschöpfen als weiche, weibliche Tugend empfunden. Letztlich steckt hinter der Vielzahl an Motiven – die ich weder bestreiten noch abwerten möchte – sicherlich auch ein großer Einfluss unbewusster, geschlechtsspezifischer Faktoren. Hier ist der Forschungsbedarf ebenfalls groß. Vegetarismus wird zumeist unter ernährungsphysiologischen Aspekten untersucht oder aber es werden die Motive der Vegetarier diskutiert. Soziostrukturelle und soziokulturelle Einflüsse auf die Entscheidung für eine vegetarische Ernährungsweise werden nur randständig und oberflächlich behandelt. Die Bedeutung des Geschlechtskörpers und des Schönheitsideals zeigt sich auch deutlich beim Thema Essstörung. 90 Prozent der Betroffenen sind Mädchen und junge Frauen. Die Ursachen für solche Erkrankungen sind vielfältig, doch erscheint ein gestörtes Essverhalten vor allem bei Frauen als adäquates Mittel bestimmte Konflikte, Probleme und Defizite zu bewältigen. Auch hier deutet sich die enge Verbindung von Emotionen und Ernährung, Psyche und Physis an, die sich in der frühesten Kindheit ausbildet und weit darüber hinaus wirkt. Sind emotionale Spannungen und psychische Probleme vorhanden, können sich diese gerade bei Frauen

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in Essstörungen manifestieren, als geschlechtskonforme, weibliche Entlastungsstrategie. Das Geschlecht ist ein zentraler und bedeutender Faktor für das Ernährungsverhalten und kommt am deutlichsten in der Pubertät zu tragen, wenn biologische Unterschiede offensichtlich und sexualisierte Geschlechtsidentitäten mit ihren dazugehörigen Körper- und Schönheitsidealen konstruiert werden, welche für Frauen viel bedeutender, einschränkender und zwingender sind. Teilweise so sehr, dass manche junge Mädchen und Frauen die Grenzen des Gesunden überschreiten, sich krank hungern und dabei ihre Gesundheit schädigen. Dabei ist Gesundheit mittlerweile das höchste Gut der Gesellschaft, in dessen Namen Einfluss und Kontrolle auf Ernährung und Körper der Menschen genommen wird und an dessen Vorrangstellung sich die Gesellschaft ausrichtet. Gesundheit wird moralische Pflicht und Heilsversprechen und nimmt dabei teilweise quasi religiöse Züge an. Sie wurde zu einem von Lebenslage und Schicht unabhängigen, übergreifenden Wert und Leitbild für die Bevölkerung. Das Individuum wird nun in die Verantwortung genommen, ist durch sein Ernährungs- und Kaufverhalten verantwortlich für seine Gesundheit und eine intakte Umwelt. Dem Einzelnen wird eine Verantwortung aufgebürdet, der er meines Erachtens kaum gerecht werden kann, da er hilflos vor unzähligen Lebensmitteln und Kaufentscheidungen steht, deren Tragweite und Risiken sich kaum überblicken, geschweige denn kontrollieren lassen. Durch die Risikogesellschaft mit ihren neuen, selbstproduzierten Risiken wandelte sich die Gesellschaft, etablierten sich neue, postmaterielle Werte und eine neue, ökologische Sensibilität, mit der von nun an versucht wird, die neuen Risiken zu begrenzen und einzudämmen. Wachsender Wohlstand, die Industrialisierung der Landwirtschaft sowie technische Neuerungen wandelten Haushaltsführung und Ernährungsweise genauso wie gewandelte Geschlechterrollen und veränderte Familien- und Lebensformen. Das Primat der Gesundheit führte dazu, dass Ernährung gesund sein sollte. Die ökologische Sensibilität der Risikogesellschaft erweiterte dies langsam um die Vorgabe, dass Ernährung auch ökologisch sinnvoll und nachhaltig sein sollte. Gesamtgesellschaftlich durchsetzen konnten sich diese beiden Prämissen dann in Verbindung mit dem Genussaspekt, den die Erlebnisgesellschaft mit sich brachte. Der ›rationale‹ Ansatz einer gesunden und nachhaltigen Ernährung wurde erst durchsetzungsfähig, indem er sich mit der emotionalen Komponente (einmal mehr!) des Genusses verband. Durch den Genuss wurde die Ernährung zu einem Lebensstil mit dem Persönlichkeit ausgedrückt und Distinktion geübt werden konnte. Die Genuss-Qualität wurde nun entscheidend für den Status von Nahrungsmitteln und derer, die sie konsumieren, kombiniert mit den Merkmalen einer gesunden, nachhaltigen Produktion. Der Genuss in seiner immateriellen und innenorientierten Prägung schuf neue Distinktionsmöglichkeiten. Das Gewöhnliche, Einfache wurde zum exklusiven Besonderen und das zeigt sich auch am Preis. Ein solcher Ernährungsstil korreliert dem-

