Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis: Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff 9783631640258, 9783653023145, 3631640250

Abraham Geiger ist vor allem als Reformrabbiner und damit als zentrale impulsgebende Persönlichkeit der jüdischen Reform

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Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis: Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff
 9783631640258, 9783653023145, 3631640250

Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Verzeichnis der Sigla
Einleitung
Hinführung
1. Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigenJudentums
1.1 Makrokosmos: Das Judentum zwischen Gleichberechtigungund Diskriminierung
1.2 Mikrokosmos: Das Judentum im Spannungsfeldvon Tradition und Moderne
2. Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff
I. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaftdes Judentums
1. Annäherung an den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums
2. Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess
2.1 Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis imReformprozess
2.2 Systematisch-normativ: Die Bedeutung der jüdischenWesensformel im Reformprozess
2.3 Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung imReformprozess
2.3.1 Vorbereitung und Steuerung des Reformprozesses
2.3.2 Praktische Durchführung des Reformprozesses
2.3.2.1 Rabbiner als ‚Agenten‘ der Reform
2.3.2.2 Rabbinerversammlungen als Institutionen professioneller Reflexion
3. Methodik der Wissenschaft des Judentums
4. Disziplinäre Aufgliederungen
4.1 Disziplinen der jüdischen Theologie
4.1.1 „Der rein theoretische oder philosophische Theil“
4.1.2 „Der historische Theil“
4.1.2.1 „Die biblische Theologie“
4.1.2.2 „Die nachbiblische Theologie“
4.1.2.3 „Die neuere Theologie“
4.1.3 „Der praktische Theil“
4.2 Disziplinen der Wissenschaft des Judentums
4.2.1 „Der sprachwissenschaftliche Theil“
4.2.2 Der „historische[ ] […] Theil“
4.2.2.1 „Zeit der Offenbarung“
4.2.2.2 „Zeit der Tradition
4.2.2.3 „Zeit der starren Gesetzlichkeit“
4.2.2.4 „Zeitalter der Kritik“
4.3 Vergleichende Zusammenschau der disziplinärenAufgliederungen
II. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums
1. Wissenschaftliche Einrichtungen
1.1 Idee
1.1.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“
1.1.2 Die „höhere[ ] Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“
1.2 Umsetzung(sversuche)
1.2.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“
1.2.2 Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
1.2.2.1 Gründung
1.2.2.2 Profil
1.2.2.3 Bedeutung
2. Wissenschaftliche Periodika
2.1 Idee
2.2 Umsetzung
2.2.1 Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie
2.2.2 Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben
III. Hauptteil: Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis
1. Innerjüdischer Kontext
1.1 Leopold Zunz’ Verständnis der Wissenschaft des Judentums
1.2 Das Wissenschaftsverständnis des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden
1.3 Immanuel Wolfs Verständnis der Wissenschaft des Judentums
1.4 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext der ersten innerjüdischen Wissenschaftsverständnisse
2. Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis der evangelischen Theologie
2.1 Die Kurze Darstellung als zentrale wissenschaftsprogrammatischeSchrift
2.1.1 Schleiermachers Wissenschaftsbegriff
2.1.2 Schleiermachers Theologiebegriff
2.1.2.1 Allgemeine Merkmale
2.1.2.2 Disziplinäre Aufgliederung
2.1.2.3 Bedeutung für die Kirchen(um)gestaltung
2.2 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext von Schleiermachers Wissenschaftsverständnis
Epilog
Literaturverzeichnis

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II -

PETER LANG EDITION

Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis

Beiträge zur rationalen Theologie Begründet von Falk Wagner † Fortgeführt von Ulrich Barth und Jörg Dierken

Band XX

Imke Stallmann

Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Osnabrück, Univ., Diss., 2011

D 700 ISSN 0943-4151 ISBN 978-3-631-64025-8 (Print) ISBN 978-3-653-02314-5 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-02314-5 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2013 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ............................................................................................................ 9 Verzeichnis der Sigla ....................................................................................... 11 Einleitung ......................................................................................................... 17 Hinführung ...................................................................................................... 33 1. Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums ................. 34 1.1 Makrokosmos: Das Judentum zwischen Gleichberechtigung und Diskriminierung ............................................................................ 35 1.2 Mikrokosmos: Das Judentum im Spannungsfeld von Tradition und Moderne ........................................................................................ 43 2. Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff ................................................. 55 I. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums ................................................ 63 1. Annäherung an den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums ............................................................................................. 63 2. Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess ....................................................................................... 88 2.1 Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis im Reformprozess ................................................................................. 91 2.2 Systematisch-normativ: Die Bedeutung der jüdischen Wesensformel im Reformprozess ......................................................... 96 2.3 Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess ................................................................................. 102 2.3.1 Vorbereitung und Steuerung des Reformprozesses .................... 105 2.3.2 Praktische Durchführung des Reformprozesses ........................ 108 2.3.2.1 Rabbiner als ‚Agenten‘ der Reform ............................... 108 2.3.2.2 Rabbinerversammlungen als Institutionen professioneller Reflexion ................................................ 111 3. Methodik der Wissenschaft des Judentums ................................................ 123 4. Disziplinäre Aufgliederungen ..................................................................... 138 4.1 Disziplinen der jüdischen Theologie .................................................... 139

6Inhaltsverzeichnis 4.1.1 „Der rein theoretische oder philosophische Theil“ .................... 143 4.1.2 „Der historische Theil“ ............................................................... 147 4.1.2.1 „Die biblische Theologie“ .............................................. 150 4.1.2.2 „Die nachbiblische Theologie“ ...................................... 152 4.1.2.3 „Die neuere Theologie“ ................................................. 157 4.1.3 „Der praktische Theil“ ................................................................ 161 4.2 Disziplinen der Wissenschaft des Judentums ....................................... 170 4.2.1 „Der sprachwissenschaftliche Theil“ .......................................... 173 4.2.2 Der „historische[ ] […] Theil“ ..................................................... 178 4.2.2.1 „Zeit der Offenbarung“ .................................................. 181 4.2.2.2 „Zeit der Tradition“ ........................................................ 183 4.2.2.3 „Zeit der starren Gesetzlichkeit“ ................................... 188 4.2.2.4 „Zeitalter der Kritik“ ..................................................... 191 4.3 Vergleichende Zusammenschau der disziplinären Aufgliederungen ... 194 II. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums .............................................. 203 1. Wissenschaftliche Einrichtungen ................................................................. 204 1.1 Idee ....................................................................................................... 207 1.1.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“ ........................................... 207 1.1.2 Die „höhere[ ] Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ ........................................................................... 218 1.2 Umsetzung(sversuche) .......................................................................... 227 1.2.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“ ........................................... 227 1.2.2 Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ................ 236 1.2.2.1 Gründung ....................................................................... 237 1.2.2.2 Profil ............................................................................... 240 1.2.2.3 Bedeutung ...................................................................... 251 2. Wissenschaftliche Periodika ....................................................................... 264 2.1 Idee ....................................................................................................... 267 2.2 Umsetzung ............................................................................................ 276 2.2.1 Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie ................ 276 2.2.2 Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben ....................... 291 III. Hauptteil: Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis .... 303 1. Innerjüdischer Kontext ................................................................................ 304 1.1 Leopold Zunz’ Verständnis der Wissenschaft des Judentums ............. 305 1.2 Das Wissenschaftsverständnis des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden ........................................................................ 308 1.3 Immanuel Wolfs Verständnis der Wissenschaft des Judentums .......... 311

Inhaltsverzeichnis7 1.4 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext der ersten innerjüdischen Wissenschaftsverständnisse ........................ 313 2. Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis der evangelischen Theologie ....................................................................... 315 2.1 Die Kurze Darstellung als zentrale wissenschaftsprogrammatische Schrift ................................................ 316 2.1.1 Schleiermachers Wissenschaftsbegriff ....................................... 319 2.1.2 Schleiermachers Theologiebegriff .............................................. 323 2.1.2.1 Allgemeine Merkmale ................................................... 323 2.1.2.2 Disziplinäre Aufgliederung ........................................... 329 2.1.2.3 Bedeutung für die Kirchen(um)gestaltung ..................... 342 2.2 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext von Schleiermachers Wissenschaftsverständnis ......................................... 344 Epilog ............................................................................................................... 361 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 393

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/11 vom Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück als Dissertation mit dem Titel „Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. Eine Studie zur Konzeptionalisierung, Institutionalisierung und Kontextualisierung der Wissenschaft des Judentums“ angenommen. Für die Drucklegung wurde die Promotionsarbeit geringfügig überarbeitet. Die Große Disputation fand am 15. August 2011 statt. Im Rückblick auf die vergangenen Jahre, in denen die Dissertation entstand, möchte ich am Ende all denen herzlich danken, die mich begleitet und unterstützt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Arnulf von Scheliha, der mich dazu ermutigte, diese Dissertation zu schreiben, mir mit konstruktiven Anregungen und Hinweisen stets hilfreich zur Seite stand und maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die mitunter auch anstrengende Zeit für mich insgesamt eine erfüllende und interessante war. Herrn Prof. Dr. Martin H. Jung danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Ulrich Barth und Herrn Prof. Dr. Jörg Dierken für die Aufnahme meiner Promotionsarbeit in die Schriftenreihe „Beiträge zur rationalen Theologie“. Frau Kathrin Kummer und Herrn Michael Rücker vom Peter Lang Verlag gilt mein Dank für die gute Zusammenarbeit im Zuge der Veröffentlichung. Besonders danke ich meiner Familie und meinen Freunden, die mich auf unterschiedliche Weise immer wieder bestärkten und unterstützten sowie viel Verständnis für mein zeitintensives Promotionsprojekt zeigten. Ganz besonders danken möchte ich Almut Schrovenwever, Iris Vogt und Alexander Dölecke, die trotz ihres eigenen beruflichen Eingebunden-Seins das Entstehen meiner Dissertation mit Interesse und hilfreichen Denkanstößen begleitet und sie zudem Korrektur gelesen haben. Osnabrück im November 2012

Imke Stallmann

Verzeichnis der Sigla

In dieser Studie werden Zitate aus Geigers und Schleiermachers Schriften mit Sigla versehen und direkt im Haupttext mit Nennung der Seiten- oder Paragraphenzahl belegt. Die gebrauchten Sigla können mithilfe dieses Verzeichnisses unter Hinzuziehung des Literaturverzeichnisses entschlüsselt werden. Titel ohne Verfasserangabe stammen von Geiger, in Klammern steht das Abfassungsjahr. A Ansprache an meine Gemeinde (1842) AF Das Arbeitsverbot an den Festtagen (1864/65) AG Die Aufgabe der Gegenwart (1844) AJ Ueber den Austritt aus dem Judenthume (1858) AJG Anhang. Jüdische Geschichte von 1830 bis zur Gegenwart (1849/50) AR Alte Romantik, neue Reaktion (1862) ARVI–III Einige Ansichten über die nächste Rabbinerversammlung (1845) AS Aktenstücke zur dritten Rabbinerversammlung (1846) AVR Anträge an die dritte Versammlung deutscher Rabbiner (1846) BA Der Boden zur Aussaat (1862) BBI–II Bruno Bauer und die Juden (1844) BEx Zur Geschichte der Bibel-Exegese (1870) BGO Die Begleitung des gottesdienstlichen Gesangs durch die Orgel (1862) BK Bibelkritisches (1863) BLJ Ein Blick auf die neueren Bearbeitungen des Lebens Jesu (1865) BSR Die verschiedenen Betrachtungsweisen: der Schriftsteller und der Rabbiner (1839) CGJ Christliche Gelehrsamkeit und Judenthum (1864/65) CZ Christlich-theologische Zeitschriften (1869) EbS Einleitung in die biblischen Schriften (1872–74)

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Verzeichnis der Sigla

EC *Entstehung des Christenthums (1875)1 EGGI–III Entwurf zu Gebetbuch und Gottesdienstreform (1849) ETh Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie (1849) Ethik (Einl u. Gtl: 1812/13) Schleiermacher, Ethik (Einleitung und Güterlehre: 1812/13) Ethik (Einl u. GtlI: 1816) Schleiermacher, Ethik (Einleitung und Güterlehre I: 1816) EWdJ Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums (1872–74) Ex Man treibt zum Extreme hin (1871) FacI Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit (1836) FacII Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät (1838) GB Die jüdische Gemeinde Berlin (1871) GelGed Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808) GG Grundzüge zu einem neuen Gebetbuch (1849/1861) GLI–III Alte jüdische Grammatiker und Lexikographen (1862–1865) GLP Gutachten zum Lehrplan (1870) GLR Die gegenwärtige Lage. Die wiedererstehende Rabbiner-Versammlung (1868) GLSII Zur Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft unter den Juden II (1871) GO Gutachten über die Orgel (1861) GtL Zur Geschichte der thalmudischen Lexikographie (1856) GV Gottesdienstlicher Vortrag (21. Juni 1838) GZ Glückwunschschreiben an Zunz (1864) HAR Heuchelei, die erste Anforderung an den jungen Rabbiner unserer Zeit (1835) HAT Der Hamburger Tempelstreit (1842) IT Isaak Troki (1853) JGI–III Das Judenthum und seine Geschichte (1865/71) JhL Juda ha-Levi (1851) 1

Alle mit * gekennzeichneten Titel nennen abweichend das Erscheinungsjahr.

Verzeichnis der Sigla13 JJ Die Judenheit und das Judenthum (1837) JL Jüdisch-theologische Lehranstalten (1871) JPh Jüdische Philosophie (1862) JZI–IV Jüdische Zeitschriften (1839/44) JZB Das Judenthum unserer Zeit und die Bestrebungen in ihm (1835) KBbS Kritische Behandlung der biblischen Schriften, namentlich ihres historischen Teiles (1869) KD1 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811) KD2  Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830) KL Karäische Literatur (1836) KoN Kommentar zu den Nachrichten aus Hamburg (1836) KTI–IV Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden (1835/36) Lb Literaturbriefe aus dem Jahre 1853 (1853) LE Die Levirats-Ehe, ihre Entstehung und Entwickelung (1862) LiS Litterarische Studien (1847) LkÜ Literarisch-kritische Uebersicht (1847) LM Lesestücke aus der Mischnah, mit Anmerkungen und einem Glossar versehn (1845) LP Lehrplan (1870) LSI–II Lexikographische Studien (1839) LSM Lehrbuch zur Sprache der Mischnah (1845) Mä Der 11. März 1862 (1862) MbM Moses ben Maimon (1850) MGJ Der Mangel an Glaubensinnigkeit in der jetzigen Judenheit (1835) MJ Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833) MJS Zum Mendelssohn-Jakobi Streite (1869) N Nachrichten (Die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät) (1839)

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Verzeichnis der Sigla

NF Die neuesten Fortschritte in der Erkenntniß der Entwickelungsgeschichte des Judenthums und der Entstehung des Christenthums (1867) OSH Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann (1865) PAM Einiges über Plan und Anordnung der Mischnah (1836) PKI–II Die protestantische Kirchenzeitung und der Fortschritt im Judenthume (1862/63) PRS Aus den Programmen der jüdischen Religionsschule in Breslau (1844/1846/1847/1849/1856/1858/1863) R1 Schleiermacher, Über die Religion (1799) RezZI–II Recension: Zur Geschichte und Literatur von Dr. Zunz (1846) RG Die Rabbiner der Gegenwart (1862) RRV Reden in der elften Sitzung der ersten Rabbinerversammlung am 19.6.1844 (1844) RS Die Rabbinerzusammenkunft. Sendschreiben an einen befreundeten jüdischen Geistlichen (1837) RTGI–II Die religiösen Thaten der Gegenwart im Judenthume (1847) RVF Reden und Anträge in den Sitzungen der zweiten Rabbinerversammlung am 16., 18., 20., 22.–25., 27.–28. Juli 1845 (1845) S 5 *Nachgelassene Schriften, Bd. 5 (1878) SB Die Stellung der hebräischen Bibel in der gegenwärtigen christlichen Theologie (1872) SE Statutenentwurf des Vereins für allgemeine Angelegenheiten des Judenthums (1865) SF Die Schleiermacher-Feier und die Juden (1869) SJ Die gesetzlichen Differenzen zwischen Samaritanern und Juden (1865) SP Sadducäer und Pharisäer (1863) SRV Sendschreiben an die Braunschweiger Rabbinerversammlung (1844) SSZ Ist der Streit in der Synagoge ein Zeichen von ihrem Zerfall oder von ihrem neuerwachten Leben? (1844) SÜB Symmachus, der Übersetzer der Bibel (1862) SwS Die Stellung des weiblichen Geschlechts in dem Judenthume unserer Zeit (1837)

Verzeichnis der Sigla15 Sy Von der Synode bis zur vertagten Synode (1870) TbH Der Talmud als bibelkritisches Hülfsmittel (1866) ThEnz Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie (1831/32) TL Thesen für die am 29. d. in Leipzig zusammentretende Versammlung (1869) TSK Theologische Studien und Kritiken (1862) TSS Die Theologie und Schrifterklärung der Samaritaner (1856) UG Unser Gottesdienst (1868) UUe Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums (1857) VB Vorläufiger Bericht über die Thätigkeit der dritten Versammlung deutscher Rabbiner (1846) VLP Die Versammlung zu Leipzig und die zu Philadelphia (1870) VRC Die Versammlung von Rabbinern in Cassel (1868) VSSI–II Das Verhältnis des natürlichen Schriftsinns zur thalmudischen Schriftdeutung (1844) WAJI–III Die wissenschaftliche Ausbildung des Judenthums in den zwei ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends bis zum Auftreten Maimonides (1835) WH *Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ (1875) WtN Was thut Noth? (1864/65) ZgL Zur gegenwärtigen Lage (1866) ZJ Die letzten zwei Jahre (1840) ZZ Zwei neue jüdische Zeitschriften (1867)

Einleitung

„Die Pflege der Wissenschaft ist selbst eine Leben spendende That. Allein es bedarf auch allerdings der entschiedenen Ausprägung der Ueberzeugung in allen Lebensformen, der praktischen Reform.“1

„Wissenschaft“ und „Reform“ sind die beiden Koordinaten, zwischen denen sich Abraham Geiger (1810–1874) zeit seines Lebens bewegt. „Wissenschaft“ und „Reform“ sind die beiden Triebfedern, die ihn durchgängig motivieren. „Wissenschaft“ und „Reform“ sind die beiden Momente, die Geiger beständig Erfüllung geben. Er widmet sich beiden Komponenten mit großer Leidenschaft, profunder Sachkenntnis und langem Atem. Beiden Größen kommt existentielle Bedeutung zu, beide Größen prägen sein Leben. Abraham Geiger, der „Fürst der Wissenschaft“2, der „vorbildliche[ ] Lehrer“3, der „Regenerator des modernen Judentums“4 und „gelehrte[ ] Provokateur“5, verschränkt „Wissenschaft“ und „Reform“ konstruktiv miteinander und ist damit Vordenker, ja mehr noch Vorkämpfer seiner Zeit. Geiger ist vor allem als Reformrabbiner und damit als zentrale impulsgebende Persönlichkeit der jüdischen Reformbewegung des 19. Jahrhunderts bekannt. Seine eigene Äußerung und die Titulierungen, die 1910 und 2010 anlässlich seines 100. beziehungsweise 200. Geburtstages formuliert worden sind, legen noch eine weitere Facette seiner Persönlichkeit offen: Geiger ist auch Gelehrter, der sein Leben in den Dienst der Wissenschaft stellt und diese unaufhörlich fördert. Geiger betreibt die „Pflege der Wissenschaft“ mit unermüdlichem Einsatz. Dies heißt für ihn zum einen, die Wissenschaft des Judentums durch eigene Forschungen aufzubauen und zu profilieren sowie durch die Lehre zu ver1

Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 352. Alle Zitate in dieser Studie werden nicht an die gängigen orthographischen Standards angepasst, sondern in ihrer Originalform belassen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Schreibweise vor allem bei Bezeichnungen von Einrichtungen und Zeitschriften variiert. 2 Elbogen, Rede bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910, 53. 3 Ebd. 4 Klein, Rede bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910, 68. 5 Beyrodt, Gelehrter Provokateur, 19.

18Einleitung mitteln und zu verbreiten. Zum anderen versteht er darunter die konzeptionelle und institutionelle Grundlegung der Wissenschaft des Judentums, die er durch seinen Wissenschaftsentwurf leistet. Geiger legt also gelehrte Studien vor und wirkt zugleich als Wissenschaftsprogrammatiker. Als Reformrabbiner will er die Weiterentwicklung des Judentums befördern, insofern er beständig „praktische[ ] Reform[en]“ innerhalb der jüdischen Frömmigkeitspraxis initiiert, konzipiert und umsetzt. Die vorliegende Studie richtet ihr Augenmerk auf die „Pflege der Wissenschaft“, konkret auf Geigers wissenschaftsprogrammatisches Schaffen, insofern sie das Geigersche Wissenschaftsverständnis zu rekonstruieren und zu analysieren sucht. Geigers Bemühungen auf dem Feld der „praktischen Reform“ werden dabei aufgrund der konstitutiven Verschränkung von „Wissenschaft“ und „Reform“ stets mitgeführt. Um Geigers Wirken und sein Werk in ihrer Tiefe verstehen zu können, bedarf es einiger grundlegender Informationen zu seinem Leben. Im Folgenden sollen daher die für das Verständnis seiner Wissenschaftsprogrammatik einschlägigen biographischen Momente skizziert werden. Der Fokus liegt hierbei auf Geigers Jugend und seiner Studienzeit, da diese Jahre die Konzeption seines Wissenschaftsprogramms maßgeblich beeinflusst haben. Diese Untersuchung strengt also keine umfassende Biographie an, diese liegt bereits in Form von Ludwig Geigers (1848–1919)6 Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk (1910) vor.7 Abraham Geiger wird am 24. Mai 1810 in Frankfurt am Main als jüngstes Kind des Vorbeters und Lehrers Michel Lazarus Geiger (1755–1823) und Röschen Geiger, geb. Wallau (1768–1856)8, die einer Rabbinerfamilie entstammt, geboren. Seit dem 16. Jahrhundert lebt die angesehene Familie, die sich durch strenge Observanz auszeichnet, in Frankfurt am Main. Geiger erfährt eine traditionelle, orthodox ausgerichtete Erziehung, in der das Talmud-Studium und 6

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Ludwig Geiger ist das zweite Kind von Abraham Geiger und seiner Frau Emilie. Nach dem Studium der Philosophie, Philologie und Geschichte wirkt er als Literatur- und Kulturhistoriker und macht sich vor allem als Goethe-Forscher einen Namen. An der Berliner Universität lehrt er als Privatdozent, später auch als außerplanmäßiger Professor. Eine ordentliche Professur bekommt Geiger aufgrund seiner Religionszugehörigkeit nicht. 1908 wird er zum Geheimen Regierungsrat ernannt. Ludwig Geiger ist zudem Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums und des Goethe-Jahrbuchs (vgl. zu Ludwig Geiger: Herrmann, Ludwig Geiger; Holzhausen, Ludwig Geiger). Neben Ludwig Geigers Standardwerk gibt es noch weitere neuere biographische Darstellungen: Bomhoff, Abraham Geiger; Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 55–96. Weiterhin bietet Band 5 der Nachgelassenen Schriften biographische Informationen, da dort Auszüge aus Geigers Tagebuch, eine Auswahl an Briefen und eine biographische Skizze durch Ludwig Geiger zusammengestellt sind. Die Namen der Eltern variieren. Neben den genannten sind auch Michael Lazarus und Röschgen Geiger verbreitet.

Einleitung19 tiefe Frömmigkeit prägend und vorherrschend sind. Geiger schreibt dazu später in seinem Tagebuch: „[…] indem ich von Jugend an viel Frömmigkeit und Religiosität mit guten Eigenschaften des Geistes verband“9. Geiger bewertet seine eigenen intellektuellen Fähigkeiten demnach als gut, dieses Vertrauen in die eigenen Begabungen hält zeitlebens an. Von frühester Kindheit an wird Geiger von seinem älteren Bruder Salomon (1792–1878), einem Talmudisten, und von seinem Vater unterrichtet, sodass gelehrte Unterweisungen, Frömmigkeitsübungen und Gebete seinen Alltag bestimmen.10 Die Talmud-Schule verlässt Geiger aufgrund schlechter Lehrer und mangelnden Lernfortschritts nach nur zwei Jahren.11 Das Frankfurter Philanthropin erscheint für Geigers Eltern genau wie eine säkulare deutsche Schule nicht als Alternative. Ein staatlicher Bildungsabschluss ist ihm daher verwehrt. Obgleich Geiger später Privatunterricht in Griechisch und Latein erhält und Deutsch sowie Mathematik lernt, dominieren traditionelle jüdische Bildungsgüter.12 Seine fundierten jüdisch-theologischen Kenntnisse stammen also schon aus seiner Kindheit und Jugend. Vom aufgeklärten Zeitgeist bekommt Geiger zunächst nur wenig mit. Die eigene Lektüre deutsch-jüdischer Literatur und der Austausch mit seinen Freunden führen schließlich aber dazu, dass er eine differenziertere Sichtweise entwickelt, wie folgender Tagebucheintrag zeigt: „Tiefe Orthodoxie, deren Grund im Nichtnachdenken lag, beherrschte bis jetzt meinen Geist und war die Triebfeder aller meiner Handlungen. Doch mit meinem 11. Jahre erwachten Zweifel, die mit Ungestüm wider mich eindrangen, in meiner Brust. Ich las nämlich Becker’s Handbuch der Weltgeschichte. Obgleich es mir verboten war, die Geschichte der Juden zu lesen und ich auch dem Verbote nicht zuwiderhandelte, so weckte doch auch die griechische und römische Geschichte mein Nachdenken.“13 Diese Äußerung wird gemeinhin als frühester Beweis seiner historisch-kritischen Perspektive auf die jüdische Tradition gedeutet.14 Ob man diesen Tagebucheintrag tatsächlich als Indiz seiner im Kindes- beziehungsweise Jugendalter erwachten historisch-kritischen Haltung interpretieren und ob die Lektüre von Karl Friedrich Beckers Handbuch der Weltgeschichte als auslösendes Moment dafür gedeutet werden kann, sei hier dahin gestellt. Man 9 10 11 12 13

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Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1824, in: S 5, 3. Die Tagebucheinträge weisen nur selten eine exakte Datierung auf. Vgl. Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1824, in: S 5, 3 f. Vgl. a. a. O., 4. Vgl. a. a. O., 7. Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1824, in: S 5, 7. An anderer Stelle schreibt er: „Von Tag zu Tag reifte der Gedanke in meinem Geiste, dass doch mein bisheriger Glauben nicht fest gegründet sei, es ward heller in mir, bis endlich die Flamme der Aufklärung allen Unrath vernichtet hatte“ (a. a. O., 9). Vgl. zum Beispiel: Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, 118.

20Einleitung kann sicher so viel sagen, dass Geiger in seiner Jugend beginnt, sich kritisch und selbstständig mit der jüdischen Tradition und den religiösen Schriften auseinanderzusetzen und ein verstärktes Interesse an Geschichte zu entwickeln. Dadurch emanzipiert er sich von seiner Familie und dem jüdisch-orthodoxen Milieu. Sichtbaren Niederschlag findet diese neue aufgeklärte Gesinnung in seinen Jugendstudien zur Mischnah, in denen er die rabbinischen Texte historisch-kritisch betrachtet,15 und schließlich in seinem Studium der Orientalistik und Philologie an den Universitäten in Heidelberg und Bonn. Dass Geiger die deutsche Universität den jüdischen Jeschiboth vorzieht, stößt in seiner Familie auf wenig Verständnis und zeigt, dass er sich der strengreligiösen Umwelt immer mehr entzieht und sich stattdessen der modernen akademischen Welt öffnet. Geiger nimmt 1829 das Studium auf, um Rabbiner zu werden, also den Beruf zu ergreifen, auf den er von Geburt an vorbereitet wurde.16 Das wird seine Familie versöhnlich gestimmt haben. Zu einem wirklichen Bruch mit ihr ist es trotz divergierender Ansichten auch später nie gekommen. Geiger bewegt sich während seines Studiums im Spannungsfeld von Tradition und Moderne, von orthodoxem jüdischen und modernem akademischen Milieu, von religiöser Autorität und kritischer Reflexion. In einem Tagebucheintrag heißt es: „So ward ich nun bestimmt, die Theologie zu ergreifen. Aber ich hasste den Zwang und wurde, obgleich ich oft mit Leidenschaft den Gedanken einer einstigen theologischen Wirksamkeit verfolgte, durch den Ueberdruss an dem Studium des Thalmud oft von dieser Bestimmung abgewandt und zwar umsomehr, da schon einige Jahre hindurch das Studium der orientalischen Sprachen ein ausserordentliches Interesse für mich gewonnen hatte. Ich schwankte daher in grosser Ungewissheit, die jedoch darum nicht so sichtbar ward, weil beide Studien enge an einander grenzen.“17 Obgleich Geiger die praktische Tätigkeit in einer Gemeinde reizt und er der jüdischen Theologie Interesse entgegenbringt, kommen ihm immer wieder Zweifel. Er überlegt mehrfach, der Theologie den Rücken zu kehren,18 entschließt sich letztlich dazu, an seinem ursprünglichen Berufsziel des Rabbiners festzuhalten.19 Da die jüdi15

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In seinem Tagebuch heißt es hierzu: „Schon zu jener Zeit nämlich wurde mir klar, dass ebenso wie der Geist des Thalmud von dem der Bibel ganz verschieden ist, auch die beiden Theile des Thalmud, Mischnah und Gemara, weit von einander entfernt sind“ (Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1830, in: S 5, 13). So schreibt Geiger in seinem Tagebuch: „Ich hatte mich nämlich theils selbst […] zum Stande des Theologen bestimmt, theils war ich dazu durch meine Familie gedrängt worden, die meine Sinnesänderung in religiösen Dingen nicht ahnen durfte […]“ (a. a. O., 11). Ebd. Geiger berichtet auch von einem „innere[n] Kampf“ (a. a. O., 10). In seinem Tagebuch legt er daher dar: „Ich war von Heidelberg mit dem festen Entschlusse zurückgekommen, der Theologie Valet zu sagen und mich meinem Lieblingsstudium zu widmen“ (a. a. O., 17). Vgl. a. a. O., 18.

Einleitung21 sche Theologie nicht im universitären Fächerkanon verankert ist und die jüdischtheologischen Inhalte daher im Selbststudium anzueigenen sind, muss Geiger ohnehin Vorlesungen anderer Fächer besuchen, sodass sein über die Theologie hinausgehendes Interesse befriedigt wird. Geiger hört unter anderem Vorlesungen zur Archäologie, zur klassischen und orientalischen Philologie, zur Hebräischen Bibel, zur Anthropologie, zur Kultur- und Literaturgeschichte, zur Logik, zur Philosophie, zur Moralphilosophie, zur Alten Geschichte und zur Zoologie.20 Gemeinsam mit anderen jüdischen Studenten wie zum Beispiel Samson Raphael Hirsch (1808–1888)21 gründet Geiger einen „Rednerverein“22. Dort werden die Universitätsstudien um praktische Übungen wie das Predigen ergänzt, weiterhin wird Raum für jüdisch-theologische Diskussionen eröffnet und eine bessere Vorbereitung auf das Rabbinat realisiert. Geiger sucht offensichtlich nach kreativen Lösungen, um die fehlende universitäre Ausbildung von Rabbinern zu kompensieren. Während seines Studiums pflegt er ferner Kontakte zu Kommilitonen anderer Disziplinen und liest überdies zahlreiche wissenschaftliche und literarische Schriften, die weit über die Grenzen seiner Fächer hinausgehen. Er ist demnach offen für die vielfältigen akademischen Bildungsinhalte, schätzt das intellektuelle Klima und den interdisziplinären Austausch an der Universität und ist bestrebt, sich umfangreiches Wissen anzueignen. Da er in seiner Kindheit und Jugend kaum mit dem aufklärerischen Geist und humanistischem Bildungsgut in Berührung gekommen ist, nutzt er seine Studienzeit, um seinen Horizont zu erweitern und Impulse aus dem ideellen Kontext seiner Zeit aufzunehmen. 1832 beendet Geiger sein Studium. Seine während des Studiums zunächst in Latein verfasste und später ins Deutsche übersetzte, preisgekrönte und bis heute in Fachkreisen geschätzte Dissertation Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, in welcher er den Einfluss der rabbinischen Literatur auf den Koran und die Verbindungen von Judentum und Islam herausarbeitet, reicht er 1834 an der Marburger Universität ein.23 In Marburg erhält er im selben Jahr auch sein Rabbinerdiplom. Geiger entspricht damit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden neuen RabbinerTypus, der rabbinische und akademische Studien miteinander verbindet und sein 20 Vgl. Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1830, in: S 5, 5, 12–14, 23–25. 21 Samson Raphael Hirsch wirkt nach seinem Studium der Philologie, Philosophie und Geschichte an der Bonner Universität als Landes- und Oberlandesrabbiner. Er gibt die Zeitschrift Jeschurun heraus und gilt als Begründer der Neo-Orthodoxie (vgl. exemplarisch zu Hirsch: Klugman, Rabbi Samson Raphael Hirsch). 22 Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1830, in: S 5, 19. Im Rednerverein hält Geiger seine erste Predigt. 23 Die Universität Bonn schreibt jedes Jahr einen Preis aus. 1832 lautet die von Georg Freytag (1788–1861) gestellte Preisfrage: „Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen?“. Geiger bearbeitet sie, reicht seinen lateinisch verfassten Essay ein und gewinnt den Preis.

22Einleitung Universitätsstudium mit einer Promotion abschließt. Sodann wirkt er in Wiesbaden, Breslau, Frankfurt am Main und Berlin als Rabbiner. Daneben verfasst er zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Monographien, gibt wissenschaftliche Periodika heraus, engagiert sich bei Rabbinerkonferenzen und wirkt als Dozent für jüdische Literatur und Geschichte an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Er versteht sich selbst als jüdischer Theologe und verknüpft zeit seines Lebens die praktische Gemeindearbeit mit der wissenschaftlichen Tätigkeit, bewegt sich damit zwischen Rabbinat und Wissenschaft.24 Unaufhörlich engagiert er sich für die Umsetzung moderater religiöser Reformen, die eine zeitgemäße Weiterentwicklung jüdischer Traditionen, nicht aber deren vollständige Auslöschung intendieren. Er verfasst ein liberales Gebetbuch, das lange Zeit in Gebrauch und zudem grundlegend für andere Gebetbücher ist.25 Geiger gilt als zentrale Persönlichkeit des deutschen Reformjudentums im 19. Jahrhundert und wirkt impulsgebend auf die jüdische Reformbewegung und das liberale Judentum. Immer wieder gerät er dabei in Konflikte mit dem orthodoxen und konservativen Judentum, mit der radikalen jüdischen Reformbewegung und mit dem Christentum. Geiger erfährt oft Widerstand und ist beständiger Kritik ausgesetzt, geizt selbst allerdings auch nicht damit.26 Er ist mit Emilie Oppenheim verheiratet und hat vier Kinder. Am 23. Oktober 1874 stirbt er in Berlin und wird auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee beigesetzt. Sein Grab ist Ehrengrab der Stadt Berlin. Im Jahre 2010 jährte sich Geigers Geburtstag zum 200. Mal. Und auch die jüdische Reformbewegung feierte ihren 200. Geburtstag: 1810 hatte Israel Jacobson in Seesen die Synagoge gegründet, die gemeinhin als erste Reformsynagoge begriffen wird. Im Jubiläumsjahr des liberalen Judentums wurden zudem drei liberale Rabbiner, die ihre akademische Rabbinerausbildung am Abraham Geiger Kolleg absolvierten, in Berlin ordiniert. Damit wurden zum dritten Mal nach der Schoah in Deutschland liberale Rabbiner ordiniert und seit 1935 erstmalig auch wieder eine Rabbinerin. Die Analyse von Geigers Wissenschaftsverständnis, der 24 25 26

Vgl. Brief Geigers an Consistorialrabbiner J. Kahn vom 10. April 1856, in: S 5, 216. Geiger, Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahre. In einem Brief an seinen Freund Stern schreibt Geiger: „[…] Ich kam mir oft wie der Ismael der Bibel vor, dessen Hand wider Alle, während auch die Hand Aller wider ihn. Den Orthodoxen und Conservativen ein Stein des Anstosses, den schleichend Fortschreitenden zu stürmisch, Denen, welche den geschichtlichen Entwickelungsgang überspringen wollen, zu vorsichtig, den Männern des praktischen Lebens zu sehr mit literar-historischen Studien beschäftigt, den Literarhistorikern zu tendentiös, d. h. zu wenig gleichgültig gegen die in der Geschichte sich fortbildende Idee – so war ich von Allen angegriffen, mit misstraulichem Auge betrachtet, und mir, der ich ein volles Herz zu Studium wie Leben brachte, that es nicht selten weh, dass nirgends ein Wort echten Wohlwollens, begeisternder Ermunterung sich hören lassen wollte“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 8. Dezember 1857, in: S 5, 224).

Einleitung23 sich diese Studie verschrieben hat, ist im 21. Jahrhundert also doppelt legitimiert: Einerseits erwächst sie einem historischen Interesse, da Geiger zu den Gründergestalten der Wissenschaft des Judentums gehört, ergo impulsgebende Wirkung auf die jüdische Wissenschaftsgeschichte ausübt und überdies die zentrale Persönlichkeit des sich im 19. Jahrhundert konstituierenden deutschen Reformjudentums darstellt. Die Beschäftigung mit Geigers Wissenschaftskonzept ist andererseits auch durch ein Gegenwartsinteresse motiviert. Geiger ist heute im gesellschaftlichen und akademischen Kontext so präsent wie nie zuvor: Durch das 1999 gegründete Abraham Geiger Kolleg27, welches sich als liberales Rabbinerseminar versteht und als An-Institut der Potsdamer Universität organisiert ist, sind Geigers Ideen und sein Name in der universitären Landschaft verankert. Die erste Rabbinerordination in Deutschland nach der Schoah, die 2006 in Dresden erfolgt ist, und die 2009, 2010 und 2011 vorgenommenen Ordinationen liberaler Rabbiner, die ihre akademische Rabbinerausbildung am Abraham Geiger Kolleg absolvierten, rücken auch Geiger ins gesellschaftliche und akademische Interesse und regen eine Auseinandersetzung mit seinem Werk und seinem Wirken an.28 Und auch der vom Kolleg verliehene Abraham-Geiger-Preis verortet Geiger im öffentlichen Bewusstsein und hält die Erinnerung an ihn wach.29 Weiterhin werden seine Vorstellungen für aktuelle wissenschaftspolitische Diskurse fruchtbar gemacht, wie die Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen des Wissenschaftsrates zeigen.30 Diese wenigen Beispiele belegen, dass Geiger nicht in Vergessenheit geraten ist. Gleichwohl sind Geigers konzeptionelle und institutionelle Vorhaben weitgehend unbekannt. Zwar gibt es seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vereinzelte wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit seinem Werk,31 aber erst zum Ende des letzten Jahrhunderts verstärkt sich das Interesse.32 In den 90er Jahren hat eine Geiger-Renaissance begonnen, die bis heute fortwirkt und im Jahre 2010,

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Auf das Abraham Geiger Kolleg wird im Epilog dieser Studie ausführlicher eingegangen (vgl. dazu auch die Homepage des Abraham Geiger Kollegs). Vgl. Burger, Mit Gottes Hilfe; Glöckner, Rabbiner für Deutschland; Kuhn, Made in Germany. Preisträger waren bisher Susannah Heschel, Emil Fackenheim, Alfred Grosser, Karl Kardinal Lehmann, Prinz Hassan bin Talal von Jordanien, Hans Küng und Helen Zille. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 35, 54. Erwähnenswert ist vor allem das von Jakob Josef Petuchowski 1974 organisierte Symposium anlässlich von Geigers 100. Todestages am Hebrew Union College in Cincinnati (vgl. Petuchowski (Hrsg.), New Perspectives on Abraham Geiger). Heschels 1998 publizierte Dissertation Abraham Geiger and the Jewish Jesus spiegelt die Zuwendung im Bereich der Forschung am eindrücklichsten wider.

24Einleitung dem 200. Geburtsjahr Geigers, ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte.33 Obwohl Geiger in den letzten Jahren zum Forschungsobjekt von jüdischen und nicht-jüdischen Wissenschaftlern, von Theologen, Historikern, Orientalisten und Judaisten avanciert ist, steht er im Schatten der großen jüdischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Es ist auffällig, dass Leo Baeck (1873–1956), Martin Buber (1878–1965), Hermann Cohen (1842–1918) und Franz Rosenzweig (1886–1929) die Forschungsdiskurse klar bestimmen, die Protagonisten des 19. Jahrhunderts, neben Geiger auch Zacharias Frankel (1801–1875)34, Eduard Gans (1797–1839)35, Samson Raphael Hirsch und Leopold Zunz (1794–1886)36 hingegen das Nachsehen haben. Trotz der gerade konstatierten Geiger-Renaissance muss das Thema Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis als nahezu unerforscht eingestuft werden. Forschungsliteratur, die dezidiert das definitorische, das funktionale, das methodische, das disziplinäre und das institutionelle Profil der Wissenschaft des Judentums ausführlich und zusammenhängend analysiert, sucht man vergebens. So sind auch Geigers Schriften, vor allem seine beiden Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie (1849)37 und Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums (1872–1874)38, noch nicht systematisch hinsichtlich 33

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Aus diesem Anlass fanden Kongresse in Breslau (Wroclaw) und in Frankfurt am Main (vgl. dazu den Sammelband: Wiese; Homolka; Brechenmacher (Hrsg.), Jüdische Existenz in der Moderne) sowie eine Ringvorlesung in Potsdam statt. Weiterhin wurde eine Gedenktafel an Geigers ehemaligem Wohnhaus in der Rosenthaler Straße 40, in den Hackeschen Höfen in Berlin, angebracht (vgl. Bomhoff, „Der unvergessene Lehrer“). In den Printmedien und im Radio wurde Geigers Geburtstag ebenfalls gedacht (vgl. Beyrodt, Gelehrter Provokateur; ders., Reformer, Gelehrter, Brückenbauer; Feldmann, Gebetbuch als Zankapfel; Jennerjahn, Ein Kritiker vor dem Herrn). Zacharias Frankel wirkt nach seinem Jeschiboth-Besuch und dem mit Promotion abgeschlossenen Universitätsstudium als Rabbiner in Teplitz sowie als Oberrabiner in Dresden. Er ist die führende Persönlichkeit des positiv-historischen Judentums, also der konservativen Richtung, die sich zwischen dem liberalen und orthodoxen Judentum einordnet. Frankel ist der erste Direktor des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau (vgl. zu Frankel und seinem Wissenschaftsverständnis Brämers überzeugende Monographie: Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel). Der Hegelianer Eduard Gans wirkt als Jurist, Rechtsphilosoph und Historiker und gilt als Begründer der vergleichenden Rechtsgeschichte (vgl. zu Gans und dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden: Bläkner; Göhler; Waszek (Hrsg.), Eduard Gans; Reissner, Eduard Gans, bes. 46–82). Leopold Zunz studiert Altertumswissenschaft und Philologie und wirkt als Lehrer und Direktor einer Gemeindeschule sowie eines Lehrerseminars, als Redakteur und Prediger. Gemeinhin gilt er als Begründer der Wissenschaft des Judentums. Vgl. ausführlicher zu Zunz: Kapitel 1.1 des III. Hauptteils: Leopold Zunz’ Verständnis der Wissenschaft des Judentums. Geiger, Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie [im Folgenden: ETh]. Geiger, Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums [im Folgenden EWdJ].

Einleitung25 wissenschaftprogrammatischer Implikationen untersucht worden. Zwar liegen einige Aufsätze vor, die einzelne Aspekte von Geigers wissenschaftlichem Schaffen beleuchten, sodass beispielsweise seine bibel- und talmudkritischen Arbeiten, seine Prägung durch den Historismus und sein Geschichts- und Reformverständnis thematisiert werden, wenngleich auch nur in Kürze.39 Monographisch umfassend ist Geigers Wissenschaftsentwurf aber noch nicht dargestellt worden. Die vorliegende Arbeit sucht dieses Forschungsdesiderat zu befriedigen und dadurch Geigers Bedeutung für die jüdische Wissenschaftsgeschichte deutlicher hervorzuheben und ihn explizit als Wissenschaftsprogrammatiker zu würdigen. Hierfür stellt sie Geigers Schriften selbst ins Zentrum, analysiert sein gesamtes Oeuvre also hinsichtlich wissenschaftsprogrammatischer Versatzstücke und wählt somit einen vornehmlich werkimmanenten Ansatz. Die bisherige Forschung hat sich vorrangig der Betrachtung von Geigers gelehrten Studien, also seinem Beitrag zur inhaltlichen Ausprägung der Wissenschaft des Judentums, und der Untersuchung seiner Tätigkeit als Reformrabbiner, also seinem Beitrag zur Modernisierung des deutschen Judentums, verschrieben. Geiger erfährt hier zwar Beachtung und Würdigung in diesen Funktionen, aber nicht ausreichend als jüdischer Wissenschaftsprogrammatiker. Daher liegt der Fokus der vorliegenden Studie auf ebendieser Facette seines Schaffens. Seine gelehrten Untersuchungen, das heißt die näherhin inhaltliche Ausgestaltung der Wissenschaft des Judentums, werden hingegen nur gestreift. Erstmalig werden dabei Geigers Entwürfe einer Konzeptionalisierung und einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums en détail und zusammenhängend dargestellt. Alle Momente seines Wissenschaftsprogramms sollen im Zusammenhang interpretiert werden, da weder die Forschung noch Geiger selbst solch eine umfassende und zusammenhängende Präsentation leisten. In der Geiger-Forschung nimmt Susannah Heschels 1989 verfasste, jedoch erst 1998 publizierte Dissertation Abraham Geiger and the Jewish Jesus, die von Christian Wiese ins Deutsche übersetzt und 2001 unter dem Titel Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie veröffentlicht wurde, einen herausragenden Platz ein. Und auch die im Umfeld ihrer Studie entstandenen Aufsätze, die einzelne Aspekte ihrer Hauptuntersuchung akzentuieren und ausschärfen, leisten einen wichtigen Bei39

Exemplarisch können folgende Titel genannt werden: Bechtoldt, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert; Hill, The science of reform; Liebeschütz, Wissenschaft des Judentums und Historismus bei Abraham Geiger; Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“; Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship; Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät; Weiss, Abraham Geiger and Talmud Criticism; Wiese; Homolka; Brechenmacher (Hrsg.), Jüdische Existenz in der Moderne.

26Einleitung trag zur Geiger-Forschung.40 Die profilierte Geiger-Expertin analysiert in ihrer überzeugenden Promotionsarbeit Geigers historische Forschungen über die nachbiblische Zeit, also seine Untersuchungen zu den Ursprüngen des Christentums inmitten der jüdischen Geschichte. Dabei vermag sie Geigers Forschungsabsichten zu erhellen, indem sie seine historischen Studien hinsichtlich ihrer intentionalen Implikationen, ihrer gegenwärtigen Einschüsse und ihrer impliziten politischen Dimension durchleuchtet und gekonnt mit kontextuellen Gegebenheiten der Zeit und der allgemeinen Theologie- und Wissenschaftsgeschichte korreliert. Infolgedessen untersucht sie auch die vielfach antijudaistischen christlichen Deutungen des nachbiblischen Judentums, konkret die der Tübinger Schule, der Ritschl-Schule und der Religionsgeschichtlichen Schule, und konfrontiert sie mit Geigers Erkenntnissen, also vor allem mit seiner herausfordernden Deutung Jesu als Pharisäer und des Judentums als der originellen Religion, welche andere Religionen wie Christentum und Islam hervorbringt. Ihr gelingt dabei, die Wirkung und Rezeption von Geigers wissenschaftlichen Erkenntnissen in der liberalen protestantischen Theologie seiner Zeit darzustellen. Sie kommt so zu einer differenzierten Würdigung von Geigers wissenschaftlichem Oeuvre und zugleich zu einer sehr kritischen Beurteilung christlicher Arbeiten und des jüdisch-christlichen Forschungsdiskurses im 19. Jahrhundert. Heschel charakterisiert Geigers methodologischen Ansatz dabei als „Umkehrung des theologischen Blicks“41, da dieser christliche Quellen aus jüdischer Perspektive betrachte und so gängige christliche Interpretationen durchbrochen und umgekehrt habe. Heschel interpretiert Geigers Geschichtsdarstellung entsprechend als „counterhistory“42 zur christlichen Geschichtsschreibung und damit als Versuch, die christliche Hegemonie aufzubrechen, der christlichen, häufig antijudaistisch ausgerichteten Forschung entgegenzutreten und das Judentum sowohl in Geschichte und Gegenwart als auch in Forschung und Leben adäquat zu positionieren. Wenngleich der Terminus „counterhistory“ nicht auf Heschel selbst zurückgeht, sondern eine seit der Antike verbreitete literarisch-polemische Gattung ist, welche in der Gegenwart von David Biale43 und Amos Funkenstein44 profiliert wurde, prägt 40 Vgl. zum Beispiel: Heschel, „Revolt of the Colonized“; dies., Abraham Geiger and the 19th-Century Failure of Christian-Jewish Relations; dies., Abraham Geiger and the Emergence of Jewish Philoislamism. 41 Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 28. 42 Heschel, Abraham Geiger and the 19th-Century Failure of Christian-Jewish Relations, 20. 43 Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and counter-history. 44 Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, bes. 34–54. Funkenstein charakterisiert das Genre mit einem Rekurs auf ein Zitat von Walter Benjamin näher: „Ihre Methode besteht darin, die bewährtesten Quellen des Gegners systematisch entgegen ihrer Intention zu verwenden, ‚die Geschichte gegen den Strich (zu) bürsten‘. Sie wollen das Selbstbild; die Identität des Gegners verzerren, indem sie seine Erinnerung angreifen“ (a. a. O., 39).

Einleitung27 sie ihn und macht ihn zur bestimmenden Deutungsfigur des jüdisch-christlichen Wissenschaftsdiskurses im Allgemeinen und von Geigers Werk im Speziellen. Die Wissenschaft des Judentums und damit auch Geigers wissenschaftliches Wirken interpretiert Heschel als „revolt of the colonized“45, also als Versuch jüdischer Intellektueller, die christliche Vorherrschaft in der akademischen Sphäre zu durchbrechen. Heschel macht demnach die jüdisch-christliche Beziehung zur maßgeblichen Interpretationsperspektive, die sich schließlich im zentralen Begriff der „counterhistory“ verdichtet.46 Wieses Einschätzung, dass Heschels Dissertation „als Meilenstein[ ] eines […] Dialogversuchs der Disziplinen gelten [muss] und […] fortan aus der Erforschung der jüdisch-christlichen Beziehungen in Deutschland, der Theologiegeschichte des Protestantismus wie der Deutung der Wissenschaft des Judentums nicht mehr wegzudenken sein [wird]“47, ist zuzustimmen. Ihre Forschungsergebnisse werden daher auch im Rahmen dieser Untersuchung stets mitgeführt, wenngleich sie nur vereinzelt direkt aufgenommen werden. Denn eine systematische Analyse von Geigers Wissenschaftsverständnis leistet auch Heschel nicht. Sie beleuchtet zwar Geigers Wissenschaftsprogrammatik, legt den Schwerpunkt ihrer Betrachtung aber auf Geigers eigene wissenschaftliche Beiträge. Überdies fokussiert Heschel den Makrokosmos, also das Verhältnis des Judentums zum nicht-jüdischen Kontext beziehungsweise vice versa und die Bedeutung der Wissenschaft des Judentums hierfür. Sie streift den Mikrokosmos, konkret den Reformprozess und die Rolle der Wissenschaft des Judentums darin, der im Zentrum der vorliegenden Studie steht, nur am Rande. Diese Untersuchung will einen Beitrag zur Differenzierung von Heschels „counterhistory“-These leisten, insofern sie die dargebotene These aufgreift und an Geigers Wissenschaftsprogramm überprüft. Dabei soll geklärt werden, ob die überzeugende Interpretation der jüdischen Geschichtsdarstellung als „counterhistory“ zur christlichen Geschichtsschreibung auf das Wissenschaftskonzept übertragen werden kann; gefragt wird also, ob Geiger seinen Entwurf der Wissenschaft des Judentums tatsächlich als Gegenprogramm zum christlichen Wissenschaftsverständnis konzipiert.

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Vgl. Heschels gleichnamigen Aufsatz „Revolt of the Colonized“. So schreibt sie etwa: „During this same period, Jewish scholarship in Germany was not a simple presentation of Jewish history but a counterhistory of the prevailing Christian scholarship. The Wissenschaft des Judentums did not want the study of Judaism merely to be added to the curriculum, but wanted to radically revise that curriculum, in an effort to resist and even overthrow the standard portrayal of Western history“ (Heschel, „Revolt of the Colonized“, 63). Wiese, Vorwort, 15.

28Einleitung In der umfangreichen Forschungsliteratur48 zur Wissenschaft des Judentums, die unterschiedliche thematische Schwerpunkte setzt und sowohl aus jüdischer als auch aus nicht-jüdischer Perspektive verfasst ist, kommt Christian Wieses 1999 erschienener Dissertation Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?49 ungeachtet einiger strittiger Punkte zentrale und wegweisende Bedeutung zu. Es gelingt Wiese in überzeugender Weise, die Begegnung zwischen der Wissenschaft des Judentums und der protestantischen Universitätstheologie in der wilhelminischen Ära zu analysieren und unter Würdigung der positiven Einzelfälle die überwiegende Vergeblichkeit jüdischer Anstrengungen um einen von Gleichheit, Gleichzeitigkeit und wechselseitiger Anerkennung bestimmten wissenschaftlichen Dialog herauszustellen. Genau wie Heschel nimmt Wiese die jüdisch-christlichen Beziehungen im Wissenschaftsgeflecht in den Blick und kommt zu ähnlich ernüchternden Erkenntnissen. Die konstitutive jüdische Perspektive auf die bibel- und religionswissenschaftlichen Diskurse im deutschen Kaiserreich und der jüdischen Teilhabe daran sowie die interdisziplinäre Ausrichtung, die protestantische Theologie, Judaistik und Antisemitismusforschung in sich vereint, machen die Originalität und Überzeugungskraft dieser wissenschaftsgeschichtlichen Studie aus. Wiese beleuchtet die jüdische Wahrnehmung der protestantischen Universitätstheologie und erhellt die Intentionalität und Funktionalität jüdischer Forschungen, die er als „jüdische[ ] Apologetik“50 charakterisiert. Zudem untersucht er die Haltung der protestantischen Universitätstheologie zum Judentum in Gesellschaft, Geschichte sowie Forschung und beschreibt den politischen, sozialen und institutionellen Kontext der Begegnung von Wissenschaft des Judentums und protestantischer Universitätstheologie. Die Zeitgeschichte wird dabei als zentraler Deutungsfaktor plausibel gemacht. Heschel bringt die Bedeutung von Wieses Studie prägnant zum Ausdruck: „[…] indem es das Ringen der Wissenschaft des 48 Vgl. dazu exemplarisch folgende Titel: Carlebach (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums; Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums; Hartwig (Hrsg.), „Im vollen Licht der Geschichte“; Hasselhoff (Hrsg.), Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums; von der Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit; Schaeffler, Die Wissenschaft des Judentums in ihrer Beziehung zur allgemeinen Geistesgeschichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts; Schorsch, Das 1. Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums; Schulte, Die Wissenschaft des Judentums; Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums; Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. 49 Vgl. exemplarisch zu Wieses Disseration folgende Rezensionen: Brocke, Geschlossene Geselschaft; Deines, Wissenschaft des Judentums und protestantische Universitätstheologie im wilhelminischen Deutschland; Wassermann, The Wissenschaft des Judentums and protestant theology. Vgl. auch: Hasselhoff, „Sapientes docent traditiones“, 160 f. 50 Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 16.

Einleitung29 Judentums um Achtung historisch würdigt, [stellt das Buch] selbst einen Versuch dar, die weit verbreiteten negativen Stereotype zu überwinden und die Bedeutung des Judentums – als Religion, Tradition und Geschichte – für das Christentum und die gesamte europäische Kultur aufzuzeigen.“51 Wieses Erkenntnisse können bei der Erforschung der jüdischen Wissenschaftsgeschichte nicht mehr übergangen werden und daher wird auch hier auf ihnen aufgebaut. Dadurch aber, dass Wiese vornehmlich die wilhelminische Zeit betrachtet und Geiger zwar im Kontext der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums erwähnt, sein Wissenschaftsverständnis jedoch weder ergründet noch die Wissenschaftsprogrammatik im Allgemeinen ausführlicher thematisiert, werden seine Erkenntnisse nur vereinzelt direkt aufgenommen. Wiese formuliert jedoch eine interessante Deutung der Wissenschaft des Judentums, die aufgegriffen und an Geigers Wissenschaftsentwurf überprüft werden soll. Seine Akkulturationsthese, die als normative Gegenthese zu Heschels „counterhistory“-These interpretiert werden kann, lautet: „Zugleich stellte sie [die Wissenschaft des Judentums] in der Orientierung am Wissenschaftsverständnis ihrer Zeit – ein Ergebnis fortschreitender Akkulturation dar.“52 Die Deutung der Wissenschaft des Judentums bewegt sich in der Forschung also im Spannungsfeld von „counterhistory“ und Akkulturation. Diese Untersuchung bezieht beide Positionen auf Geigers Wissenschaftsprogramm, differenziert sie und zielt auf eine eigene Deutung ab. Neben Heschel und Wiese bestimmt Michael A. Meyer die Forschung über die Wissenschaft des Judentums maßgeblich. Meyers Studien, die sich vordergründig der Wissenschaft des Judentums, der jüdisch-deutschen Geschichte, der jüdischen Identität in der Moderne und der jüdischen Reformbewegung widmen, liefern wertvolle Erkenntnisse für die Erforschung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert und damit auch für diese Arbeit.53 Besonderen Stellenwert für diese Studie nimmt sein Aufsatz Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums. The positions of Zunz, Geiger and Frankel (1971) ein, in dem er als Erster eine analytische Zusammenschau von jüdischer Reformbewegung und Wissenschaft des Judentums darbietet, die entsprechenden Entwürfe 51

Heschel, Vorwort, X. Für die Weimarer Republik vgl. folgenden Aufsatz: Siegele-Wenschkewitz, Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums während der Weimarer Republik. 52 Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 60. 53 Exemplarisch können folgende Titel genannt werden: Meyer u. a. (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit; Meyer, Response to modernity; ders., Reform Jewish thinkers and their german intellectual context; ders., Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz; ders., Judaism within Modernity; ders., Jüdische Identität in der Moderne; ders., Jüdische Wissenschaft und jüdische Identität; ders., Two persistent tensions within Wissenschaft des Judentums; ders., Abraham Geiger’s historical Judaism.

30Einleitung von Zunz, Geiger sowie Frankel präsentiert und dadurch erstmalig die produktiven Wechselwirkungen dieser beiden zentralen intellektuellen Bewegungen des 19. Jahrhunderts hervorhebt. Meyer zeigt, wie die unterschiedlichen religiösen Positionen die Profilierung der Wissenschaft des Judentums beeinflussen und wie die Wissenschaft des Judentums in den Dienst religiöser Reformen gestellt wird. Da er drei Protagonisten der Zeit betrachtet, kann er den produktiven Nexus von Wissenschaft des Judentums und jüdischer Reformbewegung nur benennen. Im Folgenden soll er mittels einer systematischen Analyse von Geigers Schriften erschlossen werden. So kann die Bedeutung der Wissenschaft des Judentums für den Reformprozess erhellt werden. Vorrangig wird untersucht, inwiefern die Wissenschaft des Judentums im Mikrokosmos des deutschen Judentums wirkt beziehungsweise von Geiger für diesen fruchtbar gemacht wird. Dadurch soll Geigers Rolle als führendem Reformrabbiner entsprochen werden. Auf den Makrokosmos, das heißt auf das außerjüdische Beziehungsgeflecht, das sowohl Heschel als auch Wiese fokussieren, soll dabei nur am Rande eingegangen werden. Martin Ritter hat in seinem Aufsatz „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“. Das Profil jüdischer Philosophie im Werk von Leopold Zunz, Abraham Geiger und Salomon Munk (2003) den Ansatz der „shared history“54 als entscheidende Forschungsperspektive auf die Wissenschaft des Judentums dargestellt. Sein Plädoyer dafür, dass „die Schriften und Aussagen der Wissenschaftler des Judentums […] mit Werken ihrer christlichen Zeitgenossen konfrontiert und kontextualisiert werden“55 müssen, leuchtet unmittelbar ein. In der Forschungsliteratur besteht Konsens darin, dass die Entwürfe der Wissenschaft des Judentums durch den ideengeschichtlichen Kontext ihrer Zeit geprägt worden sind.56 Der deutsche Idealismus, insbesondere seine wissenschaftstheoretischen Diskurse, und die Romantik werden durchgängig als zentrale Einflussgrößen geltend gemacht. Konkrete Personen werden hingegen kontrovers diskutiert. Im Hinblick auf Geiger werden immer wieder Anklänge an die protestantische Theologie konstatiert. Während der Einfluss der Tübinger Schule, der vorrangig Geigers eigene Forschungen betrifft, recht ausführlich, vor allem von Heschel, analysiert wurde, steht die präzise Bestimmung des Einflusses der protestantischen Theologie auf sein Wissenschaftsverständnis noch aus. Eine systematische und fundierte Verhältnisbestimmung zwischen Geigers Konzept der Wissenschaft des Judentums und den Entwürfen der protestantischen Theologie 54 Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“, 125. 55 Ebd. 56 Vgl. dazu vor allem: Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts; Schaeffler, Die Wissenschaft des Judentums in ihrer Beziehung zur allgemeinen Geistesgeschichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts; Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums.

Einleitung31 sucht man bis jetzt vergebens. Vereinzelt wird Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) als Gewährsmann Geigers benannt, indem einige Parallelen zwischen Schleiermachers Konzeption der protestantischen Theologie und Geigers Wissenschaftsentwurf aufgezeigt werden.57 Aufgrund der Knappheit der Rekurse und einer fehlenden tiefgründigen und systematischen Auseinandersetzung blieb bislang unerforscht, ob Geigers Wissenschaftsverständnis tatsächlich in ideeller Verbindung zu Schleiermachers Ansatz steht. Diese Frage soll durch die vorliegende Studie geklärt werden. Ritters Ansatz einer „shared history“ wird dafür aufgegriffen und zum methodologischen Grundsatz gemacht, indem Geigers Wissenschaftsprogramm mit Schleiermachers enzyklopädischem Entwurf „konfrontiert“ und „kontextualisiert“ wird. Die Quellenlage zu Geiger ist gut.58 Sein Sohn Ludwig Geiger hat zahlreiche Schriften zusammengestellt und in den Nachgelassenen Schriften herausgegeben. Die fünf Bände sind von 1875 bis 1878 erschienen und 1999 nachgedruckt worden, sodass sie heute gut zugänglich vorliegen. Band 1 enthält Broschüren, Abhandlungen, Predigten und Leitartikel aus der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, die vorher bereits fast alle veröffentlicht waren. In den Bänden 2 und 4 hat Ludwig Geiger unveröffentlichte Vorlesungsmanuskripte ediert. Band 3 beinhaltet vorher schon publizierte Schriften. In Band 5 finden sich Auszüge aus Geigers Tagebuch, eine Auswahl an Briefen und eine biographische Skizze seines Sohnes. Ludwig Geiger hat die Schriften nach eigenem Bekunden teilweise verändert. So hat er Ergänzungen angebracht, hebräische Ausdrücke übersetzt oder weggelassen, orthographische Fehler korrigiert und Redundanzen getilgt. Zum Teil hat er Mitschriften von Studenten oder Aufzeichnungen seines Vaters hinzugezogen und auszugsweise integriert. Kenntlich gemacht hat er solche Modifikationen allerdings nicht. Bei den Nachgelassenen Schriften handelt es sich also nicht um eine kritische Ausgabe, was bei der Interpretation berücksichtigt werden muss. Weitere zentrale Werke wie Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833), Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät (1838), Lehrbuch zur Sprache der Mischnah (1845), Lesestücke aus der Mischnah (1845), Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums (1857) und Das Judentum und seine Geschichte (1865–1871) sind bereits zu Geigers Lebzeiten publiziert worden; auch sie sind zum Teil nachgedruckt worden und heute 57

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Vgl. zum Beispiel: Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“, 136f; Steuer, Schleiermachers Religionsphilosophie in ihrer systematischen und historischen Bedeutung für die jüdische Religionsphilosophie, 123–131; Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 409–411. Vgl. zur Bibliographie: Stern, Bibliographie; [N. N.], Art. Abraham Geiger, 360–363.

32Einleitung alle verfügbar. Die von Geiger verfassten Zeitschriftenartikel liegen zudem in digitalisierter Form vor und sind daher besonders leicht zugänglich.59 Diese Studie widmet sich Geigers Wissenschaftsbegriff sowie dessen Realisierung, rekonstruiert und analysiert also sein Wissenschaftsverständnis. Sie beleuchtet dafür die Konzeptionalisierung, die Institutionalisierung und die Kontextualisierung der Wissenschaft des Judentums. Daraus ergibt sich die Gliederung der Untersuchung in die Hinführung, den I., II. und III. Hauptteil sowie den Epilog. Die Hinführung expliziert die Voraussetzungen von Geigers Wissenschaftsprogramm, indem sie Geigers Zeitdiagnose entfaltet, also die Lage des gegenwärtigen Judentums im Makro- und Mikrokosmos aus Geigers Perspektive beschreibt. Weiterhin wird dort Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff dargestellt. Im I. Hauptteil soll Geigers Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums beleuchtet werden. Das definitorische, das funktionale, das methodische und das disziplinäre Profil der Wissenschaft des Judentums werden dafür erhellt. Sodann wird im II. Hauptteil Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums analysiert. Seine Ideen sowie Umsetzungsversuche der Institutionalisierung werden untersucht. Dabei wird zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und wissenschaftlichen Periodika unterschieden. Thema des III. Hauptteils ist die Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis. Er zeigt, wie der innerjüdische Einfluss und die Prägekraft Schleiermachers wirksam sind. Im Epilog sollen die zentralen Erkenntnisse der Studie gebündelt und überdies Geigers Ausstrahlungskraft auf die akademische Landschaft des 21. Jahrhunderts eruiert werden. So kann abschließend eine kritische Würdigung des untersuchten Entwurfs der Wissenschaft des Judentums realisiert und Geiger als Wissenschaftsprogrammatiker profiliert werden.

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In der vorliegenden Studie werden die Zitate aus Geigers Schriften genau wie die Schleiermacherschen Zitate mit Sigla versehen und direkt im Haupttext mit Nennung der Seiten- oder Paragraphenzahl belegt. Die gebrauchten Sigla können mithilfe der Liste der Sigla unter Hinzuziehung des Literaturverzeichnisses entschlüsselt werden. Zitate aus den übrigen Quellen und der Sekundärliteratur werden im Anmerkungsapparat belegt.

Hinführung

Eine Wissenschaft eröffnet nach Geigers Auffassung Anwendungsfelder, in denen sie tätig ist. Diese Handlungssphären sind im konkreten Leben der Gegenwart verortet und die Aufgaben von Wissenschaft resultieren unter anderem aus virulenten Bedürfnissen der Praxis. Aufgrund dieses Nexus und des Gegenwartsbezugs einer Wissenschaft ist es wichtig, das Kolorit der Zeit und damit die kontextuellen Bedingungen einer Wissenschaft zu kennen. Im Hinblick auf das von Geiger entfaltete Wissenschaftskonzept muss dabei die spezifische Situation der Juden im deutschen Staatengefüge1 des 19. Jahrhunderts besondere Beachtung finden, da Geiger durch sie nachhaltig geprägt ist und sie denjenigen lebensweltlichen Bezug darstellt, auf den er seinen Wissenschaftsentwurf bezieht. Kapitel 1 skizziert daher die Lage des gegenwärtigen Judentums2, wie Geiger sie in seinen Schriften und Aufsätzen charakterisiert. Dabei werden der Makrokosmos und der Mikrokosmos des Judentums näher beschrieben. Betrachtet man Geigers wissenschaftsprogrammatische Ausführungen, kristallisieren sich zwei Ebenen heraus: der allgemeine Wisssenschaftsbegriff und der Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums. Auf Letzterem liegt der Schwerpunkt dieser Untersuchung. Zunächst soll jedoch in Kapitel 2 Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff skizziert werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Geiger sich nur selten prinzipiell zur Wissenschaft äußert, stattdessen seinen Wissenschaftsbegriff von vornherein im Horizont der Wissenschaft des Judentums entwickelt. Darüber hinaus erschwert seine unpräzise Terminologie die inhaltliche Differenzierung. Zwar verwendet Geiger fast durchgängig den Begriff „Wissenschaft“, meint in der Regel jedoch die Wissenschaft des Judentums.3 Anliegen der Hin1

2 3

Der Begriff „Staat“ wird im Folgenden verwendet, obwohl es zu Geigers Lebzeiten nicht den einen deutschen Staat, sondern ein Staatengefüge in Form des Deutschen Bundes gibt. Der unspezifische Gebrauch des Terminus ist gewiss problematisch, da sich die Situation der einzelnen Staaten und freien Städte unterscheidet und gerade im Hinblick auf die ‚Judenfrage‘ keine Einigkeit besteht. Geigers eigene Äußerungen sind weitestgehend auf Preußen bezogen, wobei er dies nur selten explizit macht. Folglich steht „Staat“ in der folgenden Darstellung in der Regel auch für Preußen. Die Bezeichnung „gegenwärtiges Judentum“ meint das Judentum zu Geigers Zeit, also das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert. In der folgenden Darstellung, nicht in Geigers Zitaten, wird der Begriff „Wissenschaft“ immer dann benutzt, wenn es sich um das allgemeine Wissenschaftsverständnis handelt und „Wissenschaft des Judentums“, wenn tatsächlich die Wissenschaft des Judentums gemeint ist.

34Hinführung führung ist es somit, die Voraussetzungen von Geigers Wissenschaftsverständnis, das dann in den drei Hauptteilen entfaltet wird, zu explizieren.

1. Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums Soll die Lage des gegenwärtigen Judentums aus Geigers Perspektive skizziert werden, gilt es folgende methodische Anmerkungen einzubeziehen: Geiger äußert während seiner gesamten literarischen Wirksamkeit, also von 1831 bis 1874, zeitdiagnostische Eindrücke. Da es sich beim Judentum um ein historisches Gebilde handelt, das sich stets weiterentwickelt und von kontextuellen Gegebenheiten der Zeit, die ebenfalls ständigen Veränderungen unterliegen, abhängt, verändern sich auch Geigers Einschätzungen. Weiterhin muss beachtet werden, dass das Judentum keine monolithische Größe darstellt. Es inkludiert unterschiedliche Positionen, weist verschiedene Darstellungsformen auf und ist zudem von regionalen Bedingungen geprägt. So variiert die politische und gesellschaftliche Stellung des Judentums von Staat zu Staat, da es keinen Konsens in der ‚Judenfrage‘ gibt. Ferner unterscheiden sich auch die Glaubens- und Lebensformen von Juden in den einzelnen Staaten und hängen außerdem davon ab, ob es sich um Stadt- oder Landgemeinden handelt. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, möglichst zeit- und ortsunabhängige Wahrnehmungen Geigers zusammenzutragen. Einerseits sollen dabei die Außenwirkung und die externen Beziehungsstrukturen des Judentums, also der Makrokosmos, beleuchtet werden. Es wird untersucht, wie das Judentum nach Geigers Einschätzung im Staatengefüge, in der Kultur und in der Gesellschaft positioniert ist und inwiefern es dort Anerkennung erfährt und Anregungen erhält. Andererseits soll der Fokus auf die innere Entwicklung des Judentums, also den Mikrokosmos, gelegt werden und analysiert werden, welche Dynamik nach Geigers Dafürhalten im Judentum selbst wirkt.4

4

Diese Darstellung der Lage des gegenwärtigen Judentums aus Geigers Perspektive erhebt nicht den Anspruch, der gesamten Situation des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert gerecht zu werden und diese umfassend zu skizzieren. Vielmehr soll sie Geigers Wahrnehmung der Zeit exemplarisch widerspiegeln und darüber hinaus zeigen, auf welchen Voraussetzungen sein Wissenschaftsentwurf basiert. Primär gilt es also, die kontextuellen Bedingungen der Wissenschaft des Judentums aus der Sicht Geigers zu beschreiben (vgl. ausführlicher und allgemeiner dazu zum Beispiel: Brenner; Jersch-Wenzel; Meyer (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums35

1.1  Makrokosmos: Das Judentum zwischen Gleichberechtigung und Diskriminierung Insgesamt kann konstatiert werden, dass Geiger die Zeit als viel versprechend einstuft und die Situation von Juden als günstig bewertet, indem er auf Fortschritte im Hinblick auf die bürgerliche Gleichstellung hinweist und diese würdigt, wie folgende Formulierung exemplarisch zum Ausdruck bringt: „Die äußere Lage der Juden gestaltet sich in den meisten Ländern der gebildeten Welt rasch auf eine vortheilhafte Weise um“ (ZgL 81f).5 Betrachtet man das 19. Jahrhundert, welches als ein Übergangszeitalter von Wandel und Umwälzungen geprägt ist, kann festgestellt werden, dass die generelle Reformwelle auch das Judentum erreicht. Mit dem ‚Edict, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem preußischen Staate‘ vom 11. März 1812, welches vorrangig auf den liberal gesinnten Staatskanzler Karl August von Hardenberg (1750–1822) zurückgeht, wird im Zuge allgemeiner Reformbewegungen Preußens auch die bürgerliche Gleichberechtigung von Juden umgesetzt. Juden werden von nun an als Einländer und preußische Staatsbürger betrachtet. Sie müssen sich dafür verpflichten, einen festen Familiennamen zu tragen und in offiziellen Korrespondenzen stets die deutsche Sprache und lateinische Schrift zu verwenden. Trotz gewisser Vorbehalte im Bereich des Militärdienstes und der Bekleidung von Staatsämtern, die vornehmlich auf König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) zurückgehen, und des Ausschlusses einiger preußischer Provinzen, kann das Edikt zunächst als Erfolg gewertet werden: Juden sind staatsrechtlich gleichgestellt und verfügen über Handels-, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit.6 Obgleich Geiger diese in Geschichtsdarstellungen verbreitete Einschätzung, wie anfangs gezeigt, teilt, äußert er sich auch in deutlich kritischer Weise. Denn nach seiner Auffassung existiert eine Diskrepanz zwischen der rechtlich festgelegten Gleichberechtigung und der sozialen Realität, wie er in einem Rückblick anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Edikts herausstellt. Er analysiert die Wirksamkeit des Emanzipationsediktes und bewertet dessen tatsächliche Leistung differenzierter, indem er auf zahlreiche vorgenommene Beschränkungen verweist, die den ursprünglichen Fortschritt des Ediktes schmälern. So konstatiert er, dass die seit 1812 per Verfassung festgeschriebene bürgerliche Gleichstellung aufgrund reaktionärer Strömungen Einschränkungen erfahre und die Emanzipation der 5

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Geiger führt weiter aus: „In […] mehreren Staaten Deutschlands […] ist die vollständige Gleichstellung eine Thatsache […]. Die Religion tritt aus der confessionellen Beengung heraus, die scharf ausgeprägte Form des Bekenntnisses hat aufgehört, die für alle Verhältnisse bestimmende Lebensmacht zu sein“ (ZgL 81f). Vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation (1780–1847), 32–35; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 248–255.

36Hinführung Juden immer wieder mit Widerständen und Rückschlägen konfrontiert werde. Trotz positiver Entwicklungen gebe es keine allumfassende Chancengleichheit und keine vollständig und einheitlich realisierte Emanzipation der Juden, sondern weiterhin Benachteiligungen und Ausgrenzungen. Dieser Mangelzustand manifestiere sich in unterschiedlicher Intensität in verschiedenen Bereichen, von denen Geiger einige näher beleuchtet (vgl. Mä 10–18). So analysiert er die Integration des Judentums in das deutsche Staatengefüge, wobei Staat hier als Oberbegriff für verschiedene In­ stitutionen und Organisationen dient. Zum einen betrachtet Geiger dabei die Verortung des Judentums innerhalb der Gesellschaft und Kultur. Zum anderen – und hierauf legt er seinen Schwerpunkt – erörtert er die Stellung des Judentums innerhalb der Bildungsschichten, das heißt in der schulischen, beruflichen und akademischen Welt. In leichter Modifikation zum Eingangsstatement erweckt es den Eindruck, dass das jüdische Leben nach Geigers Dafürhalten durch eine gewisse Unbeständigkeit geprägt ist, da sich Aufwärtsbewegungen und Rückschläge abwechseln und sich demgemäß ambivalente Tendenzen auftun.7 Folglich kann die Situation zwar als aussichtsreich eingeschätzt werden, aber gleichzeitig auch noch als unbefriedigend für Juden, was das Bedürfnis nach Veränderung, ja Verbesserung erklärt. Es gilt nun, die Situation des Judentums im Makrokosmos näher zu betrachten und zu erarbeiten, wie sich die Gesamteinschätzung im Einzelnen darstellt. Geiger verweist zunächst recht global auf die allgemeine Eingebundenheit des Judentums in den gesellschaftlichen Kontext und die bestehenden Machtstrukturen, wenn er erklärt: „Die Geschichte der Juden und des Judenthums ist […] nicht vollständig das Product der eignen innern Entwickelung […], sondern sie wird vielfach von außerhalb liegenden Einwirkungen bald zurück bald vorwärts gestoßen“ (ZgL 81).8 Es zeigt sich, dass die konstatierte Determination durch äußere Faktoren ambivalent bewertet werden kann: einerseits als Progression, andererseits aber auch als Regression. Die Aufhebung der Ghettoisierung, die damit einhergehende Befruchtung mit nicht-jüdischen Theoremen und die verbesserte rechtliche Situation wirken sich zum einen positiv, wenngleich nicht uneingeschränkt, auf die innere Entwicklung des Judentums und seine Stellung im Staatengefüge aus, wie es noch zu explizieren gilt. Zum anderen ist aber auch erkennbar, dass das Judentum seine Entwicklung nicht vollständig selbst steuern kann und hochantei7

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Jersch-Wenzel teilt diese Einschätzung und führt zum einen zahlreiche rechtliche Einschränkungen an, die den Rückschritt zum Ausdruck bringen, verweist zum anderen aber auch auf den bereits realisierten Fortschritt (vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation (1780– 1847), 35–56). Geiger konkretisiert: „Allein dabei muß doch ferner die Wahrheit berücksichtigt werden, daß für die Sicherung und Verbesserung unserer äußern Lage wohl von unserer Seite etwas mit gewirkt werden kann, sie aber keineswegs zunächst von unsern Bemühungen abhängt“ (SSZ 150).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums37 lig fremdbestimmt ist. Folglich trägt das Judentum nicht die alleinige Verantwortung für seine Entfaltung, sondern ist externen Kräften ausgesetzt, was mit seinem Status als Minderheit zusammenhängt. Juden können ihrerseits zwar einen Beitrag zur Integration in das Staatengefüge leisten und sind zu einem engagierten Einsatz animiert, letztlich hängt die erfolgreiche Eingliederung jedoch vom Ermessen des Staates und seiner Organe ab, mit denen kooperiert werden muss. Bei aller Aufwärtsbewegung erfährt das Judentum auch immer wieder Rückschläge, die eine vollständige Gleichbehandlung und Gleichberechtigung utopisch erscheinen lassen. So fungiert das Judentum trotz aller Fortschritte als Spielball machtpolitischer Interessen und entbehrt einer ausgeprägten wirkungsmächtigen Autonomie. Geiger erläutert die bereits angedeutete Eingebundenheit des Judentums in den ideellen Kontext näher und schreibt: „Das Judenthum steht nicht abgeschlossen da, es empfängt von der gesammten Entwickelung der Menschheit, wie es ihr giebt; namentlich aber bedarf es dessen, daß man ihm die freie Bewegung, seinen Bekennern die unbeschränkte Entwickelung der geistigen Kräfte und deren ungehinderte Anwendung gestattet“ (BA 6). Es wird deutlich, dass das Judentum Theoreme der allgemeinen Geistesgeschichte, also auch der deutschen Gesellschaft und Kultur, aufnimmt und sie für die eigene Entfaltung nutzbar macht. Das Judentum benötigt diese Inspiration, speist gleichzeitig aber auch eigene Gedanken in die universale Ideengeschichte ein und bereichert diese dadurch. Demnach findet ein lebendiger Austausch mit der geistigen Umwelt statt. Die positive Wirkung des fortschreitenden Akkulturationsprozesses auf jüdischer Seite ist offenkundig, indem das Judentum als Konsument sowie als Produzent der deutschen respektive universalen Kultur auftritt. Es ist demgemäß keine weltabgewandte Einheit, sondern öffnet sich für nicht-jüdische Einflüsse und ist einer fruchtbaren Interaktion zugetan. Es wird jedoch auch deutlich, dass das Judentum Freiraum für die eigenständige Entfaltung benötigt und sich weiterhin als selbstständige Größe betrachtet. Eine omnipräsente Kontrolle durch den Staat in Form von Restriktionen steht selbstredend konträr dazu, hemmt eine selbstbestimmte Entwicklung und damit die Zukunftsfähigkeit des Judentums. Die noch unspezifische Abhängigkeit und Machtlosigkeit des Judentums gewinnen an Konkretion, wenn Geiger die verfassungsrechtliche Lage entfaltet, also den Status der jüdischen Gemeinden näher erläutert: „Allein das Judenthum und die jüdischen Gemeinden wurden doch damit zu bloßen beliebigen Vereinigungen hinabgedrückt, die außerhalb des ganzen Staatsorganismus standen, nicht als geschlossene und berechtigte religiöse Corporationen betrachtet, die in freier Verfassung ihre Angelegenheiten selbst leiteten“ (Mä 11).9 Die 9

Geiger beleuchtet hier die Wirkung des preußischen Edikts von 1812 und daher ist offenkundig, dass er die jüdischen Gemeinden in Preußen im Blick hat. Es bleibt zu berücksichtigen,

38Hinführung beschriebene Situation steht offenkundig im Gegensatz zu der von christlichen Gemeinschaften und spiegelt exemplarisch die ungleiche Behandlung und die Minderprivilegierung wider. Von einer Eingliederung in den Staat inklusive aller Rechte und einer uneingeschränkten Anerkennung und Förderung kann demgemäß keine Rede sein. Vielmehr offenbaren sich die Schutz- und Machtlosigkeit, die entwürdigende Ausgrenzung und die demütigende Zurückstufung der jüdischen Gemeinden von Körperschaften zu Privatorganisationen, die mit dem preußischen Edikt von 1812 vollzogen werden. Geiger konkretisiert die Lage jüdischer Gemeinden und ihr Verhältnis zur Obrigkeit, indem er ausführt: „Und zwar merkwürdiger Weise gehemmt nicht blos dadurch, daß ihm [dem Judentum] die berechtigten und mit den nothwendigen Attributen versehenen Organe der Wirksamkeit fehlten, sondern von dem Staate selbst, der doch so entschieden das Gehenlassen und Ignorieren sich vorgesetzt hatte. Man griff gewaltsam in die innere Entwickelung ein, verbot unter dem Namen ‚Neuerung‘ jede vernünftige und von der Zeit gebotene Einrichtung […]“ (Mä 12).10 Die jüdischen Gemeinden erfahren demnach eine doppelte Schwächung ihrer Autonomie und dadurch eine zweifache Beschneidung ihrer Souveränität und Wirksamkeit: Einerseits verwehrt der Staat dem Judentum finanzielle und strukturelle Unterstützung und verhindert dadurch die effiziente Arbeit der Gemeinden sowie die Aufrechterhaltung der jüdischen Tradition. Andererseits greift er trotz ihres Status als Privatorganisation in innerjüdische Angelegenheiten ein, indem er Reformbestrebungen durchkreuzt, Veränderungen verbietet und dadurch den Fortschritt, also die Weiterentwicklung des Judentums blockiert. Er sucht folglich die Modernisierung des Judentums abzuwenden. Der Staat greift demnach sowohl in die äußere als auch in die innere Entwicklung des Judentums ein und bestimmt diese in negativer Weise. Eine fruchtbare Kooperation auf Augenhöhe zwischen Staat und jüdischen Gemeinden existiert demgemäß nicht, vielmehr hat es den Anschein, dass jener als übergeordnete Größe ihre Erniedrigung, ja sogar ihre Auflösung intendiert und die volle Würdigung der jüdischen Religion durch die staatliche Autorität eine Illusion bleibt.11

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dass der rechtliche Status von Staat zu Staat variiert und es keine einheitliche Rechtslage gibt. Meyer betrachtet die einzelnen Staaten ausführlich und führt noch weitere Beispiele von „Eingriff[en] in die jüdische Rechtsautonomie“ an und bekräftigt dadurch Geigers Wahrnehmung eines „Machtverlust[s] des Rabbinats und der Gemeinde“ (Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, 107, 108). Im Unterkapitel „Neue Organisationsformen der jüdischen Gemeinde“ entfaltet Meyer überdies die Konsequenzen der Zurückstufung in ihrer Breite (vgl. a. a. O., 111–118). Vgl. auch: AG 11 f. So auch: Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, 111.

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums39 Außerdem benennt Geiger konkrete Konsequenzen, die sich aus der staatlichen Benachteiligung ergeben. Aufgrund der mangelnden materiellen und ideellen Förderung durch den Staat ist es für das Judentum unter anderem schwierig, sein Schulwesen, das heißt den jüdischen Religionsunterricht, dem Zeitgeist entsprechend zu organisieren. Eine Umgestaltung ist von Nöten, um den Bildungsauftrag erfüllen zu können, kann aus eigener Kraft jedoch schwerlich realisiert werden. Dabei ist auffällig, dass der Staat die Bildung der christlichen Jugend forciert, den jüdischen Religionsunterricht dagegen der Verantwortung der jüdischen Gemeinden unterstellt und sich somit jeglicher Verpflichtung entzieht. Geiger legt dazu dar: „Die grossen Mittel des Staates an Intelligenz wie an Kräften wendeten sich der Gestaltung der Schulen als christlicher zu; die Juden konnten blos zögernden, unsichern Schrittes folgen, die nothwendigen Mittel fehlten“ (PRS 312). Der jüdische Religionsunterricht steht demzufolge nicht unter der Obhut des Staates, was inhaltlich Vorteile hat, in organisatorischer Hinsicht jedoch als gravierender Nachteil zu werten ist. Unzureichend ausgebildete Religionslehrer oder gar das Fehlen des jüdischen Religionsunterrichts sind die Folgen. Die ungleiche, geradezu restriktive Behandlung zieht eine mangelhafte religiöse Bildung der jungen Generation nach sich und nährt den Eindruck einer rückständigen Bildungskultur des Judentums. Die Zukunfts- sowie Integrationsfähigkeit des Judentums werden durch schlechte Bildungsqualität, die unter anderem durch das staatliche Vorgehen bedingt wird, gefährdet. Denn Bildung fungiert als Voraussetzung für die gesellschaftliche und politische Gleichstellung, ihr Mangel hat nachhaltige Konsequenzen und stabilisiert bestehende Differenzen. Auch wenn sich die Situation der Juden, wie eingangs ausgeführt, verbessert hat, berührt dieser Fortschritt nicht alle Bereiche; gewisse Barrieren bleiben und verhärten sich sogar. Geiger beschreibt die Lage daher wie folgt: „[…] mancherlei bürgerliche Befreiung hat sich verwirklicht, es nimmt der Jude in allen Gebieten eine gesichertere und ehrenhaftere Stellung ein, aber gerade das Gebiet des geistigen Lebens bleibt ihm verschlossen. Es ist, als wenn gerade auf seinen geistigen Kräften der Bann ruhen, die Förderung der Wissenschaft durch die Juden verpönt sein, die Verklärung des Judenthums durch die Wissenschaft verhindert werden sollte“ (Mä 16).12 Demnach manifestiert sich die ungleiche Behandlung besonders drastisch in der intellektuellen Sphäre. Einerseits wird die generelle wissenschaftliche Tätigkeit von Juden nicht befürwortet, andererseits und zwar vornehmlich auch die wissenschaftliche Durchdringung des Judentums abge12

Geiger entfaltet diesen Sachverhalt, wenn er schreibt: „Aber der preußische Staat wollte und – will nicht nur Nichts von einer Wissenschaft, die sich mit dem Judenthum, seinem inneren Leben, seiner Geschichte und Litteratur beschäftigt, wissen, – noch mehr, er drängt auch die Jünger der Wissenschaft, wenn sie sonst in anerkannten nichtjüdischen Fächern sich auszeichneten, von einer jeden amtlichen Laufbahn zurück […]“ (GB 253).

40Hinführung lehnt. Das heißt, dass weder jüdische Wissenschaftler noch eine Wissenschaft des Judentums im deutschen Staatengefüge dezidiert gefördert werden, wenngleich es erstere gewiss gibt.13 Eine jüdische Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs wird erschwert und die akademische Integration unterbunden.14 Das intellektuelle Potential des Judentums wird folglich durch äußere Faktoren entkräftet und nahezu wirkungslos gemacht. Dadurch, dass der Staat die geistige Aktivität und Fortbildung des Judentums hemmt, verhindert er zwangsläufig auch die Möglichkeit zur selbstbestimmten Weiterentwicklung und besseren Integration, leistet einer geistigen Verkümmerung und Rückständigkeit dagegen einmal mehr Vorschub. Juden wird zwar gestattet zu studieren, wovon sie auch Gebrauch machen, danach werden ihnen jedoch nur wenige adäquate berufliche Perspektiven aufzeigt und so eine gesicherte und erfüllte Existenz gefährdet.15 Ferner wird Juden zwar „das Recht zur Bekleidung eines Schulzenamtes, das Recht, den Kreisständen beizuwohnen, die Anstellung mehrerer Rechtsanwälte“ (Mä 15) eingeräumt, höhere staatliche Positionen wie beispielsweise „akademische Lehrund Schul-, auch Gemeindeämter“ (Mä 11)16 bleiben ihnen dagegen genau wie hohe Ränge in der Justiz und im Heer verwehrt; der Zugang zum Zentrum des Staatsgefüges ist ihnen dadurch vorenthalten. Die restriktive Verwaltungspolitik der Staaten in Form einer partikularen Ausgrenzung von Juden aus staatlichen Institutionen und Organisationen zieht verminderte Chancen nach sich und versagt eine uneingeschränkte, freie Berufswahl. Juden können dementsprechend nicht „der innern Befähigung gemäß den äußern Beruf […] wählen“ (BBI 223). Einer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung auf beruflicher Ebene wird von Seiten des Staates entgegengewirkt. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass die Gleichstellung auf beruflicher Ebene stark variiert und einerseits von regionalen Bestimmungen der einzelnen Staaten 13

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Brenner liefert das entsprechende Zahlenmaterial und konstatiert eine stetige Zunahme jüdischer Studenten seit 1848 (vgl. Brenner, Zwischen Revolution und rechtlicher Gleichstellung, 320). Vgl. zur Thematik folgende überzeugende Studie: Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Brenner veranschaulicht anhand einiger Beispiele, wie schwierig es für Juden ist, sich in der akademischen Landschaft zu etablieren (vgl. Brenner, Zwischen Revolution und rechtlicher Gleichstellung, 321f). Diese bewusste Ausgrenzung und die starke Korrelation zwischen Konfessionszugehörigkeit und beruflichem Vorankommen führen unter anderem auch zu Konversionen, wie beispielsweise bei Ludwig Börne, Eduard Gans und Heinrich Heine (vgl. exemplarisch: Jung, Christen und Juden, 184–186; Meyer, Deutsch werden, jüdisch bleiben, 217–227; ders., Judentum und Christentum, 186–193; Reissner, Eduard Gans). Das preußische Edikt von 1812 spricht Juden noch das Recht zu, eben solche Ämter zu bekleiden. Es ist demnach offenkundig, dass es auch schon kurz nach dem Edikt zu zahlreichen Einschränkungen kommt (vgl. Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation (1780–1847), 46–49).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums41 sowie andererseits vom Berufsfeld selbst abhängen. So haben jüdische Theologen beispielsweise keine adäquaten Ausbildungsmöglichkeiten, weil der Wissenschaft des Judentums an deutschen Hochschulen keine Räume gegeben werden, wie Geiger folgendermaßen ausführt: „Man glaubt, daß durch den Besuch der Hochschulen die jungen Leute genugsam herangebildet würden, aber sehr irrig. Denn was findet der jüdische Theologe daselbst? Genug, um sich die allgemeine Bildung zu erwerben, die einem jeden höher gestellten Manne Noth tut, aber fast gar Nichts, was sein eigentliches Fach berührt. Darin bleibt er ganz sich selbst überlassen […]. Er allein steht verwaist da, ohne andern Führer, als die eigene schwache Kraft […]“ (FacI 14).17 Die fehlende Institutionalisierung, die sicherlich als eine der schwerwiegendsten staatlich sanktionierten Benachteiligungen des Judentums gewertet werden kann, zieht unzulänglich ausgebildete Theologen oder gar das Fehlen derselben nach sich, was weit reichende strukturelle und ideelle Konsequenzen für das Judentum hat. Aufgrund der misslichen Situation an deutschen Hochschulen und der ungleichen Behandlung im Berufsleben sieht sich das Judentum mit schlechten Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsbedingungen konfrontiert, die staatlich legitimiert sind. Diesen als defizitär empfundenen Zustand begründet Geiger in folgender Weise: „Und der tiefere Grund bleibt doch die feige Furcht, daß das Christenthum zusammenstürze, wenn nicht die ganze Machtfülle des Staates es stützt, das Christenthum, dem man sonst alle Macht im Himmel und auf Erden zuschreibt!“ (Mä 16). Demzufolge entspringt die Diskriminierung von Juden innerhalb des Staates nach Geigers Auffassung vorrangig dem Bestreben, die Vorherrschaft und die Autorität des Christentums zu bewahren und zu festigen und das Prinzip des christlichen Staates aufrecht zu erhalten. Heschel beschreibt das Phänomen treffend als „Christian hegemony“18 und charakterisiert das Christentum als „colonizer“, das Judentum entsprechend als „colonized“.19 Neben der ausgrenzenden Behandlung in akademischen und beruflichen Kreisen durch die staatliche Autorität ist das Judentum auch degradierenden Beurteilungen und antijudaistischen Forschungsergebnissen beispielsweise von christlichen Theologen ausgesetzt, wie Heschels und Wieses Studien umfassend 17 18 19

Vgl. ausführlicher dazu: Kapitel 1 des II. Hauptteils: Wissenschaftliche Einrichtungen. Heschel, „Revolt of the Colonized“, 61. Sie schreibt weiterhin: „Christianity, according to Christians, was the only true religion and the only theological system capable of objective and disinterested scholarship, to say nothing of moral virtue“ (a. a. O., 62). A. a. O., 64. Heschel erklärt die Deutungsfigur, die nicht von ihr selbst eingeführt, aber aufgegriffen und profiliert wurde, indem sie schreibt: „While it is true that Germany did not have foreign holdings until the late nineteenth century, the debate over the political emancipation of German Jews functioned as a kind of proto-colonialist enterprise, and it was around the so-called Jewish question that many of the elements took shape […] as subsequently dominating the German colonialist imagination“ (a. a. O., 62f).

42Hinführung und eindrücklich zeigen.20 Geiger entfaltet exemplarisch die Haltung christlicher Theologen gegenüber dem Judentum und schreibt: „Aber während man im eignen Glauben sich auf einen so hohen Standpunkt versetzt, von welchem aus alle einzelnen Erscheinungen in der Geschichte in völlige Unbedeutendheit versinken, geht man bei der Betrachtung des Judenthums ganz tief herab, folgt man allen unscheinbaren, unzugänglichen Winkeln, eben weil man – Koth finden will“ (KTII 343).21 Christliche Theologen intendieren nach Geigers Einschätzung zuweilen eine Selbsterhöhung und Profilierung auf Kosten der Erniedrigung des Judentums. Es ist offenkundig, dass das Judentum nicht als eine gleichberechtigte Größe neben dem Christentum anerkannt wird und antijüdische Gesinnungen in Forschung und Lehre weit verbreitet sind. Folglich erscheint ein fruchtbarer Dialog angesichts der evidenten Weltanschauungskämpfe zwischen den Theologien beziehungsweise Wissenschaften vielfach illusionär und auf christlicher Seite vor allem ungewollt.22 Geiger fragt weiterhin kritisch an: „Also mit einer solchen Verkehrtheit, Unredlichkeit, und Partheilichkeit, mit einer solchen Unkenntniß aller Verhältnisse, mit Ignorirung der Vorzeit im Christenthume und der Gegenwart im Judenthume verfährt man, und hat dennoch die Stirne, sich vorurtheilsfrei, freisinnig und redlich zu nennen?“ (KTII 356).23 Er wirft vielen christlichen Theologen demzufolge mangelnde Wissenschaftlichkeit vor, die sich auch darin widerspiegelt, dass die Mehrzahl christlicher Wissenschaft20

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Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Vgl. bestätigend: Jung, Christen und Juden, 207–209. Jung schreibt: „Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts hatte überwiegend eine negative Sicht des Judentums, seiner Theologie und Frömmigkeit, seiner Geschichte und Gegenwart“ (a. a. O., 207). Er rekurriert später auf einige Vertreter, die eine positivere Perspektive hatten, führt diese jedoch primär auf Missionsanliegen zurück und konstatiert: „Die alles überlagernde Grundhaltung war die eines traditionellen, uniformierten und vorurteilsbeladenen Antijudaismus“ (a. a. O., 209). Vgl. auch Meyers Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum (vgl. Meyer, Judentum und Christentum). Geiger legt weiterhin dar: „Aber die Juden haben noch jetzt für eine jede einzelne Handlung und ein jedes einzelne Gebot einzustehen; an den Urenkeln soll ein jeder Mangel der Vorfahren gerächt werden“ (KTII 344). Er verweist damit auf die unkritische und generalisierende Methode christlicher Wissenschaftler. Geiger selbst wendet sich den Arbeiten christlicher Theologen zu, wie zum Beispiel zahlreiche Rezensionen zeigen (vgl. dazu exemplarisch: Lb 275–369). Wiese entfaltet die Begegnung zwischen jüdischer und protestantischer Theologie im wilhelminischen Deutschland in seiner Dissertation in differenzierter und überzeugender Weise (vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland). Vgl. dazu auch: Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Geiger selbst hat auch durchaus positive Kontakte mit christlichen Wissenschaftlern, wie beispielsweise der Briefwechsel mit Theodor Nöldeke zeigt. Die Berliner Salons fungieren ebenfalls als Beispiele gelungener jüdisch-christlicher Begegnungen (vgl. zum Beispiel: Jung, Christen und Juden, 180).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums43 ler den Werken jüdischer Gelehrter keine Beachtung schenkt, wenngleich diese weiterführende Impulse für eigene Arbeiten liefern.24 Die Unkenntnis ist weit verbreitet und führt schließlich zu einer unsachgemäßen und damit ungerechten Einstellung gegenüber dem Judentum.25 Folglich ist eine negative Bewertung des Judentums in Form einer Religionspolemik in der akademischen Landschaft, wie hier am Beispiel der christlichen Theologie veranschaulicht, verankert und wirkt ins politische und gesellschaftliche Feld hinein. Das Judentum muss sich mit solchen Meinungen, die letztlich auch in Taten münden, und der daraus erwachsenden fehlenden Anerkennung und Achtung auseinandersetzen und nach Bewältigungsstrategien suchen. Mit Geiger ist festzuhalten, dass sich das deutsche Judentum im Makrokosmos zwischen Gleichberechtigung und Diskriminierung bewegt, dass die gegenwärtige Situation demnach von ambivalenten Tendenzen bestimmt wird. Inwiefern sich die äußere auf die innere Lage des gegenwärtigen Judentums auswirkt und welche Lösungsansätze innerhalb des Judentums auszumachen sind, soll im folgenden Kapitel aufgezeigt werden.

1.2  Mikrokosmos: Das Judentum im Spannungsfeld von Tradition und Moderne Pointiert charakterisiert Geiger den inneren Zustand des gegenwärtigen Judentums mit dem Begriff „Zerfahrenheit“ (WtN 251)26, ausführlicher beschreibt er ihn wie folgt: „Die innere Einheit des ganzen geistigen und religiösen Lebens fehlt, und daß sie wieder hergestellt werde, dieses Bedürfniß wird immer fühlbarer, und sie zu bewirken, das ist die Aufgabe der Gegenwart […]“ (AG 2). Weiterhin konstatiert er: „Darin […] sind wir wohl einverstanden, daß das Judenthum sich seinem Wesen und Geiste gar sehr entfremdet hat“ (RS 313f). Die als defizitär wahrgenommene Lage in Form von Zerrissenheit, Entfremdung und Veräußerlichung wird zum Ausdruck gebracht, gleichzeitig aber auch ein wichti24

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Vgl. Brief Geigers an Theodor Nöldeke vom 28. August 1865, in: S 5, 295; Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 27. Dezember 1872, in: S 5, 357; TSK 287. Als Gegenbeispiel kann hier Julius Wellhausen (1844–1918) angeführt werden. Denn: „Wellhausens wichtigster Gesprächspartner war dabei der um eine Generation ältere jüdische Liberale Abraham Geiger, mit dem er sich auch in seinem […] Buch [Die Pharisäer und die Sadducäer (Greifswald 1874)] auseinandersetzte […]“ (Smend, Julius Wellhausen, 21). Wellhausen bezieht sich vor allem sehr kritisch auf Geigers Urschrift, rekurriert aber auch auf Das Judenthum und seine Geschichte (vgl. Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadducäer). Vgl. dazu exemplarisch: Bauer, Die Judenfrage und Geigers Replik darauf: Geiger, Bruno Bauer und die Juden. Geiger charakterisiert die Zeit auch mit den Termini „Zerbröckelung und Versteinerung“ (Mä 12).

44Hinführung ges Handlungspostulat aufgezeigt. Trotz der offenkundigen Traditionsfixierung, Erstarrung und indifferenten Haltung gibt es im Judentum Kräfte, welche die Weiterentwicklung und die Veränderung des Judentums anstreben, sich dafür engagiert einsetzen und somit Ansätze zur Lösung der Probleme formulieren. Geiger stellt heraus: „Als dieser Übelstand zuerst recht lebendig gefühlt wurde, da sprach sich ein frisches Reformbedürfnis aus; es war ein neuer Gedanke, […] die Reform ist nicht blos in die Köpfe und die Herzen gedrungen, sie steckt in allen Gliedern“ (LkÜ 91).27 Demnach ist bei aller Resignation und Lethargie auch ein gewisses Reformbewusstsein virulent, das nach Veränderung verlangt und eine optimistische Perspektive eröffnet.28 Die Dringlichkeit und Unumgänglichkeit dieser Reformen unterstreichen die einzelnen zeitdiagnostischen Äußerungen Geigers, die im Folgenden entfaltet werden. Geiger konstatiert eine Diskrepanz zwischen der jüdischen Lehre und der realen Frömmigkeitspraxis, wenn er schreibt: „Die Kluft zwischen Dem, was dem Aeußern nach besteht, und Dem, was im Innern seinen Bestand hat, ist […] groß […]“ (JJ 170).29 Jüdische Glaubenssätze in Gestalt von Satzungen und Gebeten existieren zwar auch im 19. Jahrhundert noch, sie werden jedoch nicht mehr in umfassender Weise eingehalten beziehungsweise befürwortet und verlieren so ihre religiöse Bedeutung. Im Zuge der fortschreitenden Akkulturation, die sich zunächst vornehmlich in größeren Städten vollzieht, ländliche Gebiete anfangs dagegen vernachlässigt, und dem sich daraus ergebenden Kennen- und Schätzenlernen neuer Werte, Systeme und Theoreme sowie der damit zusam27

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Vgl. Meyers Ausführungen zu den ersten religiösen Reformen (vgl. Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, 125–134). Die Etablierung von Institutionen, die sich primär den Reformen verschrieben haben, wie beispielsweise die Rabbinerversammlungen, zeigt, wie virulent das Bedürfnis nach Veränderungen ist (vgl. dazu: Kap. 2.3.3.2 des I. Hauptteils: Rabbinerversammlungen als Institutionen professioneller Reflexion). Geiger führt dazu aus: „Die Zeit des bloßen Denkens, des unbestimmten Wünschens ist dahin; der Gedanke drängt zur That, der Wunsch gestaltet sich zu nachdrücklichem Verlangen“ (RTGI 1). Er betont erneut: „Das Bewußtsein des guten Rechts der Reform ist so tief eingelebt, daß man sich nicht mehr damit begnügt, theoretisch abermals und nochmals dieses Recht zu vertheidigen und zugestanden zu erhalten, es soll nun auch in die Lebensverhältnisse eindringen und den religiösen Boden umpflügen“ (ebd.). Geiger unterstreicht die Notwendigkeit, wenn er schreibt: „Eine Religion der Minorität, eine Religion, die nicht im ganzen Staatsleben wurzelt, so daß sie von diesem getragen wird, die nur aus sich selbst ihre Nahrung zieht, eine Religion, die um erhöhten Einfluß ringen muß, erhält sich nur, wenn sie sich auf der Höhe des geistigen Lebens erhält, wenn sie voran geht im Kampfe der Geister, wenn sie durch Gediegenheit und Innerlichkeit die Gemüther festigt, durch Wissenschaftlichkeit und Freiheit auch die Geister der außerhalb Stehenden bewältigt“ (RG 173). An anderer Stelle betont Geiger die Tragweite dieser Diskrepanz, wenn er schreibt: „Hier also, […] in dem höhern Zerwürfnisse zwischen Leben und Lehre, das noch immer schroff besteht, hier liegt die wunde Seite des Judenthums“ (SSZ 151).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums45 menhängenden Bewusstseinserweiterung entfernen sich die Menschen jüdischen Glaubens, vor allem akademisch gebildete, immer mehr von alten Traditionen, da sie erkennen, dass diese unvereinbar mit der veränderten Wirklichkeit und dem erweiterten Kenntnisstand sind und nicht mehr ihren gegenwärtigen Bedürfnissen gerecht werden.30 Geiger fragt daher: „Wie konnte man bei allgemeiner Bildung und bei dem Anschlusse an die andern Bewohner des Staates selbst mit der äußern Form sich befriedigen, die allem Anstande Hohn sprach, und die blos ein treuer Abdruck war des Zerrbildes, welches die älteren jüdischen Verhältnisse im Allgemeinen darstellten?“ (AG 8). Es ist augenscheinlich, dass die äußere Form der jüdischen Tradition häufig nicht mehr dem Zeitgeist entspricht und daher abgelehnt wird. Dass die dahinter stehende religiöse Wahrheit jedoch weiterhin von Bedeutung ist, wird von vielen nicht erkannt (vgl. ZgL 86f).31 Folglich wird der Stellenwert der Religion aufgrund des fehlenden Lebensweltbezuges immer geringer und die jüdische Tradition angesichts veränderter Wirklichkeitserfahrungen infrage und schließlich ins Abseits gestellt. Einhergehend mit dem Traditionsabbruch verliert auch die halachische Praxis an Relevanz und ein Untergang der traditionellen Observanz lässt sich nicht mehr abwehren.32 Geiger versucht diesen Zustand zu erklären, wenn er unterstreicht: „[…] die Judenheit ist fortgeschritten, das Judenthum ist still gestanden“ (JJ 165). Er verdeutlicht durch die terminologische Differenzierung in „Judenheit“ und „Judenthum“, dass sich die Gesinnung der jüdischen Menschen und so auch ihr Verhalten im Zuge allgemeiner Wandlungsprozesse geändert und der Moderne verpflichtet haben, die Religion, das heißt die jüdischen Lehren und Traditionen, jedoch unverändert geblieben ist und in Stagnation verharrt.33 Geigers Äußerungen bringen allesamt zum Ausdruck, dass der evidente Fortschritt von den Tra30

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Meyer stellt im Konsens mit Geiger einen „deutlich[en] Riß“ fest und führt weiter aus: „Vielleicht nur noch die Hälfte der Juden Berlins kaufte koscheres Fleisch“ (Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, 109). Meyer legt außerdem dar: „Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich bei den deutschen Juden der Niedergang der traditionellen Observanz immer mehr“ (ders., Jüdisches Selbstverständnis, 159). Er beschreibt die Auswirkungen der „Säkularisierung“ dahingehend, dass „die Rolle der Religion […] auf ein Minimum reduziert“ sei (ebd.). Geiger erläutert diesen Sachverhalt näher, indem er schreibt: „Daher gibt es so viele Gebräuche in der Synagoge (und wir verstehn hierunter das ganze religiöse Leben im Judenthum), die sinnvoll und dem Begriffe nach würdig sind, aber durch ihre jetzige äussere Erscheinung gar Manchem zum Spott und Gelächter werden“ (JZB 452). Geiger spricht auch vom „Gegensatz zwischen dem religiösen System und dem religiösen Leben“ (SSZ 141). Geiger schreibt dazu beispielsweise: „Neben der Unbehaglichkeit, welche der Zwiespalt zwischen der eignen religiösen Denkweise und dem Bekenntnisse, nach welchem man sich benannte […] machte sich der Widerspruch geltend, welchen die religiöse Übung gegen die bereits gewonnenen Principien einer allgemeinen humanen Bildung und der immanenten Stel-

46Hinführung ditionen divergiert und deren Kontinuität infrage stellt, was selbstredend Spannungen hervorruft. Geiger veranschaulicht diese „Kluft“ (JJ 170) zwischen der Wirklichkeit und der religiösen Tradition am Beispiel des Gottesdienstes und stellt dazu fest: „Unser Gottesdienst ist […] zum grossen Theile unwahr oder zu einem gedankenlosen Werkdienste geworden. Die Gedanken und Gefühle, welche in den Gebeten niedergelegt sind, finden bei den Meisten nicht denjenigen Anklang, welcher allein die Weihe und den segenspendenden Einfluss des Gebetes bedingt“ (GG 203). Der jüdische Gottesdienst reduziert sich demzufolge vielfach zu einem äußeren Vollzug überlieferter Formen ohne jegliche innere Ergriffenheit und emotionale Teilnahme, bleibt daher bedeutungs- sowie wirkungslos und ist Ausdruck eines reinen Formglaubens. Geiger konkretisiert die Missstände im Bereich des Gottesdienstes, indem er darlegt: „Aber nicht blos Form und Sprache des Gottesdienstes, auch dessen Inhalt konnte nicht mehr befriedigen […]“ (AG 8). Nach Geigers Dafürhalten werden längst vergangene und überwundene Erfahrungen thematisiert, welche die moderne Lebenswirklichkeit inklusive ihrer Bedürfnisse nicht tangieren. Demnach orientiert sich der Inhalt nicht an den Adressaten sowie ihrer Lebenswelt und entfernt sich daher immer mehr von der konkreten jüdischen Gemeinschaft, was deren mangelnde Ergriffenheit auf intellektueller und affektiver Ebene erklärt. Es offenbaren sich tief greifende Verstehensprobleme und Bildungshindernisse. Geiger führt weiterhin aus: „Auch die dabei herrschenden Symbole hatten ihre Kraft verloren, und Sprache und Inhalt der Gebete standen nicht mehr im Leben. Sich der hebräischen Sprache, die Vielen unverständlich, zu bedienen, und nicht der vaterländischen, die aus den Tiefen des Gemüths erklingt, erschien dem Zwecke des Gebetes zuwider, aber auch zugleich in Widerspruch mit dem festen Einleben in den Staat und dessen höchstes, geistiges, eigenthümlichstes Gut, seine Sprache und Literatur […]“ (AG 8). Wenn Geiger sich hier für die Verwendung des Deutschen als Kultsprache ausspricht, bringt er damit einerseits die Integrationsbereitschaft der jüdischen Gemeinschaft in die deutsche Gesellschaft und Kultur zum Ausdruck, andererseits die bereits erreichte Verbundenheit mit dem Deutschtum.34 Geiger verweist neben der misslichen Situation jüdischer Gottesdienste, die exemplarisch die derzeitige Lage des jüdischen religiösen Lebens widerspiegelt, auch auf bereits vorhandene

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lung im Staate schneidend aussprach“ (AG 7). Meyer bestätigt Geigers Wahrnehmung (vgl. Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 135, 160). Diese Position erhält im Judentum jedoch keine uneingeschränkte Zustimmung, sondern ist vielmehr zentraler Gegenstand von innerjüdischen Auseinandersetzungen. Vgl. zu dieser Thematik exemplarisch: Geiger, Der Hamburger Tempelstreit; ders., Gutachten über die Orgel; ders., Grundzüge zu einem neuen Gebetbuch; ders., Ist der Streit in der Synagoge ein Zeichen von ihrem Zerfall oder von ihrem neuerwachten Leben?.

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums47 Lösungsansätze und rekurriert beispielsweise auf die Berliner und Hamburger Gemeinden, die ihren „Besuchern religiöse Nahrung geben wollte[n] nach veränderter Anschauungsweise in veränderter Gestalt“ (AG 11). Überdies erkennt er ein „Bestreben, den Anforderungen der fortgeschrittenen religiösen Erkenntniss zu genügen, so daß der ganze Gottesdienst und der Inhalt der Gebete auch vollkommen dem nunmehrigen religiösen Bedürfnisse entspreche“ (HT 164f). Jedoch muss berücksichtigt werden, dass diese angedeuteten Reformtendenzen nicht das gesamte deutsche Judentum durchdringen, dafür aber zahlreiche kon­ troverse Diskussionen auslösen sowie unterschiedliche religiöse Positionen sichtbar werden lassen.35 Die konstatierte „Kluft“ (JJ 170) bedingt gewisse Konsequenzen. So ist erkennbar, dass aufgrund der Divergenz zwischen dem bestehenden religiösen System und der veränderten Wirklichkeit sowie Gesinnung der Menschen die jüdische Religion in der gegenwärtigen Zeit, in der die Juden durch die Aufhebung der Ghettoisierung mit konkurrierenden Werten und Ideen in Berührung kommen, deutlich an Relevanz einbüßt. Dieser Bedeutungsverlust drückt sich in einer gleichgültigen Haltung gegenüber dem Judentum aus. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade die jüngere Generation die traditionellen Satzungen nicht mehr kennt und das Unwissen das Desinteresse noch forciert, welches sich wiederum bis hin zur Entfremdung verschärfen kann. Die Allgemeinbildung und die bürgerliche Lebensform entthronen immer mehr die jüdischen Bildungsgüter und die spezifisch jüdische Lebensweise, sodass eine Zunahme der deutschen Sphäre bei gleichzeitiger Reduzierung der jüdischen und ein damit einhergehender Profilverlust jüdischer Bildungsgüter wahrgenommen werden können (vgl. RG 166). Geiger konstatiert daher ein fehlendes „lebendige[s] religiöse[s] Interesse“ (MGJ 462) innerhalb des Judentums und bezeichnet den „Indifferentismus“ als „schwere Krankheit“ und „Altersschwäche“ (ZgL 89).36 Diese von ihm gewählten Termini deuten auf die negativen Auswirkungen der herrschenden indifferenten Gesinnung hin, die Geiger wie folgt spezifiziert: „Unsere Zeit ist im Allgemeinen religiös indifferent geworden, sie hält den religiösen Irrthum […] nicht einmal mehr der Bekämpfung würdig. Sie glaubt ihn durch Ignorieren genügend zu strafen, wähnt er sei nicht vorhanden, wenn sie die Augen vor ihm schließt“ (ZgL 88). Es zeigt sich also, dass die Gleichgültigkeit jegliches Handeln hemmt und das Bewusstsein für bestehende Missstände trübt, was zur Folge hat, dass die Diskrepanz zwischen Lehre und Leben nicht gelöst, sondern vielmehr stabilisiert 35 36

Vgl. Meyer, Jüdische Gemeinden im Übergang, 125–129, 133. Zum Reformjudentum vgl. Meyers überzeugende Studie: ders., Response to modernity. Geiger führt weiterhin aus: „Allein diese Schlaffheit ist in der fortschreitenden Richtung nun einmal vorhanden; wir haben den Indifferentismus, die Schlingpflanze, welche sich an die freie Bewegung anhängt, bereits kennen gelernt“ (ZgL 93).

48Hinführung wird. Daher nimmt Geiger auch „Stille“ in Form von „Leblosigkeit“ im gegenwärtigen Judentum wahr (ZgL 88)37. Demnach wird die Weiterentwicklung des Judentums aufgrund mangelnden Interesses und Engagements von innen gefährdet. Das heißt zum einen, dass auch eine innere Dynamik die Existenz des Judentums bedroht und zum anderen, dass der Akkulturations- und Integrationsprozess des Judentums durchaus auch negative Konsequenzen nach sich zieht und nicht uneingeschränkt positiv, sondern ambivalent zu beurteilen ist. Der Indifferentismus als eine Ausdrucksform der Distanzierung kann sich letztlich bis hin zur Ablösung vom Judentum verschärfen, die wiederum durch äußere Faktoren noch begünstigt wird.38 Die offenkundige Verzahnung von externen und internen Kräften impliziert also ein äußerst negatives Potential, welches die Zukunftsfähigkeit des Judentums infrage stellt. Neben einer gleichgültigen und distanzierten Haltung kann nach Geigers Einschätzung eine weitere negative, unproduktive Einstellung innerhalb des deutschen Judentums wahrgenommen werden. So gibt es Juden, welche die veränderte Wirklichkeit ignorieren, im blinden Gehorsam an überlieferten Ordnungen und Satzungen festhalten und so einer Mumifizierung der Tradition und des Ritus Vorschub leisten. Geiger führt dazu aus: „Diejenigen, welche streng am Hergebrachten halten, sind bloss formgläubig, ihnen wohnt nicht ein warmer Glaube inne, der seinen Sitz im Herzen hat und sich von dort aus über ihr Ganzes verbreitet, sie kennen, wie sich ein alter Lehrer schön ausdrückt, Gliederpflichten, aber keine des Herzens“ (MGJ 459). Neben jeglicher Reflexion und der Erkenntnis der gegenwärtigen Lage fehlen demnach auch emotionale Ergriffenheit und Zustimmung, was das Ausüben von religiösen Traditionen zu einer „todte[n] Uebung“ (MGJ 460)39 verkommen lässt. Der Mangel an Lebendigkeit sowie die Veräußerlichung und Aushöhlung jeglicher religiösen Praxis, die bereits am Beispiel des Gottesdienstes veranschaulicht worden sind, sind offenkundig. Geiger stellt daher heraus: „Die Meisten leben in einer Religion, die nicht in ihnen lebt, und sind dennoch nicht bemüht, diesen Zwiespalt zu lösen“ (WtN 253). Das Festhalten an alten Gepflogenheiten wird häufig durch kontextuelle Bedingungen in Gestalt einer gewissen Milieufrömmigkeit und eines religiösen Konformitätsdrucks bedingt und entspringt nicht zwangsläufig der inneren Einstellung beziehungs37

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Geiger expliziert: „Die lebensvolle geistige Anregung, welche in den dreißiger und vierziger Jahren vorzugsweise von Rabbinern ausging und weiterhin, über Deutschland, ja über die Judenheit hinaus sich verbreitete, überall mächtigen Anklang fand, ist erstarrt. Die Kämpfe, welche daraus sich entwickelt hatten, haben sich gelegt. Es herrscht Stille“ (RG 165). Geiger entfaltet seine Position zum Austritt aus dem Judentum respektive zur Konversion in folgendem Aufsatz: Geiger, Ueber den Austritt aus dem Judenthume. An anderer Stelle konstatiert Geiger eine „starr gewordene Religionsübung“ und „in Aeußerlichkeit vertrocknete[ ] Uebungen“ (ZgL 84).

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums49 weise dem eigenen Gefühl. Trotz Befolgung der Gebote und der daraus resultierenden Wahrung von Kontinuität kann demnach eine Diskrepanz konstatiert werden. Denn das gesetzeskonforme Handeln impliziert nicht zwangsläufig die entsprechende Kenntnis und Bejahung der dahinter stehenden religiösen Wahrheit und einen aufrichtigen Glauben, sodass durchaus eine Divergenz zwischen äußerem Gebaren und innerer Haltung existieren und von einer ganzheitlichen Frömmigkeitspraxis nicht die Rede sein kann. Demnach wird äußerlich zwar an der jüdischen Tradition festgehalten, die zugrunde liegende jüdische Idee jedoch nicht automatisch mitgetragen. Dieser „Formglaube“ (RS 315) und diese „Formknechtschaft“ (RS 318), die nach Geigers Ansicht im gegenwärtigen Judentum zu beobachten sind, leisten der Rückständigkeit desselben Vorschub, drücken die Traditionsfixierung aus und stehen einer konstruktiven Weiterentwicklung im Weg, was einmal mehr zeigt, dass auch innere Kräfte die Zukunftsfähigkeit des Judentums erschweren. Besonders die Frage nach der jüdischen Identität gewinnt in einer Zeit des geistigen und sozialen Umbruchs an Relevanz beziehungsweise Brisanz.40 Im Zuge der fortschreitenden Emanzipation und Akkulturation sind viele Juden bestrebt, sich in den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft zu integrieren und so den Status von gleichberechtigten Bürgern zu erlangen. Sie sind dafür teilweise bereit, ihre spezifisch jüdischen Traditionen und in manchen Fällen sogar ihren jüdischen Glauben aufzugeben, um jegliche Differenzierungsmerkmale zu tilgen. Der erhöhte Taufdruck des Staates begünstigt diese Bemühung noch. Bei vielen Juden sind oftmals ein hoher Integrationswille und ein ausgeprägtes Nationalgefühl erkennbar, wie Geiger erläutert: „Die Juden und das Judenthum entkleiden sich nothwendig, dem ganzen Zeitbewusstsein folgend, des sie abscheidenden Confessionellen; als Träger einer bestimmten Religion müssen sie diese immer mehr zu dem Ausdrucke allgemeiner religiöser Ideen erheben, sie können sie nicht in starrer Abgrenzung erhalten“ (ZgL 83). Das existenzielle Dilemma ist ersichtlich: Juden müssen sich scheinbar entweder dazu entschließen, die eigene religiöse Individualität um der Gleichstellung willen aufzugeben, sich selbst somit zu verleugnen, oder durch das Festhalten am Eigenständigen, also Trennenden, die ungleiche Behandlung und Ausgrenzung zu riskieren (vgl. JZB 453). Geiger aber fragt sich, ob die beiden gezeichneten Extrempositionen die einzigen Möglichkeiten darstellen oder ob das Festhalten an jüdischen Traditionen bei gleichzeitiger kultureller Integration realisiert werden kann. Letzteres wurde bereits im 18. Jahrhundert von Moses Mendelssohn (1729–1786) demonstriert, da 40

Zur jüdischen Identität vgl. Meyers überzeugende Studien: Meyer, Jüdisches Selbstbewusstsein; ders., Jüdische Identität in der Moderne; ders., Jüdische Wissenschaft und jüdische Identität.

50Hinführung er die Scheidung von Religion und Kultur vorgelebt hat und daher gewissermaßen als Beispiel einer gelungenen Akkulturation fungiert. Aufgrund des zunehmenden Indifferentismus kann eine Abnahme des jüdischen (Selbst)Bewusstseins konstatiert werden, sodass die jüdische Identität zwar noch vererbt wird, ohne jedoch tatsächlich angenommen und verkörpert zu werden. Geiger erklärt: „Allerdings lebte in ihm keine besondere Teilnahme für das Judenthum; es war noch immer die Blüthezeit des Indifferentismus, sie hingen nur mit ihm zusammen durch vereinzelte Erinnerungen aus dem Vaterhause, sociale Berührungen und Negation des Christentums […]. So entbehrten sie […] der Theilnahme für das religiöse Leben, das doch eigentlich den Juden zum Juden macht […]“ (AJG 251). Die jüdische Identität gründet sich demgemäß häufig nur noch auf die Kindheit und Erziehung, drückt sich jedoch nicht mehr im lebenspraktischen Vollzug aus. Der Verlust von jüdischen Bindungen und eine damit einhergehende Neuorientierung sind evident. Die Aufhebung der Ghettoisierung und die grundsätzliche Verbesserung der Lage für Juden haben ebenfalls dazu beigetragen, dass das Identitätsbewusstsein an Intensität verloren hat. Angesichts der sozialen und kulturellen Vielfalt, an der auch die Juden partizipieren, und der zunehmenden Integration verliert das Jude-Sein als gemeinsamer Nenner und verbindendes Element offenkundig immer mehr an Relevanz und es stellt sich die Frage, was es noch bedeutet, Jude zu sein (vgl. WtN 253). Geiger verweist auf die virulenten Spannungen, die sich zwischen Judentum und Deutschtum respektive Tradition und Moderne auftun und mit denen sich das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert auseinander zu setzen hat. Die Frage nach der jüdischen Identität spitzt sich demnach zu einer Identitätskrise zu, die sich letztlich bis hin zum Identitätsverlust steigern kann. Angesichts neuer struktureller Gegebenheiten gilt es deshalb, sich als Jude in der deutschen Gesellschaft beziehungsweise Kultur sowie in der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu positionieren und die deutsch-jüdische Identität angesichts der doppelten Zugehörigkeit neu zu formulieren und ein modernes jüdisches Selbstverständnis zu begründen. Betrachtet man das gegenwärtige Judentum im Ganzen, fällt auf, dass es sich nicht als eine in sich geschlossene Größe präsentiert, sondern verschiedene Richtungen mit je unterschiedlichen Haltungen und Bestrebungen inkludiert. Die divergierenden Positionen lösen wiederum innerjüdische Auseinandersetzungen aus, sodass Geiger bemerkt: „Eine solche nicht abzuleugnende Thatsache ist nun die Zunahme von Streitigkeiten im Schooße der jüdischen Gemeinden wegen der Verschiedenheit der Glaubensüberzeugungen, und Thatsache ist es, daß solche Zwistigkeiten alsbald den anfänglichen untergeordneten localen Charakter verlieren und eine umfassendere Betheiligung und Bedeutung gewinnen“ (SSZ 139). Demzufolge prägen Konfrontationen und religiöse Zwietracht das Judentum, das durch den geschwächten Gemeinschaftstrieb auch an äußerem Ansehen und

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums51 Stärke einzubüßen droht. Innere Differenzen können die äußere Stellung negativ beeinflussen, da das Judentum nicht mit vereinter Stärke als eine einhellige Gemeinschaft auftreten kann. Gleichwohl ist ein zusammenhaltendes Judentum noch keine Garantie für externe Anerkennung und Gleichberechtigung, da ein Konsens nicht zwangsläufig Einsatz sowie Hingabe nach sich zieht (vgl. SSZ 147). Auseinandersetzungen können demnach auch positiv als schöpferische Triebfedern und als Zeichen des lebendigen Interesses sowie der engagierten Mitwirkung gedeutet werden und sind demzufolge konstruktiver als eine indifferente Haltung, die sich in keinerlei produktiven Handlungen verdichtet (vgl. SSZ 150). Die innerjüdischen Debatten kreisen vornehmlich um die göttliche Offenbarung sowie deren Ausdruck in den heiligen Schriften und die daraus folgenden praktischen Bestimmungen, tangieren also das Verständnis der jüdischen Religion und Theologie insgesamt. Vereinfacht betrachtet kann nach Geiger zwischen zwei extremen Richtungen unterschieden werden: einmal die Gruppe, die, durch den ideellen Kontext beeinflusst, eine zeitgemäße Form des Judentums intendiert und demgemäß für radikale Veränderungen im Sinne von Neugestaltungen plädiert und die andere Gruppe, die trotz der veränderten Wirklichkeit an alten Traditionen und Werten festhält und jegliche Reform ablehnt, um die Kontinuität zu wahren (vgl. JZB 453).41 Auffällig ist, dass sich die religiöse Differenzierung immer weiter verfestigt und letztlich auch institutionalisiert.42 Die religiöse Praxis ist folglich nicht mehr das verbindende und einheitsstiftende Element, sondern vielmehr ein spaltendes Moment. Es erweckt den Eindruck, dass einzig die gemeinsame Perspektive auf die Gleichstellung im deutschen Staatengefüge ein Gemeinschaftsgefühl konstituiert. Infolgedessen müssen die unterschiedlichen religiösen Positionen dahingehend ins Gespräch gebracht werden, dass die Existenz des Judentums auf Dauer gesichert wird, der Zerfall abgewendet wird und die jüdische Religion trotz abweichender Positionen wieder Zusammengehörigkeit hervorrufen kann. Wendet man sich den jüdischen Gemeinden im Einzelnen zu, kann konstatiert werden, dass ihnen professionelles Führungspersonal fehlt, was gravierende 41

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Diese vereinfachte Einteilung in zwei Gruppierungen wird der realen Situation und den verschiedenen Strömungen des deutschen Judentums selbstverständlich nicht gerecht, sondern verweist lediglich auf die beiden Extrempositionen. Es muss berücksichtigt werden, dass die Trennungslinie zwischen den einzelnen Richtungen nicht scharf zu ziehen ist und es bei aller Divergenz auch Übereinstimmung gibt (vgl. GZ 298; JZB 453). Letztlich kristallisieren sich im 19. Jahrhundert die Strömungen des Judentums heraus, die bis heute das Judentum ausmachen. So kann primär zwischen dem orthodoxen und nicht-orthodoxem Judentum unterschieden werden, wobei sich Letzteres in einen radikalen, einen liberalen und einen konservativen Zweig ausdifferenziert. Meyer beschreibt das Profil der Richtungen, indem er die jeweiligen Protagonisten, das heißt Hirsch, Frankel, Geiger und Holdheim, vorstellt (vgl. Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 145–159).

52Hinführung strukturelle und ideelle Konsequenzen nach sich zieht. Geiger erklärt daher: „Die Männer, welche die Kenntnisse und den Muth haben, mit Einsicht und Hingebung als Führer zu dienen, schwinden allmälig hin, so daß die Gemeinden bald der leitenden Kräfte entbehren und in gehaltlose Atome sich auflösen“ (WtN 252). Der Mangel an Rabbinern schlägt sich in einer Perspektiv- und Orientierungslosigkeit der Gemeinden nieder, die sich letztlich, gerade in einer Situation des Umbruchs beziehungsweise der Identitätsdiffusion, bis zum Zerfall zuspitzen kann. Geiger beklagt jedoch nicht nur den Mangel an Rabbinern überhaupt, sondern auch deren defizitäre Ausbildung, die seinem Verständnis von wissenschaftlicher Bildung nicht genüge leisten kann. Er rekurriert auf die Jeschiboth, welche das Talmud-Studium ins Zentrum stellen und sich ausschließlich der Vermittlung von rabbinischen Weisungen verschrieben haben. Der Rabbiner alten Typs zeichnet sich dementsprechend als frommer Kenner des Talmuds aus. Die Stätten der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit entbehren in Geigers Augen der modernen Wissenschaftlichkeit. Sie partizipieren nicht am ideengeschichtlichen Wandel, erfahren keinerlei Prägung durch die Moderne und können den gegenwärtigen Bedürfnissen demzufolge nicht mehr gerecht werden. Es offenbart sich eine Kluft zwischen jüdischen Institutionen, der dort geleisteten Bildungsarbeit, und der Situation in den Gemeinden, was erneut den Eindruck der Rückständigkeit aufkommen lässt. Hinzu kommt, dass immer mehr Jeschiboth schließen, sodass selbst diese ohnehin unzureichend arbeitenden Institutionen nicht mehr verfügbar sind und Ausbildungsstätten für Rabbiner gänzlich fehlen (vgl. FacI 13–16).43 Das beschriebene Defizit resultiert, wie oben bereits beschrieben, einerseits aus der strukturellen Benachteiligung durch den deutschen Staat, das heißt also vorrangig aus der fehlenden Institutionalisierung der jüdischen Wissenschaft. Andererseits spielen jedoch auch innere Faktoren in Gestalt von traditionsbewussten Juden eine Rolle, die einem akademisch geschulten Rabbiner, welcher jüdisches und akademisches Bildungsgut in sich vereint, im Weg stehen und am alten Rabbiner-Typus festhalten.44 Demzufolge kann abermals ein Zusammenwirken von externen und internen Kräften festgestellt werden, welches die Perspektiv- und Orientierungslosigkeit und den fehlenden Fortschritts43

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Geiger schreibt dazu: „Früher hatte man unter Theologen blos Männer verstanden, die in den einzelnen Gesetzesbestimmungen zu entscheiden wussten; dafür hatten die Jeschiboth, Schulen, wo sie die rabbinischen Bestimmungen kennen lernten, wo sie zugleich durch die Anleitung eines kundigen Lehrers und durch den Umgang mit ihm auch die praktische Anwendung sich erwarben, und Dies genügte“ (FacI 13). Ferner charakterisiert er die Jeschiboth wie folgt: „Freilich hatte hier nicht der wissenschaftliche Sinn allein, sondern meist der religiöse mit seiner Allgewalt diese Anstalten erzeugt“ (FacI 19). Vgl. exemplarisch zur Auseinandersetzung zwischen dem alten und neuen Rabbinat die Streitigkeiten zwischen Tiktin und Geiger: Geiger, Die letzten zwei Jahre; Gotzmann, Der GeigerTiktin-Streit; Philipson, The reform movement in judaism, 51–74.

Geigers Zeitdiagnose: Die Lage des gegenwärtigen Judentums53 willen jüdischer Gemeinden stabilisiert sowie Stagnation fördert. Ferner zeigt sich, dass auch das Rabbinerverständnis und damit einhergehend die Rabbinerausbildung durch den kontextuellen Umschwung beeinflusst werden und demnach einer Neukonzeptionalisierung bedürfen, um den veränderten Bedingungen gerecht werden zu können.45 Abschließend gilt es, den Fokus auf die jüdische Wissenschaft zu richten. Die traditionelle jüdische Gelehrsamkeit ‚Talmud Tora‘ meint gemäß ihrem Selbstverständnis das intensive Studium heiliger Texte, ist in den Jeschiboth institutionalisiert und rückt den Talmud in das Zentrum. Die Konzentration auf den Talmud resultiert daraus, dass dieser als unangefochtene jüdische Autorität verstanden wird, die jegliches Wissen impliziert, als Orientierung für das Leben fungiert und jedes Infragestellen a priori unterdrückt (vgl. FacI 2f). Infolgedessen finden quellenkritische Methoden keinerlei Anwendung und reflektierte Auseinandersetzungen keinen Raum. Die religiöse autoritätsgläubige Gelehrsamkeit entbehrt dementsprechend der Wissenschaftlichkeit im modernen Sinne und nährt dadurch den Eindruck der Rückständigkeit.46 Genau wie die jüdische Tradition verharrt anscheinend auch die jüdische Wissenschaft im Stillstand, wohingegen sich das Leben weiterentwickelt hat. Die Diskrepanz zwischen jüdischer Wissenschaft und religiösem Leben ist offenkundig und zeigt, dass die jüdische Wissenschaft den gegenwärtigen virulenten Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden kann, der eigentlich produktive Nexus zwischen Wissenschaft und Leben gestört und der Gegenwartsbezug der jüdischen Wissenschaft nahezu aufgehoben ist, was ihre Wirksamkeit und Funktionalität stark begrenzt (vgl. FacI 11f).47 Die festgestellte Kluft fußt primär auf der fehlenden Institutionalisierung der jüdischen Wissenschaft und somit auf der staatlichen Benachteiligung des Judentums, gründet sich teilweise jedoch auch auf innere Kräfte, die sich der Bewahrung der Tradition verschrieben haben und Fortschritte aufzuhalten suchen. Neben dem Festhalten an der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit zeichnen sich aufgrund der Verortung in der deutschen Umwelt und der daraus resultierenden Bewusstseinserweiterung auch Tendenzen der Öffnung gegenüber wissenschaftlichen Methoden und Kategorien ab (vgl. FacI 3).48 Zwei zentrale Ereignisse der Zeit sind hier wirkungsreich. So bestimmen die Berliner Universitätsgründung, die 1810 im Zuge der allgemeinen preußischen Bildungsreform 45 46 47 48

Vgl. Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 165–168. Geiger schreibt dazu in einem Brief an Stern: „Die Alten wissen nicht bloss nicht, was Freiheit heisst, sondern verstehen auch nicht, was Wissenschaft heisst“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 90). Geiger formuliert dazu: „Die Wissenschaft stand stille, das Leben ging über sie hinaus […]“ (FacI 12). Geiger konstatiert beispielsweise: „Wie hat sich der Sehkreis plötzlich erweitet! […]“ (FacI 4).

54Hinführung vornehmlich von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) realisiert wird, und die wissenschaftstheoretischen Diskurse im Idealismus und Neuhumanismus die geistige Sphäre Anfang des 19. Jahrhunderts.49 Fichte (1762–1814), Humboldt, Schelling (1775–1854) und auch Schleiermacher legen ihre jeweiligen Wissenschaftskonzeptionen zur Zeit der Institutionalisierung vor und verorten das Thema Wissenschaft im öffentlichen Bewusstsein sowie in der intellektuellen Debatte.50 Auch im Judentum gewinnen Wissen und Erkenntnis immer mehr an Bedeutung, wohingegen die Konzentration auf die rabbinischen Bestimmungen und Satzungen an Relevanz verliert. Geiger konstatiert dementsprechend eine Neuorientierung hin zum geistigen Ertrag und zur intellektuellen Schaffenskraft und bezeichnet den Geist als das entscheidende Kontinuum und identitätsstiftende Moment in der jüdischen Geschichte, wodurch er die religiösen Satzungen nahezu entwertet (vgl. AG 22).51 Die Befruchtung des Judentums durch moderne Ideen und eine langsame Ablösung vom alten Bildungsverständnis mit gleichzeitiger Hinwendung zum neuen sind in Ansätzen bereits zu erkennen.52 Daran anknüpfend kann die These aufgestellt werden, dass die gegenwärtige Lage des Judentums, die durch Diskriminierung und Gleichberechtigung sowie durch die Polarität von Tradition und Moderne bestimmt ist, für Geiger einzig mittels Bildungsanstrengung zu verbessern ist, weil sie extern vernetzt, intern reformiert und so Missstände zu beseitigen vermag. Diese Annahme gilt es bei der Darstellung von Geigers Wissenschaftsverständnis mitzuführen und zu überprüfen.

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Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 56–65, 470–481. Vgl. Fichte, Deduzierter Plan einer in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe; von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin; Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums; Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Geiger erläutert diesen Perspektivenwechsel in folgender Weise: „[…] war das Band, welches die Satzungen geschlungen hatten, zerrissen, so war ein neues bei den Begabteren an dessen Stelle getreten, die Theilnahme an dem ererbten geistigen Gute; war die Traditionskette der Lebensregeln gebrochen, so schlang man sich gerne als neuen Ring in die Traditionskette der Wissenden und Lehrenden“ (AG 22). Vgl. zu den Anfängen der Wissenschaft des Judentums Kapitel 1 des III. Hauptteils und exemplarisch: Carlebach (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums; Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums; ders., Jüdische Identität in den Jahrzehnten nach 1848, 343–348; Schulte, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums; ders., Die Wissenschaft des Judentums.

Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff55

2. Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff Den allgemeinsten Horizont des Geigerschen Wissenschaftsbegriffs bietet die Formulierung „Ertrag der gesammten geistigen Entwickelung der Menschheit“53, in der „Geist[ ]“ als die Vernunft beziehungsweise die Reflexion in ihrer Entfaltung und „Ertrag“ als die Ganzheit methodisch kontrollierter, resümierender Wahrnehmung der Selbstbezüglichkeit des Geistes gedeutet werden können. Dieser weite Wissenschaftsbegriff impliziert keine inhaltliche Festlegung, da die universale Perspektive eine Konzentration auf bestimmte Sphären oder Ausprägungsformen des Geistes ausschließt. Weil sich der Geist auf das Sein schlechthin erstreckt und seine Erkenntnis prinzipiell unbegrenzt ist, gibt es keine Beschränkung auf gewisse Gebiete der Wirklichkeit. Die Idee des Ganzen ist vielmehr leitend. Der Geist impliziert Selbstbezüglichkeitsstrukturen und weist eine Selbstbewusstseinscharakteristik auf. Er wird als eine schöpferisch und gestaltend wirkende Kraft verstanden, die ihre Ausformung selbst schafft, die also die Fähigkeit besitzt, sie selbst zu werden. Der Geist fungiert daher als absoluter Selbstgrund seines Seins und Wissens. Er wird prozessual, hat folglich eine Geschichte, in der er zur Anschauung seiner selbst kommt. Als formendes Prinzip erzeugt der Geist verschiedene Produkte, stiftet deren Sinn und manifestiert sich somit in vielfältigen Ausprägungen, so auch in der Wissenschaft, die unter den Werken des Geistes eine besondere Stellung einnimmt. Sie wird als die „edle Frucht […] des Geistes“ (AJG 268) bezeichnet, da sie die methodische Erschließung des humanen Geistes ist. Die Wissenschaft analysiert demnach die Erzeugnisse, die der humane Geist hervorbringt. Sie fungiert als Deutungsform und damit, wie sich zeigen wird, in gewisser Weise auch als Ordnungssystem des geistig-schöpferischen Lebens, welches durch sie erkenn- sowie darstellbar und dadurch objektiv und für alle verfügbar wird. Die Struktur des Geistes wird dabei selbst Gegenstand der Wissenschaft, die nicht nur auf die Ergebnisse seines Tuns, sondern auch auf seine inneren Voraussetzungen bezogen ist. Die Wissenschaft wirkt demnach als ein selbstreflexives Instrument zur Organisation, Darstellung und Interpretation der vorfindlichen Wirklichkeit, die sich wiederum in verschiedene Sphären ausdifferenziert. Es ist offenkundig, dass die Wissenschaft, als eine spezifische Ausdrucksform des Geistes und gleichzeitig als ein Deutungsmittel desselben, unter allen mentalen Aktivitäten des Menschen eine außergewöhnliche Position einnimmt. Sie ist die differenzierteste Ausprägung des Geistes, weil sie nicht nur auf alle gesellschaftlichen Wissensbestände bezogen ist, sondern auch 53

Brief Geigers an Theodor Nöldeke vom 30. November – 1. Dezember 1865, in: S 5, 301. Geiger erwähnt in diesem Brief, dass zwischen ihm und dem Orientalisten Nöldeke Konsens bezüglich des „Wesen[s] der Wissenschaft“ bestehe (ebd.). Auf welche konkreten wissenschaftsprogrammatischen Äußerungen Nöldekes Geiger in dem Brief rekurriert, bleibt jedoch unklar.

56Hinführung deren innere Voraussetzungen namhaft macht. Der zuletzt genannte Aspekt bleibt bei Geiger freilich unbetont, denn eine Theorie des Geistes führt er nicht an.54 Bei ihm ist vielmehr eine Orientierung hin zum Historischen erkennbar, wie aus Formulierungen der „stufenweisen Entwickelung alles geistig Gewordenen“ (GZ 300) und „ein durch den Strom der Zeiten sich hindurchziehender Geist, der immer neu schafft und belebt“ (JGIII 50) hervorgeht. Die Prozessualität und Unendlichkeit der geistigen Gestaltungskraft sind für ihn vor allem historische Tatbestände und lassen den Geist als den Inbegriff geschichtlichen Lebens erscheinen. Eine erste Konkretisierung erfährt der Wissenschaftsbegriff, wenn Geiger die Wissenschaft als „das innerste Lebensmoment“ und den „tiefste[n] Gehalt aller wahrhaft geistigen Bewegung“ (FacI 1) bezeichnet. Das kann dahingehend gedeutet werden, dass die Wissenschaft als daseinsbedingender Kern geistiger Aktivität und demzufolge als Kulturfaktor verstanden wird. Sie fundiert also die geistige Tätigkeit, indem sie deren Substanz bildet sowie gleichzeitig deren Sinn stiftet und zwar beides in überlegener Weise. Geiger betrachtet die Wissenschaft als inneren Motor und selbstreflexive Kraft jeglicher geistigen Bewegung und nennt sie daher auch „befruchtenden Keim des Geistes“ (AJG 268). Dadurch verweist er auf ihre kreative und inspirierende Gestaltungs- und Wirkungskraft und das ihr innewohnende Entwicklungspotential. Demnach initiiert die Wissenschaft auch geistige Bewegungen sowie Taten und fungiert somit als deren Triebfeder und reflexive Daseinsgrundlage. Die Entwicklung des Geistes vollzieht sich unter der Führung der Wissenschaft, die folglich kulturproduktiv ist und stets auf das Leben zurückwirkt. Daher konstatiert Geiger: „[…] sie [die Wissenschaft] tritt plötzlich ans Licht hervor, in ihrer Hand das sichre Leitseil, das, unmerklich beginnend, sie in die hohen Räume des Menschengeistes, sie auch auf den Marktplatz des Lebens führt“ (FacI 1). Die Wissenschaft ist offensichtlich auch in der realen Lebenswelt verortet und findet dort ihre Anwendungssphären. Die Wirksamkeit der Wissenschaft erstreckt sich demnach auch auf das materielle Leben, indem gewonnene geistige Kenntnisse für dieses fruchtbar gemacht werden und es entsprechend gestalten. Ferner erwachsen die Forschungsgegenstände und -anlässe unter anderem aus der Realität, sodass sich ein produktiver Nexus zwischen Wissenschaft und konkretem Leben respektive Theorie und Praxis auftut. Der Gegenwartsbezug wird deutlich, da die Wissenschaft in der facettenreichen Lebenswelt verankert und dort in vielerlei Gestalt schöpferisch tätig ist. Eine weitere Konkretisierungsstufe des Wissenschaftsbegriffs ergibt sich, wenn Geiger die Wissenschaft als kategoriale Arbeit definiert, wie folgende Äußerung zum Ausdruck bringt: „[…] wo sie [die Wissenschaft] mit ihrer eindringenden 54

Meyer bezeichnet Geigers Vorstellung des jüdischen Geistes aufgrund ihrer fehlenden Schärfe auch als „an intuitive concept“ (Meyer, Abraham Geiger’s historical Judaism, 9).

Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff57 Kraft sich hinwendet, da wird es licht und helle; der zuvor ihr in ungeordnetem Chaos vorliegende Stoff wird entwirrt, und aus der rohen Masse wird eine übersichtlich klare Zusammenfügung verschiedener Theile, die sie uns wiederum als ein wohl geordnetes Ganzes überliefert“ (FacI 1). Die Wissenschaft sichtet demgemäß zunächst das disparate, unübersichtliche Material, formt es und kategorisiert letztlich die gewonnenen Einsichten. Sie konstituiert durch die Verwendung distinktiver Begriffe Ordnung und Struktur. Dadurch strebt sie nach der Bildung eines Systems, welches sich als ein einheitlich geordnetes Ganzes darstellt. Sie löst demzufolge das vormals nebulöse Durcheinander auf und schafft Klarheit. Das System stiftet Zusammenhänge, indem es einzelne Momente zu einem Ganzen verbindet, Sinn-, Beziehungs- und Abhängigkeitsstrukturen dadurch sichtbar macht, das Material in seiner Gesamtheit erschließt und Verstehensprozesse anbahnt. Die Kategorisierung fungiert dabei als Voraussetzung aller weiteren Beschäftigung, denn nur durch die Zuordnung von Begriffen kann eine definierte, objektivierbare Basis geschaffen und die Erkenntnis, die Artikulation sowie der Austausch von Wahrnehmungsinhalten ermöglicht werden. Der Stoff und die implizierten Ideen werden so begreifbar und damit auch reflektier- und bearbeitbar. Geiger konkretisiert die systematisierende Aufgabe dadurch, dass er erläutert: „Und die Wissenschaft muss es auch sein, die aus dem massenhaften Detail die leitenden Gedanken, die Hauptgegebenheiten herauszufinden weiss, die auch sich bei der Betrachtung des Einzelnen nicht zu verlieren weiss in dem ganzen Gange der Entwickelung“ (AJG 249). Die Wissenschaft scheidet hiernach Wesentliches von Unwesentlichem und ergründet dadurch die zentralen Ideen. Die Differenzierung zwischen Wichtigem und Unwichtigem eröffnet einen Zugang zum ehemals ungeordneten Material und fördert auf diese Weise das richtige Verstehen und die wahre Erkenntnis. Die Wissenschaft stiftet demzufolge durch ihre präzise Vorstrukturierung Orientierung und Transparenz. Sie widmet sich einzelnen Aspekten, beleuchtet und würdigt diese, weiß jedoch auch um die Ganzheit und überblickt alle Zusammenhänge. Folglich verortet sie die verschiedenen Teile im Gesamtkontext und erbringt so trotz Detailbetrachtungen stets eine Syntheseleistung. Die Wissenschaft konstituiert also ein Sinngefüge, macht dieses durch Begriffe fassbar und speist es auf diese Weise in die Ebene des Diskurses ein. Geiger konkretisiert seinen Wissenschaftsbegriff weiter, indem er die Freiheit55 und daraus resultierend die Unabhängigkeit sowie Unparteilichkeit als ihre zentralen objektiven Merkmale benennt. Er legt dar: „Die wahre Wissenschaft ist keusch und hehr, sie vermischt sich nicht buhlerisch mit ihr fremden 55

Vgl. ergänzend zur Freiheit der Wissenschaft: „[…] die Wissenschaft aber bedarf einer viel zu ungehemmten Freiheit zu ihren Forschungen, als daß sie sich in die Grenzen einzwängen könnte […]“ (A 72).

58Hinführung Parteiwünschen, und sie entwürdigt sich nicht zur Verbindung mit anderswoher fliessenden Zwecken […]“ (ZJ 16).56 Geiger stellt hiernach heraus, dass sich die Wissenschaft nicht von (staatlichen) Absichten determinieren und von fremden Interessen instrumentalisieren lassen dürfe und steht damit ganz in der Tradition der Aufklärung.57 Er plädiert für die allgemeine Freiheit der Wissenschaft von jeglichen interessengeleiteten Bestrebungen und lehnt jede Fremdbestimmung ab. Die Wissenschaft zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie einer uneingeschränkten Selbstbestimmung verpflichtet ist und ihre Autonomie nicht durch externe Vorgaben, Anforderungen und Zielsetzungen einschränken lässt. Sie ist demnach bar jeglicher Manipulation und Restriktion. Aufgrund der ausgeprägten Emanzipation bleibt sich die Wissenschaft daher selbst treu und veräußert sich nicht für niedere Absichten, was ihr Respekt und Hochachtung einbringt. Bringt die Autonomie das Verhältnis der Wissenschaft zu externen Größen des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontextes zum Ausdruck, so bezieht sich die weitere Konkretisierungsdimension auf das Innere der Wissenschaft. Denn einhergehend mit der Freiheit kann das Streben nach Wahrheit als eine weitere entscheidende Triebfeder der Wissenschaft benannt werden. So zielt die Wissenschaft stets darauf ab, die Wahrheit zu ermitteln und schließlich zu artikulieren, unabhängig von den daraus resultierenden Konsequenzen. Die Wissenschaft definiert sich demnach durch eine explizite Sachbezogenheit, die einzig der Wahrheit und damit intrinsischen Motiven verpflichtet ist und keine fremde Interessensorientierung aufweist. Geiger zeichnet das Bild einer reinen vom Selbstzweck bestimmten Wissenschaft, die keinerlei externe Zielsetzung zu erfüllen sucht und einzig von der Wahrheit im Sinne eines Motors angetrieben wird und gleichzeitig auf diese hinsteuert (vgl. FacI 9). Neben den objektiven Bedingungen der Wissenschaft formuliert Geiger auch subjektive, indem er bestimmte Dispositionen der Wissenschaftler einfordert und so eine weitere Konkretisierung seines Wissenschaftsbegriffs erreicht. Er unterstreicht, dass eine bestimmte Geistesauffassung unabdingbar sei und erörtert: „Die Wissenschaft verlangt im Allgemeinen nicht bloss die Aufnahme von Kenntnissen, sondern auch den rechten sittlichen Ernst, mit dem wir an sie herangehen, wenn wir ihre Schätze heben wollen“ (ETh 3).58 Er führt weiter aus: „Nur der Begeisterung für diese Idee wird es gelingen, in 56 57 58

Das Zitat entstammt dem Prospectus der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, welches trotz intensiver Recherche nicht gefunden wurde. Daher muss auf den Abdruck in Geigers Artikel Die letzten zwei Jahre zurückgegriffen werden. Vgl. exemplarisch: Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Geiger schreibt außerdem: „Hat dieselbe gar praktische Ausläufer, so muss der Zweck, zu welchem sie angewandt wird, mit der vollen, sittlichen Wertschätzung ergriffen werden […]“ (ETh 3).

Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff59 die Tiefen dieser Wissenschaft einzudringen und den grossen Schwierigkeiten, welche sich einem gedeihlichen Wirken auf dieser Bahn entgegenstellen, mit Glück Trotz zu bieten“ (ETh 3). Infolgedessen bedarf es einer speziellen inneren Haltung, die über die rein intellektuelle Dimension hinausgeht, um Wissenschaft wirkungsvoll betreiben und auftauchende Probleme bewältigen zu können. Es klingt an, dass sich Wissenschaftler der Bedeutung ihrer Arbeit bewusst sein, sich mit dieser vollständig identifizieren und in dieser aufgehen müssen. Sie sollen demnach die Bereitschaft mitbringen, sich von ganzem Herzen der Wissenschaft widmen zu wollen und dieses in würdevoller und untadeliger Weise zu tun. Die Gelehrten müssen der Wissenschaft Respekt und Hochachtung zollen. Geiger verlangt vom Wissenschaftler darüber hinaus eine große Neugier, ja einen entflammten Forschergeist, der durch formale Bildung nicht entfacht wird, sondern diese übersteigt und folglich auch nicht erlernbar ist. Wissenschaftler sollen demnach von der Idee der Wissenschaft innerlich berührt sein und sich den Aufgaben voller Eifer und Tatendrang zuwenden. Sie müssen über einen inneren Agens verfügen, der sich in einem bedingungslosen Enthusiasmus, einem aufrichtigen Interesse und einem leidenschaftlichen Engagement für den Forschungsgegenstand und die Wissenschaft im Allgemeinen ausdrückt. Wichtigstes Beispiel der Wissenschaft ist für Geiger die Theologie, die er als „Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens“ (ETh 4) definiert. Theologie wird demnach als die methodische Erschließung des religiösen Geistes, also einer besonderen Ausgestaltungsform des humanen Geistes, beschrieben und folglich als Wissenschaft von der Religion bestimmt.59 Die Theologie hat demgemäß ihre Bezugsgröße in der Religion und rekurriert infolgedessen auf etwas Gegebenes. Geiger legt offenkundig eine allgemeine, mit dem Geist verknüpfte Bestimmung von Religion zugrunde, indem er diese als einen Ausdruck des Geistes ansieht und sie folglich nicht über die Gottesidee oder Dogmen einführt, was ihre Einordnung in die Wissenschaftssystematik vereinfacht. Geigers Definition der Theologie, die im Übrigen ebenfalls allgemeiner Natur ist, spiegelt eine explizite Sachbezogenheit wider und verdeutlicht, dass sich die Theologie einzig der Wahrheit verpflichtet sieht und diese sowohl Motor als auch Ertrag ist. Geigers Theologiebegriff ist demnach durch Thematizität gekennzeichnet, insofern die Theologie in den religiösen Wahrheiten gründet. Der Rückbezug auf den allgemeinen Wissenschaftsbegriff ist evident und zeigt sich auch darin, dass die Theologie das religiöse 59

Auch wenn zunächst Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff entfaltet wird, wird bereits die Theologie als ein Beispiel der Wissenschaft angeführt, da Geiger sie zunächst in genereller Weise, das heißt ohne Bezug auf die jüdische Religion, skizziert. Später gilt es, den spezifischen Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie zu beleuchten.

60Hinführung Material systematisiert und dabei als analytische Kategorie wirkt, indem sie den vorfindlichen Stoff zergliedert, untersucht und schließlich seine zentralen Momente, die religiösen Wahrheiten, eruiert. Diese versieht sie mit Begriffen und bietet sie strukturiert und übersichtlich dar. Die Theologie erschließt demnach den religiösen Geist, schafft Klarheit und damit die Voraussetzung eines tiefen Verständnisses. Sie fungiert demgemäß als Erkenntnisprinzip. Die Theologie partizipiert nach Geigers Dafürhalten darüber hinaus an der Gestaltung der Wirklichkeit. Sie bezieht Lehre und Leben aufeinander und impliziert daher einen Gegenwartsbezug. Die Theologie wirkt demnach auch handlungsleitend, dadurch dass sie Entwürfe zur Lebensführung gemäß den religiösen Lehren formuliert. Sie versucht also, die Religion an das Leben zu binden, das heißt jene für dieses praktikabel zu machen. Aufgrund der Anknüpfung an Geigers allgemeinen Wissenschaftsbegriff ordnet sich die Theologie in seine Wissenschaftssystematik ein und erhält so einen legitimierten Wissenschaftsanspruch. Es zeichnet sich ab, dass die Theologie im engeren Sinn darauf ausgerichtet ist, Verstehensprozesse zu initiieren sowie die Verbreitung und Aneignung religiöser Kenntnisse voranzutreiben. Der angedeutete Praxisbezug der Theologie konkretisiert sich offenbar in der Bildungsaufgabe, indem sich die Theologie in den Dienst anderer Menschen stellt und diesen zum wahren Bewusstsein und richtigen Verhalten verhilft. Denn viele Menschen können ohne Anleitung und Unterstützung nicht zur wahren Erkenntnis religiöser Lehren gelangen (vgl. ETh 4).60 Demzufolge kann zwischen zwei Ebenen im Theologie-Verständnis unterschieden werden: Einerseits versteht Geiger darunter das allgemeine Erkennen religiöser Lehren und das ihnen entsprechende Leben, andererseits die explizite Vermittlung eben dieser Kenntnisse an andere Menschen. Die Theologie beinhaltet also Vermittlungsanstrengungen, das heißt eine Bildungsaufgabe. Geiger definiert die Theologie demnach auch funktional, insofern er sie auf die Bildungsaufgabe bezieht. Dieser Zweckbezug begründet die Wissenschaftlichkeit und Theologizität der Theologie. Geiger konstruiert die Theologie damit offenkundig als eine positive Wissenschaft, also als eine Wissenschaft, die sich auf eine praktische Aufgabe bezieht, empirisch-geschichtlich begründbar und nicht aus der Idee des Wissens ableitbar ist. Er entwickelt demnach einen Theologiebegriff, der durch Positivität, Funktionalität und, wie oben angedeutet, Thematizitiät gekenn60

Geiger definiert die Theologie wie folgt: „Die Theologie ist die Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens. Zu dieser zu gelangen ist Aufgabe eines jeden Menschen, sobald sie jedoch, wie nothwendig, zu einer Wissenschaft, einem bestimmten Berufe wird, so verbindet sich damit der Zweck, auch Anderen, welche diesen ganzen mühsamen Weg nicht durchmachen können, auf leichtere Weise zu dieser Erkenntniss zu verhelfen, sie in derselben zu bestärken“ (ETh 4).

Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff61 zeichnet ist. Dabei fällt auf, dass die engere Auffassung nach einem institutionellen Rahmen verlangt, um die Bildungsfunktion realisieren zu können. Zieht man Geigers Beschreibung der Theologie „als Quelle, aus welcher die äussere Form zeit- und zweckgemässer religiös-kirchlicher Institute geschöpft werde“ (ZJ 16)61 heran, wird deutlich, dass diese zum einen die Gründung von Einrichtungen forciert und gleichzeitig fundiert, also die theoretische Basis stiftet, und zum anderen die Ausrichtung und Zielsetzung solcher Institute determiniert. Denn es klingt an, dass die Theologie nur durch die Institutionalisierung ihre praktischen, nach außen gerichteten Tätigkeitsfelder wahrnehmen kann. Soll Theologie also im Sinne von Bildung wirkmächtig werden, bedarf es der Einrichtungen, die sich dieser Aufgabe annehmen. Die Ausgestaltung der Institutionalisierung wird von Geiger vorerst nicht spezifiziert. Es bleibt daher zunächst auch unklar, ob sich solche Institutionen in der Lebenswelt, in der Wissenschaft oder an der Schnittstelle beider bilden, wobei Letzteres als am wahrscheinlichsten erscheint, da die Theologie selbst Theorie und Praxis in sich vereint. Geiger betont, dass Wissenschaftler, in diesem Fall Theologen, über „sittliche Energie“ (ETh 3) verfügen müssen und unterstreicht damit abermals, dass neben der formalen Bildung auch die innere Haltung eine entscheidende Rolle spielt und verweist so auf das subjektive Moment von Wissenschaft. Er stellt heraus, dass der Enthusiasmus für die zu vermittelnde Sache von Relevanz sei. Die Theologie verlangt folglich auch subjektive Bedingungen, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können, was Geigers allgemeinem Wissenschaftsbegriff entspricht. Zusammengefasst versteht Geiger unter Wissenschaft im allgemeinen Sinn die methodische Erschließung des humanen Geistes. Die Wissenschaft, die er als Ausprägung des Geistes und produktiven Kulturfaktor auffasst, zeichnet sich durch einen Lebensweltbezug, Freiheit, Sachbezogenheit und Subjektivität aus. Neben diesem allgemeinen Wissenschaftsbegriff, den Geiger selbst nicht explizit als solchen deklariert und auch nicht zusammenhängend darlegt, entwickelt er einen Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums. Dieser soll im I. Hauptteil rekonstruiert und dargestellt werden.

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Das Zitat entstammt dem Prospectus der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, welches trotz intensiver Recherchen nicht gefunden wurde. Daher muss auf den Abdruck in Geigers Artikel Die letzten zwei Jahre zurückgegriffen werden.

I. Hauptteil: Geigers Entwurf einer ­­Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums Geiger legt seinen Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums vor, schaltet sich damit in die wissenschaftspolitische Diskussion seiner Zeit ein und gestaltet so die jüdische Wissenschaftsgeschichte wirkungsvoll mit. Sein Wissenschaftsbegriff muss auf Basis einzelner wissenschaftsprogrammatischer Äußerungen rekonstruiert werden und liegt nicht zusammenhängend vor. Im Folgenden soll Geigers Wissenschaftsbegriff, wie er ihn im Horizont der Wissenschaft des Judentums entfaltet, beleuchtet werden. Dafür wird Geigers allgemeiner Wissenschaftsbegriff kontextualisiert, das heißt in dem in der Hinführung beschriebenen Kontext verortet und an eine konkrete Bezugsgröße gebunden, also auf das Judentum bezogen. Berücksichtigung muss dabei die Erkenntnis finden, dass Geiger die Wissenschaft des Judentums als differentia specifica der allgemeinen Wissenschaft entwickelt, die dementsprechend als genus proximum zu verstehen ist. Das legt den Schluss nahe, dass die Wissenschaft des Judentums strukturelle Parallelen zum allgemeinen Wissenschaftsbegriff aufweist, sich gleichzeitig jedoch durch ein individuelles inhaltliches Gepräge auszeichnet. Eingedenk der wahrgenommenen genus-proximum-differentia-specifica-Differenz soll das Profil der Wissenschaft des Judentums, wie Geiger es entwirft, dargestellt werden. Kapitel 1 beleuchtet Geigers Wissenschaftsbegriff in einem ersten Zugriff und fungiert als Annäherung und perspektivische Vorschau der noch folgenden Kapitel, welche die Merkmale des Begriffs explizieren. In Kapitel 2 werden die unterschiedlichen funktionalen Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess entfaltet. Kapitel 3 widmet sich der Methodik der Wissenschaft des Judentums. In Kapitel 4 werden sodann die disziplinären Aufgliederungen der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums dargelegt. Geigers Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums soll auf diese Weise profiliert werden, bevor im II. Hauptteil dessen Realisierung behandelt wird.

1. Annäherung an den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums Betrachtet man Geigers Oeuvre und im Speziellen seine wissenschaftsprogrammatischen Äußerungen, fällt auf, dass er einerseits den Begriff „jüdische

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Geigers Entwurf einer ­­Konzeptionalisierung der Wissenschaft

Theologie“ verwendet, andererseits die Bezeichnung „Wissenschaft des Judentums“ wählt. Es stellt sich die Frage, ob es sich hierbei ausschließlich um eine terminologische oder vielmehr um eine konzeptionelle Differenzierung handelt. Wie bereits gezeigt, gebraucht Geiger oft keinen der beiden Begriffe, sondern greift auf den allgemeinen Terminus „Wissenschaft“ zurück, ohne kenntlich zu machen, was genau er darunter versteht. Erschwerend kommt hinzu, dass man eine explizite Reflexion über den Gebrauch der Bezeichnungen in seinem Werk vergebens sucht. Geiger selbst liefert keine befriedigende Begründung für die wechselnden Ausdrücke.1 Dennoch muss eine inhaltlich und terminologisch differenzierte Abgrenzung zwischen jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums formuliert werden, um dadurch Geigers Wissenschaftsverständnis schärfen zu können. Im Folgenden soll daher der Gebrauch der Begriffe dargelegt sowie analysiert werden und darauf aufbauend ein Erklärungsversuch verfasst werden, der allerdings vorläufiger Art ist und in Kapitel 4.3 des I. Hauptteils eine Überarbeitung erfährt. Zunächst soll dargestellt werden, wann, das heißt in welchem Lebensabschnitt und in welchem Kontext, Geiger welchen Begriff verwendet und damit geklärt werden, ob er eine Entwicklung durchläuft und ob diese von äußeren Umständen beeinflusst wird. Es wäre denkbar, dass es im Laufe seiner Wirksamkeit zu einem Wechsel der Bezeichnungen kommt und dieser Wechsel entweder intrinsisch oder extrinsisch motiviert ist. Berücksichtigung müssen daher auch die kontextuellen Bedingungen finden. Im Jahre 1849 hält Geiger vor Studierenden der jüdischen Theologie in Breslau die Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie. Die Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums hält Geiger von 1872 bis 1874 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Geiger engagiert sich für die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät an deutschen Universitäten, wie der Artikel Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit2 von 1836 und die Schrift Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät3 von 1838 zeigen. 1870 entwirft Geiger einen Lehrplan für die Hochschule der Wissenschaft des Judentums in Berlin, an der er von 1872 bis zu seinem Tod auch als Dozent tätig ist. 1835 gründet Geiger die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie, 1862 die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben. Betrachtet man diese wenigen, aber expliziten Begriffsverwendungen, welche den Bereichen der Konzeptionalisierung und der Institutionalisie1 2 3

Auch die Forschungsliteratur setzt sich damit nicht auseinander und bietet keine Erklärungsversuche. Geiger, Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit [im Folgenden: FacI]. Geiger, Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät [im Folgenden: FacII].

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 65 rung entstammen, stellt sich der unmittelbare Eindruck ein, dass Geiger in den Anfangsjahren seiner Wirksamkeit vorrangig die Bezeichnung „jüdische Theologie“ benutzt, am Ende seines Lebens eher auf den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ zurückgreift. Letzterer wird von Geiger nämlich vornehmlich in den Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums und im Artikel Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“4 gebraucht. Die Wendung „jüdische Theologie“ taucht hauptsächlich in den Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie und in den Abhandlungen Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit sowie Ueber die Errichtung einer jüdischtheologischen Facultät auf, findet sich daneben jedoch auch noch in vereinzelten Schriften der frühen Jahre wieder. In den meisten Aufsätzen verwendet Geiger den allgemeinen Begriff „Wissenschaft“, wie auch der Name seiner zweiten Zeitschrift widerspiegelt. Das wirft die Fragen auf, warum Geiger die Ausdrücke variiert und ob die terminologischen Unterschiede auch inhaltliche Akzentverschiebungen implizieren. Der Hegelianer Gans führt den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ 1821 während seiner Präsidentschaft im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, der 1819 in Berlin gegründet wird und als erste Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums gedeutet werden kann, ein. Der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ ist seit 1823, das heißt seit dem Erscheinen der vereinseigenen Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums und dem darin publizierten Artikel Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums5, öffentlich oder zumindest im jüdischen Diskurs verbreitet. Damit kann ausgeschlossen werden, dass Geiger den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ in den Anfangsjahren seines Wirkens nicht kennt, zumal er mehrfach auf den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden und deren Mitglieder rekurriert und darüber hinaus persönlichen Kontakt zu Zunz, einem der Mitglieder des Kulturvereins, pflegt.6 Das legt den Schluss nahe, dass Geiger sich bewusst gegen den geläufigen Begriff entscheidet, um sich dadurch von der eingeschlagenen Richtung abzugrenzen. Vergleicht man Geigers Selbstverständnis mit dem von Zunz und den anderen 4 5

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Geiger, Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ [im Folgenden: WH]. Wolf, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. Vgl. dazu beispielsweise: Schulte, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums und Kapitel 1.3 des III. Hauptteils: Immanuel Wolfs Verständnis der Wissenschaft des Judentums. Weitere Literaturangaben zur jüdischen Wissenschaftsgeschichte sind bereits in Fn. 52 der Hinführung angeführt. Vgl. zum Beispiel den Verweis auf Zunz und den Kulturverein: GB 253. Vgl. auch die Briefe Geigers an Zunz und das Glückwunschschreiben anlässlich dessen Geburtstages: Briefe Geigers an Leopold Zunz vom 3. März 1840, vom 27. Juli 1840, vom 16. Dezember 1840, vom 4. März 1841, in: S 5, 152–156; GZ 296–304.

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Mitgliedern des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden, was ausführlich in Kapitel 1.4 des III. Hauptteils geschieht, fällt auf, dass Geiger sich offenkundig als Theologe7 versteht und auch von außen so wahrgenommen wird. Die erste Generation der Wissenschaft des Judentums kann hingegen als intellektuelles Judentum bezeichnet werden, das sich keiner religiösen Strömung angehörig fühlt und eine Engführung der Wissenschaft des Judentums auf die jüdische Religion sowie einen produktiven Nexus zwischen der religiösen Praxis und der Wissenschaft des Judentums ablehnt. Vorwegnehmend kann bereits konstatiert werden, dass sich Geigers Vorstellung von Wissenschaft, die eine eindeutig theologische Ausrichtung und Funktionalität aufweist, trotz einiger Konvergenzen von den eher universalistisch und säkular ausgerichteten Konzepten der Wissenschaft des Judentums, wie sie zu Beginn seiner Wirksamkeit durch Zunz und seine Mitstreiter vorgeprägt sind, unterscheidet. Vermutlich greift Geiger also auf den Begriff „jüdische Theologie“ und nicht auf den gängigen der „Wissenschaft des Judentums“ zurück, um sein genuin theologisches Gepräge und sein eigenes Profil zu betonen und sich vom intellektuellen Judentum abzuheben beziehungsweise zu distanzieren.8 Festzuhalten ist, dass der Begriff „jüdische Theologie“ von Geiger in die jüdische Wissenschaftsgeschichte eingeführt wird.9 Neben der innerjüdischen Abgrenzungstheorie zeigt sich eine weitere mögliche Begründungshinsicht. Geiger sucht die jüdische Theologie als eine anerkannte wissenschaftliche Disziplin innerhalb des akademischen Fächerkanons zu etablieren. Um Akzeptanz und Würdigung zu erlangen, liegt es nahe, die jüdische Theologie in struktureller Anlehnung an bereits bestehende Wissenschaften zu konzipieren. Eine Wissenschaft des Christentums gibt es auch zur Zeit Geigers nicht, stattdessen sind die evangelische und die katholische Theologien feste Größen innerhalb der universitas litterarum. Es ist folglich denkbar, dass Geiger in terminologischer Analogie zur christlichen Theologie den Begriff „jüdische Theologie“ benutzt, obwohl er innerhalb des Judentums gerade aufgrund der

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Auch Meyer betont, dass Geiger sich als Theologe versteht, wie folgende Äußerung zeigt: „Between the pure scholar, the antiquarian, and the practically oriented rabbi, […] Geiger discerned an intermediate role which he chose as his own: that of the theologian“ (Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 28). Und auch Heschel bekräftigt Geigers Selbstverständnis als Theologe (vgl. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 32). Geiger äußert sich vielfach in positiver Weise zu Zunz und lobt dessen Werke, wenngleich er auch kritische Einwände formuliert. Im Hinblick auf Zunz’ Wissenschaftsverständnis distanziert sich Geiger klar von ihm, würdigt aber dennoch Zunz’ Pionierarbeit (vgl. exemplarisch: ETh 27; EWdJ 242f). Vgl. Mendes-Flohr, Jewish Philosophy and Theology, 764; Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 54.

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 67 Anklänge an die christliche Theologie äußerst umstritten ist.10 Im III. Hauptteil wird untersucht, ob die Orientierung an bestehenden Strukturen auch auf inhaltlicher Ebene wahrnehmbar ist. Nachdem zwei Erklärungen für Geigers Präferenz des Begriffs „jüdische Theologie“ zu Beginn seiner Wirksamkeit formuliert worden sind, gilt es zu reflektieren, warum Geiger irgendwann doch die Bezeichnung „Wissenschaft des Judentums“ verwendet und von seinem ursprünglichen Terminus abrückt. Es kann angenommen werden, dass vornehmlich äußere Umstände dazu führen, dass Geiger den Begriff „jüdische Theologie“ aufgibt. So leuchtet es ein, dass er im Kontext seiner Beratungs- und Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin auch auf den Ausdruck „Wissenschaft des Judentums“ zurückgreift. Der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ wird demgemäß von außen gesetzt, also vorgegeben. Er evoziert eine gewisse Universalität sowie Offenheit und verhindert eine Engführung und Begrenzung auf die Theologie. Die Berliner Hochschule will, das sei schon im Vorgriff auf Kapitel 1.2.2 des II. Hauptteils erwähnt, ursprünglich eine von der Theologie emanzipierte Lehre und Forschung betreiben und wendet sich dementsprechend gegen eine Theologisierung. Bei dieser Ausrichtung ist es unumgänglich, dass Geiger die jüdische Theologie aus dem Zentrum seines Entwurfs nimmt, zumindest auf terminologischer Ebene. Seit der Planung und schließlich auch Gründung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und Geigers Partizipation daran spart Geiger die Wendung „jüdische Theologie“ aus. Neben der konkreten Institution der Berliner Hochschule können auch allgemeine Entwicklungen und Erfahrungen Geiger zu einer Veränderung der Begriffe veranlasst haben, wobei der Hochschulgründung sicherlich das Hauptgewicht beizumessen ist. Es liegt dennoch nahe, dass Geiger vor dem Hintergrund zahlreicher negativer Erfahrungen im Hinblick auf die Institutionalisierung der jüdischen Theologie von selbst auf einen etwas allgemeineren Begriff zurückgreift, der eine Bandbreite an Themen suggeriert und sich durch eine inhaltliche Unverbindlichkeit sowie Unbestimmtheit auszeichnet. 10

So schon: Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 407. Der Wissenschaftsrat stellt dazu kritisch heraus, dass die „Verwendung des Begriffs ‚Jüdische Theologie‘ […] bis heute im Kontext der jüdischen Tradition aus sachlichen Gründen problematisch [ist].“ Begründet wird diese Feststellung wie folgt: „Denn ‚Jüdische Theologie‘ hat sich wesentlich in der Diaspora entwickelt. Von daher erklärt sich, dass ‚Jüdische Theologie‘ von Anfang an der argumentativen Selbstbehauptung diente und die in der Theologie verwendete Terminologie in aller Regel der jeweiligen Umgebung entlehnt worden ist“ (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 54). Vgl. zur Diskussion um den Begriff „jüdische Theologie“ auch den Epilog dieser Studie.

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Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob Geiger sich auch von seinen ursprünglichen Vorstellungen verabschiedet, ob die terminologische Veränderung also auch eine inhaltliche Neuorientierung nach sich zieht. Am besten lassen sich die hinter den Begriffen stehenden Konzepte anhand der beiden Kompendien Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie und Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums miteinander vergleichen, da Geiger dort explizit die beiden Termini verwendet und ihre jeweiligen Programmatiken präsentiert. Die ausführliche Darstellung der Disziplinen der jüdischen Theologie sowie der Wissenschaft des Judentums wird in Kapitel 4 des I. Hauptteils erfolgen, soll hier daher noch nicht vorweg genommen werden. Dennoch kann bereits konstatiert werden, dass die Leitvorstellungen und Grundprinzipien trotz einiger Unterschiede die gleichen sind. So fällt auf, dass beide Programme ein eindeutig theologisches Gepräge aufweisen und daher ausschließlich religiöse Schriften als Untersuchungsgrundlage veranschlagen. Es erweckt demgemäß den Eindruck, dass die Unterscheidung von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums bei Geiger vornehmlich terminologischer und nicht so sehr konzeptioneller Natur ist, wenngleich es durchaus auch Differenzen inhaltlicher Art gibt. Im Vorgriff auf die folgenden Kapitel kann schon festgestellt werden, dass Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie versteht und konzipiert. Das wird unter anderem daran deutlich, dass säkulare Bereiche wie jüdische Musik und Malerei keine Berücksichtigung finden, wenngleich der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ diese Gebiete der jüdischen Kultur eigentlich auch umfassen würde. Erinnert sei an Geigers allgemeinen Wissenschaftsbegriff, der die Theologie als wichtigstes Beispiel nennt, was den Stellenwert der Theologie untermauert. Folglich scheint es so, dass Geiger zwar den allgemeineren, offeneren Begriff „Wissenschaft des Judentums“ benutzt, aber weiterhin an seinem (engeren) Konzept der jüdischen Theologie festhält. Diese Erkenntnis bestätigt den Eindruck, dass äußere Umstände, das heißt in erster Linie die Gründung der Berliner Hochschule, den terminologischen Wechsel ausgelöst haben. Geiger passt sich an die externen Bedingungen und Vorgaben in der Weise an, dass er begriffliche Änderungen und marginale inhaltliche Modifikationen durchführt, ohne jedoch von seiner Grundausrichtung abzuweichen. Weil Geiger selbst keine präzise Terminologie hat und überwiegend den unscharfen Begriff „Wissenschaft“ verwendet, kann vermutet werden, dass er der terminologischen Unterscheidung von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums nicht viel Bedeutung beimisst, was ebenfalls die These unterstützt, dass es sich vornehmlich um eine Differenzierung auf begrifflicher Ebene handelt. Zusammenfassend lässt sich zu diesen terminologischen Beobachtungen festhalten, dass Geiger während seines gesamten Lebens die jüdische Theologie als eine anerkannte wissenschaftliche Disziplin etablieren, also konzeptionalisieren

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 69 und institutionalisieren möchte, zum Ende seines Lebens aufgrund von externen Bestimmungen und Erwartungen jedoch den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ verwendet und seine Wissenschaftsprogrammatik in diesem Zuge auch geringfügig ändert, ohne jedoch seine Grundprinzipien aufzugeben. Im Folgenden wird vornehmlich der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ gebraucht, wenngleich in den angeführten Zitaten Geigers teilweise natürlich auch die Ausdrücke „jüdische Theologie“ und „Wissenschaft“ auftauchen. Die Entscheidung für diese Terminologie kann mit den obigen Ausführungen begründet werden. Überdies ist es der Begriff „Wissenschaft des Judentums“, der sich im weiteren Verlauf der jüdischen Wissenschaftsgeschichte durchgesetzt hat.11 Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass es nicht die eine Wissenschaft des Judentums, sondern unterschiedliche Konzeptionen gibt, wie der knappe Rekurs auf das intellektuelle Judentum schon gezeigt hat. In dieser Untersuchung spiegelt der Terminus „Wissenschaft des Judentums“ in der Regel Geigers Wissenschaftsverständnis wider. An den Stellen, an denen eine Differenzierung nötig ist, also bei der Darstellung der Disziplinen und Institutionalisierungsversuchen, wird zwischen der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums unterschieden.12 Die Bezeichnung „Theologe“ wird auch im Zusammenhang mit der Wissenschaft des Judentums gebraucht, weil diese keine präzise Bezeichnung ihrer ausführenden Organe bietet. Da Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie konzipiert, ist der Gebrauch unproblematisch. Der Begriff „jüdische Wissenschaft“ wird in der Darstellung, nicht in Geigers Äußerungen, immer dann verwendet, wenn auf die jüdische Gelehrsamkeit vor dem 19. Jahrhundert, also vor der Etablierung der Wissenschaft des Judentums, rekurriert wird. Als Synonyme werden auch die Wendungen „Talmud Tora“ und „traditionelle jüdische Gelehrsamkeit“ benutzt. Der Terminus „Wissenschaft“ wird, wie in Kapitel 2 der Hinführung herausgestellt, als Bezeichnung für das allgemeine Wissenschaftsverständnis gebraucht. Nach diesen Reflexionen zur Terminologie soll nun der Blick auf die Merkmale des Geigerschen Wisssenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums gerichtet werden. Geiger skizziert den ideellen Kontext und beschreibt so die geistige Ausgangslage der Wissenschaft des Judentums, wenn er darlegt: „Unser gegenwärtig gewonnener tieferer Einblick in die geschichtliche Geistesbewegung der Menschheit setzt uns in den Stand, Werden und Ausbildung des Judenthums gerechter zu 11 12

Heil stellt dazu treffend heraus: „Wissenschaft des Judentums ist […] von Anbeginn an ein programmatisches Schlagwort gewesen, hinter dem sich ganz unterschiedliche Aneignungen verbargen“ (Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung, 22). In dieser Studie wird also eingedenk der Vorbehalte auf jüdischer Seite der Begriff „jüdische Theologie“ verwendet. Das kann damit begründet werden, dass Geiger ihn auch benutzt. Vgl. zur Diskussion um den Theologiebegriff den Epilog dieser Untersuchung.

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würdigen als es irgend einer früheren Periode möglich war […]“ (VLP 2). Generelles Interesse an Geschichte und ihre engagierte wissenschaftliche Erschließung bestimmen die gegenwärtige intellektuelle Sphäre. Das heißt, dass mithilfe moderner wissenschaftlicher Methoden die universale (Geistes)Geschichte in kritischer Weise objektiv erschlossen wird, historische Erkenntnisse so gewonnen, offensiv verbreitet und verarbeitet werden. Das Wissen um die Geschichtlichkeit und Prozessualität des humanen Geistes spielt dabei eine zentrale Rolle. Im Gefolge des deutschen Idealismus und der Romantik kann auch das Judentum mittels wissenschaftlicher Kategorien und Methoden analysiert und schließlich als spezifischer Ausdruck der historischen Entfaltung des humanen Geistes erkannt und dadurch in das System der geistigen Ausprägungsformen eingeordnet werden. Das Judentum erscheint als eine besondere Ausgestaltung des menschlichen Geistes, damit einhergehend auch als eine produktive Kraft in der universalen Geistesgeschichte. Erst die Übernahme und Anwendung des allgemeinen historischen Bewusstseins und der wissenschaftlichen Perspektive, allesamt Impulse des deutschen Historismus, ermöglichen es, die Entstehungsund Entwicklungsgeschichte des Judentums zu erforschen und dadurch anzuerkennen, insofern die jüdische Geschichte nach gegenwärtigen Anforderungen neu strukturiert wird. Ebendiese Aufgabe schreibt Geiger der Wissenschaft des Judentums zu: „Die Wissenschaft des Judenthums ist die Betrachtung der eigenthümlichen Richtung des Geisteslebens, welche in einem besondern Kreis thätig war, der eben das Judenthum begründete, entwickelte, und weithin verkündete, und es bis zur Stunde lebenskräftig erhält“ (EWdJ 39).13 Geiger definiert die Wissenschaft des Judentums als „Betrachtung“, was dahingehend gedeutet werden kann, dass er sie als methodisch kontrollierte resümierende Wahrnehmung der geistigen Wirklichkeit versteht. Gemäß dem allgemeinen Wissenschaftsbegriff obliegt es also auch der Wissenschaft des Judentums, den humanen Geist systematisch zu erschließen, insofern sie als selbstreflexives Instrument zur Interpretation, Organisation und Darstellung der geistigen Erzeugnisse und damit überdies als Ordnungssystem des geistig-schöpferischen Lebens fungiert. In funktionaler Hinsicht konzipiert Geiger die Wissenschaft des Judentums demnach in offenkundiger Anlehnung an den allgemeinen Wissenschaftsbegriff. Als Untersuchungsgegenstand benennt er jedoch das Judentum, welches als eine originelle Gestaltungsform des humanen Geistes bestimmt wird. Die Wissenschaft des Judentums weist folglich eine explizite inhaltliche Festlegung auf, indem sie einzig das Juden13

Trotz dieser Bestimmung stellt Geiger heraus: „Eine strenge Definition der Wissenschaft des Judenthums aufzustellen ist nicht nöthig“ (EWdJ 39). Er begründet es damit, dass definitorische Beschreibungen selten präzise seien und dem Inhalt kaum gerecht werden können.