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entsprechend auch deutlich mit höheren Bildungsabschlüssen und Einkommen. Der Konsum handwerklich erzeugter Nahrungsmittel, von biologisch erzeugtem Obst und Gemüse über hochqualitativem Fleisch aus artgerechter Haltung ist einer finanzstärkeren Minderheit vorbehalten. Eben aus diesem Grunde komme ich in dieser Arbeit zu dem Schluss, dass es sich nicht um einen eigenständigen, naturgemäßen Geschmacksstil handelt. Freiwillige Mäßigung, Askese und Enthaltsamkeit – Attribute, die den naturgemäßen Lebensstil nach Barlösius ausmachen – treffen auf den heutigen ökologisch-nachhaltigen (Leit-)Lebensstil nicht zu. Es ist Luxus, sich frisches, ökologisch erzeugtes Obst und Gemüse zu kaufen, sich nur regional und von handwerklich arbeitenden Erzeugern mit Wurst, Fleisch und Käse einzudecken. Der nachhaltige Konsum von Lebensmitteln hat dabei natürlich auch eine moralische Komponente, die jedoch im höchsten Grade distinktiv wirkt. Der gute Geschmack, der gute, moralische Konsum ist nur einer kleinen, besserverdienenden Minderheit vorbehalten. Diese Menschen sind sensibilisiert bezüglich Ökologie, Ernährungsfragen und Risikobewusstsein. Umgekehrt ist in den unteren Schichten ein eher geringes Bewusstsein für Umwelt- und Ernährungsfragen sowie für damit verbundene Risiken festzustellen. Aufgrund ihrer Diskursmacht gelingt es diesem wohlhabenden Teil der Bevölkerung sowohl den guten, moralischen Konsum als auch die Risiken zu definieren und gleichzeitig abweichendes Verhalten als schädigend, riskant, maß- und verantwortungslos abzuwerten. Durch diese Individualisierung und Moralisierung wird versucht, Distinktion und moralische Überlegenheit zu erzielen. Gesundheit, Ökologie und Genuss ist der Dreiklang einer Ernährungsweise, welche zum Leitbild unserer Gesellschaft geworden ist, obwohl nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sowohl Willens als auch in der Lage ist, diesen in der Realität auch umzusetzen. Die immer häufiger geforderte Verantwortung des mündigen Verbrauchers, der durch seinen Einkauf darüber entscheidet, ist aus diesem Grund ein zwar wünschenswerter Ansatz, der aber in der Realität nicht so einfach zu erfüllen ist. Bei Gammelfleisch-Skandalen zeigt sich schnell die zynische Einstellung, dass, wer für so wenig Geld sein Fleisch in Supermarkttheken und Discountern kauft, sich nicht darüber wundern müsse, dass das Fleisch nicht genießbar ist. Selbstsicher und selbstzufrieden gehen solche Menschen zum Metzger ihres Vertrauens, zahlen einen höheren Preis und sind sich sicher, dass sie dafür auch eine hohe Qualität erhalten. Diese Selbstsicherheit endet aber schnell, wenn EHEC-Bakterien die Menschen in Scharen ins Krankenhaus befördern und zum Teil tödliche Folgen haben. Man verzichtet von nun an auf die sonst gerne gekauften, weil so gesunden Salate, Tomaten und Gurken, um dann festzustellen, dass sich das Bakterium auf – aus ernährungsphysiologischer Sicht sehr gesunden – Sprossen von einem nachhaltig ökologisch bewirtschafteten Hof ausbreiteten. Der Verbraucher ist machtlos, das Risiko nicht vorhersehbar und durch verantwortungsvollen Konsum nicht zu vermeiden.