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 71 tum als eine besondere Sphäre des menschlichen Geistes in den Fokus nimmt und dadurch die Universalität des Untersuchungsgegenstandes des allgemeinen Wissenschaftsbegriffs spezifiziert. Die Bezugsgröße konstituiert demzufolge das genuine Gepräge der Wissenschaft des Judentums, unterscheidet sie von anderen Wissenschaften und begründet ihren Charakter als differentia specifica. Der Gegenstand der Wissenschaft des Judentums lässt sich also durch Individualität und Originalität beschreiben. Gleichzeitig ist erkennbar, dass dem Gegenstand der Wissenschaft des Judentums dem allgemeinen Wissenschaftsbegriff folgend das Prädikat der Historizität zugeschrieben werden kann. Eine Orientierung zum Historischen hin ist also offenkundig, da die Entwicklung der geistigen Größe, das heißt des Judentums, vorausgesetzt wird und sie wissenschaftlich ergründet und dargestellt werden soll. Es gilt, das Spezifikum einer jeden Epoche des Judentums wissenschaftlich zu bestimmen und das gesamte geschichtliche Gefüge zu durchdringen (vgl. JGII VII).14 Die Formulierung „eigenthümliche Geisteskraft“ (EWdJ 39) unterstreicht, dass es sich beim Judentum um eine besondere geistige Ausdrucksform mit einem individuellen Gepräge handelt. Das Judentum wird von Geiger an dieser Stelle nicht weiter charakterisiert, sondern ausschließlich über seine positive Gegebenheit als geistige Ausprägungsform eingeführt. Eine Fokussierung auf bestimmte Sphären des Judentums erfolgt vermeintlich nicht, sodass der Gegenstand in seiner Gänze und inneren Vielgestaltigkeit erscheint. Geiger stellt hier daher heraus, dass die Wissenschaft des Judentums alle geistigen Produkte des Judentums zu ergründen habe und schafft eine breite Forschungsgrundlage, wenn er erläutert: „Hauptsächlich verstehe ich unter ersterer [der Wissenschaft des Judentums] das Begreifen aller geistigen Lebensäusserungen des Judenthums.“15 Die Wissenschaft des Judentums wendet sich also dem gesamten Spektrum jüdischer Geistesäußerungen zu, erschließt diese methodisch kontrolliert und stiftet dadurch umfassendes Verständnis. Dementsprechend bezeichnet Geiger die Wissenschaft des Judentums auch als „Wissen vom Judenthum nach allen seinen Schöpfungen und die tiefere Erkenntniss desselben“16. Die Wissenschaft des Judentums wird von Geiger als „Begreifen“, als „Wissen“ und als „Erkenntniss“ definiert, was unisono ausdrückt, dass sie selbst eine spezifische Ausprägungsform des humanen Geistes mit selbstreflexiver Struktur ist, Verstehensprozesse zu initiieren sucht und somit auf einen dezidierten Erkenntnisfortschritt abzielt. Vorwiegend also versteht Geiger die Wissenschaft des Judentums, genau wie deren genus proximum auch, als kategoriale Arbeit, insofern sie die 14 15 16

Vgl. Kapitel 2.1 des I. Hauptteils: Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis im Reformprozess. Brief Geigers an Theodor Nöldeke vom 30. November – 1. Dezember 1865, in: S 5, 302. Ebd. Dieses weite Verständnis wird später noch spezifiziert, insofern Geiger die Untersuchungsgrundlage präzisiert.

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vorfindliche Wirklichkeit, in diesem Fall das Judentum und seine Erzeugnisse, analysiert und systematisiert, indem sie sie mit distinktiven Begriffen versieht, Zusammenhänge stiftet und sie dadurch objektivier-, bearbeit- sowie reflektierbar macht und in den allgemeinen intellektuellen Diskurs einspeist. Die Wissenschaft des Judentums leistet demzufolge durch Gebrauch wissenschaftlicher Methodik einen entscheidenden Beitrag zur umfassenden Durchdringung und Erfassung des Judentums, die wiederum die Basis für eine breite Anerkennung und gleichzeitig auch Identifikation bilden. Die noch unspezifische Aufgabe der Wissenschaft des Judentums, jüdische Geistesäußerungen zu analysieren und strukturiert darzubieten, gilt es nun zu konkretisieren, indem vornehmlich die Intentionalität der wissenschaftlichen Arbeit ausgeleuchtet wird und dadurch auch die Forschungsinhalte präzisiert werden. Dafür sei an die in Kapitel 1.1 der Hinführung skizzierte Lage des gegenwärtigen Judentums im Makrokosmos und vor allem an die vernichtenden Urteile christlicher Theologen erinnert. Diese sprechen dem Judentum häufig jegliche Entwicklungsfähigkeit und Kulturproduktivität ab und bieten immer wieder Stereotypisierungen dar.17 Nach Geigers Dafürhalten soll das Judentum daher mithilfe der Wissenschaft des Judentums in seiner Historizität und seiner Verflechtung mit anderen Kulturgrößen dargestellt werden, um auf diese Weise sowohl eine legitimatorische als auch eine apologetische Abzweckung im Blick auf das Phänomen Judentum als Ausdruck des Geistes zu erzielen. Geiger sieht offensichtlich einen Zusammenhang von Entwicklung, Emanzipation und Wissenschaft des Judentums und gestaltet diesen programmatisch aus. Seine nähere Beschreibung der Aufgabe der Wissenschaft des Judentums gibt genauer Aufschluss darüber: „Es ist die geistige Kraft zu erkennen, welche als Judenthum nun drei Jahrtausende in der Menschheit und an ihr gearbeitet, als ein mächtiger Factor bei ihrer Entwickelung mitgewirkt, in den vielseitigsten Erzeugnissen, in einer reichen Geschichte ihre Früchte uns hinterlassen hat. Diese tiefliegende, in alle Lebensverhältnisse sich verschlingende wirksame Geistesmacht bedarf sorgsamer Ergründung“ (WtN 254).18 Die Wissenschaft des Judentums soll demzufolge die kulturellen Errungenschaften des Judentums und damit dessen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit zeigen, also veranschaulichen, dass das Judentum eine außergewöhnliche Größe, eine Triebfeder der universalen Geis-

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Vgl. dazu exemplarisch: Bauer, Die Judenfrage und Geigers Replik darauf: Geiger, Bruno Bauer und die Juden. In Anlehnung daran legt Geiger dar, dass die Wissenschaft des Judentums „das Judenthum in seiner geistigen Macht zu ergründen und ihm seinen berechtigten Einfluß auf die gesammte geistige Entwickelung zu gewinnen“ suche (TL 166).

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 73 tesgeschichte ist.19 Letztere dient dabei als zentrale Untersuchungsgrundlage. Es soll verdeutlicht werden, dass das Judentum im Sinne einer Kraft tätig war beziehungsweise ist, was von nicht-jüdischer Seite immer wieder bestritten wird. Geiger versteht das Judentum demnach als dynamisches Prinzip, ja als bedeutsamen Kulturfaktor, der seine schöpferisch-gestaltende Effektivität in einem breiten Wirkungskreis entfaltet. Ergo ist das Judentum keine isolierte, nachrangige Erscheinung, sondern in der Menschheitsgeschichte verortet und global vernetzt.20 Die Wissenschaft des Judentums ist insgesamt bestrebt, die welt-, kulturund geistesgeschichtliche Bedeutung des Judentums darzustellen, das Judentum als eine gleichwertige, aber gleichzeitig auch besondere Ausprägungsform des humanen Geistes innerhalb des universalen Systems historischer Größen zu verorten, um dadurch Anerkennung und Würdigung zu erzielen.21 Die Wissenschaft des Judentums dient demzufolge der Legitimation des Judentums als Ausdruck des Geistes und damit als konstruktive Antwort auf die abwertenden Urteile, die dem Judentum aus dem Makrokosmos verstärkt entgegen gebracht werden.22 Geiger verschärft diese Zielperspektive noch, wenn er formuliert: „[…] jeder Versuch, einen gesunden Gesammtüberblick über seine Entstehung und 19

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Mit seiner Dissertation Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? und seiner Urschrift sucht Geiger genau diese Intention umzusetzen, indem er den Einfluss des Judentums auf den Islam und das Christentum stark macht und das Judentum als die wahre originelle Religion darstellt, die andere Religionen hervorbringt. So tritt er dem langläufigen negativen Judentumsbild christlicher Forschung entgegen (vgl. dazu: Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 97–136; dies., Abraham Geiger and the Emergence of Jewish Philoislamism). Geiger bezeichnet das Judentum daher auch als eine „weltgeschichtliche Erscheinung“ und beschreibt es weiterhin als einen „ewige[n] Wanderer durch die Geschichte“ (JGI 1). Weiterhin legt er dar: „Die Thatsache ist unverwischbar, dass das Judenthum in die Gestaltung des Geisteslebens der drei grossen Abschnitte der Weltgeschichte eingegriffen hat, dass es am Ende des Alterhums das Christenthum aus sich herausgeboren, im Mittelalter den Islam hervorgerufen, und mit dem wesentlichen Inhalte genährt hat, in der Neuzeit den Anstoss zur Umgestaltung der philosophischen Anschauung gegeben, indem es Spinoza ausgerüstet hat. Wenn diese Weltmächte nicht in ihm geblieben sind, so ist doch sein Geist weiter in ihnen mitthätig gewesen“ (EWdJ 40). Geigers Bestrebungen sind charakteristisch für das deutsche Judentum des 19. Jahrhunderts, wie Heschels Feststellung zeigt: „[…] the Judaism the Jews constructed during the modern period was forced to enter the intellectual world that had created those stereotypes in order to attempt a liberation from Christian hegemony“ (Heschel, „Revolt of the Colonized“, 62). Die Wissenschaft des Judentums kann daher auch als Protest gegen den Ausschluss des Judentums aus der Altertumswissenschaft, die sich ausschließlich den Griechen und Römern zuwendet, gedeutet werden. Schorsch sieht in dem Ausschluss eine weitere Benachteiligung des Judentums und schreibt: „Somit wurde das Judentum, akademisch wie auch philosophisch, auf eine primitive und längst überwundene Stufe der Geschichte des Orients degradiert und dadurch an den Rand des westlichen Bewußtseins gedrängt“ (Schorsch, Das 1. Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums, 12).

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seine Gänge zu gewähren, den Einblick in seine treibende Kraft zu eröffnen, führt es dem Ziele seiner Weltmission näher“ (VLP 2). Demnach soll die wissenschaftliche Erfassung der historischen Entwicklung des Judentums dieses zu einer einflussreichen, weltumspannenden Größe machen beziehungsweise seine Position innerhalb des universalen Netzes ausbauen und sichern. Einzig durch die Ermittlung und Verbreitung fundierter Kenntnisse kann ein sachgerechtes Bild vom Judentum und seiner Geschichte in der Öffentlichkeit gezeichnet werden und eine breite Anerkennung des Judentums, als eine bedeutsame historische Ausprägungsform des humanen Geistes, erreicht und dessen Stellung stabilisiert beziehungsweise verbessert werden. Geiger sucht also mittels wissenschaftlicher Erschließung auch zu zeigen, dass es sich beim Judentum um eine kulturproduktive und emanzipative Größe handelt, was der Wissenschaft des Judentums ein eindeutig apologetisches Gepräge verleiht.23 23

So schon Wiese: „Die Forschung urteilt mit Recht, daß ihr [der Wissenschaft des Judentums] während der ganzen Zeit ihrer Wirksamkeit in Deutschland eine apologetische Tendenz innewohnte, da sie die Umwelt von dem Wert der jüdischen Religion und Geschichte überzeugen und so die Emanzipationswürdigkeit und die Legitimität der Fortexistenz des Judentums nachweisen wollte“ (Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 4). Im Konsens mit Wiese und anderen Wissenschaftlern wird der Wissenschaft des Judentums ein apologetisches Gepräge zugeschrieben, das zeitgeschichtlich begründ- und nachvollziehbar ist und ergo nicht als Kritikpunkt und Schwäche aufgefasst wird. Mit Wiese kann gefragt werden, „ob die Diagnose der Apologetik ohne weiteres ein negatives Urteil bedingt“ (a. a. O., 362). In der Forschung wird das Phänomen der Apologetik immer wieder problematisiert, vor allem im Kontext von Gershom Scholems prominenter Kritik an der Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts. Dieser stellt beispielsweise heraus: „Ich glaube kaum, daß ich übertreibe, wenn ich sage, daß ungefähr 50 Jahre lang (1850–1900) aus diesem Kreis der Vertreter der Wissenschaft des Judentums kein einziges originäres, lebendiges und unversteinertes Wort über die jüdische Religion kam, ein Wort, in dessen Knochen nicht die Fäulnis der Leere aufgestiegen wäre und an dem nicht der Wurm der Apologetik genagt hätte“ (Scholem, Judaica 6: Die Wissenschaft des Judentums, 39). Zum Beispiel Heschel setzt sich mit Scholems Kritik an der Wissenschaft des Judentums auseinander und entgegnet: „Meine These lautet, dass eine genaue Untersuchung der von Geiger vorgebrachten Argumente das vorherrschende Bild, wonach die Wissenschaft des Judentums ein apologetisches, auf Assimilation zielendes Programm verfolgte, widerlegt“ (Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 28). Sie präsentiert daraufhin folgende Gegenthese: „Statt dessen, so meine These, versuchten jüdische Historiker die allgemein akzeptierte Darstellung der Geschichte des christlichen Westens zu destruieren, indem sie ihn aus der Perspektive jüdischer Erfahrung betrachteten“ (ebd.; vgl. dazu auch: dies., „Revolt of the Colonized“, 67–70). Wieses Definition aufgreifend soll die Apologetik in dieser Arbeit „als Verteidigung ihrer [der jüdischen Wissenschaftler] Tradition gegen eine mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Desavouierung des religiös-kulturellen Wertes des Judentums, die in ihrer fatalen Gleichzeitigkeit mit dem Antisemitismus eine ungeheure Herausforderung für die jüdische Existenz selbst darstellte“ (Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 17) verstanden und somit ihrer Negativität entledigt werden (vgl. dazu auch: ders., Struggling for normality, 77–102).

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 75 Heschel interpretiert die Wissenschaft des Judentums treffend als „attempt to subvert Christian hegemony and establish a new position for Judaism within European history and thought“24. Heschels Deutung liefert eine schlüssige Begründung für die gerade skizzierte Aufgabe der Wissenschaft des Judentums und zeigt, dass die Funktionalität der Wissenschaft des Judentums maßgeblich durch den akademischen und gesellschaftlichen Kontext des Judentums im 19. Jahrhundert bestimmt wird. In Anlehnung an Heschel kann die Wissenschaft des Judentums, wie Geiger sie versteht, als konstruktive jüdische Antwort auf die Ausgrenzung, Benachteiligung und Verweigerung, kurzum als Reaktion auf die Nicht-Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft und damit als kreatives Instrument zur Bewältigung der als defizitär empfundenen Lage gedeutet werden. Geiger spezifiziert das in Kapitel 1.1 der Hinführung bereits angedeutete Eingebundensein des Judentums in den welt- und geistesgeschichtlichen Kontext noch, indem er darlegt: „Schon dass sie [die eigentümliche Geisteskraft] für die Anregungen von diesen Centralstätten der Bildung empfänglich, sich ihnen nicht verschlossen, aber in ihnen nicht aufgegangen, sondern sie in sich nach ihrer Weise verarbeitet, zeugt für ihre selbstständige Lebenskräftigkeit“ (EWdJ 39f).25 Abermals wird deutlich, dass das Judentum sowohl als Produzent als auch als Rezipient der allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte fungiert und mit ihr in einer fruchtbaren und produktiven Interaktion steht. Entgegen dem üblichen (christlichen) Urteil einer Abschottung des Judentums geht Geiger von der Offenheit und Empfänglichkeit des Judentums für Anregungen aus der geistigen Umwelt aus und davon, dass es sie kreativ in das Eigene zu integrieren und dadurch eine spezifische Ausprägungsform zu gestalten weiß. Das Judentum verbindet demnach allgemeine geistige Ideen mit dem speziellen jüdischen Geist und schafft dadurch ein außergewöhnliches, unverwechselbares Gesamtensemble. Trotz Beeinflussung durch andere geistige Größen und der Aufnahme von Impulsen aus der Bildungswelt hat das Judentum aber selbstbestimmt sein individuelles Gepräge entfaltet und überdies maßgeblich an der Entwicklung anderer Erscheinungsformen mitgewirkt.26 24

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Heschel, „Revolt of the Colonized“, 64. Heschel interpretiert die Wissenschaft des Judentums und damit zusammenhängend auch Geigers wissenschaftliches Wirken konsequent als Versuch der „colonized“ die Vorherrschaft der „colonist“ zu stürzen, also als „revolt of the colonized“ und macht damit die Beziehung zwischen Christentum und Judentum in Geschichte und Gegenwart zur maßgeblichen Interpretationsperspektive, die sich schließlich im zentralen Begriff der „counterhistory“ verdichtet (vgl. dazu dies., Der jüdische Jesus und das Christentum, bes. 25–54). Vgl. auch: AG 28. Die Vereinigung von Allgemeinem und Besonderem im Judentum betont Geiger mehrfach, so beispielsweise auch durch folgende geschichtsphilosophische Äußerung: „Des Judenthumes Kraft ist es eben, dass es aus einem vollen Volksleben hervorgegangen, eine Sprache und eine Volksgeschichte hat; sein Gedanke war ein allgemein umfassender und musste, um nicht

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Die Wissenschaft des Judentums soll ebendiese Zusammenhänge freilegen und dadurch ein sachgerechtes und differenziertes Bild vom Judentum vermitteln und so die von Stereotypisierungen geprägten Urteile des Makrokosmos widerlegen. Geigers Wissenschaftsbegriff gewinnt durch die Erkenntnis, dass er der Wissenschaft des Judentums eine allgemeine theologische Dimension verleiht, weiter an Schärfe. Zieht man die Intention der Wissenschaft des Judentums heran, nach der diese „die volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehalts, welcher das Judenthum erfüllt, [und] ihm als seine eigenthümliche Lebenskraft innewohnt“ (EWdJ 35) ermöglichen soll, erhält die Wissenschaft des Judentums unverkennbar eine theologische Ausrichtung. Sie wird als methodische Erschließung des religiösen Geistes, also einer besonderen Ausprägungsform des humanen Geistes, beschrieben und dadurch als Wissenschaft von der jüdischen Religion bestimmt. Die explizit benannte Bezugsgröße konstituiert das genuine Profil der Wissenschaft des Judentums. Demnach fungiert die religiöse Idee des Judentums als Forschungsgegenstand und ihre Entwicklung, Ausprägung und Wirksamkeit gilt es zu erschließen, um so letztlich das Wesen des Judentums bestimmen zu können.27 Der zuvor noch universalistisch geprägte Wissenschaftsbegriff erhält durch den theologischen Fokus eine Spezifizierung.28 Denn daraus folgt, dass nur solche Gegenstände zu betrachten sind, die Erzeugnisse des religiösen Geistes sind, wohingegen profane Ausdrucksformen der jüdischen Kultur keine Berücksichtigung finden.29 Die Wissenschaft des Judentums erschließt demgemäß den religiösen Geist, welcher das Judentum erfüllt, schafft dadurch Klarheit und Verständnis und fungiert insofern als theologisches Erkenntnisprinzip. als schwebender Schatten zu erscheinen, als gesunde Volksindividualität sich ausprägen, die einerseits die Menschheit ganz in sich realisirt sieht, und dennoch die ganze Menschenwelt ausser sich zu umfassen trachtet“ (EWDJ 37f). 27 Neben der Aufdeckung des jüdischen Geistes schreibt Geiger der Wissenschaft auch eine Vitalisierung des Geistes zu, wenn er formuliert: „Die [Wissenschaft] [belebt] den alten ureignen Geist wieder neu […], indem sie das Erstarrte löst, die geschichtliche Bewegung wieder in Fluß setzt, gerade das ursprüngliche Band wieder schlingt und so wahrhaft befestigt und erbaut“ (BA 6). Vgl. Kapitel 2.2 des I. Hauptteils: Systematisch-normativ: Die Bedeutung der jüdischen Wesensformel im Reformprozess. 28 Diese veränderte Bestimmung des Forschungsgegenstandes respektive der Bezugsgröße deutet nicht auf einen logischen Bruch oder Umschwung in Geigers Denken hin, sondern resultiert aus einer unscharfen Terminologie. Geiger versteht das Judentum stets als eine religiöse Größe und die jüdische Geschichte als religiöse, also innere Entwicklung des Judentums, was zur Folge hat, dass er auch bei seinen allgemeinen, eher universalistisch klingenden Beschreibungen der Untersuchungsgrundlage ausschließlich Ausdrucksformen des religiösen Geistes meint und die religiöse Entfaltung und nicht die generelle geschichtliche Entwicklung zu erschließen sucht, wenngleich er dies nicht explizit macht. 29 So schon Meyer: „For him, Jewish creativity, in the proper sense, was limited to what expressed the Jewish religious spirit“ (Meyer, Abraham Geiger’s historical Judaism, 11).

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 77 Wie die Wissenschaft des Judentums ebendiese Aufgabe zu erfüllen vermag, skizziert Geiger mit folgender Äußerung: „Zu dieser Erkenntnis gelangt man bloss durch die Betrachtung, wie der Gedanke in die Erscheinungswelt eingetreten ist, wie er sich im Worte, in der Sprache ausgeprägt, wie er sich in der That, in der Geschichte auseinandergelegt hat […]“ (EWdJ 35). Der religiöse Geist manifestiert sich in unterschiedlichen Formen, wie beispielsweise der Sprache und der Geschichte. Erst in diesen Ausprägungen ist er methodisch erschließbar, also auch begreifbar, da er sich unvermittelt der Wahrnehmung entzieht. Das heißt, dass sowohl die Sprache als auch die Geschichte als zentrale Ausdrucksformen des jüdischen Geistes von der Wissenschaft des Judentums, im Sinne eines reflexiven Interpretationsinstruments, beleuchtet werden, um die religiösen Wahrheiten eruieren zu können. Es erweckt den Eindruck, dass die Theologizität der Wissenschaft des Judentums auf den Wissenschaftsbegriff zurückwirkt und sich im Offenbarungsbezug, in der Traditionsgeleitetheit, in einer persönlichen Standpunktbezogenheit und in der Spannung von Glauben und Wissenschaftsfreiheit verdichtet. Pointiert bezeichnet Geiger die Wissenschaft des Judentums als „offenbarungsgläubig“ und als „traditionsgläubig“ (BA 7)30 und präzisiert durch Ausleuchtung der Innenperspektive das Profil der Wissenschaft des Judentums. So charakterisiert er sie durch ihr Bezogensein auf Gott. Denn die Wissenschaft des Judentums gründet sich auf die beiden Glaubensüberzeugungen Offenbarung und Tradition, welche Ausdruck des Gottesverständnisses sind. Dadurch, dass Geiger die Wissenschaft des Judentums mit dem Glauben verschränkt, erhält sie ein religiöses Gepräge. Die Wissenschaft des Judentums wird durch religiöses Interesse geleitet und findet ihre Bezugsgröße in der jüdischen Religion, die sich zwischen den Koordinaten Offenbarung und Tradition aufspannt.31 Sie wurzelt im Wesen des Judentums und bekennt sich zu den religiösen Ideen, die sie gleichzeitig methodisch kontrolliert zu erschließen sucht. Geiger definiert die Wissenschaft des Judentums demnach über das Wesen des Judentums und profiliert die Thematizität als Merkmal seines Wissenschaftsbegriffs. Eine weitere Konkretion erfährt dieser durch Geigers Beschreibung: „So ist die Wissenschaft der neuen Zeit frei und gläubig […]“ (BA 7). Die Wissenschaft 30

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Ausführlicher schreibt Geiger: „Sie ist im ächten Sinne des Wortes offenbarungsgläubig, sie glaubt an den Gottesgeist, der im Judenthume die nirgends sonst erkannten religiösen und sittlichen Wahrheiten weckte, kräftigte, zur Reife und zum Siege führte, durch seine absolute Schöpferkraft […]. Diese Wissenschaft ist traditionsgläubig, sie glaubt an den Gottesgeist, der im Judenthum seine Schöpfung erhält, sie fortzeugen läßt, sie immer frisch geistig belebt. […] so ist das geistige Schöpfungswerk geschlossen, aber fortzeugend wirkt der Geist, der es trägt und es […] antreibt“ (BA 6f). Geiger benennt folglich auch subjektive Bedingungen der Wissenschaft des Judentums und fordert von den Gelehrten auch „volle[ ], sittliche[ ] Werthschätzung“ (ETh 3) gegenüber ihrer Arbeit.

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des Judentums erstreckt sich zwischen den beiden Polen Freiheit und Glauben, die ihr Gepräge ausmachen. Sie lässt sich nicht instrumentalisieren und fremdbestimmen, einzig durch das religiöse Gefühl wird sie geleitet, welches sie an das Wesen des Judentums bindet. Das religiöse Bewusstsein dient als treibende, nicht jedoch als einschränkende Kraft und macht das spezifische, dezidiert theologische Profil der Wissenschaft des Judentums aus. Die Bezugsgröße in Gestalt der jüdischen Religion fungiert als alleinige Direktive, wobei dieses Bezogensein auf Gott und die religiösen Wahrheiten nicht als Preisgabe wissenschaftlicher Freiheit zu verstehen ist, sondern als Voraussetzung für die Wissenschaft. Denn so bedingt gerade das Gegründet-Sein auf Gott die Freiheit der Wissenschaft des Judentums. Geiger distanziert sich somit von der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit, die sich als religiös geboten versteht, die Ausübung von Wissenschaft demgemäß als religiöse Verpflichtung betrachtet und ein kritisches Hinterfragen kategorisch ausschließt. Die Wissenschaft des Judentums steht demzufolge zwar in der Verantwortung des Glaubens, dieser jedoch gewährt, nicht verwehrt, ihr Freiheit. Offenkundig trägt Geiger die jüdische Binnenperspektive in seinen Wissenschaftsbegriff ein und erklärt Juden zu den Trägern der Wissenschaft des Judentums. Die zu Beginn des Kapitels formulierte Einschätzung, dass Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie versteht, erfährt durch diese Ausführungen ihre Bestätigung. Es zeigt sich, dass sich die Wissenschaft des Judentums durch einen Praxisbezug auszeichnet. So konstatiert Geiger, dass die Wissenschaft des Judentums „in höherm Sinne praktisch sein“ (FacII 8) soll, holt sie aus der rein theoretischen Sphäre heraus und deklariert sie dadurch als prägende Größe für das religiöse Leben der Gegenwart. Die Wissenschaft des Judentums lässt sich demnach durch einen ausgeprägten Praxisbezug in Form einer Handlungsorientierung charakterisieren. Hier klingt, genau wie beim allgemeinen Wissenschaftsbegriff, der von Geiger stets hervorgehobene und für ihn konstitutive Nexus von Wissenschaft des Judentums und religiösem Leben an, den auch folgende Formulierung zum Ausdruck bringt: „Das Leben soll von der reinen Erkenntniß des Judenthums durchdrungen sein, sie abspiegeln, die Wissenschaft soll im Leben ausmünden […]“ (AG 27f). Einerseits sollen die Wissenschaft des Judentums respektive deren Ergebnisse für das religiöse Leben nutzbar gemacht werden und selbiges sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse gründen, andererseits liefert die Frömmigkeitspraxis wiederum Impulse für wissenschaftliche Forschungen (vgl. AG 26). Diese Beziehung stützt die in Kapitel 1.2 der Hinführung aufgestellte These, dass die gegenwärtige Lage des Judentums einzig mittels Bildungsanstrengungen zu verbessern sei. Denn eine wechselseitige Relation sowie Befruchtung von Wissenschaft des Judentums und religiösem Leben sind offenkundig und verorten die Wissenschaft des Judentums im konkreten Alltag der Gegenwart. Diese

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 79 Verhältnisbestimmung legitimiert die Wissenschaft des Judentums und spiegelt sich, wie sich noch zeigen wird, in ihrer funktionalen Ausrichtung wider.32 Weiterhin zeichnet sich ab, dass die Wissenschaft des Judentums an den inneren Trieb im Judentum auf wissenschaftliche Selbstentfaltung und damit an wissenschaftliche Traditionen anknüpft, dadurch in einer Linie mit der klassischen Gelehrsamkeit steht, sich zugleich jedoch auch als etwas Neues versteht und sich von der traditionellen Form unterscheidet. Wo genau Geiger die Wissenschaft des Judentums einordnet, gilt es zu ermitteln, um so ihr Profil präzisieren zu können. Geiger stellt heraus, dass das Judentum „Wissen und Erkenntniß“ (JGIII 158) stets hoch geschätzt habe, was dahingehend gedeutet werden kann, dass es von jeher einer methodisch kontrollierten Erschließung zugetan ist und sich mit der eigenen Tradition und Kultur auseinandergesetzt hat. Dementsprechend kann geschlussfolgert werden, dass die Wissenschaft des Judentums keiner Fremdbestimmung entspringt, sondern im Wesen des Judentums wurzelt und durch dieses begründet werden kann.33 Daher kann die Ausübung der Wissenschaft des Judentums als ein zentraler Auftrag des Judentums, ja als eine Selbstverständlichkeit, betrachtet werden. Geiger verweist darauf, dass es bereits im 11. und 12. Jahrhundert eine jüdische Wissenschaft und bedeutende Gelehrte gegeben habe und knüpft an diese wissenschaftliche Tradition an (vgl. FacI 10f).34 Ein historisches Beispiel sei in diesem Zusammenhang angeführt, da es ebenfalls Berührungspunkte zwischen der Wissenschaft des Judentums und der wissenschaftlichen Tradition im Judentum aufzeigt, insofern es die generelle Wirksamkeit geistiger Auseinandersetzung zum Ausdruck bringt. Geigers geschichtlicher Rekurs auf das babylonische Exil, in dem sich das Judentum ohne seine vorherigen fundamentalen Stützen zu bewahren wusste, veranschaulicht, welche Bedeutung Geiger der wissenschaftlichen Arbeit zuschreibt. Er bezeichnet hierbei die „freie Gelehrsamkeit, die Forschung“, „die Krone der Thorah“ als den „einzige[n] 32

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Vgl. zu den funktionalen Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess: Kapitel 2 des I. Hauptteils. Diese für Geiger charakteristische praktische Abzweckung der Wissenschaft des Judentums erwächst aus seiner eigenen doppelten Tätigkeit: einerseits als theoretisch arbeitender Wissenschaftler, andererseits als praktisch wirkender Rabbiner in einer Gemeinde. Auch Meyer deutet die Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse für das religiöse Leben als spezifisches Moment von Geigers Wissenschaftsverständnis und führt es auf seine zweifache Wirksamkeit zurück (vgl. Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 26–32). In dem Artikel Die wissenschaftliche Ausbildung des Judenthums in den zwei ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends bis zum Auftreten des Maimonides umreißt Geiger die Entwicklung des Judentums anhand der Darstellung seiner Wissenschaftsgeschichte und verweist auf zentrale gelehrte Persönlichkeiten und ihre Werke (vgl. WAJI–III). Er rekurriert auf „die jüdischen Philosophen“, „die jüdischen Exegeten“ und die „Grammatiker und Lexikographen“ (FacI 11), die im 11. und 12. Jahrhundert wirkten.

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Halt innerhalb des Judenthums, welcher es fähig machte, sich zu erhalten ohne Staat und ohne Tempel […]“ (JGIII 8).35 Geistige Aktivität, in welcher konkreten Gestalt auch immer, kann einen wichtigen Beitrag zur Tradierung leisten und daseinsbedingende Kraft entfalten. Die Konzentration auf ideelle Größen stiftet vornehmlich in Krisen- und Umbruchssituationen Hoffnung, Zusammengehörigkeit sowie Orientierung und fördert dadurch das kontinuierliche Bestehen. Geiger misst der Bildung gerade in der Gegenwart eine ungeheure Wirkungskraft zu, insofern er die Möglichkeit sieht, dass die Wissenschaft des Judentums die als misslich empfundene Situation des Judentums als eine Minderheit im deutschen Staatengefüge mit dezidiert christlicher Prägung zu kompensieren und eine positive Perspektivität zu eröffnen vermag.36 Gerade weil das Judentum wenig äußere Unterstützung erfährt, bedarf es einer inneren Triebfeder, die Optimismus und Halt vermittelt und dadurch die Zukunftssicherung des Judentums zu unterstützen weiß. Die Wissenschaft des Judentums fungiert für Geiger als ebendiese Größe mit existenzieller Bedeutung. Sie weist eine gewisse tradierende Funktion auf, insofern sie danach strebt, alle geistigen Ausdrucksformen des Judentums zu beleuchten und hierdurch zu dokumentieren, das heißt für noch folgende Generationen durch Überlieferung zu sichern. Gerade in Zeiten der Konfrontation wird die Tradierung des Judentums verschärft gefordert und gleichzeitig auch gefördert. Geiger präzisiert diese Leistung der Wissenschaft des Judentums noch weiter, wenn er herausstellt, dass es „mit ihrer Hilfe [möglich ist,] unsern eigenen Schatz zu verwerthen […]“ (JGIII 158). Ebenso für die innerjüdische Akzeptanz ist es demnach nötig, dass die religiösen Wahrheiten, also das jüdische Erbe, methodisch erschlossen und vermittelt werden. Denn nur, wenn das vormals disparate Material systematisiert und kategorisiert wird, kann es zur Grundlage des persönlichen Glaubens werden, die Identifikation mit der eigenen Religion initiieren sowie fundieren und letztlich an spätere Generationen wei35

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Zieht man diesen geschichtlichen Rekurs heran, muss berücksichtigt werden, dass die exilische Gelehrsamkeit nicht mit Geigers gegenwärtiger Vorstellung von Wissenschaft zu vergleichen ist, sondern vielmehr eine Fokussierung auf die Tora und die Konstituierung neuer Lehren, demnach also eine gewisse Vergeistlichung des Glaubens, meint. Darüber hinaus kann die Exilsituation freilich nicht mit der Lage der Juden im 19. Jahrhundert gleichgesetzt werden. Geiger schreibt dazu: „Eine Religion der Minorität, eine Religion, die nicht im ganzen Staatsleben wurzelt, so daß sie von diesem getragen wird, die nur aus sich selbst ihre Nahrung zieht, eine Religion, die um erhöhten Einfluß ringen muß, erhält sich nur, wenn sie sich auf der Höhe des geistigen Lebens erhält, […] wenn sie durch Gediegenheit und Innerlichkeit die Gemüther festigt, durch Wissenschaftlichkeit und Freiheit auch die Geister der außerhalb Stehenden bewältigt“ (RG 173). Diesen Gedanken führt er an anderer Stelle ebenfalls an, wenn er betont: „Eine machtlose Minderzahl kann nur gedeihen, wenn sie mit geistiger Klarheit das Ziel vor Augen hat und verfolgt, wenn sie durch Hingebung ersetzt, was ihr an äußern Machtmitteln abgeht“ (WtN 252).

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 81 tergegeben werden. Erst durch die wissenschaftliche Durchdringung können die Bedeutung und Würde der jüdischen Tradition und Geschichte vollends erfasst sowie geschätzt werden und eine neue Betrachtungsweise auf das Judentum hervorgerufen werden. Die sachgemäße Kenntnis der eigenen Tradition ermöglicht es, den persönlichen existenziellen Standort zu bestimmen und zu einem neuen Selbstverständnis zu gelangen. Die Wissenschaft des Judentums enthüllt folglich durch Freilegung des jüdischen Geistes das Potential und gleichzeitig das Proprium des Judentums, wirkt somit belebend, inspirierend, selbstvergewissernd und zukunftsgestaltend. Sie schafft demgemäß sowohl innerhalb als auch außerhalb des Judentums neue Zugänge zum selbigen und leistet dadurch in Anlehnung an frühere Formen jüdischer Gelehrsamkeit einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssicherung des Judentums. Wenngleich die Wissenschaft des Judentums also in gewisser Weise an wissenschaftliche Traditionen im Judentum anknüpft, sich also nicht aus dem Nichts emporschwingt, steht sie gemessen am allgemeinen und gegenwärtigen Wissenschaftsideal des Makrokosmos noch am Anfang, ist demnach eine junge Disziplin (vgl. WH 18). Denn die religiöse autoritätsgläubige Gelehrsamkeit, die bis in Geigers Gegenwart hinein existent ist, entspricht nach Geigers Dafürhalten nicht den modernen wissenschaftlichen Prinzipien und kann daher in ihrer Gänze nicht als adäquate Vorläuferin der Wissenschaft des Judentums aufgefasst werden.37 Geiger stellt dazu heraus: „Aber mit dem Umschwunge der Ideen, mit der Veränderung der ganzen Anschauungsweise änderten sich auch die Ansprüche an die jüdische Theologie als an eine Wissenschaft“ (FacI 3). Das Judentum nimmt durch seine Einbettung in der deutschen Umwelt am ideengeschichtlichen Wandel teil und wird durch diesen beeinflusst. Dementsprechend wird das Judentum und dadurch auch seine Wissenschaft mit gegenwärtigen Anforderungen konfrontiert, die es zu erfüllen gilt, wenn eine dauerhafte Partizipation am intellektuellen Diskurs gewährleistet werden soll. Konzeptionelle Änderungen im Sinne einer Modernisierung sind somit auf Seiten der jüdischen Wissenschaft unumgänglich und werden auch von der nichtjüdischen Umwelt erwartet und eingefordert, von der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit jedoch nicht verwirklicht. Der Wissenschaftsbegriff muss geschärft und an allgemeine Standards angepasst werden, was Geiger mit seinem Konzept umzusetzen sucht. Er erklärt also die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft des Judentums für unabdingbar, distanziert sich dadurch von der vorfindlichen traditionellen jüdischen Gelehr37

Geiger zögert daher auch, die Vorläufer der Wissenschaft des Judentums respektive der jüdischen Theologie als solche zu deklarieren: „Sie [die jüdische Theologie] hatte früher – wenn man sich dieses Namens für eine Beschäftigung, die den langen Zeitraum, der unserer Zeit vorangegangen ist […], bedienen darf – einzig und allein im Studium des Talmuds bestanden […]“ (FacI 2).

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samkeit ‚Talmud Tora‘, der er jene abspricht. So konstatiert er: „Leider ist die jüdische Theologie […] in dem traurigen Gange der Zeiten sehr aller wissenschaftlichen Strahlen beraubt worden und damit auch die Praxis tief gesunken […]“ (A 71). Geiger macht abermals den Zusammenhang auf zwischen wissenschaftlicher Theorie und religiöser Praxis, indem er die Missstände des religiösen Lebens in kausalem Nexus zu den Mängeln der Wissenschaft des Judentums darstellt. Diese Verzahnung unterstreicht die Notwendigkeit der „wissenschaftliche[n] Behandlung der Theologie“ (A 71), in dessen Dienst Geiger auch seine eigene Arbeit stellt. So legt er dar, dass er „[…] Klarheit und System in die jüdische Theologie und damit auch Innigkeit in das jüdisch-religiöse Leben […] bringen [will]“ (A 71). Die wissenschaftliche Durchdringung führt zu Ordnung und Struktur, stiftet Zusammenhänge, Transparenz und dadurch tiefgründiges Verständnis. Aus der gewonnenen Orientierung und Erkenntnis auf theoretischer Ebene resultiert in der jüdischen Frömmigkeitspraxis idealiter ein Zugewinn in Form einer ausgeprägten emotionalen Identifikation mit dem Judentum. Die produktive Verschränkung von Theorie und religiöser Praxis verdeutlicht einmal mehr, wie essenziell das wissenschaftliche Gepräge der Wissenschaft des Judentums für die Zukunft des Judentums ist. Denn die jüdische Frömmigkeitspraxis gewinnt an Lebendigkeit, Intensität, Emotionalität und Zuspruch, wenn sich die Wissenschaft des Judentums gegenüber modernen wissenschaftlichen Leitvorstellungen aufgeschlossen zeigt und diese zu integrieren weiß. Die Wissenschaftlichkeit wird also in den Dienst des Glaubens gestellt, was ausdrückt, dass die Wissenschaft des Judentums auch die innere Entwicklung beeinflusst und als ein Beitrag zur Bewältigung der als misslich empfundenen Situation des Judentums verstanden werden kann.38 Folglich können Geigers Äußerungen dahingehend gedeutet werden, dass die von ihm konzipierte Wissenschaft des Judentums zwar an wissenschaftliche Traditionen im Judentum, welche aus heutiger Sicht zweifelsohne ein eklatantes Defizit an Wissenschaftlichkeit aufweisen, anknüpft, indem auch sie sich aus jüdischer Perspektive mit der Tradition und Kultur des Judentums auseinandersetzt, sie sich aber grundlegend in der Art und Weise der Behandlung und ihrem Maß an Wissenschaftlichkeit unterscheidet. Dementsprechend markiert der methodische Ansatz der Wissenschaft des Judentums die wohl prägnanteste Differenz zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit, die sich einem religiös gebotenen Schriftstudium verpflichtet sieht und kritische Anfragen a priori ausschließt, und verleiht der Wissenschaft des Judentums einen zeitgemäßen Duktus.39 Die 38 39

Vgl. dazu: Kapitel 2 des I. Hauptteils: Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess. Vgl. dazu Kapitel 3 des I. Hauptteils: Methodik der Wissenschaft des Judentums und exemplarisch: ETh 27; FacI 4.

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 83 Methodik, die bei Geiger historisch-kritisch ausgerichtet ist (vgl. ETh 27), und die dadurch erwirkte Wissenschaftlichkeit können demnach als die zentralen Momente aufgefasst werden, welche den Bruch zur jüdischen wissenschaftlichen Tradition und den dezidierten Neuanfang der Wissenschaft des Judentums zum Ausdruck bringen.40 Dadurch, dass die Wissenschaft des Judentums auf in der Wissenschaft verbreitete Methoden und Kategorien zurückgreift, also Impulse aus der Bildungswelt aufnimmt, speist sie sich in selbige ein und verschafft sich dadurch Anerkennung und macht ihren Wissenschaftsanspruch deutlich.41 Denn nur durch den Einsatz allgemein anerkannter Methoden kann es gelingen, am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen, eigene Erkenntnisse überzeugend darzustellen und umfassend zu verbreiten. Offensichtlich bedingt der Umfang des Untersuchungsgegenstandes der Wissenschaft des Judentums ihre disziplinäre Ausdifferenzierung, die ebenfalls als Merkmal einer Wissenschaft neuen Stils gedeutet werden kann.42 So stellt Geiger heraus, dass sich die Wissenschaft des Judentums mit einem ausgedehnten Forschungsgebiet konfrontiert sehe, da das Judentum eine mehr als 3000-jährige Geschichte habe, der religiöse Geist des Judentums sich in verschiedenen Ausprägungsformen manifestiere und die zu analysierenden Zeugnisse ergo sehr umfangreich seien (vgl. EWdJ 41). Dieses breite Spektrum legitimiert die Wissenschaft des Judentums und verdeutlicht die große Wirksamkeit des Judentums, die es mittels wissenschaftlicher Arbeit zu ergründen gilt. Infolgedessen gewinnt die Wissenschaft des Judentums selbst an Ausmaß, was eine Aufgliederung in verschiedene Disziplinen nötig werden lässt. Auffallend ist weiterhin, dass die Wissenschaft des Judentums auch im Unterschied zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit viel stärker nach bestimmten äußeren Bedingungen verlangt, damit sich ihre Leistungskraft fruchtbar entwickeln und sie die ihr zugeschrie40

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Geiger stellt beispielsweise heraus, dass die Werke Maimonides’ und Raschis, deren Leistungen er durchaus zu würdigen weiß, der „geschichtlichen und kritischen Grundsätze“ (ETh 20) gänzlich entbehren. Er erläutert überdies, dass selbst in der Zeit der Haskala noch keine befriedigende Wissenschaftlichkeit erreicht wurde, wenn er ausführt: „Mit Mendelssohn tritt […] eine neue Epoche ein, die den Missbrauch beseitigen und der Geschmacklosigkeit steuern will, ohne aber zur Wissenschaftlichkeit sich zu erheben“ (ETh 15). Außerdem erklärt er, dass während der Haskala von „aller wissenschaftlichen Vertiefung“ abgesehen wurde und ein „wissenschaftlicher Gesammtbegriff“ nicht intendiert wurde (ETh 26). Geiger kommt daher zu dem ernüchternden Schluss: „Das Judenthum auf die Stufe der Wissenschaft zu erheben, es ebenbürtig den anderen Religionen zur Seite zu stellen, war eine Aufgabe, welche die Kräfte der Zeit [der Haskala] überstieg […]“ (EWdJ 240). Geiger betont, dass das Judentum Impulse aus seiner Umwelt aufnimmt, gleichzeitig jedoch auch Eigenes in selbige einspeist, wenn er schreibt: „Das Judenthum steht nicht abgeschlossen da, es empfängt von der gesammten Entwickelung der Menschheit, wie es ihr giebt […]“ (BA 6). Vgl. ausführlicher zu den disziplinären Aufgliederungen: Kapitel 4 des I. Hauptteils.

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benen Aufgaben realisieren kann (vgl. GB 253). Jene prägen sich idealerweise in Gestalt der Institutionalisierung, das heißt also in Form von Konstituierung von Öffentlichkeit und Professionalisierung aus.43 Geiger legt entsprechend dar: „Die Wissenschaft bedarf, wenn sie gedeihen soll, wie die Pflanze neben der Arbeit des Gärtners der wärmenden Sonne, so neben der eifrigen Pflege von Seiten ihrer Jünger noch der wohlwollenden Beachtung, der anerkennenden Gunst, sie will bei hellem Tageslichte auf offenen Markt treten“ (GB 253). Um ihre Wirksamkeit entfalten zu können, benötigt die Wissenschaft des Judentums offenkundig Personen, die sich ihr intensiv und uneingeschränkt widmen. Der Drang zur institutionellen Ausformung der Wissenschaft des Judentums resultiert folglich unter anderem aus der Forderung nach qualifizierten Kräften.44 Sie bedarf demgemäß Einrichtungen, in denen die Ausbildung von Wissenschaftlern und Praktikern vollzogen wird. Das Bestreben nach Verbreitung und öffentlicher Kundgabe verlangt zudem nach einem Forum für die Wissenschaft des Judentums und wehrt sich gegen das Schattendasein in isolierten Gelehrtenzimmern. Wissenschaftliche Periodika vermögen als Vermittlungsorgane dieser Forderung gerecht zu werden und fungieren neben wissenschaftlichen Einrichtungen als weitere Institutionalisierungsform der Wissenschaft des Judentums. Geiger skizziert den Einflussbereich der Wissenschaft des Judentums näher, wenn er betont, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum „Gemeingute aller Gebildeten“ (JGI IX) werden müssen, das Judentum und seine Tradition folglich durch die wissenschaftliche Erschließung in die Bildungswelt eingespeist und jüdisches Wissen Eingang in den intellektuellen Diskurs finden sollen. Eine gewisse Popularisierung der jüdischen Bildungsinhalte ist die Folge, insofern Kenntnisse zum Allgemeinwissen werden und den Status von jüdischem Expertenwissen ablegen. Die Geltungssphäre der Wissenschaft des Judentums gilt es also zu vergrößern und dadurch ihre Legitimation zu begründen. Der Drang zur Verbreitung und Aneignung ist offenkundig und erstreckt sich sowohl auf außerjüdische als auch auf innerjüdische Kreise.45 Bei allem Bestreben zur universalen Verbreitung ist eine Einschränkung eingezogen. Denn Geiger spricht stets

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Vgl. den II. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums. Vgl. Kapitel 2.3 des I. Hauptteils: Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess. Geiger führt dieses Argument an, um die Veröffentlichung seines Vorlesungsmanuskriptes Das Judenthum und seine Geschichte bis zur Zerstörung des zweiten Tempels zu rechtfertigen. Geigers eigene Arbeit, in diesem Fall die öffentliche Verbreitung seiner wissenschaftlichen Ergebnisse, trägt demgemäß dazu bei, dem Judentum Anerkennung zu verschaffen.

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 85 von „Gebildeten“46 und konstruiert dadurch eine spezifische Zielgruppe wissenschaftlicher Bildungsprozesse. Er wendet sich gegen eine populär-wissenschaftliche Ausrichtung der Wissenschaft des Judentums, strebt vielmehr eine gewisse Professionalisierung an. So legt die Bezeichnung „Gebildete[ ]“ nahe, dass die Adressaten der Wissenschaft des Judentums über ein bestimmtes intellektuelles Niveau verfügen, welches ihrer Ausbildung geschuldet ist. Jedoch betont Geiger auch, dass „die geschichtlichen Thatsachen […] einer Erklärung für Jedermann [bedürfen], weil sie Quelle sind, aus der Lebensüberzeugungen, Normen für Glauben und Thun geschöpft werden“ (JGI X). Die Wissenschaft des Judentums beziehungsweise ihre Aussagen gehen jeden an, alle bedürfen also der wissenschaftlichen Unterweisung, da wissenschaftlich eruierte und erläuterte Erkenntnisse handlungsleitenden Charakter haben. Die Wissenschaft des Judentums hat demzufolge einen großen Wirkungs- und Ausstrahlungsbereich, da ihre Aussprüche lebenspraktische Relevanz haben und daher von den Gläubigen gekannt und verinnerlicht werden müssen. Die von Geiger entfaltete Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für das allgemeine religiöse Leben führt jedoch nicht zu einer Erweiterung des beschriebenen Adressatenkreises der Wissenschaft des Judentums. Vielmehr kann auf Vermittler in Gestalt von Praktikern, also Rabbinern, zurückgegriffen werden, welche die Erkenntnisse, neben der Literatur, an die Allgemeinheit weiterzugeben und die Bildungsaufgabe der Wissenschaft des Judentums zu erfüllen wissen (vgl. RG 167; AG 25f). Es kann folglich zwischen einem mittelbaren und einem unmittelbaren Adressatenkreis der Wissenschaft des Judentums unterschieden werden, wobei ersterer einen gewissen Grad an Bildung voraussetzt. Die Wissenschaft des Judentums ist in ihrer funktionalen Ausrichtung auf die Praxis bezogen und sucht mit ihren Resultaten jeden zu erreichen, richtet sich primär dennoch an „Gebildete[ ]“, die bedingt durch ihre Ausbildung und ihr Amt als Bindeglieder die Erkenntnisse an die Allgemeinheit vermitteln und dadurch die jüdischen Wissensbestände umfassend verbreiten. Die Gruppe der „Gebildeten“ ist demgemäß nicht als eine elitäre Formation zu verstehen, sondern als eine Größe, die sich ausschließlich durch ihre Ausbildung sowie ihren professionellen Auftrag von der Allgemeinheit unterscheidet, wobei diese Differenz nicht zwangsläufig im Sinne einer Besserstellung zu betrachten ist. Das Bestreben nach Verbreitung und Aneignung der Wissenschaft des Judentums begründet demnach auch den Drang zu ihrer professionellen und institutionellen Ausformung. Als vorläufiges Fazit kann Geigers Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums, der als differentia specifica seines allgemeinen Wissenschafts46

Geiger steht damit in der terminologischen Tradition Schleiermachers (vgl. Schleiermacher, Über die Religion).

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begriffs zu deuten ist, wie folgt zusammengefasst werden: Die Wissenschaft des Judentums, die von Geiger als spezifische Ausgestaltung des humanen Geistes bestimmt wird, kann als die methodisch kontrollierte Erschließung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Judentums verstanden werden. Das Judentum fungiert dabei als alleinige Bezugsgröße, welche das unverkennbare Gepräge der Wissenschaft des Judentums begründet, und wird als eine originelle Ausprägungsform des religiösen Geistes mit schöpferischer Gestaltungskraft innerhalb der universalen Geistesgeschichte definiert, was zur Folge hat, dass ausschließlich solche jüdischen Zeugnisse durchleuchtet werden, die Ausdruck der religiösen Idee sind. Die Wissenschaft des Judentums kann demgemäß als Wissenschaft von der jüdischen Religion charakterisiert werden und dadurch als Spezifizierung des allgemeinen Wissenschaftsbegriffs aufgefasst werden. Die wissenschaftliche Analyse des Judentums kann nur unter Beteiligung derer geschehen, die selbst in der jüdischen Tradition stehen, also lediglich von Innen erfolgen. Geigers Wissenschaftsbegriff zeichnet sich demnach durch Subjektivität aus. Juden werden somit zu Subjekten des Wissenschaftsdiskurses und die jüdische Binnenperspektive wird konstitutiv. Denn das religiöse Bewusstsein fungiert als Leitgedanke jeglicher wissenschaftlichen Erforschung, wodurch ihre klare theologische Ausrichtung begründet wird. Die Harmonie von Wissen und Glauben kann dabei als zentrales Ideal betrachtet werden. So werden wissenschaftliche Untersuchungen in den Dienst des religiösen Lebens gestellt und weisen demzufolge eine praktische Abzweckung auf. Es fällt auf, dass Geiger seinen Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums durch Verschränkung zweier Blickrichtungen – der ‚Top-down‘- und der ‚Bottom-up-Perspektive‘ – konstruiert. Einerseits kann das Judentum durch die wissenschaftliche Betrachtung als spezifischer Ausdruck der historischen Entfaltung des menschlichen Geistes erkannt werden, insofern die Kriterien des allgemeinen Wissenschaftsbegriffs in deduktiver Weise auf das Judentum bezogen werden und dadurch dessen legitimer Status als Religion erwiesen wird. Andererseits kann das Judentum durch die wissenschaftliche Erschließung, also durch die systematische Kategorisierung des Vorfindlichen, in die humane Bildungsschicht eingespeist werden und in ihr und durch sie anerkannt werden, insofern es sich Impulse aus der Bildungswelt holt und sich dadurch qualifiziert. Wissenschaftliche Untersuchungen strengen somit auch in induktiver Weise an, die geistige Schaffenskraft des Judentums zu enthüllen und zu zeigen, dass das Judentum wissenschaftliche Methoden und Kategorien verwendet. Daraus resultierend kann das Judentum in den intellektuellen Diskurs integriert werden und dort idealiter Anerkennung finden. Die ‚Top-down‘- und die ‚Bottom-up-Perspektive‘ ergänzen sich gegenseitig, suchen also beide die Wissenschaftlichkeit des Judentums unter Beweis zu stellen, das heißt die historische und theologische

Annäherung an den Wissenschaftsbegriff 87 Selbstbeschreibung des Judentums auf eine wissenschaftliche Basis zu heben, einen Wissenschaftsanspruch zu formulieren und dadurch eine angemessene Position innerhalb der universalen Geistesgeschichte, also vornehmlich in der Bildungsschicht, zu ermöglichen. Die Wissenschaft des Judentums soll demzufolge ein sachgerechtes und tiefgründiges Verständnis vom Judentum schaffen und letztlich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Judentums verbreiten, um dadurch die dauerhafte Fortexistenz des Judentums zu gewährleisten. Die Wissenschaft des Judentums intendiert einen Erkenntnisfortschritt auf jüdischer und nicht-jüdischer Seite und sucht demgemäß Verstehens- und gleichzeitig auch Identifikationsprozesse anzubahnen. Es zeichnet sich somit gerade auch vor dem Hintergrund des Nexus zwischen Wissenschaft des Judentums und religiösem Leben ab, dass die gegenwärtige sowie zukünftige Situation des Judentums im Makrokosmos und im Mikrokosmos ausschließlich mittels Bildungsanstrengungen positiv gestaltet und determiniert werden kann, was der Wissenschaft des Judentums eine existenzielle Bedeutung verleiht. Wie die Wissenschaft des Judentums die Entwicklung des Judentums konkret beeinflusst und dadurch die an sie gerichteten Erwartungen erfüllt, verdeutlichen ihre Funktionen, die im nächsten Kapitel entfaltet werden. Daraus folgend ergeben sich das kontinuierliche Bestreben der umfassenden Verbreitung und Aneignung jüdischen Wissens und überdies der nachdrückliche Drang zur Professionalisierung und Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums. Geiger distanziert sich trotz gewisser Anknüpfungspunkte an die wissenschaftliche Tradition mit seinem Konzept weitestgehend von der traditionellen Gelehrsamkeit und sucht eine zeitgemäße Form von Wissenschaft zu konstruieren, indem er die jüdische an die allgemeine Wissenschaftsentwicklung anpasst. Hernach wird das Judentum unter Rückgriff auf moderne Kategorien erschlossen und jüdisches Wissen systematisiert, tradiert und gleichzeitig auch popularisiert. Zugleich ist Geiger jedoch auch bestrebt, die Wissenschaft des Judentums als eine originelle, ja individuelle Form von Wissenschaft zu konstruieren und ihr ein unverwechselbares Gepräge zu verleihen. Geiger leistet durch seine Wesensbestimmung der Wissenschaft des Judentums ihre Wesensgestaltung, insofern er mit seinem umfassenden Konzept den Anfang einer neuen Zeit mitgestaltet, wegweisende Ideen präsentiert und die Wissenschaft des Judentums als eine wissenschaftliche Disziplin zu entwerfen weiß und dadurch prinzipiell den Weg in den universitären Fächerkanon eröffnet. Inwiefern die Wissenschaft des Judentums wirkmächtig ist und dadurch eine Verbesserung der gegenwärtigen Lage des Judentums realisiert, zeigen ihre Aufgaben. Im Folgenden gilt es daher, die Funktionalität der Wissenschaft des Judentums zu beleuchten und so den Geigerschen Wissenschaftsbegriff weiter zu schärfen.

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2. Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess Da die Wissenschaft des Judentums von Geiger als eine prägende Größe des religiösen Lebens der Gegenwart bestimmt wird und sie überdies als sich in wechselseitiger Interdependenz mit der Praxis befindend definiert wird, bekommt die in Kapitel 1.2 der Hinführung aufgestellte These, dass die gegenwärtige als misslich empfundene Situation des Judentums einzig mittels Bildungsanstrengungen zu verbessern sei, ihre prinzipielle theoretische Bestätigung. Daher schließt sich die Frage an, inwiefern die Wissenschaft des Judentums konkret einen Beitrag zur Fortentwicklung und damit zur Existenzsicherung des Judentums leistet, wie sie also dessen Entwicklung positiv beeinflusst und gestaltet. Die in der Annäherung an den Wissenschaftsbegriff enthaltenen allgemeinen intentionalen Implikationen der Wissenschaft des Judentums, wie sie im vorherigen Kapitel dargestellt sind, gilt es zu präzisieren und dadurch ihre Aufgaben im Detail zu erhellen. Das heißt, dass in Anlehnung und Weiterführung von Meyers überzeugendem Ansatz, die jüdische Reformbewegung und die Wissenschaft des Judentums perspektivisch zusammenzuführen,47 die Verortung, also die funktionalen Bedeutungen, der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess beleuchtet werden soll. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Geiger das Judentum als eine religiöse Größe ansieht und Umgestaltungen daher primär das religiöse Leben betreffen.48 Dementsprechend wird vorrangig der Mikrokosmos in den Blick genommen und die Bedeutung von Reformen respektive von wissenschaftlicher Arbeit für ebendiesen erläutert. Zeitdiagnostische Beobachtungen lassen Geiger folgende Einschätzung formulieren: „Bei einer alten geschichtlichen Religion, wie das Judenthum ist, und bei dem mächtigen Umschwunge, den es erfahren hat, ist eine der vorzüglichsten Aufgaben, dessen Fortbildung in richtiger Weise zu ermöglichen“ (ETh 28). Die Zeit des geistigen sowie sozialen Umbruchs und die daraus erwachsenden Umstrukturierungsprozesse, an denen auch das Judentum als eine historische 47

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Vgl. Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums. In einem späteren Aufsatz unterstreicht Meyer, dass der Reformprozess der entscheidende Movens der Wissenschaft des Judentums sei (vgl. ders., Two persistent tensions within Wissenschaft des Judentums, 111). Meyer begründet diese Perspektive überzeugend: „The Jews’ political history had ceased with the dispersion; their legal, economic, and social position within other societies properly belonged to the history of those societies, but not to a history of the Jews. Feeling himself nationally a German and regarding the Jewish entity as a religious community, Geiger was interested only in tracing the course of its religious development, for only that element, to his mind, was still alive and possessed a future“ (Meyer, Abraham Geiger’s historical Judaism, 10f). Geigers Wirken ist demnach eindeutig religiös und nicht politisch motiviert.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums89 Größe partizipiert, erfordern genau wie die konstatierte Zerfahrenheit, Veräußerlichung und der gängige Indifferentismus eine Weiter- und Fortentwicklung des Judentums. Die Religion bedarf also einer Aktualisierung, um den derzeitigen Erfordernissen und Anforderungen gerecht zu werden, mit der Zeit zu gehen und sich nicht als antiquierte Erscheinungsform zu disqualifizieren. In Anknüpfung an das in Ansätzen vorhandene Reformbewusstsein müssen demgemäß alle Bestrebungen und Bewegungen ebendiese Fortbildung intendieren, so auch die Wissenschaft des Judentums.49 Vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen den jüdischen Traditionen und der modernen Lebenswelt sowie Frömmigkeitspraxis bestimmt Geiger die Aufgabe der Wissenschaft des Judentums dahingehend, dass diese jene Kluft entschärfen müsse, wenn er schreibt: „Die Wissenschaft und die immer zu größerer Klarheit sich steigernde und weiteren Raum gewinnende Erkenntniß wird schon diesen Zwiespalt ausgleichen; […] besser, er werde ein Mittel zum Fortschritte, als eine Veranlassung zum gänzlichen Verfalle“ (JJ 170f). Diese Äußerung verdeutlicht, dass die existierende Differenz zwischen Lehre und Leben konstruktiv genutzt werden muss, damit das Judentum auf Dauer bewahrt wird. In diesem Zusammenhang muss die Spannung zwischen Kontinuität und Fortschritt austariert werden. Denn die Tradition des Judentums kann nur durch Modernisierung desselben gesichert werden und bedarf hierfür der Wissenschaft des Judentums. Geiger propagiert folglich eine wissenschaftliche Rechtfertigung und, wie sich zeigen wird, Umsetzung religiöser Reformen. Es stellt sich die Frage, wie sich die wissenschaftliche Funktion konkret ausdrückt und vor allem geltend macht. Geiger deutet die Wirksamkeit der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess an, wenn er schreibt: „Schon lange ist die Wissenschaft wie die innerlich religiöse Gesinnung eifrig bestrebt, die starr gewordene Religionsübung in Fluß zu bringen, die herkömmlichen Annahmen nach ihrem geschichtlichen Werden zu prüfen, zu erklären und sie somit in den Gang der geistigen Bewegung wieder einzuführen, den in Aeußerlichkeit vertrockneten Uebungen ihren ideellen Gehalt zurückzugeben, sie mit neuem Lebenssafte zu durchströmen und sie dadurch gefügiger zu machen“ (ZgL 84). Es klingt an, dass die Wissenschaft des Judentums die 49

Dass sich die Wissenschaft des Judentums in den Reformprozess einbringen soll, stellt Geiger mehrfach heraus. So legt er beispielsweise dar, dass „die Aufforderung an die Vertreter der Wissenschaft […], sich an einer Frage, welche an einem Orte mit Entschiedenheit hervortritt, durch ihr Urtheil zu betheiligen“ (RTGII 81) sowohl für die Wissenschaft als auch für die Reformen von Nutzen sein könne. Ferner betont er, dass die Diskussion um Reformen die wichtigste der Zeit sei (vgl. Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 87). Auch Meyer definiert Geigers vordergründiges Ziel wie folgt: „Geiger wanted to reshape the present and the future of Jewish life and needed a more than arbitrary basis on which to proceed“ (Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 31).

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ihr zugewiesene Aufgabe in dreifacher Weise zu erfüllen sucht: So differenziert sich die Funktionalität in eine historische, eine systematisch-normative und eine praktische aus, die es nun allesamt näher zu betrachten gilt. Vorher sei noch eine Beobachtung angeführt: Die angedeuteten funktionalen Bedeutungen und die dezidierte Einbindung der Wissenschaft des Judentums in den Reformprozess resultieren aus Geigers eigener praktischer Tätigkeit als Rabbiner, durch die er mit konkreten Bedürfnissen sowie Erfordernissen der Frömmigkeits- und Gemeindepraxis konfrontiert wird und durch die er zu konstruktiven Lösungsansätzen herausgefordert wird. Dass Geiger im Kontext des allgemeinen Wissenschaftsbegriffs der Wissenschaft einen Selbstzweck zuschreibt, ist hingegen seiner Tätigkeit als Gelehrter zuzurechnen. Meyer charakterisiert die angedeutete Doppelrolle wie folgt: „The intellectual life of Abraham Geiger may be best understood as a continuing fluctuation between the aims and goals of the scholar and the desire to exert the immediate influence upon the present which is possible only for the active rabbi. Devotion to scholarship and concern with community leadership and direction created a tension with Geiger could never completely resolve.“50 Mit Meyer kann konstatiert werden, dass Geiger zeit seines Lebens unterschiedlichen Anforderungen und Aufgabenprofilen gerecht werden muss, was gewisse Akzentverschiebungen erklärt. Der von Scholem herausgestellte und kritisierte Widerspruch zwischen propagiertem Selbstzweck und politisch-emanzipatorischer Vereinnahmung, den er als Charakteristikum der Wissenschaft des Judentums insgesamt benennt, kann bei Geiger demnach entkräftet werden, da Geiger der Wissenschaft des Judentums ein funktionales Gepräge verleiht und den Selbstzweck nur bei allgemeinen wissenschaftsprogrammatischen Äußerungen betont.51 Das genus proximum gewinnt durch die Kontextualisierung also an funktionaler Präzision und so ergibt sich das Aufgabenprofil der differentia specifica aus der konkreten Bezugsgröße und dem spezifischen Kontext.

50 51

Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 26. Scholem beschreibt den Widerspruch als einen „Widerspruch zwischen der immer wiederkehrenden Proklamation einer objektiven, ‚reinen Wissenschaft‘, die nichts anderes ist als ein Zweig der Wissenschaft an sich und die nur sich selbst bezweckt – und zwischen der nicht zu übersehenden Tatsache der politischen Aufgabe, der sich diese Wissenschaft stellte, die sie erfüllen wollte und um deren Erfüllung willen sie in der Öffentlichkeit akzeptiert wurde“ (Scholem, Judaica 6: Die Wissenschaft vom Judentum, 15).

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2.1  Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis im Reformprozess Gemäß Geigers Definition sucht die Wissenschaft des Judentums die Entstehungs-, Entwicklungs- sowie Wirkungsgeschichte des Judentums innerhalb der universalen (Geistes)Geschichte zu beleuchten und darzustellen. Sie zielt demgemäß auf einen geschichtlichen Erkenntnisgewinn ab. Der historische Duktus des Wissenschaftsbegriffs ist evident und manifestiert sich auch darin, dass Geiger die jüdische Geschichte als konstitutives Element der Wissenschaft des Judentums erachtet, was exemplarisch daran deutlich wird, dass die beiden signifikanten Kompendien Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie und Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums ihre Schwerpunkte im historischen Zweig haben. Betrachtet man Geigers eigene wissenschaftliche Tätigkeit, fällt ebenfalls auf, dass die jüdische Geschichte im Zentrum seiner Arbeit steht. Viele seiner Aufsätze, Vorlesungen und Werke thematisieren die Historie des Judentums, wenn auch unter verschiedenen Fragestellungen und in unterschiedlicher Intensität.52 Historische Zeugnisse und Problemstellungen fungieren fast durchgängig als Forschungsgegenstände und Themen werden unter Rückgriff auf die Geschichte erörtert. Die jüdische Geschichte ist für Geiger somit zentrales Forschungsgebiet der Wissenschaft des Judentums. Diese fördert einerseits – und schwerpunktmäßig – historische Erkenntnisse zu Tage,53 gebraucht sie andererseits in praktischer Hinsicht, weil sie sie als Wissen vermittelt und für die Gegenwart fruchtbar macht (vgl. JGI 187). Da Geiger das Judentum als eine religiöse und nicht politische Größe ansieht, versteht er unter jüdischer Geschichte in erster Linie die religiöse, also innere Entwicklung des Judentums. Im Folgenden soll die Bedeutung geschichtlicher Erkenntnisse für das religiöse Leben veranschaulicht werden, das heißt also deren Nutzbarmachung für den Reformprozess dargelegt werden. Es gilt demnach, zu klären, inwiefern die Erforschung der jüdischen Geschichte einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Judentums leisten kann, um dadurch die historisch ausgerichtete Wirksamkeit der Wissenschaft des Judentums näher bestimmen zu können. Als entscheidende Voraussetzung jeglicher Fortbildung des Judentums benennt Geiger zunächst folgende Grundannahme: „Das Judenthum ist nicht mit einem Male geworden, sein Anfang kann ihm kaum nachgerechnet werden […]. Das Judenthum hat eine grosse dreitausendjährige Geistesgeschichte, in der 52 53

Vgl. exemplarisch: EWdJ 61–245; ETh 9–27; JGI–III; AJG; EbS. Historische Erkenntnisse dienen ursprünglich, also ohne Nutzbarmachung für den Reformprozess, natürlich auch dazu, die eigene Geschichte zu verstehen und zu überliefern. Geschichtliches Wissen kann folglich für die generelle Tradierung des Judentums fruchtbar gemacht werden.

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die edelsten Lebensfrüchte gereift sind, eine Geschichte, von deren Ernte immer neue Nahrung ausgeht und ausgehen soll.“54 Demzufolge verfügt das Judentum über eine jahrtausend lange Entwicklungsgeschichte, bringt deshalb mannigfache (geistes)geschichtliche Erzeugnisse hervor, setzt dadurch produktive Impulse für die Zukunft frei und inkludiert ergo Kontinuität, aber auch Fortschritt. Geiger betont, dass mit Hilfe der wissenschaftlichen Perspektive solch eine Erkenntnis erlangt und das der jüdischen Geschichte innewohnende Wirkungspotential freigesetzt werden kann, wenn er darlegt: „Unser gegenwärtig gewonnener tieferer Einblick in die geschichtliche Geistesbewegung der Menschheit setzt uns in den Stand, Werden und Ausbildung des Judenthums gerechter zu würdigen als es irgend einer früheren Periode möglich war […]“ (VLP 2). Erst durch die wissenschaftliche Betrachtungsweise kann die Einsicht in das Gewordensein und die Entwicklung des Judentums gewonnen sowie dessen Genese wahrgenommen und anerkannt werden. Die Wissenschaft des Judentums ermittelt demnach die Geschichtlichkeit des Judentums, welche daraus resultiert, dass es sich beim Judentum um eine Ausprägungsform des Geistes handelt.55 Folglich wird das Judentum als eine historische und damit flexible, nicht statische Größe bestimmt, die sich an veränderte Rahmenbedingungen angleichen kann, und dadurch auch in das System der geistigen Ausdrucksformen innerhalb der universalen Geistesgeschichte eingespeist werden kann.56 Geiger macht diese Erkenntnis für den Reformprozess fruchtbar, indem er herausstellt: „Die Erstarrung, der Tod eines jeden wahren religiösen Lebens, sich stützend auf die angebliche Abgeschlossenheit, welche einmüthig bezeugt werde, muss der Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung weichen“ (UUe IV).57 Anscheinend führt Geiger die vorherrschende Veräußerlichung und Aushöhlung religiöser Praxis sowie den virulenten Indifferentismus auf die konventionelle Vorstellung der „Abgeschlossenheit“ des Judentums, das heißt also auf die Negierung jeglicher Flexibilität und die damit zusammenhängende fehlende Reflexions- und Modifikationsbereitschaft, zurück. Geiger benennt dagegen die wissenschaftlich eruierte Geschichtlichkeit des Judentums als entscheidende Grundlage jeglicher Umgestaltung. Seine Abgrenzung zur traditionellen jüdischen Gelehr54

55 56 57

Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 348 f. An anderer Stelle schreibt er: „Andererseits haben wir es bei der historischen Religion, und namentlich bei der jüdischen, nicht mit zufällig Gegebenem zu thun. […] Endlich ist die historische Religion nicht ein bei dem einmal Gegebenen Stillstehendes, sondern ein aus dem gegebenen Kern sich Entwickelndes“ (ETh 5f). Erinnert sei an die „stufenweise[ ] Entwickelung alles geistig Gewordenen“ (GZ 300). Vgl. Kapitel 1 des I. Hauptteils: Annäherung an den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums. Geiger bezeichnet das Judentum auch als einen „geschichtlichen Organismus“ (JZII 467).

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums93 samkeit ist einmal mehr offenkundig und tritt besonders deutlich hervor, wenn er mehrfach unterstreicht, dass „das Judenthum überhaupt nicht abgeschlossen ist“ (PRS 326)58. Nur durch die dezidierte Ablehnung und Aufbrechung der antiquierten Position bei gleichzeitiger Betonung des geschichtlichen Fortschritts und kontinuierlichen Flusses eröffnet sich die Möglichkeit zur produktiven Weiterentwicklung und damit einhergehend zur Schaffung einer zukunftsfähigen Perspektive, die wiederum auch positiv nach außen wirkt und zu einer besseren Positionierung in der nicht-jüdischen Umwelt führen kann.59 Es zeigt sich deutlich, dass der historische Ansatz die gegenwärtige Lage zu verbessern vermag, da er auf die Entwicklungsfähigkeit und damit einhergehend Veränderbarkeit religiöser Traditionen setzt und dadurch dem kontextuellen Wandel Rechnung tragen sowie religiöse Reformen anbahnen kann. Eine weitere Bedeutungsdimension geschichtlicher Erkenntnisse für den Reformprozess beziehungsweise die diesbezügliche Leistung der Wissenschaft des Judentums bringt folgende Äußerung zum Ausdruck: „Was die Wissenschaft als eine geschichtliche Wahrheit für die Vergangenheit aufnimmt, das muss sie dann auch als einen neuen Fruchtkeim ausstreuen für die Fortentwicklung des Judenthums“ (UUe IV). Offenkundig erwächst die Perspektivität des Judentums aus der Geschichte heraus. Die durch die wissenschaftliche Analyse gewonnenen historischen Einsichten können für die Gestaltung der Zukunft fruchtbar gemacht werden, können also die Weiterentwicklung des Judentums befördern. Folglich verbindet die Wissenschaft des Judentums die verschiedenen Zeiten und schafft eine Brücke zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und wirkt als kontinuitätsstiftende Größe.60 Geiger präzisiert die Relevanz historischer Erkenntnis: „Ist es […] für das Verständniß der Gegenwart überhaupt nöthig, den Faden der Vergangenheit bis auf diese Zeit herabzuführen, um so das Bestehende nach seinem Werden erklärlich zu finden: so werden wir bei vor58

59 60

Diese Gedanken greift Geiger auch an anderer Stelle auf und schreibt dort: „Noch schwieriger wird eine solche Definition bei einer in die Geschichte eintretenden, und innerhalb ihrer sich entwickelnden Erscheinung, ganz besonders, wenn dieselbe noch nicht abgeschlossen ist, und ihrer weitern Vollendung entgegenstrebt, also noch in beständigem Werden, im Ausgebären ihres tiefern Inhaltes ist“ (EWdJ 39). Meyer würdigt Geigers Erkenntnis dahingehend, dass er betont, dass Geiger der Erste gewesen sei, der das Judentum als eine historische und damit veränderbare Größe betrachtet habe (vgl. Meyer, Abraham Geiger’s historical Judaism, 5). Vgl. exemplarisch zur grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Geiger und den konservativ gesinnten Vertretern: Geiger, Die letzten zwei Jahre; ders., Ansprache an meine Gemeinde. Geiger legt an anderer Stelle dar, dass „eine jede Zeit im Verlaufe des Judenthums […] ein Moment in der Geschichte desselben [bildet], und die Gegenwart […] sich eben so wenig von der Vergangenheit gänzlich losreissen [kann], wie das einzelne Glied von dem ganzen jüdischen Körper, ohne Schaden an sich selbst zu leiden“ (GG 205).

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zunehmenden religiösen Abänderungen noch mehr genöthigt, auf die Vergangenheit zurückzugehen […]“ (SwG 1). Geschichtliche Kenntnisse sind also aufgrund ihrer gestaltenden Wirkungskraft für die Zukunft, aber auch wegen ihrer Bedeutung für die richtige Auffassung der Gegenwart, deren Gewordensein sie veranschaulichen, essenziell. Demgemäß bedarf es stets eines Rekurses auf die Vergangenheit, um die Genese des Judentums respektive seiner Traditionen und Lehren zu ermitteln und dadurch zu einem tiefgründigen Verständnis gegenwärtiger Erscheinungen zu gelangen. Der historische Zugriff auf jüdische Traditionen ermöglicht überdies eine relativierende Betrachtung des geschichtlich Gegebenen, also auch religiöser Topoi, und schafft damit Raum für Diskussionen und schließlich auch Modifikationen.61 Es zeichnet sich demnach ab, dass historische Wahrheiten eine zukunftsbezogene Effizienz implizieren und es damit einhergehend gilt, im Sinne der Ganzheitlichkeit stets Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Zusammenschau zu betrachten. Denn es zeigt sich, dass sich das Neue stets aus dem Alten entwickelt beziehungsweise an dieses anknüpft, was die Notwendigkeit unterstreicht, die jüdische Geschichte im Zuge der Zukunftsgestaltung des Judentums zu berücksichtigen und zu ergründen. Die Historie inkludiert also Triebe, aus denen der Entwicklungs- und damit auch Wachstumsprozess des Judentums hervorgeht. Auffällig ist, dass sich Geiger dezidiert gegen eine revolutionäre Umgestaltung oder die Gründung einer neuen Religion wendet, sich so von radikalen Reformern abgrenzt und für einen sich langsam entwickelnden Fortschritt auf historischem Fundament plädiert. Er legt dementsprechend dar: „Ich meine nun, wir müssen vor Allem beachten, dass alle Neugestaltungen auf dem Boden der Geschichte sich zu vollziehen haben, dass auf der gegebenen Grundlage die Entwickelung vor sich gehe. Nicht Auflösung und Neugruppirung ist das Gesetz im gesunden Leben […].“62 Reformen müssen also auf historischen Erkenntnissen gründen, das heißt die geschichtliche Entwicklung berücksichtigen und an diese anknüp61

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Exemplarisch sei auf Geigers Aufsätze Die Stellung des weiblichen Geschlechtes in dem Judenthume unserer Zeit und Die Levirats-Ehe, ihre Entstehung und Entwickelung verwiesen, in denen er die jeweilige Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der jüdischen Tradition nachzeichnet. In ersterem führt er aus: „Daher möge auch ein Blick in die alten Urkunden des Judenthums uns zuerst Klarheit darüber verschaffen, welche Stellung eigentlich das ächte Judenthum dem Weibe zuweisen will, und welche es im Laufe der Zeit erhalten, so daß wir dann darauf die Versuche zur Verbesserung zu gründen vermögen“ (SwG 1; vgl. auch LE). Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 348. Er stellt explizit heraus: „Wir machen daher in unseren Tagen keine neue Religion, und alle Versuche dazu fristen nur ein kümmerliches Dasein“ (a. a. O., 349). Ferner legt Geiger an anderer Stelle dar: „Wenn auf irgend einem Gebiete, so ist namentlich auf dem religiösen das Verfahren der Reform allein segenbringend, die Revolution nur geeignet, allen Lebenskräften ein gefährliches Siechthum beizubringen“ (GG 205). Vgl. dazu auch: JZII 460.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums95 fen, da sie als Verlängerung der Vergangenheit zu verstehen sind, wie folgende Äußerung verdeutlicht: „Jede Reform ist ja Ueberleitung aus der Vergangenheit in neubelebte Zukunft; sie bricht nicht etwa mit der Vergangenheit, sie erhält vielmehr sorgsam das mit ihr verknüpfende Band […]“ (UG 4).63 Angesichts des dargestellten Stellenwertes historischer Erkenntnisse für die Umbildungen erhält die historische Aufgabe der Wissenschaft des Judentums, die ebendiese befördert, eine essenzielle Rolle im Reformprozess, die sie wiederum legitimiert.64 Betrachtet man Geigers Ausführungen in toto, lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es primär gilt, mittels wissenschaftlicher Arbeit die Entwicklungsgeschichte des Judentums und die seiner Lehren und Traditionen nachzuzeichnen, um dadurch die Prozessualität zu veranschaulichen. Nur auf diese Weise kann die erforderliche Erkenntnis reifen, dass sich das Judentum in stetiger Weiterentwicklung befindet und demzufolge veränderbar, also planmäßig formbar ist. Die geschichtliche Anpassungsfähigkeit des Judentums und damit einhergehend auch die Möglichkeit seiner erneuten Umgestaltung sollen durch die Wissenschaft des Judentums sichtbar gemacht werden. In Kapitel 1 des I. Hauptteils ist ausführlich dargelegt worden, dass die Erforschung der jüdischen Geschichte überdies eine legitimatorische und apologetische Abzweckung impliziert, insofern sie das Judentum als eine emanzipative und kulturproduktive Größe der universalen Geistesgeschichte zu präsentieren und dadurch die Situation des Judentums im Makrokosmos zu verbessern sucht. Abschließend lässt sich herausstellen, dass die Wissenschaft des Judentums die ideellen und substantiellen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung des Judentums schafft, indem sie die grundsätzliche Reformfähigkeit des Judentums und seiner Ansichten unter Beweis stellt und historische Erkenntnisse hervorbringt, die als Fundament jeglicher Fortbildung dienen. Ebendiese praktische Nutzbarmachung der jüdischen Geschichte, das heißt also ihre konkrete Anwen63

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Welche konkreten Reformen Geiger anstrebt, wird in verschiedenen Abhandlungen deutlich. Exemplarisch sei hier auf einen Brief an Bischoffsheim verwiesen, in dem er eine Diagnose stellt und die entsprechende Veränderungen benennt: „Grund und Masse der Veräusserlichung des religiösen Lebens, der vielen beschränkenden Satzungen wurzeln in den Trümmern einer jüdischen Volksthümlichkeit, in der beabsichtigten Absonderung. […] Es muss die fortschreitende Läuterung des Gottesdienstes vollzogen werden […]. Die Gemeinde-Institute müssen von den Schlingpflanzen gereinigt werden; Speisevorrichtungen dürfen nicht den Mittelpunkt bilden“ (Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 352). Vgl. ferner: Geiger, Die religiösen Thaten der Gegenwart; ders., Die Judenheit und das Judenthum; ders., Grundzüge zu einem neuen Gebetbuch; ders., Unser Gottesdienst. Dass Geiger seine eigenen wissenschaftlichen Tätigkeiten in den Dienst der Reform stellt, verdeutlicht die Aussage, dass er „den inneren Kern immer mit zu verarbeiten und Resultate für die Reform daraus zu ziehen bemüht war“ (ETh 27). Geiger betont, dass er sich gerade in diesem Punkt von anderen jüdischen Wissenschaftlern unterscheide, was darauf hindeutet, dass die Verschränkung von Wissenschaft des Judentums und Reform als ein Spezifikum Geigers aufzufassen ist.

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dung auf die Gegenwart und die Zukunft in Form von ideologischen nahezu normativen Implikationen, ist charakteristisch für Geigers Verständnis der Wissenschaft des Judentums. Dementsprechend wirkt die Analyse der jüdischen Geschichte auch sinnstiftend und erhellend für die Interpretation der individuellen Existenz und Identität, ist also keineswegs als reine Altertumswissenschaft zu verstehen, sondern führt die Frage nach der Gegenwartsbedeutung mit. Diese Dimension gilt es im folgenden Kapitel weiter zu vertiefen, indem die systematisch-normative Aufgabe der Wissenschaft des Judentums in den Blick genommen wird.

2.2  Systematisch-normativ: Die Bedeutung der jüdischen Wesensformel im Reformprozess Es hat sich gezeigt, dass die Wissenschaft des Judentums die Historizität und Prozessualität und damit einhergehend die generelle Reformfähigkeit des Judentums, also seiner Lehren und Traditionen, unter Beweis zu stellen vermag und dadurch die Basis für die Weiterentwicklung legen kann. Darauf aufbauend gilt es, die wissenschaftliche Rechtfertigung und Planung religiöser Reformen noch weiter zu konkretisieren. Dies soll im Folgenden durch Bezugnahme auf die durch die Wissenschaft des Judentums bestimmte jüdische Wesensformel geschehen, indem deren Bedeutung für den Reformprozess sichtbar gemacht wird. Betrachtet man Geigers Ausführungen, fällt auf, dass die allgemein gehaltene Intention der Wissenschaft des Judentums, die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehalts, welcher das Judenthum erfüllt, ihm als seine eigenthümliche Lebenskraft innewohnt“ (EWdJ 35) zu ermöglichen, dadurch spezifiziert und in gewisser Weise auch funktionalisiert wird, dass Geiger sie in den Reformprozess einbindet. Er nennt dabei drei konstitutive Größen, die im Zuge von Umgestaltungen berücksichtigt werden müssen: „Hier müssen im Leben drei Faktoren mitwirken: der ewige Gehalt des Judenthums, die in den Gemüthern wurzelnde Anschauung, wenn sie auch an Vergängliches sich anklammert, und der Geist der Gegenwart“ (ETh 28f). Offenkundig soll die Wissenschaft des Judentums nach Geigers Dafürhalten den Kern des Judentums, das heißt die religiösen Wahrheiten, eruieren und demnach kraft philosophischer Perspektive systematisch-normative Erkenntnisse ermitteln. Darüber hinaus soll die Wissenschaft des Judentums auch die gegenwärtigen Haltungen aufspüren, die Stimmung der Zeit einfangen und auf diese Weise Reformen fundieren und realisieren. Im Folgenden gilt es, die angedeuteten intentionalen Bestimmungen genauer zu beleuchten und dadurch die systematisch-normative Aufgabe der Wissenschaft des Judentums en détail zu erfassen.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums97 Erkennbar ist, dass Geiger die Bedeutung der Erforschung der jüdischen Geschichte innerhalb des Reformprozesses um eine Dimension erweitert und so die systematisch-normative Aufgabe der Wissenschaft des Judentums konzipiert. Er führt dazu aus: „[…] so werden wir bei vorzunehmenden religiösen Abänderungen noch mehr genöthigt, auf die Vergangenheit zurückzugehen, um zu sehen, wie viel vom Bestehenden dem Geiste des Glaubens und wie viel der zufälligen äußern geschichtlichen Entwickelung desselben angehört“ (SwG 1). Diese Forderung vermag die Wissenschaft des Judentums durch ihr philosophisches Gepräge zu erfüllen, indem sie als analytisches Deutungsinstrument fungiert, das die religiösen Traditionen betrachtet und an ihnen wesentliche Unterscheidungen vornimmt. Im Zuge der Erforschung der Genese religiöser Themen und religiöser Praxis trennt sie genuine Einsichten des jüdischen Geistes von kontextuellem Beiwerk und differenziert folglich zwischen der konstanten inneren Größe, also dem wesensgleichen Kern, und der veränderlichen, extern determinierten Darstellungsform. Mithilfe der Wissenschaft des Judentums kann demgemäß zwischen dem ewigen Gehalt des Judentums und seinen zeit- und umweltbedingten Ausprägungen unterschieden werden. Demzufolge liefert die Wissenschaft des Judentums durch den Rekurs auf die Geschichte systematisch-normative Erkenntnisse und rekonstruiert auf diese Weise das Wesen des Judentums. Dieses zieht sich als Kontinuitätsmoment mit normativem und zeitlich überdauerndem Charakter durch alle Entwicklungsstufen des Judentums beziehungsweise seiner Lehren und Traditionen hindurch und kleidet sich in Interdependenz zu den äußeren Bedingungen in verschiedene Gewänder. Inhaltlich beschreibt Geiger die jüdische Wesensformel wie folgt: „Was Der und Jener noch als für sich verbindlich erachtet, das macht nicht das Wesen des Judenthums aus; das geistige Band, welches gegenwärtig alle seine Bekenner umschlingt, der Gedanke, der im deutschen Judenthume immer mehr seine Anerkennung erringt, das ist sein Wesen, das macht zum Juden. Und dieses Band besteht eben in dem reinen Gottesbegriffe, in der Bethätigung dieses Glaubens eine reiche und ehrwürdige Geschichte hindurch“ (AJ 234f).65 Ein ausgeprägter ethischer Monotheismus macht nach Geigers Ansicht das Wesen des Judentums aus, durchzieht alle Perioden des Judentums und verbindet alle Gläubigen trotz sonstiger divergierender Ansichten. Daraus folgt, dass religiöse Satzungen nicht den Kern des Judentums bilden und ein starrer Gesetzesgehorsam der jüdischen Idee daher auch nicht zwangsläufig gerecht wird.66 Geiger veranschaulicht seine 65 66

Geiger führt weiterhin aus: „Sie sind ein Jude, indem Sie an den einzigen, heiligen, lebendigen Gott glauben. Dieser Glaube war immer der Grundgedanke des Judenthums, für den seine Bekenner gekämpft und gelitten, an dem sie sich erquickt und getröstet haben“ (AJ 234). Geiger betont ausdrücklich und in bewusster Abgrenzung zum Christentum: „Das Judenthum hat nämlich keine Dogmen, d. h. es hat keine Glaubenssätze, die von einer die Gesammtheit

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Auffassung, indem er herausstellt, dass sich der Glaube an den einzigen Gott im Laufe der Zeit in verschiedenen Formen ausdrückt. Er legt dar: „Der Kern ist der reine Gottesglaube, der musste zu einer Zeit, da Unglaube und Aberglaube, Götzendienst und Naturanbetung überall wucherten, mit einer ganzen Masse von Ceremonien umgeben werden, damit dieses reine geistige Gut nicht erdrückt werde […]“ (AJ 255). Ebendiese Erkenntnis gilt es durch die wissenschaftliche Arbeit zu gewinnen und zu verwerten. Zum wiederholten Mal zeigt sich deutlich, dass dank der Wissenschaft des Judentums das vormals unerschlossene und ungeordnete Material systematisiert und kategorisiert wird, damit für alle begreifbar sowie verständlich wird. Das Judentum wird dadurch in das System der objektivierbaren wissenschaftlichen Größen eingespeist, was Legitimation und Anerkennung bedingt und auch die Positionierung im Makrokosmos zu verbessern vermag. Es ist also offenkundig, dass die Arbeit der Wissenschaft des Judentums idealiter positiv nach außen und innen wirkt.67 Die gewonnene Einsicht in die Trennung von Kern und Gewand gilt es noch stärker für den Reformprozess fruchtbar zu machen. Das heißt, dass die konkrete Nutzbarmachung dieses Wissens für die Umsetzung von Veränderungen präzisiert werden muss. Die wissenschaftlich erwirkte Unterscheidung in den wahren Gehalt und die zeitgebundene Form legt den Schluss nahe, dass die Umgebung und die Zeit als prägende Gestaltungskräfte auf die Entwicklung religiöser Theoreme einwirken, da diese historische und damit variable Größen sind.68 Daraus resultiert wiederum, dass bei veränderten externen Verhältnissen, also in der gegenwärtigen Umbruchsituation, auch die religiösen Traditionen einer formalen Umgestaltung bedürfen und diese aufgrund der Flexibilität der Gestalt auch ausführbar ist. Die Erkenntnis, dass die äußere Gestalt umgeformt, der Kern jedoch beibehalten werden kann, legitimiert und erleichtert Reformen und stiftet darüber hinaus trotz des Wandels Kontinuität. Unterstützend dazu hebt Geiger den dem Judentum innewohnenden Impuls der beständigen Weiterentwicklung hervor: „Es [das Judentum] hat das Ewige von je her in zeitlichen Formen gepflegt und hat die Aufgabe, das Ewige weiter zu erhalten unter neuen zeitgemäßen Formen“ (GLR 167). Die Äußerung deutet darauf hin, dass auf der Grundlage systematisch-normativer Erkenntnisse, also auf der Basis des wahren jüdischen Gehaltes,

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mit rechtsverbindlicher Kraft vertretenden Versammlung feierlich als ewige unverbrüchliche Wahrheit verkündet worden, deren Verleugnung oder Anzweiflung den, welcher sie in Abrede stellt, außer dem Schoße der kirchlichen Gemeinschaft versetzt. Eine solche feierliche Uebereinkunft hat im Judenthume nicht Statt gefunden“ (JPh 278f). Vgl. Kapitel 1 des I. Hauptteils: Annäherung an den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums. Diese Erkenntnis wirkt sich auch auf die methodische Konzeption aus (vgl. dazu Kapitel 3 des I. Hauptteils: Methodik der Wissenschaft des Judentums).

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums99 mithilfe der Wissenschaft des Judentums eine den derzeitigen Anforderungen gerecht werdende Ausdrucksform des jüdischen Geistes gefunden und damit eine wesenskonforme Umgestaltung des Judentums realisiert werden soll. Geiger konkretisiert die wissenschaftlich gewirkte Aktualisierung der jüdischen Lehre und Tradition wie folgt: „Die geeignete Lösung wird nur ermöglicht werden, wenn man sich die gegenwärtig sich herausstellenden Bedürfnisse klar macht; es wird nothwendig sein, deren Zusammenhang mit unserer ganzen Anschauung und mit der vollzogenen Geschichte des Judenthums tiefer zu erfassen“ (UG 1).69 Neben der Ermittlung des kontinuitätsstiftenden Wesens des Judentums gilt es demnach, die gegenwärtigen Erfordernisse und Gesinnungen aufzudecken und zu benennen. Die Wissenschaft des Judentums analysiert hierfür in diagnostischer Weise die Lage der Gegenwart, um daran anknüpfend letztlich Veränderungen anzubahnen. Die eruierten Bedürfnisse müssen hierbei mit dem wahren jüdischen Geist und seiner Entwicklung in Einklang gebracht werden und schließlich muss nach einer Gestalt gesucht werden, die beiden Momenten gerecht wird. Nur diese Zusammenschau, also die Analyse von Vergangenheit und Gegenwart, ermöglicht eine effiziente Reform hin zu adäquaten zeitgemäßen Erscheinungsformen der jüdischen Traditionen und Lehren. Folglich lässt sich festhalten, dass Umgestaltungen auf historischen und systematisch-normativen Erkenntnissen basieren, die wiederum in Synthese mit gegenwärtigen Anforderungen und Stimmungen gebracht werden. Die Wissenschaft des Judentums tariert also aus, in welchem Maß und in welcher Gestalt das Judentum reformiert werden kann, um dadurch sowohl der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft als auch dem Wesen des Judentums gerecht zu werden und entsprechende Neuerungsideen zu liefern. Es stellt sich einmal mehr heraus, dass sie Reformen legitimiert und fundiert sowie als entscheidende treibende Kraft der Modernisierung fungiert. Die systematisch-normative Aufgabe der Wissenschaft des Judentums gewinnt durch die Erkenntnis, dass Geiger die Bedeutung der jüdischen Wesensformel innerhalb des Reformprozesses noch erweitert und damit planvoll auf die Situation des Judentums reagiert, weiter an Schärfe. Geiger spricht sich gegen ein unreflektiertes Festhalten an längst überkommenen Traditionen aus und formuliert daher die Forderung, dass „jener Formenknechtschaft und Formenstarrheit […] entgegengewirkt werden müsse […]“ (RS 318). Geiger lehnt damit vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Scheidung zwischen äußerem Gewand und innerer Wahrheit auch eine Reduktion auf Äußerlichkeiten ab, die zwar die externe Form der Lehre beachtet und ausübt, den ideellen Wert, das heißt den 69

Geiger äußert sich an anderer Stelle wie folgt dazu: „Wir sind vielmehr verpflichtet, das Judenthum als wahrhaft religiöse Macht in unsere Zeit einzuführen und die Aeusserungen uns anzupassen“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 25. August 1843, in: S 5, 168).

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wahren Gehalt, jedoch verkennt. Dadurch, dass die Wissenschaft des Judentums systematisch-normative Erkenntnisse liefert und so das Wesen des Judentums rekonstruiert und bewusst macht, kann dieser Missstand, der häufig aus Unwissenheit resultiert, behoben werden. In diesem Zusammenhang schreibt Geiger der Wissenschaft des Judentums eine belehrende und belebende Wirkung zu, da sie das Judentum durch Akzentuierung des Kerns wieder zu einer lebendigen Religion werden lassen kann, den virulenten Indifferentismus und die Veräußerlichung zu beseitigen vermag. Die Wissenschaft des Judentums erwirkt demzufolge eine Konzentration auf das Wesentliche und damit eine Profilierung des Judentums, wodurch positive Kräfte nach innen und außen freigesetzt werden können (vgl. ZgL). Geiger formuliert dazu die Zielvorgabe, dass „das Judenthum wieder als lebendige, religiöse Macht in die Gegenwart eintrete und seine Geltung behaupte […]“ (ARVII 340) und bestimmt die Wissenschaft des Judentums dabei als federführende Größe, was ihre essenzielle Bedeutung einmal mehr unterstreicht und zeigt, dass die Wissenschaft des Judentums die gegenwärtige Lage des Judentums sowohl im Makrokosmos als auch im Mikrokosmos nach Geigers Dafürhalten in positiver Weise zu verändern weiß. Systematisch-normative Untersuchungen sind darüber hinaus einem weiteren Zweck geschuldet: So ermöglicht das Studium der historischen Entwicklung religiöser Topoi und die damit einhergehende Erfassung des wahren jüdischen Wesens eine kritische Betrachtung der bestehenden Satzungen und der gängigen Frömmigkeitspraxis. Die Autoritätsfrage jüdischer Zeugnisse und Vorschriften kann geklärt und einem blinden Gehorsam entgegengewirkt werden. Folglich werden Wertschätzung und Ehrerbietung gegenüber jüdischen Lehrmeinungen nicht unreflektiert vererbt, sondern diese auf ihre Wesenskonformität hin beleuchtet. Geiger erläutert hierzu, „daß sie [die Juden] sich in ihrem Gewissen nicht verpflichtet fühlen, den Anordnungen des Thalmuds und noch weit weniger der spätern Rabbiner, insofern sie sich nicht durch eine vor dem Forum der Wissenschaft bestehende Exegese als aus der Bibel einfach abgeleitet erwiesen oder gründlich als von Moses überliefert nachweisen lassen, irgend eine andere Autorität beizumessen, als allen übrigen zeitlichen Einrichtungen im Gebiete des Religiösen, deren Vernünftigkeit, Uebereinstimmung mit dem Geiste des Judenthums und Zeitgemäßheit zu prüfen ist“ (JJ 169f).70 Es wird deutlich, dass die für Reformen grundlegende kritische Reflexionskompetenz aus der wissenschaftlichen Arbeit erwächst, genauer gesagt aus den systematisch-normativen Erkenntnissen, die demgemäß als autoritative Bewertungsinstrumente dienen. Denn mit ihrer Hilfe können Reales und Ideales sowie Äußeres und Inneres gegeneinander gehalten und dadurch eine mögliche Diskrepanz und Umgestaltungsnotwen70

Vgl. dazu auch: Lb 296.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums101 digkeit sichtbar gemacht werden. Demnach sensibilisiert die Wissenschaft des Judentums auch in genereller Weise für das Reformerfordernis und kann ein reformfreundliches Klima evozieren, bevor sie schließlich Umgestaltungen zu konzipieren und durchzusetzen sucht.71 Zusammenfassend lässt sich die Bedeutung der jüdischen Wesensformel im Reformprozess, also die systematisch-normative Aufgabe der Wissenschaft des Judentums in folgender Weise beschreiben: Mittels der durch die Wissenschaft des Judentums gewonnenen systematisch-normativen Erkenntnisse kann im Reformprozess Kontinuität gestiftet werden, was Geigers Ablehnung einer revolutionären Neuschöpfung zugute kommt. Denn unter Berücksichtigung und Beibehaltung des wahren jüdischen Gehaltes kann nach zeitgemäßen Darstellungs- und Ausprägungsformen gesucht werden, die sich dem Lauf der Geschichte immer wieder anpassen und dem Judentum dadurch eine dauerhafte Zukunftsperspektive verschaffen. Demnach vollzieht sich keine radikale Neugestaltung, sondern eine Weiterentwicklung in Art einer modernisierten Gestaltung der ewigen jüdischen Wahrheiten. Die vorherrschende Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne kann in kreativer Weise überwunden und ein Grundkonflikt entschärft beziehungsweise gelöst werden, indem Fortschritt und Kontinuität miteinander verbunden werden. Die wissenschaftlich bestimmte jüdische Wesensformel hat offenkundig eine normative Funktion, da sie vorgibt, in welchem Rahmen Veränderungen umgesetzt werden können und so als programmatische Richtschnur im Reformprozess fungiert. Darüber hinaus können durch die Besinnung auf den Kern des Judentums die gängige indifferente Haltung und die virulente Veräußerlichung aufgehoben und eine Belebung sowie kritische Hinterfragung der religiösen Frömmigkeitspraxis angebahnt werden.72 Die jüdische Wesensformel zeigt sich als dogmatisches Darstellungs- und gleichzeitig als praktisches Gestaltungsprinzip.73 Einleitend wurde betont, dass die Wissenschaft des Judentums die 71 72

73

Geiger kritisiert, dass vielfach in unreflektierter Weise an den „überkommene[n] religiöse[n] Anschauung[en] und Satzung[en] nach ihrer peinlichsten Verschärfung“ (Ex 163) festgehalten werde. Geiger formuliert einen Ausblick, der sein Reformverständnis sowie das Selbstverständnis des modernen Judentums summarisch zum Ausdruck bringt: „Das Judenthum wird Wesen, Grundlage, erschöpfenden Ausdruck nicht mehr in verbotenen Speisen, Schlachtregeln, strenger Sabbathfeier u. dgl. finden, es wird dieses Alles als geschichtlich geworden, als zeitlichen, nur theilweise noch geltenden Ausfluß ewiger religiöser Ideen betrachten, seine Aufgabe wird es in der Pflege der Ideen und deren Ausprägung im Leben nach dessen wechselnden Anforderungen erkennen“ (ZgL 84f). Der Begriff „dogmatisches Darstellungsprinzip“ ist im jüdischen Kontext gewiss problematisch, da er der christlichen Perspektive geschuldet ist. Wenngleich es im Judentum keine Dogmen gibt, soll der Terminus an dieser Stelle verwendet werden, da auch die jüdische Wesensformel in verdichteter Form das genuin Jüdische widerspiegelt.

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Weiterentwicklung des Judentums in dreifacher Weise zu erfüllen suche. Nachdem die historische und systematisch-normative Funktion dargestellt wurden, soll im folgenden Kapitel die praktische Funktionalität fokussiert und dadurch die vielgestaltige Rolle der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess komplementiert werden.

2.3  Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess Sollen historische und systematisch-normative Erkenntnisse gewonnen, in den Reformprozess eingespeist und auf diese Weise Umgestaltungen konzipiert und realisiert werden, braucht es sachkundige Personen und Organisationen, die sich diesen Aufgaben annehmen. Die Wissenschaft des Judentums als verantwortliche Institution benötigt folglich qualifizierte Persönlichkeiten, um ihre Wirksamkeit entfalten und schließlich Reformen anbahnen zu können. Geiger legt dementsprechend dar: „Aber die Wissenschaft verlangt auch sorgsame Pflege; sie ist nicht ein Unkraut, das von selbst hervorschießt, sie will gehegt und bewacht werden, sollen wir ihren Ertrag gewinnen. Zur Pflege bedarf es der Männer, die ihr mit rastlosem Eifer ihre Kraft, ihre Thätigkeit widmen“ (FacI 5). Die Zukunft der Wissenschaft des Judentums, also ihre dauerhafte Existenz und Effizienz, kann demzufolge nur über die Bereitstellung von Nachwuchs gesichert werden, der ihre stetige Weiterentwicklung realisiert.74 Die Wissenschaft des Judentums beansprucht demzufolge gut ausgebildete und gleichzeitig hochmotivierte Kräfte, die ihr Leben in den Dienst der Wissenschaft des Judentums stellen.75 Die Forderung nach gebildeten Kräften wird durch die konkrete Gemeindesituation noch bestärkt. Denn die jüdischen Gemeinden bedürfen der professionellen Leitungsfiguren, um ihre Existenz dauerhaft sichern zu können, ermangeln dieser jedoch respektive werden dieser in Zukunft ermangeln (vgl. WtN 252). In Kapitel 1 des I. Hauptteils wurde durch die Differenzierung zwischen „Gebildeten“ (JGI IX) und Allgemeinheit bereits herausgestellt, dass Gemeinden eines Vermittlers bedürfen, der aufgrund seiner Ausbildung und seines professionellen Auftrages wissenschaftliche Erkenntnisse an die Allgemeinheit weiterzugeben weiß, weil sie sich das essenzielle Wissen nicht selbstständig aneignen kann. Es zeigt sich deutlich, dass strukturelle, kontextuelle sowie auch intellektuelle Gegebenheiten nach versierten Personen verlangen. 74 75

Vgl. den II. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums und dort besonders Kapitel 1: Wissenschaftliche Einrichtungen. Brief Geigers an Saniel Markus vom 3. September 1865, in: S 5, 297.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums103 Aus dieser offenkundigen, mehrfach begründbaren Notwendigkeit ergibt sich das Postulat einer adäquaten Ausbildung im Geiste der modernen Wissenschaft, also einer Professionalisierung, die ebensolche Persönlichkeiten mit den entscheidenden Kompetenzen ausstattet und für die vielfältigen anstehenden Tätigkeiten qualifiziert. Denn nur wissenschaftlich gebildete Organe können die multiple Wirksamkeit der Wissenschaft des Judentums entfalten, daraus resultierend das Gemeindeleben gestalten, die Reformen im religiösen Leben verwirklichen, das Judentum zukunftsfähig machen, also die an sie gestellten Ansprüche erfüllen. Die Auffassung, dass ein Rabbiner, den Geiger hier unter anderem vor Augen hat, einer wissenschaftlichen Ausbildung bedarf, markiert einen Unterschied zur langläufigen Meinung der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit, welche die Bildung eines Rabbiners im akademischen Geist ablehnt. Geiger rekurriert auf jene, indem er darlegt: „Früher hatte man unter Theologen76 blos Männer verstanden, die in den einzelnen Gesetzesbestimmungen zu entscheiden wussten […]“ (FacI 13). Kontrastierend dazu beschreibt Geiger das Selbstverständnis eines gegenwärtigen Geistlichen wie folgt: „Nun soll der Theologe Lehrer sein der Religion im vollen Sinne des Wortes, er soll Rechenschaft geben können über das ganze Gefüge derselben, er soll die Anwendung im Leben zu bestimmen wissen, soll mit dem Worte, mit dem er die Jugend einführt, und mit dem er die Erwachsenen weiter belehret, erhebet und stärket, ausgerüstet sein“ (FacI 13).77 Es ist offensichtlich, dass an Theologen78 des 19. Jahrhunderts umfassende Anforderungen 76

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Geiger versteht hier unter einem Theologen in erster Linie einen Rabbiner und charakterisiert diesen in folgender Weise: „Sie [Rabbiner] [vereinen] eben die beiden maßgebenden Momente der Sachkennerschaft und des Lebensbedürfnisses in sich […]“ (VRC 245). Weiterhin beschreibt Geiger die Aufgaben eines Rabbiners wie folgt: „Sie [Rabbiner] haben nicht die Religion zu machen, aber wohl zu lehren, sie für das Leben fruchtbar zu machen, ihr den Einfluß auf alle Lebenskreise und Lebensverhältnisse zu verschaffen. Sie sind nicht die Gesetzgeber, aber sie müssen die Gesetze begreifen und zu ihrer Anwendung auf die gegebenen Fälle anleiten. Sie treten unmittelbar mit dem Leben, mit dem Leben ihrer Gemeindeglieder in Berührung, sie sollen bemüht sein, es geistig zu durchleuchten“ (RG 167). In anderen Kontexten verwendet Geiger auch einen weiten Theologen-Begriff und subsumiert darunter sowohl den Rabbiner als auch den Gelehrten. Konkretisierend beschreibt Geiger das Anforderungsprofil eines jüdischen Theologen wie folgt: „Der Rabbiner muß nun vertraut sein mit den Forschungen über die Bibel, muß ausgedehnte Sprachkenntnisse besitzen […] den Thalmud in seiner geschichtlichen Entstehung kennen und auch über ihn sich wissenschaftlich auszusprechen wissen, er muß klar geworden sein über die zweckmäßige Art des religiösen Unterrichts und über die Kunst, in eindringlicher Sprache die religiösen Wahrheiten, den einzelnen kirchlichen Epochen gemäß, der Gemeinde ans Herz zu legen, denn er ist nunmehr Geistlicher“ (FacII 12). Die Aufgaben und das Selbstverständnis eines Theologen werden in Kapitel 4.1.3 des I. Hauptteils ausführlich entfaltet. Da Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie versteht und die Bezeichnungen synonym verwendet, wird hier der Begriff „Theologe“ verwendet, obgleich ansonsten

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gestellt werden und ihre Aufgaben komplex sind, was eine wissenschaftliche Ausbildung notwendig macht. Geiger ist der Ansicht, dass die einstige Rabbiner-Ausbildung in den Jeschibot mangelhaft und defizitär sei. Die Konzentration auf das Talmud-Studium und die ausschließliche Vermittlung von Gesetzen seien eine unzulässige und unzeitgemäße Begrenzung eines umfassenden Theologieund Wissenschaftsverständnisses. Ein gegenwärtiger Theologe müsse vielmehr über umfangreiche theoretische und praktische Kompetenzen verfügen und das Judentum als Ganzes durchdrungen haben (vgl. FacI 13–16).79 Erinnert sei an Geigers allgemeine Definition der Theologie als die „Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens“ (ETh 4), die auch darauf hindeutet, dass ein Vermittler in Gestalt eines Lehrers benötigt wird, der fundiertes Wissen an die Allgemeinheit weiterzugeben und es darüber hinaus für das Leben nutzbar zu machen weiß. Die Tätigkeit eines Theologen ist demgemäß durch eine gewisse Universalität geprägt und steht daher konträr zum verengten und begrenzten Selbstverständnis eines Rabbiners alten Typs. Folglich zieht ein verändertes Theologenbild beziehungsweise Anforderungsprofil auch die Forderung einer modifizierten Ausbildung und einer adäquaten Ausbildungsstätte nach sich. Es ist offenkundig, dass die Bildungsaufgabe der Wissenschaft des Judentums, das heißt die Verbreitung und Aneignung religiöser Erkenntnisse, ausschließlich durch eben solche Vermittler erfüllt werden kann, was ebenfalls als Legitimation der wissenschaftlichen Ausbildung gewertet werden kann. Vor dem Hintergrund des beschriebenen Desiderates, stellt sich die Frage, inwiefern die Forderung nach kompetenten Personen befriedigt und ihre wissenschaftliche Ausbildung realisiert werden kann. Folgende Äußerung bietet Aufschluss darüber: „Es ist eines der schönsten Vorrechte der Wissenschaft, die Männer, die im Mittelpunkte des Lebens geistig auf dasselbe einwirken wollen, auszurüsten mit ihrem Bedarfe […]“ (FacI 12). Eine weitere Formulierung kann noch hinzugenommen werden: „Für den Theologen, soll er mit Erkenntniß, mit heilsamem Erfolge sein Amt führen, ist eine Theologie nothwendig, die ihn anleite und ausrüste […]“ (FacI 12f). Geiger schreibt der Wissenschaft des Judentums offenkundig eine ausbildende Rolle zu und bestimmt so eine weitere wissenschaftliche Aufgabe: die Ausbildung und somit die Generierung von Nachwuchs. Die Wissenschaft des Judentums ist insofern dezidiert auf die Praxis ausgerichtet und bereitet Theologen auf ihre Beschäftigung vor, indem sie sie mit den erfor-

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von der Wissenschaft des Judentums die Rede ist. Personen, die durch die Wissenschaft des Judentums ausgebildet werden und schließlich in deren Dienst stehen, werden somit als Theologen bezeichnet. In der Abhandlung Die Rabbiner der Gegenwart erläutert Geiger ausführlich die Aufgaben eines gegenwärtigen Rabbiners und betont, dass dieser einer wissenschaftlichen Ausbildung bedarf (vgl. RG 165–174).

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums105 derlichen Handlungskompetenzen sowie Fertigkeiten und mit dem unerlässlichen Sachverstand ausstattet. Sie vermittelt sowohl grundlegendes Wissen als auch nötige Techniken, damit Theologen im religiösen Leben agieren können und fundiert folglich jegliche Arbeit eines Theologen. Die Ausbildung inkludiert eine intensive Unterweisung und Vorbereitung auf anstehende Tätigkeiten und stiftet dadurch Orientierung sowie Sicherheit. Es zeichnet sich demgemäß ab, dass die Wissenschaft des Judentums als ausbildende und lehrende Institution fungiert, die qualifizierte Kräfte hervorbringt, diese den Gemeinden und der Wissenschaft des Judentums zur Verfügung stellt und dadurch einen existenziellen Beitrag zur Zukunftssicherung leistet. Der mehrfach erwähnte Praxisbezug der Wissenschaft des Judentums findet seine vollkommene Konkretion demzufolge in der Bildungsaufgabe, die sich wiederum in der Ausbildung spezifiziert.80 Die Ausbildung wird von Geiger dezidiert in den Dienst des Reformprozesses gestellt und für diesen fruchtbar gemacht, insofern die Wissenschaft des Judentums über ihre Ausbildungsfunktion Reformen vorbereitet und steuert sowie praktisch durchführt. Das gilt es in den folgenden Kapiteln zu explizieren.

2.3.1  Vorbereitung und Steuerung des Reformprozesses Die wissenschaftliche Ausbildung dient nach Geigers Auffassung unter anderem der Vorbereitung und Steuerung des Reformprozesses. Indem die Wissenschaft des Judentums den theologischen Nachwuchs geistig und sittlich formt, gewinnt sie eine Verbindung zur Basis und damit einhergehend direkten Einfluss auf die konkrete Gestaltung des Judentums.81 Sie stellt durch Darbietung kundiger Kräfte die formalen Bedingungen und Möglichkeiten für Umgestaltungen bereit und kann darüber hinaus mittels ihres Ausbildungsauftrags den Reformprozess determinieren.82 Sie kann also durch die weitergegebenen Inhalte und Methoden die Tätigkeiten der Theologen auf eine bestimmte Zielvorgabe hin lenken und regulierend auf die religiöse Lebenswirklichkeit einwirken. Die Konzeption der Ausbildung hat demzufolge direkte Konsequenzen für die jüdische Gemeinde80

81 82

Wie die Ausbildung, die in Form eines Studiums erfolgen soll, also inhaltlich konzipiert ist, wird einerseits bei der Thematisierung der einzelnen Disziplinen der Wissenschaft des Judentums, andererseits bei der Darlegung ihrer Institutionalisierung und dort speziell bei der Darstellung des konkreten Lehrplans der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums näher entfaltet (vgl. Kapitel 4 des I. Hauptteils, den II. Hauptteil und darin besonders Kapitel 1.1.2 und ETh; EWdJ; L. Geiger, Abraham Geiger, 219–222). Vgl. Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 346–353; FacII 17–20. Die Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums erschöpft sich freilich nicht in ihrem Dienst für den Reformprozess, sondern geht darüber hinaus, da sie Theologen in umfassender Weise qualifiziert und sie nicht ausschließlich zur Durchführung von Umgestaltungen anleitet (vgl. zu den generellen Aufgaben eines Theologen exemplarisch: ETh 29–31).

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praxis und daraus resultierend für die dort durchzuführenden Veränderungen. Spezifische Positionen sowie Erkenntnisse können auf diese Weise Eingang in die Gemeinden und so Verbreitung finden. Durch die Bildungsaufgabe der Wissenschaft des Judentums können demzufolge die Verbreitung und Aneignung religiöser Erkenntnisse realisiert werden. Die Wissenschaft des Judentums bringt demnach unter anderem die Personen hervor, die sich der praktischen Umsetzung der Reformen widmen und als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis fungieren. Sie ist demgemäß für die Realisierung der Umformungen verantwortlich, was die eingangs formulierte Annahme bestätigt, dass Geiger mit seinem Programm die wissenschaftliche Umsetzung religiöser Reformen intendiert. Gleichzeitig strebt die Wissenschaft des Judentums auch die theoretische Fundierung der Reformen in Gestalt der Gewinnung historischer und systematischnormativer Erkenntnisse an. Sie bezweckt also auch die wissenschaftliche Konzeption religiöser Reformen und bedarf hierfür qualifizierter Kräfte, die Geiger wie folgt beschreibt: „Und dort [in der Fakultät] würde auch der jüdische Jüngling aus dem Munde kundiger Lehrer wiederum die Lehre empfangen; angeleitet wird er sich finden, dargeboten wird ihm die Forschung mit ihrem Erfolge, angetrieben wird er zu selbstständiger Untersuchung; er begreifet, versteht, würdigt seine Wissenschaft, er lernt sie kennen und umfaßt sie mit Liebe“ (FacI 17). Folglich zielt die wissenschaftliche Ausbildung auch darauf ab, enthusiastische und engagierte Nachwuchswissenschaftler hervorzubringen, die durch eigene Forschungsarbeiten die Wissenschaft des Judentums weiterentwickeln und vorantreiben. Im Speziellen werden sie angeleitet, geschichtliche und systematisch-normative Erkenntnisse zu eruieren, die den Reformprozess fundieren, wie im vorherigen Kapitel dargelegt wurde. Im Rahmen der Ausbildung inspiriert die Wissenschaft des Judentums Personen zu Forschungsleistungen, die sowohl die Förderung der Wissenschaft als auch des Judentums insgesamt unterstützen und dadurch von großer Relevanz sind. Die Ausbildung von Gelehrten und auch deren Forschungen werden also unter anderem in den Dienst des Umformungsprozesses gestellt. Insofern bringt die Wissenschaft des Judentums einerseits Rabbiner, andererseits Wissenschaftler hervor, wobei es durchaus Verknüpfungen gibt, wie Geigers eigene Biographie veranschaulicht. Es zeigt sich, dass die Ausbildungsrolle der Wissenschaft des Judentums demzufolge die Heranbildung praktisch tätiger Kräfte und theoretisch arbeitender Personen intendiert, die alle der übergeordneten Zielperspektive, nämlich der Tradierung des Judentums durch Modernisierung, verpflichtet sind.83 83 Im Artikel Die verschiedenen Betrachtungsweisen: der Schriftsteller und der Rabbiner erläutert Geiger die verschiedenen Selbstverständnisse und daraus resultierend die Aufgaben dieser beiden Typen. Unter „Theologe“ versteht Geiger sowohl den „Schriftsteller“, das heißt aus heutiger Sicht den Wissenschaftler, als auch den „Rabbiner“. Beide Persönlichkeiten

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums107 Die Wissenschaft des Judentums konstituiert mittels ihrer Ausbildungsfunktion die formalen Bedingungen der Umgestaltungen, indem sie die ausführenden Organe der theoretischen und praktischen Sphäre qualifiziert und so die Reformen überhaupt erst ermöglicht und schließlich lenkend auf die Umsetzung einwirkt. Die Erkenntnis, dass die Wissenschaft des Judentums eine Ausbildungsfunktion innehat, führt schließlich zur Frage, in welchem Rahmen die Ausbildung realisiert werden soll. Geiger benennt die Fakultät als den zentralen Ort der wissenschaftlichen Ausbildung und lässt dadurch sein Institutionalisierungsverständnis anklingen (vgl. FacI 17). Das legt den Schluss nahe, dass die Wissenschaft des Judentums Eingang in den universitären Fächerkanon finden soll und die Ausbildungsinhalte durch ein Hochschulstudium vermittelt werden sollen. Eine Verzahnung von Konzeptionalisierung und Institutionalisierung ist erkennbar, da eine Aufgabe der Wissenschaft des Judentums, nämlich die Ausbildung von Nachwuchs, die Gründung einer Fakultät mit legitimiert.84 Zusammenfassend können Geigers Äußerungen dahingehend gedeutet werden, dass die Nachwuchsausbildung, die sowohl theoretisch als auch praktisch wirkende Personen hervorbringt und als vollendete Konkretion des Praxisbezuges der Wissenschaft des Judentums aufzufassen ist, als eine Kernaufgabe der Wissenschaft des Judentums bezeichnet werden kann, da sie die Fortexistenz derselben sichert und einen wichtigen Beitrag zur Tradition des Judentums insgesamt leistet. Denn die Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums ermöglicht unter anderem die Konstituierung, die Fundierung und Lenkung des notwendigen Reformprozesses, indem sie sachkundige Personen hervorbringt und prägt, welche die Modernisierung des Judentums zu realisieren suchen und ihr Wissen für das allgemeine religiöse Leben fruchtbar machen. Ohne die Bereitstellung qualifizierter Kräfte könnten weder das jüdische Gemeindeleben aufrechterhalten noch die zwingend nötigen Umgestaltungen geplant und durchgeführt werden. Einmal mehr wird deutlich, dass die gegenwärtige missliche Situation des Judentums einzig mittels Bildungsanstrengungen zu verbessern ist. In den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, wie die Organe der Wissenschaft des Judentums den Reformprozess praktisch durchführen und inwiefern sich die Wissenschaft des Judentums so als gestalterische Kraft geltend machen kann.

84

bedürfen einer wissenschaftlichen Ausbildung (vgl. BSR). Vgl. zu den Aufgaben eines (praktischen) Theologen Kapitel 4.1.3 des I. Hauptteils: „Der praktische Theil“ und ETh 27 f. Vgl. dazu den II. Hauptteil und darin besonders Kapitel 1.1.1: Die „jüdisch-theologische Facultät“.

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2.3.2  Praktische Durchführung des Reformprozesses 2.3.2.1  Rabbiner als ‚Agenten‘ der Reform Die Wissenschaft des Judentums bildet, wie im Vorherigen gezeigt, zum einen Personen aus, die sich der Konzeptionalisierung von Reformen verschrieben haben, zum anderen auch solche, welche die konkrete Realisierung religiöser Umgestaltungen in der Praxis begleiten und durchführen. Letztere sollen nun hinsichtlich ihrer Bedeutung näher betrachtet werden. Geiger stellt heraus, dass sich den theoretischen Arbeiten im Reformprozess, die von den Gelehrten ausgeführt werden, letztlich auch eine praktische Umsetzung anschließen muss und legt dar, dass „der Gedanke […] zur That [dränge]“ und schließlich „als Erscheinung in das öffentliche Leben treten“ muss (RTGI 1). Dabei kommt die Frage auf, welche konkreten Institutionen die praktische Realisierung der Reformen übernehmen. Denn auch wenn die Wissenschaft des Judentums offenkundig eine wichtige Rolle im Reformprozess einnimmt, kann sie unmittelbar keine Umbildung verwirklichen. Sie bedarf ausführender Organe, welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Lebenswelt einspeisen, sie für diese fruchtbar machen und dadurch Veränderungen initiieren und umsetzen. Die intendierte Vernetzung von Wissenschaft des Judentums und religiöser Frömmigkeitspraxis kann wie es scheint durch Rabbiner konstituiert werden, indem sie, durch ihre wissenschaftliche Ausbildung und die Gemeindearbeit befähigt, Theorie und Praxis vereinen.85 Es zeigt sich, dass Rabbiner als Bindeglieder, ja als Vermittler, zwischen der Wissenschaft des Judentums, die sie idealiter ausbildet, und dem religiösen Leben, an dem sie gestaltend teilhaben, fungieren und daher Umwandlungen ausführen können.86 Sie vereinen religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist, wie Geiger erläutert: „Sie [die Rabbiner] treten unmittelbar mit dem Leben […] in Berührung, sie sollen bemüht sein, es geistig zu durchleuchten. Sie haben aus der Wissenschaft geschöpft und sollen mit ihr im Zusammenhange 85 86

Geiger betont, dass beide Pole, also Theorie und Praxis, in einem ausgeglichenen Verhältnis in der Person des Rabbiners vereint sein müssen und es zu keiner dauerhaften Überlegenheit eines der beiden Momente kommen dürfe (vgl. VRC 244). Es gilt zu berücksichtigen, dass Rabbiner zur Zeit Geigers zwar vielfach wissenschaftlich gebildet sind, also dem neuen Rabbiner-Typus entsprechen, sie aber nicht durch die Wissenschaft des Judentums ausgebildet wurden, da diese noch nicht institutionalisiert ist. Dennoch haben sie bereits befruchtende Impulse durch die Wissenschaft des Judentums beispielsweise über die Literatur bekommen, sodass sie auch ohne institutionelle Etablierung schon eine bildende Funktion aufweist. In vollem Maße steuert die Wissenschaft des Judentums den Reformprozess aber noch nicht. Geigers Ausführungen zur Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums und die daraus folgende Funktionalität der Rabbiner sind folglich konzeptioneller, das heißt idealer Natur.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums109 bleiben, sollen auch aus ihr die lebensvollen Resultate sich aneignen und weiter verbreiten, ihr den Eingang in’s Leben verschaffen“ (RG 167).87 Demnach soll der wissenschaftlich gebildete Rabbiner die Integration der Wissenschaft des Judentums in das Leben ermöglichen und die praktische Gemeindearbeit stets an die Theorie rückkoppeln. Es gilt folglich, den bereits mehrfach erwähnten Nexus zwischen der Wissenschaft des Judentums und der religiösen Lebenswelt auszuprägen und ihn für den Reformprozess nutzbar zu machen. Genau diese Aufgabe fällt dem Rabbiner zu. Er kennt durch seine unmittelbare Verankerung in der jüdischen Gemeinde die derzeitigen Bedürfnisse der Gläubigen sowie die gegenwärtige Lage und kann dieses Wissen mit den gewonnenen historischen und systematisch-normativen Erkenntnissen in Einklang bringen, dadurch die existierende Kluft zwischen Leben und Lehre ausgleichen und Veränderungen anregen und durchführen. Deutlich zeichnet sich ab, dass der Rabbiner als ausführendes Organ der Wissenschaft des Judentums in den Gemeinden wirkt und unter anderem den Reformprozess zu initiieren, zu begleiten und erfolgreich abzuschließen sucht. Das Wirken des Rabbiners zielt demgemäß auf die Realisierung von Umgestaltungen ab, wobei es selbstredend noch mehr umfasst, worauf hier jedoch nicht eingegangen werden soll.88 Dass ein Rabbiner nach Geigers Einschätzung für die praktische Umsetzung von religiösen Reformen prädestiniert ist, verdeutlicht auch folgende Äußerung: „Sein Verhältnis zu dem kleineren Kreise, auf welchen sich seine Wirksamkeit beziehen soll, ist ein rein persönliches. […] und sein Einfluss gründet sich vornehmlich auf das Zutrauen […]“ (BSR 499f). Die Effektivität eines Rabbiners resultiert demnach aus seiner spezifischen Beziehung zu seiner Gemeinde. So besteht ein persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Rabbiner und Gemeinde, das eine ideale Voraussetzung für reformerische Maßnahmen bildet. Durch die individuelle Bindung kann es dem Rabbiner gelingen, die Menschen von notwendigen Reformen zu überzeugen und diese langsam anzubahnen. Es zeigt sich, dass Umgestaltungen aus dem Inneren erwachsen respektive von dort gesteuert werden, was wesentlich fruchtbarer und nachhaltiger ist als eine Aufoktroyierung von außen. Folglich spielt der Rabbiner im Reformprozess auch aufgrund seiner emotionalen Einbettung in den Gemeindekontext eine so entscheidende Rolle, die es zu nutzen gilt. 87

88

An anderer Stelle erläutert Geiger die Kompetenzen eines Rabbiners, wenn er schreibt, dass ein Rabbiner „[…] an dem Studium der Vergangenheit [erstarkt], so ausgerüstet mit der klaren Erkenntniß des religiösen Geistes, welcher den Kern des Judenthums bildet, mit der Einsicht in die Gestaltungen, welche derselbe annahm, und den Entartungen, in die er eingehen mußte, aber auch durchdrungen von dem religiösen Bedürfnisse und dessen Anforderungen, wie es sich ihnen, die mitten in den Verhältnissen stehen, aus diesen ergab [ist] […]“ (AG 25f). Vgl. zu den allgemeinen Tätigkeiten eines Rabbiners in der religiösen Praxis: Kapitel 4.1.3 des I. Hauptteils: „Der praktische Theil“.

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Geiger konkretisiert die Arbeitsweise eines Rabbiners, insofern er erläutert, „daß er [ein Rabbiner] auch den Andern anschaulich mache, wie die Zeit eine Umwälzung hervorgebracht, daß er den Erstarrten zeige, daß sie erstarrt seien und sich gewaltsam emporreißen müssen aus diesem Tode des Geistes und des Herzens; daß er die Versunkenen und Glaubenslosen erschüttere und in ihnen errege das Sehnen und das Streben nach einem belebenden Glauben […]“ (HAR 291). Geiger verdeutlicht, dass ein Rabbiner die Gemeinde über die gegenwärtige Lage des Judentums aufklärt und die Umbruchsituation mit ihren Konsequenzen darstellt. Er hat demnach zeitdiagnostische Informationen zu vermitteln und bekommt dadurch eine gewisse belehrende Funktion. Darauf aufbauend muss ein Rabbiner Verständnis für die Notwendigkeit von Reformen erwirken, um eine breite Akzeptanz für Umformungen hervorzurufen. Darüber hinaus ist es nach Geigers Dafürhalten seine Aufgabe, zu demonstrieren, wie emotions-, leb- und damit auch perspektivlos das religiöse Leben Einzelner ist und wie wichtig eine Revitalisierung daher ist. Er muss Gemeindeglieder folglich auf ihre klägliche Frömmigkeitspraxis sowie die evidenten Missstände aufmerksam machen und zeigen, dass eine Veränderung unumgänglich ist. Seine aufklärende Rolle wird also um einen ermahnenden Duktus erweitert. Außerdem soll der Rabbiner diejenigen vom jüdischen Glauben überzeugen, die ihm bereits entsagt haben beziehungsweise ihm generell fern stehen. In seinen Tätigkeitsbereich fällt somit den Wert der jüdischen Religion zu betonen, um dadurch Abtrünnige und Suchende (zurück)zugewinnen und ihr Interesse am Judentum zu wecken respektive zu verstärken. In gewisser Weise hat er demnach auch eine bekehrende Funktion. Geigers Aufgabenbeschreibung bringt insgesamt zum Ausdruck, dass ein Rabbiner einerseits dafür verantwortlich ist, die Gemeindeglieder für die Reformnotwendigkeit zu sensibilisieren und sie zu Umgestaltungen zu bewegen, andererseits für die Verbreitung einer uneingeschränkten Zustimmung zum Judentum, die sich in einer engagierten Frömmigkeitspraxis und einer aktiven Identifikation niederschlägt, Sorge zu tragen. Die Tätigkeit des Rabbiners weist in toto einen appellierenden nahezu paränetischen Charakter auf. Als übergeordnete Zielperspektive seiner Wirksamkeit fungiert dabei stets die Tradierung des Judentums. Geiger spezifiziert das Aufgabenprofil noch weiter. So soll ein Rabbiner, nachdem er selbst das Wesen des Judentums erfasst hat, seine systematisch-normativen Erkenntnisse an alle Gemeindeglieder vermitteln und demzufolge lehrend tätig sein, da jene auf Anleitung und Unterstützung angewiesen sind. Demgemäß muss er das Judentum in seiner Ganzheit durchdringen, über ein breites Wissen verfügen und dadurch qualifiziert sein, der Gemeinde den jüdischen Geist zu veranschaulichen. Mithilfe des Rabbiners sollen alle Gemeindeglieder zu Kennern ihrer Religion werden und die weit verbreitete Inkompetenz sowie der virulente Indifferentismus aufgehoben werden (vgl. AG 26). Wissen die Menschen um den

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums111 wahren Kern des Judentums, können sie diesen von temporären Ausgestaltungen unterscheiden und können ferner ihre eigene Frömmigkeitspraxis dahingehend überprüfen, ob sie ihm gerecht wird. Eine kritische Reflexion und die sich anschließende Bereitschaft zur Erneuerung religiöser Traditionen sind die Folge. Abermals wird sichtbar, dass die Verbreitung und Aneignung jüdischen Wissens, die von der Wissenschaft des Judentums intendiert werden, durch den Rabbiner realisiert werden können. Im Religionsunterricht wird die Rolle des Lehrers besonders explizit. Die dortige Wirksamkeit des Rabbiners ist von großer Relevanz, da dieser so direkten Einfluss auf die heranwachsende Generation nehmen und sie geistig und sittlich prägen kann. Soll das Judentum nachhaltig tradiert werden, gilt es, das Augenmerk speziell auf die jungen Menschen zu legen, diese für die Reformnotwendigkeit zu sensibilisieren und ihnen das Wesen des Judentums vorzuführen (vgl. ETh 31; PRS). Einmal mehr zeigt sich deutlich, dass Geiger mit seinem Konzept auf die als misslich empfundene Lage des Judentums reagiert und sie mittels Bildungsanstrengung zu verbessern sucht. Letztlich ist ein Rabbiner auch schöpferisch tätig, indem er Ausprägungsformen des jüdischen Geistes entwickelt respektive die bestehenden mit neuem Leben und erfrischender Kraft füllt. Unpassende, das heißt unzeitgemäße, abgestorbene Ausgestaltungen werden durch ihn identifiziert, ausgeschieden und durch neue, die den derzeitigen Bedingungen gerecht werden, ersetzt. Der Rabbiner befreit das Judentum demnach von beschwerendem Ballast und schafft Raum für das wahre religiöse Leben. Seine kreative und produktive Wirksamkeit macht die eigentliche Umgestaltung aus und ist der letzte und gleichzeitig bedeutendste Schritt innerhalb des Reformprozesses. Abschließend lässt sich festhalten, dass der Rabbiner unter Rückgriff auf wissenschaftliche sowie lebenspraktische Erkenntnisse die Ausprägungsform der jüdischen Wahrheiten bestimmt und dadurch die religiöse Lebenspraxis des Judentums determiniert. Er wirkt idealerweise direkt und konkret an der Modernisierung des Judentums mit und kann daher als ‚Agent‘ der Reform bezeichnet werden. Ein Rabbiner ist jedoch nicht alleine für die praktische Durchführung des Reformprozesses verantwortlich. Das nächste Kapitel legt offen, welche Institution unterstützend mitwirkt. Rabbinerversammlungen als Institutionen professioneller Reflexion 2.3.2.2  Einige methodische Vorbemerkungen sind den inhaltlichen Ausführungen voranzustellen: Rabbinerversammlungen sind zur Zeit Geigers historische Tatsachen. Geigers Ausführungen rekurrieren daher auch auf stattgefundene Zusammenkünfte und fungieren somit als zurückblickende Einschätzungen. Geigers Kommentierungen der faktischen Umsetzung sind positionell eingefärbt sind, sodass

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sie nicht zwangsläufig das historische Faktum in objektiver Weise wiedergeben, wie es in allgemeinen Geschichtsdarstellungen der Fall ist. Daneben – und zwar vornehmlich – gibt es Passagen, die Geigers konzeptioneller Vorstellung zuzurechnen und daher als Zukunftsprognose mit idealem Gehalt zu verstehen sind. Folglich ergeben sich drei Ebenen, die gegeneinander gehalten werden können: die faktische Umsetzung, Geigers Stellungnahme zur Realisierung und der ideale Gehalt der Idee Geigers.89 Dadurch, dass Geiger sich über eine längere Zeitspanne hinweg zu den Versammlungen äußert und sowohl die Realität als auch die Idealität beschreibt, ohne dieses jedoch immer explizit zu machen und präzise zu differenzieren, ergeben sich einerseits ein leicht ambivalentes Bild und andererseits gewisse Darstellungsschwierigkeiten.90 Einige programmatische Aussagen Geigers können nicht hinsichtlich ihrer tatsächlichen Erfüllung überprüft werden, da weder andere historische Beschreibungen der Rabbinerversammlungen noch Geiger selbst im Rückblick Angaben darüber machen. Wenngleich also keine grundsätzlich sinnvolle dreigliedrige Darstellung realisiert werden kann, soll versucht werden, den unterschiedlichen Ebenen gerecht zu werden. Vornehmlich zielt diese Schilderung darauf ab, die Rolle der Rabbinerversammlungen im Reformprozess als Organe der Wissenschaft des Judentums aus der Sicht Geigers zu beschreiben. Der Fokus liegt daher auf der konzeptionellen Ausrichtung dieser Institution. Es soll demnach keine Skizze der historischen Rabbinerversammlungen im Sinne einer Institutionsgeschichte angestrengt werden, was das durchaus zu hinterfragende methodische Vorgehen begründen mag.91 Eingedenk dieser Schwierigkeiten wird im Folgenden die Bedeutung der Rabbinerversammlungen im Reformprozess dargelegt. Um die Wirksamkeit der Rabbiner zu optimieren sowie ihre Effizienz innerhalb des Reformprozesses zu beschleunigen und zu verstärken, empfehlen sich eine Bündelung aller verfügbaren Kräfte und ein gemeinsames Arbeiten. Geiger legt entsprechend dar: „Ich weiß wohl, daß der Einzelne hier mit unmächtiger 89

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Alle bisher beschriebenen Funktionen der Wissenschaft des Judentums sind im Prinzip konzeptioneller, das heißt idealer Natur, da die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums noch aussteht. Gleichwohl kann sicherlich von einer partiellen Umsetzung ausgegangen werden, zu der Geiger und auch einige seiner Kollegen mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten beigetragen haben. Geigers Äußerungen lassen sich also nicht immer exakt einer Ebene zuordnen. Der Äußerungszeitpunkt kann zwar als ein Indiz herangezogen werden, ist jedoch nicht immer aussagekräftig. Denn auch wenn Geiger beispielsweise vor einer Rabbinerversammlung schreibt, kann sich die Aussage durchaus auf bereits vergangene Erfahrungen stützen und demgemäß nicht nur Ideales widerspiegeln. Und auch die Sprache kann nicht als zuverlässiger Anhaltspunkt betrachtet werden, da Geiger sie nicht immer präzise verwendet. Vgl. ausführlicher zu den Rabbinerversammlungen: Philipson, The reform movement in judaism, 140–224.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums113 Kraft anrennt; aber deshalb eben müssen mehre gleichgesinnte und entschiedene Männer Hand ans Werk legen, und ihr Zusammenwirken wird gesegnet werden“ (RS 321). Erst die Vereinigung von Rabbinern kann nennenswerte Fortschritte bringen und zu einer nachhaltigen Tradierung des Judentums führen. Denn auch wenn ein einzelner Rabbiner durchaus wirkmächtig ist, kann ein Zusammenschluss doch deutlich größere Erfolge erzielen. Geiger betont aus diesem Grund: „Also wiederum nur gemeinsames Berathen und Aussprechen führt über alle diese Unebenheiten weg, und die Zeit drängt zu einem solchen Gesammtentschlusse von Seiten der Rabbiner […]“ (GLR 169). Weil ein Rabbiner allein die Modernisierung des Judentums nicht umsetzen kann, muss gerade auch angesichts der als misslich empfundenen Situation des Judentums schnellstmöglich ein Forum geschaffen werden, wo Probleme gemeinschaftlich angegangen und gelöst werden können. Dass ein Vorschlag, der von vielen Rabbinern getragen wird, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Judentums mehr Akzeptanz finden und schneller umgesetzt wird als eine singuläre Meinung, ist offenkundig. Darüber hinaus ist es unstrittig, dass der Austausch und die Diskussion verschiedener Ansichten zu erfolgsversprechenden mannigfaltigen Lösungsansätzen führen. Die Kooperation der Rabbiner, die idealerweise ein gemeinsames Reformprogramm hervorbringt, kann daher als ein wichtiges Erfordernis betrachtet werden. Eine weitere Stärke solcher Zusammenkünfte wird durch folgende Formulierung ausgedrückt: „[…] die rüstig Strebenden aus den verschiedensten Gemeinden sollen sich zusammenschaaren, um einander zu erfrischen und zu ermuthigen, den Blick zu erweitern und die große Aufgabe ernster sich gegenseitig vorzuführen, durch deren Ausspruch und Klarlegung sie zu deren Erfüllung auch weiterhin aneifern“ (VLP 3).92 Das Treffen mit Gleichgesinnten soll demzufolge idealiter auch zu einer Motivations- und Selbstbewusstseinssteigerung der einzelnen Teilnehmer führen, was gerade in einer von Umbrüchen, Unsicherheiten, Anfeindungen und Streitigkeiten geprägten Zeit hilfreich ist. Man stärkt, belebt und unterstützt einander und bewirkt dadurch ein entschlosseneres sowie effizienteres Handeln. Zweifelsohne können Projekte in den Gemeinden wesentlich selbstsicherer und offensiver präsentiert, nach außen hin verteidigt und schließlich realisiert werden, wenn es die Gewissheit eines festen Rückhalts in Form eines breiten Konsenses gibt. Die Gemeinschaft kann folglich positive Kräfte und Impulse freisetzen, welche die Umsetzung der Reformen fördern. Darüber hinaus sollen derartige Zusammenkünfte zur Horizonterweiterung der einzelnen Rabbiner beitragen, welche die tägliche Arbeit befruchten kann. Denn eine kontinuierliche Weiterbildung und sinnstiftende Anregung der Geistlichen unter92

Geigers Äußerung bezieht sich zwar auf Synoden, sie kann aber auf Rabbinerversammlungen übertragen werden.

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stützen deren Tätigkeit in der Gemeinde und dienen letztlich auch der Zukunftssicherung des Judentums. Weiterhin treten durch den gemeinsamen Diskurs die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der nötigen Umgestaltungen stärker hervor, was zu einem erhöhten Engagement und Einsatz führt. Gegenseitig können sich die Rabbiner zur Lösung der Aufgaben anhalten, wodurch sich die Realisierungschancen erheblich steigern. Die kooperative Analyse der gegenwärtigen Lage und das explizite Benennen von Missständen können bereits als grundlegende Schritte in Richtung Modernisierung gewertet werden, da die Bewusstmachung sowie das offene Aussprechen der Probleme als erste Maßnahmen im Umgestaltungsprozess gedeutet werden können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass gemeinsame Besprechungen im Idealfall eine inspirierende, anregende, vergewissernde, bildende und aufklärende Funktion haben, die es für den Reformprozess zu nutzen gilt.93 Folgende Äußerung legitimiert ebenfalls solche Vereinigungen und spiegelt einen weiteren Vorzug derselben wider: „Es sind gegenwärtig neue wissenschaftliche Standpunkte und Erkenntnisse gewonnen, die zugleich von einer großen praktischen Tragweite sind; sie dürfen nicht im engen Raume der Gelehrtenstube verbleiben, nicht eingeschlossen sein in die nur den Fachmännern zugängliche wissenschaftliche Form, in die gelehrten Gehäuse der Bücher und Zeitschriften, sie müssen auf den großen Markt hinaustreten, sich vor den Ohren der Empfänglichen vernehmlich machen und Licht in die allgemeine Verwirrung bringen“ (GLR 168).94 Wissenschaftliche Ergebnisse implizieren häufig eine praktische Geltungssphäre, müssen daher in die konkrete Lebenswirklichkeit eingespeist werden und dürfen nicht im theoretischen Bereich verharren, der nur für einen spezifischen Adressatenkreis erreichbar ist. Zusammenkünfte von Rabbinern können hierbei als Plattform dienen, wo ebensolches Wissen verkündet und verbreitet wird. Die Resultate der Wissenschaft des Judentums können auf diese 93

Ludwig Philippson (1811–1889), ein promovierter Rabbiner, Begründer und Herausgeber der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen und Initiator der drei Versammlungen von 1844, 1845, 1846, entfaltet in seinem Aufruf zur Rabbinerversammlung ebenfalls die Intention einer solchen Institution und schreibt: „Der Zweck der Versammlungen ist: 1) das Kennenlernen und die Annäherung der jüdischen Geistlichen untereinander; 2) die gemeinsame Anregung in der Führung des Amtes; 3) das gemeinschaftliche Unternehmen allgemeiner Werke und Institute; 4) die gemeinsamen Berathungen über alle israelitischen Angelegenheiten“ (Philippson, Zwei Aufforderungen, an das Herz aller Leser und aller Betheiligten gelegt, 27). Die Nähe zu Geigers Äußerungen ist evident, wenngleich Philippson die Rolle der Versammlungen im Reformprozess an dieser Stelle nicht explizit macht. 94 Geiger führt weiter aus: „Diese Erkenntniß muß zum Gemeingute werden. […] Dieses Schlingkraut muß durch offene gemeinsame Aussprache abgelöst werden, damit der ächte Stamm zu reiner Blüthe und Fruchtbarkeit gedeihe“ (GLR 168f).

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums115 Weise einer zunächst eingeschränkten Öffentlichkeit vermittelt werden, von dieser jedoch in den Alltag einbezogen und so der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden. Es macht den Eindruck, dass Besprechungen dieser Art die Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis bilden, indem sie eine Verknüpfung von Wissenschaft des Judentums und jüdischem Gemeindeleben herstellen.95 Die Rabbiner agieren dabei als verbindende Organe und transportieren die neuen Erkenntnisse in das Frömmigkeitsleben. Auf diese Weise kann es gelingen, dass jedermann die wissenschaftlichen Fortschritte kennt, von ihnen profitieren kann und das Judentum insgesamt zukunftsfähig gemacht wird.96 Betrachtet man die skizzierten Vorzüge in toto, kann konstatiert werden, dass Rabbinerversammlungen zumindest in konzeptioneller Hinsicht Potential haben und einen wertvollen Beitrag im Reformprozess leisten können. Der Rabbinerversammlung kommt die Funktion einer Institution der professionellen Reflexion zu, was ihre Rolle im Reformprozess deutlich werden lässt. Es wird sich zeigen, ob die idealen Erwartungen in der Realität ihre Umsetzung und Bestätigung finden. In welcher Organisationsform das von Geiger befürwortete gemeinsame Wirken der Rabbiner realisiert werden kann, zeigen die fünf Rabbinerversammlungen97 zu Geigers Lebzeiten und unter seiner Mitwirkung 1837 in Wiesbaden, 1844 in Braunschweig, 1845 in Frankfurt am Main, 1846 in Breslau, 1868 in Kassel.98 Geiger umreißt die Zielsetzung der Rabbinerversammlung und damit auch deren Rolle im Reformprozess, wenn er erläutert: „Sie soll nicht ein neues Judenthum aufstellen, […] sie soll nur die Besprechung redlicher Männer über 95 96

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Meyer bestätigt diese konzeptionelle Vorstellung Geigers mit einem Verweis auf die faktische Umsetzung und legt dar, dass die Versammlungen sowohl „ideologischen als auch […] praktischen Fragen“ Raum gewähren (Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 174). Geiger erklärt weiterhin, dass es nicht genüge, sich auf rein theoretischer Ebene mit den nötigen Umgestaltungen zu befassen, da daraus hervorgehende Schriften keinen allumfassenden Adressatenkreis, sondern einen begrenzten Wirkungsbereich hätten. Wissenschaftliche Schriften bedürfen deshalb einer Ergänzung, beispielsweise in Form solcher Versammlungen. Geiger schreibt daher: „Daß hier der schriftstellerische Weg auch betreten werden müsse, liegt ebenso klar vor, als daß derselbe bei weitem nicht ausreiche“ (RS 318). In der Forschungsliteratur werden gemeinhin nur die drei Rabbinerversammlungen in Braunschweig, Frankfurt am Main und Breslau genannt und beleuchtet. Da Geiger jedoch auch an Rabbinerzusammenkünften in Wiesbaden und Kassel teilnimmt und sich dazu äußert, werden sie hier mit genannt, obwohl ihre Bedeutung gewiss geringer einzuschätzen ist. Vgl. exemplarisch: Geiger, Rede in der elften Sitzung der ersten Rabbinerversammlung am 19.6.1844; ders., Reden und Anträge in den Sitzungen der zweiten Rabbinerversammlung am 16., 18., 20., 22.–25., 27.–28. Juli 1845; ders., Vorläufiger Bericht über die Thätigkeit der dritten Versammlung deutscher Rabbiner; ders., Die Versammlung von Rabbinern in Cassel; [N. N.], Protokolle der dritten Versammlung deutscher Rabbiner, abgehalten zu Breslau vom 13. bis 24. Juli 1846, Breslau 1847. Vgl. auch folgende detaillierte Darstellung der drei Rabbinerkonferenzen in Braunschweig, Frankfurt und Breslau: Philipson, The reform movement in judaism, 140–224.

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ihre fernere Amtsführung veranlassen, ein Anfang sein zu einer Zurückführung des fast entschwundenen, zu einer Aufgrabung des fast erdrückten Geistes des Judenthums“ (RS 321). Die Tradierung des Judentums durch Modernisierung zu unterstützen kann als Leitparadigma von Rabbinerversammlungen benannt werden. Rabbinerversammlungen sind offenbar dem gleichen Reformverständnis wie Geiger verpflichtet, da auch sie keine Neugestaltung des Judentums und keinen radikalen Bruch zu realisieren suchen, sondern vielmehr eine Wiederbelebung des Alten, längst Vergessenen intendieren. Sie sollen nach Geigers Auffassung zwar den Beginn einer neuen Periode hervorrufen, diesen aber in Rückbesinnung auf das Ursprüngliche gestalten. Mit ihrer Hilfe soll der jüdische Geist wieder aktiviert und bewusst gemacht werden und zu einer präsenten Größe im religiösen Leben werden. Demgemäß sollen die Zusammenkünfte über eine lebendige Frömmigkeitspraxis reflektieren, die dem Wesen des Judentums gemäß gestaltet ist und diesem gerecht wird, was deutlich an die bereits entfaltete Zielperspektive der Wissenschaft des Judentums erinnert und zeigt, dass die Rabbinerversammlung an die Intentionen der Wissenschaft des Judentums anknüpft und ihren möglichen Beitrag zur Umsetzung leistet. Geiger konkretisiert die intentionale Ausrichtung, wenn er erläutert: „Der Zweck der Versammlungen ist […] sich über Maaßregeln zu verständigen, welche der Verwirklichung fähig sind und durch deren Verwirklichung ein reineres jüdisch-religiöses Leben in der Gesammtheit erzielt werden kann“ (ARVII 340).99 Rabbinerversammlungen zielen demgemäß genau wie die Wissenschaft des Judentums auf die Veränderung der religiösen Wirklichkeit ab und suchen mit dem Entwurf eines Reformprogramms die als misslich emfpundene Lage des Judentums zu verbessern.100 Im Idealfall steuern sie mittelbar über die Rabbiner die konkrete Gestaltung der Wirklichkeit und sind so dezidiert auf die religiöse Praxis ausgerichtet.101 Bei Zusammenkünften sollen Vorschläge formuliert werden, wie Umgestaltungen im jüdischen Leben realisiert werden können. Mittels aufgestellter Leitlinien sollen die Richtung des Reformprozesses vorgeben und konkrete Handlungsanweisungen für die Verwirklichung von Reformen entwickelt werden. Alle Anregungen sind der gleichen Intention verpflichtet und zwar der, 99

Geiger führt weiterhin aus: „Es liegt offen vor, daß der zweite Punkt, der der Reform im engeren Sinne, es ist, um den sich die Thätigkeit der Rabbinerversammlung fast ausschließlich bewegen muß“ (ARVII 340). 100 Meyer bestätigt diese Zielangabe Geigers und formuliert die zentrale Intention der Rabbinerversammlungen so, dass diese „einem einheitlichen Programm der religiösen Reform Ansehen und Legitimation zu verschaffen“ suchen (Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 171). 101 Meyer legt dar, dass die Rabbinerversammlungen „in einer Reihe von Abstimmungen zu liturgischen Fragen […] praktische Reformen [unterstützten]“ (a. a. O., 174), was zeigt, dass die Rabbinerversammlungen durchaus wirkmächtig waren.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums117 dass die jüdischen Wahrheiten wieder im Zentrum der Religionsausübung stehen und von allen Gemeindegliedern gekannt und gelebt werden. Demnach soll eine Konzentration auf das Wesentliche erreicht und jeder Veräußerlichung sowie Formknechtschaft entgegengewirkt werden. Es ist offenkundig, dass dies nur auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse geleistet werden kann. Die Institution der Rabbinerversammlung knüpft also an die theoretischen Vorarbeiten der Wissenschaft des Judentums an, konzipiert idealiter ein einheitliches Reformprogramm und verwirklicht so die praktische Umsetzung der Reformen. Exemplarisch unterstreicht folgende Äußerung, dass die Rabbinerversammlungen die praktische Umsetzung der Reformen realisieren und ihre Vorschläge idealerweise direkte Auswirkungen auf das religiöse Leben haben und keinesfalls auf theoretischer Ebene stehen bleiben sollen: „[…] die Berathungen sollen ein unmittelbares, praktisches Resultat haben, die Ansichten, über welche man sich verständigt, ihre Verwirklichung finden können, und sie werden um so sicherer dahin führen, je allgemeiner die Ueberzeugung, von der die Aussprüche hervorgehen, verbreitet ist, je tiefer und je allgemeiner das Bedürfniß sich geltend macht, dem sie entgegenkommen“ (ARVI 324). Es gilt also, praxisbezogene Entwürfe anzufertigen, die geradewegs in der Lebenswelt umgesetzt werden können, die also gegenwarts- sowie realitätsnah und damit insgesamt praktikabel sind. Um eine optimale Effizienz zu erreichen, ist darauf zu achten, dass keine Detailfragen im Sinne der Gutachten des alten Rabbinats und Einzelprobleme thematisiert und zu spezielle Lösungen erarbeitet werden.102 Vielmehr kommt es darauf an, gemeingültige Aussagen zu treffen, die eine universale Geltung für sich beanspruchen, auf einem breiten Konsens fußen und globale Anliegen zu erfüllen wissen. Geiger stellt heraus, dass die Rabbinerversammlungen keine obligatorischen, von Autoritäten vorgegebenen Themen diskutieren sollen, sondern die zu erörternden Problemstellungen von den teilnehmenden Rabbinern ausgewählt werden müssen.103 Folgende Ausführung spiegelt den autonomen Charakter wider: „Nein, m. W., solche Zusammenkünfte müssen aus dem Innern der Synagoge als naturgemäßes Product hervorgehen, von den Rabbinern selbst müssen die zu behandelnden Gegenstände mit allseitiger Umsicht bestimmt werden […]“ (RS 331).104 Rabbinerversammlungen 102 Geiger betont: „Sie haben demnach nicht Anfragen zu beantworten, nicht Wünsche und Verlangen, welche ihnen in klarer und bestimmter Form aus dem Schooße der Gemeinden vorgelegt werden, zum Gegenstande ihrer Berathungen, sondern nach ihrer Kenntniß der Wissenschaft und des Lebens sich selbst die Anforderungen vorzuführen und die Mittel aufzufinden, wie denselben genügt werden könne“ (ARVI 321). 103 Vgl. dazu exemplarisch: Geiger, Einige Ansichten über die nächste Rabbinerversammlung. 104 An anderer Stelle schreibt Geiger Ähnliches: „In solchen Versammlungen bilden sich die überall vorliegenden und jeden Augenblick neu hervortretenden praktischen Fragen von selbst; sie können nicht von vornherein vorgeschrieben werden“ (WtN 255).

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verstehen sich selbst folglich als selbstständige und eigenverantwortliche Einrichtungen, die von ihren Teilnehmern gestaltet und geprägt werden. Sie ergeben sich idealerweise aus einer spezifischen Situation heraus und entspringen damit virulenten Bedürfnissen, die sie wiederum zu befriedigen trachten. Demgemäß werden sie nicht von übergeordneten Einheiten willkürlich eingesetzt und mit Aufgaben betraut, sondern bilden sich in souveräner Unabhängigkeit und arbeiten dementsprechend selbstbestimmt. Aus diesem Grund können sie im Idealfall unmittelbar auf gegenwärtige Angelegenheiten reagieren. Durch ihre direkte Verbundenheit mit der Basis soll gewährleistet werden, dass sie die tatsächlich brennenden Fragestellungen der Gegenwart besprechen und keine theoretisch ermittelten Gegenstände behandeln, welche die Lebenswelt nur peripher tangieren. Eine optimale Passung zwischen derzeitiger Problemlage und Diskussionsinhalten soll so erzielt und dadurch eine erhöhte Leistung und Wirksamkeit erreicht werden. Betrachtet man die einzelnen Rabbinerkonferenzen, kristallisieren sich bestimmte Themen heraus, die nahezu bei jeder Zusammenkunft behandelt werden. Fragen des Gottesdienstes respektive der Liturgie, des Ehegesetzes und der Fest- und Feiertage, im Speziellen des Sabbats, finden Eingang in jede Sitzung. Des Weiteren wird häufig über die Rabbinerausbildung, eine Fakultätsgründung, die Gestaltung der Gebete und Gebräuche, die Stellung der Frau und die Position der Juden im deutschen Staat beraten.105 Der Charakter und damit auch die Bedeutung der Rabbinerversammlungen können weiter konkretisiert werden, indem deren Autorität erhellt und dadurch deren Einflussbereich bestimmt wird. Geiger stellt dazu heraus: „Also eine jede Versammlung […] trug und trägt lediglich den Charakter einer belehrenden, den Willen anregenden, nicht einer diesen endgültig bestimmenden, gesetzgeberisch entscheidenden […]“ (VRC 243). Die Zusammentreffen fungieren also nicht als Legislative und verabschieden daher auch keine rechtskräftigen Gesetze, was dazu führt, dass sie faktisch keine Macht ausüben. Gerade deswegen werden auch keine spezifischen Anfragen der Gemeindeglieder rechtsverbindlich beantwortet. Das kann dahingehend gedeutet werden, dass ihnen vielmehr eine beratende, aufklärende und inspirierende Funktion zukommt. Denn die Versammlungen vermitteln Wissen, bieten ein Forum für Diskurse zu relevanten Themen, initiieren dadurch idealerweise Denkprozesse und motivieren die Rabbiner zu einer vertieften und konstruktiven Auseinandersetzung und konstituieren infolgedessen ein kritisches Problembewusstsein. Es werden Impulse formuliert, die von den Rabbinern produktiv umgesetzt oder bei Untauglichkeit in der Realität gegebenenfalls auch revidiert beziehungsweise relativiert werden können. Die 105 Vgl. exemplarisch: Geiger, Die Rabbinerzuammenkunft, 199f; ders., Einige Ansichten über die nächste Rabbinerversammlung.

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums119 Entscheidungshoheit obliegt den Gemeinden selbst, wenngleich die von der Versammlung formulierten Empfehlungen als Orientierung fungieren und in ihrer beratenden Funktion wirkungsreich sind.106 Die Vorschläge sind demnach nicht mit Ge- und Verboten gleichzusetzen, sondern als flexible Anregungen zu verstehen, die genügend Raum für Modifikationen und für eigene Ideen zulassen. Das Selbstbestimmungs- und Selbstgestaltungsrecht wird demgemäß bewahrt und nicht durch autoritative Anordnungen aufgehoben. Es zeichnet sich ab, dass die Zusammenkünfte einerseits einen Erkenntnisfortschritt und daraus resultierend eine Kompetenzsteigerung der Rabbiner, andererseits die Veränderung ihrer Gesinnung, die sich in einem engagierten und motivierten Handeln niederschlägt, intendieren. Sie wollen die Rabbiner demnach bilden und fördern sowie gewinnen dadurch direkten Einfluss auf den Reformprozess. Geiger unterstreicht die Ausrichtung mit folgender Forderung: „Die Versammlung halte sich fern von bindenden Normen“ (SRV 200). Die Konsequenz daraus ist, dass den Zusammenkünften „jede äußere Machtvollkommenheit abgeht und nur eine moralische Autorität ihnen innewohnen kann […]“ (ARVI 322). Sie ermangeln greifbarer Erzeugnisse autoritärer Gestaltungskraft, welche die Macht offensichtlich ausdrücken, was eine Ansehens- und Einflussminderung innerhalb und außerhalb des Judentums zur Folge hat. Der Mangel an externer Potenz zieht also Geltungseinbußen nach sich und beeinträchtigt scheinbar die Effektivität der Versammlungen. Geiger macht jedoch deutlich, dass ihre Wirkungsmacht vornehmlich im Bereich der Sittlichkeit zu suchen ist und sie dort ihre Bedeutung geltend machen können. Das heißt also, dass die Zusammenkünfte primär das Gewissen und die Gemüter ansprechen wollen und dadurch ihren Einfluss entfalten können. Sie setzen demnach auf die Einsicht sowie den Verstand der Rabbiner und formulieren entsprechende moralische Vorschläge. Insgesamt fällt auf, dass gerade auch diese Ausrichtung und Arbeitsweise die Intention, die religiöse Praxis zu liberalisieren, der alle Versammlungen verpflichtet sind, unterstützen. In einer abschließenden Reflexion gilt es, die Funktion und den Stellenwert der Rabbinerversammlungen im Reformprozess gebündelt darzustellen und zu einer zusammenfassenden Einschätzung zu kommen. Die erreichten Leistungen, also die tatsächlichen Ergebnisse der Rabbinerversammlungen, spiegeln ihre Rolle innerhalb des Reformprozesses wider und lassen ihre Bedeutung sichtbar werden. Geiger formuliert zwischen der zweiten und dritten Rabbinerkonferenz im Jahre 1845 eher kritische Töne dazu und spricht der Versammlung insgesamt eine nur „mittelbar[e] […] Wirksamkeit“ (ARVII 342) zu, was angesichts der vorherigen, durchweg positiven, größtenteils konzeptionellen Ausführun106 Geiger schreibt dazu: „Es wird doch immer der eigenen Ueberzeugung und dem speciellen Bedürfnisse der Gemeinde der freie Spielraum gestattet werden müssen […]“ (SRV 202).

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gen und Einschätzungen zunächst verwundern mag, der Realität aber gerecht wird.107 Geiger erklärt, dass der Wirkungskreis der Rabbinerversammlung zu klein sei, als dass sie richtungsweisend und allumfassend sein könnte. Dadurch, dass ausschließlich reformgesinnte Rabbiner an den Konferenzen teilnehmen, könnten längst nicht alle Gemeinden erreicht werden.108 Ferner korreliere das religiöse Leben stark mit lokalen Gegebenheiten, was universale Lösungsmuster unmöglich mache. Eine weitere Schwäche von Rabbinerversammlungen deckt Geiger auf, indem er auf eine nur mäßige Unterstützung der Wissenschaft des Judentums durch die Rabbinerversammlungen verweist und schreibt, dass „[…] die Wissenschaft nicht unmittelbar eine Förderung oder auch nur momentane Fixierung durch die Rabbinerversammlung finden kann […]“ (ARVII 341). Die konstatierte praktische Wirksamkeit von Rabbinerzusammenkünften wird mit dem Aufzeigen der Grenze ihrer Effektivität auf theoretischer Ebene kontrastiert. Wenngleich die Rabbinerversammlung auf wissenschaftliche Ergebnisse rekurriert und auf ihnen basiert, begünstigt sie nach Geigers Einschätzung nicht direkt die Weiterentwicklung der Wissenschaft des Judentums und liefert auf den ersten Blick keine diesbezüglichen Impulse. Es scheint, dass die Wissenschaft des Judentums demzufolge nahezu außerhalb des Geltungs- und Wirkungsbereiches der Rabbinerversammlungen liegt und von diesen daher auch nicht direkt beeinflusst und befruchtet wird, sodass von einer ausgeglichenen Wechselwirkung nicht unbedingt die Rede sein kann. Trotz Geigers Vorbehalt kann daran festgehalten werden, die Zusammenkünfte als ausführende Organe der zu dem 107 So beschreibt beispielsweise Meyer „das Resultat der drei Versammlungen […][als] gemischt“ und verdeutlicht dadurch, dass pauschale Äußerungen der faktischen Umsetzung nicht gerecht werden können (Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 175). Denn die Ergebnisse der Versammlungen unterscheiden sich hinsichtlich des Umfangs und der Tragweite. Meyer legt dar, dass eine Sensibilisierung für die generelle Reformnotwendigkeit in der Gesellschaft durch die Konferenzen erreicht wurde und es zur Verwirklichung einiger Reform-Anregungen gekommen ist. Er betont allerdings auch, dass sich die Rabbinerversammlung nicht als eine ständige Einrichtung für Reformfragen im Judentum etablieren konnte und überdies bestehende Differenzen zwischen den religiösen Richtungen stabilisiert und nicht ausgeglichen wurden (vgl. ebd.). 108 Die ursprüngliche Intention, die auch von Geiger formuliert wurde, durch die Zusammenkünfte eine Vereinigung aller deutschen Rabbiner zu erreichen, die gemeinsam allgemeine jüdische Angelegenheiten zu klären suchen, kann damit als gescheitert betrachtet werden. Vielmehr formiert sich im Laufe der Zeit eine oppositionelle Front bestehend aus Orthodoxen, Konservativen und radikalen Reformern gegenüber den Versammlungen (vgl. dazu: Philipson, The reform movement in judaism, 155–163). Meyer präsentiert die Landkarte „Das liberale Judentum und seine Gegner in den 1840er Jahren“, die veranschaulicht, welche Gemeinden an den Rabbinerversammlungen teilnahmen und welche dagegen protestierten (Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 173). Überdies rekurriert Meyer auf das Protestschreiben der Orthodoxen, welches ebenfalls Ausdruck einer nicht ausschließlich zustimmenden Haltung gegenüber den Rabbinerversammlungen ist (vgl. a. a. O., 175).

Funktionale Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums121 Zeitpunkt freilich noch nicht institutionalisierten Wissenschaft des Judentums zu deuten, da sie an die wissenschaftliche Arbeit anknüpfen, indem sie die praktische Umsetzung der Reformen zu realisieren suchen. Die Wissenschaft des Judentums fungiert als theoretische Basis der Zusammenkünfte, fundiert die Diskussionen und zeigt die generelle Reformmöglichkeit auf, profitiert selbst jedoch nicht in unmittelbarer Weise von den Rabbinerversammlungen. Längerfristig ist trotz Geigers Einwand davon auszugehen, dass die Zusammenkünfte auch wieder positiv auf die Wissenschaft des Judentums zurückwirken, indem sie idealerweise einen Stimmungswechsel evozieren und dadurch das Interesse an Reformen und dem Judentum generell beleben sowie bestärken, woraus auch die Wissenschaft des Judentums Nutzen ziehen kann. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass Rabbinerkonferenzen die von der Wissenschaft des Judentums konzipierten Projekte vollenden, dadurch dass sie diese praxistauglich machen und letztlich die Umsetzung in die religiöse Lebenswelt unterstützen. Verbindendes Motiv beider Institutionen ist das gemeinsame Bestreben der Tradierung des Judentums durch Modernisierung, welches durch die Rabbiner, die als wissenschaftlich gebildete Personen an den Versammlungen teilnehmen und die Ergebnisse in den Gemeinden umsetzen, verwirklicht wird. Geiger begründet seine Einschätzung der „mittelbar[en] Wirksamkeit“ noch weiter, indem er auf eine andere Schwäche und Grenze aufmerksam macht: „[…] so wird auch die spezielle Weckung und Pflege des wahrhaft religiösen Sinnes nicht von ihr ausgehen können“ (ARVII 341). Rabbinerversammlungen rufen demgemäß weder Religiosität hervor noch erhalten sie sie. Wenngleich die Versammlung praktische Resultate liefern kann, weiß sie tiefgründige, essenzielle Aufgaben nicht zu lösen und hat weiterhin keine sinnstiftenden Fähigkeiten. Es erweckt den Anschein, als ob sich ihre Wirksamkeit auf den allgemeinen, beinahe oberflächlichen Bereich erstreckt, sie die entscheidenden Angelegenheiten dagegen nicht zu lösen vermag. Trotzdem stellt Geiger heraus: „Die Wichtigkeit des jugendlichen Instituts der Rabbinerversammlung ist hinlänglich anerkannt […]“ (ARVI 321). Obgleich die Effektivität also eingeschränkt ist, betont Geiger die Relevanz der Versammlungen, die er überdies auch als allgemeinen Konsens präsentiert, und zeigt so auch deren Legitimität auf. Die Formulierung „jugendliche[s] Institut[ ]“ deutet auf das Entwicklungs- und gleichzeitig auch Optimierungspotential der Zusammenkünfte hin und rechtfertigt Geigers Festhalten an ihnen. Daran anknüpfend beurteilt Geiger im Jahre 1868 die bereits erwirkten Leistungen der Rabbinerversammlungen deutlich positiver und führt aus: „[…] man hat in vielen Fällen an den verschiedensten Orten ihre Aussprüche als maßgebende Anleitung aufgenommen und sie ins Leben eingeführt. Aber noch mehr war im höheren Sinne ihre Wirkung eine überaus heilsame durch die Bewegung, welche sie in die Geister brachten, durch die erhöhte Stimmung, in welche die Mitglieder ver-

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setzt wurden, durch die Anregung, welche dem Antheil nehmenden größeren Publicum gegeben wurde. […] Damit werden dann praktische Resultate für die Zukunft vorbereitet, wenn auch nicht fertige für den Augenblick gewonnen“ (VRC 241f).109 In Anlehnung an Geigers Äußerung sowie die allgemeinen historischen Darstellungen kann abschließend herausgestellt werden, dass die Rabbinerversammlungen akzeptiert und gewürdigt werden, ihre Aussprüche im Judentum Anklang und Zuspruch finden und Reformen initiieren beziehungsweise vor allem ein reformfreundliches Klima evozieren. Rabbinerversammlungen fungieren, Geigers Ideen entsprechend, als Institutionen professioneller Reflexion, als Foren sowie als Netzwerke für Rabbiner und dienen letztlich auch der Fortbildung ihrer Teilnehmer. Geigers konzeptionelle Vorstellung der Rabbinerversammlung als eine Orientierungsgröße mit handlungsleitendem Gepräge kann auch als weitestgehend realisiert betrachtet werden, wenngleich das Ausmaß der Wirksamkeit durchaus strittig ist. So muss eingeräumt werden, dass sich nur ein Teil des Judentums mit den Ideen der Zusammenkünfte identifiziert, mit ihnen konform geht und sie daher umzusetzen sucht, sie aber auch heftiger Kritik ausgesetzt sind. Die Versammlungen können demnach nicht als Institutionen des gesamten Judentums verstanden werden. Sie repräsentieren nur das Reformjudentum und selbst das nicht in corpore und offenbaren vielfach unüberbrückbare Differenzen. Geigers Ideal eines Bündnisses reformorientierter Rabbiner, die sich auf ein Reformprogramm einigen und dieses in den öffentlichen Diskurs einspeisen, kann sich folglich nicht uneingeschränkt durchsetzen. Demnach ist Geigers selbst angebrachter Einwand des eingeschränkten Wirkungskreises berechtigt. Es gelingt überdies nicht, die Rabbinerversammlung als eine feste Institution im gegenwärtigen Judentum zu etablieren, was beispielsweise die lange Pause zwischen der Breslauer und der Kassler Veranstaltung sowie das gänzliche Ende mit Letzterer zeigen. Die Rabbinerversammlung gewinnt keinen festen Platz in der öffentlichen Diskussion und avanciert nicht zur legitimierten Ansprechpartnerin in Reformfragen, was zum Teil auch mit widrigen äußeren Bedingungen zusammenhängt. Bei allen aufgezeigten Einschränkungen kann zusammenfassend dennoch festgehalten werden, dass sowohl die Rabbiner, als ‚Agenten‘ der Reform, als auch ihre Großorganisationen, als Institutionen der professionellen Reflexion, den Reformprozess des Judentums im 19. Jahrhundert nachhaltig prägen, indem sie die praktische Umsetzung von Reformen unterstützen, realisieren und als ausführende Organe der Wissenschaft des Judentums wirkmächtig sind. Geigers Konzeptionen können größtenteils, das heißt mit gewissen Modi109 Diese Einschätzung wird von Meyer geteilt, sodass Geigers Auffassung dem historischen Tatbestand sehr nahe zu kommen scheint (vgl. Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, 175).

Methodik der Wissenschaft des Judentums123 fikationen und Abstrichen, ihre Verwirklichung finden. Dadurch wird deutlich, welche weit reichende Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess zukommt und wie wichtig daher ihre institutionelle Etablierung ist.110

3. Methodik der Wissenschaft des Judentums Geigers grundlegendes Bestreben besteht darin, die Wissenschaft des Judentums als eine Geisteswissenschaft zu etablieren und damit den anderen Disziplinen, die mit Gegenständen der humanen Kulturgeschichte befasst sind, gleichzustellen. Dafür erscheint es ihm notwendig, die Wissenschaft des Judentums als ein einheitliches methodisches Gebilde zu entwerfen, das durch Anwendung klarer methodischer Grundsätze planmäßig und für andere Menschen nachvollziehbar Erkenntnisse zu Tage fördert. Dahinter steht die Einsicht, dass alle geistigen Reflexions-, Aneignungs- und Anwendungsprozesse durch wissenschaftliche Methoden und Regeln strukturiert werden können, von denen der Wissenschaftler Gebrauch macht, um seine Untersuchungsgegenstände sachgerecht erschließen und beschreiben zu können. Der spezifische Ansatz von Geiger wird durch folgendes Zitat charakterisiert: „Geschichte und Kritik […] ist daher die vorzüglichste wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart […]“ (ETh 27).111 Geigers Methodik spannt sich demgemäß zwischen den beiden Polen „Geschichte“ und „Kritik“ auf und kann daher als historisch-kritisch gedeutet werden. Man nähert sich also hinterfragend auf der Basis allgemein nachvollziehbarer Kriterien dem Untersuchungsgegenstand, welcher im Kontext seiner geschichtlichen Entwicklung betrachtet und hinsichtlich seiner historischen Bedeutung beleuchtet wird. Die historisch-kritische Methode versteht ihren Untersuchungsgegenstand als historischen Sachverhalt und analysiert ihn mit dem gleichen Instrumentarium, das auch von anderen Wissenschaften, wie beispielsweise den philologischen und historischen, verwendet wird. Die historisch-kritische Auslegung setzt sich zum Ziel, den Forschungsgegenstand geschichtlich zu verstehen, das heißt die 110 Philipson kommt in seinem abschließenden Kommentar zu einer ähnlichen Einschätzung und schreibt: „The rabbinical conferences of 1844, 1845, and 1846 will remain for all times among the most remarkable gatherings in the history of Judaism. […] this much may be said, that of all the eraly results of the reform movement the rabbincal conferences of the fifth decade have gone down into history as the most characteristic expression of that task at which the present generation is still laboring, viz. the interpretation of the principles of Judaism in light of modern conditions and the garbing of its eternal truths in expressions and institutions that are of the age and generation […]“ (Philipson, The reform movement in judaism, 224). 111 Geiger verwendet auch die Begriffe „geschichtliche Kritik“ (EbS 134) sowie „geschichtliche[ ] und kritische[ ] Grundsätze[ ]“ (ETh 20) und beschreibt das „System“ einmal auch als „historisch-kritisch[ ]“ (AJG 266).

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historischen Umstände der Genese, die Aussageintention und die Relevanz in der Situation der Entstehung, die historische Stimmigkeit und die Entwicklung des Forschungsgegenstandes zu untersuchen. Im Folgenden werden zunächst verschiedene Begründungsdimensionen des historisch-kritischen Ansatzes aufgezeigt, sodann dessen zentrales Anwendungsgebiet erhellt und abschließend die einzelnen Methodenschritte beschrieben. Der historisch-kritische Ansatz hat bei Geiger einen prinzipiellen Stellenwert innerhalb der Wissenschaft des Judentums, infolgedessen er als ihr Herzstück gedeutet werden kann. In Geigers Argumentation lassen sich mehrere Hinsichten ermitteln, die begründen, warum gerade die historisch-kritische Perspektive die Methodik der Wissenschaft des Judentums bestimmt, und dadurch offen legen, auf welchen Prinzipien sie fußt. Folgende Äußerung Geigers kann als erster Erklärungsversuch herangezogen werden: „Als Bestandtheil einer Wissenschaft des Judenthums, muss sich aber die Behandlung des geschichtlichen Inhalts allen Gesetzen unterwerfen, welche überhaupt die Geschichte als Wissenschaft anerkennt […]“ (EWdJ 62). Die Analyse historischer Forschungsgegenstände muss nach legitimierten, in anderen Wissenschaften anerkannten Prinzipien erfolgen, um dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden. Das bedeutet, dass die Untersuchung nach allgemein einsichtigen, überprüfbaren, logischen Regeln abläuft und gängige Fragestellungen und Arbeitsweisen integriert. Dem Eindruck von willkürlichem, unsystematischem, spontanem oder gar zufälligem Betrachten wird dezidiert entgegengewirkt und überdies der Vorstellung, dass das Studium einer religiösen Verpflichtung geschuldet sei. Die Wissenschaft des Judentums bedient sich vielmehr standardisierter Kategorien, also der „Prüfungsmittel, welche die niedre und höhere Kritik bietet“ (FacI 4)112, um die Untersuchungsgegenstände zu durchleuchten und objektive, diskutier- und korrigierbare Erkenntnisse zu eruieren. Die historisch-kritische Methode impliziert verschiedene Fragestellungen und Lesehinsichten, die sich in unterschiedlichen Methodenschritten ausdrücken. Der methodische Ansatz folgt demnach rationalen Maximen, speist die Wissenschaft des Judentums dadurch in die allgemeine intellektuelle Sphäre und damit auch in die Ebene des wissenschaftlichen Diskurses ein. Eine zweite Begründung für die methodische Konzeption liefert folgende Äußerung, die den Zusammenhang zwischen historischem Kontext, der Ausprägung von Ideen und ihrer literarischen Darstellung aufmacht: „Dem ächten Kritiker enthüllt sich das geistige Leben der Zeiten in seiner Entwickelung, das 112 Der Ausdruck „niedre und höhere Kritik“ erscheint als terminus technicus, der keinerlei nähere Explikation erfährt, was darauf hindeutet, dass Geiger über fundierte Kenntnisse im Bereich der Hermeneutik verfügt und dieses Wissen wie selbstverständlich in seine methodische Konzeption integriert.

Methodik der Wissenschaft des Judentums125 Treiben der Ideen und Bestrebungen, welches auch die literarischen Produkte erzeugt und ihnen die bestimmte Färbung giebt. Er wird nicht von der Angst befallen, er möchte durch die kritische Zersetzung auch die edlen Theile verletzen, er geht vielmehr vom Geiste aus, der die Werke beseelt, und nach seinen Phasen wird er auch die verschiedenen Schichten erkennen“ (TSK 283). Die geistige Entwicklung des Judentums wird demnach vorausgesetzt und damit einhergehend dessen Sein als historische Größe anerkannt. Daraus resultiert, dass sich der jüdische Geist im Laufe der Zeit verändert und seine unterschiedlichen Gestaltungsformen unter anderem Ausdruck in der Literatur, selbst eine spezifische Ausprägung des humanen Geistes, finden. Die einzelnen geschichtlichen Epochen des Judentums gehen demzufolge einher mit unterschiedlichen ideellen Gesinnungen, die sich wiederum in verschiedenen literarischen Ausdrucksarten niederschlagen, was den engen Nexus zwischen Äußerem und Inneren beziehungsweise Kontext und Idee zum Ausdruck bringt und den historisch-kritischen Ansatz rechtfertigt.113 Denn Geiger betont dabei, dass sich der jüdische Geist in Wechselwirkung zum historischen Umfeld entwickelt, dieses also eine prägende Einflussgröße ist. Sollen jüdische Wahrheiten erkannt und dargestellt werden, müssen auch die kontextuellen Bedingungen berücksichtigt werden, da sie wichtige Deutungsgrößen sind.114 Mittels der Kritik gilt es also, den Geist des Judentums in seiner genuin eigenen Perspektive freizulegen, das heißt, seine unterschiedlichen Entwicklungsstufen und seine Interdependenz mit der Umwelt zu eruieren und zwar unter Bezugnahme auf das historische Umfeld und auf Basis literarischer Texte, da sich in ihnen der Geist verdichtet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass fundiertes Wissen um den geistesgeschichtlichen Horizont einer Zeit, einschließlich der Kenntnis zentraler politischer und gesellschaftlicher Ereignisse, eine sachgerechte Auslegung eines Sachverhaltes befördert und dadurch den Erkenntnisfortschritt unterstützt.115 Geiger kommt zu einer innovativen Einsicht, die ebenfalls eine historisch-kritische Zugriffsweise, und zwar auf die heiligen Schriften, begründet: „Schon zu jener Zeit nämlich wurde mir klar, dass ebenso wie der Geist des Thalmud von 113 Vgl. Geigers Einteilung der jüdischen Geschichte in die „biblische Theologie“, die „nachbiblische und rabbinisch-thalmudische Theologie“ und die „neuere Theologie“, wie er sie in seiner Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie entfaltet (ETh 9). Vgl. Kapitel 4.1.2 des I. Hauptteils: „Der historische Theil“. 114 Geiger schreibt dazu: „Zu keiner Zeit tritt irgend ein Gedanke ganz rein auf, seine Aeusserungen, selbst wenn sie zumeist aus ihm herauswachsen, sind doch von der Umgebung beeinflusst; um ihn möglichst rein zu erkennen, muss er nach der Totalität seiner Aeusserungen erkannt und geprüft werden, damit sich ergebe, welches sein wahrer Inhalt, welche Aeusseung die am engsten sich ihm anschliessende, die ihm adäquateste ist“ (ETh 9). 115 Vgl. Kapitel 2.1 des I. Hauptteils: Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis im Reformprozess.