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Tatsache ist, dass es immer solche Risiken gab und geben wird. Wer Rohmilchkäse oder rohes Fleisch isst, geht immer auch ein (sehr geringes) Risiko ein, EHECBakterien oder Listerien aufzunehmen und viele Verbraucher sind dazu bereit, um einzigartige Geschmackserlebnisse zu genießen. Dass solche Risiken möglichst klein gehalten werden, ist meiner Meinung nach Aufgabe der Politik. Dies kann durch strenge Hygieneauflagen und scharfe Kontrollen der Fall sein, kann beim Dioxin-Problem durch eine lückenlose Dokumentation und Kontrolle von Futtermitteln und dessen Herstellern geschehen aber auch durch die Veröffentlichung von Produktnamen und Herstellern im Falle von Etikettenschwindel. Die Politik muss hier Verantwortung übernehmen und kann diese nicht auf den Verbraucher abwälzen. Sei er auch noch so mündig, diese Probleme sind struktureller Art und können nicht individuell gelöst werden. Der Verbraucher ist ja nicht einmal den legalen Tricks und Täuschungen gewachsen, wenn er nicht über intensive Kenntnisse des Lebensmittelrechts verfügt. Wo »frei von kennzeichnungspflichtigen Geschmacksverstärkern« steht, darf geschmacksverstärkender Hefeextrakt enthalten sein. Das Fleisch für den geschützten Schwarzwälder Schinken muss nicht aus dem Schwarzwald, nicht einmal aus Baden-Württemberg sein, sondern stammt größtenteils aus Norddeutschland und dem europäischen Ausland. Wer wissen will, ob sein Mittagsessen in der Kantine Käse oder Schinkenimitat enthält, muss kleingedruckte Zutatenlisten durcharbeiten. Auch hier muss der Staat für mehr Transparenz sorgen, klare Regeln festlegen, die keine Schlupflöcher für Tricks und Halbwahrheiten bieten, sowie eine eindeutige Kennzeichnung einführen, die für jedermann verständlich ist. Hier sollten zukünftig Bedürfnisse und Interessen der Verbraucher vorrangig vor denen der Nahrungsmittelindustrie sein. Allerdings ist der Verbraucher nicht gänzlich ohnmächtig. Abseits solcher Problemfelder existiert auch eine gewisse Verbrauchermacht, die durchaus Einfluss auf den Ernährungsmarkt nehmen kann (inwieweit das gelingen kann ist eine offene, umstrittene Frage). Die Probleme der Massentierhaltung, der Monokulturen, der intensiven Bewirtschaftung mitsamt einhergehendem massivem Einsatz von Düngeund Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft treten immer offener und häufiger zutage, wie die wachsende Erkenntnis, dass das Profitstreben in der Lebensmittelindustrie mit dem ständigen Bemühen, die Produktionskosten zu senken auch auf Kosten der Qualität gehen kann. Vermehrt wird der Ruf nach einer nachhaltigen Umwelt- und sozialverträglichen Ernährungsweise laut. Eine solche Ernährungsweise bevorzugt saisonale, pflanzliche und frische Lebensmittel aus ökologischer, regionaler Herkunft und meidet energieintensiv verarbeitete, mit chemischen Zusatzstoffen angereicherte Fertigprodukte und Tiefkühlkost (vgl. Gottwald 2011, S. 175). Wenn sich diese Ansicht durchsetzen soll, bedarf es vor allem einer Aufklärung, die nicht nur den ökologischen und (agrar-)politischen Kontext aufgreift oder ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse verbreitet, sondern den Menschen, als Ad-