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dem der Bibel ganz verschieden ist, auch die beiden Theile des Thalmud, Mischnah und Gemara, weit von einander entfernt sind.“116 Die Bibel, die Mischnah und die Gemara spiegeln demgemäß je eine Stufe des jüdischen Geistes, der eine Entwicklung durchläuft, wider. Aus dem Fortschritt der Geschichte kann geschlussfolgert werden, dass sich auch die literarischen Produkte respektive ihre einzelnen Bestandteile in ihrem jeweiligen Gepräge voneinander unterscheiden, eben weil sie Ausdruck einer besonderen Zeit sind, das heißt in einer bestimmten Zeit und für eine bestimmte Zeit verfasst sind. Denn literarische Konstruktionen, und damit auch die Bibel und der Talmud, spiegeln stets den Geist ihrer Verfasser und ihres äußeren Umfeldes wider und weisen dadurch ein für sie charakteristisches Profil auf. Eben weil es sich um historische Größen handelt, zeigt ihr Gepräge Variationen auf und ist kein in sich geschlossenes Ganzes. Die historisch-kritische Auslegung deckt somit den Geist des Judentums in seiner Vielfalt auf. Geiger betont also sowohl die Historizität als auch die Literarizität der heiligen Schriften, distanziert sich so von der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit und rechtfertigt dadurch die historisch-kritische Ausrichtung der Schriftauslegung. Sein Opus Magnum Urschrift und Übersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der inneren Entwickelung des Judenthums (1857)117 fungiert als Manifest der historisch-kritischen Bibelexegese und sogleich als deren ausdruckstarke Legitimation, indem es alle bereits dargelegten Begründungsdimensionen in sich vereint und das Anwendungsgebiet der historisch-kritischen Auslegung aufzeigt. Geiger korreliert in seinem Werk, wie der Titel schon zu erkennen gibt, die Geschichte des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels mit dem Bibeltext und dessen Historie. Er verbindet demgemäß religionsgeschichtliche mit textgeschichtlichen Überlegungen. Die zentrale These lautet dabei, dass ein enger und gleichzeitig produktiver Nexus zwischen der Entwicklung des Judentums, das heißt im Speziellen der Herausbildung der Parteien der Pharisäer und Sadduzäer, nach Geiger also der Festigung des Gegensatzes zwischen demokratischem Bürgertum und priesterlicher Aristokratie, und der Geschichte des Bibeltextes einschließlich des Übergangs zum Talmud besteht, was sich wiederum auf den methodischen Ansatz auswirkt, mit dem Bibel beziehungsweise Talmud ausgelegt wird. Einzig die historisch-kritische Methode vermag dieser Beziehung gerecht zu werden, indem sie sie zur Deutungsgrundlage erhebt, wie folgende Äußerung andeutet: „Die Untersuchung über die innere Entwickelung des Judenthums wird uns der sicherste Wegweiser sein, und sie wird ebensowohl zur Aufhellung der 116 Tagebucheintrag Geigers aus dem Jahre 1830, in: S 5, 13. Er kommt zu einer weiteren Erkenntnis: „Denn wie der Geist beider Werke, so ist auch ihre Sprache verschieden […]“ (a. a. O., 14). 117 Vgl. dazu: Perles, Der Gelehrte; Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Heschel würdigt Geigers Urschrift als „eines der großen, klassischen Werke der Wissenschaft des Judentums“ (a. a. O., 179).

Methodik der Wissenschaft des Judentums127 Geschichte des Bibeltextes und der Uebersetzungen beitragen, wie sie selbst von der Betrachtung dieser Geschichte Licht empfangen wird“ (UUe 19).118 Um den (Bibel)Text tiefgründig verstehen und seine Entwicklungsgeschichte nachvollziehen zu können, gilt es demzufolge, ihn in die historische Situation seiner Entstehung einzuordnen, das heißt also, Bezüge zu geschichtlichen Ereignissen und soziokulturellen Bedingungen aufzudecken und das geistige Klima zu vergegenwärtigen.119 Geigers Begründungshinsichten der historisch-kritischen Auslegung lassen sich wie folgt bündeln: Mittels des historisch-kritischen Ansatzes kann der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit formuliert und die Wissenschaft des Judentums in das System der Wissenschaften eingespeist werden. Darüber hinaus kann durch eine historisch-kritische Auslegung der Geist des Judentums in seiner genuin eigenen Perspektive freigelegt werden, das heißt also, der jüdische Geist in seiner Entwicklung, in seiner Vielfalt und in seiner jeweiligen Wechselwirkung mit der Umwelt aufgedeckt werden. Zentrales Anwendungsgebiet des historisch-kritischen Ansatzes ist bei Geiger demnach die Bibelexegese, also die Schriftauslegung.120 Folgende Äußerung kann als eine weitere Begründung für ihre historisch-kritische Ausrichtung gedeutet werden: „Die höhere Blüthe der jüdischen Theologie würde sich in einer wissenschaftlichen biblischen Exegese und einer gesunden biblischen Kritik entfalten“ (LkÜ 114).121 Die Wissenschaft des Judentums verlangt also qua Selbstverständnis nach der Bibelkritik, weil diese ihr Kern, also daseinskonstituierender Bestandteil, ist. Die Bibel muss aus jüdischer Perspektive mit wissenschaftlichen Methoden bearbeitet werden, um der christlichen Auslegungsdominanz entgegentreten zu können und eine genuine Interpretation aus dem Geist des Judentums, die sich auf allgemeine und damit anerkannte Kriterien stützt, vorliegen zu haben, welche zur Grundlage der Wissenschaft des Judentums und einer erneuer118 Geiger führt dazu weiter aus: „[…] das Leben des Volkes, aus dem die biblischen Bücher hervorgewachsen sind, muß erkannt, der Geist, in dem es zu verschiedenen Zeiten dieselben aus sich hervorgearbeitet, erfasst werden“ (NF 253). 119 Vgl. Kapitel 2.1 des I. Hauptteils: Historisch: Die Bedeutung der geschichtlichen Erkenntnis im Reformprozess. 120 Vgl. zu Geigers Bibelkritik: Bechtoldt, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, 195–288. 121 Geiger konkretisiert seine Vorstellung der Bibelkritik in folgender Weise: „Zuerst tritt die Thatsache der Offenbarung hervor, die bewiesen, begreiflich gemacht werden soll; der philosophische und geschichtliche Beweis der besondern biblischen Offenbarung soll folgen; eine Erkenntniß des Inhaltes und Gehaltes, im Ganzen und im Einzelnen, dieser biblischen Schriften, vermittelt durch das Verständniß der Sprache, der Anschauungsweise der biblischen Schriftsteller, durch die Prüfungsmittel, welche die niedre und höhere Kritik bietet, schließt sich an; hieraus soll erst der Gesammtüberblick und die Erfassung des in der Bibel zerstreuten Glaubensstoffes, als eines Ganzen, nach seiner Gliederung und seinem Zusammenhange, gewonnen werden“ (FacI 3f).

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ten Frömmigkeitspraxis gemacht werden kann.122 Dieses kontrovers-theologische Argument rechtfertigt neben der bereits dargelegten Literarizität und Historizität der Bibel eine historische Rückbindung der Auslegung. Folglich müssen bibelkritische Arbeiten zu einem zentralen Bestandteil der Wissenschaft des Judentums werden, da sie ihr Fundament bilden, die Wissenschaft des Judentums also ausmachen und sich diese nur so verwirklichen und entwickeln kann.123 Dieses Programm hat Geiger selbst umgesetzt.124 Seine Vorlesungen Einleitung in die biblischen Schriften dienen dabei als Beispiel. Hier untersucht er den biblischen Text historisch-kritisch und will so dessen wissenschaftliche Behandlung aus jüdischer Sicht realisieren. Die Vorlesungen analysieren den Bibeltext inklusive seiner Lesarten, thematisieren die verschiedenen Übersetzungen, die Entstehungs- und Textgeschichte, schließen also auch zahlreiche philologische Beobachtungen ein und suchen den Bibeltext aus seiner historischen Situation heraus zu deuten (vgl. EbS 4f). Dementsprechend legt Geiger dar, dass seine eigenen Forschungen von der „biblischen Kritik“125 bestimmt sind. Er spricht sich folglich nicht nur auf theoretischer Ebene für die Bibelkritik aus, sondern integriert sie in seine eigenen Forschungen, was zur Folge hat, dass sie nahezu zum Leitparadigma seiner Arbeit avanciert und die traditionelle Form der Schriftauslegung ablöst. Gleichwohl muss berücksichtigt werden, dass die Bibelforschung nicht das Hauptarbeitsgebiet Geigers ist, was seine Veröffentlichungen widerspiegeln.126 So schreibt er beispielsweise keinen Bibelkommentar. Geiger 122 Die kontrovers-theologische Perspektive spiegelt sich auch in folgender Äußerung wider: „Jene Willkür-Herrschaft, die christliche Exegese und Kritik üben bei unleugbar großen Verdiensten, hat Bestand, solange sie von jüdischer Seite ignorirt wird; man wird vom Ignoriren denn doch einmal abgehen und durch geistige Freiheit und Sicherheit den Herrscherstab erringen“ (LkÜ 114). Vgl. dazu: HaCohen, Reclaiming the Hebrew Bible. 123 Sarna kommt daher zu folgender Erkenntnis: „Perhaps his greatest achievement in the field was to reclaim biblical studies as the legitimate concern of Jewish scholarship“ (Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship, 27). 124 Vgl. Perles, Der Gelehrte. 125 Brief Geigers an Michael Creizenach vom 18. Januar 1838, in: S 5, 103. Vgl. auch: Geiger, Bibelkritisches. 126 Geigers Veröffentlichungen im Bereich der Bibelkritik, die in seinem Oeuvre einen vergleichsweise kleinen Raum einnehmen, enthalten vornehmlich bibelkritische Reflexionen auf einer Metaebene im Sinne von programmatischen Äußerungen, beinhalten aber auch bibelkritische Erkenntnisse, wobei Letztere in der Minderzahl sind (vgl. zu programmatischen Reflexionen beispielsweise: Geiger, Der Talmud als bibelkritisches Hilfsmittel; ders., Kritische Behandlung der biblischen Schriften; ders., Literarisch-kritische Uebersicht; vgl. Geigers bibelkritische Studien: ders., Einleitung in die biblischen Schriften; ders., Urschrift). Sarna liefert eine überzeugende Begründung für Geigers Zurückhaltung, insofern er schreibt: „If we wonder, then, why Geiger neglected the study of Pentateuch, the answer is not embarrassment or cowardice, but that Protestant scholars had already largely preempted the field and had produced the conclusions he needed“ (Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship, 23).

Methodik der Wissenschaft des Judentums129 konstatiert eine allgemeine Hinwendung zur Bibelkritik im Bereich der Wissenschaft des Judentums, wenn er ausführt: „[…] die biblische Kritik hat ihr altes Bürgerrecht im Judenthum wieder gewonnen und wird in ihm glücklicher geübt werden, weil sie nun Heimathsluft athmet, nicht fremdartige Anschauungen sich fügen, sondern dem innersten Triebe des Wachsthums nachgehen soll“ (BA 3). Gleichzeitig räumt er jedoch auch ein: „Uebrigens habe ich mich in der Ueberzeugung befestigt, dass wir in der biblischen Kritik noch sehr zurück sind, dass die erreichten Resultate noch sehr wenig zuverlässig sind und die Methode, mit der man zu Werke geht, nicht ausreichend ist, zum Theile von ganz grundlosen Voraussetzungen ausgehend.“127 Geigers Äußerungen können dahingehend gedeutet werden, dass es eine Tradition der Bibelexegese innerhalb des Judentums gibt, diese jedoch nicht den gegenwärtigen Vorstellungen und dem Postulat der Wissenschaftlichkeit gerecht wird.128 Jüdische Auslegungen des Bibeltextes existieren demnach, entbehren aber unter anderem der historisch-kritischen Perspektive und entstammen vornehmlich längst vergangenen Epochen. Zur Zeit Geigers hat die historisch-kritisch bestimmte Bibelexegese erstmalig Eingang in die jüdische Kultur der Schriftauslegung gefunden, wenngleich sich ihre Ausprägung und ihre Ausbreitung noch in einem Anfangsstadium befinden.129 So stellt sich der Eindruck ein, dass sich das Judentum gegenüber den neuen methodischen Prinzipien, hier in Gestalt der Bibelkritik, geöffnet hat und einige Theologen sich dieser schon bedienen, sie aber noch nicht zur vollends anerkannten Auslegungsnorm avanciert sind, sondern vielmehr Grund zahlreicher Diskussionen sind.130 Denn die Praxis der Schriftauslegung verdeutlicht beziehungsweise konstituiert vor allem aufgrund ihres Nexus zum Offenbarungs- und Schriftverständnis die 127 Brief Geigers an Theodor Nöldeke vom 13. Juli 1874, in: S 5, 364. Er stellt weiterhin heraus, „dass wir namentlich beim Pentateuch noch sehr unsicher umhertasten […]“ (ebd.). 128 Vgl. exemplarisch: ETh 14 f. Geiger konstatiert beispielsweise: „Mit Mendelssohn tritt […] eine neue Epoche ein, die den Missbrauch beseitigen und der Geschmacklosigkeit steuern will, ohne aber zur Wissenschaftlichkeit sich zu erheben“ (ETh 15). 129 Wiese konstatiert daher rückblickend: „[…] doch eine der modernen historisch-kritischen Bibelforschung parallele jüdische Erscheinung hat es bis zum Ersten Weltkrieg nicht einmal in Ansätzen gegeben“ (Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 180). Er spricht daher auch von einer „marginale[n] Rolle der Bibelforschung im Rahmen der Wissenschaft des Judentums“ (a. a. O., 232). Daraus kann geschlussfolgert werden, dass auch Geigers Bemühungen auf dem Feld der Bibelkritik bei aller Würdigung und Anerkennung keine weit reichenden Konsequenzen hatten. Vgl. zur jüdischen Bibelwissenschaft beziehungsweise zur jüdischen Auseinandersetzung mit der modernen Bibelkritik Wieses Kapitel „Die jüdische Wahrnehmung der protestantischen Erforschung und Bewertung der hebräischen Bibel 1900–1914“ (vgl. a. a. O., 179–237), in dem er besonders die Leistungen Benno Jacobs und Max Wieners würdigt. 130 Sarna geht noch weiter und stellt heraus: „[…] the Jewish scholarship of Geiger’s time generally avoided biblical studies“ (Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship, 20).

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unterschiedlichen Positionen innerhalb des Judentums und stabilisiert die sich abzeichnende Verhärtung der Fronten.131 Geiger vertritt mit seinem Plädoyer für die Bibelkritik einen innovativen Standpunkt innerhalb des Judentums, da er die Offenbarung mit wissenschaftlicher, das heißt rationaler Methode bearbeitet, sie also gegenüber kritischen Anfragen öffnet und die jüdischen Wahrheiten dadurch auf eine objektivier- und diskutierbare Ebene hebt.132 Die in der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit undenkbare Verbindung von Offenbarung und Beweis133 wird von Geiger zum methodischen Muss, ja zu einer Selbstverständlichkeit, deklariert und dadurch in den Kanon wissenschaftlichen Arbeitens integriert. Wissenschaftlichkeit, also Vernunft, und Glauben schließen einander somit nicht aus, sondern können in eine produktive Relation gebracht werden. Offenbarung und Historizität respektive Literarizität widersprechen einander ebenfalls nicht, sondern werden von Geiger aufeinander bezogen und miteinander verzahnt. Kann Geigers engagiertes Eintreten für die Bibelkritik innovativ genannt werden, verdient die generelle Gewichtung der Bibel dieses Prädikat noch viel mehr. Geiger gewährt der wissenschaftlichen Untersuchung der Offenbarung großen Raum und setzt sie über die Analyse der Überlieferung, was ihn deutlich von der traditionellen Position entfernt, die den Talmud in das Zentrum jeglicher Auseinandersetzung stellt (vgl. FacI 4). Obgleich die Bibel als Grundlage der jüdischen Religion und Kultur fungiert, stand über Generationen hinweg der Talmud im Zentrum der Gelehrsamkeit und Frömmigkeitspraxis. Die Bibel wurde vermittelt durch die mündliche Tora gelesen und ausgelegt.134 Geiger plädiert mit seinem Ansatz für einen direkten Zugang zur Bibel und räumt ihr dadurch wieder ihre ursprüngliche Zentralstellung ein. Er kommt zu folgender Erkenntnis: „Soviel steht fest: der Thalmud ist mit Nichten die Wissenschaft des Judenthums, oder überwiegend und spezifisch dieselbe enthaltend, aber er ist ein bedeutsames historisches Document […], aber freilich muss er noch mit 131 So greift beispielsweise auch Frankel auf einen historisch-kritischen Ansatz zurück, wendet diesen jedoch nicht auf die Bibel, sondern ausschließlich auf den Talmud an. Das orthodoxe Judentum steht dem historisch-kritischen Schriftstudium grundsätzlich kritisch gegenüber und lehnt es in der Regel sogar ganz ab (vgl. Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 36; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 75). 132 Sarna kommt daher zu der Erkenntnis: „He was the first Jewish scholar to incorporate the modern systematic study of biblical books within the program of Jüdische Wissenschaft […]“ (Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship, 22). 133 Denn Geiger legt dar: „Zuerst tritt die Thatsache der Offenbarung hervor, die bewiesen, begreiflich gemacht werden soll […]“ (FacI 3). 134 Vgl. zur talmudischen Schriftauslegung: Geiger, Das Verhältnis des natürlichen Schriftsinns zur thalmudischen Schriftdeutung. Geiger beschreibt in seinem Artikel Der Thalmud als bibelkritisches Hülfsmittel jedoch auch den Gewinn, der sich aus dem Talmud für eine kritische Bibelforschung ergeben kann.

Methodik der Wissenschaft des Judentums131 der Fackel der Kritik beleuchtet werden“ (EWdJ 127). Geiger würdigt zwar die Bedeutung des Talmuds, wendet sich jedoch gegen seine Vormachtstellung, die er innerhalb der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit einnimmt. Geiger lehnt die Gleichsetzung von Talmud und Wissenschaft des Judentums konsequent ab. Das heißt also, dass der Talmud angesichts seines historischen Stellenwertes heranzuziehen ist, er jedoch eine Quelle neben anderen ist und ihm keine Sonderrolle zukommt. Die von Geiger intendierte Zurückstufung des Talmuds wird als innerjüdische Traditionskritik wirksam und führt zu einem endgültigen Bruch mit dem traditionalen Wissenschaftsbegriff. Soll der Talmud zu einem verlässlichen Zeugnis für die Wissenschaft des Judentums werden, muss er historisch-kritisch beleuchtet werden und sich den entsprechenden wissenschaftlichen Prinzipien öffnen. Denn Geiger fasst auch den Talmud als ein geschichtlich gewachsenes Gebilde auf, geht also von einem Entwicklungsprozess aus, welcher in Abhängigkeit zu den kontextuellen Umständen abläuft, der mit verschiedenen Text- und Bearbeitungsschichten einhergeht, die es kritisch zu ermitteln gilt. Auch der Talmud muss demnach aus seinem historischen Umfeld heraus verstanden werden. Seine Bedeutung zur Zeit seiner Entstehung, aber auch seine Wirkungsgeschichte gilt es zu erarbeiten, um ihm in Gänze gerecht werden zu können.135 Die kritische Durchdringung des Talmuds, die auf die Gewinnung von objektiven Erkenntnissen abzielt, kann als ein Novum innerhalb der jüdischen Gelehrsamkeit betrachtet werden. Denn der Talmud fungierte stets als die nicht-hinterfragbare Autorität der jüdischen Frömmigkeitspraxis, was eine Analyse auf Grundlage der Vernunft a priori ausschloss.136 Die historisch-kritische (Bibel)Exegese macht das bereits angedeutete Beziehungsgeflecht zwischen Text und Umgebung für den Interpretationsprozess fruchtbar, insofern sie versucht, den Text in seine historische Entstehungssituation einzuordnen, die Textgeschichte zu enthüllen und die implizierten Motive und Traditionen zu erklären. Dies geschieht in strukturierter und standardisierter Weise und verdichtet sich in verschiedenen Methodenschritten, die von Geiger selbst jedoch nicht systematisiert und mit den entsprechenden, im protestanti135 Geiger führt dazu näher aus: „[…] man möchte ihm [dem Thalmud] auch gerne in seinen Wegen und seinen Schlüssen nachgehn; man will nicht blos Einzelnes wissen, was in ihm enthalten ist, man will ihn nach Gültigkeit, Entstehn, und Gestalt kennen“ (FacI 3f). 136 Geiger stellt daher fest: „Der Thalmud ist bis jetzt weder sprachlich noch methodologisch genügend nach den Anforderungen der Wissenschaft behandelt [worden]“ (EWdJ 128; vgl. dazu auch: FacI 10; PAM 474). Daher kommt er zu der Erkenntnis, dass „die wissenschaftliche Erfassung des Thalmuds noch in ihrer Kindheit ist“ (LkÜ 114). Im Artikel Literarisch-kritische Uebersicht gibt Geiger einen Forschungsüberblick und konstatiert einen Forschungsnotstand (vgl. LkÜ 110–113). Vgl. zu Geigers Leistungen auf dem Gebiet der Talmudforschung: Weiss, Abraham Geiger and Talmud Criticism.

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schen Kontext geläufigen, Termini versehen werden.137 Der erste Methodenschritt der Auslegung kann in folgender Weise beschrieben werden: „Die Erklärungskunst setzt voraus die Feststellung des richtigen Textes. Trotz der Sorgfalt, welche zu allen Zeiten auf Reinerhaltung des Textes verwendet wurde, sind offenbar Fehler in denselben eingedrungen […]“ (ETh 13).138 Der eigentlichen, also inhaltlichen Auslegung eines Textes geht die textkritische Analyse voran, die auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Textes abzielt und damit das Material, welches letztlich interpretiert wird, zur Verfügung stellt.139 Denn die Texte selbst weisen einen Entwicklungsprozess auf, da sie historische Größen sind, die sich in Abhängigkeit zum zeitgeschichtlichen Kontext entfaltet und durch den Überlieferungsprozess hindurch verändert haben, und daher einer kritischen Betrachtung bedürfen. Das bedeutet, dass zunächst die Textgeschichte erhellt werden muss, indem die unterschiedlichen Textzeugen und -überlieferungen miteinander verglichen und daraus folgend die verschiedenen Lesarten eruiert werden. Das heißt, dass die Handschriften und Übersetzungen, also die unterschiedlichen Textvarianten, einander gegenüber gestellt werden, um sich dadurch dem Urtext nähern zu können.140 Absichtliche, aber auch unabsichtliche Korrekturen und Veränderungen werden ermittelt und erläutert, und zwar unter Bezugnahme auf die historischen Bedingungen, welche die Änderungen initiiert haben. Die

137 Im Hinblick auf die protestantische Theologie kann konstatiert werden: „Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen der Durchsetzung der hist.-krit. E[exegese]“ (Smend, Art. Exegese, 1789). 138 Geiger legt außerdem dar: „Für die Feststellung des Textes ist wenig Gediegenes geleistet worden, und der Text hat sich im Laufe der Zeit meist sehr verschlechtert. Selbst die Mischnah, der Grundtext, leidet unter diesem Uebelstande. An einigen Stellen finden sich zwei verschiedene Recensionen in Jeruschalmi und Babli, die aus der Berichtigung in denselben fliessen. Im Allgemeinen jedoch ist die abweichende Lesart der jerusal. Gemara die ursprüngliche, wenn nur diese nicht so fehler- und lückenhaft wäre. Missverständnisse haben die merkwürdigsten Fehler hineingebracht, welche nur durch die Benutzung alter Handschriften, die kaum noch berücksichtigt worden –, alter Schriften, besonders des Aruch, da die Commentare mit corrumpirt wurden, ermittelt werden können“ (ETh 18). 139 Geiger schreibt dazu weiterhin: „Um ein Urtheil über den Charakter der Bücher zu gewinnen, muss sie [die Einleitung der Vorlesungen] möglichst sich erst des richtigen, ursprünglichen Textes zu bemächtigen suchen. Sie wird daher zunächst den Text, so weit er urkundlich zu verfolgen ist, behandeln und die Anleitung zu dessen Feststellung geben“ (EbS 4). 140 Geiger stellt heraus, dass es „[…] gilt, den Abschluß unserer biblischen Texte zu controliren, die Lesarten abzuwägen, die wir als ursprünglich in ihnen feststellen dürfen, die Richtigkeit des uns überlieferten Textes zu prüfen“ (NF 255). In den Vorlesungen Einleitung in die biblischen Schriften entfaltet Geiger, welche Textvarianten einander gegenüber gestellt werden müssen. Er konstatiert, dass man zunächst die „Massorah“, schließlich den „samaritanische[n] Pentateuch“ und die „assyrische oder babylonische Textesrecension“ und schlussendlich die „alten Uebersetzungen“ heranziehen solle (EbS 4).

Methodik der Wissenschaft des Judentums133 Frage nach den Voraussetzungen eines Textes muss Klärung finden.141 Geiger führt dazu erläuternd aus: „Die religiösen Vorstellungen, die im Volksleben sich geltend machten, haben ihren entscheidenden Einfluß auf die Wahl der Lesarten, auf deren Umgestaltung geübt, und so wird das Anhören aller Zeugen und Vergleichung ihrer Zeugnisse uns an den meisten Orten ebenso wohl die ursprüngliche Lesart wie die Veranlassung zu ihrer Umänderung bei dem Einen oder dem Anderen erkennen lassen“ (NF 256).142 Um nachvollziehen zu können, wieso es zu Umbildungen, Tilgungen und Ergänzungen innerhalb des Textbestandes gekommen ist, müssen demgemäß auch das Frömmigkeitsleben und die verbreitete Geisteshaltung beleuchtet werden, eben weil sie prägende Größen der Textgestaltung sind, daher wichtige Hinweise für die Textgeschichte liefern und so zu einem umfassenden Verständnis des Textes beitragen. Geiger charakterisiert diese grundlegende, das heißt allen vorausgehende Aufgabe wie folgt: „Im Allgemeinen wird dies jedoch mehr eine philologische als eine theologische Aufgabe sein“ (ETh 14). Die Ermittlung des vermeintlich ursprünglichen Textes, also die Arbeit der Textkritik, weist kein dezidiert theologisches Profil auf.143 Wenngleich textkritische Überlegungen die Basis jeglicher Auslegung bilden, weisen sie insgesamt eine eher nachrangige Bedeutung auf, eben weil sie keine theologische Abzweckung implizieren. Dennoch dürfen sie nicht vernachlässigt werden, da sie einen entscheidenden Beitrag zur Überlieferung leisten. Denn nur durch die Arbeiten, die der Textsicherung dienen, kann der Text über Generationen hinweg weitergegeben und die Tradition aufrechterhalten werden. Darüber hinaus kann nur auf Grundlage des ursprünglichen Textes unter Berücksichtigung seines Entwicklungsprozesses der wahre jüdische Geist ermittelt und zum Fundament der Frömmigkeitspraxis erhoben werden. Der sich anschließende Methodenschritt, für den in der protestantischen Bibelexegese keine Entsprechung und damit auch keine Bezeichnung gefunden werden 141 Geiger führt dazu aus: „Mit dem Einblicke in diese geschichtliche Bewegung wird es gelingen, die Veranlassungen zu erkennen, welche zu einem freieren Schalten mit dem Texte gedrängt hatten, und sich dem ursprünglichen Texte zu nähern, wie er, noch rein von diesen Einflüssen, gewesen“ (EbS 5). 142 Geiger geht ausführlicher darauf ein, wenn er schreibt: „Hieran knüpften sich wissenschaftliche Untersuchungen, Nachweisungen, wie zu allen Zeiten die jedesmaligen Bedürfnisse, die Lebenssitte und Anforderung Modificationen erzeugt habe, wie die Geschichte niemals ihr Recht aufgegeben habe, und deshalb nannte sich auch das System das historisch-kritische. Alle Schriften, welche als verbindliche auftreten, sind Urkunden vom Geiste des Judenthums“ (AJG 266). 143 Geiger verweist auf die Nähe zu anderen Disziplinen, wenn er schreibt: „Die Theologie steht auch in engem Zusammenhange mit dem äusseren Wechsel und der ganzen Bildungsstufe ihrer Bekenner: Geschichte und Literaturgeschichte sind daher nothwendige Hilfswissenschaften, und deren Hauptmomente dürfen nicht unbekannt bleiben“ (ETh 25).

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kann, lässt sich wie folgt charakterisieren: „[…] die Quellen müssen nach ihrer Authentie geprüft werden, sowohl ob sie echt sind, als auch, ob ihre Angaben zuverlässig sind, ob sie die volle Darlegung des wirklichen Thatbestandes enthalten oder ob sie ihn nach gewissen Anschauungen in eine Hülle gebracht haben, deren Kern wir erst vermöge der Erkenntniss dieser Anschauungen herausschälen können“ (EWdJ 62). Die Zeugnisse müssen also hinsichtlich ihrer Authentizität, ihrer Repräsentativität, ihres Wahrheitsgehaltes und ihrer historischen Stimmigkeit begutachtet werden. Es gilt demzufolge zu untersuchen, ob das Schriftstück tatsächlich als exemplarischer und wahrer Ausdruck des jüdischen Geistes fungiert und sich dadurch für eine ausführlichere Analyse qualifiziert. Mittels der historisch-kritischen Methode soll folglich die Legitimität der herangezogenen Schriften unter Beweis gestellt und dadurch der wissenschaftlichen Arbeit insgesamt Anerkennung verschafft werden. Denn nur auf der Grundlage verlässlicher Quellen können die jüdischen Wahrheiten eruiert und überzeugend dargestellt werden. Geiger betont abermals, dass die Wissenschaft des Judentums durch Objektivität, Selbstbestimmung und Sachbezogenheit gekennzeichnet ist, indem er unterstreicht: „Die Handhabung einer solchen wissenschaftlichen Kritik darf durch keine dogmatische Voraussetzung gestört werden“ (EWdJ 62). Wissenschaftliche Untersuchungen müssen demgemäß frei von jeglicher ideologischen Vorprägung sein, dürfen keinerlei positionelle Disposition beziehungsweise Verengung aufweisen. Der historisch-kritische Ansatz dient als adäquates Instrument ebendiese Forderung zu erfüllen und die geistige Freiheit und dogmatische Unvoreingenommenheit der Wissenschaft des Judentums zu gewährleisten und gleichzeitig auch zu präsentieren. Geiger plädiert demgemäß zwar für ein methodisch kontrolliertes Betrachten, weist jedoch jegliche Instrumentalisierung und Vereinnahmung des Untersuchungsgegenstandes zurück und macht sich daraus resultierend dafür stark, diesen selbst zu Wort kommen zu lassen. Es schließt sich die höhere Kritik an, die sich wiederum in mehrere Schritte ausdifferenziert und verschiedene Vermittlungsanstrengungen beinhaltet. Liegt der ursprüngliche Text beziehungsweise die älteste rekonstruierbare Textstufe vor, gilt es zunächst, die Gestalt näher zu betrachten und die literarischen Vorstufen zu ermitteln. Texte beinhalten häufig Spannungen, Widersprüche, Brüche und Dubletten, welche ihre Kohärenz sprengen. Die mangelnde Einheitlichkeit lässt sich damit erklären, dass ein Text im Laufe der Zeit bearbeitet und verändert wurde und demgemäß ein literarisches Wachstum aufweist. Literarkritische Untersuchungen setzen bei diesen inhaltlichen und sprachlichen Auffälligkeiten an und trachten danach, sie zu erklären, indem sie die Entstehungsgeschichte eines Textes, also die verschiedenen Textstufen, ermitteln und überdies die Verfasserfrage zu beantworten suchen. Dies erfolgt dadurch, dass die scheinbare

Methodik der Wissenschaft des Judentums135 strukturelle und semantische Stringenz eines Textes aufgebrochen wird.144 Die Kritik zergliedert den Text also in seine einzelnen Stränge, „geht naturgemäß in geistig chemischer Weise zu Werke“ (NF 252f), um so zu klären, ob der Text als ein einheitliches literarisches Produkt oder als ein Konglomerat verschiedener literarischer Elemente aufzufassen ist. Geiger konkretisiert diesen Schritt: „Dieser Auflösungsprozeß geht also den umgekehrten Weg, als den, welchen die geschichtliche Bildung durchgemacht hat; um diese zu erkennen, muß von der letzten verfestigenden Gestaltung ausgegangen, muß von dort aus in deren allmälige Herausbildung eingedrungen, müssen die mannichfach mitwirkenden Kräfte blosgelegt werden“ (NF 253). Die Literarkritik intendiert demgemäß die Rekonstruktion der schriftlichen Quellen eines Textes. In seinen eigenen literarbeziehungsweise quellenkritischen Arbeiten zum Pentateuch145 scheidet Geiger zwischen einem „israelitisch-efraimitischen Urbestandtheile“ und „judäische[n] Aufzeichnungen“ (KBbS 102) und konstatiert: „Diese Schichten sind allerdings getrennte Urkunden, die zusammengesetzt worden, und man hat längst diese Verschiedenheit der Urkunden erkannt […]“ (KBbS 103).146 Ebensolche Erkenntnisse sollen durch literarkritische Untersuchungen gewonnen, in den Auslegungsprozess integriert werden und die Deutung konstruktiv mitbestimmen.

144 Geiger stellt heraus: „Nun ging man an ein emsiges Bearbeiten und Gleichmachen der verschiedenen Bestandtheile; die Näthe sind sichtbar, aber die enge Zusammenstellung, die fachlich und schriftstellerisch nöthig scheinende Ergänzung wird rüstig von der Redaction vollzogen, und so steht das Werk, aus heterogenen Bestandtheilen zusammengesetzt, als ein einheitliches da. Das ist der Grundriß der Geschichte der hebräisch-israelitisch-judäischen Literatur nach ihren einzelnen Schichten. Diese Schichten sind allerdings getrennte Urkunden, die zusammengesetzt worden, und man hat längst diese Verschiedenheit der Urkunden erkannt […]“ (KBbS 103). 145 Vgl. Geigers Quellenscheidung in Jahwist und Elohist innerhalb der Genesis, die er äußerlich anhand der zwei Gottesnamen festmacht: EbS 223–237. Geiger bestimmt den Elohisten als die „ältere, erfraimitische Erzählung“ und den Jahwisten als die „jüngere, judäische“ (EbS 223). Er beschreibt anschließend die „Grundschrift“, die auf den Elohisten zurückgeht, was den Schluss nahe legt, dass er Verfechter der so genannten Ergänzungshypothese ist. Denn er führt schließlich weiter aus, dass eben diese „Grundschrift“ um eine „ergänzende und umgestaltende zweite Urkunde“ (EbS 242), also den Jahwisten erweitert wurde und dass „das ursprüngliche Werk von einer neuen Fassung durchzogen ward“ (EbS 223). Wenngleich nicht endgültig geklärt werden kann, welcher Hypothese zur Pentateuchentstehung Geiger sich verpflichtet fühlt, besteht kein Zweifel darüber, dass er aufgrund von literarkritischen Reflexionen von zwei ehemals eigenständigen Quellen ausgeht, die durch einen späteren Redaktor miteinander verbunden wurden (vgl. zur Pentateuchforschung: W. H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, 43–47). 146 Geiger stellt weiterhin heraus, dass die Schriften aus „heterogenen Bestandtheilen zusammengesetzt“ (KBbS 103) sind.

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Der literarkritischen Arbeit schließt sich der „philosophische und geschichtliche Beweis“ (FacI 3)147 an, der mit folgender Äußerung charakterisiert werden kann: „Zur Erklärungskunst148 gehört aber die richtige Erfassung der einzelnen Stellen und ganzer Bücher nach dem Geiste des Volkes und des Schriftstellers, wo die einzelnen Beziehungen nicht zu übersehen sind, aber nicht mit jener kühnen Hypothesensucht, durch welche jedes Einzelne jetzt nachconstruirt werden soll“ (ETh 14). Der Ausspruch unterstreicht erneut, dass der zeitgeschichtliche Kontext ein zentraler Faktor für das richtige Verständnis eines Textes ist und konkretisiert, dass besonders das spezifische Gepräge eines Volkes, also der Adressaten, und die Gesinnung des jeweiligen Autors Berücksichtigung finden müssen, da sie die inhaltlichen und sprachlichen Muster eines Textes konstruieren und dementsprechend wichtige Deutungsdeterminanten sind. Gerade weil die zeitliche, räumliche und auch sachliche Distanz zwischen der Entstehungs- und der gegenwärtigen Auslegungssituation so beträchtlich sind, muss die Fremdheit zunächst wahrgenommen und schließlich aufgebrochen werden, damit der Textsinn begriffen werden kann. Die historische Differenz muss demgemäß durch Historisierung, die wiederum durch Kontextualisierung konstituiert wird, überbrückt werden. Es gilt daher, Vorprägungen des Textes festzustellen, das heißt also Themen, Einstellungen, Motive und Bilder der jeweiligen Entstehungszeit zu erhellen, um dadurch die Aussagen und Intentionen des Textes erfassen zu können und zu einer tiefen Erkenntnis zu gelangen. Der historisch ermittelte Sinnzusammenhang muss dann in gegenwärtige Verstehenskontexte eingespeist, also übertragen werden, weil dadurch die durch die historische Distanz evozierten Verstehensprobleme gelöst werden können. Trotz der Eröffnung des weiten Auslegungshorizontes lehnt Geiger spekulative Vermutungen, die keiner kritischen Überprüfung standhalten können, ab. Folglich muss die Analyse der historischen Umstände, im Speziellen des Adressatenkreises und des Autors, wissenschaftlich fundiert und nachvollziehbar sein, um den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit zu entkräften. Geiger spezifiziert die Funktion der höheren Kritik, indem er erläutert: „[…] und die Aufgabe einer gesunden Kritik ist es, das so Zusammengewachsene in seine einzelnen Bestandtheile aufzulösen, den Stamm von seinen Anwüchsen abzuschälen“ (KBbS 100). Gemäß ihrer Wortbe147 Geiger begründet die doppelte Perspektive in folgender Weise: „Die Erlangung dieser Erkenntniss, wenn sie uns nicht als eine bestimmt gegebene entgegenträte, würde lediglich eine Aufgabe des Denkens, der philosophischen Betrachtung, sein; ist dieselbe aber ein Gegebenes, so ist sie eine Aufgabe der Geschichte“ (ETh 4). Daraus resultierend teilt Geiger den theoretischen Teil der jüdischen Theologie auch in einen philosophischen und einen geschichtlichen Zweig ein (vgl. dazu Kapitel 4.1 des I. Hauptteils). 148 Geiger spricht stets von „Erklärungskunst“ und verwendet den Begriff „Hermeneutik“ nicht, wobei dieser in seiner Zeit verbreitet ist.

Methodik der Wissenschaft des Judentums137 deutung scheidet die Kritik die einzelnen Stränge eines Textes und zwar nicht nur in text- oder literarkritischer Hinsicht, sondern auch den wahren Kern und seine äußere Hülle, also das Wesentliche und Unwesentliche voneinander. Die Kritik realisiert folglich die Zergliederung, die darauf abzielt, den jüdischen Geist zu ermitteln. Die systematisch-normative Funktion der Wissenschaft des Judentums wird demgemäß durch die methodische Ausrichtung ermöglicht.149 Anhand der historisch-philosophischen Perspektive kann die jüdische Wesensformel in ihrer geschichtlichen Entfaltung erkannt, dargestellt und schließlich auch als zentraler Glaubensinhalt vermittelt werden. Die Kritik verbleibt nicht im Äußerlichen und Offenkundigen, sondern legt die wahre Dynamik offen, dringt also bis ins Innere vor, kehrt ansonsten Verborgenes nach außen, stiftet dadurch Transparenz und somit ein tiefgründiges Verständnis, welches auch für das Frömmigkeitsleben fruchtbar gemacht werden kann.150 Die historisch-kritische Perspektive unterstützt also praktische Anliegen, indem sie als zentrales Moment, ja als Grundlage des Reformprozesses fungiert. Die produktive Verschränkung von historischer Kritik und praktischer Abzweckung wird deutlich, insofern die Methode als ein standardisiertes Verfahren der Erkenntnisgewinnung die wissenschaftlichen Aufgaben verwirklicht und damit den Reformprozess befördert. Die historischkritische Auslegungsmethode beansprucht nicht nur ein methodisches Instrumentarium, sondern auch ausgeprägte Sprachkenntnisse, die Geiger zur Basis jeglicher wissenschaftlichen Arbeit deklariert, wodurch er Anforderungen an die Theologen und damit auch an deren wissenschaftliche Ausbildung formuliert (vgl. EbS 3; ETh 12; LSI 18). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der historisch-kritische Ansatz, den Geiger zur grundlegenden Perspektive der Wissenschaft des Judentums erklärt, einen universalen Anwendungsbereich aufweist, also auch die heiligen Schriften des Judentums umfasst und dementsprechend die jüdische Schriftauslegung in toto bestimmt. Geiger sprengt damit die traditionelle jüdische Schrifthermeneutik und fordert einen aufgeklärten, rationalen Umgang mit heiligen Texten jenseits pflichterfüllter Frömmigkeitsübungen. Das schließt auch geistige Freiheit und Offenheit sowie ein gewisses intellektuelles Niveau der Theologen ein. Mittels der historisch-kritischen Perspektive können Untersuchungsgegenstände systematisierend beleuchtet, der wahre Kern eruiert und ein tiefgründiges Verständnis evoziert werden. Texte und Themen, die einer anderen Zeit und Kultur entstammen, werden so für die Gegenwart erschlossen, das heißt 149 Vgl. Kapitel 2.2 des I. Hauptteils: Systematisch-normativ: Die Bedeutung der jüdischen Wesensformel im Reformprozess. 150 Anhand des Themas „Das Arbeitsverbot an den Festtagen“ veranschaulicht Geiger exemplarisch die Arbeitsweise der Kritik und präzisiert ihren Wirkungskreis (vgl. Geiger, Das Arbeitsverbot an den Festtagen).

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in gegenwärtige Denk- und Sprachsysteme übertragen. Dabei finden geschichtliche, religions-, traditions-, geistes- sowie literaturgeschichtliche Erwägungen Berücksichtigung und werden in den Deutungsprozess einbezogen. Die Methodik kann zugleich als Garant für die Realisierung von Reformen gedeutet werden, da sie die Aufgaben und die Intention der Wissenschaft des Judentums in optimaler Weise zu verwirklichen vermag. Die methodische Konzeption der Wissenschaft des Judentums konstituiert ihre Wissenschaftlichkeit und bedingt dadurch idealiter interne und externe Anerkennung. Demgemäß macht der historisch-kritische Ansatz die Wissenschaft des Judentums aus und kann als ihr Motor bezeichnet werden. Die von Geiger profilierte Methodik weist kein spezifisch jüdisches Gepräge auf, sondern bedient sich standardisierter Prinzipien anderer Geisteswissenschaften und wendet diese auf jüdische Inhalte an, aber im Geist des Judentums selbst, sofern es sich der Wissenschaft öffnet.151 Innerhalb des Judentums kann sie dennoch als Innovation betrachtet werden, da sie sich deutlich von der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit distanziert und folglich einen Wendepunkt markiert. Da die historisch-kritische Methode Geigers Wissenschaftsverständnis nachhaltig prägt, kann sie trotz ihrer formalen Allgemeinheit im Kontext ihrer Anwendung innerhalb der Wissenschaft des Judentums als Geigers genuine Idee bezeichnet werden.

4. Disziplinäre Aufgliederungen Die beschriebene inhaltliche und funktionale Komplexität der Wissenschaft des Judentums erfordert eine Ausdifferenzierung in verschiedene Disziplinen und eine dadurch bedingte Arbeitsteilung.152 Darüber hinaus verlangt die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums nach einer systematischen Organisation der einzelnen Wissensgebiete. Die Wissenschaft des Judentums muss genau wie andere Wissenschaften auch als ein wohl geordnetes System konzipiert werden, 151 Sarna konstatiert daher treffend: „He had the distinction of being the first to include biblical studies within the scope of Jüdische Wissenschaft, but he missed the opportunity to make a truly Jewish contribution to the subject“ (Sarna, Abraham Geiger and biblical scholarship, 24). 152 Der Begriff „Arbeitsteilung“ darf nicht so aufgefasst werden, dass es eine 1:1-Zuordnung von funktionaler Bedeutung und Disziplin gibt. Die im Grunde nahe liegende Assoziation trifft auf Geigers Wissenschaftsbegriff nicht zu. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass Geiger keinen zusammenhängenden Entwurf vorlegt, seine Äußerungen stattdessen im Bereich der Disziplinen den Vorlesungen und im Bereich der funktionalen Bedeutungen den Gelegenheitsschriften entstammen. Eine strenge Differenzierung zwischen jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums findet sich einzig in seinen Kompendien, also im Bereich der Disziplinen wieder. Die dargestellte systematische Konzeption ist also ein interpretatorisches Konstrukt.

Disziplinäre Aufgliederungen139 welches methodisch und thematisch strukturierte Wissenssphären in sich vereint, die sich durch ihre inhaltliche, methodische und funktionale Prägung voneinander unterscheiden, aber dennoch alle dem Zweck des Ganzen verpflichtet sind. Die disziplinäre Ausdifferenzierung und die damit einhergehende Arbeitsteilung fungieren demgemäß als Garanten der Funktions- und Leistungsfähigkeit sowie der Anerkennung, das heißt auch der institutionellen Legitimation. Die disziplinäre Auffächerung der Wissenschaft des Judentums bestimmt zugleich das Studium, insofern sie dessen Aufbau strukturiert und die zu vermittelnden Kenntnisse und Kompetenzen aufzeigt. Demzufolge dienen die Disziplinen der Wissenschaft des Judentums als Strukturierungs- und Organisationsprinzip der Wissenschaft des Judentums in Forschung und Lehre. Geigers disziplinäre Aufgliederungen von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums unterscheiden sich voneinander und werden daher zunächst getrennt dargestellt, bevor in einer zusammenfassenden Reflexion Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt sowie Überlegungen zur terminologischen respektive konzeptionellen Differenzierung von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums angestellt werden. Geiger teilt die jüdische Theologie in einen „theoretischen“ und einen „praktischen Theil“ ein (ETh 4). Ersteren differenziert er weiter aus in einen „historischen Theil[ ]“ und einen „philosophische[n] Theil“ (ETh 6). Die Wissenschaft des Judentums gliedert er in „den sprachwissenschaftlichen, […] den historischen, namentlich den literar- und culturhistorischen, […] den philosophisch-religiösen Theil“ (EWdJ 35). Im Folgenden werden die Aufgaben, die Untersuchungsgegenstände und die Binneneinteilungen der einzelnen Disziplinen dargestellt und dadurch das Profil der jüdischen Theologie beziehungsweise Wissenschaft des Judentums geschärft. Vorweg sei angemerkt, dass nicht immer alle gerade genannten Aspekte in gleicher Ausführlichkeit und gleicher Abfolge beleuchtet werden können, da Geiger selbst manche Topoi ausspart und keine einheitliche und ausgewogene Präsentation der einzelnen Zweige darbietet.

4.1  Disziplinen der jüdischen Theologie Die Disziplinen der jüdischen Theologie entfaltet Geiger zusammenhängend in seinen Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie, welche er 1849 vor Studierenden der jüdischen Theologie im Breslauer Lehr- und Leseverein hält.153 Die von Ludwig Geiger 1875 publizierten Vorlesungen fungieren als 153 Ludwig Geiger hat die Vorlesungen seines Vaters auf der Grundlage von dessen Manuskript veröffentlicht und keine Veränderungen vorgenommen. Vorlesungsmitschriften lagen ihm nicht vor. Er weist darauf hin, dass „sich gewiss die wirklich gehaltenen Vorlesungen von den

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Geigers Entwurf einer ­­Konzeptionalisierung der Wissenschaft

Kompendium der jüdischen Theologie, in welchem die Struktur und die Aufgaben der jüdischen Theologie in einem definitionsartigen Stil erläutert werden.154 Geiger gibt darin einen summarischen Überblick über zentrale Gebiete der jüdischen Theologie und umreißt daneben deren Methodik. Er sucht so die jüdische Theologie als eine Wissenschaft darzustellen. Es handelt sich dabei um eine formale Enzyklopädie, da die inhaltliche Gestaltung von Geiger weitestgehend ausgespart wird. Die Vorlesungen haben den Charakter eines Leitfadens, der überblicksartig und knapp in das Fach einführt. Auffällig ist, dass sich die meisten Topoi in Geigers späteren Werken wiederfinden, dort ausführlicher beleuchtet und damit einhergehend auch inhaltlich konkretisiert werden. Demnach kann das Kompendium der jüdischen Theologie als antizipierende Zusammenfassung von Geigers wissenschaftlichem Oeuvre gedeutet werden. Dadurch wird erkennbar, dass Geiger mit seinen Forschungsarbeiten nahezu das gesamte Gebiet der jüdischen Theologie abdeckt. Die folgende Darstellung der Disziplinen der jüdischen Theologie stützt sich in erster Linie auf die Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie, da sie die zentralen Quellen seiner wissenschaftsprogrammatischen und vor allem disziplinären Konzeption sind.155 Ausgangspunkt für die disziplinäre Ausdifferenzierung der jüdischen Theologie ist ihre definitorische Bestimmung. Geiger definiert sie in deutlicher Anlehnung an seinen allgemeinen Theologiebegriff als „die Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens nach der Lehre des Judenthums“ (ETh 4). Er konstituiert also durch den expliziten Rekurs auf die jüdische Religion das genuine Gepräge der jüdischen Theologie. Genau wie beim allgemeinen Theologiebegriff sind zwei Ebenen im Theologiebegriff der jüdischen Theologie auszumachen: Zum einen versteht Geiger darunter die allgemeine Kenntnis religiöser Ideen und das ihnen gemäße Leben und zum anderen die Vermittlung eben dieser Kenntnisse an andere Menschen. Die jüdische Theologie hat demnach ein praktisches Handlungsfeld, also einen Anwendungsbezug, welcher in der Bildungsaufgabe konkret wird. Dieser Zweckbezug konstituiert die Wissenschaftlichkeit und Theologizität der jüdischen Theologie. Geiger konstruiert die jüdische Theologie offenkundig als eine positive Wissenschaft, die sich durch hier wiedergegebenen Aufzeichnungen sehr unterschieden [haben], da mein Vater gewohnt war, […] das Concept nur als Grundlage zu benutzen, das gesprochene Wort aber im Augenblicke frei zu gestalten […]“ (L. Geiger, Vorwort, III). Dadurch, dass ausführliche inhaltliche Ausführungen im Skript ausgespart werden, bleiben Leerstellen, die gewisse Deutungsspielräume, aber auch -schwierigkeiten eröffnen. 154 Geiger gliedert die Vorlesungen in Paragraphen, die definitionsartige Leitsätze enthalten. 155 Die vorherigen Kapitel gründen sich hingegen auf Geigers gesamtes wissenschaftliches Oeuvre, sodass bedingt durch die unterschiedlichen Quellen Akzentverschiebungen oder gar Abweichungen möglich sind.

Disziplinäre Aufgliederungen141 historische Bedingtheit, eine externe, gesellschaftlich gegebene Bezugsgröße, einen Zweckbezug und inhaltliche und methodische Vielfalt, also Interdisziplinarität auszeichnet. Aus den zwei Ebenen im Theologieverständnis lässt sich die Grobgliederung der jüdischen Theologie ableiten: Sie differenziert sich in einen „theoretischen“ und in einen „praktischen Theil“ aus (ETh 4). Letzterer wird von Geiger in der Weise näher charakterisiert, dass er „die Mittel zur Wirksamkeit auf Andere für den bestimmten Zweck an die Hand gibt“ (ETh 4).156 Der praktische Zweig der jüdischen Theologie entwirft demgemäß Konzepte, wie die religiösen Erkenntnisse vermittelt werden können, wie die Bildungsaufgabe, die hier weit gefasst und nicht auf die Ausbildung begrenzt ist,157 methodisch realisiert werden kann. Die Praktische Theologie zeichnet sich also durch einen dezidierten Praxisbezug und eine ausgeprägte Handlungsorientierung aus, insofern sie die Weitergabe und Verbreitung theologischer Erkenntnisse, genauer gesagt die Anbahnung und Durchführung religiöser Bildungsprozesse, wissenschaftlich reflektiert und einen entsprechenden Entwurf vorlegt. Der theoretische Zweig der jüdischen Theologie wird von Geiger noch weiter ausdifferenziert und zwar in „den philosophischen und den historischen Theil“ (ETh 6). Dadurch wird verdeutlicht, dass religiöse Ideen nach Geigers Überzeugung nur durch Verschränkung zweier Perspektiven, nämlich der philosophischen und der historischen, eruiert werden können. Folgende Formulierung liefert die Begründung dafür: „Die Erlangung dieser Erkenntniss, wenn sie uns nicht als eine bestimmt gegebene entgegenträte, würde lediglich eine Aufgabe des Denkens, der philosophischen Betrachtung, sein; ist dieselbe aber ein Gegebenes, so ist sie eine Aufgabe der Geschichte“ (ETh 4). Da es sich beim Judentum um eine historische Größe handelt, können die religiösen Wahrheiten nicht ausschließlich durch Spekulation eruiert werden, 156 Geiger führt weiterhin aus: „[…] so verbindet sich damit der Zweck, auch Andern, welche diesen ganzen mühsamen Weg nicht durchmachen können, auf leichtere Weise zu dieser Erkenntniss zu verhelfen, sie in derselben zu bestärken“ (ETh 4). 157 Diese Aufgabenbeschreibung der Praktischen Theologie könnte auch auf die Ausbildung theologischer Kräfte bezogen werden. Eine prinzipiell nahe liegende 1:1-Zuordnung von funktionaler Bedeutung und Disziplin lässt sich bei Geiger jedoch nicht ausmachen. Es wäre daher verkürzt, allein dem praktischen Zweig der jüdischen Theologie die Ausbildungsfunktion zuzuschreiben. Denn auch wenn diese den jüdischen Theologen dezidiert auf seine Tätigkeit im gemeindlichen Handlungsfeld vorbereitet und die diesbezüglichen Kenntnisse und Kompetenzen vermittelt, fundieren auch der philosophische und historische Zweig der jüdischen Theologie die Arbeit eines jüdischen Theologen und fungieren daher als Ausbildungsgrößen. Demzufolge hat die jüdische Theologie als Ganze die Ausbildungsfunktion inne und nicht nur ihr praktischer Zweig. Zudem würde eine Engführung des praktischen Bereichs auf die Ausbildungsfunktion seinen hier beschriebenen vielfältigen Aufgaben nicht gerecht werden (vgl. ausführlicher zur Ausbildungsthematik Kapitel 2.3 des I. Hauptteils: Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess).

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sondern bedürfen stets der geschichtlichen Analyse, welche die Entwicklungsgeschichte der religiösen Vorstellungen, also die historische Wirklichkeit, berücksichtigt und beleuchtet. Die jüdische Theologie hat demnach eine ideale und eine reale Komponente, wodurch ihre theoretische Seite definiert wird. Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Philosophie wird von Geiger in der Weise konkretisiert, dass er sie als „Correlate“ (ETh 6) bezeichnet, was so gedeutet werden kann, dass beide Zweige bedeutsam sind und sich wechselseitig beeinflussen, ja korrigieren.158 Eine Reduktion auf nur eine Disziplin ist demnach unzulässig, da sie die „Erkenntniss der religiösen Wahrheiten“ (ETh 4) verfehlt und damit der jüdischen Theologie nicht gerecht wird (vgl. ETh 5f).159 Wenngleich Geiger die Relevanz des historischen und des philosophischen Zweigs hervorhebt, räumt er dem historischen Bereich dennoch eine Zentralstellung innerhalb der jüdischen Theologie und damit innerhalb des Studiums ein, worauf bereits in Kapitel 2.1 des I. Hauptteils aufmerksam gemacht wurde (vgl. ETh 6). Geiger präzisiert die Verhältnisbestimmung der drei Disziplinen noch und deutet gleichzeitig deren Aufgaben an, indem er betont, dass „[…] der philosophische Theil mehr die Fragen mit Bestimmtheit stellt und die Methode angibt, die Idee enthüllt, welche aus den geschichtlichen Daten als das Wesen zu ziehen ist, [und] der praktische eigentlich hauptsächlich das Resultat benützt“ (ETh 6). Die Philosophische Theologie ermittelt demzufolge den jüdischen Geist, folglich die religiösen Wahrheiten des Judentums und bestimmt auf Basis der gewonnenen systematisch-normativen Erkenntnisse in Synthese mit der Historischen Theologie die Formel vom Wesen des Judentums. Der philosophische Zweig rekonstruiert demgemäß gemeinsam mit dem historischen den inneren Kern des Judentums. Darüber hinaus entwickelt er methodische Grundsätze, mit denen planmäßig und für andere Menschen nachvollziehbar Erkenntnisse zu Tage gefördert werden können. Er strukturiert durch Erarbeitung und Darbietung methodischer Regeln und Prinzipien die geistigen Reflexions-, Aneignungs- und Anwendungsprozesse der jüdischen Theologie. Die Historische Theologie analysiert unter Rückgriff auf die philosophisch-religiösen Kategorien die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums und trägt so zur historischen Rekonstruktion des Wesens des Judentums bei. Die Praktische Theologie entwirft schließlich einen Leitfaden, wie die Erkenntnisse und Ergebnisse des historischen und philosophischen Bereichs, die sie damit voraussetzt, in das konkrete religiöse Leben eingespeist werden 158 Geiger stellt überdies heraus, dass die Philosophie „selbst ein Produkt der Geschichte, eine Entwickelung des menschlichen Geistes, ein Spiegelbild der zeitlichen Anschauungen“ sei (ETh 5). 159 Geiger verdeutlicht, dass die jüdische Theologie die philosophische und die historische Perspektive in sich vereine und sich dadurch von der reinen Philosophie und der reinen Geschichte unterscheide.

Disziplinäre Aufgliederungen143 können, wie die Verbreitung und Vermittlung religiöser Wahrheiten und deren Fruchtbarmachung für die Frömmigkeitspraxis also realisiert werden können. Trotz der disziplinären Differenzierung versteht Geiger die jüdische Theologie und damit einhergehend auch das Studium der jüdischen Theologie als ein Ganzes. Die jüdische Theologie ist gemäß ihrem Charakter als positive Wissenschaft als Schnittmenge von Wissenssphären und Methoden unterschiedlicher außertheologischer Wissenschaften aufzufassen, die für die Lösung der praktischen Aufgabe in einem sinnvollen Zusammenhang ausgewählt und arrangiert werden. Die einzelnen theologischen Zweige haben daher verschiedene inhaltliche und methodische Profile und die jüdische Theologie zeichnet sich damit durch Interdisziplinarität aus. Dadurch stellt sich unmittelbar die Frage nach der Einheit der jüdischen Theologie als Wissenschaft. Diese wird nach Geigers Dafürhalten durch den gemeinsamen Bezugspunkt – das Wesen des Judentums – und den allen Disziplinen innewohnenden „theologische[n] Zweck“ (ETh 6)160 – die Bildungsaufgabe – hergestellt. Geiger veranschlagt demnach einen thematischen und einen funktionalen Einheitsgrund der jüdischen Theologie. Ohne diese doppelte Einheitsstiftung würden die theologischen Disziplinen ihren ursprünglichen Wissenschaften anheimfallen. Ergo zeichnet sich Geigers Theologiebegriff durch Positivität, Interdisziplinarität, Thematizität und Funktionalität aus. Im Folgenden gilt es, die bisher nur angedeuteten Aufgaben und Untersuchungsgegenstände der einzelnen Disziplinen genauer zu beleuchten und darzustellen.

4.1.1  „Der rein theoretische oder philosophische Theil“ Geiger bezeichnet den „rein theoretische[n] oder philosophische[n] Theil“ als „Religionswissenschaft“ (ETh 7)161. Sie thematisiert „die Erkenntniss der Reli160 Ausführlicher schreibt Geiger: „Das Studium muss im Ganzen einen einheitlichen Charakter an sich tragen, eine jede der verschiedenen Wissenschaften muss in dem Geiste und in dem Masse getrieben werden, wie es der theologische Zweck erfordert […]“ (ETh 6). 161 Betrachtet man die noch folgenden Ausführungen zum philosophischen Zweig der jüdischen Theologie, fällt auf, dass die Bezeichnung „Religionswissenschaft“ von Geiger nicht in ihrer geläufigen Bedeutung verwendet wird. Religionsphilosophie und Ethik sind nach heutigem Verständnis beispielsweise keine Zweige der Religionswissenschaft. Überdies konzentriert sich Geiger auf die jüdische Religion und berücksichtigt andere Religionen nicht, was jedoch charakteristisch für die Religionswissenschaft ist. Zudem handelt es sich bei der Religionswissenschaft um eine empirische, nicht um eine normative Wissenschaft. Daher macht es den Anschein, dass Geiger die Bezeichnung „Religionswissenschaft“ aufgrund ihrer wörtlichen Bedeutung wählt und sie demgemäß als eine Wissenschaft versteht, die sich mit der Religion beschäftigt. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass sich erst im 20. Jahrhundert ein mehr oder weniger festes Konzept der Religionswissenschaft herausgebildet hat, das heißt, dass es vorher keinen wirklichen Konsens bezüglich der Aufgaben und Methoden gab, was die angedeuteten Unstimmigkeiten erklärt.

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gion überhaupt“ (ETh 7) und sucht daher folgende Aspekte zu klären: „Was ist Religion und wie können wir sie erkennen, wie muss die Religion auf das Leben wirken?“ (ETh 7). Demgemäß kann die „Religionswissenschaft“ als das methodisch strukturierte, kognitive Erfassen und Verstehen des Phänomens Religion in all seinen Facetten gedeutet werden. Sie sucht Grundgedanken zu problematisieren, um so die Religion auf zunächst abstrakter Ebene zu erschließen, wodurch sie sich als philosophischer Unterbau der jüdischen Theologie ausweist. Es geht ihr also um die Exposition eines allgemeinen Religionsbegriffs. Im Einzelnen beleuchtet sie das Wesen der Religion, ihre Darstellungs- und Erscheinungsformen, die nötigen erkenntnistheoretischen Prozesse sowie die lebenspraktische Relevanz und sucht so die Aufgabe der jüdischen Theologie, „die Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens nach der Lehre des Judenthums“ (ETh 4), aus ihrer dezidiert philosophischen Perspektive zu erfüllen. Die Theologizität der Philosophischen Theologie konstituiert sich wie bei allen theologischen Disziplinen durch ihren Bezug auf die Bildungsaufgabe, insofern die gewonnenen theologisch-philosophischen Erkenntnisse nach Verbreitung und Vermittlung streben. Die Philosophische Theologie stellt somit die Bildungsinhalte zur Verfügung. Gleichwohl ist im funktionalen Bezug der Wesensbegriff mit eingetragen und die Philosophische Theologie ergo auch auf das Wesen des Judentums bezogen. Schließlich ist es die Philosophische Theologie, die das Wesen des Judentums bestimmt und die zentrale Kategorie hervorbringt. In Anknüpfung an ihre Aufgaben unterteilt Geiger die Religionswissenschaft entsprechend in die „Religionsphilosophie“ und die „Ethik“ (ETh 7)162. Geigers Ausführungen zur Binnengliederung der Philosophischen Theologie sind äußerst knapp, sodass die beiden Bereiche im Kompendium recht unscharf bleiben. Und auch über die Methodik und die konkrete Untersuchungsgrundlage schweigt Geiger sich aus.163 Dahingegen beschreibt er das Profil des philosophischen Zweigs der jüdischen Theologie näher, indem er ihn von der Philosophie und den ihr häufig inhärenten christlichen Theoremen abgrenzt und das genuin (jüdisch-)theologische Gepräge hervorhebt. Im Einzelnen unterstreicht Geiger, dass ein Theologe mit einer dezi162 Geiger spezifiziert, dass die „Religionsphilosophie“ die Metaphysik als Fundament habe (vgl. ETh 7). 163 Im Verhältnis zum Gesamtumfang der Vorlesungen nehmen die Ausführungen zum philosophischen Zweig den kleinsten Raum ein und sind dementsprechend knapp gehalten. Von 32 Paragraphen fallen nur4, zudem sehr kurze Paragraphen, auf den philosophischen Bereich. Das hat zur Folge, dass auch diese Darstellung recht kurz ausfällt und überdies einige Unschärfen enthält. Ritter legt einleuchtend dar, dass Geiger keinen Entwurf einer „zeitgenössische[n] jüdische[n] Philosophie“ darbiete, weil er sich als jüdischer Theologe verstehe und sein vordergründiges Interesse ergo der jüdischen Theologie gelte (Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“, 138).

Disziplinäre Aufgliederungen145 diert theologischen Perspektive philosophische Überlegungen anstellt und sich dadurch von einem Philosophen unterscheidet.164 Ein Theologe philosophiert mit einer theologischen Brille, er geht davon aus, „wirklich Religion zu finden“ und vertritt „die Ueberzeugung von dem Geiste, der gegenüber allen sinnlichen Erscheinungen steht und dieselben zu beherrschen die Aufgabe hat“ (ETh 7), wohingegen Philosophen angeblich keinerlei Prämissen zugrunde legen.165 Der philosophische Zweig der jüdischen Theologie zeichnet sich ergo durch seinen Bezug auf die Religion respektive auf Gott beziehungsweise die Verwurzelung in der Religion aus. Philosophische Betrachtungen eines Theologen zielen infolgedessen darauf ab, den „Urquell des Geistes“ (ETh 8) zu erkennen, können folglich als Suche nach der transzendenten Wahrheit aufgefasst werden, die sie selbstredend voraussetzen. Diese ausdrückliche und bewusste Zielgerichtetheit auf Gott und der damit zusammenhängende Glaube an die göttliche Offenbarung sind konstitutiv für die philosophische Arbeit eines Theologen. Dieser philosophiert demgemäß unter der Voraussetzung der Religion, also auf der Grundlage des Wissens und der Erfahrung des Strebens des Einzelnen nach dem Höchsten. Weiterhin stellt Geiger heraus, dass jüdische Theologen im Zuge ihrer philosophischen Betrachtungen berücksichtigen müssen, dass gerade die geläufige Religionsphilosophie christliche Prämissen wie die Lehren von „Trinität“ und „Gottmenschheit“ (ETh 8) zugrunde lege und nicht bedingungslos sei.166 Der gängigen und häufig impliziten christlichen Ausrichtung der Philosophie müssen sich die jüdischen Theologen bewusst sein, um sich davon zu emanzipieren und zu distanzieren. Es gilt demzufolge auch, dezidiert jüdische religionsphilosophische Überlegungen zu entwerfen, um dadurch einerseits der eigenen Religion und dem eigenen Glauben gerecht zu werden und andererseits ein Gegengewicht zur christlichen Theologie aufzubauen. Offenkundig strebt die Philosophische Theologie eine apologetische Grundlegung der jüdischen Religion an. Die philosophisch-theologische Disziplin der „Ethik“ (ETh 7) reflektiert die Motive und Ziele des menschlichen Handelns, also die Bedingung der Möglichkeit der Realisierung der Religion. Bei jeglichen ethischen Reflexionen legt ein Theologe nach Geigers Auffassung die Prämisse des „Bedürfniss[es] des 164 Ritter konstatiert treffend: „Die Philosophie blieb für Geiger damit eine ancilla theologiae“ (ebd.). 165 An anderer Stelle unterstreicht Geiger, dass auch ein Philosoph stets durch kontextuelle Bedingungen beeinflusst werde und sich somit nie voraussetzungslos äußern könne (vgl. JPh 277). 166 Im Artikel Jüdische Philosophie beschreibt Geiger die Charakteristika der jüdischen Philosophie und grenzt sie gegenüber der christlichen Philosophie ab. Gerade weil das Judentum die christlichen Dogmen wie Trinität und Gottmenschheit nicht zugrunde lege, sei die jüdische Philosophie im Vorteil. Denn jüdische Positionen stießen sich nicht mit der Vernunft so wie christliche es tun (vgl. JPh).

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menschlichen Geistes nach seiner vollen ungestörten Ausströmung und seinem Anschlusse an den Allgeist“ (ETh 8)167 zugrunde. Die Religion, also das Streben und die Sehnsucht des Menschen nach dem Höchsten, wurzelt nach Geigers Meinung im Wesen des Menschen und fungiert daher auch als Dreh- und Angelpunkt der jüdischen „Ethik“. Demnach setzt die theologisch bestimmte „Ethik“ den Glauben an die göttliche Offenbarung voraus und gründet sich nicht allein auf das Prinzip der Vernunft. Im Rahmen der „Ethik“ gilt es, die praktischen Implikationen der Religion zu eruieren, das heißt, die Bedeutung des Glaubens für das menschliche Leben und Handeln zu beleuchten, das Verhältnis von Glauben und Handeln auszutarieren und dadurch die lebenspraktische Relevanz und Anwendung der Religion zu erhellen. Aus der Religion heraus ergeben sich demgemäß Kriterien und Motive des rechten Handelns und Lebens. Diese im Willen Gottes begründeten sittlichen Prinzipien sollen durch die „Ethik“ ermittelt und dadurch die Möglichkeit ein den religiösen Wahrheiten gemäßes Leben zu führen eröffnet beziehungsweise aufgezeigt werden. Äußerst knapp verweist Geiger noch auf „andere philosophische Disciplinen“, die jedoch stets „das richtige Mass im Verhältnissse zum Ganzen der Theologie einhalten“ sollen (ETh 8), wodurch einmal mehr der Charakter der jüdischen Theologie als einer positiven Wissenschaft erkennbar wird. So unterstreicht diese Äußerung die Idee des theologischen Ganzen, die bei Geiger trotz der disziplinären Ausdifferenzierung konstitutiv ist. Ohne die doppelte Einheitsstiftung würden die philosophischen Disziplinen der jüdischen Theologie ihrer Theologizität beraubt und wieder der Philosophie zufallen. Im Einzelnen erwähnt Geiger die „Metaphysik“, welche „die Welt im Allgemeinen erklären will“ (ETh 8), die „Psychologie“, die er als „Auseinanderlegung des Geistes und seiner Thätigkeiten“ versteht (ETh 8), und die „Logik“, welche die „richtige Methode des Denkens“ ermittelt (ETh 8). Um die geforderte Aufgabe zu erfüllen, also das Wesen der Religion zu bestimmen und die innewohnenden praktischen Implikation zu enthüllen, muss der Theologe auf unterschiedliche Wissensgebiete der Philosophie zurückgreifen und die so gewonnenen Kenntnisse für sein Anliegen fruchtbar machen, dabei jedoch stets den „theologische[n] Zweck“ (ETh 6) mitführen.168 In erster Linie muss ein jüdischer Theologe also über religionsphilosophisches und ethisches Wissen verfügen, davon ausgehend die jüdische Religion mit theologisch-philosophischem Blick untersuchen und damit die Arbeit der Historischen Theologie vorbereiten. Denn das Wesen des Judentums, welches es zu rekonstruieren gilt, kann einzig durch die Synthese von Philosophischer und His167 Geiger äußert sich nicht weiter zur Aufgabe der „Ethik“ und schweigt sich zudem über die Gestaltung dieser Unterdisziplin aus. 168 Vgl. zur jüdischen Philosophie allgemein: Geiger, Jüdische Philosophie.

Disziplinäre Aufgliederungen147 torischer Theologie bestimmt werden. Im Folgenden wird der Blick daher auf den historischen Zweig der jüdischen Theologie gerichtet und dessen Struktur und Aufgaben näher beleuchtet.

4.1.2  „Der historische Theil“ Angesichts der Historizität des Judentums können die religiösen Wahrheiten, die es zu erkennen gilt, nicht ausschließlich durch Spekulation oder durch Untersuchung der Gegenwart erforscht werden, sondern bedürfen stets der umfassenden geschichtlichen Analyse, welche die Entstehungs-, Entwicklungs- sowie Wirkungsgeschichte der religiösen Theoreme berücksichtigt und beleuchtet, die mithin Einsicht in das Gewordensein und die Genese des Judentums bietet. Demgemäß fungiert die Entwicklung des Judentums innerhalb der universalen (Geistes)Geschichte als Untersuchungsgegenstand des „historische[n] Theil[s]“ (ETh 9)169. In seiner Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie teilt Geiger die jüdische Geschichte in drei Epochen ein: „biblische Theologie“, „nachbiblische und rabbinisch-thalmudische Theologie“ sowie „neuere jüdische Theologie“ (ETh 9). Die Epocheneinteilung strukturiert auch das Studium der jüdischen Geschichte, da sich der historische Zweig der jüdischen Theologie in ebendiese Perioden ausdifferenziert. Geiger schreibt keiner Epoche eine normative Exklusivstellung zu. Betrachtet man die Epochenbezeichnungen, fällt auf, dass die Perioden mit unterschiedlichen theologischen Vorstellungen verbunden sind und das jeweilige theologische Konzept als ausschlaggebendes Charakteristikum der Epoche aufgefasst wird. Eine Epoche drückt sich demnach in einer spezifischen Theologie aus, folglich verdichtet sich die religiöse Entwicklung des Judentums in der Theologie, was einmal mehr die wechselseitige Verknüpfung von kontextuellen Umständen und ideengeschichtlicher Entwicklung und Ausprägung deutlich werden lässt.170 Abermals zeigt sich, dass sich Geigers Interesse auf die innere Geschichte des Judentums, welches er als eine religiöse Größe betrachtet, konzentriert. Demzufolge sucht er primär die religiöse Entwicklungsgeschichte und die jüdische Geistesgeschichte zu skizzieren und schenkt der äußeren, also politischen Geschichte wenig Beachtung, wenngleich er sie zeitweilen streift. Die Theologizität der Historischen Theologie konstituiert sich wie bei allen theologischen Disziplinen durch ihren Bezug auf die Bildungsaufgabe, in die der Wesensbegriff thematisch eingetragen ist. Die Historische Theologie skizziert das Wesen 169 Vgl. ausführlicher zu dieser Thematik Geigers Vorlesungen Das Judenthum und seine Geschichte sowie Kapitel 2.1 und Kapitel 3 des I. Hauptteils dieser Studie. 170 Geiger betont trotz der Einteilung in unterschiedliche Epochen, dass die einzelnen Perioden „mannigfach in einander übergreifen“ (ETh 9).

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des Judentums in seiner geschichtlichen Entwicklung und bietet die historischen Erkenntnisse als Bildungsinhalte dar, die sodann in die religiösen Bildungsprozesse überführt und auf diese Weise vermittelt und verbreitet werden. Geiger veranschlagt, wie sich im Folgenden zeigen wird, die religiösen Schriften des Judentums als Untersuchungsgrundlage, also als Erkenntnisquellen und erklärt die Schriftauslegung konsequenterweise zum zentralen Instrument der Historischen Theologie. Die Schriftauslegung verlangt nach bestimmten Wissensgebieten, das heißt, dass jüdische Theologen über gewisse Kenntnisse und Kompetenzen verfügen müssen. Ebendiese Wissensbestände müssen im Rahmen der Historischen Theologie thematisiert werden. Aus diesem Grund fungiert auch die (hebräische) Sprache als konstitutiver Bestandteil der Historischen Theologie. Denn nur auf Grundlage umfassenden sprachlichen Wissens können religiöse Schriften verstanden sowie ausgelegt werden und die religiösen Wahrheiten letztlich ermittelt werden. Sprachliche Kenntnisse dienen demgemäß als Voraussetzung jeglicher Schriftauslegung, wodurch sie eine grundlegende Bedeutung bekommen. Da Geiger sich dezidiert gegen die Arbeit mit Übersetzungen wendet, verschärft er die Notwendigkeit fundierten sprachlichen Wissens. Er betont in diesem Zusammenhang: „Wenn überhaupt Uebersetzungen niemals das Original erreichen können, so ist dies namentlich bei religiösen Schriften der Fall, in welchen die unmittelbare Empfindung den Gedanken ergänzt, die nie ungetrübt wiederzugeben ist […]“ (ETh 11). Die Sprache religiöser Schriften transportiert demnach das religiöse Gefühl und spiegelt die religiöse Entwicklung ausdrucksstark wider, ist folglich untrennbar mit dem Inhalt verknüpft, ja ist selbst Teil der religiösen Idee. Gerade religiöse Quellen müssen daher in ihrer Original-Sprache gelesen werden, weil nur so der religiöse Gedanke und das religiöse Gefühl in ihrer Vollkommenheit, Dichte und Unmittelbarkeit übermittelt werden können (vgl. ETh 11). Es gilt deshalb, fundierte Kenntnisse in der hebräischen Sprache zu erlangen, was nach Geigers Auffassung durch eine intensive Bibellektüre und das Lesen anderer hebräischer Werke realisiert werden kann.171 Alle Lernbemühungen müssen darauf abzielen, dass das Hebräische zu einer „zweite[n]

171 Sollen Mischna und Baraitha’s, also talmudische Schriften ausgelegt und verstanden werden, muss das „hebräische[ ] Idiome“, das „aramäische und griechische“ Elemente inkludiert und in welchem Mischna und Baraitha’s verfasst sind, bekannt und wissenschaftlich erfasst sein (ETh 19). Ausführlicher erläutert Geiger, dass das „hebräische[ ] Idiome“ zur „Gelehrtensprache“ geworden ist, „Wörter zu Schulausdrücken mit prägnanter Bedeutung ausbildete [und] überhaupt aber auch grammatisch die Sprache umgestaltete“ (ebd.). Auf die Gemara, die in der aramäischen Sprache verfasst ist, geht Geiger nicht näher ein. Er erwähnt ausschließlich, dass die Sprache der Gemara wissenschaftlich noch nicht befriedigend untersucht worden sei (vgl. ETh 19).

Disziplinäre Aufgliederungen149 Muttersprache“ (ETh 12)172 werde. Die Anforderungen an einen jüdischen Theologen sind folglich recht hoch, da er das Hebräische verinnerlichen und perfekt beherrschen muss. Hierbei reicht es jedoch nicht aus, dass er des Hebräischen auf praktischer Ebene mächtig ist, er muss darüber hinaus über sprachwissenschaftliche Kenntnisse, beispielsweise im Bereich der Grammatik und Lexikographie173 verfügen, er muss das Hebräische demnach wissenschaftlich erfassen und reflektieren können (vgl. EbS 3; ETh 11f). Über das Hebräische hinaus muss auch das Semitische einbezogen werden. Das bedeutet, dass das Arabische und Aramäische, das heißt primär das Chaldäische, das Syrische und das Samaritanische beleuchtet werden müssen, jedoch nicht um ihrer Selbst willen, sondern um ein tiefgründiges Verständnis der hebräischen Sprache zu befördern. Für die Aneignung sprachwissenschaftlicher Kenntnisse soll auf gängige Lehrbücher zurückgegriffen werden.174 Die hebräische Sprachwissenschaft wird von Geiger demnach neben der hebräischen Sprache zum integralen Bestandteil der Historischen Theologie gemacht.175 Neben fundierten sprachlichen und sprachwissenschaftlichen Kenntnissen erfordert die Schriftauslegung ein methodisches Instrumentarium, über das jüdische Theologen verfügen müssen. Auch der von Geiger verwendete Ausdruck „Erklärungskunst“ (ETh 13) deutet daraufhin, dass die Interpretation der religiösen Schriften nach festen methodischen Regeln beziehungsweise Techniken erfolgt und keinesfalls spontan und willkürlich geschieht. In Kapitel 3 des I. Hauptteils wurde Geigers historisch-kritischer Ansatz der Schriftauslegung breit entfaltet, indem die Begründungsdimension, das zentrale Anwendungsgebiet und die einzelnen Methodenschritte dargelegt wurden. An dieser Stelle wird daher auf eine ausführliche Darstellung, die eine bloße Wiederholung wäre, verzichtet. Geigers Ausführungen verdeutlichen, dass nur mithilfe des Methodenkanons die religiösen Texte wissenschaftlich angemessen ausgelegt und verstanden werden können. Das hat zur Folge, dass ein jüdischer Theologe über konkrete Techniken der Schriftauslegung verfügen muss, damit er diese zur Grundlage seines Auslegungsprozesses machen und auf diese Weise die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums und letztlich die religiösen Wahrheiten erkennen kann. 172 Geiger begründet die fundierten Hebräisch-Kenntnisse auch damit, dass das Hebräische stets die „Sprache der Gelehrsamkeit und der Frömmigkeit“ (ETh 12) gewesen sei. 173 Vgl. zur Lexikographie: Geiger, Lexikographische Studien. 174 Geiger verweist auf die Werke von Gesenius, Luzzatto, Ewald, Duke und Rappoport (vgl. ETh 12f). Gleichwohl stellt er heraus, dass es auf diesem Gebiet wenig adäquate Lehrbücher gebe, zeigt also ein Forschungsdesiderat auf. Vgl. dazu auch: Geiger, Lehrbuch zur Sprache der Mischnah; ders., Lesestücke aus der Mischnah; ders., Zur Geschichte der thalmudischen Lexikographie. 175 Vgl. zur hebräischen Sprachwissenschaft ausführlicher: Geiger, Zur Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft unter den Juden.

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Demgemäß fungiert die historisch-kritische Methodik als integrativer Teil der Historischen Theologie. Neben sprach(wissenschaft)lichen und methodischen Kenntnissen unterstützt auch religionsgeschichtliches, kultur- und geistesgeschichtliches sowie allgemein historisches Wissen die Schriftauslegung eines historischen Theologen, insofern es wichtige Informationen zur Text- respektive Gesinnungsentstehung und -entwicklung darbietet, einen weiten Auslegungshorizont eröffnet und damit die Interpretation der religiösen Schriften erleichtert. Ein jüdischer Theologe muss daher auch das geistes- und religionsgeschichtliche Umfeld des Judentums und innerjüdische Begebenheiten in den Blick nehmen, da sie auf das Judentum sowie seine religiöse Entwicklungsgeschichte, seine Theologie und seine religiösen Schriften, einwirken. Daher enthält der historische Zweig theologie-, religions-, literatur-, geistes- und kulturgeschichtliche Momente, die in toto den jüdischen Geist in seiner Entfaltung und Wechselwirkung mit der Umgebung offenlegen, so das vielgestaltige historische Phänomen Judentum widerspiegeln und es als eine kulturproduktive und emanzipative Größe innerhalb der universalen Geschichte beschreiben. Im Folgenden gilt es, die einzelnen Epochen der jüdischen Geschichte, also die unterschiedlichen Bereiche der Historischen Theologie, genauer zu beleuchten, indem vorwiegend deren Charakteristika und deren konkrete Untersuchungsgegenstände dargestellt werden. 4.1.2.1  „Die biblische Theologie“ Die erste Periode der jüdischen Geschichte und damit die erste Unterdisziplin der Historischen Theologie wird von Geiger als „biblische Theologie“ (ETh 10)176 bezeichnet. Sie umfasst das „erste[ ] Auftreten“ (ETh 9) des Judentums und reicht bis ins erste nachchristliche Jahrhundert. Geiger schreibt dieser Epoche eine Zentralstellung innerhalb der jüdischen Historie zu und begründet die Hervorhebung dadurch, dass sie „die vorzüglichste und energischste Ausprägung des jüdisch religiösen Gedankens“ (ETh 10)177 ist.178 Demnach fungiert die „biblische Theologie“ als vollkommenster und prägnantester Ausdruck der religiösen Idee des Judentums, zeichnet sich also durch Ursprünglichkeit, Originalität, Kreativi-

176 Vgl. dazu auch: Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte bis zur Zerstörung des zweiten Tempels; ders., Einleitung in die biblischen Schriften; ders., Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der inneren Entwickelung des Judenthums. 177 Als Träger geistiger Produktivität fungieren die Propheten (vgl. JGI 27). 178 Die der Epoche zugesprochene Bedeutung führt nicht zu einer besonders ausführlichen Thematisierung. So nimmt die Epoche der „nachbiblische[n] Theologie“ den größten Raum in den Vorlesungen und daher auch in dieser Darstellung ein.

Disziplinäre Aufgliederungen151 tät und Produktivität des jüdischen Geistes aus.179 Geiger legt sowohl die Aufgabe als auch den Untersuchungsgegenstand dar, wenn er schreibt, dass „aus den vorhandenen Urkunden die religiösen Lehren und Wahrheiten des Judenthums möglichst rein darzustellen“ (ETh 10) sind. Die „rein[e]“ Darstellung muss vom Theologen geleistet werden, ist damit stets ein interpretatorisches Konstrukt und liegt nicht in den Quellen selbst. Es zeichnet sich ab, dass die von Geiger auch „Erklärungskunst“ (ETh 13) genannte wissenschaftliche Schriftauslegung ein konstitutives Element der „biblische[n] Theologie“ ist und auf die Ermittlung der ursprünglichen religiösen Wahrheiten abzielt. Dementsprechend steht die wissenschaftliche Bibelexegese im Mittelpunkt, was sowohl den methodischen Zugriff als auch die Untersuchungsgrundlage vorgibt.180 Geiger bestimmt nicht explizit, welche „Urkunden“ betrachtet werden sollen, weist stattdessen daraufhin, dass die Kanonproblematik und die damit zusammenhängende Frage, welche Schriften zur Erhellung des jüdischen Geistes herangezogen werden sollen, im Rahmen der Einleitungswissenschaft zu klären seien. Darüber hinaus betont Geiger, dass solche Fragen nicht überbewertet werden dürfen, da die biblischen Schriften, wenngleich sie aus unterschiedlichen Zeiten stammen, vom gleichen jüdischen Geist, wenn auch in verschiedenen Äußerungsformen, getragen sind. Alle „Urkunden“ fungieren demgemäß als Ausdruck der jüdischen Idee, unterscheiden sich jedoch in der Art der Ausprägung. Nach Geigers Dafürhalten gilt es auch, die Geschichte der jüdischen Bibelexegese zu thematisieren, da sich in ihr die allgemeine jüdische Geschichte widerspiegelt. Auch hier befriedigt sich das Streben nach historischer Erkenntnis (vgl. ETh 14f; Bex 217–222). Darüber hinaus muss der jüdische Theologe Kenntnisse über das ideen- und religionsgeschichtliche Umfeld des Judentums zur biblischen Zeit haben, um die „biblische Theologie“ als ein Proprium wahrnehmen zu können. Es bedarf einer Kontrastfolie, damit das genuine Profil der „biblische[n] Theologie“ deutlicher 179 Folgende Äußerung Geigers entfaltet diesen geschichtsphilosophischen Gedanken noch einmal: „Ein jeder Gedanke tritt, bei seinem neuen Erscheinen, im Bewusstsein des Gegensatzes mit der vollsten Energie, doch nicht in allseitiger Entwickelung auf, er prägt sich hier am reinsten aus, doch ausserdem, dass er noch vollkommen entfaltet werden müsste, hat er auch da einerseits seine Sturm- und Drangperiode, sodass er den Gegensatz gegen das Vorhergegangene zu einer schroffen Einseitigkeit treibt, andererseits auf dem Boden des Bestehenden sich befindend, dennoch unbewusst aus demselben Momente aufnimmt, die seiner Richtung nicht wesentlich sind, die er aber in seinen Inhalt verflicht, und denen er dieselbe Entschiedenheit beilegt. Alles aber beleuchtet von dem neuen Gedanken und der Innigkeit in demselben“ (ETh 9f). 180 Vgl. zu dieser Thematik auch das Kapitel 3 des I. Hauptteils: Methodik der Wissenschaft des Judentums. Da in jenem Kapitel bereits ausführlich auf die historisch-kritische Bibelexegese eingegangen wurde, werden die Ausführungen an dieser Stelle knapp gehalten, um Doppelungen zu vermeiden.

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betont werden kann. Geiger legt entsprechend dar: „Bei einer solchen neuen und entschiedenen Bewegung wird der neue Gedanke mit aller Schärfe entgegengestellt, aber gewisse allgemeine in Lebenssitte ausgeprägte Anschauungen werden festgehalten; um daher den Gegensatz und das Gemeinschaftliche kennen zu lernen, ist eine solche Orientierung auf diesem Gebiete vor Allem nothwendig“ (ETh 16).181 Um das spezifisch Jüdische, welches auch Allgemeinmenschliches impliziert, einordnen und umfassend verstehen zu können, müssen die geläufigen Einsichten der Umwelt erfasst und mit der jüdischen Idee verglichen beziehungsweise kontrastiert werden. Religionsgeschichtliche Kenntnisse sind demgemäß für ein tiefes Verständnis zwingend erforderlich und müssen daher vom jüdischen Theologen angeeignet werden. Als zentrale jüdische und damit neue Anschauung der biblischen Zeit benennt Geiger die „Einheit und Heiligkeit Gottes“ (ETh 16)182 und definiert so den reinen Monotheismus als zentralen Topos der „biblische[n] Theologie“.183 4.1.2.2  „Die nachbiblische Theologie“ Die zweite Periode der jüdischen Geschichte184, die zugleich als zweite Unterdisziplin der Historischen Theologie fungiert, ist die der „nachbiblische[n] Theologie“ (ETh 9)185. Sie reicht vom Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts 181 Geiger betont überdies, dass das Allgemeinmenschliche im Judentum „seine historische Wurzel“ hat und bezeichnet diese Tatsache als „Vorzug des Judenthums“ (ETh 16). 182 Vgl. zum Grundgedanken des Judentums auch exemplarisch: AJ 234; PKII 84 f. 183 Ausführlicher schreibt Geiger: „Der neue Gedanke ist die Einheit und Heiligkeit Gottes, dessen Dienste Israel gewidmet sei; die nationale Sonderung, die Schärfe gegen abweichende Nationalitäten, der scharfe Gegensatz“ (ETh 16). 184 Vgl. ausführlicher zu dieser Zeit: Geiger, Die wissenschaftliche Ausbildung des Judenthums in den zwei ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends bis zum Auftreten Maimonides; ders., Das Judenthum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts; ders., Das Judenthum und seine Geschichte von dem Anfange des dreizehnten bis zum Ende des frühen sechszehnten Jahrhunderts. 185 Es fällt auf, dass Geiger diese Periode vornehmlich „nachbiblische Theologie“ nennt, an einer Stelle jedoch auch von der „rabbinisch-thalmudische[n] Theologie“ (ETh 9) spricht. Eine terminologische Reflexion gibt es nicht. In der folgenden Darstellung wird in Anlehnung an Geigers vorrangigen Gebrauch durchgängig die Bezeichnung „nachbiblische Theologie“ gewählt. Die Datierung der Epoche, die von Geiger selbst nicht explizit vorgenommen wird, weist einige Unstimmigkeiten auf. Die Periode der „nachbiblische[n] Theologie“ erstreckt sich allem Anschein nach bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, da die Zeit der Kritik im 18. Jahrhundert beginnt. Die primär zugrunde gelegte Literatur reicht dagegen nur bis ins 5. respektive 6. Jahrhundert hinein, also bis zum Abschluss des babylonischen Talmuds. Und auch Geigers Ausführungen fokussieren fast ausschließlich den Anfang der Zeit und streifen die letzten Jahrhunderte nur. In Anlehnung daran konzentrieren sich die hier folgenden Ausführungen vornehmlich auch auf die Anfangszeit der Epoche.

Disziplinäre Aufgliederungen153 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und wird von Geiger mit dem Terminus „Ausarbeitung“ (ETh 10) charakterisiert, was dahingehend gedeutet werden kann, dass die Blütezeit der originellen Neuschöpfungen und der kreativen Produktivität vorüber ist. In dieser Periode wird die Kanonbildung abgeschlossen und dadurch eine autoritative Größe geschaffen, die Orientierung und Legitimation für das religiöse Leben stiftet. Das Schriftstudium etabliert sich als eine feste Größe innerhalb der jüdischen Frömmigkeitspraxis und darüber hinaus entwickelt und festigt sich das jüdische Ethos, welches sich ebenfalls in der Glaubenspraxis verankert. Mit dem Abschluss der Kanonisierung bildet sich ein Bewusstsein für das „Heilige“ und das „Unantastbare“ (ETh 16) heraus, wird demnach ein religiöses Identitätsgefühl hervorgerufen. Die eigene religiöse Grundanschauung respektive die religiösen Schriften werden als jüdische Spezifika wahrgenommen und als Wurzel beziehungsweise Ausdruck der religiösen Zugehörigkeit erkannt. Die mündliche Tora wird schriftlich fixiert, die religionsgesetzliche Weisung in Form des Talmuds somit kodifiziert. Seitdem bestimmen das Gesetz und seine kasuistische Auslegung das rabbinische Judentum, welches zur vorherrschenden Form des jüdischen Glaubens und Lebens in dieser Zeit wird. Insgesamt profiliert und konsolidiert sich folglich das religiöse jüdische Leben, welches sich bewusst von fremden Traditionen distanziert, sich als jüdisches Spezifikum versteht und sich in der talmudischen Literatur gründet, die deshalb als zentrale Untersuchungsgrundlage dieser Epoche fungiert (vgl. ETh 16f). Es zeichnet sich demnach ab, dass die Schriftauslegung auch die historische Unterdisziplin der „nachbiblische[n] Theologie“ bestimmt, das heißt, dass historische Erkenntnisse durch die historisch-kritische Analyse der talmudischen Quellen gewonnen werden und die weitere Entwicklung des jüdischen Geistes so erforscht wird. Die konsequente Historisierung der talmudischen Literatur ist erkennbar. Geiger konkretisiert, was genau er unter talmudischer Literatur versteht und präzisiert damit den Untersuchungsgegenstand der „nachbiblische[n] Theologie“. Er stellt heraus, dass die talmudische Literatur eine Spanne von 800 Jahren einschließt und sich „bis zum vollen Abschluss der babylonischen Gemara“ (ETh 17)186 erstreckt. Die talmudische Literatur inkludiert nach seinem Urteil Schriften, die alle vom gleichen Geist erfüllt sind, wobei sich dieser in unterschiedlichen Ausprägungsformen zeigt und daher auch verschiedene Ausdrucksarten evoziert. Im Einzelnen handelt es sich dabei um: „Megillath Taanith“, „Seder Olam“, „Megilloth Juchasin“, „Mischnah mit Baraitha’s (Thosseftha)“, „Mechiltha“, „Sifra und Sifre (d’be Rab)“, „jerus. Gemara und die älteren Midraschim“, „babylon. Gemara“ (ETh 17f). Alle Werke, die nach Vollendung der 186 Geiger begründet den Abschluss des Talmuds damit, dass „ihn die Zeit nicht mehr fortzusetzen vermochte“ (ETh 22).

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babylonischen Gemara entstanden sind, degradiert Geiger als „ein[en] erweiternde[n] Nachwuchs ohne Eigenthümlichkeit“ (ETh 18)187. Die spätere jüdische Literatur entbehrt demnach an Ursprünglichkeit, Kreativität und Originalität, wird deshalb nicht mehr als eigentümliche Neuschöpfung des jüdischen Geistes verstanden und wird von Geiger daher zurückgestuft. Wenngleich er den späteren Werken eine geringere Bedeutung zuspricht, sollen einzelne, die noch bestimmt werden, dennoch bearbeitet werden. Festzuhalten ist, dass ein jüdischer Theologe die angeführten Schriften historisch-kritisch untersuchen muss, um das genuine Profil der „nachbiblische[n] Theologie“ aus historischer Perspektive ermitteln zu können, um also die weitere religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums ergründen zu können und so seinen Beitrag zur Erlangung der „Erkenntniss der religiösen Wahrheiten und des ihnen entsprechenden Lebens nach der Lehre des Judenthums“ (ETh 4) zu leisten. Die historisch-kritische Interpretation talmudischer Schriften bedarf fundierten Wissens um das (kultur- und geistes)geschichtliche Umfeld des Judentums und um innerjüdische Begebenheiten.188 Gerade im Hinblick auf die Entwicklung der religiösen Satzungen respektive die Ausprägung der gesetzlichen Schrifterklärung spielen die sich herausgebildeten Religionsparteien der Pharisäer und der Sadduzäer eine wichtige Rolle. Die offenkundigen Divergenzen, die zahlreiche Auseinandersetzungen bedingen, prägen auch die Entwicklung der Halacha. Letztlich setzt sich nach der zweiten Tempelzerstörung und dem damit einhergehenden Verschwinden von Tempel und Staat die pharisäische Tradition durch und bestimmt damit auch die halachische Literatur. Ein jüdischer Theologe muss nach Geigers Auffassung Kenntnisse über beide Religionsparteien erwerben, da diese die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums maßgeblich prägen, insofern sie Einfluss auf die Ausbildung und Entwicklung des Religionsgesetzes haben. Diese Ansicht Geigers kann als sein spezifischer Ansatz ausgemacht werden, welcher seine Geschichtsdeutung und deren Darstellung maßgeblich bestimmt.189 Der Parteienkampf fungiert für Geiger demnach als historiographische Kategorie, also als Schlüssel zur Interpretation der gesamten Entwicklung des Judentums.190 Als weitere innerjüdische Begebenheit von Bedeutung für die 187 An späterer Stelle äußert sich Geiger in ähnlicher Weise, wenn er darlegt: „Von nun an bietet die jüdische Literatur nichts Eigenthümliches von selbstständigem theologischen Gehalte […]“ (ETh 22). 188 Vgl. dazu: Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte. 189 Schon Heschel konstatiert: „Geiger definierte die Struktur des Judentums vom Zweiten Tempel bis zur Zeit der Mischna im Sinne eines ständigen Konflikts zwischen Pharisäern und Sadduzäern […]“ (Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 32). 190 Dass der Parteienkampf als historiographischer Zugriff fungiert, zeigt exemplarisch folgende Formulierung Geigers: „Die Entwicklung des Judenthums bis zu seiner gegenwärtigen Gestalt beruht auf dem Kampfe zwischen Sadducäern und Pharisäern“ (EWdJ 103). Diese Thematik,

Disziplinäre Aufgliederungen155 religiöse Entfaltung des Judentums während der Zeit der „nachbiblische[n] Theologie“ benennt Geiger die Entstehung von Sekten und Religionen und konkret die Ablösung beziehungsweise Herausbildung der Samaritaner, der Sadduzäer und Boethusen und der Karäer (vgl. ETh 23f).191 Die sich unterscheidenden Anschauungen dieser religiösen Gruppierungen, vornehmlich im Hinblick auf die Halacha und die entsprechend geprägten literarischen Ausdrucksformen müssen berücksichtigt werden, wenn der jüdische Geist in seiner geschichtlichen Entwicklung eruiert werden soll. Besondere Beachtung sollen die Karäer erhalten, da ihre Wirksamkeit die längste und nachhaltigste ist.192 Weiterhin kann auch die Betrachtung des Christentums und des Islam, den Geiger als „Mohammedanismus“ (ETh 24)193 bezeichnet, Aufschluss über die religiöse Entwicklung und Wirkmächtigkeit des Judentums geben und muss daher in die historische Unterdisziplin der „nachbiblische[n] Theologie“ integriert werden. Vornehmlich die Entstehung des Christentums und des Islam und die Bedeutung des Judentums für die beiden „Tochterreligionen“ (ETh 24)194 gilt es zu reflektieren, darüber hinaus die Berührungspunkte zu bestimmen und herauszuarbeiten, inwiefern sich die jüdische Lehre durch das Christentum und den Islam weiter verbreitet (vgl. ETh 24; MJ). Besonderes Augenmerk muss nach

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also die Bedeutung von Pharisäern und Sadduzäern für die gesamte (innere) Geschichte des Judentums und die Entwicklung der Halacha, das heißt auch die Unterscheidung in ältere und jüngere Halacha, entfaltet Geiger erst später und daher wird sie in diesem Zusammenhang nur kurz angedeutet (vgl. zu dieser Thematik ausführlich: UUe; SP; JGI 77–107). Vgl. zu den religiösen Sekten: Geiger, Die Theologie und Schrifterklärung der Samaritaner; ders., Die gesetzlichen Differenzen zwischen Samaritanern und Juden; ders., Karäische Literatur; ders., Das Judenthum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, 53–68; ders., Entstehung des Christenthums. In seiner Urschrift arbeitet Geiger unter anderem den Zusammenhang zwischen den religiösen Sekten des Judentums und der Entwicklung der Halacha aus und legt seine Theorie von der älteren und jüngeren Halacha dar (vgl. UUe 149–158, 170–199). In seiner Dissertation Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? entfaltet Geiger ausführlich, dass zentrale Lehren des Islam dem Judentum entstammen, indem er den Einfluss der rabbinischen Literatur auf den Koran herausarbeitet und so die Originalität des Judentums betont. Heschel deutet Geigers Dissertation in der für sie charakteristischen und überzeugenden Weise, wenn sie schreibt: „Geiger’s reinterpretation is an example of his use of counterhistory: Rather than blaming the Jews for the folly of Islam, he gave Judaism pride of credit for producing Islam by demonstrating the influence of rabbinic literature on the Qur’an“ (Heschel, „Revolt of the Colonized“, 71). Vgl. zur Thematik im Allgemeinen: Hartwig u. a. (Hrsg.), „Im vollen Licht der Geschichte“. Geiger betont die geistige Kraft des Judentums, indem er herausstellt: „So ist das Judenthum, wenn auch nicht die Mutter des Islam, wie es die des Christenthums ist, doch seine Amme, die ihn mit ihren Säften und Kräften nährte, doch seine Lehrerin, welche den Schüler ausstattete und groß zog“ (JGII 50). Vgl. dazu auch: Geiger, Die neuesten Fortschritte in der Erkenntniß der Entwickelungsgeschichte des Judenthums und der Entstehung des Christenthums.

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Geigers Überzeugung die „arabisch-jüdische Philosophie“ (ETh 22)195 erhalten, da sie Träger der jüdischen Kreativität und Produktivität ist und durch den erfrischenden und belebenden Einfluss der arabischen Wissenschaft nachhaltig auf das Gepräge der „nachbiblische[n] Theologie“ wirkt. Die freie geistige Entfaltung der Juden in den vom Islam geprägten Ländern sowie die Befruchtung mit allgemeiner Bildung und Wissenschaft führen zu einer pointierten Ausbildung einer philosophischen Anschauung. Wenngleich Geiger der jüdischen Literatur nach Abschluss des Talmuds eigentlich ihre Originalität abspricht, verlangt er eine intensive Beschäftigung mit den Schriften der arabisch-jüdischen Philosophie, da diese eine Ausnahme bilden und ein spezifisch jüdisches Profil aufweisen, damit auch den jüdischen Geist in seiner Eigentümlichkeit zur Zeit des Mittelalters widerspiegeln und dadurch zu signifikanten Erkenntnisquellen eines historischen Theologen avancieren. Aus diesem Grund müssen die Protagonisten der arabisch-jüdischen Religionsphilosophie und ihre Werke in den Blick genommen werden. Geiger verweist auf Saadias, Juda ha-Levi und Maimonides196 und steckt so den Rahmen der notwendigen Kenntnisse der arabisch-jüdischen Philosophie ab, über die ein jüdischer Theologe verfügen muss. Offenkundig erweitert Geiger damit auch die Untersuchungsgrundlage dieser Unterdisziplin.197 Soll die „nachbiblische Theologie“ beleuchtet und dargestellt werden, muss auch der universelle kulturgeschichtliche Kontext erhellt werden. Geiger definiert daher die „Geschichte und Literaturgeschichte“ als „nothwendige Hilfswissenschaften“ (ETh 25) und erklärt deren zentrale Inhalte zum integralen Bestandteil der „nachbiblische[n] Theologie“. Demzufolge soll unter Zuhilfenahme literaturund kulturhistorischer Kenntnisse das Profil der „nachbiblische[n] Theologie“ geschärft werden. Dementsprechend gilt es auch, die Kulturgeschichte des Mittelalters, an der das Judentum partizipiert, in den Blick zu nehmen und vornehmlich die Entwicklung der Bildung respektive Wissenschaft und deren Wirkung auf das Judentum zu untersuchen. Einmal mehr wird deutlich, dass eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen der universalen Kultur- sowie Geistesgeschichte und dem Judentum einschließlich seiner Theologie besteht, die ein historischer Theologe anerkennen, reflektieren und darstellen muss. 195 Vgl. ausführlicher dazu: Geiger, Die wissenschaftliche Ausbildung des Judenthums in den zwei Jahrhunderten des zweiten Jahrhunderts bis zum Auftreten Maimonides. 196 Geiger legt weiterhin dar, dass Maimonides den Höhepunkt, aber gleichzeitig auch das Ende der produktiven und originellen Zeit bildet, da seiner Ansicht nach „die bald eintretende Mystik […] eine phantastische [war] und […] keinen Werth“ hatte (ETh 23). Einzig Asaria de Rossi wird von Geiger noch als bedeutender Vertreter hervorgehoben, den es näher zu betrachten gilt (vgl. ETh 23). 197 Vgl. dazu auch Geigers Aufsätze: Geiger, Moses ben Maimon; ders., Juda ha-Levi; ders., Das Judenthum und seine Geschichte von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, 69–151.

Disziplinäre Aufgliederungen157 „Die neuere Theologie“ 4.1.2.3  Die dritte Epoche der jüdischen Geschichte, die der dritten historischen Unterdisziplin entspricht, wird von Geiger als „neuere Theologie“ (ETh 26)198 bezeichnet und als Periode der „Kritik“ (ETh 10)199 näher charakterisiert. Die letzte Epoche beginnt im 18. Jahrhundert und reicht bis in die Gegenwart Geigers hinein. Ihren zeitlichen und ideellen Ausgangspunkt hat die Periode in der Aufklärung. Sie gründet sich infolgedessen in den Theoremen derselben und kann deshalb ohne fundiertes Wissen um die Leitgedanken der Aufklärung nicht erschlossen werden (vgl. ETh 26). Die letzte Epoche umfasst auch die unmittelbare Gegenwart und impliziert eine Analyse des derzeitigen Zustands der religiösen Entwicklung des Judentums, also eine kritische Diagnose der religiösen Praxis. Es zeigt sich, dass Geigers Verständnis von Geschichte auch die Gegenwart einschließt und nicht ausschließlich Vergangenes umfasst. Die Gegenwart wird also nicht normativ, sondern als ein Moment der Geschichte beschrieben, wodurch ihre Historisierung erkennbar wird, die wiederum eine Zukunftsoffenheit konstituiert. Die Epoche der „neuere[n] Theologie“ zeichnet sich demgemäß durch einen dezidierten Gegenwartsbezug und damit verbunden durch Praxisrelevanz aus, wodurch sie den Charakter einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft und religiöser Lebenswelt erhält (vgl. ETh 27). Es stellt sich die Frage, inwiefern sich der jüdische Gedanke in der Gegenwart ausdrückt, worin er sich widerspiegelt und welche Untersuchungsgrundlage die historische Unterdisziplin der „neuere[n] Theologie“ demzufolge hat. Geigers Ausführungen und der von ihm stets betonte Zusammenhang von Wissenschaft und Leben deuten daraufhin, dass sich der jüdische Geist der Gegenwart am prägnantesten in der Wissenschaft, demnach in der sich neu entfaltenden jüdischen Theologie und deren literarischen Erzeugnissen, verdichtet. Die jüdische Produktivität und Individualität finden demzufolge ihren Ausdruck in der wissenschaftlichen Theologie, die somit als Zeugnis und gleichzeitig als Quelle der neu erwachten Lebendigkeit des Judentums gedeutet werden kann. Aus der produktiven Verzahnung von Theologie und Leben folgt, dass auch die Theologie als solche respektive deren literarischen Produkte nähere Beleuchtung finden 198 Geigers Ausführungen zur Zeit der „neuere[n] Theologie“ fallen in seinen Vorlesungen äußerst knapp aus, sodass von insgesamt 19 Paragraphen nur einer die „neuere Theologie“ behandelt (vgl. ausführlicher zu dieser Zeit: Geiger, Anhang. Jüdische Geschichte von 1830 bis zur Gegenwart). 199 Geiger beschreibt die Epoche näher: „Die dritte Periode, die der Kritik, beginnt mit der Einsicht in die Abirrung und, im Verwerfen und Anschmiegen hin und herschwankend, muss sie sich zur vollen Erkenntniss des wesentlichen Gehaltes des Gedankens und seiner nunmehrigen annäherndsten Ausprägung hindurchdringen“ (ETh 10).

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müssen, wenn die neuere Zeit betrachtet werden soll. Als zentrale Untersuchungsmomente fungieren neben den ideellen Grundzügen der Aufklärung folglich die konkrete religiöse Praxis der Gegenwart und die jüdische Theologie beziehungsweise ihre literarischen Erzeugnisse, die es zu betrachten gilt, um dadurch die religiösen Wahrheiten des Judentums in ihrer derzeitigen Ausdrucksform erhellen und dadurch die Aufgabe der jüdischen Theologie erfüllen zu können. Eine präzisere Bestimmung der Forschungsgrundlage in Form von konkreten Quellen formuliert Geiger nicht. Die Aufklärung wird von Geiger als Ursprung der Epoche der „neuere[n] Theologie“ bezeichnet und daher muss der jüdische Theologe wissen, welche ideellen Auswirkungen sie auf das Judentum und seine Geistesentwicklung hat. Er muss diese Prägung zum Schlüssel der Deutung der Gegenwart machen. Geiger selbst umreißt diesen Einfluss in den Vorlesungen nur knapp und stellt heraus, dass die Bildungsoffensive der Aufklärung auch das Judentum trifft, sodass seitdem allgemeinbildende Inhalte an Bedeutung gewinnen und religiöse Wissensbestände aus ihrer Vormachtstellung verdrängt werden und nicht mehr als unantastbar gelten. Allgemeine Bildungsgüter halten demnach verstärkt Einzug in jüdische Bildungsprozesse und Bildung sowie Wissenschaft gewinnen an genereller Beachtung und Bedeutung, was auch Konsequenzen für das religiöse Leben hat.200 Als ein weiteres Charakteristikum der Zeit, welches vornehmlich auf Mendelssohn zurückzuführen ist, benennt Geiger „die Rückkehr der Aufmerksamkeit zur Bibel“ (ETh 26). Er beschreibt den Zugriff auf die Bibel als „ästhetisch“ (ETh 26), was dahingehend gedeutet werden kann, dass die Lektüre primär Gefallen und Geschmack hervorrufen soll und dadurch einen deutlichen Gegensatz zur talmudischen, das heißt ausschließlich gesetzesorientierten Schriftauslegung bildet. Der ästhetisch motivierte Zugang entbehrt in Geigers Augen jedoch der Theologizität und damit einhergehend der Wissenschaftlichkeit. Auch aus heutiger Perspektive können die Bestrebungen der Maskilim den Ansprüchen moderner Wissenschaftlichkeit, die auch Geiger einfordert, nicht gerecht werden. Die Ausführungen zur Methodik der Wissenschaft des Judentums in Kapitel 3 des I. Hauptteils haben gezeigt, dass die Bibel erst in Geigers unmittelbarer Gegenwart 200 Geiger rekurriert äußerst knapp auf Mendelssohn als den exponierten Vertreter der jüdischen Aufklärung, also der Haskala. Er spricht ihm jegliche Leistung im Hinblick auf die Profilierung einer jüdischen Theologie ab. Nach Geigers Dafürhalten liegt Mendelssohns Verdienst ausschließlich darin, allgemeine Bildungsprozesse innerhalb des Judentums initiiert, einen breiten Erkenntnisgewinn realisiert und die Bildung als konstitutiven Bestandteil im Judentum verankert zu haben. Geiger führt aus: „Mendelssohn sucht sich die Theologie nur bei seinen anderen Bestrebungen vom Leibe zu halten, liess aber auch sie geflissentlich möglichst unberührt. Beseitigung des Unverstandes im Allgemeinen mit grosser Verwahrung dagegen, dass derselbe zum herkömmlichen Judenthume gehöre, und Verbreitung des Geschmacks und nützlicher Kenntnisse bildete die Aufgabe seiner Schule“ (ETh 26).

Disziplinäre Aufgliederungen159 historisch-kritisch analysiert wird. Jedoch ist es den Maskilim, genau wie von Geiger herausgestellt, sicherlich zu verdanken, dass sie wieder ins Bewusstsein geholt wurde und ihr damit eine bedeutendere Stellung innerhalb des jüdischen Lebens eingeräumt wurde. Wenngleich von Geiger im Kompendium nicht explizit gemacht, kann die rationale, kritische Perspektive als ein weiteres Merkmal der Aufklärung gedeutet werden. Es ist offenkundig, dass sie auch Teile des Judentums bestimmt, indem sie dessen religiöse Traditionen und Lehren verstärkt infrage stellt beziehungsweise relativiert oder mit modernen Ansichten und Anforderungen konfrontiert. Die vernunftbasierte Herangehensweise an die jüdische Religion ermöglicht einen sachlichen, wissenschaftlichen Zugang und eröffnet so die Möglichkeit, Missstände wahrzunehmen. Dementsprechend kann die Erkenntnis der als defizitär empfundenen Lage des Judentums auch als Ergebnis aufklärerischen Denkens gewertet werden. Die virulenten Divergenzen zwischen dem modernen Zeitgeist und den traditionellen Vorstellungen können durch die kritische Betrachtungsweise offen gelegt werden. Darüber hinaus kann verdeutlicht werden, dass ein ausgeprägtes religiöses Leben kaum noch existiert (vgl. ETh 26f). Zusammenfassend lässt sich mit Geiger festhalten, dass die in der Aufklärung ausgeprägten Topoi Bildung, Wissenschaft, Vernunft und Kritik auf das Judentum und seine Theologie einwirken, diese nachhaltig beeinflussen und daher auch im gegenwärtigen Judentum virulent sind. Aufgrund dessen muss der jüdische Theologe diese bei seiner Untersuchung der Gegenwart stets mitführen und als Deutungshinsichten veranschlagen. Geigers Äußerungen können dahingehend gedeutet werden, dass er von der Perfektibilität der jüdischen Theologie ausgeht und sein Geschichtsverständnis offenkundig davon geprägt ist. So hat sich gezeigt, dass die „neuere Theologie“ in der Aufklärung gründet, sich in dieser Zeit jedoch noch nicht vollständig ausbildet. Das bedeutet, dass die Ansätze für eine neue Konzeption einer wissenschaftlichen Theologie zwar gelegt werden, es zu einer umfassenden Profilierung aber noch nicht kommt (vgl. ETh 26). Ebenfalls in der Zeit nach der Aufklärung, infolgedessen auch in der unmittelbaren Gegenwart Geigers, betrachtet er die jüdische Theologie als noch im Werden. Dementsprechend beschreibt Geiger die existente Theologie auch als defizitär und begründet diese Einschätzung damit, dass es im Judentum kein ausgeprägtes religiöses Leben sowie Bewusstsein gibt und es daher auch nicht zu einer wissenschaftlichen Beschreibung ebendieses Lebens und Denkens kommen kann. Denn er definiert Theologie als „das Gesammtbewusstsein der Religionsgesellschaft wissenschaftlich übersetzt“ (ETh 27) und stellt damit heraus, dass ein lebendiges religiöses Leben, Denken und Empfinden die Voraussetzung für eine Theologie bildet und nicht eine konzipierte Theologie eine dynamische religiöse Wirklichkeit nach sich zieht. Die jüdische Theologie braucht demnach eine lebendige Bezugsgröße und kann sich bei deren Fehlen

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nicht adäquat ausbilden. Die wechselseitige Relation von Theologie und Leben ist überdies offenkundig, da Geiger den konstatierten Mangel einer „wissenschaftlichen Vertiefung“ (ETh 26) und den dadurch bedingten fehlenden „wissenschaftlich[en] Gesammtbegriff“ (ETh 26) auf die virulente Divergenz zwischen traditionellen jüdischen Vorstellungen und neuen, durch die Aufklärung inspirierten Positionen und dem wenig ausgeprägten religiösen Leben zurückführt (vgl. ETh 27).201 Die Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne, die in der Aufklärung ihren Ursprung hat, verhindert nach Geigers Meinung demgemäß eine profilierte jüdische Theologie im Sinne einer modernen Wissenschaft. Im Gefolge der Aufklärung gewinnen nun die beiden Theoreme „Geschichte und Kritik“ (ETh 27) immer mehr an Bedeutung und werden zu den zentralen Elementen der allgemeinen Geisteshaltung und damit auch zu wichtigen Deutungsfaktoren. Geiger bezeichnet das Jahr 1830 als entscheidenden Wendepunkt, da seitdem die beiden Größen „Geschichte und Kritik“ auch das Judentum, seine Gedanken, seine Lehren und seine Frömmigkeitspraxis bestimmen, wenn auch noch nicht in toto.202 Die historisch ausgerichtete Kritik fungiert als befreiende, reinigende und belebende Triebfeder innerhalb des religiösen Lebens des Judentums und eröffnet eine optimistische Zukunftsperspektive, insofern sie Reformprozesse initiiert, wie folgende Äußerung Geigers zeigt: „Das Leben aber wird durch den Läuterungsprocess, die Kritik, umgestaltet und so musste auch diese als Reformbestrebung mit wissenschaftlicher Begründung, als Geschichte sich geltend machen“ (ETh 27). Geiger geht soweit, dass er betont, dass ohne die wissenschaftlichen Koordinaten „Geschichte und Kritik“ keine lebendige Glaubens- und Frömmigkeitspraxis möglich ist und benennt sie daher als die „vorzüglichste wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart“ (ETh 27), was auch als Imperativ für jüdische Theologen gedeutet werden kann. Inwiefern diese beiden Momente wirkmächtig sind, ist in Kapitel 3 des I. Hauptteils bei der Darstellung der Methodik bereits ausführlich entfaltet worden. Die historisch-kritische Perspektive kann als Spezifikum und Herzstück der „neuere[n] Theologie“ benannt werden. Durch die beschriebene Wende und die damit einhergehende Umgestaltung des religiösen Lebens profiliert sich auch die jüdische Theologie weiter als eine moderne Wissenschaft. Aus diesem Grund zeigt sich auch der jüdische Geist wieder in eigentümlicher und origineller Form und als Quelle produktiver Neuschöpfungen. Berücksichtigt werden muss, dass Geiger die jüdische Theologie 201 Geiger betont: „Nicht das System schafft das geistige Leben der Gesammtheit, dieses erst schafft das System, aber nur das in höherer Einheit, das man bereits hat“ (ETh 27). 202 Es stellt sich die Frage, wieso Geiger gerade das Jahr 1830 als Wendepunkt bestimmt, was er im Übrigen auch im Kompendium der Wissenschaft des Judentums macht. Auffällig ist, dass seine Geschichtsdarstellung der neusten Zeit auch 1830 beginnt. Eine Erklärung dafür liefert Geiger nicht (vgl. EWdJ 243; AJG).

Disziplinäre Aufgliederungen161 als noch im Werden befindlich beschreibt und dem jetzigen Zustand noch keine Idealität und Vollkommenheit attestiert. Daraus folgt, dass gegenwärtige Theologen aufgefordert sind, die Konzeptionalisierung der jüdischen Theologie mit voranzutreiben und sich aktiv an der Ausbildung zu beteiligen (vgl. ETh 27).

4.1.3  „Der praktische Theil“ Der „praktische Theil“ (ETh 27) ist der letzte Zweig der jüdischen Theologie und setzt den theoretischen voraus. Er greift auf die Erkenntnisse der Philosophischen und Historischen Theologie zurück und entwickelt Konzepte, wie diese für das konkrete religiöse Leben fruchtbar gemacht, wie sie also in die religiöse Praxis eingespeist werden können. Folgende Äußerung Geigers spiegelt die Funktion des praktischen Zweigs in deutlicher Anlehnung an die allgemeine Aufgabe der jüdischen Theologie wider: „Die praktische Theologie hat die Aufgabe, die theologische Erkenntniss in das Leben umzusetzen, [und] die Anwendung zu lehren“ (ETh 28). Die Praktische Theologie reflektiert demzufolge die praktische Anwendung theologischen Wissens, lotet also die Handlungs- und Wirkungsfelder religiöser Erkenntnisse aus, was ihr den Charakter einer Anwendungswissenschaft verleiht. Die Praktische Theologie bereitet demnach die Verbreitung und Vermittlung religiöser Erkenntnisse in methodischer Hinsicht vor. Der praktische Zweig trägt dadurch dazu bei, dass die jüdische Theologie als Ganze die ihr qua definitionem anhaftende Bildungsaufgabe erfüllt. Folglich werden die Wissenschaftlichkeit und Theologizität der Praktischen Theologie durch eben diesen Zweckbezug, in den das Wesen des Judentums thematisch eingetragen ist, begründet. Die religiöse Kommunikation und das religiöse Handeln im Kontext von Theologie und Gesellschaft werden im Rahmen der Praktischen Theologie also wissenschaftlich beleuchtet und organisiert. Die Praktische Theologie reflektiert demnach, wie theoretische Kenntnisse in der Lebenswelt sinnvoll verbreitet, umgesetzt und angewendet werden können, wie die Wirklichkeit auf Basis religiöser Wahrheiten gestaltet beziehungsweise verändert werden kann. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation des Judentums bedeutet dies, dass auch die Praktische Theologie religiöse Reformen innerhalb des Judentums unterstützen, vorantreiben und realisieren soll. Die Nutzbarmachung theologischer Erkenntnisse für das Leben soll in erster Linie, aber nicht ausschließlich der Weiterentwicklung des Judentums dienen (vgl. ETh 28f).203 Die Praktische Theologie wirkt somit offenkundig als Verbindungs-, ja Vermittlungsmoment zwischen Wissenschaft und Leben respektive Religion und Gesellschaft und als 203 Vgl. dazu: Kapitel 2.3 des I. Hauptteils: Praktisch: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung im Reformprozess.

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Katalysator einer fruchtbaren und wechselseitigen Beziehung zwischen beiden Größen. Die Frömmigkeitspraxis und das konkrete Gemeindeleben, also die Empirie sind demgemäß die Sphären, welche die Praktische Theologie wissenschaftlich beleuchtet. Folglich zeichnet sie sich durch einen ausgeprägten Praxisbezug, eine explizite Handlungsrelevanz und eine dezidierte Gegenwartsbedeutung aus und kann dementsprechend als empirisch-handlungsorientierte Wissenschaft bezeichnet werden. In den Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie veranschaulicht Geiger die Struktur, die Untersuchungsgesgenstände sowie die Aufgaben der Praktischen Theologie ausschließlich vermittelt, das heißt indirekt über die Darstellung der Tätigkeiten eines „praktische[n] Theologe[n]“ (ETh 27). Aus der Beschreibung ebendieser funktionalen Handlungen kann jedoch, wenngleich nur in Ansätzen, das Profil der Praktischen Theologie erschlossen werden, da sie den theoretischen Unterbau, also das wissenschaftliche Fundament der praktischen Tätigkeiten bildet. So korrelieren die Zweige der Praktischen Theologie mit den Handlungsfeldern eines „praktische[n] Theologe[n]“ in der Gemeinde. Dieser agiert demnach auf der Basis der von der Praktischen Theologie entwickelten Konzeptionen, die er wiederum qua Ausbildung im Studium der jüdischen Theologie erhält. Einmal mehr zeigt sich der konstitutive Zusammenhang von Konzeptionalisierung, Professionalisierung und Institutionalisierung, den es im II. Hauptteil noch zu schärfen gilt. Die Praktische Theologie unterscheidet sich dementsprechend in gewisser Weise von den anderen Disziplinen der jüdischen Theologie, da Geiger kein ausgereiftes wissenschaftliches Konzept darbietet und daraus resultierend einige Leerstellen bleiben.204 Der methodische Ansatz der Praktischen Theologie wird beispielsweise vollständig ausgeblendet. In Anlehnung an Geigers Ausführungen werden im Folgenden auch der „praktische Theologe“ und seine Tätigkeitsfelder in den Blick genommen und davon ausgehend der Aufbau der Praktischen Theologie skizziert. Bevor die Tätigkeiten eines „praktische[n] Theologe[n]“ präziser erhellt werden, soll zunächst die Frage geklärt werden, wen Geiger konkret vor Augen hat. Er subsumiert unter diesen Terminus explizit den „Rabbiner“, den „Geistliche[n]“ und den „Prediger“ (ETh 27), stellt gleichzeitig jedoch heraus: „Auf den Namen kommt es nicht an, und am Ende ist dann der des Geistlichen wohl der entsprechendste, jedoch der des Rabbiners der sanctionierte“ (ETh 28). Wie so häufig zeigt sich, dass Geigers Äußerungen einer terminologischen Präzision und Verbindlichkeit entbehren, was darauf zurückzuführen ist, dass er den begrifflichen Differenzierungen wenig Gewicht einräumt. Deutlich wird dennoch, 204 Von 32 Paragraphen, die das gesamte Kompendium der jüdischen Theologie umfasst, fallen nur 5, überdies recht kurze Paragraphen auf den praktischen Zweig.

Disziplinäre Aufgliederungen163 dass ein „praktische[r] Theologe“ sein Wirkungsfeld in der Gemeinde, also in der Praxis hat und sich dadurch vom Gelehrten, Wissenschaftler oder in Geigers Worten vom „Schriftsteller“ (BSR 495) unterscheidet.205 Geigers Verständnis eines „praktische[n] Theologe[n]“ divergiert offenkundig von der heutigen Auffassung, die praktische Theologen dezidiert als Wissenschaftler versteht, welche die theologische Disziplin der Praktischen Theologie im akademischen und gesellschaftlichen Diskurs vertreten. Aus heutiger Perspektive würde der Begriff „Praktiker“ das von Geiger skizzierte Selbstverständnis eines „praktische[n] Theologe[n]“ am treffendsten wiedergeben, da so dessen Arbeitsfeld – die Praxis – stärker hervorgehoben wird und Anklänge an eine akademische Wirksamkeit aufgehoben sind. Im Folgenden wird zwar an Geigers Terminus „praktische[r] Theologe“ festgehalten, das heutige Verständnis, also die Deutung als Praktiker, aber stets mitgeführt. Die Aufgaben eines „praktische[n] Theologe[n]“, genauer gesagt eines Rabbiners, innerhalb des Reformprozesses wurden bereits in Kapitel 2.3.2.1 des I. Hauptteils entfaltet, sodass an dieser Stelle darauf verzichtet wird.206 Vielmehr gilt es nun, die generellen, das heißt nicht unmittelbar im Horizont des Reformprozesses stehenden Tätigkeitsfelder eines „praktische[n] Theologe[n]“ in der Gemeinde, die in Kapitel 2.3.2.1 des I. Hauptteils unscharf geblieben sind, zu beleuchten. Dadurch soll gezeigt werden, inwiefern der „praktische Theologe“ auf Grundlage des praktisch-theologischen Entwurfs die Aufgabe der jüdischen Theologie, also primär die allgemeine Umsetzung und Anwendung theologischer Erkenntnis in das religiöse Leben zu erfüllen sucht. Die generelle Position eines „praktische[n] Theologe[n]“ in der Gemeinde bildet den Ausgangspunkt für seine Tätigkeiten. Geiger schreibt dem „praktische[n] Theologe[n]“ die „Stellung des moralischen Einflusses“ (ETh 27) zu, was zum einen dessen Autorität und Wirkmächtigkeit innerhalb der Gemeinde deutlich werden lässt und zum anderen zeigt, dass er auf Grundlage religiöser Wahrheiten konkrete Handlungsvorschläge, also sittliche Prinzipien der Lebensführung an die Gemeindeglieder vermitteln muss. Die Geltungssphäre eines „praktische[n] Theologe[n]“ erstreckt sich demzufolge auf das Gemüt der Gemeindeglieder, die er positiv zu beeinflussen sucht, um dadurch ein ethisch verantwortbares Handeln, welches im Einklang mit den religiösen Wahrheiten steht, zu bedingen. Daraus folgt unweigerlich eine große Verantwortung für die religiöse Praxis. Ein „praktische[r] Theologe“ kann die „Stellung des moralischen 205 Im Artikel Die verschiedenen Betrachtungsweisen: der Schriftsteller und der Rabbiner erläutert Geiger die verschiedenen Selbstverständnisse und daraus resultierend Aufgaben dieser beiden Typen. Unter Theologe versteht Geiger hier sowohl den „Schriftsteller“ (BSR 495), das heißt aus heutiger Sicht den Wissenschaftler, als auch den „Rabbiner“ (BSR 495). Beide Persönlichkeiten bedürfen einer wissenschaftlichen Ausbildung. 206 Vgl. dazu exemplarisch auch folgenden Artikel: Geiger, Der Rabbiner der Gegenwart.

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Einflusses“ nur einnehmen, wenn er von der Gemeinde ernannt und legitimiert ist und außerdem über fundierte theologische Kenntnisse verfügt, wenn er das philosophische und historische Wissen, welches der theoretische Teil darbietet, kennt und verinnerlicht hat. Geigers Amtsverständnis kann so gedeutet werden, dass die Wirkmächtigkeit eines „praktische[n] Theologe[n]“ weder aus seiner Weihe wie bei einem Priester noch aus seinem beamtenrechtlichen Status wie bei einem Staatsdiener resultiert, sondern aus seiner umfassenden theologischen Bildung und der von der Gemeinde übertragenen Vollmacht und Verantwortung. Ein jüdischer Theologe nimmt nach Geigers Einschätzung die „Stellung des moralischen Einflusses“ als „Inhaber des Geistes“ und als „Träger des ewigen Inhaltes, wie der vorübergegangenen Geschichte, wie der Fortbildung“ ein (ETh 28). Der „praktische Theologe“ gestaltet auf Basis der jüdischen Wesensformel, eingedenk der historischen Entwicklung, unter Berücksichtigung gegenwärtiger Bedürfnisse und Anforderungen unter anderem die Zukunft des Judentums mit und ist dazu aufgrund seiner theologischen Kompetenz auch in der Lage. Nur weil er legitimierter „Träger“ der theologischen Kenntnisse ist, kann er schließlich auch zum Vermittler werden. Das hier skizzierte Tätigkeits- beziehungsweise Anforderungsprofil eines jüdischen Theologen unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung. Inwiefern sich die „Stellung des moralischen Einflusses“ (ETh 27) konkret ausgestaltet, verdeutlichen die unterschiedlichen Handlungsfelder, in denen ein „praktische[r] Theologe“ agiert. Geiger erläutert zunächst recht allgemein, dass der „praktische Theologe“ „Vertreter und Erzieher der Gemeinde als einer jüdischen“ (ETh 29) sein soll. Der „praktische Theologe“ wirkt demgemäß als Repräsentant der Gemeinde und handelt aufgrund der übertragenden Vollmacht stellvertretend für diese. Er arrangiert innerhalb der Gemeinde religiöse Erfahrungs-, Bildungs- sowie Erziehungsprozesse und sucht so auf die Gemeindeglieder einzuwirken, sie nachhaltig zu prägen. Der Status des „Vertreters“ lässt sich nach Geigers Auffassung weiter ausdifferenzieren: in einen „Vertreter der versammelten Gemeinde bei ihren gemeinschaftlichen, religiösen Verrichtungen“ und in einen „Vertreter der Gemeinde bei dem Einzelnen, in Momenten, wo sein religiöses Band mit dieser lebendig in das Bewusstsein treten soll“ (ETh 29). Der „praktische Theologe“ kann demzufolge als von der Gemeinde ernannter und damit legitimierter Stellvertreter entweder in gemeinschaftlichen oder in individuellen Kontexten agieren. Letzteren Wirkungsbereich konkretisiert Geiger in seinem Kompendium jedoch nicht, wobei vermutet werden kann, dass er das Handlungsfeld der Seelsorge vor Augen hat. Tritt der „praktische Theologe“ als „Vertreter“ der gesamten Gemeinde in gemeinschaftlichen Zusammenhängen auf, fungiert er als „Liturg“ und ihm obliegt entsprechend die „Leitung des Gottesdienstes“ (ETh 29). Als „Liturg“ agiert er im öffentlichen Handlungsfeld, da

Disziplinäre Aufgliederungen165 sich die Verehrung und Begegnung Gottes und die Vertiefung des gemeinschaftlichen Glaubens in der gemeinsamen Feier – im Gottesdienst – ereignet. So ist ein Gottesdienst idealiter dadurch gekennzeichnet, dass ein „Gesammtbewusstsein durch eine religiöse Vertretung“ (ETh 29) ausgebildet wird und sich deshalb zum einen von einer beliebigen, profanen Ansammlung mehrerer Menschen und zum anderen von einem privaten, individuellen Bekenntnis unterscheidet. Der Gottesdienst ist demgemäß im Idealfall der gemeinsame Vollzug von Religion, das heißt die öffentliche Mitteilung religiöser Lebensmomente. Geiger konstatiert jedoch, dass der Gottesdienst in der Gegenwart vielfach nicht als gemeinschaftliches ausdruckstarkes Bekenntnis zu Gott fungiert, der Umlauf religiöser Erregungen gestört ist und es dem „Vertreter“ auch nicht gelingt, den Gemeingeist zu repräsentieren, wie in Kapitel 1.2 der Hinführung bereits dargelegt. Aus diesem Grund ist es zwingend nötig, dass das konstitutive Zusammengehörigkeitsgefühl, also der gemeinschaftliche Glauben, welcher sich im kollektiven Feiern ausdrückt, durch den „praktische[n] Theologe[n]“ wieder befördert und initiiert wird. Dieser muss den Gottesdienst dafür offensiver und kreativer mitgestalten, als es in der Praxis der Fall ist, um so das eigentliche Profil des Gottesdienstes wieder auszuprägen und dadurch das religiöse Gefühl und den Glauben der Gemeinde zu stärken. Die knappe Kontrastierung von Idealität und Realität veranschaulicht prägnant die Notwendigkeit von Gottesdienstreformen, die wiederum einen wertvollen Beitrag zur generellen Weiterentwicklung und damit Zukunftssicherung des Judentums leisten.207 In Anbetracht dessen muss der jüdische Theologe über liturgiewissenschaftliche beziehungsweise liturgische Kenntnisse verfügen, muss folglich eine theoretische Grundlage für die konkrete Gottesdienstgestaltung haben. Gerade vor dem Hintergrund der von Geiger angedeuteten misslichen Situation gegenwärtiger jüdischer Gottesdienste gewinnt umfangreiches liturgisches Wissen an Bedeutung, da es eine ideale Gottesdienstgestaltung anleitet und so produktive Perspektiven der Umgestaltung eröffnet. Daraus folgt schließlich, dass die Praktische Theologie einen Leitfaden für das gemeindliche Handlungsfeld Gottesdienst entwickeln muss, um die Arbeit eines „Liturg[en]“ theoretisch zu fundieren und eine optimale Gottesdienstgestaltung zu ermöglichen und damit die Stärkung des religiösen Bewusstseins der Gemeinde zu bedingen. Auf diese Weise leistet sie einen konstruktiven Beitrag zur Weiterentwicklung und damit zur Zukunftssicherung des religiösen Lebens des Judentums. Die Liturgik beziehungsweise Liturgiewissenschaft, deren Profil im Kompendium äußerst unscharf bleibt, ist somit konstitutiver Bestandteil der Praktischen Theologie. 207 Vgl. zur Gottesdienstreform: Kapitel 1.2 der Hinführung und Geiger, Entwurf zu Gebetbuch und Gottesdienstreform; ders., Unser Gottesdienst; ders., Der Hamburger Tempelstreit; ders., Grundzüge zu einem neuen Gebetbuch.

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Darüber hinaus ist der „praktische Theologe“ als „Homilet“ (ETh 30)208 tätig, was ihm die eingangs erwähnte Bezeichnung „Prediger“ (ETh 27) verleiht, innerhalb des gemeindlichen Handlungsraumes Gottesdienst ein weiteres Wirkungsfeld aufzeigt und die Predigt als Medium der öffentlichen religiösen Kommunikation darstellt. Eine Predigt zielt nach Geigers Dafürhalten auf die „Erbauung“ der Gemeinde ab und impliziert dementsprechend „Befestigung, Läuterung und Ermahnung“ (ETh 30). Das kann dahingehend gedeutet werden, dass der „praktische Theologe“ die Gemeinde mit geistlicher Nahrung versorgt und sie durch die Predigt zu stärken, ihr beizustehen, sie aufzurichten und zu ermutigen sucht und ihr hoffnungsvolle Perspektiven aufzeigt. Gleichzeitig bietet ihm die Predigt jedoch auch die Möglichkeit, die Gemeinde zu kritisieren, sie demzufolge auf ihr Fehlverhalten aufmerksam zu machen und zur Besserung und Umkehr aufzurufen. Gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation erhält das paränetische Moment der Predigt besondere Relevanz. Die Predigt bietet dem „Homilet[en]“ die Gelegenheit, die Gemeinde unmittelbar zu erreichen, sie eröffnet mithin eine persönliche Verbindung zwischen dem „praktische[n] Theologe[n]“ und der Gemeinde und fungiert daher als wesentliches Mittel religiöser Kommunikationsprozesse. Geiger konkretisiert die Zielsetzung einer Predigt, insofern sie die Bildung einer „thatkräftige[n] Gesinnung“ (ETh 30) der Gemeinde zu realisieren sucht. Der „praktische Theologe“ will somit durch die Predigt die Einstellung und Mentalität seiner Gemeinde positiv beeinflussen, sodass diese ihr Leben und Tun nach den religiösen Wahrheiten ausrichtet und sich überdies aktiv und engagiert in die Gestaltung des religiösen Lebens einbringt und dadurch der Frömmigkeitspraxis neue Lebendigkeit verleiht. In einer Predigt werden die religiösen Wahrheiten des Judentums in ihrer geschichtlichen Entwicklung verkündet, die daraus resultierenden sittlichen Prinzipien dargestellt und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Sie zielt demgemäß auf ein umfassendes Verständnis, ja einen Erkenntnisgewinn sowie eine Handlungsorientierung ab und dient insgesamt der religiösen Erziehung. Eine Predigt intendiert jedoch mehr als pragmatische, gar moralische Anweisungen an die Gemeinde zu vermitteln. So wird der Gemeinde durch die Predigt geistlicher Beistand geboten und der Zugang zur jüdischen Religion überhaupt erst eröffnet oder intensiviert. Die Predigt soll das Gemüt der Menschen erreichen und zielt auf die Belebung respektive Erweckung des religiösen Gefühls ab, sucht demzufolge nicht nur den 208 Geiger legt dar, dass der jüdische Theologe sich allgemeine homiletische Kenntnisse aneignen müsse und diese dann mit einem spezifischen jüdischen Duktus versehen beziehungsweise diese auf die jüdische Situation anwenden müsse. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass es noch keine spezielle jüdische Homiletik gibt. Dennoch betont Geiger, dass „die Eigenthümlichkeit jüdisch-religiöser Anschauung und jüdischen Lebens sich zuweilen in dem Vortrage abspiegeln müssen […]“ (FacII 16).

Disziplinäre Aufgliederungen167 Intellekt zu erreichen. Das gelingt ihr dadurch, dass sie selbst Ausdruck des religiösen Gefühls, also die sprachliche Darstellung von Religiosität ist. Die Predigt beabsichtigt demzufolge die erbauliche Vermittlung religiöser Wahrheiten, sie verbindet hernach belehrende, auffordernde und erbauliche Momente miteinander und trägt damit dazu bei, die eingangs angeführte Aufgabe der Praktischen Theologie zu erfüllen. Dadurch fungiert die Predigt als konstitutives Medium und zentrales Wirkungsfeld der jüdischen Theologie. Die skizzierte Funktionalität einer Predigt realisiert sich durch ihre inhaltliche und formale Gestaltung. Eine wirkungsvolle Predigt gründet sich nach Geigers Ansicht auf biblische und nachbiblische Schriften und deren Auslegung und setzt ein intensives und wissenschaftlich fundiertes Schriftstudium voraus. Der Inhalt einer Predigt speist sich demzufolge aus der Bibel, dem Talmud und dem Midrasch und sucht deren Geist zu übermitteln. Weiterhin bezieht sie die jüdische Geschichte mit ein und erkennt sie als „Grundlage“ (ETh 31) an. Es zeigt sich, dass historische und damit auch exegetische Kenntnisse für die inhaltliche Konzeption einer Predigt relevant sind und ein jüdischer Theologe über ebendiese verfügen muss, wenn er sie weitergeben möchte. Neben der inhaltlichen Gestaltung einer Predigt trägt auch die formale dazu bei, das volle Wirkungspotential auszuschöpfen, insofern der poetische Stil die Zielsetzung einer Predigt unterstützt. Eine Predigt muss affektive Elemente implizieren, weil sie die Gemeinde erbauen, aufrichten und anregen möchte. Ein rein sachlicher Duktus wie in einem wissenschaftlichen Vortrag würde die Wirkung der Predigt aufheben, wenngleich diese freilich auch auf Erziehung hinausläuft und dementsprechend belehrende Elemente inkludiert. Die sprachlich-formale Gestaltung einer Predigt ist von Bedeutung, muss daher stets berücksichtigt und reflektiert werden, sich aber dennoch dem eigentlichen Zweck der Predigt unterordnen. Demnach darf sie sich nicht verselbstständigen und zum alles bestimmenden Moment werden. Idealiter gilt es folglich eine produktive Einheit von Inhalt und Form anzustreben, was deutlich macht, dass der „Homilet“ neben fundierten exegetischen und historischen Kenntnissen auch stilistisches Wissen um gestalterische Mittel und ihre Wirkung haben und dieses in die Predigtkonzeption einfließen lassen muss.209 Festzuhalten ist, dass ein jüdischer Theologe zwingend über homiletische Kenntnisse verfügen muss. Durch reflektierte sprachliche, formale und inhaltliche Gestaltung muss er die ideale Wirkung, das heißt Funktionalität einer Predigt umzusetzen wissen und so das Potential einer Predigt ausschöpfen und dadurch einen konstruktiven Beitrag 209 Geiger schreibt daher: „Dem Charakter der zu Belehrenden angemessen, darf eher die Predigt die Logik verbergen, als zu nackt an deren Faden sich fortspinnen, eher den Geist mehr anregen, als nüchtern sein“ (ETh 31). Er stellt deshalb heraus, dass der Geistliche über die „Kunst, in eindringlicher Sprache die religiösen Wahrheiten, den einzelnen kirchlichen Epochen gemäß, der Gemeinde ans Herz zu legen […]“ (FacII 12) verfügen muss.

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zur Weiterentwicklung des Judentums leisten. Er muss die Predigt als zentrales Kommunikationsmedium religiöser Reformprozesse zu nutzen wissen. Der jüdische Theologe muss also über einen wissenschaftlichen Leitfaden verfügen, welcher das Predigen in der religiösen Praxis fundiert. Darüber hinaus muss er das Wissen der anderen theologischen Disziplinen in Form von religionsphilosophischen, ethischen, psychologischen und historischen Kenntnissen abrufen, es in die Predigt einfließen lassen und überdies ein sensibles Gespür für gegenwärtige Bedürfnisse und Probleme haben. Er muss theoretische und praktische Kenntnisse miteinander verbinden und so den Nexus zwischen Wissenschaft und Praxis konstruktiv ausprägen. Daraus folgt, dass die Praktische Theologie eine wissenschaftliche Predigtlehre entwickeln und darbieten muss, um dem „Homilet[en]“ eine theoretische Grundlage für das Predigen zu geben.210 Folglich zeigt sich die Homiletik als ein weiterer Zweig der Praktischen Theologie, entbehrt im Kompendium jedoch auch an Konkretion. Die Rolle des „Erzieher[s] der Gemeinde“ (ETh 29) wird besonders deutlich, wenn der jüdische Theologe als Lehrer tätig ist und die „Ertheilung und Beaufsichtigung des Religionsunterrichts“ (ETh 31)211 übernimmt. In diesem gemeindlichen Kontext initiiert er in aller Deutlichkeit religiöse Bildungsprozesse und arrangiert die Vermittlung und Verbreitung theologischer Erkenntnisse. Auf diese Weise können religiöse Wahrheiten des Judentums und die daraus resultierenden Handlungsimplikationen direkt an die nächste Generation weitergegeben und die religiöse Praxis dadurch nachhaltig und längerfristig positiv beeinflusst werden.212 Der Religionsunterricht zeigt sich somit als ein weiteres Handlungsfeld in der jüdischen Gemeinde, in dem die Aufgabe der Praktischen Theologie und dadurch auch die der jüdischen Theologie insgesamt umgesetzt werden 210 Es stellt sich der Eindruck ein, dass den jüdischen Theologen die Grundlagen der Homiletik unter anderem durch praktische Beispiele vermittelt werden. So verweist Geiger auf Mannheimers Predigten, die vermutlich als Musterexemplare dienen (vgl. ETh 31). Vgl. Geigers eigene Predigt: Geiger, Gottesdienstlicher Vortrag. Geiger schreibt Predigten im Vorfeld nicht auf und vertritt eigentlich die Auffassung, dass gottesdienstliche Vorträge nicht zum Druck bestimmt sind. 211 Vgl. zum Religionsunterricht sehr ausführlich: Geiger, Aus den Programmen der jüdischen Religionsschule in Breslau. 212 An anderer Stelle legt Geiger konkretisierend dar: „Von solchen Glaubenssätzen geht auch mein Unterricht in der Religion aus, und zwar: 1. von dem Glauben an den einzigen heiligen Gott; 2. von dem Glauben, dass der Mensch eine höhere Würde, einen denkenden Geist, der ihn belebt, eine unsterbliche Seele besitzt, d. h. in dem Ebenbilde Gottes geschaffen ist, und endlich 3. dass ein jeder einzelne Mensch in Verbindung mit allen übrigen zu dem hohen Ziele der Vervollkommnung der Gesammtmenschheit mitzuwirken habe; dass die Menschheit berufen sei, dem Ideale der gegenseitigen Verbrüderung, der Herrschaft der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens immer entgegenzustreben; was der wahrhafte Gedankenkern des richtig verstandenen Messiasglaubens ist“ (PRS 323f).

Disziplinäre Aufgliederungen169 können. Gerade die Arbeit mit der Jugend ist im Hinblick auf die Zukunftssicherung des Judentums von großer Bedeutung und muss daher fester Bestandteil des Gemeindelebens sein. Nach Geigers Dafürhalten soll der Religionsunterricht Schüler „nicht bloss zur Religion, sondern auch für die Religionsgesellschaft“ (ETh 31)213 erziehen. Erwartungsgemäß sollen die Schüler durch den Religionsunterricht einen kognitiven und affektiven Zugang zur jüdischen Religion bekommen, sie sollen also die religiösen Wahrheiten kennen und verinnerlichen, was idealiter eine tiefe Identifikation mit der jüdischen Religion und die Entwicklung eines religiösen Bewusstseins bedingt. Daneben betont Geiger ausdrücklich, dass Kinder durch religiöse Erziehung auch zu engagierten und kritischen Mitgliedern der Religionsgemeinschaft werden und diese produktiv und konstruktiv mitgestalten und vor allem weiterführen sollen. Neben der Religion als solcher fungieren auch Hebräisch und jüdische Geschichte als Unterrichtsfächer, wobei ersteres vermutlich die Lektüre und Übersetzung der heiligen Schriften und die Partizipation am Gottesdienst ermöglichen und letztere ein historisches Bewusstsein von der jüdischen Religion hervorrufen soll.214 Einmal mehr zeigt sich, dass der „praktische Theologe“ über fundierte fachwissenschaftliche Kompetenzen verfügen muss, diese jedoch um katechetische Kompetenzen ergänzt werden müssen. So muss er in der Lage sein, die religiösen Wahrheiten kindgerecht zu vermitteln und überdies eine gewisse Begeisterung für die jüdische Religion und Gemeinde zu wecken beziehungsweise weiterzugeben. Demnach muss er über ein Repertoire an Vermittlungsmethoden verfügen, die sowohl dem Unterrichtsgegenstand als auch den Schülern gerecht werden und neben der kognitiven stets auch die affektive Ebene ansprechen. Die Praktische Theologie muss daher einen katechetischen Leitfaden entwickeln und dem „praktische[n] Theologe[n]“ darbieten, damit dieser Lehr- und Lernprozesse angemessen gestalten und so seiner Rolle als „Erzieher der Gemeinde“ gerecht werden kann. Die Katechetik fungiert demgemäß als weiterer Zweig der Praktischen Theologie, wenngleich Geiger diesen Terminus im Kompendium nicht verwendet und auch diesen Teilbereich der Praktischen Theologie nicht ausgereift entwirft.215 213 Geiger stellt dazu heraus, dass „die Jugend […] zum Glauben ihrer Väter angeleitet und in demselben befestigt“ werden müsse (FacII 17). 214 In den Programmen der jüdischen Religionsschule in Breslau entfaltet Geiger die inhaltliche Gestaltung wesentlich genauer und veranschlagt folgende Lehrinhalte für männliche Schüler: „Uebersetzen der Gebete, Uebersetzen des Pentateuchs, biblische[r] Geschichte, Anfänge[ ] der hebräischen Sprachlehre, fortgesetzte[ ] Uebung in der hebräischen Sprache, Uebersetzen eines prophetischen Buches, jüdische[ ] Geschichte und eigentliche[r] Religionsunterricht mit Hinzufügung der Belegstellen in der Ursprache“ (PRS 321). 215 In seiner zweiten Fakultätsschrift Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät erwähnt Geiger im Zusammenhang mit dem „religiösen Jugendunterrichte“ die „Katechetik“ (FacII 17), weshalb hier auch die Bezeichnung „Katechetik“ gewählt wird.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Funktion der Praktischen Theologie „die theologische Erkenntniss in das Leben umzusetzen, [und] die Anwendung zu lehren“ (ETh 28), welche offenkundig der generellen Aufgabe der jüdischen Theologie verpflichtet ist, auf drei Handlungssphären der Gemeinde bezogen ist: auf den Gottesdienst, die Predigt und den Religionsunterricht. In Anknüpfung daran differenziert sich die Praktische Theologie in einen liturgischen respektive liturgiewissenschaftlichen, einen homiletischen und einen katechetischen Teil aus. Die Praktische Theologie offeriert demgemäß die für die Gemeindearbeit notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen in Form von wissenschaftlichen Konzeptionen und fundiert damit die praktische Arbeit eines Theologen, die darüber hinaus noch durch die Erkenntnisse des theoretischen Teils der jüdischen Theologie untermauert wird. Die Bereitstellung und Verzahnung dieser Wissensbestände ermöglicht ein qualifiziertes und effizientes Arbeiten in den verschiedenen Handlungsfeldern der Gemeinde und letztlich auch die Weiterentwicklung des Judentums.216

4.2  Disziplinen der Wissenschaft des Judentums Die Disziplinen der Wissenschaft des Judentums entfaltet Geiger zusammenhängend in seinen Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, die er von 1872 bis 1874 vor Studierenden in der neu gegründeten Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hält.217 Die 1875 von Ludwig Geiger posthum publizierten Vorlesungen fungieren als Kompendium 216 Betrachtet man die Ausführungen in toto, fällt auf, dass das genuin jüdische Profil recht blass bleibt, da Geiger nur vereinzelt einen expliziten Bezug zum Judentum formuliert. Das verwundert, da er in seiner zweiten Fakultätsschrift betont, dass sich der jüdische Religionsunterricht vom christlichen unterscheide. Darüber hinaus entbehren Geigers Anmerkungen oft an Tiefe und Präzision, reißen die Aspekte nur an, ohne sie jedoch zu konkretisieren. Was genau sich hinter den Schlaglichtern verbirgt, wie also das Studium der jüdischen Theologie konkret aufgebaut ist, legt das Kompendium nur bedingt offen. Vermutlich ist diese Knappheit darauf zurückzuführen, dass es sich um ein Vorlesungsmanuskript handelt, welches von Geiger mündlich noch erweitert wurde. 217 Ludwig Geiger hat die Vorlesungen seines Vaters auf der Grundlage von dessen Manuskript veröffentlicht. Daneben lagen ihm einige Vorlesungsmitschriften von Hörern vor, die er ergänzend hinzugezogen und zum Teil mit aufgenommen hat. Ludwig Geiger hat das Manuskript seines Vaters zudem an manchen Stellen geändert, ohne jedoch den ursprünglichen Charakter und Duktus grundlegend zu verändern. Dementsprechend betreffen die Korrekturen vornehmlich die sprachliche Ebene. Da es sich nicht um eine kritische Ausgabe handelt, sind die Änderungen und Ergänzungen für den Leser nicht erkennbar (vgl. L. Geiger, Vorwort, IV). Im posthum veröffentlichten Aufsatz Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ reflektiert Geiger seine Vorlesungstätigkeit an der Berliner

Disziplinäre Aufgliederungen171 oder in Geigers Worten ausgedrückt als „Anleitung“ (EWdJ 35) der Wissenschaft des Judentums, in welcher die Struktur, die Inhalte und die Aufgaben der Wissenschaft des Judentums erläutert werden. Sie dienen als Orientierungshilfe für das Studium, insofern Geiger darin einen Überblick über die Gebiete der Wissenschaft des Judentums gibt und daneben deren Methodik umreißt. Im Unterschied zu den früheren Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie formuliert Geiger seine Gedanken aus und bietet sie nicht in definitionsartigen, knappen Äußerungen dar.218 Das Kompendium der Wissenschaft des Judentums kann als Resümee von Geigers wissenschaftlichem Oeuvre gedeutet werden, da er die meisten der angesprochenen Topoi in seinen Schriften, Aufsätzen und Vorlesungen thematisiert hat, wodurch einmal mehr sein Beitrag zur Etablierung und Weiterentwicklung der Wissenschaft des Judentums unterstrichen wird. Die folgende Darstellung der Disziplinen der Wissenschaft des Judentums basiert primär auf den Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, da sie die zentralen Quellen seiner wissenschaftstprogrammatischen und vor allem disziplinären Konzeption sind.219 Die Wissenschaft des Judentums kann, wie bereits dargelegt, als die methodisch kontrollierte Erschließung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Judentums oder in Geigers Worten als die „Betrachtung der eigenthümlichen Richtung des Geisteslebens“ (EWdJ 39) verstanden werden, die auf die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes, welcher das Judenthum erfüllt, ihm als seine eigenthümliche Lebenskraft innewohnt“ (EWdJ 35) abzielt. Diese intentionale Bestimmung fungiert für Geiger als Ausgangspunkt der disziplinären Aufgliederung der Wissenschaft des Judentums, indem sie die Frage aufwirft, inwiefern die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ erreicht werden kann, wie sich der religiöse Gedanke des Judentums also dem Betrachter zeigt und von diesem methodisch kontrolliert erfasst werden kann. Nach Geigers Auffassung lassen sich zwei Äußerungsformen des religiösen Gedankens ausmachen: zum einen die Sprache und zum anderen die Geschichte. Der jüdische Geist manifestiert sich demgemäß einerseits im „Worte“ (EWdJ 35) und kann daher durch Analyse der Sprache ermittelt werden. Andererseits findet der jüdiHochschule und damit auch seine Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums. Der Artikel liefert damit eine knappe Zusammenfassung des Kompendiums. 218 Dementsprechend sind die Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums deutlich umfangreicher als die Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie. Die Strukturierung in Paragraphen sowie die Darstellung in Leitsätzen fehlen in den späteren Vorlesungen. Auffällig ist, dass Geiger dort wesentlich häufiger auf einschlägige Forschungsliteratur rekurriert. 219 Es muss berücksichtigt werden, dass sich die vorherigen Kapitel im Unterschied zu diesem Kapitel auf Geigers gesamtes wissenschaftliches Oeuvre gründen, sodass bedingt durch die unterschiedlichen Quellen Akzentverschiebungen oder gar Abweichungen möglich sind.

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sche Gedanke seinen Ausdruck in der „That“ (EWdJ 35), was zur Folge hat, dass die jüdische Geschichte beleuchtet werden muss. Geiger legitimiert die beiden Wissensgebiete, indem er im betonten Gegensatz zur „Volks- und Sprachlosigkeit“ (EWdJ 38) des Christentums herausstellt: „Des Judenthumes Kraft ist es eben, dass es aus einem vollen Volksleben hervorgegangen, eine Sprache und eine Volksgeschichte hat […]“ (EWdJ 37).220 Angesichts der Historizität des Judentums kann der religiöse Gedanke nicht durch Spekulation erfasst werden, sondern bedarf der Betrachtung der historischen Wirklichkeit, in der sich der jüdische Gedanke mannigfach kundtut und entfaltet. Während die empirische Forschung auf die historischen Erscheinungsformen der religiösen Ideen gerichtet ist, besteht die spezifisch philosophische Perspektive, die ebenfalls in die Wissenschaft des Judentums eingetragen ist, darin, die zeitbedingten Ausprägungen vom ewigen Kern des religiösen Gedankens zu trennen und Letzteren zu beleuchten, um schließlich das Wesen des Judentums zu rekonstruieren.221 Demnach sind drei Schritte bis zur „volle[n] Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ auszumachen und daran anknüpfend auch drei Disziplinen der Wissenschaft des Judentums: Geiger gliedert sie in „den sprachwissenschaftlichen, […] den historischen, namentlich den literar- und culturhistorischen, […] den philosophisch-religiösen Theil“ (EWdJ 35). Er bezeichnet die einzelnen Bereiche als „organische Glieder, die sich willig in das Ganze fügen“ (EWdJ 41) und betont die prinzipielle Gleichgewichtung aller drei Teile, die eine Konzentration auf nur eine Disziplin kategorisch ausschließt. Im Folgenden gilt es, die drei Bereiche der Wissenschaft des Judentums vorzustellen, also ihre Binnengliederungen, ihre Untersuchungsgegenstände sowie ihre Aufgaben darzulegen und auf diese Weise den Wissenschaftsbegriff der Wissenschaft des Judentums zu schärfen. Wenngleich Geiger teilweise auch 220 Er führt noch weiter aus: „[…] sein Gedanke war ein allgemein umfassender und musste, um nicht als schwebender Schatten zu erscheinen, als gesunde Volksindividualität sich ausprägen, die einerseits die Menschheit ganz in sich realisirt sieht, und dennoch die ganze Menschenwelt ausser sich zu umfassen trachtet“ (EWdJ 37f). Auch folgende Äußerung zeigt, dass das Judentum sowohl das Individuelle, also das Besondere als auch das Allgemeinmenschliche, das heißt Allgemeingültige in sich vereint: „[…] das Judenthum hingegen ist […] an ein bestimmtes Volk mit seiner Sprache und Geschichte sich anlehnend, und doch die Menschheit umfassend“ (EWdJ 39). 221 Geiger bahnt die disziplinäre Ausdifferenzierung wie folgt an: „Zu dieser Erkenntniss gelangt man bloss durch die Betrachtung, wie der Gedanke in die Erscheinungswelt eingetreten ist, wie er sich im Worte, in der Sprache ausgeprägt, wie er sich in der That, in der Geschichte auseinandergelegt hat; erst, wenn so inductiv die geistig bewegende Kraft des Judenthums aufgefunden ist, lässt sich der volle Inhalt desselben, seine philosophischen, religiös-moralischen Ueberzeugungen wahrhaft erfassen, losgelöst, sowohl von dem zeitlichen Ausdrucke, den sie oft angenommen, aber auch mit den Keimtrieben, welche sie noch in sich tragen, wenn sie auch noch nicht zur vollen Entwickelung gelangt sind“ (EWdJ 35).

Disziplinäre Aufgliederungen173 die Inhalte der Disziplinen entfaltet, werden diese hier weitgehend nur formal benannt. Vorweg sei darauf hingewiesen, dass der „philosophisch-religiöse[ ] Theil“222 nicht dargestellt wird, da er in den Vorlesungen nicht behandelt wird. Eingangs verweist Geiger zwar knapp auf die philosophisch-religiöse Disziplin der Wissenschaft des Judentums, entfaltet ihr Profil an späterer Stelle jedoch nicht, was vermutlich damit zusammenhängt, dass er aufgrund seines Todes die Vorlesung nicht beenden kann.223

4.2.1  „Der sprachwissenschaftliche Theil“ Der „sprachwissenschaftliche Theil“ (EWdJ 43)224 erhält seine Legitimation nach Geigers Auffassung dadurch, dass das Judentum seine eigene Sprache ausgeprägt hat und die hebräische Sprache als pointierter Ausdruck des jüdischen Gedankens fungiert, den es im Rahmen der Wissenschaft des Judentums ja zu ermitteln gilt.225 In der Sprache manifestiert sich der jüdische Geist, in der Sprache verdichtet sich demzufolge auch die religiöse Entfaltung des Judentums. Die 222 In seinem Aufsatz Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ nennt Geiger die Disziplin „philosophische[r], religiös-ethische[r] Theil“ (WH 19), ergänzt also noch das ethische Moment. Da er inhaltliche Erläuterungen gänzlich ausspart, können aus der terminologischen Modifikation keine konzeptionellen Rückschlüsse gezogen werden. 223 Einzig diese knappe Äußerung beschreibt den philosophisch-religiösen Zweig der Wissenschaft des Judentums: „Die philosophische, religiös-moralische Gestaltungskraft des Judenthums, wie sie sich in seiner ganzen Darstellung zu allen Zeiten offenbarte, ist zu betrachten, und hierbei ist Literatur und Leben, also Cultur gleichmässig zu berücksichtigen“ (EWdJ 43). Auch im Aufsatz Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ entfaltet Geiger den philosophisch-religiösen Bereich der Wissenschaft des Judentums nicht, sodass davon ausgegangen werden kann, dass er diese wissenschaftliche Disziplin tatsächlich nicht gelesen hat. Davon abweichend enthält der Erste Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin die Notiz, dass Geiger im Sommersemester 1873 die Vorlesung Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums (religions-philosophischer Theil) gehalten habe (vgl. Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 28). Da sowohl Abraham als auch Ludwig Geiger die philosophisch-religiöse Disziplin der Wissenschaft des Judentums aussparen, wird die Information aus dem Bericht über die Hochschule hier vernachlässigt. 224 Vgl. zu Geigers sprachwissenschaftlichen Forschungen zusammenfassend: Löw, Sprachwissenschaft. 225 In Geigers Worten klingt die Begründung so: „Das Judenthum ist in einem bestimmten Kreise, in einem abgegränzten Lande, unter den damaligen zeitlichen Einflüssen hervorgetreten, es ist die volle geistige Individualität eines Volkes, die in ihm zum Bewusstsein gelangt; für sie aber prägt das Volk seine Sprache aus, sie ist das Corollarium seines Geistes, sie ist von ihrem geistigen Mutterboden untrennbar, und der Laut hat noch den Metallklang der Erzstufe, der er entstiegen ist“ (EWdJ 42).

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Sprache ist damit eindeutig mehr als die variable äußere Form der auszudrückenden Idee, wie auch folgende Äußerung Geigers betont: „[…] ihre Erkenntniss ist daher nicht bloss ein Hilfsmittel zur Erkenntniss des Judenthums, sondern selbst ein unentbehrlicher Theil desselben“ (EWdJ 42).226 Die hebräische Sprache ist nach Geigers Auffassung konstitutives Element des Judentums und wenn dessen Entwicklungsgeschichte erschlossen und skizziert werden soll, muss die hebräische Sprache zwangsläufig als zentraler Untersuchungsgegenstand veranschlagt werden. In der Sprache drückt sich die jüdische Individualität aus beziehungsweise wird konkret, das heißt begreif- und wahrnehmbar, spiegelt sich das genuin Jüdische unmittelbar wider. Die Sprache, von Geiger auch als „Corollarium seines [des Judentums] Geistes“ (EWdJ 42) bezeichnet, wird damit zum ausdrucksstarken Träger des Jüdischen und empfiehlt sich dadurch als unerlässlicher Forschungsgegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Angesichts ihrer großen Bedeutung muss die Sprache wissenschaftlich beleuchtet werden, um so zur „volle[n] Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ (EWdJ 35) beizutragen. Die systematische Beschäftigung mit Sprache, also die methodisch strukturierte Analyse von Sprache, ist per definitionem Aufgabe der Sprachwissenschaft, die von Geiger daher zum zentralen Teil der Wissenschaft des Judentums erklärt wird. Eine gut entwickelte Sprachwissenschaft bedingt nach Geigers Überzeugung die generelle Funktionsfähigkeit der Wissenschaft des Judentums, wie folgende Äußerung verdeutlicht: „Bevor jedoch ächte Sprachwissenschaft nicht wieder unter uns heimisch ist, sprachliche und exegetische fördernde Leistungen hervortreten, ist eine Wissenschaft des Judenthums noch nicht vorhanden“ (EWdJ 60f). Es ist offenkundig, dass der sprachwissenschaftliche Teil gepflegt und weiter ausgebaut werden muss, weil an seiner Ausprägung und Effektivität die Gesamtleistung der Wissenschaft des Judentums hängt. Die hebräische Sprachwissenschaft untersucht resultierend aus ihrer Bezugsgröße – dem Hebräischen – eine religiöse Sprache, das heißt eine Sakralsprache wissenschaftlich und beleuchtet ergo die Sprache der heiligen Schriften des Judentums. Daraus folgt, dass die religiösen Schriften als Untersuchungsgrundlage sprachwissenschaftlicher Reflexionen herangezogen werden müssen, was von Geiger jedoch nicht explizit gemacht wird. Geiger umreißt die Inhalte und Themen der hebräischen Sprachwissenschaft, indem er fordert, dass die hebräische Sprache „nach den Eigenthümlichkeiten des Sprachbaues, des Satzgefüges, des Wortinhaltes, und seiner Bedeutung ins Auge gefasst, ihre innere Geschichte in den verschiede226 Geiger stellt erklärend heraus: „Die hebräische Sprache ist daher nicht bloss das beliebige Gewand, in das die ursprünglichen Gedanken gehüllt sind, in denen sie für uns zur sichtbaren Erscheinung treten, sie ist deren eng anliegender, sie abbildender Ausdruck […]“ (EWdJ 42).

Disziplinäre Aufgliederungen175 nen Perioden, ihrem Zusammenhang mit den Schwestersprachen, ihrer wissenschaftlichen Behandlung, zumal durch Juden, erkannt werden“ (EWdJ 43) muss und ebendiese Untersuchungshinsichten der Sprachwissenschaft zuschreibt. Die hebräische Sprachwissenschaft beinhaltet demnach Reflexionen zur Sprachgeschichte und -entwicklung und zum Verhältnis zu verwandten Sprachen, untersucht ihre eigene Wissenschaftsgeschichte, impliziert in heutigen Termini ausgedrückt weiterhin Bereiche wie Lexikographie227, Semantik, Morphologie und Syntax. Geiger selbst gestaltet den Aufbau der Disziplin nicht präzise aus, sodass einige Teilbereiche gar nicht betrachtet werden und eine eindeutige Terminologie fehlt. So thematisiert Geiger in seinen Vorlesungen nicht alle der gerade genannten sprachwissenschaftlichen Bereiche, sondern konzentriert sich vornehmlich auf die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft und die Verhältnisbestimmung des Hebräischen zu anderen semitischen Sprachen. Er begründet beide Themenschwerpunkte, entfaltet so deren Profil und Aufgabe und legt überdies die einschlägigen anzueignenden Kenntnisse dar. Der sprachwissenschaftliche Zweig soll nach Geigers Auffassung also unter anderem die „Geschichte der hebr. Sprachwissenschaft“ (EWdJ 52) nachzeichnen, er soll infolgedessen aufzeigen, wie die wissenschaftliche Disziplin entstanden ist, wie sie sich entwickelt hat und welche Einflussfaktoren sowie fruchtbare kontextuelle Wechselwirkungen auszumachen sind (vgl. EWdJ 52–61).228 Geiger integriert die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft in die Wissenschaft des Judentums, da sie als Spiegel der religiösen Entwicklungsgeschichte des Judentums fungiert und ferner die (Kultur)Produktivität und die lange sprachwissenschaftliche Tradition des Judentums ausdrückt.229 In der Sprachwissenschaft, das heißt im reflektierten, wissenschaftlichen Umgang mit Sprache zeigt sich der Zeitgeist, manifestieren sich auch religiöse Auffassungen und Praktiken. Denn sprachwissenschaftliche Untersuchungen sind eingebettet in den historischen, ideen-, kultur- und religionsgeschichtlichen Kontext und werden von diesem beeinflusst. Die Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft lässt demnach Rückschlüsse auf die allgemeine Entwicklungsgeschichte des Judentums zu. Die Darstellung der Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft bietet überdies zahlreiche sprachwissenschaftliche Erkenntnisse dar, die zunächst angeeignet und schließlich durch eigene Untersuchungen weiterentwickelt werden können. So zeigt die Wissenschafts227 Vgl. exemplarisch: Geiger, Lexikographische Studien. 228 Vgl. dazu auch: Geiger, Alte jüdische Grammatiker und Lexikographen; ders., Zur Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft unter den Juden II. 229 Folgende Äußerung gibt den Gedanken wieder: „Diese Sprachwissenschaft, aus den innersten Bestrebungen des jüdischen Geistes hervorgegangen, ist auch desselben volles Spiegelbild […]“ (EWdJ 56).

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geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft brachliegendes Potential auf, benennt Topoi, die noch nicht ausreichend betrachtet wurden, die also noch weiter ausgebaut werden können. Nur das Wissen um den Forschungsstand ermöglicht eine kontinuierliche und produktive Fortsetzung. Indem Geiger die sprachwissenschaftliche Wissenschaftsgeschichte skizziert, auf bestehende Werke rekurriert und Desiderate aufzeigt, formuliert er solch einen Forschungsüberblick, der wiederum als Leitfaden für gegenwärtige Arbeiten fungiert. Geiger bettet die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft in die jüdische Historie ein, benennt zentrale Erkenntnisse, Personen und Werke und umreißt dadurch den Erwartungshorizont sprachwissenschaftlichen Wissens.230 Innerhalb der Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft hebt er „die Geschichte der grammatischen und exegetischen Behandlung der Bibel“ (EWdJ 52)231 besonders hervor, was darauf hindeutet, dass er die Bibelexegese als konstitutiven Bestandteil der Sprachwissenschaft auffasst. Folgende Äußerung beleuchtet das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Bibelexegese: „[…] mit ihr [der Sprachwissenschaft] erhebt sich die kritische Behandlung in der Bibel“ (EWdJ 56). Es macht den Anschein, dass mit der reflektierten Sprachbetrachtung auch die kritische Betrachtung der Bibel einhergeht, dass ein sprachwissenschaftliches Bewusstsein demgemäß die Voraussetzung für die Bibelexegese bildet. Daraus folgt, dass im Rahmen der hebräischen Sprachwissenschaft auch beziehungsweise vornehmlich bibelkritische Reflexionen anzustellen sind respektive die Geschichte der Bibelkritik beleuchtet werden muss. Festzuhalten ist, dass ein jüdischer Wissenschaftler Kenntnisse über die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft und insbesondere über die Geschichte der Bibelkritik haben muss und diese die Basis für eigene (sprachwissenschaftliche) Untersuchungen bilden. Gegenwärtige sprachwissenschaftliche Reflexionen gründen demzufolge in der Historie, knüpfen an diese an und führen sie weiter. Einmal mehr zeigt sich, wie konstitutiv die historische Perspektive und damit einhergehend der Entwicklungsgedanke für die Konzeption der Wissenschaft des Judentums ist, da sie auch den sprachwissenschaftlichen Teil prägt. Das wird ebenfalls daran deutlich, dass Geiger neben wissenschaftsgeschichtlichen auch sprachgeschichtliche Beobachtungen in den sprachwissenschaftlichen Zweig integriert, insofern die Entstehung und Entwicklung der hebräischen Sprache analysiert werden sollen, um so unterschiedliche Stufen und Charakteristika ermitteln zu können. Der jeweilige Sprachstil soll in dem Zusammenhang 230 Diese Verzahnung von allgemeiner und sprachwissenschaftlicher Geschichte ist auch in den Vorlesungen Das Judenthum und seine Geschichte erkennbar, in denen Geiger im Rahmen seiner allgemeinen Geschichtsdarstellung beispielsweise herausstellt, dass die „hebräische Sprachkenntniß“ (JGII 151) im 11. Jahrhundert zur Wissenschaft geworden sei. 231 Vgl. dazu: Geiger, Zur Geschichte der Bibel-Exegese.

Disziplinäre Aufgliederungen177 gleichermaßen thematisiert werden (vgl. EWdJ 45–47). Wenngleich Geiger sich über die Methodik des sprachwissenschaftlichen Bereichs der Wissenschaft des Judentums ausschweigt, kann davon ausgegangen werden, dass der historischkritische Ansatz auch die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen bestimmt. Um das Spezifische der hebräischen Sprache feststellen zu können, muss der Blick geweitet werden und die sprachwissenschaftliche Untersuchung auch die verwandten Sprachen berücksichtigen. Folglich gilt es, die Sprachfamilie des Semitischen näher zu betrachten, um dadurch zu ermitteln, wie sich das Hebräische aus der gemeinsamen Wurzel heraus entwickelt und ein genuines Gepräge gebildet hat. Eine vergleichende Perspektive soll Ähnlichkeiten und Unterschiede eruieren und dadurch das Profil des Hebräischen schärfen. Die vergleichende Untersuchung zielt daher auf die „Aufhellung des hebr. Sprach- und Volksgeistes“ (EWdJ 50), ergo auf fundiertes Wissen und Verständnis der hebräischen Sprache und damit auch der Geschichte des Judentums insgesamt ab. Geiger benennt als relevante und damit zu analysierende „Schwestersprachen“ den „Aramaismus“ sowie das „Arabische“ (EWdJ 47)232 und charakterisiert das Verhältnis dieser drei semitischen Sprachen in pointierter Weise: „So dürfen wir, wenn wir in der Mitte zwischen aramäisch und arabisch das Hebräische betrachten, sagen: wir haben auf der einen Seite einen abgelebten Greis, auf der andern einen nicht zur Mannesreife entwickelten Jüngling, in der Mitte den jugendfrischen Mann“ (EWdJ 50). Das Aramäische und Arabische müssen aufgrund ihrer „innere[n] Verschwisterung“ (EWdJ 50) mit dem Hebräischen und wegen ihrer historischen Beziehung, das heißt ihrer geschichtlichen Vernetzung mit dem Judentum Berücksichtigung finden. Es muss untersucht werden, inwiefern das Aramäische und das Arabische auf das Judentum und damit auf seine Sprache und deren wissenschaftliche Betrachtung gewirkt haben, wie sie also Einfluss geübt haben beziehungsweise wie umgekehrt das Judentum auf die beiden Sprachen eingewirkt hat und wie sich in ihnen der jüdische Geist zeigt.233 Historische Zusammenhänge und die damit einhergehenden Beeinflussungen müssen im Rahmen des sprachwissenschaftlichen Zweigs demnach auch beleuchtet werden, da sie wichtige Erkenntnisse stiften sowie zu einem fundierten Verständnis des Hebräischen beitragen.234 Hiernach sprechen sprachwissenschaft232 Die Bedeutung des Aramäischen beschreibt Geiger wie folgt: „Dennoch hat es [das Aramäische], zumal für die spätere Entwickelung der Sprache, einen überwältigenden Einfluss ausgeübt, und zuletzt das Hebr. ganz verdrängt; nachdem es zuerst die Formen und den Wortschatz des Hebr. umgestaltet, sich dann ganz an seine Stelle gesetzt“ (EWdJ 49). 233 Zu Letzterem schreibt Geiger: „Das Aram. wird Sprache des Judenthums, und wenn es auch nicht dessen Ausfluss ist, so trägt es doch eben sein Gepräge“ (EWdJ 50). 234 Folgende Äußerung spiegelt die Bedeutung des Arabischen wider: „Nicht minder hat das Arabische und gerade später seinen sehr bedeutsamen Einfluss auf das Judenthum, auch auf die Sprachbehandlung geübt. Eine wissenschaftliche Auffassung ist zuerst von den Arabern innerhalb des Judenthums erweckt worden, zumal im Sprachgebiete. […] so haben die Araber

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liche und geschichtliche Gründe für eine Beschäftigung mit dem Aramäischen und dem Arabischen, welche daher zum integralen Bestandteil der Wissenschaft des Judentums erklärt wird. Geiger erweitert den Kreis der zu betrachtenden Sprachen, indem er auf die Bedeutung des Syrischen verweist und zu dem Schluss kommt: „Die Vertrautheit mit dieser Sprache ist daher ein organischer Theil der Wissenschaft des Judenthums […]“ (EWdJ 51). Wenngleich jüdische Wissenschaftler über (sprachwissenschaftliche) Kenntnisse des Aramäischen, des Arabischen und des Syrischen verfügen müssen, darf der Umfang nicht ausufern und das Wissen zu speziell werden. Überdies lehnt Geiger eine Berücksichtigung von „nicht stammverwandte[n] Sprachen“ (EWdJ 52) dezidiert ab, obwohl sie zum Teil in der jüdischen Literatur wieder zu finden sind. Es wird deutlich, dass eine sprachwissenschaftliche Spezialisierung vom jüdischen Wissenschaftler nicht erwartet wird, dieser vielmehr das Ganze überblicken muss und sich nicht im Detail verlieren darf. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die religiösen Schriften des Judentums auch hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestaltung historisch-kritisch betrachtet werden sollen und auf diese Weise sowohl die Geschichte der hebräischen Sprache als auch die Wissenschaftsgeschichte der hebräischen Sprachwissenschaft rekonstruiert werden können, was letztlich die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ (EWdJ 35) befördert. Die wissenschaftlich strukturierte Analyse der Sprache, die idealiter ein tiefes Verständnis nach sich zieht, ist konstitutiver und erster Bestandteil der Wissenschaft des Judentums. Sie fungiert als Grundlage jeglicher weiteren Untersuchung der Entstehungsund Entwicklungsgeschichte des Judentums, deren sich der im folgenden Kapitel zu betrachtende geschichtliche Zweig der Wissenschaft des Judentums verpflichtet weiß.

4.2.2  Der „historische[ ] […] Theil“ Der „historische[ ] […] Theil“ (EWdJ 35)235 der Wissenschaft des Judentums, der von Geiger auch „literar- und culturhistorisch[ ]“ (EWdJ 35) genannt wird, thematisiert die „That“ des „Volksgedankens“ (EWdJ 61)236 des Judentums, hat demnach die jüdische Geschichte zum Untersuchungsgegenstand und beleuchdie Structur und die Gesetze der Sprache Benennung geliefert […]“ (EWdJ 51f). Geiger führt weiterhin aus: „Die trefflichsten Werke der jüdischen Literatur sind arabisch geschrieben, und sind auch die Hauptwerke übersetzt, so stehn sie doch den Originalen nach, und vieles Werthvolle ist noch unübersetzt. Sie ist als Hilfsmittel unschätzbar, aber bei ihrer Schwierigkeit und Ausdehnung muss eine weise Beschränkung beobachtet werden“ (EWdJ 52). 235 Vgl. zu Geigers historischen Forschungen: Elbogen, Jüdische Geschichte und Literatur; Posnanski, Geschichte der Sekten und der Halacha; ders., Die nordfranzösische Exegetenschule. 236 Vgl. auch: WH 20.

Disziplinäre Aufgliederungen179 tet die religiöse Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte.237 Auf diese Weise trägt auch der geschichtliche Zweig dazu bei, die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ (EWdJ 35) zu realisieren und schließlich das Wesen des Judentums zu rekonstruieren. In der Geschichte manifestiert sich der jüdische Geist, also das genuin Jüdische, zeigt sich demgemäß die jüdische Individualität in ihrer Entwicklung, weshalb sie von Geiger zum konstitutiven Bestandteil der Wissenschaft des Judentums ernannt wird.238 Aufgrund der von Geiger stets stark gemachten Prozessualität des Judentums differenziert sich der historische Zweig der Wissenschaft des Judentums in vier Bereiche aus, die den vier Epochen des Judentums entsprechen: in die „Zeit der Offenbarung“ (EWdJ 65), in die „Zeit der Tradition“ (EWdJ 86), in die „Zeit der starren Gesetzlichkeit“ (EWdJ 129) und in das „Zeitalter der Kritik“ (EWdJ 216)239. Der geschichtliche Zweig der Wissenschaft des Judentums umfasst die Spanne „von der dunkeln Urzeit [bis] in die unmittelbare Gegenwart“ (EWdJ 63)240. Die Epocheneinteilung der jüdischen Geschichte strukturiert auch das Studium der jüdischen Geschichte und fungiert als Organisationsprinzip der Wissenschaft des Judentums. Die Bezeichnung „literar- und culturhistorisch[ ]“ zeigt, dass Geiger keinen globalen Geschichtsbegriff zugrunde legt, sondern im Rahmen der Wissen237 Folgende Äußerung legt abermals Geigers Geschichtsauffassung dar und verdeutlicht, warum die Geschichte zum integralen Bestandteil der Wissenschaft des Judentums ernannt werden muss: „Das Judenthum arbeitet sich innerlich fort, geht in alle Lebensverhältnisse ein, dehnt sich räumlich aus, und, wenn es auch vielfach einseitig sich erhärtet, und vielfach auch Einbusse an Idealität erleidet, so gewinnt es doch einen ungemeinen Reichthum, vervielfältigt Beziehungen und Arbeiten nach jeder Richtung hin, und der prüfende Blick gewinnt erst aus der zusammenfassenden Betrachtung aller dieser einzelnen Ausstrahlungen die rechte Erkenntniss der inneren Kraft, welche alle diese mannigfaltigen Leistungen befruchtete […]“ (EWdJ 42f). Geiger begründet mehrfach durch Rekurs auf die Geschichte die große Bedeutung des Judentums: „Das Judenthum dagegen beweist, dass es eine wahre Geschichte hat, weil es, wie jede echte geschichtliche Erscheinung aus leisen Keimen zur reichen Frucht sich entwickelt“ (EWdJ 62). 238 Betrachtet man den gesamten Umfang der Vorlesungen, fällt auf, dass der geschichtliche Teil deutlich mehr Raum einnimmt als der sprachwissenschaftliche, was zum einen darauf zurückgeführt werden kann, dass der historische Zweig von größerer Bedeutung respektive von größerem Umfang ist und zum anderen darauf, dass Geiger sich zeit seines Lebens besonders der Erforschung der jüdischen Geschichte verpflichtet fühlt. 239 Geiger verweist auf die schwierige Quellen- und damit Forschungslage der ersten beiden Perioden, was die wissenschaftliche Arbeit vor große Probleme stellt. 240 Ausführlicher schreibt Geiger: „Nun hat die Geschichte des Judenthums die wunderbare Eigenartigkeit von der dunkeln Urzeit in die unmittelbare Gegenwart herabzureichen, und es ist nicht bloss die Neugier, welche antreibt, das Geheimniss des Werdens zu belauschen, sondern das Verlangen wird dadurch gerechtfertigt, dass in dem Wachsthume und in der Entwickelung der Keimpunkte wesentlich die ganze spätere Entwickelung schon vorgebildet ist, zumal für eine urgeschichtliche, also vorgeschichtliche Erscheinung […]“ (EWdJ 63).