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ressat dieser Aufklärung, in seinem sozialen Kontext begreift und diesen als Inhalt der Aufklärung miteinbezieht. Information und Wissen sind notwendige Voraussetzungen einer nachhaltigen Ernährung, wie der Ernährungsethiker Franz-Theo Gottwald schreibt: »Auch hier spielt die Informiertheit der Verbraucher eine große Rolle, aber auch der Wille, sich entsprechend zu informieren und nach diesem Wissen zu handeln« (Gottwald 2011, S. 147). Dem möchte ich hinzufügen, dass man dem Verbraucher auch die Möglichkeit geben muss, Informationen zu erhalten, zu verarbeiten und zu verstehen und er es sich auch leisten kann, danach zu handeln. Vor allem aber muss auch die Einsicht wachsen, dass das Ernährungsverhalten nicht nur über rationale Einsicht und Vernunft zu steuern ist, sondern in großem Maß auch von unbewussten, emotionalen Prägungen und vom sozial geformten Habitus abhängt. Wer das Ernährungsverhalten langfristig ändern will, muss auf den Habitus, auf die Gewohnheiten einwirken, am besten schon dann, wenn sie am Entstehen sind. Aufklärung und Wissensvermittlung in Kitas und Schulen und kostenloses und qualitativ hochwertiges Schulessen in Gemeinschaft sind geeignete Mittel, um die Wertschätzung für Lebensmittel und Ernährung früh und dauerhaft zu etablieren, und wirken weit besser als alle Appelle an die Vernunft in späteren Jahren. Der prägende soziale Charakter der Ernährung muss in seiner Bedeutung begriffen werden und politische, ökologische oder medizinische Sichtweisen auf Augenhöhe ergänzen. Nur dann kann sich eine nachhaltige Ernährungsweise gesamtgesellschaftlich durchsetzen, ohne sich vornehmlich in Statusgeplänkel und Distinktion zu erschöpfen. Wer im Lokal regional und saisonal speist, sich darüber informiert, ob das Gemüse ökologisch produziert wurde und sich über die Haltungsund Lebensbedingungen des Tieres, welches er verspeist und welchem ein glückliches Leben zugestanden wird, erkundigt, sich aber nicht dafür interessiert, wie die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung des Küchenteams sind, gaukelt Nachhaltigkeit vor, hat jedoch nichts von ihr begriffen. Auch in der wissenschaftlichen Forschung gibt es Themenbereiche, die noch kaum verstanden sind und einer genaueren Untersuchung bedürfen. Die in dieser Arbeit aufgestellte Hypothese von der fundamentalen Bedeutung der ersten emotionalen Ernährungserfahrungen in der frühesten Kindheit bietet einen Ansatz für weitere Forschung. Es stellt sich dabei auch die Frage, wie das Verhältnis von individueller frühkindlicher Erfahrung und gesellschaftlich produziertem, schichtspezifischem Habitus zu gewichten ist. Die emotionale Bedeutung von Ernährung ist jedoch nicht nur in der frühesten Lebensphase von Interesse, sondern auch im hohen Alter. Während die physiologischen Bedürfnisse im Alter der Forschung gut bekannt sind, ist der Einfluss der emotionale Bedeutung und der sozialen Funktion der Ernährung im Alter nur rudimentär erforscht und bietet Ansatzpunkte insbesondere auch für interdisziplinäre Forschungsprojekte von Soziologie und Psychologie. Die Hypothese, dass ein vegetarischer Lebensstil auch als Ausdruck eines männlich dominierten Geschlechterverhältnisses interpretiert werden kann, wird