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schaft des Judentums den Fokus auf die „Geschichte der Geistesthaten“ (EWdJ 61) legt und dementsprechend „die äussere Geschichte“ als „Substrat[ ]“ zurückstuft (EWdJ 61).241 Das bedeutet, dass vornehmlich die innere Entwicklung des Judentums und damit primär religiöse Ausdrucksformen des jüdischen Geistes betrachtet werden, demnach zur Forschungsgrundlage erklärt werden. Weil die äußere Geschichte jedoch den Rahmen für die innere bildet und es eine produktive Wechselwirkung zwischen beiden Größen gibt, müssen kontextuelle Einflussfaktoren, das sind in der Regel politische beziehungsweise historische Ereignisse und Zusammenhänge innerhalb des Mikrokosmos zumindest in Grundzügen beleuchtet werden. Innerjüdisches historisches und politisches Wissen eröffnet sinnvolle Interpretationsperspektiven, liefert nötige Hintergrundinformationen und muss daher in die historischen Studien integriert werden.242 Als Größe der universalen (Geistes)Geschichte partizipiert das Judentum an (ideellen) Bewegungen und Strömungen beziehungsweise wird von diesen geprägt. Um die innere Entwicklung des Judentums nachzeichnen zu können, müssen daher auch historische und ideelle Einflussfaktoren des Makrokosmos ermittelt und betrachtet werden. Dementsprechend schließt der geschichtliche Zweig diese mannigfaltigen Untersuchungshinsichten ein und sucht auf diese Weise dem historischen Phänomen Judentum gerecht zu werden und den religiösen Gedanken in seiner Entwicklung zu eruieren. Die Bezeichnung „literarhistorisch[ ]“ zeigt überdies, dass die jüdische Geschichte vorrangig über die jüdische Literatur erschlossen werden soll, da die jüdische Literaturgeschichte als Spiegel der Geistesgeschichte respektive der religiösen Entwicklungsgeschichte verstanden werden kann. Daraus folgt, dass die religiöse Literatur des Judentums als zentrale Untersuchungsgrundlage des historischen Bereichs der Wissenschaft des Judentums dient. Neben den Originalquellen aus der jeweiligen Zeit muss ein jüdischer Wissenschaftler freilich die Forschungslage der jüdischen Geschichte kennen. Geiger skizziert daher in seinen Vorlesungen den Forschungsstand und macht so auch auf Forschungsdesiderate aufmerksam, die wiederum zu neuen Untersuchungen anregen sollen. Die geschichtliche Disziplin der Wissenschaft des Judentums muss nach Geigers Auffassung gängigen wissenschaftlichen Kriterien und Vor241 Geiger begründet seine Fokussierung auf die „Geschichte der Geistesthaten“ (EWdJ 61) noch weiter, wenn er darlegt: „Es gehört aber auch zum Wesen der Juden, dass ihre Geschichte eine vorzugsweise geistige und als solche weltgestaltend ist, während es bei ihnen weder zur staatlichen Abrundung, noch zu einer eingreifenden Bedeutung ihres bürgerlichen Gemeinwesens kommt […]“ (EWdJ 61). Er führt weiter aus: „Das Judenthum hat eine solche Geschichte, und ihr, der Unabhängigkeit von dem politischen Bestande, verdankt es seine Dauer“ (EWdJ 62). 242 Folgende Äußerung beschreibt das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Geschichte: „Mit dem äussern Gange des geschichtlichen Lebens correspondirt auch die innere geistige, namentlich die religiöse Entwickelung“ (EWdJ 72).

Disziplinäre Aufgliederungen181 stellungen verpflichtet sein, was sich konkret darin ausdrückt, dass die kritische Perspektive zum Leitparadigma erhoben wird. Die historisch-kritische Methodik ist demnach integraler Bestandteil des historischen Zweigs und bestimmt alle geschichtlichen Studien. Dementsprechend werden die religiösen Schriften des Judentums durchgängig historisch-kritisch interpretiert.243 Festzuhalten ist, dass literar- und kulturgeschichtliche, exegetische, historische und politische Wissensgebiete in den geschichtlichen Zweig der Wissenschaft des Judentums integriert werden müssen, damit die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums entfaltet werden kann. Im Folgenden gilt es, die einzelnen Epochen der jüdischen Geschichte, also die unterschiedlichen Bereiche des historischen Zweigs, genauer zu beleuchten, indem vorwiegend deren Charakteristika, deren Methodik und deren Untersuchungsgegenstände dargestellt werden. Vorweg sei angemerkt, dass Geigers Ausführungen einer reinen Geschichtsdarstellung gleichen und den expliziten Bezug zur wissenschaftlichen Disziplin oder zum Studium der Wissenschaft des Judentums vermissen lassen. Darüber hinaus unterscheiden sich Geigers Ausführungen der einzelnen Epochen hinsichtlich des Umfangs voneinander, sodass nicht immer alle Aspekte mit der gleichen Ausführlichkeit behandelt werden und Leerstellen bleiben.244 Wenngleich Geiger vielfach ausführliche inhaltliche Anmerkungen formuliert, werden diese hier weitestgehend ausgespart und nur formal benannt beziehungsweise angedeutet. Das ist damit zu begründen, dass das vornehmliche Interesse auf der Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums und damit auf der disziplinären Aufgliederung liegt und nicht auf der jüdischen Geschichte als solcher. 4.2.2.1  „Zeit der Offenbarung“ Die erste Epoche der jüdischen Geschichte, die der ersten historischen Unterdisziplin entspricht, wird von Geiger als „Zeit der Offenbarung“ (EWdJ 65) 243 Folgende Formulierung verdeutlicht die Notwendigkeit der Integration der historisch-kritischen Methodik: „Als Bestandtheil einer Wissenschaft des Judenthums muss sich aber die Behandlung des geschichtlichen Inhalts allen Gesetzen unterwerfen, welche überhaupt die Geschichte als Wissenschaft anerkennt […]. Die Handhabung einer solchen wissenschaftlichen Kritik darf durch keine dogmatische Voraussetzung gestört werden“ (EWdJ 62). 244 Meyer liefert eine interessante und schlüssige Erklärung für diese Unausgewogenheit, indem er herausstellt: „Geiger did not structure Jewish history according to any quantitative measures. The size of a Jewish community did not determine its relative position in Jewish history, nor even the quality of its literary productivity. It was according to the quality of their spiritual creativity that Geiger would have particular phases of the Jewish past loom large and others appear small“ (Meyer, Abraham Geiger’s historical Judaism, 12).

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Geigers Entwurf einer ­­Konzeptionalisierung der Wissenschaft

bezeichnet.245 Sie umfasst die „biblische[ ] Zeit“ (EWdJ 63) und reicht dementsprechend bis zum „Abschlusse der Bibel“ (EWdJ 64).246 Die Periode zeichnet sich durch die „freie[ ] schöpferische[ ] Gestaltung“ (EWdJ 63) aus, wird folglich durch die unendliche produktive Kraft des jüdischen Geistes bestimmt.247 Die jüdische Individualität, also das genuin Jüdische entwickelt und verdichtet sich in kreativer, vielfältiger und ursprünglicher Weise in verschiedenen Ausdrucksformen. Die „Zeit der Offenbarung“ umfasst ergo die Entstehung des religiösen Gedankens und bringt die Originalität, Kreativität und Produktivität des jüdischen Geistes pointiert zum Ausdruck. Der religiöse Gedanke manifestiert sich unter anderem in der Literatur, was dazu führt, dass die biblischen Schriften als literarische Zeugnisse der Zeit historisch-kritisch betrachtet werden müssen, um dadurch das spezifische Profil der biblischen Zeit eruieren und so die religiöse Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Judentums rekonstruieren zu können. Die biblischen Schriften fungieren demzufolge als Untersuchungsgrundlage und der historisch-kritische Ansatz als Methodik.248 Angesichts des produktiven Nexus zwischen innerer Entwicklung und äußerer Geschichte müssen entscheidende Ereignisse und Größen, welche die Herausbildung der jüdischen Anschauung beziehungsweise die Ausformung des spezifisch Jüdischen geprägt haben, wahrgenommen und ergründet werden (vgl. EWdJ 72). Es gilt daher, die Epochen der Geschichte Israels zu untersuchen, also die vorstaatliche Frühzeit, konkret die Landnahme und Richterzeit, die Königszeit und die exilisch-nachexilische Zeit, jeweils aus innen- und außenpolitischer sowie historischer Sicht zu betrachten. Die Entwicklung des Nationalbewusstseins respektive religiösen Geistes kann durch Skizzierung des Kontextes besser nachvollzogen werden. Geigers Ausführungen in den Vorlesungen zeigen, über 245 Vgl. ausführlicher zu dieser Periode: JGI, 12–64. 246 Geiger datiert das Zeitalter nicht präzise, sodass die Epochengrenze ausschließlich von der Titulierung und von den dargelegten Ereignissen abgeleitet werden kann. Vermutlich endet die Epoche mit der Entstehung des Danielbuches, also um 165 v. Chr. „Abschluss[ ] der Bibel“ (EWdJ 64) würde genau genommen die Kanonisierung der Bibel meinen und damit in die nachchristliche Zeit fallen. 247 Als Träger geistiger Produktivität bestimmt Geiger die Propheten (vgl. JGI 27). 248 Wenngleich die biblischen Schriften als erkenntnisstiftende Quellen herangezogen werden sollen, gilt zu berücksichtigen: „Von den Anschauungen aus, welche dieser Volksgeist mehr und mehr zur Reife bringt, betrachten nun die nachgeborenen Geschlechter ihre Vergangenheit und stellen sie in diesem Lichte dar, und wickeln den Geschichtskern in Einkleidungen, die den Ansprüchen ihres erstarkten Nationalsinnes zusagen“ (EWdJ 68). Folgende Äußerung bestätigt die Modifizierung des Stoffes: „Neben den literarischen Neuschöpfungen, die ganz von diesem Geiste erfüllt waren, mussten die vorhandenen Denkmale und culturellen Uebungen eine Umgestaltung nach dem nunmehr herrschend gewordenen Geiste erfahren. Die Geschichte, zumal des getheilten Reiches, wird nach den neuen Verhältnissen vollständig umgearbeitet […]“ (EWdJ 68).

Disziplinäre Aufgliederungen183 welches Wissen ein jüdischer Gelehrter verfügen muss und legen damit dessen Kenntnishorizont fest. Hierbei fällt auf, dass dieser zwar grundlegende Momente und Zusammenhänge der Geschichte Israels kennen muss, Einzelheiten dagegen vernachlässigen kann. 4.2.2.2  „Zeit der Tradition“ Die zweite Periode der jüdischen Geschichte, die zugleich als zweite historische Unterdisziplin fungiert, wird von Geiger „Zeit der Tradition“ (EWdJ 86) genannt und explizit vom „Abschlusse der Bibel bis zum Abschlusse des babylonischen Talmuds“ (EWdJ 64), demnach bis zum Ende des fünften nachchristlichen Jahrhunderts datiert.249 Die Epoche charakterisiert Geiger mit dem Ausdruck „Stillstand“ (EWdJ 86)250, was dahingehend gedeutet werden kann, dass Kreativität, Originalität und Produktivität des jüdischen Geistes versiegt sind und dementsprechend keine Neuschöpfungen hervorgebracht werden. Geiger erklärt dies aus den Zeitumständen und beschreibt diese als „[…] das vorräthige Guterhalten, sammeln, sichten, ergänzen, es ausarbeiten für alle Lebensverhältnisse […]“ (EWdJ 86).251 Demnach steht die Tradierung der jüdischen Lehre und Geschichte im Vordergrund und folglich zielen alle Bemühungen darauf ab, die Erkenntnisse und Erzeugnisse der „Zeit der Offenbarung“, also das „vorräthige“ zu bewahren, zu überarbeiten, zu interpretieren und schließlich zu überliefern. Diese Bestrebungen münden in die Kodifizierung des Talmuds und damit in die Autorisierung der jüdischen Lehre. Während die Bezeichnung „Stillstand“ eine eindeutig negative Konnotation hat, deutet Geiger die „Tradition“ an anderer Stelle auch als 249 Diese Epoche umfasst gemäß Geigers Datierung die Zeit von ungefähr 165 v. Chr. bis 500 n. Chr. Geigers Ausführungen thematisieren primär jedoch die nachexilische Zeit bis zur zweiten Tempelzerstörung und beleuchten die nachchristlichen Jahrhunderte äußerst knapp beziehungsweise gar nicht. Stattdessen werden die Perser- und Griechenherrschaften ausführlich behandelt, die eigentlich noch in die „Zeit der Offenbarung“ fallen. Geiger rekurriert auf biblische Schriften, die in nachexilischer Zeit entstanden sind und erklärt sie zur Untersuchungsgrundlage, was dem formulierten Selbstverständnis der Epoche widerspricht. Es zeigt sich demnach ein Datierungsproblem, da Datierung und Darstellung offenkundig divergieren. Daraus folgt eine gewisse Unklarheit in Bezug auf die Bestimmung der Untersuchungsgegenstände. 250 Der „Stillstand“ (EWdJ 86) resultiert nach Geigers Auffassung daraus, dass „die ursprüngliche schöpferische Kraft vermisst wird“ und der Fortschritt „in enge Gränzen gebannt“ wird (EWdJ 87). 251 Wenngleich die Beschreibung der Periode eine gewisse Negativität aufweist, betont Geiger, dass es sich durchaus um eine „bedeutende Epoche“ handele und begründet es damit, dass „die idealen Gedanken ihre volle Verkörperung erhalten, das ganze Volksleben dadurch eine von Gedanken getragene Normirung gewinnt […]“ (EWdJ 86f).

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„Kraft der Entwickelung“ (JGI 74) und als „geistige Macht“ (JGI 75)252, wodurch die Negativität aufgehoben und die beständige Entwicklung des Judentums betont wird. Der Talmud 253, vorrangig der babylonische, fungiert als primäre Untersuchungsgrundlage, wenngleich auch biblische Schriften, wie das Esther-Buch254, die Chronik, die Makkabäer-Bücher255, der Psalter, der Hebräer-Brief und die Evangelien als Untersuchungsgrundlage herangezogen werden. Diese religiöse Literatur muss historisch-kritisch untersucht werden, was noch einmal die Zentralstellung der Schriftauslegung innerhalb der historischen Studien bestätigt und überdies die historisch-kritische Methodik als fest etabliert ausweist.256 Erneut zeigt sich, dass ein jüdischer Wissenschaftler über exegetisches und zwar bibelund talmudkritisches Wissen verfügen muss, wenn er die religiöse Entwicklung des Judentums in der „Zeit der Tradition“ ermitteln und nachzeichnen möchte. Darüber hinaus muss er wichtige politische und historische Ereignisse und Zusammenhänge kennen, da diese die innere Entwicklung beeinflussen. Folgende Momente stuft Geiger als relevante Wissensbestände ein: Die außenpolitische Situation Judäas wird in nachexilischer Zeit vorwiegend durch die beständige Fremdherrschaft, den Status als „Streitgegenstand“ (EWdJ 88) respektive 252 Geiger betont: „Die den Körper belebende Seele ist innerhalb des Judenthums die Tradition, sie ist die ebenbürtige Tochter der Offenbarung. Sie schwand nie und wird nicht schwinden innerhalb des Judenthums, sie ist der Quell, der die Zeiten immer befruchtet und bei jeder Berührung mit der Außenwelt je nach dem Bedürfnisse neu gestalten muß“ (JGI 74). 253 Der Talmud ist „ein bedeutsames historisches Document von einem etwa 700jährigen Zeitraum, das Entwickelung und Hemmung in dem Judenthum uns darlegt und erklärt und Vieles enthält, was auch für die Erkenntniss für die Bibel und ihrer Geschichte von Wichtigkeit ist […]“ (EWdJ 127). 254 Geiger konkretisiert: „Wie wenig Geschichtliches auch das Buch Esther berichten mag, so zeigt es uns doch, welche Erinnerungen dem Volke an die persische Herrschaft geblieben sind, wie die Lage precär, von Launen abhängig, und wie der Geist dahingewelkt war […]“ (EWdJ 87). 255 Die Makkabäer-Bücher werden von Geiger vornehmlich herangezogen, weil sie die Divergenz zwischen Sadduzäern und Pharisäern widerspiegeln. Er bezeichnet sie daher als „merkwürdiges Denkmal der abweichenden Richtungen“ (EWdJ 107) und führt aus: „Der Parteienkampf zeigt sich daher auch in den zwei Büchern, die den Kampf beschreiben […]“ (EWdJ 99). 256 Folgende exemplarische Äußerung begründet die Notwendigkeit des historisch-kritischen Ansatzes: „Denn wir haben es mit Berichten zu thun, die theils in mündlicher Ueberlieferung schon fremdartige Bestandtheile angenommen haben, theils im Gange der Entwickelung in andere Beleuchtung gerückt wurden“ (EWdJ 127). Geiger legt ergänzend dar, dass besonders die babylonische Gemara einer kritischen Analyse bedarf, wenn er schreibt: „Die Satzungen und Deutungen dringen dort hin als heilig gegeben, an denen nicht zu rütteln ist, wenn sie sich auch auf der Wanderung, die sie zu machen haben, sprachlich und inhaltlich vielfach umwandeln, daher sind ihre Berichte und Ueberlieferungen weit weniger treu und müssen sehr mit kritischer Vorsicht aufgenommen werden“ (EWdJ 126).

Disziplinäre Aufgliederungen185 „Spielball“ (EWdJ 89) und die fehlende Staatlichkeit bestimmt. Geiger deutet den Zusammenhang zwischen dieser Situation und der Entwicklung des religiösen Gedankens an, insofern er bemerkt, dass „[…] die äussere Lage einen hohen Aufschwung nicht gestattet, vielmehr der äussere Druck und der Mangel an freier Selbstbestimmung auch gedrückte Gemüthsstimmungen erzeugt“ (EWdJ 87). Wenngleich die Determination durch fremde Autoritäten die freie Entwicklung des Judentums hemmt, so konstatiert Geiger beispielsweise unter der Herrschaft der Perser ein „Hinkriechen Judäa’s“ (EWdJ 87), empfängt es doch durch die anderen Kulturen auch produktive geistige Impulse, welche die Entfaltung des religiösen Gedankens maßgeblich prägen. Dementsprechend muss auch das geistige Welt- und Bildungsgut der regierenden Völker berücksichtigt werden. Besonders die Herrschaft der Griechen hat nachhaltigen Einfluss auf die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums und bedarf daher intensiver Betrachtung. Die Prägekraft des „Griechenthum[s]“ (EWdJ 94)257 gilt es demnach zu untersuchen, wobei zwischen der Beeinflussung in Judäa und der in Alexandria unterschieden werden muss: In Judäa erhält der jüdische Gedanke aufgrund von Abgrenzungsbestrebungen zum „Griechenthum“ eine „particularistisch abschliessend[e]“ und dadurch das „Selbstständig-Jüdische befestigend[e]“ Gestalt (EWdJ 94). In Alexandria258 wird der jüdische Geist dagegen mit „philosophisch-griechischer Bildung“ (EWdJ 95)259 befruchtet. Dies führt dazu, dass der jüdische Geist auf eine universale Ebene gehoben wird, wodurch er sich zum „Gemeingut der Menschheit“ (EWdJ 96) entwickelt und „welthistorische[n] Einflusse“ (EWdJ 94) erlangt. In Alexandria wird demgemäß unter anderem eine „philosophische[ ] Sublimirung des biblischen Inhaltes“ (EWdJ 96) erreicht, also das jüdische Gedankengut mit dem griechischen Geist kreativ verbunden. Der biblische Stoff wird für den griechisch gebildeten Adressatenkreis modifiziert, indem dieser zum Beispiel mit philosophischen Theoremen angereichert wird, wie in der Septuaginta deutlich zu erkennen ist (vgl. EWdJ 96). Von zentraler Bedeutung für die religiöse Entwicklung des Judentums sind überdies zwei Ereignisse, die Geiger auch als die „zwei mächtigsten Erschütte-

257 Vgl. ausführlicher dazu: JGI 77–86. 258 Folgende Äußerung konkretisiert die Bedeutung Alexandrias: „[…] Alexandrien war eine Freistätte geworden für solche Zuzüge, dort und weiterhin waren grosse jüdische Gemeinden, deren Sprache und Bildung, also deren Geistesrichtung überhaupt, griechisch-ägyptisch waren […]“ (EWdJ 88). 259 Ausführlicher heißt es in den Vorlesungen: „So entstand eine eigenthümliche Mischung von innerem nationalem Judenthum und philosophisch-griechischer Bildung, allgemeinen weltumfassenden Ideen, Anhänglichkeit an Jenes und Erfülltsein von griechischem Geist“ (EWdJ 95).

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rungen“ (EWdJ 118)260 beschreibt: die zweite Tempelzerstörung sowie der endgültige Verlust der Staatlichkeit und die Entstehung des Christentums. Die Tempelzerstörung hebe die sichere Verwurzelung in der Vergangenheit auf, indem die zentralen religiösen Pfeiler zerstört werden und das gesamte religiöse Leben am Boden liege. Der Verlust des Tempels und des Priestertums müsse konstruktiv verarbeitet werden, indem andere Fundamente des religiösen Lebens gelegt werden und dieses so neu organisiert werde. Die Entstehung des Christentums markiert nach Geigers Auffassung den Beginn einer langen Leidenszeit des Judentums. Dazu gehöre, dass das Erscheinen des Messias jegliche Zukunftshoffnung vernichte und die im Judentum virulenten Messias-Sehnsüchte zerstöre. Beide Geschehnisse, also die Tempelzerstörung und die Entstehung des Christentums, müssen hinsichtlich ihrer Tragweite, das heißt in Bezug auf ihre Wirkung auf das Judentum, untersucht werden.261 Wie oben entfaltet fungiert der Parteienkampf als zentrale historiographische Kategorie Geigers. So wird die innere Verfassung des Judentums nach Geigers Auffassung vorrangig durch die Auseinandersetzung zwischen Pharisäern und Sadduzäern, das heißt zwischen Bürgertum und Priestertum bestimmt, wie folgende Äußerung zeigt: „Die Entwickelung des Judenthums bis zu seiner gegenwärtigen Gestalt beruht auf dem Kampfe zwischen Sadducäern und Pharisäern“ (EWdJ 103).262 Der Parteienkampf hat demnach weit reichende Konsequenzen für die religiöse Entwicklung des Judentums, vornehmlich für die Ausbildung der religiösen Satzungen, genauer gesagt der Halacha.263 Pointiert fasst Geiger die charakteristischen Leistungen zusammen, indem er konstatiert: „Die Sadducäer, sich anschließend an die bestehenden Gewalten, erhielten den Staat, die Pharisäer hingegen die persönliche Würdigkeit und Frömmigkeit. Sie erringen die zwei großen Güter: die Gleichberechtigung und den Gebetsgottesdienst“ (EWdJ 107). Geiger deutet die Sadduzäer offenkundig als die konservative und regressive, 260 Vgl. zur Entstehung und Entwicklung des Christentums: JGI 108–148; zur Tempelzerstörung vgl. exemplarisch: JGI 149–162. 261 Geigers eigene Forschungen thematisieren schwerpunktmäßig die Beziehung zwischen dem antiken Judentum und den Ursprüngen des Christentums (vgl. vor allem Geigers Urschrift und Das Judenthum und seine Geschichte, vgl. dazu: Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum; Jacob, Christianity through jewish eyes, bes. 40–50; Vahrenhorst, „Nicht Neues zu lehren, ist mein Beruf …“, 114–119). 262 Vgl. dazu beispielsweise auch: Geiger, Sadducäer und Pharisäer. 263 Vgl. zu dieser Thematik ausführlich: Geiger, Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums; ders., Sadducäer und Pharisäer; ders., Das Judenthum und seine Geschichte bis zur Zerstörung des zweiten Tempels, 77–107. Geiger entfaltet dort seine Theorie von der älteren und jüngeren Halacha und korreliert die Text- mit der Religionsgeschichte, also konkret die Entwicklung der Halacha mit dem Parteienkampf.

Disziplinäre Aufgliederungen187 die Pharisäer hingegen als die liberale und innovative Richtung. Die Pharisäer suchen nach Geigers Auffassung, das jüdische Religionsgesetz zu liberalisieren und die religiöse Praxis dadurch zu erleichtern, wohingegen die Sadduzäer bestrebt sind, mittels einer konservativen Lesart die jüdischen Traditionen zu wahren und so ihre privilegierte Stellung zu sichern. Die Pharisäer setzen sich nach der Tempelzerstörung endgültig durch und ihre Lehre wird in erster Linie überliefert.264 Geiger deutet die Pharisäer offenkundig als Träger des Fortschritts, da sie die jüdische Religion demokratisieren und vergeistigen, und strengt damit ein eindeutig positives Pharisäer-Bild an.265 Außerdem müssen die anderen religiösen Gruppierungen wie beispielsweise die Essäer, die Zeloten und die Samaritaner im Hinblick auf ihre religiöse Ausrichtung und ihren Beitrag zur jüdischen Geistesentwicklung und Literatur betrachtet werden. Neben dem Parteienkampf bestimmt das Religionsgesetz das Profil der Epoche. Das bedeutet, dass religiöse Satzungen verstärkt an Relevanz gewinnen und die Frömmigkeitspraxis des Judentums bestimmen. Die Herausbildung der Halacha und die Kodifizierung des Talmuds können dementsprechend als konstitutive Momente der Zeit benannt werden, wie diese Aussage verdeutlicht: „Es [das Judentum] lebte nun ganz der Aufgabe, die geretteten Satzungen der Vergangenheit zu bewahren und auszubilden. […] es sollte Alles im Bibelworte liegen, oder durch göttliche Tradition ausdrücklich vorgeschrieben sein“ (EWdJ 121).266 Abermals klingt an, dass Produktivität und Originalität gewichen sind und stattdessen die Tradierung und Überlieferung des religiösen Gesetzes vorherrschend sind. Das Religionsgesetz und seine schriftliche Fixierung in Gestalt des Talmuds prägen von nun an das religiöse Leben, also die Frömmigkeitspraxis und die religiöse Literatur des Judentums, was einmal mehr verdeutlicht, warum der Talmud zentrale Untersuchungsgrundlage dieser Unterdisziplin ist (vgl. EWdJ 127; FacI 2f).

264 Heschel bezeichnet Geigers Deutung der Pharisäer und Sadduzäer, wie er sie erstmalig in seiner Urschrift formuliert, ganz treffend als „most controversial element“, weil die Pharisäer in der christlichen Tradition über Jahrhunderte hinweg eine „unsavory, if not evil reputation“ genossenen (Heschel, „Revolt of the Colonized“, 72). Besonders herausfordernd ist freilich Geigers Jesus-Deutung als Pharisäer. Geiger betont als erster das Judesein Jesu und stellt ihn als Pharisäer dar. 265 Geigers Pharisäer-Deutung erinnert unweigerlich an die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts. 266 Geiger schreibt dazu weiterhin: „Die Erhaltung galt als Beurkundung der Frömmigkeit in der Gegenwart und als eine Anbahnung für die erwartete herrliche Zukunft“ (EWdJ 121).

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„Zeit der starren Gesetzlichkeit“ 4.2.2.3  Die dritte Epoche der jüdischen Geschichte, die der dritten historischen Unterdisziplin der Wissenschaft des Judentums entspricht, erstreckt sich vom 6. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts und wird von Geiger als „Zeit der starren Gesetzlichkeit“ (EWdJ 129) bezeichnet. Die Periode umfasst eine lange Zeitspanne, die mannigfaltige Abschnitte der jüdischen Geschichte impliziert, aber auch das konstante und damit charakteristische Moment der „Erstarrung“ (EWdJ 130)267 mitführt, welches namensgebend ist. Die verfallsgeschichtliche Perspektive ist folglich leitend. Als Ausgangspunkt und somit Auslöser der „Erstarrung“ fungiert die Kodifizierung des Talmuds, die zum einen die Blütezeit der kreativen und originellen Produktivität des jüdischen Geistes beendet und zum anderen die kasuistische Gesetzesauslegung zum Kern des religiösen Lebens sowie der Gelehrsamkeit macht und den Talmud dadurch ins Zentrum der Frömmigkeits- und Gelehrtenpraxis stellt. Das drücken auch die Bezeichnungen der Zeit als „Periode […] der Casuistik, der Zusammenfassung des Ueberkommenen“ (EWdJ 64) aus. Der überlieferte Stoff, das heißt die heiligen Schriften Bibel und Talmud, wird zwar tradiert, nicht aber weiterentwickelt und kreativ gestaltet, was eine deutliche Verschärfung zur „Zeit der Tradition“ darstellt, die zwar auch keine Neuschöpfungen hervorbringt, jedoch noch produktive Modifizierungen des Vorrätigen beinhaltet.268 Das jüdische Religionsgesetz erhält durch die Kodifizierung des Talmuds eine unumstößliche, invariable Form, die keinen Gestaltungsspielraum zulässt und Reformen und Innovationen daher ausschließt. Die Lebendigkeit, Frische und Originalität des jüdischen Geistes sind nach dem Abschluss der heiligen Schriften gewichen, das bedeutet jedoch nicht, dass es seitdem keinerlei literarische Darstellungsformen des jüdischen Gedankens mehr gibt. Diese haben jedoch nicht mehr den Rang von heiligen Schriften und weisen statt eines normativen Charakters einen eher erklärenden Duktus auf. Als Untersuchungsgrundlage der historischen Unterdisziplin hebt Geiger explizit und besonders „Midrasch und äussere Textausstattung“ hervor, insofern 267 Geiger führt weiter aus: „Dass die Erstarrung nicht aus gänzlicher Erschöpfung der Lebenskraft eingetreten ist, beweist jene bald erweckte Betheiligung an den allgemeinen geistigen Problemen, aber Erstarrung tritt auch dann ein, wenn die Entwickelung durch äussere Hindernisse gehemmt ist, oder die inneren Motive, welche das Bisherige hervorgebracht haben, absterben, sodass später an die lebensvolle Fortbildung nicht wieder angeknüpft werden kann, das Ueberkommene nun bindend dasteht, ohne mehr die volle innere Berechtigung zu haben“ (EWdJ 130). 268 Geiger schreibt dementsprechend: „Die dritte ist die der mühsamsten Beschäftigung mit dem Gegebenen, der Hütung des geistigen Erbes, ohne dass man sich für befugt hält, die gegebenen Grenzen zu überschreiten, das Erbe neuzugestalten oder fortzubilden […]“ (EWdJ 64).

Disziplinäre Aufgliederungen189 er sie als „Produkte der Zeit“ bezeichnet (EWdJ 131).269 Demgemäß gilt es, die Schriftauslegungen bedeutender Gelehrter heranzuziehen und zu analysieren und so die religiöse Entwicklung des Judentums zu erarbeiten. Die Midraschim fungieren als charakteristische Erzeugnisse der „Zeit der starren Gesetzlichkeit“ und spiegeln den virulenten Geist wider. Ein jüdischer Wissenschaftler muss die Midraschim historisch-kritisch untersuchen und kann auf diese Weise wichtige Erkenntnisse erlangen.270 Neben der Textauslegung fällt auch die Textsicherung und -bewahrung in die „Zeit der starren Gesetzlichkeit“. Die Entstehung der Massorah ereignet sich in dieser Periode und muss daher im Zuge historischer Studien berücksichtigt werden. Textauslegung und -sicherung können nach Geigers Dafürhalten als Indizien für die „ausserordentlich geistige Regsamkeit der Juden“ (EWdJ 133) gedeutet werden, was die Negativität der „Erstarrung“ entschärft und zeigt, dass es durchaus geistige Aktivitäten gibt, wenngleich diese keine Neuschöpfungen hervorbringen, sondern ausschließlich der Auslegung und Bewahrung des Vorrätigen dienen.271 Ein jüdischer Wissenschaftler soll sich gerade diese Periode über zentrale Gelehrte und deren Werke erschließen. Um den Rahmen der relevanten Kenntnisse abzustecken, rekurriert Geiger in seinen Vorlesungen besonders in dieser Epoche auf zahlreiche Gelehrte, stellt deren Schriften, hauptsächlich Bibel- und Talmudkommentare, vor, und entwirft so eine jüdische Literatur- respektive Wissenschaftsgeschichte, die zeigt, dass das Judentum über eine lange wissenschaftliche Tradition verfügt und den eingangs erweckten negativen Eindruck der mangelnden Schaffenskraft leicht entschärft. Da das Judentum in fruchtbarer Wechselwirkung mit den kontextuellen Bedingungen steht, muss die Entstehung des Islam zu Beginn des 7. Jahrhunderts thematisiert werden, weil auch sie Auswirkungen auf das Judentum und seine religiöse Entwicklung hat. Folgende Äußerung deutet die Prägekraft des Islam auf das Judentum an: „Es war ein befreiender Hauch, der auch in das Judenthum frisch belebend eindrang“ (EWdJ 135). Im klaren Gegensatz zum Christentum, welches die „Erstarrung“ des Judentums stabilisiert oder gar verschärft, hat der 269 Zu Letzterem heißt es ausführlicher: „Durch die Syrer angeregt, war man bedacht, die Aussprache und die äussere Gestalt des Textes durch Zeichen und Bestimmungen genauer zu fixiren; Punctation und Accentuation, festere Bestimmungen über die Art der Schreibung, über Gestalt und Verzierung der Buchstaben, und andere mehr äusserliche Anordnungen werden […] vorgenommen, und so gestalten sich die Anfänge der Massorah“ (EWdJ 133). 270 Geiger verweist in diesem Kontext auf Zunz’ Werk Die gottesdienstlichen Vorträge, in dem Zunz die Midraschim mit historisch-kritischer Perspektive betrachtet (vgl. Zunz, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt). 271 An anderer Stelle konstatiert Geiger: „Die Richtung der Zeit bekundete sich in Bibel- und Haggadaherklärung […]“ (EWdJ 157). Daraus folgt, dass im Rahmen der Wissenschaft des Judentums ebensolche „Bibel- und Haggadaherklärung[en]“ zu untersuchen sind, da sie den virulenten Geist widerspiegeln.

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Islam anregende und damit positive Wirkung auf das Judentum, die sich vor allem auf wissenschaftlichem Gebiet niederschlägt. Dem Islam ist es nämlich unter anderem zu verdanken, dass das Judentum von der (arabischen) Wissenschaft befruchtet wird.272 So initiiert die Berührung mit dem Islam geistige Aktivitäten, die in literarische Werke münden. Aus dem Zustand der „Erstarrung“ kann das Judentum trotz des erfrischenden und fruchtbaren Stimulus jedoch nicht herausgeführt werden. Der Islam, die von ihm angestoßene „neue[ ] arabische[ ] Culturperiode“ (EWdJ 142) und damit auch die arabische Wissenschaft müssen im Rahmen historischer Studien betrachtet werden und der konkrete Einfluss auf den jüdischen Gedanken erarbeitet werden.273 Ebenso muss ein jüdischer Wissenschaftler die Mystik als eine weitere ideelle Strömung berücksichtigen und ihre Wirkungskraft auf das Judentum ausleuchten (vgl. EWdJ 164–167). Die Reformation und ihre Auswirkung auf das Judentum gilt es außerdem näher zu betrachten, wenngleich Geiger die unmittelbaren Folgen eher gering einschätzt (vgl. EWdJ 173–177). Wie in den vorherigen Epochen auch wird der Mikrokosmos des Judentums von Streitigkeiten verschiedener religiöser Gruppierungen bestimmt. Infolgedessen muss ein jüdischer Wissenschaftler die unterschiedlichen (halachischen) Positionen wahrnehmen und den Konflikt nachzuvollziehen suchen. Geiger konstatiert eine Verschiebung, weg vom klassischen Parteienkampf hin zum Kampf gegen respektive für die Tradition, und macht zwei zentrale Gruppen aus: die Karäer, die sich im Zuge der Entstehung des Islam aus den Sadduzären entwickeln, und der Rabbinismus. Erstere lehnen den Talmud als autoritative Größe ab und sprechen sich so gegen die Tradition aus, wohingegen Letztere den Talmud als Herzstück der Frömmigkeitspraxis ansehen und ihn zum Zentrum des religiösen Lebens erklären (vgl. EWdJ 135–141). Auch die Samaritaner, genauer gesagt ihre Lehre und Literatur, gilt es in den Blick zu nehmen, da auch sie durch den Islam nachhaltig geprägt werden. Exemplarisch führt Geiger die „arabische Uebersetzung des Pentateuch durch Abu-Said aus dem 11. oder 12. Jahrhundert“ (EWdJ 141) an, die herangezogen werden muss. Soll die religiöse Entwicklungsgeschichte des Judentums skizziert werden, muss die Entfaltung des jüdischen 272 Geiger schreibt, dass „der wissenschaftliche Geist versuchte, soweit es die undurchbrechbaren Schranken es gestatteten, auch das ganze Wesen des Judenthums zu durchdringen, und es war, als wenn selbst todte Gebeine neu erstehen sollten“ (EWdJ 135). 273 Geiger konstatiert beispielsweise: „[…] der Durchbruch zeigt sich im Gebrauche der arabischen Sprache für philosophische und theologische Gegenstände“ (EWdJ 142). Gleichwohl gesteht Geiger jedoch ein: „In anderen Wissenschaften war der Einfluss früh bemerklich; Aerzte und Mathematiker erstanden bald, von denen einige tonangebend wurden […], aber die Theologie ging noch eine Zeit lang ihren alten Gang, wenn auch ein Aufschwung nicht zu verkennen ist“ (EWdJ 142).

Disziplinäre Aufgliederungen191 Geistes in allen einschlägigen Ländern seines Auftretens betrachtet werden, der Differenzierung der jüdischen Entwicklung also Rechnung getragen werden. Infolgedessen müssen die Werke jüdischer Gelehrter aus allen Ländern beleuchtet werden. Geiger verweist auf die spezifischen Ausprägungen in Nordafrika, Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland, Böhmen, Polen, in der Türkei und in den Niederlanden und zeigt dadurch das zu betrachtende Gebiet auf. Einzig durch diese globale Perspektive kann die Entwicklungsgeschichte in toto erarbeitet und der Universalität des Judentums entsprochen werden (vgl. EWdJ 142–188). 4.2.2.4  „Zeitalter der Kritik“ Die letzte Epoche der jüdischen Geschichte, die zugleich als vierte historische Unterdisziplin fungiert, bezeichnet Geiger als „Zeitalter der Kritik“ (EWdJ 216) oder auch als „Zeit der Befreiung“ (EWdJ 64). Sie beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts und reicht bis in die Gegenwart, wobei Geigers Darstellung bereits im Jahre 1830 endet. Das „Zeitalter der Kritik“ markiert einen neuen Abschnitt ergo einen Umbruch in der jüdischen Geschichte, infolgedessen auch ein neuer Geist auszumachen ist. Geiger beschreibt das Zeitalter als „Lösung aus den Fesseln der früheren Periode“ und benennt als Instrumente dafür „Vernunftgebrauch und geschichtliche Forschung“ (EWdJ 64). Die historisch-kritische Perspektive kann dementsprechend als kennzeichnendes Merkmal der Zeit und historische Studien, die der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind, als konstitutive Elemente der Periode genannt werden. Veränderungen und Neugestaltungen, die jedoch nicht einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit nach sich ziehen, sondern diese stets mit- beziehungsweise weiterführen und berücksichtigen, prägen die Epoche. Es gilt, eingefahrene Muster aufzubrechen, Traditionen zu überdenken und Lebendigkeit sowie Zuversicht zu verbreiten. Betrachtet man Geigers Ausführungen, fällt auf, dass die Darstellung der letzten Periode knapp ist, sodass beispielsweise kaum Spezifika benannt werden, die Untersuchungsgrundlage undeutlich und die Charakterisierung der gegenwärtigen Ausprägung des jüdischen Gedankens insgesamt vage bleiben. Zentrale Topoi der Zeit wie Vernunft, Kritik und Geschichte werden nur gestreift und erfahren keine fundierte Beleuchtung. Die unmittelbare Gegenwart und damit die zeitgenössische religiöse Praxis werden ebenfalls nicht thematisiert, was mit Geigers fehlender Distanz zu dieser Zeitspanne erklärt werden kann.274

274 So fragt Geiger in seinen Vorlesungen zur jüdischen Geschichte kritisch, ob man die unmittelbare Gegenwart überhaupt objektiv betrachten könne (vgl. AJG 248).

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Das „Zeitalter der Kritik“ kann vornehmlich über Moses Mendelssohn und dessen Wirken erschlossen werden.275 Geiger umreißt Mendelssohns Leistung, indem er konstatiert, dass „in der Verbreitung wahrer Bildung, in der Veredelung des Geschmacks, in dem Hervorrufen einer einfachen Gedankenrichtung […] ein grosser Verdienst Moses Mendelssohns [liegt] […]“ (EWdJ 222).276 Mendelssohns Wirkungskraft erstreckt sich demgemäß wesentlich auf ästhetischer und erzieherischer Ebene, wie auch folgende Äußerung andeutet: „Seine Pentateuch-Ausgabe […] war seine vorzüglichste That für das Judenthum“ (EWdJ 230).277 Mendelssohns ästhetischer Zugriff auf die Bibel, der überdies der Bildung verpflichtet ist, kann als bezeichnend für die Epoche gedeutet werden. So kann eine neue Zuwendung zur Bibel beobachtet werden, die dazu führt, dass sie wieder einen zentralen Platz im religiösen und wissenschaftlichen Leben erhält. Primär zielen die Bestrebungen der Zeit, so auch Mendelssohns Bibelübersetzung, darauf ab, Gefallen und Geschmack an der Bibel zu vermitteln, einen generellen Zugang zur Bibel zu eröffnen, „die völlige Unkenntniss der Bibel“ aufzuheben und der „der hebräischen Sprache“ (EWdJ 221) entgegenzukommen. Welche zentrale Bedeutung Mendelssohn für diese jüdische Epoche hat, wird deutlich, wenn Geiger ihn als den „Anbahner[ ] der neuen Zeit“ (EWdJ 222)278 bezeichnet. Trotz kritischer 275 Äußerst knapp skizziert Geiger, wie es zum Aufkommen eines neuen Geistes gekommen ist, indem er dessen Weg von England und Frankreich nach Deutschland nachzeichnet. In diesem Kontext streift er auch die Zeit des Pietismus und rekurriert schließlich auf prominente Vertreter der protestantischen Aufklärung. Es handelt sich hierbei um (geistes)geschichtliche Ausführungen, die das Judentum als solches nur peripher berühren (vgl. EWdJ 216–220). 276 Ausführlicher schreibt Geiger: „Moses Mendelssohn’s […] Bedeutung im Allgemeinen besteht darin, dass er so rasch und entschieden mit eintrat in die damals stark sich regende Literaturbewegung und dass er von dem Besten als ebenbürtig anerkannt wurde und mit ihnen gemeinschaftlich wirkte. Er stand auf dem Niveau der Zeit, mit selbstständigem Verständnis, war Vertreter des Deismus der natürlichen Religion mit Wärme, mit vollem philosophischen Glauben daran, zugleich auch mit feinem Sinne für das Schöne, so dass er Aesthetik ebensowohl eindringend zu behandeln wusste, wie selbst auch anmuthig darzustellen verstand. Er war ein Popularphilosoph in der der edelsten Bedeutung des Wortes, so dass er in der That den Eintritt in die gebildete Welt zu vermitteln verstand, ohne die Strenge der wissenschaftlichen Anforderungen aufzugeben“ (EWdJ 222f). 277 Geiger deutet die Wirkungskraft der Pentateuch-Übersetzung an, wenn er darlegt: „In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte bereits Mendelssohn einen Kreis von Schülern und Anhängern um sich gesammelt und in der Ferne Verehrer gewonnen, durch seine Uebersetzung des Pentateuchs, welche mit einem rabbinischen Commentare versehen war, der eine gesündere Exegese, grammatische Kenntniß des Hebräischen und nüchterne Auffassung des Schriftsinns zu verbreiten suchte, einen geläuterteren Geschmack, Liebe zur hebräischen Sprache und zu deren Poesie, Lust an Erlernung der reindeutschen Sprache und überhaupt den Eifer zur Aneignung gemeinnütziger Kenntnisse angeregt“ (JZI 286f). 278 An anderer Stelle führt Geiger weiter aus: „Die Juden selbst aber erzog er [Mendelssohn] zur Bildung, zur Theilnahme an der allgemeinen Geistesentwickelung wie zu nüchterner

Disziplinäre Aufgliederungen193 Töne279, die Geigers Ausführungen über Mendelssohn ebenfalls beinhalten, sieht er ihn als Schlüsselfigur der Zeit, was eine intensive Beschäftigung mit seiner Person und seinen Schriften rechtfertigt. Diese Periode respektive ihre Literatur kann genau wie Mendelssohns Verdienst durch die beiden Stichworte Ästhetik und Erziehung charakterisiert werden, wie auch folgende Äußerung zeigt: „Die ganze Literaturrichtung hatte etwas belebendes und erfrischendes, sie war eine Art Humanismus, aber war in sich ein Halbes, nur Erziehendes, sie war eben ausschließlich ästhetisch, ohne wissenschaftlichen Inhalt“ (EWdJ 232). Es ist offenkundig, dass Geiger den neuen Geist, der sich durch eine neu erwachte Lebendigkeit, Beweglichkeit und Frische auszeichnet und alte, eingefahrene, starre Denkmuster aufbricht, als positiven Motor der Zeit würdigt, zugleich aber auch Grenzen aufzeigt. So ermangeln die Literatur und damit die gesamte Epoche eindeutig noch an Wissenschaftlichkeit. Der jüdische Gedanke erhebt sich demzufolge nicht auf eine wissenschaftliche Ebene, sondern verharrt im Ästhetischen, welches jedoch bildende Anklänge hat. Diese Einschätzung wird exemplarisch durch Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung bestätigt, die zwar einen Zugang zur Bibel eröffnet, jedoch der vollkommenen Wissenschaftlichkeit entbehrt. Eine Bildungsoffensive, die in der Aufklärung wurzelt, und die Sensibilisierung für das Schöne können demnach Spezifika der Zeit genannt werden, nicht jedoch die vollständige Konzeptionalisierung einer Wissenschaft, die das Judentum zum Untersuchungsgegenstand hat, wobei es durchaus diesbezügliche Ansätze gibt. Geiger konstatiert ausdrücklich: „Das Judenthum auf die Stufe der Wissenschaft zu erheben, es ebenbürtig den anderen Religionen zur Seite zu stellen, war eine Aufgabe, welche die Kräfte der Zeit überstieg […]“ (EWdJ 240). Dennoch eröffnet Geiger eine optimistische Perspektive, indem er das Jahr 1830 als Wendepunkt deklariert, eine neue Zeit prognostiziert und feststellt: „Der lebendige Geist aber, der still wirkt, ist damit Erfassung und richtiger Würdigung ihres geistigen Erbgutes. An ihn, an seine Thätigkeit als Schriftsteller wie als Mensch, als Philosoph wie als Jude, an sein öffentliches Auftreten wie an sein häusliches Leben knüpft sich auch dann noch die neue Zeit in der Geschichte der Juden, wenn selbst alle seine Ansichten und Bestrebungen veraltet sein mögen“ (GB 247). 279 So stellt Geiger beispielsweise heraus: „[…] denn Mendelssohn war ein feiner Bildner, aber kein mächtiger Schöpfer. Freilich war er ein Mann, wie die Zeit ihn verlangte, aber eben daher auch mit der Zeit vorübergehend […]“ (EWdJ 236). Weiterhin konstatiert Geiger: „Doch hervorgehoben muß werden, daß Mendelssohn, bei all seiner persönlichen Begabung, bei seiner geistigen und charactervollen Selbstständigkeit, die ihn weit darüber erhebt, daß er etwa blos ein Product seiner Umgebung gewesen sei; dennoch nicht die innere Abrundung den weithin sich ausdehnenden Einfluß erlangt hätte, wie sie ihm geworden, wenn er nicht Berlin angehört, wenn er nicht neben Lessing und Dohm und allen Vertretern der Aufklärung gestanden, wenn er nicht hier empfängliche Genossen und Jünger gefunden hätte, welche seine Aussaat verbreiteten und pflegten. Berlin war der geeignete Boden für die Neuschöpfung Mendelssohn’s“ (GB 247). Vgl. zur kritischen Würdigung Mendelssohns auch: MJS 200 f.

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nicht erloschen und wenn gesunde Kräfte herantreten, dann wird Frucht daraus erzielt“ (EWdJ 243). Der Blick in die Zukunft ist demzufolge von Zuversicht geprägt, verlangt gleichzeitig aber auch ein engagiertes Eintreten für die Belange des Judentums.

4.3  Vergleichende Zusammenschau der disziplinären Aufgliederungen Nachdem in Kapitel 1 des I. Hauptteils die terminologische Differenzierung zwischen jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums in einem ersten Zugriff zu begründen gesucht wurde, ist noch offen geblieben, ob die begriffliche Unterscheidung auch eine konzeptionelle Varianz impliziert. Die Darstellung der disziplinären Aufgliederungen von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums, wie Geiger sie in den beiden Kompendien darbietet, vermag hier Klarheit zu stiften. In einer vergleichenden Zusammenschau sollen im Folgenden vornehmlich Unterschiede, die zwischen den Disziplinen der jüdischen Theologie und denen der Wissenschaft des Judentums bestehen, benannt und gedeutet werden, um dadurch das inhaltliche Gepräge der jüdischen Theologie und das der Wissenschaft des Judentums zu schärfen. Überdies soll so geklärt werden, ob hinter den zwei Begriffen auch zwei verschiedene Programme stehen. Die in Kapitel 1 des I. Hauptteils aufgestellte These, dass es sich in erster Linie um eine terminologische, nicht jedoch um eine inhaltliche Differenzierung handelt, soll demnach auf Grundlage des Vorangegangenen überprüft werden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich der Vergleich ausschließlich auf die Äußerungen der beiden Kompendien bezieht, also gewissermaßen auf Lehrbuchaussagen, die spezifischen äußeren Umständen geschuldet sind. Die Ausführungen in den anderen Kapiteln des I. Hauptteils gründen hingegen auf Geigers gesamtem Oeuvre, sodass Akzentverschiebungen und Abweichungen denkbar sind, vor allem auch, weil nur in diesem Kapitel scharf zwischen Wissenschaft des Judentums und jüdischer Theologie differenziert wird. Vergleicht man die disziplinären Aufgliederungen von jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums, fällt unmittelbar auf, dass Letztere keinen praktischen Zweig aufweist. Die damit einhergehende abgeschwächte Praxisdimension der Wissenschaft des Judentums kann sicherlich als die größte Differenz zum Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie gedeutet werden. Die jüdische Frömmigkeitspraxis und das Gemeindeleben fungieren demgemäß nicht unmittelbar als Untersuchungsgegenstände der Wissenschaft des Judentums und religiöse Erfahrungs- und Kommunikationsprozesse werden folglich nicht

Disziplinäre Aufgliederungen195 wissenschaftlich beleuchtet und fundiert. Eine theoretische Reflexion der Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die religiöse Praxis und entsprechende Entwürfe gibt es bei der Wissenschaft des Judentums nicht. Ergo ist der Nexus zwischen Wissenschaft und Leben im Kompendium nicht programmatisch ausgestaltet. Die Praxisdimension, die im Kompendium der jüdischen Theologie konstitutiv ist, wird in den Vorlesungen zur Wissenschaft des Judentums also offenkundig zurückgestuft. Die Wissenschaft des Judentums, wie Geiger sie im Kompendium entwirft, scheint zwar im Dienst der Forschung und Lehre, nicht jedoch direkt in dem der Praxis zu stehen.280 Wenngleich Geiger den praktischen Zweig der jüdischen Theologie auch nicht ausgereift entwirft und ihn vornehmlich vermittelt über die Tätigkeiten eines „praktische[n] Theologe[n]“ (ETh 27) darstellt, ist die komplette Tilgung der praktischen Disziplin doch auffällig. Es stellt sich deshalb die Frage, warum Geiger die Wissenschaft des Judentums im Kompendium vornehmlich als eine theoretisch ausgerichtete Wissenschaft konzipiert und den unmittelbaren produktiven Bezug auf die Praxis derart zurückstuft. Geiger selbst liefert hierfür keine Antwort, aber erneut können äußere Bedingungen als ausschlaggebend angenommen werden. Die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, auf die in Kapitel 1.2.2 des II. Hauptteils näher eingegangen wird, versteht sich ursprünglich als akademische Einrichtung, die sich der „Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung der Wissenschaft des Judentums“281 widmet und sich durch eine ausgeprägte Wissenschaftsorientierung auszeichnet. Einer Engführung auf gemeindliche, lebenspraktische und theologische Inhalte wird dadurch entgegengewirkt und ein allgemeineres, breiteres Wissenschaftsideal zugrunde gelegt. Unter Berücksichtigung des Selbstverständnisses der Berliner Hochschule leuchtet es ein, dass Geiger das gemeindliche Handlungsfeld sowie die jüdische Frömmigkeitspraxis ausblendet und den Praxisbezug der Wissenschaft des Judentums generell zurückstellt. Es kann also vermutet werden, dass Geiger aufgrund des kontextuellen Umfeldes von seinem früheren Konzept abweicht. Dieser Begründungszusammenhang verdeutlicht einmal mehr, dass Geiger sein Wissenschaftsverständnis in Anlehnung an äußere Rahmenbedingungen entwirft, die Vorlesungen also eindeutig als Auftragsarbeiten zu verstehen sind und der Kontext daher zwangsläufig als Deutungsfaktor zu berücksichtigen ist. Das erklärt auch den offenkundigen Widerspruch im Hinblick auf die Praxisdimension der Wissenschaft des Judentums. 280 Schon Baeck vermutete, dass die Differenz zwischen Wissenschaft des Judentums und jüdischer Theologie bei Geiger darin bestehe, dass sich Letztere „durch das praktische Endziel, jene Beziehung zum Leben unterscheidet“ (Baeck, Theologie und Geschichte, 48). 281 § 2 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 20.

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Denn Kapitel 1 und 2 des I. Hauptteils haben dargelegt, dass Geiger, losgelöst vom Einfluss der Berliner Hochschule, der Wissenschaft des Judentums durchaus eine praktische Funktionalität zuschreibt und sie als auf die Praxis bezogen definiert. Geiger verleiht der Wissenschaft des Judentums im Allgemeinen also einen direkten Bezug zur religiösen Praxis, schwächt diesen nur in den Vorlesungen aufgrund der Hochschulkonzeption ab. Ergo muss zwischen Lehrbuchäußerungen, wie sie in den beiden Kompendien vorliegen, und sonstigen Aussagen, die überdies keine strikte Differenzierung zwischen jüdischer Theologie und Wissenschaft des Judentums aufweisen, unterschieden werden.282 Programmatische Divergenzen resultieren demgemäß vornehmlich aus Anpassungen an veränderte externe Vorgaben und Bedingungen und entspringen nicht zwangsläufig einer neuen Gesinnung, wenngleich eine gewisse Entwicklung Geigers innerhalb von fast 30 Jahren natürlich nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann. So könnte Geiger beispielsweise auch erkannt haben, dass der praktische Zweig der jüdischen Theologie, wie er ihn in seinem ersten Kompendium präsentiert, nicht ausgereift genug ist und deshalb keine Aufnahme in sein zweites Wissenschaftskompendium finden kann. Bleibt man auf der Ebene der disziplinären Aufgliederungen, fällt weiterhin auf, dass die Wissenschaft des Judentums einen sprachwissenschaftlichen Zweig enthält, die jüdische Theologie hingegen nicht. Letztere impliziert aber auch sprachwissenschaftliche Themen, integriert sie jedoch in den historischen Zweig. Der Unterschied ist zwar weitgehend nur formaler Natur, wie auch ein Vergleich der sprachwissenschaftlichen Inhalte zeigt. Aber gleichwohl wird die hebräische Sprachwissenschaft in der Wissenschaft des Judentums durch ihren Status als eigenständige Disziplin stärker hervorgehoben. Es stellt sich die Frage, wieso Geiger der Sprachwissenschaft so viel Bedeutung beimisst und sie zum ausdrücklichen Bestandteil der Wissenschaft des Judentums macht. Die Sprachwissenschaft ist eine allgemein anerkannte und verbreitete Wissenschaft, die von sich aus keinerlei theologisches Gepräge aufweist respektive in Korrelation zur Religion steht. In den klassischen Fächerkanon der Theologie gehört sie daher nicht. Berücksichtigt man, dass die Berliner Hochschule ursprünglich eine von der Theologie emanzipierte Lehre und Forschung anstrebt und sich gegen eine Theologisierung wendet, verwundert es nicht, dass Geiger auf ein profanes Wissensgebiet rekurriert und dieses in die Wissenschaft des Judentums eingliedert. Die 282 Zudem muss berücksichtigt werden, dass Geiger sein Wissenschaftsprogramm nie so stringent und systematisch präsentiert, wie es in dieser Untersuchung gemacht wird. Daher müssen unterschiedliche Kontexte und Zeiten stets in Rechnung gestellt werden. Dadurch verlieren vermeintliche Brüche oder Abweichungen an Schärfe. Überdies muss beachtet werden, dass Geigers Wissenschaftsverständnis in den beiden Kompendien zwar besonders deutlich wird, sich darin jedoch nicht erschöpft.

Disziplinäre Aufgliederungen197 intendierte Offenheit und Universalität wissenschaftlicher Forschung und Lehre können auf diese Weise umgesetzt werden. Betrachtet man den sprachwissenschaftlichen Zweig näher, wird diese Allgemeinheit jedoch religiös eingefangen, indem das Hebräische, also eine religiöse Sprache, zum Forschungsgegenstand erklärt wird und dementsprechend die religiösen Schriften des Judentums als Untersuchungsgrundlage veranschlagt werden. Trotz der offenkundigen religiösen Färbung konstituiert der sprachwissenschaftliche Zweig gerade auch auf terminologischer Ebene eine gewisse Universalität, inhaltliche Weite und Offenheit. Da beide Wissenschaftskonzeptionen sprachwissenschaftliche Themen enthalten, einzig die formale Darstellung variiert, kann vermutet werden, dass dieser Unterschied nicht auf eine wirkliche konzeptionelle Veränderung hindeutet, sondern vielmehr Ausdruck kontextueller Vorgaben ist. Ein Vergleich zwischen den philosophischen Disziplinen kann nicht angestellt werden, weil Geiger den philosophisch-religiösen Zweig im Kompendium der Wissenschaft des Judentums nicht entfaltet. Da jedoch davon ausgegangen werden kann, dass äußere Umstände, also sein Tod, die Behandlung der philosophischen Disziplin verhindert haben, können daraus keine Rückschlüsse auf verschiedene Programmatiken gezogen werden. Auffällig ist jedoch, dass der philosophisch-religiöse Zweig der jüdischen Theologie deren Anfang bildet, der philosophische Zweig der Wissenschaft des Judentums dagegen deren Schluss. Die veränderte Reihenfolge hängt vermutlich mit der generell unterschiedlichen disziplinären Ausdifferenzierung zusammen, also mit der Struktur des Ganzen und den inneren Zusammenhängen und Verhältnisbestimmungen. Die Existenz des praktischen beziehungsweise des sprachwissenschaftlichen Zweigs und die damit einhergehende strukturelle Logik der disziplinären Auffächerung haben sicherlich zu dieser unterschiedlichen Anordnung geführt. Auch dieser eher formale Unterschied deutet demzufolge nicht auf eine tief greifende konzeptionelle Umänderung hin. Der historische Zweig fungiert als Herzstück der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums, bestimmt also beide Wissenschaftsbegriffe maßgeblich, was als bedeutende Gemeinsamkeit gewertet werden kann und zeigt, dass Geiger bei allen Variationen am Kern festhält. Die Binnengliederung dieses zentralen Zweiges divergiert allerdings, da Geiger die jüdische Geschichte unterschiedlich einteilt, indem er Datierung und Anzahl der Epochen und damit auch die historischen Unterdisziplinen variiert. Inhaltliche beziehungsweise konzeptionelle Konsequenzen erwachsen daraus jedoch nicht, sodass abermals der formale Charakter dieser Veränderung betont werden kann. Es ist auffällig, dass der Terminus „Theologie“ im historischen Zweig der Wissenschaft des Judentums keine Rolle spielt, wohingegen er die historische Disziplin der jüdischen Theologie selbstverständlich bestimmt. Dass der Begriff „Theologie“ im Rahmen der

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Wissenschaft des Judentums nicht mehr als Epochen- und Disziplinenbezeichnung fungiert, verwundert jedoch nicht, da Geiger aufgrund des Profils der Berliner Hochschule eine (offenkundige) Konzentration auf die jüdische Theologie vermeidet. Es stellt sich indes die Frage, ob dieser Unterschied eher formaler Art ist, ob die Disziplinen und damit auch die Perioden also nur andere Namen haben, die Inhalte jedoch die gleichen bleiben oder ob die terminologische Veränderung auch inhaltliche Modifikationen bedingt. Wenngleich die historischen Inhalte nicht grundlegend von einander abweichen und die Leitgedanken weitestgehend die gleichen sind, unterscheidet sich der Duktus doch ein wenig. So fällt auf, dass der historische Zweig der Wissenschaft des Judentums zwar ebenfalls die innere, das heißt religiöse Entwicklung des Judentums nachzuzeichnen sucht, aber zugleich wesentlich stärker als die Historische Theologie die äußere Geschichte, vornehmlich außen- und innenpolitische Ereignisse und Zusammenhänge, beleuchtet und entfaltet.283 Ausführungen zu den jeweiligen theologischen Konzeptionen werden im Kompendium der Wissenschaft des Judentums ausgespart, allgemein historische Zusammenhänge dagegen hervorgehoben.284 Die Bezeichnung „literar- und culturhistorisch[ ]“ (EWdJ 35) deutet ebenfalls daraufhin, dass die Religions- sowie Theologiegeschichte nicht im alleinigen Fokus steht, was einen Unterschied zum geschichtlichen Zweig der jüdischen Theologie markiert.285 Trotz der universaleren und allgemeineren Ausrichtung trägt der historische Bereich der Wissenschaft des Judentums aber eindeutig ein religiöses Gepräge, gründet sich auf religiöse Schriften und sucht die religiöse Entstehungsund Entwicklungsgeschichte des Judentums darzustellen. Die gerade benannten inhaltlichen Divergenzen gehen also nicht so weit, dass die Grundaussagen und -positionen von einander abweichen. Beide Disziplinen zielen demnach darauf ab, die Prozessualität des Judentums und seines religiösen Gedankengehaltes 283 Vergleicht man beide Vorlesungen miteinander, muss stets berücksichtigt werden, dass die Textvorlagen in formaler Hinsicht divergieren. Das Kompendium der jüdischen Theologie inkludiert Leitsätze, die Geiger im mündlichen Vortrag ausgeführt hat, wohingegen das Kompendium der Wissenschaft des Judentums, wie es in publizierter Form vorliegt, weitgehend dem tatsächlichen Vortrag Geigers entspricht. Das hat zur Folge, dass konstatierte Leerstellen in den Vorlesungen zur jüdischen Theologie möglicherweise im Vortrag von Geiger selbst noch gefüllt wurden. 284 Auffällig ist weiterhin, dass die Vorlesungen zur Wissenschaft des Judentums den Forschungsstand stärker berücksichtigen, insofern Geiger auch die Forschungsgeschichte skizziert und auf zentrale Forschungsarbeiten rekurriert. 285 In den Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie bezeichnet Geiger die „Geschichte und Literaturgeschichte“ als „nothwendige Hilfswissenschaften“ (ETh 25), in den Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums nennt Geiger den historischen Zweig dagegen auch „literar- und culturhistorisch[ ]“ (EWdJ 35), was die Akzentverschiebung zum Ausdruck bringt und zeigt, dass kultur- und literarhistorische Aspekte im Rahmen der Wissenschaft des Judentums verstärkt berücksichtigt werden sollen.

Disziplinäre Aufgliederungen199 sowie die Kulturproduktivität des Judentums innerhalb der universalen Geistesgeschichte zu veranschaulichen. Einmal mehr macht es den Eindruck, dass die Differenzen vornehmlich formaler Natur sind, sich in diesem Fall also primär auf terminologischer Ebene bewegen und trotz geringer inhaltlicher Akzentverschiebungen keine neue Konzeption bedingen. Abermals kann vermutet werden, dass äußere Bedingungen, also konkret die programmatische Ausrichtung der Berliner Hochschule der Wissenschaft des Judentums, die begriffliche Umgestaltung und die leichten inhaltlichen Veränderungen erfordern. Die angeführten Beispiele deuten allesamt daraufhin, dass die Unterschiede zwischen den Disziplinen der jüdischen Theologie und denen der Wissenschaft des Judentums vorwiegend der Anpassung an äußere Vorgaben geschuldet sind und nicht einer Gesinnungsänderung Geigers entspringen. Die Divergenzen sind größtenteils formaler Art und können fast alle auf das Profil der Berliner Hochschule, dem Geiger sich mit seinen Vorlesungen zur Wissenschaft des Judentums verpflichtet fühlt, zurückgeführt werden. Wenngleich es inhaltliche und vor allem begriffliche Differenzen gibt, bleibt die Grundkonzeption doch nahezu die gleiche. Ein abschließender Blick auf die von Geiger formulierten und hier bereits mehrfach angeführten Definitionen der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums mag diese Einschätzung bestätigen. Das Augenmerk soll auf die beiden Wendungen „die Erkenntniss der religiösen Wahrheiten“ (ETh 4) und die „volle Erkenntniss des religiösen Gedankengehaltes“ (EWdJ 35) gerichtet werden. Es fällt auf, dass Geiger die „religiösen Wahrheiten“ im Kompendium der Wissenschaft des Judentums durch den „religiösen Gedankengehalt[ ]“ ersetzt. Faktisch meinen beide Termini das Gleiche, die Konnotationen weichen dennoch leicht voneinander ab und schaffen eine andere Akzentuierung. Die Wendung „religiöse[ ] Wahrheiten“ konstituiert eine gewisse Normativität und Autorität und setzt gleichzeitig die persönliche Annahme des Theorems voraus, beansprucht also den Glauben für sich. Der Begriff „Wahrheit[ ]“ schließt demgemäß das Bekenntnis des Gläubigen respektive Wissenschaftlers ein. Die Äußerung „religiöse[r] Gedankengehalt[ ]“ eröffnet mehr Neutralität beziehungsweise Objektivität, schwächt die Verbindlichkeit ein wenig ab und nimmt die persönliche Bekenntnisverpflichtung etwas zurück, ohne dabei die Theologizität und Religiosität aufzuheben. Diese Begriffskorrektur könnte als Beleg für Geigers Einsicht in den historistischen Zugriff auf den Forschungsgegenstand gedeutet werden. Vor dem Hintergrund seiner generellen Terminologie und Konzeption zeigt sie jedoch exemplarisch, dass Geiger häufig die äußere Schale verändert, den inneren Kern jedoch beibehält. Formale Unterschiede deuten demnach nicht automatisch auf gravierende inhaltliche Divergenzen hin, zeigen vielmehr die Variation von Darstellungsformen auf, mit denen inhaltliche Akzentverschiebungen von geringem Ausmaß realisiert werden können und kontextuellen

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Erwartungshaltungen entsprochen werden kann. Der Eindruck, dass sich der Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie nicht erheblich von dem der Wissenschaft des Judentums unterscheidet, wird durch den beiden Wissenschaftsbegriffen gemeinsamen methodischen Ansatz bekräftigt. Die historisch-kritische Methodik bestimmt beide Wissenschaftsbegriffe maßgeblich und kann daher als ein starkes sich durchhaltendes Merkmal gedeutet werden. Die beiden Wissenschaftsbegriffen gemeine Zentralstellung des geschichtlichen Zweigs, die weitgehend identischen Untersuchungsgegenstände, die gemeinsame Bezugsgröße – das Judentum –, die Teil-Ganze-Relation und das dezidiert theologische Gepräge bestätigen die in Kapitel 1 des I. Hauptteils aufgestellte These, dass es sich primär um eine terminologische Unterscheidung, nicht jedoch um eine programmatische handelt. Es kann also festgehalten werden, dass Geiger zwar zwei Wissenschaftsbegriffe entwickelt, die auch Differenzen aufweisen, in ihren Leitmerkmalen trotz abweichender Terminologie jedoch übereinstimmen. Eine inhaltliche Neuorientierung kann demzufolge nicht festgestellt werden, da es keine wirklich neuen Momente im Kompendium der Wissenschaft des Judentums gibt. Die modifizierte zweite Darstellung kann auf die Lehrtätigkeit an der Berliner Hochschule zurückgeführt werden und wurzelt nicht in einem positionellen Wandel Geigers. Geiger verfasst das Kompendium der Wissenschaft des Judentums also, weil er an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums als Dozent tätig ist und Vorlesungen hält und nicht weil er sein in früheren Jahren entwickeltes Kompendium der jüdischen Theologie als überholt ansieht. Die Tatsache, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelt, bekräftigt die Auffassung, dass äußere Umstände den Inhalt prägen beziehungsweise ihn einfordern. Sowohl der Terminus „Wissenschaft des Judentums“ als auch die dahinter stehende Programmatik spiegeln ein universales, weitläufiges Wissenschaftsideal wider, welches eine Bandbreite an Themen suggeriert, inhaltliche Unbestimmtheit impliziert und sich gegen die Engführung auf die Theologie sperrt, die sie faktisch jedoch verkörpert. Denn die zunächst assoziierte kulturwissenschaftliche Ausprägung der Wissenschaft des Judentums wird schließlich immer wieder religiös aufgeladen, sodass sich wirklich profane Wissenssphären, wie beispielsweise die jüdische Musik und Malerei, im Kompendium der Wissenschaft des Judentums nicht wiederfinden. De facto versteht und konzipiert Geiger die Wissenschaft des Judentums also als jüdische Theologie, wenngleich er dies nicht explizit macht. Eingedenk, dass Geiger sich zeit seines Lebens als Theologe versteht, kann abschließend konstatiert werden, dass sich hinter den zwei Begriffen „jüdische Theologie“ und „Wissenschaft des Judentums“ nicht zwei völlig unterschiedliche Wissenschaftskonzepte verbergen, was den vereinfachenden synonymen Gebrauch der Termini in dieser Studie begründen und Geigers eigene Verwendung des unspezifischen Ausdrucks „Wissenschaft“ erklären mag.

Disziplinäre Aufgliederungen201 Dennoch müssen beide Kompendien in ihrer Eigenständigkeit gesehen, gewürdigt und als zentrale, wenn auch nicht alleinige Quellen des Geigerschen Wissenschaftsbegriffs beachtet werden. Sie haben beide ihre Berechtigung, heben sich demnach gegenseitig nicht auf und spiegeln Geigers Wissenschaftsprogrammatik explizit wider. Geigers Programm der Wissenschaft des Judentums erschöpft sich jedoch nicht in seinem Entwurf einer Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums, das heißt in seinem Wissenschaftsbegriff, sondern enthält auch dessen Realisierung. Mehrfach klang bereits an, dass Konzeptionalisierung und Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums ineinander greifen, also aufeinander rekurrieren und einander bedürfen. Daher gilt es im II. Hauptteil Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums zu beleuchten.

II. Hauptteil: Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums Im I. Hauptteil ist mehrfach deutlich geworden, dass die Wissenschaft des Judentums auf Verbreitung und Aneignung zielt, das heißt, dass jüdisches Wissen sowohl Eingang in die alltägliche Frömmigkeitspraxis als auch in den intellektuellen Diskurs finden soll. Die informierende und lehrende Aufgabe, welche die Wissenschaft des Judentums offenkundig hat, kann einzig in institutionalisierter Form realisiert werden. Die Institutionalisierung konstituiert kontinuierlich Öffentlichkeit und ermöglicht so gesellschaftliche Sichtbarkeit des Wissens. Das bedeutet, dass die von der Wissenschaft des Judentums initiierten Bildungsprozesse, welche die Vermittlung und Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse durchführen, institutionell organisiert sein müssen. Der Drang zum Erwerb und zur Weitergabe wissenschaftlicher Erkenntnisse begründet somit das Erfordernis der institutionellen Ausformung der Wissenschaft des Judentums. Besonders offensichtlich wird die Notwendigkeit zur Institutionalisierung im Hinblick auf die Ausbildungsrolle der Wissenschaft des Judentums. Denn soll die Wissenschaft des Judentums in Sinne von Bildung wirkmächtig werden, soll sie qualifizierte Kräfte hervorbringen und die Weiterentwicklung und Fortexistenz des Judentums insgesamt sichern, bedarf es akademischer Einrichtungen, die sich ebendieser Aufgabe widmen. Die Verzahnung und das Zusammenspiel von Konzeptionalisierung und Institutionalisierung werden dadurch ersichtlich, dass alle skizzierten funktionalen Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums, also zusammengefasst ihre führende Rolle im Reformprozess, einzig durch eine Institutionalisierung realisiert werden können. Geigers Wissenschaftsverständnis besteht demzufolge aus einer konzeptionellen und einer institutionellen Seite, die nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern ineinander greifen und gemeinsam die Wissenschaft des Judentums ausmachen. Die Funktionalität der Wissenschaft des Judentums entfaltet sich demgemäß erst in der institutionellen Ausformung der Wissenschaft des Judentums. Sie muss dafür ihr bisheriges Schattendasein in Gelehrtenzimmern aufgeben, die unproduktive Isolation aufbrechen und in die Öffentlichkeit, konkreter in die akademische Welt, hinaustreten, wenn sie ihre Wirkmächtigkeit in Gänze ausspielen und allgemeine Anerkennung und Akzeptanz erfahren will. Die öffentliche, akademische Etablierung sowie Positionierung und damit Zukunftsfähigkeit der Wissenschaft des Judentums hängen demzufolge auch an ihrer Institutionalisierung. Es stellt sich die Frage, in welchen Formen sich die Wissenschaft des Judentums institutiona-

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lisieren kann, welche Vermittlungsorgane sich auftun, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Öffentlichkeit einzuspeisen, um also die Verbreitungs- und Aneignungsdimension der Wissenschaft des Judentums zu verwirklichen. Zwei generelle Formen der Institutionalisierung bieten sich an und sind auch in Geigers Umfeld verbreitet: wissenschaftliche Einrichtungen und wissenschaftliche Periodika. Beide Institutionen konstituieren Öffentlichkeit und dienen der Streuung und des Erwerbs von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Geiger greift auf beide Formen zurück und entwirft ein differenziertes Konzept, welches die zwei Varianten der institutionellen Ausformung impliziert. Im Folgenden gilt es, in Kapitel 1 die wissenschaftlichen Einrichtungen und in Kapitel 2 die wissenschaftlichen Periodika zu betrachten und jeweils die von Geiger entwickelten Ideen und die konkrete Umsetzung beziehungsweise unternommenen Umsetzungsversuche zu beleuchten.

1. Wissenschaftliche Einrichtungen Das Thema der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums – vornehmlich in Form von wissenschaftlichen Einrichtungen – durchzieht Geigers gesamtes Leben wie kaum ein anderes. Bereits während seines Studiums formuliert er ausgelöst durch eigene Studiumserfahrungen den Wunsch: „Wenn doch einst ein jüdisches Seminar an einer Universität errichtet würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch Thalmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würden; es wäre die fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“1 Dieses Anliegen verfolgt Geiger zeit seines Lebens in engagierter Weise, wie sein Ausruf über 30 Jahre später zeigt: „Also zwei Dinge thun Noth: erstens eine jüdisch-theologische Facultät […]. Das Zweite besteht in größeren Versammlungen zur Besprechung jüdischer Fragen“ (WtN 254 f.).2 In aller Ausführlichkeit setzt sich Geiger mit der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in seinem 1836 veröffentlichten Zeitschriftenaufsatz Die Gründung einer jüdischtheologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit und in seiner 1838 publizierten Schrift Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät auseinander, die als zentrale Zeugnisse seines Institutionalisierungsverständnisses angesehen werden können und daher besondere Beachtung verdienen.3 1 2 3

Tagebucheintrag Geigers vom 22. August 1830, in: S 5, 27. In dem Aufsatz Was thut Noth? (1864/65) setzt sich Geiger noch einmal mit dem Thema der Fakultätsgründung auseinander und stellt sie als unausweichliches Erfordernis dar. In beiden Abhandlungen sucht Geiger die Notwendigkeit der Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät plausibel zu machen und bedient sich dafür weitestgehend der gleichen Argumente. Der zweite Aufsatz unterscheidet sich inhaltlich also kaum vom ersten, bleibt

Wissenschaftliche Einrichtungen205 Während seiner gesamten Wirksamkeit äußert er sich immer wieder zur Problematik, meist jedoch in knappen situativen Aussagen und nicht mehr in der hier vertretenen programmatischen Dichte. Da Geigers Stellungnahmen zu dieser Thematik stets aus der Situation der nicht-vorhandenen Institutionalisierung heraus formuliert werden, seine Äußerungen daher allesamt von der Notwendigkeit der Institutionalisierung überzeugen wollen, haben sie einen ausgesprochen legitimatorischen Duktus. Das leuchtet vor dem Hintergrund, dass sich die ungleiche Behandlung des Judentums besonders in der intellektuellen Sphäre zeigt, unmittelbar ein. Denn die fehlende Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums an deutschen Universitäten, die das 19. Jahrhundert überdauert, kann als eine der schwerwiegendsten staatlich sanktionierten Benachteiligungen des Judentums gedeutet werden. Geiger ist einer der ersten, der darauf reagiert, indem er einen umfassenden Institutionalisierungsplan und ein differenziertes Plädoyer für die Errichtung einer Einrichtung der Wissenschaft des Judentums vorlegt. Alle prominenten Versuche, die Wissenschaft des Judentums zu institutionalisieren, erfolgen erst nach Geigers Fakultätsschrift, also nach 1836, wodurch sein Vorstoß einer Pionierleistung gleicht.4 Einzig Johann Georg Diefenbach (1757–1831) beleuchtet die Thematik schon vor Geiger und publiziert bereits 1821 die Schrift Jüdischer Professor der Theologie auf christlicher Universi-

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hinsichtlich seiner Argumentationsschärfe, Originalität und Überzeugungskraft jedoch hinter diesem zurück. Daher wird für die Erforschung von Geigers Institutionalisierungsverständnis vorrangig der Zeitschriftenartikel von 1836 herangezogen. Beispielsweise Philippson formuliert 1837 eine Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen, die in vielen Aspekten Geigers Argumentation gleicht und nur wenige eigene Akzente setzt. Zunächst kann Philippson, wie die Subskriptionslisten zeigen, überzeugen, letztlich bleibt aber auch sein Plan unerfüllt (vgl. Philippson, Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen). Samuel Holdheim (1806–1860), der als Rabbiner wirkt, Predigten und wissenschaftliche Abhandlungen veröffentlicht und die führende Persönlichkeit des radikalen Reformjudentums ist, hält im Kontext von Philippsons Subskriptionsaufruf eine Predigt, in der er seine Gemeinde von der Notwendigkeit der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums zu überzeugen sucht (vgl. Holdheim, Es ist Pflicht jedes Israeliten für die Erhaltung der Religion seiner Väter zu sorgen). Zunz engagiert sich für die Errichtung einer „ordentliche[n] Professur für jüdische Geschichte und Literatur“ an der philosophischen Fakultät der Universität Berlin und stellt 1848 einen entsprechenden Antrag beim preußischen Ministerium für Erziehung und religiöse Angelegenheiten, der jedoch abgelehnt wird (Zunz’ Brief an Minister Ladenberg vom 25. Juli 1848, in: L. Geiger, Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, 335). Vgl. zur weiteren Diskussion um die Errichtung von Lehrstühlen der Wissenschaft des Judentums oder von jüdisch-theologischen Fakultäten an deutschen Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert und vornehmlich zur Entwicklung nach Geiger: Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, bes. 335–355.

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tät.5 Diefenbach ist jedoch evangelischer Pfarrer, woraus folgt, dass es Geigers Schrift ist, die auf jüdischer Seite wegbereitenden Charakter hat, sodass Geiger als ideeller Vorkämpfer der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums bezeichnet werden kann.6 Zunächst soll Geigers Ansatz der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Form von wissenschaftlichen Einrichtungen, das heißt von einer „jüdisch-theologischen Facultät“ (FacI) und einer „höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ (TL 166), skizziert werden. Dabei gilt es zu klären, warum Geiger für die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Gestalt von wissenschaftlichen Einrichtungen plädiert, welche Aufgaben er ihnen also zuschreibt und welche konkrete Form der Institutionalisierung er favorisiert. Sodann soll die konkrete Umsetzung beziehungsweise deren Versuche betrachtet werden und untersucht werden, inwieweit Geiger seine Vorstellungen zu realisieren sucht. Dabei werden zum einen die „jüdisch-theologische Facultät“ und zum anderen die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums beleuchtet. Abweichend vom sonstigen Begriffsgebrauch wird zwischen „jüdischer Theologie“ und „Wissenschaft des Judentums“ differenziert. Im Kontext der „jüdisch-theologischen Facultät“ wird in Anlehnung an Geiger konsequent die Bezeichnung „jüdische Theologie“ verwendet und im Rahmen der „höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums die Wendung „Wissenschaft des Judentums“. Das geschieht zugunsten einer besseren Lesbarkeit und hebt nicht die terminologischen Reflexionen des I. Hauptteils auf. Die jüdische Theologie und die Wissenschaft des Judentums werden bei Geiger trotz geringer konzeptioneller Akzentverschiebungen weiterhin als Synonyme aufgefasst.

5 6

Diefenbach, Jüdischer Professor der Theologie auf christlicher Universität. Vgl. dazu Bechtoldts knappe Zusammenfassung und Würdigung: Bechtoldt, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, 27–30. Der 1819 unter anderem von Zunz und Gans gegründete Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden in Berlin kann sicherlich als der erste Versuch der Institutionalisierung und damit auch der Herstellung von Öffentlichkeit der Wissenschaft des Judentums gedeutet werden. Erstmalig schlossen sich jüdische Intellektuelle zusammen, um gemeinsam ihre Interessen zu vertreten und der im Entstehen begriffenen Wissenschaft des Judentums ein öffentliches Forum zu bieten. Bei aller Wertschätzung, die dem Verein trotz seines nur kurzen Bestehens gebührt, kann konstatiert werden, dass er nicht den Rang einer jüdisch-theologischen Fakultät oder einer Hochschule hatte, wodurch die Auffassung untermauert wird, dass Geiger als Vorkämpfer bezeichnet werden kann (vgl. zum Kulturverein exemplarisch: Schorsch, Breakthrough into the Past und Kapitel 1.2 des III. Hauptteils: Das Wissenschaftsverständnis des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden).

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1.1 Idee 1.1.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“ Die prägnanteste Zusammenfassung von Geigers Institutionalisierungsverständnis bietet folgende Formulierung aus der Fakultätsschrift von 1836: „Das einzige Mittel also, wodurch der jüdischen Theologie eine ihr besonders gewidmete, gedeihliche Pflege zu Theil werden kann, so daß sie wahrhaft ihre Geltung als Wissenschaft zu behaupten vermöge, wodurch diese Wissenschaft ihren heilsamen Einfluß dem Leben angedeihen lassen wird, und wodurch wir gediegne, hinlänglich ausgerüstete Theologen erhalten werden, […] wäre die Errichtung einer, ganz der jüdischen Theologie und der Lehre derselben geweiheten, Anstalt, die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät an irgend einer Universität“ (FacI 16). Im Folgenden gilt es, diese summarische Aussage näher zu betrachten und zunächst die Aufgaben, die Geiger einer wissenschaftlichen Institution zuschreibt, zu beleuchten, dadurch den Legitimationsrahmen einer Institutionalisierung abzustecken und schließlich die konkrete Form der wissenschaftlichen Einrichtung zu erhellen.7 Damit die in Kapitel 2 des I. Hauptteils dargelegten Aufgaben der jüdischen Theologie realisiert werden können, damit die jüdische Theologie also wirkmächtig und gleichzeitig zukunftsfähig ist, damit der fruchtbare Nexus zwischen jüdischer Theologie und religiösem Leben produktiv ausgeprägt werden kann und das Judentum insgesamt zukunftsfähig ist, muss sie stetig gefördert, kultiviert und weiterentwickelt werden, braucht sie folglich eine kontinuierliche und intensive Behandlung, in Geigers Worten ausgedrückt „eine ihr besonders gewidmete, gedeihliche Pflege“ (FacI 16). Diese kann nach Geigers Auffassung einzig in einer wissenschaftlichen Einrichtung vollzogen werden, wodurch sich die Hauptaufgabe und gleichzeitig Hauptlegitimierung einer wissenschaftlichen Institution herauskristallisiert: die Förderung der jüdischen Theologie. Nur eine adäquate Wirkungsstätte bietet die entsprechenden Arbeits- und Forschungsbedingungen. Gegen das abgeschiedene Forschen eines Einzelnen sprechen nach Geigers Ansicht demzufolge vor allem die fehlenden wissenschaftlichen Hilfsmittel und der Mangel an passendem Untersuchungsmaterial. Folgende Formulierung zeigt exemplarisch die virulenten Folgen der staatlich legitimierten fehlenden Institutionalisierung auf: „Kurz, wir entbehren alles Apparates, und betteln blos 7

Geigers Institutionalisierungsverständnis wird in der Literatur, wenn überhaupt, äußerst knapp und im Zusammenhang mit anderen Themen diskutiert. Einzig Surall bietet eine ausführlichere Darstellung und beleuchtet Geigers Plan einer Fakultätsgründung (vgl. Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät).

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ängstlich hie und da an den Pforten christlicher Gelehrten; wir nehmen hie und da ein abgerissenes Theilchen auf, verarbeiten es aber nicht zu einem Ganzen“ (FacI 10). Geigers Äußerung veranschaulicht, dass die jüdische Theologie in ihrer derzeitigen Form, das heißt im nicht-institutionalisierten Zustand, als äußerst defizitär empfunden wird, da sie wenig adäquates, also den gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards gerecht werdendes Material offeriert, dem jüdischen Theologen dadurch keine optimalen Forschungsbedingungen bietet und ihre eigene produktive Selbstständigkeit verhindert. Es zeigt sich, dass jüdische Theologen nicht beziehungsweise nur vereinzelt auf gelungene jüdische Vorarbeiten zurückgreifen können, die sie kreativ weiterentwickeln und vertiefen können, stattdessen als Bittsteller bei christlichen Theologen nach wissenschaftlichen Schriften fragen müssen, die jedoch nicht alle zentralen Gebiete der jüdischen Theologie abdecken und überdies eine christliche Färbung aufweisen. Jüdische Theologen bringen demzufolge oft nur Stückwerk hervor und fangen angesichts ihrer institutionell bedingten und staatlich sanktionierten Verwaisung überdies häufig nahezu bei null an.8 Die nicht-institutionalisierte Theologie ermangelt offenkundig der Ganzheitsperspektive, welche für die moderne Wissenschaft, wie in Kapitel 1 des I. Hauptteils dargelegt, konstitutiv ist. Die fehlende Institutionalisierung der jüdischen Theologie hemmt folglich deren erfolgreiche Ausprägung und steht daher auch einer effektiven Wirksamkeit im Weg. Erst durch die Institutionalisierung der jüdischen Theologie verbessern sich die Forschungsbedingungen, indem die nötigen Mittel und Materialien hervorgebracht, dargeboten und für alle zugänglich gemacht werden und ein öffentliches Forum zum Austausch geschaffen wird. Dadurch lässt sich die Qualität der Forschung steigern, was als gewichtiges Argument für die Gründung von wissenschaftlichen Instituten veranschlagt werden kann. Eine wissenschaftliche Einrichtung fungiert demgemäß als Koordinierungs- und Austauschzentrale, als Materialienund Informationsstützpunkt und als erfrischende Ideen- und Inspirationsquelle der jüdischen Theologie. Es zeigt sich deutlich, dass die jüdische Theologie für ihre erfolgreiche Profilierung nach bestimmten äußeren Bedingungen verlangt. 8

Geiger schwächt diese Feststellung wieder ab, indem er auf die durchaus existente wissenschaftliche Tradition im Judentum verweist und die Ursprünge der jüdischen Wissenschaft ins 11. und 12. Jahrhundert datiert. In Kapitel 1 des I. Hauptteils wurde dieser Widerspruch dadurch zu erklären gesucht, dass die Wissenschaft des Judentums zwar eine junge Disziplin ist, aber dennoch an wissenschaftliche Traditionen anknüpft, welche jedoch nicht modernen wissenschaftlichen Prinzipien entsprechen. Überdies wurde herausgestellt, dass die wissenschaftlichen Traditionen vereinzelt sind und nicht alle Gebiete der Wissenschaft des Judentums abdecken. Es gibt demzufolge durchaus eine jüdische Wissenschaftsgeschichte und damit verbunden auch wissenschaftliche Arbeiten, die gegenwärtige Verfassung bietet dagegen wenig und ist daher äußerst verbesserungswürdig.

Wissenschaftliche Einrichtungen209 So braucht es außerdem engagierte Persönlichkeiten, die sich der „Pflege“ (FacI 16) widmen und sich mit vollem Einsatz und ungeteilter Aufmerksamkeit der jüdischen Theologie zuwenden. Geiger drückt diese beiden miteinander verknüpften Notwendigkeiten im botanisch gefärbten Duktus aus: „Aber die Wissenschaft verlangt auch sorgsame Pflege; sie ist nicht ein Unkraut, das von selbst hervorschießt, sie will gehegt und bewacht werden, sollen wir ihren Ertrag gewinnen. Zur Pflege bedarf es der Männer, die ihr mit rastlosem Eifer ihre Kraft, ihre Thätigkeit widmen. Sie mag nicht stiefmütterlich behandelt werden; eifersüchtig entzieht sie ihre Sprößlinge dem gelegentlichen Wanderer, sie will einen lediglich mit ihr beschäftigten Gärtner“ (FacI 5). Geiger verschränkt hier ausgehend von der Notwendigkeit der Förderung der jüdischen Theologie die Unverzichtbarkeit der Institutionalisierung der jüdischen Theologie mit dem Erfordernis der Professionalisierung, indem er auch die hauptamtliche Beschäftigung mit der jüdischen Theologie als zentrales Desiderat präsentiert und dadurch das Berufsbild eines Vollzeit-Theologen entwirft.9 Die Professionalisierung der jüdischen Theologie kann damit als weitere Begründung für deren Institutionalisierung benannt werden. Die metaphorische Kontrastierung von „Wanderer“ und „Gärtner“ verdeutlicht, dass die Kultivierung der jüdischen Theologie ausschließlich durch einen hauptamtlichen Theologen vollzogen werden kann, der seine gesamte Zeit und Kraft in die „Pflege“ der jüdischen Theologie investiert und die Vermittlung und Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse vorbereitet. Solch ein „Gärtner“ kann die jüdische Theologie nur angemessen und erfolgreich fördern und schließlich die gewonnenen Erkenntnisse verbreiten, das heißt Bildungsprozesse initiieren und organisieren, wenn er über eine adäquate Ausbildung verfügt, was durch den Gedanken der Professionalisierung bereits angedeutet und in Kapitel 2.3 des I. Hauptteils ausgeführt wurde. Die Jeschiboth sind nach Geigers Dafürhalten wie bereits dargelegt mangelhaft, da sie ein antiquiertes Verständnis eines Wissenschaftlers beziehungsweise der Wissenschaft zugrunde legen und dementsprechend keine den modernen Bedürfnissen angepasste Ausbildung bieten.10 Die existierenden jüdischen Institutionen disqualifizieren sich demnach als Ausbildungseinrichtungen. Darüber hinaus werden sie 9

10

Geiger betont mehrfach, dass die jüdische Theologie hauptamtlicher Kräfte bedarf, indem er herausstellt, dass der „praktische Beruf einen hemmenden Einfluß“ auf die Ausübung der Wissenschaft habe und das „irdische Interesse“ einer konzentrierten Beschäftigung im Wege stehe (FacI 9). Brämer führt erklärend an: „Die Jeschivot genannten talmudischen Akademien […] verstanden sich daher eher als Ort religiöser Allgemeinbildung und standen im Dienste jüdischer Sozialisation. Zwar vergab die Jeschiva auch ‚akademische‘ Titel, die als Voraussetzungen galten, um rabbinische Funktionen auszuüben, jedoch wurden diese eher als ein Nebenprodukt denn als eigentliches Ziel des Studiums angesehen“ (Brämer, Die Anfangsjahre des Jüdisch-Theologischen Seminars, 99).