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manchem als provokant erscheinen. Die Frage jedoch, wieso der ehemals männlich dominerte Vegetarismus heute Großteils eine weibliche Bewegung ist, muss jedoch auch vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Auch in Anbetracht des global wachsenden Hungers nach Fleisch mitsamt seinen sozioökologischen Konsequenzen ist ein Lebensstil, der auf den Konsum von Fleisch verzichtet, eine tiefergehende wissenschaftliche Auseinandersetzung wert. Auch an wirklich repräsentativen, unabhängigen quantitativen Studien zum Themenkomplex Vegetarismus mangelt es meines Erachtens. In wie weit sich der angesprochene Dreiklang einer gesunden, nachhaltigen und genussvollen Ernährung auch gesamtgesellschaftlich umsetzen lässt, ist offen. Momentan ist es der Lebensstil einer gebildeten, finanzkräftigen Minderheit, und es bleibt zu beobachten, ob sich der Anspruch in Distinktionsgehabe erschöpft oder darüber hinaus kommt und für breite Gesellschaftsschichten realisierbar wird. Ich hoffe, mit der vorliegenden Arbeit einen Überblick über den Stand der Forschung ermöglicht und natürlich auch diesen um einige Erkenntnisse, Ideen und Denkanstöße bereichert zu haben. Dass noch viele Fragen offen bleiben, zeigt die Notwendigkeit einer Soziologie der Ernährung.

11. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Struktur der Sozialisationsbedingungen | 15 Abbildung 2: Phasen des Sozialisationsprozesses | 16 Abbildung 3: Habituskonzept Bourdieu | 27 Abbildung 4: Wissensformen im episodischen Interview | 65 Abbildung 5: Datensorten im episodischen Interview | 67 Abbildung 6: Kurzporträts der interviewten Personen | 73 Abbildung 7: Biographische Fallrekonstruktion | 79 Abbildung 8: Tabellarische Typendarstellung | 126 Abbildung 9: Psychosexuelle Phasen in der frühen Kindheit | 131 Abbildung 10: Erziehungsratschläge | 153 Abbildung 11: Ernährungsdarstellung im TV | 173 Abbildung 12: Gesundheitsverhalten und soziale Ungleichheit | 180 Abbildung 13: Verzehrhäufigkeit von Gemüse nach Alter und Geschlecht | 191 Abbildung 14: Verzehrhäufigkeit von Fleisch nach Alter und Geschlecht | 191 Abbildung 15: Geschlechtsspezifische Speisepräferenzen | 192 Abbildung 16: Altersstruktur der Vegetarier | 197 Abbildung 17: Alkoholkonsum nach Geschlecht | 205 Abbildung 18: Dimensionen und Funktionen der Ernährung | 216 Abbildung 19: Ernährungsverhalten nach sozialer Ungleichheit | 220 Abbildung 20: Adipositas und Sozialstatus | 221 Abbildung 21: Ursachen von Adipositas | 222 Abbildung 22: Bedürfnispyramide nach Maslow | 273 Abbildung 23: Sinus Milieus in Deutschlands 2009 | 289 Abbildung 24: Gesellschaftliche Einflussfaktoren der Ernährung | 301 Abbildung 25: Bedürfnispyramide der Ernährung | 302 Abbildung 26: Altersspezifische Veränderungen im Nahrungsmittelverzehr | 324 Abbildung 27: Kreislauf der Mangelernährung | 329

12. Literaturverzeichnis

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13. Danksagung

Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern Herbert und Wally, die mir immer die Freiheit ließen, mich nach meinen Vorstellungen zu entwickeln. Ohne sie wären mein Studium und meine Doktorarbeit kaum möglich gewesen. Auch meine Geschwister Christian, Alexander, Manuel, Daniel und Julia haben, jeder auf seine Art und Weise, viel dazu beigetragen, diese Disseration zu vollenden. Meiner Großmutter Walburga Witka danke ich für die erholsamen Stunden in ihrem Garten. Großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Giegler, der mir nicht nur die Möglichkeit zur Promotion anbot, sondern sie auch mit viel Zeitaufwand und Engagement begleitete. Seine fachlichen Anregungen und Kritiken genauso wie die leidenschaftlich geführten Diskussionen waren immer gewinnbringend für diese Arbeit. Danken möchte ich auch Frau Prof. Dr. Döring-Manteufel, die trotz hoher Belastung als Präsidentin der Universität die Zweitkorrektur übernahm, sowie Herrn Prof. Dr. Gottwald für sein Interesse und seine Bereitschaft als Drittprüfer zu fungieren. Auch den Interviewpartnern danke ich sehr für Ihre Offenheit und Bereitschaft zum Gespräch. Herzlicher Dank gebührt nicht zuletzt: Jochen und Brigit Müller, Andrea Amato, Dan Krammer, Marina Mayr, Dr. Iris Kramer, Dr. Alexander Jungmann, Anna Pam, Familie Späth, Familie Kuttner und Dr. Sophia Becher. Jeder von Ihnen weiß wofür.

X-Texte bei transcript Harald Lemke

Politik des Essens Wovon die Welt von morgen lebt

2012, 344 Seiten, kart., 27,80 E, ISBN 978-3-8376-1845-7 Nahrungskrisen, Hungerunruhen, Klimakatastrophen, Discountgiganten, Gentechnik-Industrie, Lebensmittelskandale, Fettsuchtpandemie – das Unbehagen in der globalen Esskultur wächst täglich und überall. Und immer mehr Menschen haben diese Verhältnisse offenbar satt. Harald Lemke beleuchtet zentrale Welt- und Selbstbezüge des Essens, die mit zeitgenössischen Fragen des Politischen in Verbindung stehen. Dabei zeigt er: Ob der Welthunger oder die Klimagerechtigkeit, ob der soziale Kampf um Ernährungssouveränität und das Recht auf Städte aus Gärten – die Zukunft der Menschheit hängt ganz entscheidend vom gesellschaftlichen Umgang mit der Nahrungsfrage ab.

www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf t Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Heft 1/2012

2012, 206 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Essen ist nicht nur eine physiologische Notwendigkeit für alle Lebewesen, sondern integriert zudem fast alle Bereiche des sozialen und kulturellen Verstehens, Deutens und Handelns: Es ist anthropologische Konstante – und doch zugleich kulturell, sozial, ökonomisch, sogar politisch und nicht selten erotisch konnotiert. Essen (und damit auch Geschmack, Sitten, aber auch Magie und Ritual) bestimmt Prozesse der Inklusion und Exklusion, markiert Identität und überschreitet zugleich geographische, soziale und ethnische Grenzen. Die Beiträge des Heftes zeigen: Im Kontext der Globalisierung ist »Essen« seit einigen Jahren ein Feld genuin kulturwissenschaftlicher Forschung geworden, das auch ökologische Ansätze, kritische Positionen und politische Stimmen mit einschließt.

www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Juni 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 November 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Oktober 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus Mai 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Mai 2013, 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

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Kultur und soziale Praxis Anil Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Januar 2013, 406 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2

Gesa Anne Busche Über-Leben nach Folter und Flucht Resilienz kurdischer Frauen in Deutschland Februar 2013, 268 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2296-6

Matthias Forcher-Mayr Fragile Übergänge Junge Männer, Gewalt und HIV/AIDS. Zur Bewältigung chronischer Arbeitslosigkeit in einem südafrikanischen Township Juli 2013, ca. 450 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2302-4

Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5

Susann Huschke Kranksein in der Illegalität Undokumentierte Lateinamerikaner/ -innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie Mai 2013, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2393-2

Marcus Michaelsen Wir sind die Medien Internet und politischer Wandel in Iran April 2013, 352 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2311-6

Valerie Moser Bildende Kunst als soziales Feld Eine Studie über die Berliner Szene Mai 2013, 346 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2331-4

Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hg.) Grenzüberschreitungen Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik Juni 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2260-7

Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas August 2013, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4

Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1

Irini Siouti Transnationale Biographien Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten März 2013, 254 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2006-1

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