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immer häufiger geschlossen. Und auch an deutschen Hochschulen wird jüdischen Theologen keine sachgerechte Unterweisung zuteil, sodass Geiger treffend konstatiert: „Er allein steht verwaist da, ohne andern Führer, als die eigene schwache Kraft, ohne Vorarbeit, ohne daß er zur genauen Erkenntniß seines Berufes, zur Erfassung seiner einzelnen Fächer, zur Würdigung der verschiedenen Theile und zu deren Gesammtüberblicke hingeleitet werde […]“ (FacI 14). Diese Äußerung gibt zu erkennen, dass ein jüdischer Theologe an deutschen Universitäten ausschließlich allgemeinbildende Inhalte vermittelt bekommt, wohingegen ihm jüdische Bildungsinhalte nicht dargeboten werden. Geiger entkräftet ein Argument, welches von Gegnern der Institutionalisierung der jüdischen Theologie häufig vorgebracht wird, wenn er betont, dass die christliche Theologie zwar einige Forschungsgebiete des Judentums thematisiere, dies aber aus einer dezidiert christlichen Perspektive tue, welche der jüdischen Binnenlogik nicht gerecht werde, explizit christliche Akzentsetzungen vornehme und christlichen Ansprüchen genüge leiste. Wenngleich Geiger bibelkritische Untersuchungen christlicher Gelehrten zu würdigen weiß und jüdischen Theologen deren Lektüre empfiehlt, bedarf es nach seinem Dafürhalten spezifisch jüdischer Studien, welche sowohl den Kenntnisstand jüdischer Theologen als auch die an diese gestellten Anforderungen und Erwartungen zu berücksichtigen wissen (vgl. FacII 12–15). Darüber hinaus verweist Geiger darauf, dass es Bereiche gibt, die von der christlichen Theologie gänzlich ausgespart werden und nennt exemplarisch die „Geschichte des Judenthums und seiner Institutionen“ (FacII 15), die „Mischnah und Gemara“ (FacII 15), die „Homiletik“ und die „Katechetik“ (FacII 17).11 Eine Ausbildung bei christlichen Theologen ist folglich indiskutabel, da jüdische Theologen so keinesfalls zu „Verkünder[n] des Judenthums“ (FacII 14)12 werden können. Eine sachkundige Anleitung und Vorbereitung für die Ausübung seines Amtes beziehungsweise für die Kultivierung der jüdischen Theologie erfährt der jüdische Theologe demnach weder in deutschen Universitäten, und dort weder in den christlichen Theologien noch in den säkularen Fächern, noch in jüdischen Jeschiboth. Demgemäß ist er auf sich alleine gestellt, was konkret bedeutet, dass er Autodidakt ist, sich die jüdischen Wissenssphären selbstständig erschließen 11

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Geiger schreibt dazu: „Hier [im religiösen Jugendunterricht] wie in der Predigt giebt es für uns einen andern Mittelpunkt als die Verehrung Jesus’! Mag die Methode der Katechetik und Anderes nicht verschieden sein von dem Verfahren, welches christliche Schulen anzuwenden haben, immer muß doch die Art, wie die Jugend unter uns zum Glauben ihrer Väter angeleitet und in demselben befestigt werde, eine ganz andere sein“ (FacII 17). Geiger konstatiert weiterhin: „[…] so muß ihm ja die Religion, welche er lehren will, immer in einer sehr untergeordneten Stellung erscheinen: an Kenntniß reich, aber arm an Begeisterung, in den einleitenden Wissenschaften wohl bewandert, aber den Punkt, in welchem sie alle sich einen sollen, nicht erreichend […]“ (FacII 14).

Wissenschaftliche Einrichtungen211 respektive auf Kenntnisse aus Kinder- und Jugendtagen zurückgreifen muss. Geiger selbst hat diese Erfahrung gemacht, sodass seine Äußerung keine Hypothese, sondern eine biographisch gestützte Erkenntnis ist. Solange die jüdische Theologie jedoch nicht institutionalisiert ist, kann der theologische Nachwuchs also nicht ausgebildet werden und der Mangel an professionellem Führungspersonal stablisiert sich, was gravierende Konsequenzen für das religiöse Leben des Judentums und für die jüdische Theologie hat und somit die Zukunft des Judentums gefährdet. Die Errichtung einer Fakultät erfüllt demnach sowohl das virulente theoretische Bedürfnis der „Pflege“ der jüdischen Theologie als auch das praktische Bedürfnis der Professionalisierung und Ausbildung von Theologen, vereint somit fachwissenschaftliche und berufliche Bildung in sich. Daher kämpft Geiger auch zeit seines Lebens für die Gründung einer Institution, die sich der jüdischen Theologie widmet und beschreibt die Notwendigkeit als unstrittiges und unausweichliches Erfordernis, ja als „dringendes Bedürfnis unserer Zeit“ (FacI).13 Geigers Vorstellungen zur Institutionalisierung der jüdischen Theologie gewinnen an Konkretion, wenn er die „Errichtung einer, ganz der jüdischen Theologie und der Lehre derselben geweiheten, Anstalt, die Gründung einer jüdischtheologischen Facultät an irgend einer Universität“ (FacI 16) fordert. Diese Aussage zeigt, dass die jüdische Theologie in Form einer Fakultät institutionalisiert werden soll, demzufolge Teil der universitas litterarum werden soll. Letzteres bekräftigt auch folgende Äußerung: „Eine Facultät, als Zweig einer Universität, nach deutschem Sinne strebend und wirkend, muß unser Ziel seyn“ (FacI 18).14 Eine jüdisch-theologische Fakultät soll demzufolge an einer deutschen Universität gegründet werden, also in die universitären Strukturen eingegliedert werden. Sie ist damit Teil eines größeren Organisationszusammenhangs, dessen Selbstverständnis und Reglement sie sich verpflichtet weiß, und keine völlig selbstständige oder negativ gewendet isolierte Größe. Als „Zweig“ der Universität fügt sich die Fakultät in den Gesamtzusammenhang ein und unterstützt auch den inne13

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Dass die Fakultätsgründung ein allgemeines Bedürfnis ist, zeigt folgende Aussage Geigers: „Der Gegenstand ist schon vielfach besprochen, und die Nothwendigkeit dieser Anstalten zur Genüge anerkannt […]“ (ARVII 341). Und auch Philippsons Engagement in Form des Subskriptionsaufrufs belegt, dass die Fakultätsgründung als Desiderat aufgefasst wird (vgl. Philippson, Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen). Die positive Reaktion auf Philippsons Subskriptionsaufruf in Form von Subskriptionen und anerkennenden Äußerungen zeigt, dass die Fakultätsgründung als ein generelles Bedürfnis wahrgenommen wird (vgl. dazu exemplarisch: Philippson, Die jüdisch-theologische Facultät und das jüdische Seminar für Deutschland (Schluß), 10f). Vgl. auch: Holdheim, Es ist Pflicht jedes Israeliten für die Erhaltung der Religion seiner Väter zu sorgen. Vgl. auch: N 309.

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wohnenden Zweck des Ganzen. Geigers Plädoyer für die Etablierung der jüdischen Theologie an deutschen Universitäten, welches er bereits in Studientagen formuliert, kann als dezidierte Absage an jüdisch-theologische Seminare gewertet werden.15 Die jüdische Theologie soll ihre institutionelle Verortung in staatlichen und damit öffentlichen Einrichtungen und nicht in jüdischen, das heißt separaten Anstalten finden. Geiger spricht sich demnach ausdrücklich gegen eigenständige, abgesonderte wissenschaftliche Institutionen des Judentums aus und engagiert sich stattdessen für die Integration der jüdischen Theologie in den universitären Fächer- beziehungsweise Fakultätenverbund und damit für interdisziplinäre Interaktion sowie Kooperation. Folgende Äußerung Geigers begründet die Eingliederung der jüdischen Theologie in deutsche Universitäten: „Denn gerade diese schöne Blüthe des geistigen deutschen Lebens, die Universitäten, wo die universelle wissenschaftliche Bildung ihren Sitz hat, wo alle Pulsadern der gesammten geistigen Thätigkeit schlagen, […] wo nicht, was gerade in der Theologie so leicht sich ereignet, die klösterliche Dumpfheit sich einnistet, – nur sie sind geeignet, der jungen, aber nothwendig um so kräftiger aufstrebenden, Wissenschaft Gedeihen zu verschaffen“ (Fac I 18).16 Geigers Wertschätzung der Universität, die sich vermutlich unter anderem auf seine eigenen positiven Erfahrungen an deutschen Universitäten gründet, verdeutlicht, dass sich sein Wissenschafts- beziehungsweise Bildungsideal durch Universalität, Ganzheitlichkeit und interdisziplinäre Offenheit auszeichnet und folglich nicht mit einer institutionellen fachspezifischen Beschränkung kompatibel ist. Durch die Eingliederung in den universitären Fächerkanon kann die jüdische Theologie ihrem Wesen entsprechend sowohl als Produzent als auch als Konsument geistiger Prozesse fungieren und von virulenten Synergieeffekten profitieren. Die jüdische Theologie kann Impulse und Erkenntnisse anderer Wissenschaften aufnehmen und gleichzeitig andere Disziplinen befruchten, demnach produktiv an wissenschaftlichen Diskursen partizipieren. Sie muss am Puls der Zeit sein, muss demnach derzeitige wissenschaftliche Diskussionen und Probleme kennen und darf sich daher nicht vom akademischen Diskurs isolieren. Solch ein wechselseitiger Aus15

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Vgl. Geigers knappe Übersicht über verschiedene Formen der Institutionalisierung: Geiger, Jüdisch-theologische Lehranstalten. Vgl. exemplarisch zum 1854 gegründeten jüdisch-theologischen Seminar (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau: Brann, Geschichte des jüdischtheologischen Seminars (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau. Vgl. zum 1873 gegründeten orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin: Eliav, Das orthodoxe Rabbinerseminar in Berlin und weiterhin zu den Seminaren in Padua und Budapest: Vielmetti, Das Collegio Rabbinico von Padaua; Schweitzer, Das Budapester Rabbinerseminar. In seiner zweiten Fakultätsschrift betont Geiger erneut den generellen Stellenwert von Universitäten, indem er schreibt: „Die hohe Stufe, welche die deutsche Wissenschaft und die deutsche Bildung einnimmt, hat sie den Lehranstalten und vorzüglich den höchsten, den Universitäten zu verdanken“ (FacII 3).

Wissenschaftliche Einrichtungen213 tausch lässt sich einzig im institutionellen Rahmen einer Universität realisieren, da sie Mittelpunkt aller organisierten geistigen Vertiefung, jeglicher Gelehrtheit und wissenschaftlichen Kreativität ist und eine enorme Wirkungskraft darbietet. In den Universitäten konzentriert sich das geistige Potential, verdichtet und potenziert sich also die intellektuelle Schaffenskraft. Eine Institutionalisierung der jüdischen Theologie außerhalb von Universitäten würde das Leistungsvermögen dagegen einschränken und das vorhandene Potential verkümmern lassen. Einzig die thematische Weitläufigkeit und Idee der Ganzheitlichkeit in Gestalt eines breiten Fächerkanons und einer wechselseitigen Interdisziplinarität können die Funktionalität der jüdischen Theologie garantieren, wie auch folgende Äußerung widerspiegelt: „Denn sobald sie eintritt, die Theologie, in die Reihe der Wissenschaften, da hat sie einen Bund geschlossen mit ihren Schwestern, unauflöslich, unzertrennlich; Hand in Hand gehn sie vereint dahin, einen eignen Kreis bildend, freundlich einander unterstützend, aber auch den gerechten Anspruch machend, daß die gegenseitige Freundschaft gesucht werde“ (FacI 6). Neben der funktionalen Effizienz sprechen auch die öffentliche Wahrnehmung sowie Positionierung für die Errichtung einer Fakultät. So evoziert die Etablierung einer Fakultät der jüdischen Theologie Öffentlichkeit und zieht idealiter eine breite Akzeptanz der akademischen Welt und des Makrokosmos nach sich. Die jüdische Theologie erweist sich folglich erst durch ihre Integration in den universitären Fächerkanon als eine gleichberechtigte, das heißt vollends anerkannte Disziplin. Ihre Eingliederung in deutsche Universitäten unterstützt demnach die Gleichberechtigung des Judentums insgesamt und ist daher ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur vollen Emanzipation des Judentums. Die Bezeichnung der zu gründenden wissenschaftlichen Einrichtung als „Facultät“ deutet bereits daraufhin, dass in der Institution alle Disziplinen der jüdischen Theologie in Forschung und Lehre vertreten sein sollen.17 Die zu etablierende Institution soll die jüdische Theologie also in Gänze repräsentieren, wie auch folgende Äußerung zeigt: „[…] dort würden die verschiednen, von Verschiednen ausgebildeten Fächer einander unterstützen, und ein Verein von Kräften würde sich bilden […]“ (FacI 16). Wieder tritt die Idee des Ganzen hervor, die trotz der disziplinären Aufgliederung die Programmatik der jüdischen Theologie bestimmt und auch in der institutionellen Ausgestaltung konstitutiv ist. Das hat hier zwei Pointen: Erst das Zusammenspiel aller wissenschaftlichen Disziplinen sichert die Funktionalität der jüdischen Theologie, was die Darbietung aller Fächer in der Fakultät legi17

Die Einheit von Forschung und Lehre spiegeln auch folgende Äußerungen wider: „Und dort würde auch der jüdische Jüngling aus dem Munde kundiger Lehrer wiederum die Lehre empfangen; angeleitet wird er sich finden, dargeboten wird ihm die Forschung mit ihrem Erfolge, angetrieben wird er zu selbstständiger Untersuchung; er begreifet, versteht, würdigt seine Wissenschaft, er lernt sie kennen und umfaßt sie mit Liebe“ (FacI 17).

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timiert. Eine Professur einer jüdisch-wissenschaftlichen Disziplin, wie Zunz sie später fordert, könnte diesem Anspruch nicht gerecht werden und wird von Geiger daher auch nicht in Erwägung gezogen.18 Sodann kann Geigers Betonung, dass alle Zweige der jüdischen Theologie in der Fakultät ihre institutionelle Umsetzung finden sollen, als Abgrenzung zu den Jeschiboth gewertet werden, deren inhaltliche Konzentration auf den Talmud Geiger massiv kritisiert (vgl. FacI 2f). Die zu errichtende Fakultät soll demzufolge eine thematische Breite verkörpern, um dadurch der jüdischen Theologie und dem Judentum in Gänze gerecht zu werden. Nur auf diese Weise kann auch das fruchtbare Gespräch zwischen jüdischen Theologen ermöglicht und der konstruktive Austausch zwischen den einzelnen Disziplinen der jüdischen Theologie gefördert werden. Gerade vor dem Hintergrund der thematischen Breite und des nahezu unüberschaubaren Umfangs der jüdischen Theologie ist eine Kooperation unter Kollegen hilfreich, da die eigene disziplinäre Spezialisierung oftmals den Blick auf das Ganze verstellt, der jedoch zwingend erforderlich ist und immer wieder eingeübt werden muss. Angesichts der fortschreitenden Spezialisierungen kann eine institutionell bedingte Interaktion einen Überblick über den Forschungsstand schaffen, dadurch Orientierung stiften und die eigene Standortbestimmung erleichtern. Eine Fakultät fungiert somit als intellektuelles Kommunikations-Forum und darüber hinaus als sozialer Knotenpunkt, an dem vereinzelte und zuvor zerstreute Persönlichkeiten des Judentums aufeinander treffen und ihre jeweiligen Ideen und Erkenntnisse zusammentragen, um dadurch gemeinsam ein Ganzes, nämlich die jüdische Theologie, hervorzubringen respektive den theologischen Nachwuchs auszubilden. Die Einrichtung dient idealiter der Bündelung von Kräften und der Vergemeinschaftung von Individuen. Denn der Austausch mit anderen jüdischen Theologen kann auch die Motivation steigern, eine engagierte Arbeit und ein produktives Gemeinschaftsgefühl befördern. Eine inhaltliche Konkretion des Fakultätsaufbaus sucht man in dem frühen programmatischen Aufsatz vergebens, da Geiger „die innere Einrichtung“ (FacI 18)19 der Institution in die Hände der Dozenten legt und sie nicht weiter thematisiert. Er stellt jedoch heraus, dass „praktische Institute“ (FacI 17) an die Fakultät anzugliedern seien. Die Gründung solcher „praktische[n] Institute“ deutet darauf 18

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Zunz engagiert sich für die Errichtung einer „ordentliche[n] Professur für jüdische Geschichte und Literatur“ an der philosophischen Fakultät der Universität Berlin und stellt 1848 einen entsprechenden Antrag beim preußischen Ministerium für Erziehung und religiöse Angelegenheiten, der jedoch abgelehnt wird (Zunz’ Brief an Minister Ladenberg vom 25. Juli 1848, in: L. Geiger, Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, 335). An anderer Stelle ergänzt Geiger noch, dass die jeweiligen Regierungen die Planungen mitbestimmen müssen: „Die Frage über die Art der Einrichtung der Facultät ist vorläufig gewiß eine ganz überflüssige; die Männer, welche mit dem Vertrauen beehrt werden, die Lehrerstellen einzunehmen, werden in Verbindung mit der betreffenden Regierung schon die Einrichtungen zu treffen wissen […]“ (N 310).

Wissenschaftliche Einrichtungen215 hin, dass die Fakultät als solche vornehmlich der theoretischen Arbeit oder in Geigers Worten der „wissenschaftliche[n] Behandlung jüdisch-theologischer Fragen“ (FacI 16) verpflichtet ist und praktische Übungen ausspart. Diese sollen ihren Raum an den „praktische[n] Institute[n]“ finden. Als konkrete Aufgaben dieser praktisch ausgerichteten Einrichtungen benennt Geiger die „Tüchtigmachung für die Bedürfnisse des Lebens“ und die „Befähigung zum Predigen, zum Ertheilen des Religionsunterrichts“ (FacI 17). Die Parallelität zum disziplinären Aufbau der jüdischen Theologie, wie Geiger ihn später in seinen Vorlesungen entwirft, ist unverkennbar. Es erweckt den Eindruck, dass die Fakultät vornehmlich den theoretischen Teil der jüdischen Theologie abdeckt und die praktischen Institute sich dem praktischen Teil verschrieben haben, sich also mit Bereichen wie Liturgik, Homiletik sowie Katechetik beschäftigen und damit in erster Linie die Grundlagen für die spätere Gemeindearbeit bieten. Geiger beschreibt die Zielgruppe solch einer Fakultät nicht explizit, veranschaulicht durch die Verwendung des Ausdrucks „jüdische[r] Jüngling“ (FacI 22) jedoch unmissverständlich, dass die wissenschaftliche Einrichtung ausschließlich jüdischen Studierenden offen steht, weil es ihm um die Wissenschaft aus dem Geist des Judentums geht. In Abgrenzung zu den Jeschiboth betont er das wissenschaftliche Gepräge der zu gründenden Fakultät, insofern er die Wissenschaftlichkeit zum konstitutiven Merkmal solch einer Institution erklärt. Dementsprechend stellt Geiger heraus, dass „die Wissenschaft ihre Fackel anzünden [wird], beleuchtend und erwärmend“ (FacI 17) sein wird. Wenngleich er das Bekenntnis zum jüdischen Glauben voraussetzt und keine von der Religion emanzipierte Forschung und Lehre intendiert, ist die jüdische Theologie keine religiöse Übung, sie ist ergo nicht Teil der gelebten Religion beziehungsweise Frömmigkeitspraxis, was einen entscheidenden Unterschied zum ‚Talmud Tora‘ markiert. Daraus folgt schließlich, dass die wissenschaftlichen Einrichtungen nicht nur vom religiösen, sondern auch – und zwar vornehmlich – vom wissenschaftlichen Geist bestimmt sind. In den Fakultätsschriften von 1836 und 1838 spart Geiger organisatorische Gesichtspunkte fast gänzlich aus und behandelt sie auch in anderen Zusammenhängen äußerst knapp. Während er in seinem Aufsatz von 1836 nur von „irgend einer Universität“ (FacI 16) und von „irgend eine[r] unserer humanen Regierungen, welche die Förderung wünschen“ (FacI 21), spricht, wird er im Vorfeld der zweiten Rabbinerversammlung im Hinblick auf die Standortfrage konkreter und schreibt: „Ich würde die Errichtung zweier Fakultäten vorschlagen, von denen eine im Nordosten, die andere im Südwesten Deutschlands, und zwar in einer Universitätsstadt ihren Sitz hätte, etwa Breslau und Tübingen […]“ (ARVII 341).20 20

Bereits 1836 rekurriert Geiger auf die Tübinger Universität (vgl. Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 89).

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Rund 20 Jahre später nennt Geiger den Westen Deutschlands, genauer gesagt Heidelberg, als günstigen Fakultätsstandort (vgl. WtN 254). Demnach führt er zwar Universitäten, an denen eine jüdisch-theologische Fakultät errichtet werden kann, an, ohne seine Ideen jedoch weiter auszuführen und sich tatsächlich festzulegen. Daher bleibt die Standortfrage offen. Vermutlich sind günstige äußere Bedingungen wie kooperative Regierungen und große finanzstarke Gemeinden ausschlaggebend für die Standortwahl.21 Trotz der Betonung der institutionellen Etablierung aller jüdisch-wissenschaftlichen Zweige, zeigt sich Geiger auch geduldig und besonnen, insofern er einräumt: „Man hat für’s Erste nur dafür zu sorgen, daß an einem Universitätssitze […] einige tüchtige Männer die Disciplinen lehren […] und allmälig wird daraus eine Facultät sich bilden […]“ (WtN 254). Zweierlei ist erkennbar: Ein institutionelles Projekt in dieser Größenordnung benötigt Zeit, kann ad hoc demzufolge nicht in Gänze realisiert werden, wohingegen sich Teilprojekte bereits umsetzen lassen. Die Vorbereitungen müssen demgemäß zwar ernst genommen werden, dürfen aber auch nicht zu hochgehängt werden und jeglichen Aktionismus hemmen. Im Kontext der Rabbinerversammlungen präzisiert er seine Umsetzungsideen einer Fakultätsgründung beziehungsweise die nötigen Vorbereitungsarbeiten, indem er schreibt: „Es müsste ein provisorisches Komité gewählt werden, dem aufgegeben würde, sich sowol mit den Vorständen der größeren jüdischen Gemeinden […] als auch mit einigen anerkannten jüdischen Gelehrten, […] in Verbindung zu setzen und mit denselben gemeinschaftlich die vorbereitenden Schritte zu thun. […] Ein Universitätsrath, aus Deputirten der am meisten sich betheiligenen Gemeinden gebildet, würde der Regierung für die

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Surall weist noch auf einen weiteren Standortfaktor hin und erklärt überzeugend die „konfessionelle Pluralität theologischer Fakultäten“ zum entscheidenden Kriterium der Standortwahl (Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 400). Die Existenz evangelisch-theologischer und katholisch-theologischer Fakultäten sowie die Existenz jüdischer Studenten an einer deutschen Universität begünstige die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät beziehungsweise schaffe eine positive Ausgangslage. Sowohl auf Tübingen als auch auf Breslau und Heidelberg träfen diese Kriterien zu. Surall legt umfassend dar, warum die Tübinger Universität vermutlich von Geiger favorisiert wird. Betrachtet man Geigers eigene Aussagen, spricht die folgende tatsächlich für eine Priorisierung Tübingens: „Von der Fakultät lässt sich bis jetzt noch nicht viel sagen; die Württembergische Regierung und sogar auch die Tübinger Professoren haben ihre grosse Breitwilligkeit zur Unterstützung des Unternehmens gezeigt; würden die Frankfurter Gelehrten nur ein wenig Ernst zeigen, so wäre gewiss ein Anfang da […]“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 89). Mit letzter Gewissheit lässt sich nicht klären, an welchem Ort Geiger die jüdisch-theologische Fakultät errichten will, was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass er selbst solchen organisatorischen Fragen wenig Bedeutung beimisst und sich vornehmlich auf die Programmatik konzentriert.

Wissenschaftliche Einrichtungen217 Besetzung der Lehrstühle seine Vorschläge einzureichen haben“ (ARVII 341).22 Bei der Vorbereitung der Fakultätsgründung soll den Rabbinerversammlungen demnach eine wichtige Rolle zukommen, da sich das von Geiger geforderte „Komité“ neben Verantwortlichen aus Gemeinden auch aus Mitgliedern der Rabbinerversammlung zusammensetzen soll. Diese sind nach Geigers Ansicht zu einem engagierten und konstruktiven Eintreten für die Planung einer Fakultätsgründung verpflichtet. Sie bilden idealiter einen wissenschaftlichen Beirat und begleiten eine Fakultätsgründung, indem sie die theoretische Fundierung leisten, was der Deutung als Organisation professioneller Reflexion entspricht. Geigers Äußerung zeigt, dass eine jüdisch-theologische Fakultät als ein Gemeinschaftsprojekt der jüdischen Gemeinden und der deutschen Regierungen zu verstehen, also eine Kooperation zwischen gemeindlicher und staatlicher Seite ist. Dies setzt eine Annäherung von beiden Seiten voraus, was abermals zeigt, dass die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität dem Emanzipationsprozess und der Gleichberechtigung des Judentums zugutekäme. Die Kooperation ist freilich keine wirklich paritätische, da der Staat die alleinige Entscheidungsbefugnis hat und die Gemeinden und Rabbinerversammlungen nur einen beratenden Status haben (vgl. N 310). Um die Errichtung einer Fakultät finanzieren zu können, schlägt Geiger vor, den Maimonidesverein zu gründen. Dieser solle zu Ehren Maimonides an dessen 700. Geburtstag, am 1. April 1836, gegründet werden. Ein Fonds, bestehend aus Mitgliedsbeiträgen, Legaten und Schenkungen, solle das finanzielle Fundament der Fakultät bilden und so eine finanzielle Unabhängigkeit von deutschen Regierungen gewährleisten.23 Betrachtet man Geigers Entwurf der Institutionalisierung der jüdischen Theologie in Form einer jüdisch-theologischen Fakultät, ist im Vergleich zu anderen 22 23

Vgl. auch: SRV 199 f. Geiger schreibt: „Es möge sich also ein Verein bilden in Israel, der, durch Beiträge dem Unternehmen Gedeihen sicherte. Wie leicht könnte in Deutschland durch Zusammenschlüsse zuerst ein Fonds begründet werden, der durch jährliche Beiträge bereichert, durch Legate vergrößert, durch Schenkung von Büchern freundlich unterstützt, auch von den Regierungen nicht blos überwacht, sondern auch begünstigt, bald hinreichte, die Anstalt einzuweihen, die Lehrer zu besolden, Stipendien zu stiften, eine hinreichende Bibliothek zu sammeln und Preise für die Beantwortung von Fragen auszusetzen, wie hierzu schon in Blättern von Hrn. D. Jost aufgefordert wurde. Dieser Verein heiße Maimonidesverein […]. Es müßte über das ganze Deutschland dieser Verein seine Wirksamkeit ausdehnen, und an einem geeigneten Orte seinen Mittelpunkte haben, mit dem sich dann die übrigen Orte und Kreise in Verbindung setzten“ (FacI 20f). Vgl. dazu: Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 397–425. Surall macht einleuchtend darauf aufmerksam, dass Geiger durch den eigenen Finanzierungsvorschlag, der für staatliche Einrichtungen, welche die jüdisch-theologische Fakultät ja ist, ungewöhnlich ist, mögliche Einwände des Staates im Voraus entkräftet und dadurch die Chance der Billigung prinzipiell erhöht (vgl. a. a. O., 397f).

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

jüdischen Positionen sein spezifisches Profil klar erkennbar. So grenzt er sich offenkundig vom alten Modell der Institutionalisierung jüdischer Gelehrsamkeit, konkret von den Jeschiboth, ferner von Zunz’ Idee der Errichtung einer Professur für jüdische Geschichte und Literatur an einer deutschen Universität und von Rabbinerseminaren wie beispielsweise denen in Breslau, Padua und Metz ab. Die Idee der Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität, die Forschung und Lehre in historisch-kritischer Ausrichtung sowie Religiosität und Wissenschaftlichkeit zu vereinen und sowohl Gelehrte als auch Praktiker hervorzubringen weiß, trägt ganz offensichtlich Geigers Handschrift. Bei aller Würdigung und Anerkennung seiner innovativen Leistung erinnert sein Entwurf an bereits existierende theologische Fakultäten christlicher Konfessionen. Diese strukturelle Parallelität dürfte kein Zufall sein. Vielmehr erweckt es den Eindruck, dass Geiger sich an protestantischen oder katholischen Fakultäten orientiert, dass diese demgemäß Vorbildcharakter für ihn haben. Es ist zu vermuten, dass er auf das bereits etablierte und anerkannte Modell der Institutionalisierung der christlichen Theologien zurückgreift, also auf bewährte Strukturen setzt und diese für die jüdische Theologie umformt. Geiger scheint mit den christlichen Theologen übereinzustimmen, dass die theologisch, wissenschaftlich und religionspolitisch so erforderliche Kontextualisierung der Geltungsansprüche der religiösen Traditionen nur über die Etablierung an deutschen Universitäten erfolgen kann.24 Sein Entwurf der Institutionalisierung der jüdischen Theologie weist demzufolge eine deutliche Divergenz zu anderen jüdischen Institutionalisierungskonzepten auf, zeichnet sich hingegen aber durch eine gewisse Nähe zu christlichen Modellen aus.

1.1.2 Die „höhere[ ] Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ Ende der 60er Jahre spricht sich Geiger überraschender Weise für die Gründung einer jüdischen Hochschule, die sich der Förderung der Wissenschaft des Judentums widmet, aus. Er bezeichnet „die Gründung einer höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ als die „höchste Aufgabe im Interesse der wissenschaftlichen Erkenntniß des Judenthums“ (TL 166). Umgehend fällt auf, dass Geiger die Gründung einer „höheren Lehranstalt“ fordert und seine sonst gewählte Bezeichnung „jüdisch-theologische Facultät“ nicht verwendet. Diese Position steht auf den ersten Blick im Gegensatz zu seiner Forderung, wie er sie vor allem im Aufsatz Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit und in der Schrift Ueber die Errichtung 24

Vgl. auch: Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 59.

Wissenschaftliche Einrichtungen219 einer jüdisch-theologischen Facultät formuliert. Er plädiert stets, wie im vorherigen Kapitel dargelegt, für die Integration der Wissenschaft des Judentums in deutsche Universitäten und wendet sich explizit und wiederholt gegen selbstständige jüdische Einrichtungen, weshalb seine Aussage verwundert. Einmal mehr stellt sich die Frage, ob diese terminologische Verschiebung eine konzeptionelle inkludiert, ob Geiger tatsächlich von seinem ursprünglichen Wunsch – der Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität – abrückt und stattdessen für die Gründung einer selbstständigen jüdischen Lehranstalt plädiert. Berücksichtigt werden muss, dass seine diesbezüglichen Äußerungen allesamt im Kontext der tatsächlichen Gründung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin anzusiedeln sind, was erneut den Eindruck hervorruft, dass seine scheinbare positionelle Varianz äußeren Umständen geschuldet ist. Inwiefern die Äußerungen tatsächlich Geigers eigener Vorstellung entspringen oder aber das Ergebnis kontextueller Beeinflussung sind, kann an dieser Stelle noch nicht geklärt werden. Es wird noch zu untersuchen sein, ob er gegen Ende seines Lebens tatsächlich seinen ursprünglichen Plan einer jüdischtheologischen Fakultätsgründung aufgibt und ob die Errichtung einer selbstständigen jüdischen Einrichtung eine Kompromisslösung oder doch die Erfüllung seines Lebenstraumes ist. Im Folgenden sollen Geigers Äußerungen zur Etablierung einer jüdischen wissenschaftlichen Anstalt zusammengetragen werden, wenngleich sie nicht die gleiche Differenziertheit wie die obigen zur Fakultätserrichtung aufweisen. Folgende Formulierung spiegelt das Geiger vorschwebende Profil einer „höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ wider: „Sie [die Versammlung] erklärt, daß deren [der höheren Lehranstalt] Bedeutung sich nicht darauf beschränken darf, die Heranbildung junger Männer zu künftigen Lehrern und Verkündern der Religion (Rabbinern) zu erzielen, sondern daß sie zugleich eine Pflegestätte der freien wissenschaftlichen Erkenntniß sei, welche ungehemmt von dem durch die Vergangenheit beherrschten augenblicklichen Bedürfnisse, berufen ist, das Judenthum in seiner geistigen Macht zu ergründen und ihm seinen berechtigten Einfluß auf die gesammte geistige Entwickelung zu gewinnen“ (TL 166).25 Dreierlei ist erkennbar: Eine „höhere[ ] Lehranstalt“ darf sich erstens nicht als Ausbildungsstätte gemeindlichen Führungspersonals instrumentalisieren lassen, muss sich also in deutlicher Abgrenzung zu bestehenden Rabbinerseminaren gegen ihre 25

Im Gutachten, welches Geiger dem Lehrplan für die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums beilegt, stellt er explizit heraus: „Sie ist kein Seminar […]“ (GLP 222), was die Abgrenzungstendenz zu Rabbinerseminar deutlich werden lässt. Das Gutachten befindet sich laut Ludwig Geiger nur auszugsweise in Geigers Nachlass. Aufgrund der schwierigen Quellenlage können sowohl das Gutachten als auch der Lehrplan selbst nicht direkt eingesehen und müssen daher auf Grundlage des Abdrucks in Ludwig Geigers Biographie zitiert werden.

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

funktionale Reduktion auf die Ausbildung von Praktikern wehren. Damit zusammenhängend muss zweitens die Humboldtsche Einheit von Forschung und Lehre gewahrt bleiben sowie der Pflege und Profilierung der Wissenschaft des Judentums in Freiheit und Unabhängigkeit genügend Raum gegeben werden. Damit drittens schließlich die zu institutionalisierende Wissenschaft des Judentums die kulturproduktive Bedeutung des Judentums innerhalb der universalen Geistessphäre herausstellen kann. Diese Gedanken aufnehmend präzisiert folgende Äußerung Geigers das Konzept einer zu gründenden „höheren Lehranstalt“: „Wohl aber wollen wir die vorhandene Lücke selbständig ergänzen durch die Errichtung einer jüdischtheologischen Fakultät, die gleich den christlichen, sich an die Zentralstätten der wissenschaftlichen Bewegung anschließend, von deren universell-wissenschaftlichem Charakter getragen wird und mit der Gesamtströmung der Wissenschaft in enger Verbindung bleibt“ (GLP 222). Mehrfach ist bereits aufgefallen, dass sich seine Terminologie nicht durch Schärfe und Genauigkeit auszeichnet. So muss auch hier erläuternd eingeworfen werden, dass Geiger mit der irritierenden Wendung „Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät“ die Gründung einer selbstständigen Hochschule vor Augen hat und gerade nicht dem gebräuchlichen und seinem früheren eigenen Verständnis entsprechend eine Fakultät innerhalb einer Universität meint. Am Ende dieses Kapitels wird seine Terminologie ausführlicher beleuchtet und ein Erklärungsversuch formuliert. Ungeachtet der begrifflichen Irritation kann Geigers Aussage dahingehend interpretiert werden, dass sich die „höhere[ ] Lehranstalt“ trotz ihrer institutionellen Selbstständigkeit idealiter nicht im akademischen Abseits befinden soll, sich also nicht vom allgemeinen, das heißt universitären wissenschaftlichen Diskurs distanzieren, ja isolieren (lassen) darf, sondern vielmehr befruchtende Impulse aufnehmen und aussenden muss. Trotz der strukturellen Eigenständigkeit muss der interdisziplinäre Dialog demzufolge stets gesucht und aufrechterhalten werden. Weiterhin offenbart seine Äußerung, dass die Gründung einer „höheren Lehranstalt“ dezidiert als innerjüdisches Projekt aufzufassen ist, welches unabhängig von jeglichen staatlichen Subventionen welcher Art auch immer realisiert wird. Das bedeutet, dass sowohl die konzeptionelle als auch die finanzielle Verantwortung auf jüdischer Seite liegt, was einerseits als Vorteil im Sinne einer vollständigen Unabhängigkeit und uneingeschränkten Wissenschaftsfreiheit zu bewerten ist, andererseits jedoch auch als Nachteil angesichts potentieller finanzieller Notlagen. Die Unabhängigkeit einer solchen Anstalt soll auch im Hinblick auf jüdische Gemeinden, konkret hinsichtlich religiöser Positionen, realisiert werden, wie folgende Äußerung signalisiert: „Die Wissenschaft muss frei sein und darf nicht einer einzelnen Richtung zu eigen gegeben werden […].“26 Das Ideal der Wissenschaftsfreiheit wird demnach als 26

Brief Geigers an Moritz Lazarus vom 5. Oktober 1869, in: S 5, 325.

Wissenschaftliche Einrichtungen221 Leitparadigma präsentiert, dem alle positionellen Vorstellungen unterzuordnen sind. Geiger stellt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse offenkundig über die religiöse Bindung und Verfasstheit. Weiterhin sollen die Wissenschaftlichkeit und der Gedanke der Universalität als zentrale Leitideen einer „höheren Lehranstalt“ fungieren und eine gewisse Nähe zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen konstituieren. Weitere umfassende Äußerungen zur Konzeption einer jüdischen Hochschule, wie er sie für eine jüdisch-theologische Fakultät formuliert, sucht man vergebens. Auch die inhaltliche Gestaltung der Lehre der Wissenschaft des Judentums ist bis jetzt auffällig blass geblieben. Der Lehrplan, den Geiger 1870 auf Anfrage des Kuratoriums für die spätere Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums entwirft, vermag Aufschluss über seine inhaltlichen Vorstellungen der institutionellen Umsetzung seines Wissenschaftsbegriffs zu geben, da er direkt im Kontext der anstehenden Institutionalisierung entwickelt wird und die Lehre der Wissenschaft des Judentums organisiert und strukturiert. Daher soll er im Folgenden näher betrachtet werden. Berücksichtigt werden muss, dass Geigers Lehrplan ein Vorschlag unter vielen ist und es sich hierbei nur um seine Empfehlung und nicht um den tatsächlichen Lehrplan der Berliner Einrichtung handelt.27 Inwiefern Geigers Vorschläge schließlich in die konzeptionelle Gestaltung der Hochschule einfließen, wird noch zu klären sein. Geiger teilt die Hochschule, wie im damaligen Universitätsbetrieb üblich, formal in die zwei Bereiche „Fakultät“ (LP 220) und „Seminar“ (LP 220), er verortet die Vorlesungen in die „Fakultät“ und den „Unterricht und die selbsttätige Übung“ (LP 220) in das „Seminar“. Die „Fakultät“ dient demgemäß der frontalen Wissensvermittlung durch einen Dozierenden an die Studierenden, wohingegen im „Seminar“ die in den Vorlesungen gewonnenen Erkenntnisse von den Studierenden selbst praktisch angewendet und erprobt werden. Beide Abteilungen sind dem Ganzen verpflichtet, stehen folglich im Dienst der Wissenschaft des Judentums und suchen deren Selbstverständnis und Intentionalität gerecht zu werden, weisen jedoch spezifische Zuständigkeitsbereiche und damit Aufgaben auf. Auch auf institutioneller Ebene gibt es demzufolge bei aller Ausrichtung auf das Ganze eine Arbeitsteilung, die wiederum zwei Veranstaltungstypen hervorbringt: die Vorlesung sowie den „Unterricht und die selbsttätige Übung“. Die inhaltliche Ausgestaltung ist in „Fakultät“ und „Seminar“ beziehungsweise in Vorlesung und Übung nahezu die gleiche, sodass sich theoretisches Wissen und praktische Fähigkeiten ergänzen, wodurch einem ganzheitlichen Bildungsanspruch entspro27

Folgende Personen schreiben neben Geiger ein Gutachten und präsentieren darin ihre Lehrplan-Vorstellungen: Astruc, Aub, Cassel, Jellinek, Joel, Philippson und Steinthal (vgl. Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, die ersten zwei Jahre ihres Bestehens 1872 und 1873 umfassend, Berlin 1874, 25).

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

chen wird. Die thematische Korrespondenz von Theorie und Praxis bei gleichzeitiger methodischer Divergenz unterstützt einen erfolgreichen Lehr- und Lernprozess und garantiert eine umfassende Ausbildung. In der Retrospektive seiner eigenen Lehrtätigkeit konkretisiert Geiger sein Vorlesungsverständnis, indem er schreibt: „Die Vorlesungen können sich nicht darauf beschränken, das Vorräthige weiter zu tragen, sie sind vielmehr selbst eine wissenschaftliche Arbeit, und so dürfen sie auch den Erfolg haben, Jünger der Wissenschaft heranzubilden“ (WH 18f).28 Nach Geigers Auffassung sind Vorlesungen weit mehr als reine Vermittlungs- und Verbreitungsformen gewonnen Wissens. Vorlesungen fungieren vielmehr als strukturierende, systematisierende und anregende Größen und unterstützen die produktive Weiterentwicklung der Wissenschaft des Judentums, besonders weil sie, obwohl sie freilich der Lehre angehören, auch die Forschung befördern und bereichern. Vorlesungen inkludieren also durchaus schöpferisches Potential und evozieren idealerweise einen lebendigen Interaktionsprozess zwischen Dozent und Student. Es erweckt den Anschein, dass Vorlesungen demnach bestenfalls nicht nur Studierenden zugute kommen, indem sie Erkenntnisse vermitteln und Lernprozesse initiieren, sondern auch dem Dozenten selbst aufgrund ihrer Systematik und Prägnanz wichtige Dienste leisten. Der Lehrende wird durch die Lehrverpflichtung dazu angehalten, seine beziehungsweise fremde Forschungsergebnisse gebündelt und verständlich aufzubereiten sowie zu präsentieren und gewinnt dadurch einen geordneten Überblick über den Forschungsstand und überdies Impulse für die weiteren wissenschaftlichen Tätigkeiten. Die Gestaltung von Vorlesungen dämmt die Gefahr der wissenschaftlichen Vereinzelung und Spezialisierung ein, indem immer wieder der Blick auf das Ganze eingefordert wird, insofern einzelne Forschungsergebnisse stets in den Gesamtzusammenhang eingeordnet und weiterhin kritisch hinsichtlich ihrer Relevanz beleuchtet werden müssen. Die „Fakultät“ umfasst grob betrachtet einen allgemeinen und einen speziellen Teil, das heißt konkret, dass sie sowohl Vorlesungen zur Propädeutik, wenngleich Geiger selbst diese Bezeichnung nicht verwendet, als auch Vorlesungen zur Geschichte des Judentums beinhaltet. Propädeutischen und somit einführenden Charakter hat die Vorlesung „Einleitung in das Studium der Wissenschaft des Judentums“ (LP 220), die offenkundig Geigers Vorlesung Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, wie er sie später in Berlin hält, gleicht. Die allgemeine Vorlesung soll den Studierenden einen ersten Überblick 28

Geiger beschreibt die Aufgabe eines Dozenten in Anlehnung daran wie folgt: „Es stellt sich uns daher die Aufgabe, nicht blos den bisher Uneingeweiheten mit den gesicherten wissenschaftlichen Ergebnissen bekannt zu machen, sondern auch das bisher Vereinzelte zu einem ganzen wohlgeordneten Gefüge zu gestalten und die bei diesem Versuche hervortretenden Lücken zu ergänzen“ (WH 18f).

Wissenschaftliche Einrichtungen223 über die Inhalte und Methoden der Wissenschaft des Judentums darbieten und sie auf das Studium vorbereiten. Die sich anschließenden „spezielle[n] Vorlesungen“ (LP 220) behandeln die Geschichte des Judentums und differenzieren sich entsprechend in die unterschiedlichen jüdischen Epochen: „biblische“, „den Übergang aus dem biblischen zum talmudischen Judentum betreffende“, „talmudische“, „mittelalterliche“ und „neuere“ Epoche (LP 220f) aus, sodass sich fünf thematische Bereiche ergeben. Die jeweiligen Vorlesungen beleuchten die jüdische Literatur- und Religionsgeschichte, behandeln wichtige religionsphilosophische Entwicklungen, beinhalten sprachwissenschaftliche Reflexionen und inkludieren exegetische Beobachtungen. Alle Vorlesungen zur Geschichte des Judentums sind dem historisch-kritischen Ansatz verpflichtet und gründen sich vornehmlich auf die Analyse religiöser Schriften, vor allem auf das intensive Studium von Bibel und Talmud. Im dazu korrespondierenden „Seminar“ werden Übungen zu den jeweiligen geschichtlichen Vorlesungen angeboten, in denen die eigene Lektüre und das selbstständige Interpretieren religiöser Schriften im Zentrum stehen und damit das in den Vorlesungen erworbene Wissen vertieft und vor allem praktisch und eigenständig angewendet wird. Somit entsprechen die „Seminar[e]“ inhaltlich nicht den in der ersten Fakultätsschrift beschriebenen „praktische[n] Institute[n]“ (FacI 17), die vornehmlich die praktische Ausbildung jüdischer Theologen intendieren und dementsprechend Homiletik, Liturgik und Katechetik anbieten. Alle thematischen Bereiche sollen nach Geigers Ansicht unterschiedliche Untergebiete einschließen, sie setzen sich infolgedessen aus mehreren Vorlesungen zusammen. Der Zweig „Biblische[s]“ umfasst die „Einleitung in die biblischen Schriften“, die „Exegese über den Pentateuch“, die „Geschichte der Juden und des Judentums“ und die „Geschichte der Übersetzungen, der Grammatik […], Lexikographie und Exegese unter den Juden“ (LP 220). Das dazugehörige Seminar impliziert „Übungen in der Interpretation sämtlicher biblischer Bücher“ und die „Lektüre jüdischer Kommentatoren, wichtiger Stücke aus alten Grammatiken und lexikalischen Arbeiten“ und überdies das „Lesen der Massorah und der massoretischen Schriften“ (LP 221). Der Zweig „Übergang aus dem biblischen zum talmudischen Judentum“ schließt Vorlesungen zur „Geschichte der Juden und des Judentums während der zweiten Tempelperiode mit Berücksichtigung der sogen. Apokryphen und der Entstehung des Christentums“ (LP 220) ein. Ein dazu passendes Seminar fehlt in Geigers Ausführungen. Der Zweig „Talmudische[s]“ birgt Vorlesungen zur „Sprache der Mischna und der Baraita’s“, zum „Aramäismus“, zur „Geschichte der Halachah und der Haggadah“ und weiterhin zur „Geschichte der […] Samaritaner, Sadducäer und Boethusen, Karäer“ in sich (LP 220). Das korrespondierende Seminar behandelt „ausgewählte Stücke der Mischnah und der Baraita’s […]“, „chaldäische Stücke in Daniel und Esra“, eine „Auswahl aus den Targumen, Haggadisches in den Gemaren,

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Samaritanisch“, widmet sich weiterhin dem „kursorische[n] Lesen ganzer Traktate des Talmud Jeruschalmi“, dem „eingehender[en] Lesen zusammengehöriger […] Stücke aus dem Talmud, nach der geschichtlichen Entwicklung und deren praktischen Resultaten“ und dem „Lesen des Midrasch mit Anleitung zu dessen homiletischer Verwendung“ (LP 220). Der Zweig „Mittelalterliche[s]“ beinhaltet Vorlesungen zur „Geschichte der Juden und der nachtalmudischen jüdischen Literatur bis zur Gegenwart, mit besonderer Beziehung auf Philosophie, Dichtkunst, Geschichte und andere Wissenschaften“ und überdies zur „Geschichte der jüdischen Religionslehre, Philosophie und Ethik“ (LP 220f). Das dazugehörige Seminar verschreibt sich der „Lektüre ausgewählter Stücke aus Religionsphilosophen […]“ und der „Übung im Lesen mittelalterlich-hebräischer Dichter“ und dem „Wichtigste[n] aus den mittelalterlichen jüdischen Geschichtsquellen“ (LP 221). Der Zweig „Neuere[s]“ beleuchtet die „gegenwärtige Stellung und Lehrinhalt des Judentums“ und im entsprechenden Seminar werden „homiletische Übungen“ durchgeführt (LP 221).29 Die einzelnen thematischen Blöcke erinnern strukturell an Geigers Einteilung der Geschichte des Judentums, also an die historischen Unterdisziplinen der Wissenschaft des Judentums, unterscheiden sich aber etwas in ihrer Terminologie. Und auch die inhaltliche Ausgestaltung der „spezielle[n] Vorlesungen“ (LP 220) weist Parallelen zu Geigers Ausführungen in den Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums auf, wenngleich die „spezielle[n] Vorlesungen“ wesentlich umfassender sind und deutlich mehr Gesichtspunkte beinhalten. Auffällig ist, dass Geiger im Lehrplan sprachwissenschaftliche Überlegungen in die historischen Veranstaltungen integriert beziehungsweise unter die einzelnen Epochen subsumiert, wohingegen er in seiner Allgemeinen Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums die Sprachwissenschaft als eigenständige Disziplin deklariert. Demzufolge weicht Geiger zumindest in formaler Hinsicht von seiner Dreiteilung der Wissenschaft des Judentums ab und fokussiert ausschließlich den historischen Zweig. Die „Fakultät“ beinhaltet weder einen sprachwissenschaftlichen noch einen philosophisch-religiösen Zweig, impliziert aber die entsprechenden Topoi, subsumiert sie jedoch unter den historischen Bereich. Die Strukturierungskriterien divergieren demzufolge zwischen der „Fakultät“, genauer gesagt zwischen ihrem speziellen Teil, und dem Kompendium der Wissenschaft des Judentums. Das Strukturierungsund Organisationsprinzip – die disziplinäre Aufgliederung der Wissenschaft des Judentums – wird demnach aufgegeben. Durch die Konzentration auf die jüdische Geschichte fungieren deren Strukturierungseinheiten – die einzelnen Epochen – als systematisierende Momente. Der Lehrplan unterscheidet sich folglich terminologisch und formal vom wissenschaftsprogrammatischen Kompendium der Wissen29

Die Verankerung „homiletischer Übungen“ ist erstaunlich, da Geiger sie in seinem wissenschaftstheoretischen Kompendium der Wissenschaft des Judentums ausspart.

Wissenschaftliche Einrichtungen225 schaft des Judentums, entspricht diesem inhaltlich jedoch in weiten Zügen, wobei der Lehrplan offenkundig thematisch breiter und vor allem ausführlicher ist, was angesichts des propädeutischen Charakters des Kompendiums einleuchtend ist. Ein tiefgehender Vergleich zwischen dem Lehrplan und dem Kompendium ist nicht zu ziehen, da der Lehrplan nur schlaglichtartig die relevanten Vorlesungen und Übungen benennt, ohne sie inhaltlich zu entfalten. Warum Geiger den Lehrplan nicht gemäß den Disziplinen der Wissenschaft des Judentums aufbaut, warum er also keinen einheitlichen Aufbau veranschlagt und einen Unterschied zwischen Konzeption und Institution macht, ist unklar. Durch die formale und terminologische Akzentverschiebung erhält die jüdische Historie, die in Geigers Wissenschaftskonzeption ohnehin bedeutsam ist, innerhalb der „Fakultät“ eine noch stärker hervorgehobene Stellung. Dadurch drängt sich der Eindruck auf, dass der von Geiger entworfene Lehrplan die Wissenschaft des Judentums als reine Geschichtswissenschaft versteht und sie in der jüdischen Geschichte aufgeht, die Theologizität also aufgehoben ist. Diese These kann sich durch eine oberflächliche Betrachtung des Lehrplans ergeben, lässt sich durch eine intensivere Beleuchtung jedoch entkräften. Der von Geiger vorgelegte Lehrplan spiegelt keine explizite wissenschaftsprogrammatische Position wider, offenbart folglich nicht dezidiert, welchen Wissenschaftsbegriff er zugrunde legt. Eine vorangestellte definitorische Bestimmung der Wissenschaft des Judentums hätte Klarheit schaffen können, wird von Geiger in diesem Kontext jedoch nicht formuliert. Weiterhin werden die einzelnen Vorlesungen ausschließlich formal benannt, inhaltlich hingegen nicht ausgeführt, sodass offen bleibt, in welchem Maß theologische Fragestellungen thematisiert und religiöse Momente inkludiert werden, inwiefern die Veranstaltungen sonach ein theologisches Profil tragen. Betrachtet man die Vorlesungstitel genauer, ist aber bereits erkennbar, dass sie theologische Gesichtspunkte thematisieren und weit über rein historische Fragestellungen hinausgehen. So sind die Vorlesung „Einleitung in biblische Schriften“ und die Übung „Interpretation biblischer Schriften“ beispielsweise offensichtlich theologisch motiviert, zeichnen sich durch Theologizität aus und überbieten geschichtswissenschaftliche Veranstaltungen. Berücksichtigt man, dass ausschließlich religiöse Schriften als Untersuchungsgrundlage herangezogen werden, verdichtet sich der Eindruck, dass der von Geiger entwickelte Lehrplan theologisch ausgerichtet ist und keinesfalls eine von Theologie emanzipierte Lehre propagiert, da die Bibel- und Talmudexegese stets auf Normativität abzielt und sich daher von einer bloßen geschichtswissenschaftlichen Betrachtung unterscheidet. Die scheinbare Reduktion der Wissenschaft des Judentums auf die jüdische Geschichte kann demzufolge als falsch entlarvt werden. Sie stützt sich ausschließlich auf ein vorschnelles Urteil, welches sich vorrangig auf Formalia und Begrifflichkeiten gründet. Wenngleich die These einer als reine Geschichtswissenschaft konzipierten Wissesnschaft des Judentums somit nicht bestätigt werden kann, kann

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dennoch festgehalten werden, dass die jüdische Historie innerhalb des Lehrplans eine vorrangige Stellung einnimmt und normative Fragen eher zurücktreten. Der Grund dafür dürfte in externen Vorgaben zu suchen sein. Zusammenfassnd kann konstatiert werden, dass Geiger Ende der 1860er Jahre im Umfeld der späteren Hochschule für die Wissenschaft des Judentums für die Errichtung einer „höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ plädiert, welche die Einheit von Forschung und Lehre realisiert, die Wissenschaftsfreiheit hochhält, über die Rabbinerausbildung hinausgeht, die Förderung der Wissenschaft des Judentums unterstützt und am akademischen Diskurs partzipiert. Bevor im nächsten Kapitel untersucht wird, inwiefern die dargestellten Ideen tatsächlich in die Praxis umgesetzt werden, wie die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums also konkret aussieht, sollen einige begriffliche Beobachtungen angeführt werden. Wie bereits mehrfach gezeigt, entbehrt Geigers Terminologie oft der Systematik und Präzision, so auch im Kontext seiner Institutionalisierungsvorhaben. 1836 fordert er die Errichtung einer „jüdisch-theologischen Facultät“ und fasst sie als Einrichtung einer deutschen Universität auf. Die wissenschaftliche Anstalt als solche wird demnach mit dem Terminus „Fakultät“ bezeichnet, was angesichts ihrer angestrebten Integration in eine Universität dem geläufigen Verständnis entspricht.30 1870 entwickelt Geiger für die jüdische Hochschule in Berlin einen Lehrplan und unterteilt die Einrichtung beziehungsweise die Lehre in „Fakultät“ und „Seminar“, nennt demzufolge eine institutionelle Organisationsform innerhalb der jüdischen und damit nicht-staatlichen Einrichtung „Fakultät“. Offenkundig verwendet Geiger den Begriff „Fakultät“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen. In dem beigefügten Gutachten zum Lehrplan reflektiert Geiger die Begriffe, indem er zunächst konstatiert, „daß der Name für eine solche Anstalt hinter der Sache selbst zurücktritt“ (GLP 221) und dadurch gewissermaßen seine eigene Unschärfe rechtfertigt. Zugleich stellt er jedoch auch heraus: „[…] so ist mit demselben [dem Namen] doch deren Bestimmung näher ausgedrückt und es dürfte deshalb eine Präzisierung desselben erforderlich sein […]“ (GLP 221). Angesichts der festgestellten Korrelation von Bezeichnung und inhaltlicher Konzeption einer wissenschaftlichen Einrichtung kommt Geiger zu dem Schluss, dass der Terminus „jüdisch-theologische Facultät“ der passende sei, das heißt seiner Vorstellung am ehesten gerecht wird. Geigers Erklärungsversuch enthält eine dritte Bedeutungsdimension, nämlich die Bezeichnung der selbstständigen Einrichtung als „jüdisch-theologische Facultät“. Es ist fraglich, wieso Geiger im Zusammenhang der jüdischen Hochschule zum einen von der „Fakultät“ als einer Organisationsform der Lehre spricht und zum anderen die 30

Vgl. Asche, Art. Fakultät, 781–783.

Wissenschaftliche Einrichtungen227 gesamte Hochschule als „jüdisch-theologische Facultät“ bezeichnet. Letzteres ist gerade auch vor dem Hintergrund, dass Geiger den Begriff „jüdische Theologie“ im Kontext der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums normalerweise zugunsten des Terminus „Wissenschaft des Judentums“ ausspart, erstaunlich. Die Bezeichnung der gesamten Hochschule als „jüdisch-theologische Facultät“ reibt sich zudem an der früheren Titulierung einer „jüdischtheologischen Facultät“ im Sinne einer jüdisch-wissenschaftlichen Abteilung innerhalb einer deutschen Universität und am heutigen Verständnis von Fakultät. Es kann vermutet werden, dass Geiger die Wendung „jüdisch-theologische Facultät“ im Kontext der Hochschule aus reiner Gewohnheit verwendet, weil er sich zeitlebens für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät einsetzt, die Institutionalisierung konsequent in Form einer jüdisch-theologischen Fakultät konzipiert und die Wissenschaft des Judentums, wie bereits gezeigt, als jüdische Theologie versteht. Die konzeptionellen Differenzen, die mit den terminologischen Bezeichnungen einhergehen, wird er nicht berücksichtigt beziehungsweise nicht wahrgenommen haben. So kann angenommen werden, dass Geiger wie so oft seine Terminologie nicht intensiv reflektiert hat und es dadurch aus heutiger Sicht gewisse Widersprüche und Ungereimtheiten gibt, die sich nicht vollständig klären lassen, sondern mitgeführt werden müssen.

1.2 Umsetzung(sversuche) 1.2.1 Die „jüdisch-theologische Facultät“ Geiger stuft die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät als „dringendes Bedürfnis unserer Zeit“ (FacI 1) ein und bietet einen Entwurf zur Institutionalisierung der jüdischen Theologie dar. Im Folgenden soll dargestellt werden, inwiefern er seine in Kapitel 1.1.1 des II. Hauptteils entfalteten Ideen zu realisieren sucht. Geigers Versuche zur Fakultätsgründung werden dafür in zeitlicher Chronologie zusammengetragen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich konkrete Schritte Geigers zur Umsetzung der Fakultätsgründung nur schwer ermitteln lassen, da Geiger selbst wenig explizite Auskunft darüber gibt und sie zudem nicht von Erfolg gekrönt sind, also nicht in greifbare Resultate münden. Darüber hinaus stellt sich bei Sichtung von Geschichtsdarstellungen der Eindruck ein, dass Philippson eher die führende und treibende Kraft in dieser Hinsicht ist und praktische Maßnahmen durchführt, wie beispielsweise seine Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen aus dem Jahre 1837 bezeugt.

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

Dahingegen nähert sich Geiger der Thematik vornehmlich auf wissenschaftlicher, also theoretischer Ebene, wie seine Fakultätsschriften zeigen.31 Holdheim bestätigt diesen Eindruck, indem er Geigers Aufsatz zwar „wissenschaftliche[ ] Gediegenheit, Tiefe und Umsicht“ zuspricht, jedoch kritisiert, dass er „ohne allen Anklang und ohne alle Anregung an der Nation“32 vorbeigehe. Philippsons Aufruf zur Subskription zeichne sich dagegen durch „populäre[ ] Klarheit und lebendige[ ] Anschaulichkeit“33 aus und vermöge auch Laien zu überzeugen.34 Holdheim wirft Geiger somit mangelnde Praxisnähe sowie Ansprechbarkeit und damit einhergehend fehlende praktische Relevanz und Wirksamkeit vor. Vergleicht man Philippsons und Geigers Aufrufe, was hier en détail nicht geschehen kann, fällt umgehend auf, dass sie unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. Philippson publiziert den Aufruf in seinem Organ Allgemeine Zeitung des Juden31

In einem Brief an Creizenach vom 18.1.1838 rekurriert Geiger auf die „Agitation des Herrn Dr. Philippson für eine jüdisch-theologische Fakultät“, also auf Philippsons Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen und bringt seine Zustimmung zum Ausdruck (Brief Geigers an Michael Creizenach vom 18. Januar 1838, in: S 5, 104). Später nimmt Geiger noch ausführlicher auf Philippsons Antrag Bezug, indem er vornehmlich seine Bestätigung kundtut, Philippsons Engagement als „rühmliche Tätigkeit“ (N 309) bezeichnet, in einigen Punkten, zum Beispiel hinsichtlich des Lehrer-Seminars und der Rolle der Regierung jedoch auch seinen eigenen, abweichenden Standpunkt artikuliert. Vgl. Philippson, Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen. Kayserling stellt in seiner Biographie indes heraus, dass Philippsons Engagement für die Fakultätsgründung in völliger Interdependenz zu Geiger geschehe (vgl. Kayserling, Ludwig Philippson, 64). Wenngleich eine direkte Absprache beziehungsweise Arbeitsteilung in der Tat fraglich ist, so gibt es beispielsweise keine publizierte Korrespondenz zwischen beiden, muss die absolute Unabhängigkeit Philippsons doch angezweifelt werden. Das Thema einer Fakultätsgründung war in damaliger Zeit virulent, Geiger und Philippson sind mehrfach miteinander in Berührung gekommen, haben zum Teil für die gleichen Interessen gekämpft und es ist davon auszugehen, dass Philippson Geigers erste Fakultätsschrift gekannt hat und in welcher Intensität auch immer sicherlich von dieser beeinflusst wurde. Die offenkundigen Parallelen beider Aufrufe sprechen ebenfalls für eine gewisse Prägung. Auch Surall geht von einer gewissen Beeinflussung Philippsons durch Geigers erste Fakultätsschrift aus und begründet sie mit inhaltlichen Parallelen (vgl. Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 417, Fn. 95). 32 Holdheim, Es ist Pflicht jedes Israeliten für die Erhaltung der Religion seiner Väter zu sorgen. 33 Ebd. 34 Philippsons Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums im Jahre 1837 ist tatsächlich zunächst von Erfolg gekrönt, wie umfangreiche Subskriptionslisten in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums von 1838 zeigen. Eine Fakultätsgründung vermag aber auch er nicht zu realisieren (vgl. zum Beispiel: Philippson, Die jüdisch-theologische Facultät (23.1.1838), 39).

Wissenschaftliche Einrichtungen229 thums35, eine nicht-wissenschaftliche Zeitung mit breiter Leserschaft, wohingegen Geiger seinen Artikel in seinem Periodikum Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie veröffentlicht, die sich dezidiert an theologisch interessierte und gebildete Leser richtet. Philippson schreibt explizit für „Israeliten neuerer Bildung“, aber auch für „ält[ere] Israeliten“,36 an die sich Geiger gerade nicht wendet, die sich von seinen Ideen vermutlich auch nicht überzeugen ließen. Es zeigt sich, dass Geigers Artikel einen deutlich kleineren und vor allem spezielleren Adressaten- und damit Wirkungskreis hat, was jedoch nicht zwangsläufig negativ bewertet werden muss, da eine jüdisch-theologische Fakultät selbst auch nicht die breite Masse zu erreichen sucht. Einzig für die Finanzierung und die generelle Akzeptanz in Form eines starken Rückhaltes kann die Mobilisierung der Gemeinden hilfreich sein. Wenngleich es vereinzelte praktische Ansätze Geigers gibt, ist sein Engagement also vornehmlich konzeptioneller Natur. Das wird auch daran deutlich, dass er konkrete organisatorische Gesichtspunkte in seinen Fakultätsschriften fast gänzlich ausspart und sich auf die programmatische Entwicklung konzentriert.37 Beispielsweise lässt er die Standortfrage offen und spricht sich nicht verbindlich für eine Universitätsstadt aus. Wie in Kapitel 1.1.1. des II. Hauptteils bereits umrissen, scheint die Universität Tübingen dennoch als ein potentieller Fakultätsstandort infrage zu kommen, wie auch folgende Äußerung zeigt: „Von der Fakultät lässt sich bis jetzt noch nicht viel sagen; die Württembergische Regierung und sogar auch die Tübinger Professoren haben ihre grosse Breitwilligkeit zur Unterstützung des Unternehmens gezeigt; würden die Frankfurter Gelehrten nur ein wenig Ernst zeigen, so wäre gewiss ein Anfang da, aber da steht Jost38 zögernd und hindernd, und Creizenach39 lässt sich von ihm bestimmen, und so soll bis zur Ankunft der Rothschilde in Frankfurt gewartet werden, um mit ihnen den Anfang zu machen […].“40 Geigers Aussage spiegelt wider, dass es Gespräche 35 36 37 38 39 40

Vgl. dazu exemplarisch: J. Philippson, Ludwig Philippson und die Allgemeine Zeitung des Judentums. Philippson, Aufforderung an alle Israeliten Deutschlands zu Subscriptionen, um eine jüdische Facultät und ein jüdisches Seminar für Deutschland zu begründen, 351. Ludwig Geiger betont in einer Charakterisierung seines Vaters: „Das praktische Talent war ihm versagt. […] Stetigkeit und Organisationstalent zur praktischen Ausnützung dieser Einrichtungen war ihm nicht gegeben“ (L. Geiger, Abraham Geiger, 227f). Isaak Marcus Jost (1793–1860) ist jüdischer Historiker und arbeitet als Lehrer am Frankfurter Philanthropin. Michael Creizenach (1789–1842) ist Pädagoge und Theologe und wirkt als Lehrer am Frankfurter Philanthropin. Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 89. Neben Tübingen fungiert auch Frankfurt als potentieller Fakultätsstandort. In einem Brief an Levy und dessen Frau vom 18. Februar 1864 schreibt Geiger: „Ja, wenn es mir gelänge, mit der Errichtung eines Seminars am hiesigen Orte durchzudringen!“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Levy und

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über eine Fakultätsgründung an der Tübinger Universität gibt und die Regierung Württembergs sowie die Tübinger Dozenten prinzipiell kooperationsbereit sind, wie die konkreten Maßnahmen aussehen, bleibt hingegen offen.41 So ist auch nicht ersichtlich, welche Rolle Geiger selbst in den Verhandlungen einnimmt, wie weit diese fortgeschritten sind und wie realistisch eine baldige Umsetzung der Pläne ist. Er expliziert, dass die Realisierung auf jüdischer Seite auf Zweifel stößt, was angesichts der erwähnten positiven Resonanz auf nicht-jüdischer Seite besonders erstaunlich ist. Demzufolge können sich die jüdischen Gelehrten nicht zu einer raschen und beherzten Umsetzung entschließen. Der Rekurs auf Rothschild42 kann dahingehend interpretiert werden, dass die Familie Rothschild die Fakultät in finanzieller Weise unterstützen soll, was einmal mehr zeigt, dass Geiger auf die finanzielle Unabhängigkeit vom Staat setzt und nach eigenen Finanzierungsmodellen Ausschau hält. Seinen Schriften kann nicht entnommen werden, was letztlich aus diesem Plan wird, da er die Tübinger Universität zwar noch einmal im Vorfeld der Rabbinerversammlung als Fakultätsstandort nennt, ohne jedoch Angaben zu einer möglichen Realisierung zu machen. Insgesamt scheint es so zu sein, dass Geiger die tatsächliche Umsetzung seiner Ideen und damit auch die Frage des Standortes zunächst zurückstellt. Es lassen sich keine Anhaltspunkte finden, dass es tatsächlich zur Gründung des Maimonidesvereins, der die finanzielle Absicherung der Fakultät übernehmen soll, gekommen ist und daher kann eher davon ausgegangen werden, dass Geigers Idee zur Finanzierung einer Fakultät keine Verwirklichung findet, was den Eindruck bekräftigt, dass er keine konkreten, keine erfolgreichen Schritte zur Etablierung einer Fakultät durchführt, sondern vornehmlich Ideen entwickelt, die jedoch keine Realisierung finden.43 Zwei Jahre später beabsichtigt

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Frau vom 18. Februar 1864, in: S 5, 289). Weiteführende Informationen zum möglichen Fakultätsstandort Frankfurt liefert Geiger jedoch nicht. Surall erläutert überzeugend, warum Tübingen als die von Geiger favorisierte Universität angenommen werden kann (vgl. Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 400–405). Fraglich ist jedoch, warum Geiger nur so vereinzelt auf Tübingen rekurriert. Franz Rosenzweig äußert sich 1916 auch zur Idee, eine jüdisch-theologische Fakultät an der Tübinger Universität zu errichten und schreibt: „Herrlich war der Gedanke an Tübingen! Wäre die Sache damals etwas geworden – in Tübingen wäre es – damals – etwas sehr Großes geworden – es ist das Tübingen J. Chr. Baurs und seiner Schule – es bleibt ein großer Jammer!“ (Rosenzweig, Brief an die Eltern vom 29. Oktober 1916, in: ders., Der Mensch und sein Werk, 265). Familie Rothschild ist eine bedeutende jüdische Bankiersfamilie, die ihren Stammsitz in Frankfurt am Main hat. Auch Surall teilt diese Einschätzung und liefert einen Beleg dafür, insofern er Geigers Aussage aus dem Jahr 1836: „Dies, sowie die Gründung im April d. J. bezog sich blos auf den Verein, der zur Verwirklichung des Vorschlages dienen sollte“ anführt und die PräteritumForm „sollte“ als Indiz dafür wertet, dass die Idee der Etablierung des Maimonidesvereins

Wissenschaftliche Einrichtungen231 Geiger mit dem Verkaufserlös seiner Schrift Ueber die Errichtung einer jüdischtheologischen Facultät die Gründung einer wissenschaftlichen Einrichtung finanziell zu unterstützen.44 Wie hoch die tatsächlichen Einnahmen sind, bleibt offen. Beide Bestrebungen zeigen dennoch, dass er die Finanzierung einer jüdisch-theologischen Fakultät aus eigenen Mitteln realisieren will und nicht auf die staatliche Unterstützung setzt. Geigers zweite Fakultätsschrift ähnelt seiner ersten inhaltlich in weiten Teilen und bietet keine wirklich neuen Argumente oder Impulse. Er selbst ist sich der Wiederholungen durchaus bewusst und rechtfertigt die erneute Stellungnahme zum Thema mit einem „jetzt geeignetere[n] Zeitpunkt“ (FacII 3). Es erweckt den Anschein, dass die Fakultätsgründung innerhalb des Judentums deutlich an Fürsprechern gewonnen hat und Geiger mit seinem Beitrag die letzten Zögerlichen und Unentschlossenen zu überzeugen gewillt ist. Er erhofft sich von seiner zweiten Fakultätsschrift aufgrund der fortgeschrittenen Zeit und breiteren Zustimmung eine größere Wirkungskraft. Folgende Formulierung eröffnet einen Einblick in den tatsächlichen Stand der Umsetzung im Jahr 1839 und skizziert Geigers Rolle dabei: „Meine Broschüre [Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät] […] lassen Sie gleich der Fakultät ruhig schlafen; letztere wandelt, Gottlob, im Reiche der Seligen und hat sich vor ihren Freunden, Philippson und Consorten, geflüchtet, ihre Feinde hätten ihr nicht geschadet.“45 Geigers Äußerung kann als Indiz dafür gewertet werden, dass er den Plan der Fakultätsgründung 1839, also nur ein Jahr nach Veröffentlichung seiner zweiten Fakultätsschrift, abgeschrieben hat, ihn damit nicht weiter verfolgt. Überraschend ist seine explizite Schuldzuweisung, da er ein Jahr zuvor Philippsons Engagement in weiten Teilen lobt, ihn nun jedoch als Verantwortlichen für das Scheitern des Projektes deklariert.46 Das bedeutet, dass die Idee einer Fakultätsgründung nach Geigers Auffassung nicht an staatlichen Barrieren scheitert, sondern vielmehr am falschen Eintreten und unzureichenden Maßnahmen ihrer Befürworter. Auch diese Aussage Geigers bestätigt den Eindruck, dass er selbst eine eher passive, beratende beziehungsweise planende Rolle einnimmt

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nicht umgesetzt und wieder fallen gelassen wurde (KoN 397f). Vgl. Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 416. Vgl. unterstützend dazu: L. Geiger, Abraham Geiger, 43. Geiger schreibt in einem Brief: „Ich denke, über den Gegenstand ein Flugblättchen erscheinen zu lassen und durch dessen Ertrag mein Scherflein […] beizusteuern“ (Brief Geigers an Michael Creizenach vom 18. Januar 1838, in: S 5, 104). Auf dem Deckblatt der Schrift Ueber die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät heißt es dementsprechend: „Der reine Ertrag ist als Beitrag für die Fundirung der Facultät bestimmt“ (FacII). Brief Geigers an Jakob Auerbach vom 13.–21. Juni 1839, in: S 5, 142. In seiner Fakultätsschrift von 1838 schreibt Geiger noch, dass Philippsons Subskriptionsaufruf ein „anerkennenswerthes Verdienst“ (FacII 3) sei, da es ihm gelungen sei, die Notwendigkeit der Fakultätsgründung in der Öffentlichkeit zu verbreiten.

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und Philippson die aktive, also ausführende Kraft im Institutionalisierungsprozess zu sein scheint, wenngleich eine tatsächliche arbeitsteilige Kooperation freilich nicht stattfindet. Erstaunlicherweise macht Geiger keinerlei Anstalten, das Projekt zu retten und sich selbst aktiv in die Umsetzung einzubringen.47 Während der Begriff „schlafen“ zunächst noch eine optimistische Perspektive im Sinne eines vorübergehenden Aussetzens eröffnet, zerstört die Wendung „Reiche der Seligen“ jegliche Hoffnung, evoziert den Eindruck der Endgültigkeit und besiegelt das Scheitern des Planes. Nachdem der Plan der Fakultätsgründung anscheinend einige Jahre ruht, beantragt Geiger auf der zweiten Rabbinerkonferenz 1845 in Frankfurt die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät, wodurch sichtbar wird, dass der Drang zur Institutionalisierung trotz Misserfolge weiter besteht, ja als beständiges Anliegen virulent ist. Weiterhin zeigt sich, dass Geiger die Rabbinerversammlung als adäquaten Ort betrachtet, um sein Gesuch vorzubringen und sich davon Chancen für die Realisierung erhofft.48 Geiger stellt folgenden Antrag: „Die Rabb. Vers. wolle sich vereinigen, um vorbereitende Maßregeln zu treffen, welche geeignet sind, die Gründung einer oder mehrerer jüdisch-theologischer Facultäten in Deutschland zu bewirken.“49 Philippson formuliert nahezu den gleichen, obschon differenzierteren Antrag: „Es möge die Rabb. Vers. aussprechen: 1. daß die Errichtung einer oder mehrerer jüdisch-theologischer Facultäten in Deutschland für höchst wichtig, für durchaus nothwendig hält; 2. daß die Realisirung nach allen Kräften und Gelegenheiten mitwirken will; 3. möge die Rabb. Vers. eine Commission erwählen, die zur nächsten Versammlung a. einen Plan für eine solche jüdisch-theologische Facultät ausarbeite; b. über die besten Mittel und Wege berichte, durch die und auf denen die Errichtung realisirt werden könne.“50 Nach Philippsons und Geigers Auffassung soll sich die Rabbinerversammlung demzufolge für die Errichtung einer jüdisch-theologischen 47

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Kayserling erklärt das Scheitern von Philippsons Plan hingegen mit der „Lauheit der großen Gemeinden“, mit der „Teilnahmlosigkeit der jüdischen Reichen“ und mit der „Meinungsverschiedenheit der Rabbiner“ (Kayserling, Ludwig Philippson, 68), was Geigers Schuldzuweisung widerspricht und deutlich macht, dass vornehmlich der Mikrokosmos des Judentums die Realisierung verhindert hat und das Scheitern nicht ausschließlich staatlich legitimiert ist. Kayserlings Erklärungsversuch ist nicht nur der Ehrenrettung Philippsons geschuldet, sondern gibt vielmehr die damalige Lage wieder. Laut der Protokolle der ersten Rabbinerversammlung 1844 in Braunschweig wird das Thema der Fakultätsgründung dort nicht explizit behandelt (vgl. [N. N.], Protokolle der ersten Rabbiner-Versammlung abgehalten zu Braunschweig vom 12ten bis zum 19ten Juni 1844). Im Vorfeld der Braunschweiger Rabbiner-Versammlung äußert Geiger den Wunsch, eine Kommission zu gründen, die sich mit der Fakultäts-Errichtung beschäftigt (vgl. SRV 199). [N. N.], Protokolle und Aktenstücke der zweiten Rabbiner-Versammlung abgehalten zu Frankfurt am Main vom 15ten bis zum 28ten Juli 1845, 15. A. a. O., 15 f.

Wissenschaftliche Einrichtungen233 Fakultät aussprechen und diese Idee in engagierter und beherzter Weise umzusetzen suchen. Nach ihrem Dafürhalten gilt es, eine Kommission zu gründen, welche die Institutionalisierung in konzeptioneller Weise vorbereitet und überdies die äußeren Bedingungen positiv ausgestaltet, damit eine Fakultätsgründung angebahnt werden kann. Es ist schließlich Philippson, der vom Präsidenten aufgefordert wird, den Antrag zu begründen, was einmal mehr Philippsons führende Rolle in dieser Angelegenheit unterstreicht.51 Geiger bekommt nach Philippsons Vortrag die Möglichkeit, Ergänzungen anzubringen. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass Geiger Philippson grundsätzlich zustimmt und nur einige Aspekte herausgreift und erläutert, um mögliche Fehlschlüsse abzuwenden. Nach kleinen Modifikationen, die der Diskussion der Teilnehmer entspringen, werden die Anträge angenommen. Auffällig ist, dass Geiger die Errichtung „einer oder mehrerer jüdisch-theologischer Facultäten in Deutschland“ fordert und damit seinen formulierten Wunsch in der ersten Fakultätsschrift überbietet. Im Vorfeld der zweiten Rabbinerversammlung äußert er sich bereits in ähnlicher Weise, wenn er die Etablierung zweier Fakultäten vorschlägt und konkret Breslau und Tübingen als mögliche Standorte nennt (vgl. ARVII 341). Da Geiger diese Forderung nicht weiter konkretisiert, sie also auch nicht begründet, kann nicht geklärt werden, warum er plötzlich die Errichtung zweier Fakultäten vorschlägt. Geigers Forderung nach „vorbereitende[n] Maßregeln“ wird im Sinne von Philippsons Antrag auf Bildung einer Kommission entsprochen. Das Protokoll legt offen, dass neben Geiger und Philippson noch Holdheim, Salomon und Stein von den Teilnehmern der Rabbinerversammlung als Kommissionsmitglieder gewählt werden.52 Festzuhalten ist demnach, dass die zweite Rabbinerversammlung die Bildung einer Fakultätskommission ermöglicht, was als erster Schritt innerhalb des Umsetzungsprozesses zu sehen ist, immerhin einen Anfang darstellt und Geigers einst geäußerten Vorstellungen entspricht. Auf der dritten Rabbinerversammlung 1846 in Breslau rekurriert Geiger als Sprecher der Fakultätskommission auf das Testament des verstorbenen Breslauer Kommerzienrates Jonas Fränckel (1773–1846), in welchem dieser der Gemeinde, in der Geiger als Rabbiner wirkt, eine große Summe seines Vermögens zur Errichtung eines „Seminar[s] zur Heranbildung von Rabbinern und Lehrern“53 vererbt. Die Chance auf eine zuverlässige und verbindliche Finanzierung einer jüdisch-theologischen Fakultät kann als entscheidender Vorsprung im Vergleich 51 52 53

Vgl. Philippson, Bericht über die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät. Vgl. [N. N.], Protokolle und Aktenstücke der zweiten Rabbiner-Versammlung abgehalten zu Frankfurt am Main vom 15ten bis zum 28ten Juli 1845, 194. Erwähnenswert ist, dass Geiger die meisten Stimmen erhält, nämlich 21, gefolgt von Philippson mit 18 Stimmen. Brann, Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau, 13. Vgl. zu Fränckels Testament ausführlich: a. a. O., 7–14.

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zu früheren Bestrebungen gedeutet werden, die unter anderem an fehlenden finanziellen Mitteln scheiterten. Geiger berichtet, dass die Fakultätskommission in Form eines Briefes und eines persönlichen Gespräches Kontakt mit den Testamentsvollstreckern aufgenommen habe und ihre Bereitschaft zur Unterstützung signalisiert habe, die wiederum dankend angenommen worden sei.54 Der zeitliche Zusammenfall der Rabbinerkonferenz mit Fränckels Tod beziehungsweise letztem Willen und Geigers einst schon erwogene Wahl Breslaus als Fakultätsstandort können grundsätzlich als äußerst günstig für Geigers Institutionalisierungsbestrebungen gewertet werden, führen letztlich aber trotzdem nicht zur ersehnten Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität. Stattdessen wird 1854 das Jüdisch-theologische Seminar (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau gegründet und Oberrabbiner Frankel, prominenter Vertreter der konservativen Richtung des Judentums, zum ersten Direktor ernannt, wodurch die Einrichtung ein positiv-historisches Profil erhält und sich als das positiv-historische Rabbinerseminar etabliert.55 Dass die Gründung des Breslauer Seminars keinesfalls Geigers institutionellen Vorstellungen entspricht, ist offenkundig. Zum einen widerspricht die Eigenständigkeit des jüdischen Seminars aufgrund der fehlenden Eingliederung in eine deutsche Universität Geigers Position und zum anderen divergiert das Selbstverständnis als Rabbinerseminar von Geigers Wissenschafts- beziehungsweise Institutionsauffassung. Außerdem und zwar vorrangig stößt er sich an der Besetzung des Direktorenpostens, da Frankels theologisch-wissenschaftliches Profil mit seinem nicht vereinbar ist und er darüber hinaus damit gerechnet hat, selbst als Leiter wirken und dadurch sein Anliegen endlich realisieren zu können.56 Geiger wird dadurch in seiner eigenen Gemeinde 54 55

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Das Schreiben der Fakultätskommission an die Testamentvollstrecker ist genau wie das Antwortschreiben in den Protokollen abgedruckt (vgl. [N. N.], Protokolle der dritten Versammlung deutscher Rabbiner abgehalten zu Breslau vom 13.–24.Juli 1846, 292, 299 f.). Das jüdisch-theologische Seminar (Fraenckel’scher Stiftung) besteht bis 1938. Das konservativ ausgerichtete Rabbinerseminar wird maßgeblich durch seinen ersten Direktor Oberrabbiner Frankel geprägt. Es gilt als erstes modernes Rabbinerseminar, da es wissenschaftliche Grundsätze als Leitideen verankert und ein umfassendes Bildungsprogramm verfolgt. Namhafte Gelehrte und Rabbiner erhalten ihre Ausbildung in Breslau. Das Organ des Seminars, die von Frankel bereits 1851 gegründete Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, nimmt ebenfalls eine bedeutende Stellung ein, da sie die am längsten existierende jüdische wissenschaftliche Zeitschrift ist (vgl. zur Geschichte des Jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau: Brämer, Die Anfangsjahre des JüdischTheologischen Seminars, 99–112; Brann, Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau; Kisch (Hrsg.), Das Breslauer Seminar). Ludwig Geiger betont ausdrücklich, dass auch Fränckel Geiger als Direktor vorgesehen hatte (vgl. L. Geiger, Abraham Geiger, 126). Geigers langjähriger Freund Derenburg stellt in seinem Nachruf heraus, dass Geiger die Rabbinerstelle in Breslau annimmt, weil er hofft, dort seinen Plan der Fakultätsgründung realisieren zu können (vgl. Derenburg, Nachruf, 307).

Wissenschaftliche Einrichtungen235 zum Außenseiter. Trotz der finanziellen Möglichkeiten und der aussichtsreichen Ausgangslage scheitert Geigers Plan, den er mit Hilfe der Rabbinerversammlung umzusetzen sucht, ein weiteres Mal und die jüdische Theologie harrt weiterhin ihrer Institutionalisierung.57 Nach der Breslauer Enttäuschung äußert sich Geiger erst wieder im Jahr 1865, also während seiner Frankfurter Zeit, ausführlich zur Thematik. In seinem Aufsatz Was thut Noth? (1864/65) stellt er die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät angesichts der als defizitär empfundenen Situation des gegenwärtigen Judentums abermals als ein dringendes Erfordernis der Zeit dar und schlägt Heidelberg als Fakultätsstandort vor, ohne diesen Gedanken jedoch weiter zu verfolgen. Programmatische Äußerungen, wie man sie in den Fakultätsschriften von 1836 und 1838 findet, werden in diesem Zeitschriften-Aufsatz nicht dargeboten, sodass ein konzeptioneller Vergleich nicht gezogen werden kann.58 Auch 1865 ruft er zur Gründung eines Vereins und zwar konkret zur Errichtung des Vereins für allgemeine Angelegenheiten des Judenthums auf. Die Beschreibung im Aufsatz Was thut Noth? gleicht auf den ersten Blick nicht der Konzeption des zu gründenden Maimonidesvereins von 1836, die Statuten hingegen lassen eine gewisse Parallelität deutlich werden.59 So definiert Geiger als zentrale Intention des Vereins „die Erhaltung und Verbreitung jüdischen Wissens sowie eine würdige wissenschaftliche Vertretung des Judentums durch zweckmäßige Anstalten und Lehrinstitute zu bewirken“ (Se 192)60. Details spart er aus, sodass offen bleibt, inwiefern der Verein die Institutionalisierung der jüdischen Theologie in concreto begleiten respektive befördern soll. Einmal mehr zeigt sich, dass Geiger sich auf konzeptioneller Ebene zwar mit der Institutionalisierung der jüdischen Theologie 57

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Am 18. Dezember 1849 soll Geiger ein „Gesuch um einen Lehrstuhl für jüd. Lit. an der Phil. Fak. in Breslau“ formuliert haben, welches jedoch „am 25. Feb. 1850 abgelehnt“ wird ([N. N.], Art. Abraham Geiger, in: Biographisches Handbuch der Rabbiner, 360). Es verwundert, dass Geiger einen Lehrstuhl für nur eine wissenschaftliche Disziplin fordert, da es konträr zu seiner Forderung einer jüdisch-theologischen Fakultätsgründung steht. Auffällig ist auch, dass dieses Gesuch weder in Geigers Briefen noch in seinen Schriften erwähnt beziehungsweise erläutert wird. Deshalb und weil sich die Authentizität nicht überprüfen lässt, spricht einiges dafür, dass das Gesuch nicht von Geiger stammt. Aus diesem Grund wird es hier vernachlässigt. Geiger betont: „Es ist die Aufgabe unserer Zeit, wissenschaftliche Anstalten zu gründen, an denen die Meister das Judenthum nach allen Richtungen hin wissenschaftliche pflegen und neue Jünger heranbilden“ (WtN 254). So auch Surall, der herausstellt: „[…] so ist unter dem neuen Namen unschwer das alte Projekt des Maimonidesvereins zu erkennen“ (Surall, Abraham Geigers Aufruf zur Gründung eines „Maimonidesvereins“ für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, 422). Der Statutenentwurf des Vereins für allgemeine Angelegenheiten des Judenthums konnte trotz intensiver Recherchen nicht gefunden werden. Daher muss auf den Abdruck in Ludwig Geigers Abraham Geiger zurückgegriffen werden.

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beschäftigt, konkrete, effektive Schritte der Umsetzung jedoch nicht veranlasst beziehungsweise durchführt. So kann den historischen Quellen nicht entnommen werden, ob dem Artikel tatsächliche Maßnahmen zur Realisierung folgen, wenngleich der oben genannte Verein nach Ludwig Geigers Angaben gegründet wird. Vorantreiben oder gar realisieren kann er die Institutionalisierung jedoch auch nicht.61 Geiger äußert demzufolge zwar konsequent den Wunsch der institutionellen Ausformung der jüdischen Theologie, macht zurückhaltende Vorschläge zur Umsetzung, lässt aber keine diesbezüglich wirkungsvollen Handlungen folgen. Auf staatlicher Seite stößt die angstrengte akademische Integration der jüdischen Theologie ohnehin auf Ablehnung, sodass es Mitte der 1860er Jahre so scheint, als ob Geigers Traum einer jüdisch-theologischen Fakultät unerfüllt bliebe.

1.2.2 Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Die folgenden Ausführungen haben nicht den Anspruch, eine umfassende Institutionsgeschichte der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin zu zeichnen, sondern konzentrieren sich auf Geigers Wirksamkeit an der jüdischen Einrichtung und seine Bedeutung für selbige.62 Daraus folgt, dass nur die ersten drei Jahre des Bestehens unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, inwiefern Geigers Ideen umgesetzt, also institutionell realisiert worden sind. Dabei soll die Frage beantwortet werden, ob sich mit der Hochschulgründung Geigers langjähriges Anliegen erfüllt hat. Vorab sollen einige zentrale Rahmen61 62

Ludwig Geiger konstatiert: „Eine gedeihliche Wirksamkeit konnte der Verein indessen nicht entfalten […]. Ein Moment, das gerade damals die gedeihliche Entfaltung des Vereins verhinderte, war der Krieg des Jahres 1866“ (L. Geiger, Abraham Geiger, 193). Da das Archiv der Hochschule bislang verschollen ist, sind Original-Zeugnisse der Hochschule rar. Die erhaltenen Berichte über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums liefern wertvolle und umfassende Informationen und fungieren daher als wichtige historische Quellen (vgl. für den hier zu betrachtenden Zeitraum: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin). Als weitere wichtige Quelle dient die Festschrift zur Einweihung des eigenen Heims. Wenngleich sie im Jahre 1907 veröffentlicht wurde, also nicht aus dem hier zu betrachtenden Zeitraum stammt, beleuchtet sie die Gründung, die Organisation und die Entwicklung der Hochschule und stammt aus der Feder einer ihrer wirkungsvollsten Dozenten (vgl. Elbogen; Höniger, Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums). Vgl. zur Institutionsgeschichte weiterhin vor allem folgende Forschungsliteratur: Braun, „Eine unparteiische Pflanzstätte jüdischen Wissens“; W. P. Eckert, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und Abraham Geiger; Kaufmann, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872–1942); Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869–1900; ders., Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 70–74).

Wissenschaftliche Einrichtungen237 daten zur Gründung angeführt und das Profil skizziert werden, damit die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums an Kontur gewinnt und wenigstens in Ansätzen gewürdigt wird. 1.2.2.1 Gründung Mit dem Wechsel von Frankfurt nach Berlin am Ende des Jahres 1869 eröffnet sich für Geiger die (letzte) Chance, seinen langjährigen Wunsch nach Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums realisieren zu können.63 1862 haben Moritz Lazarus (1824–1903)64, Moritz Veit (1808–1864)65 und Salomon Neumann (1819–1908)66 in Berlin einen Kulturverein zur Förderung der Erforschung des Judentums gegründet, der die „Anregung und Mittel zum weiteren Auf- und Ausbau der Wissenschaft des Judentums darzubieten, die Kenntnis und Pflege desselben zu erweitern und dadurch eine ungetrübte Kunde des Judentums im Kreise der Juden und außerhalb derselben zu verbreiten“67 gesucht hat. Der ideelle Grundstein für die spätere Hochschule der Wissenschaft des Judentums ist dadurch gelegt und wird 1869 durch die Unterstützung des Stadtrats Moritz Meyer finanziell fundiert. Auf der Leipziger Synode (29.6.–4.7.1869) wird schließlich über die Errichtung der wissenschaftlichen Einrichtung diskutiert.68 Geiger äußert sich bereits im Vorfeld der Leipziger Synode zur Thematik und formuliert Thesen, die faktisch jedoch nicht zugrunde gelegt werden. In diesem Kontext betont er, dass „die Frage über die Errichtung einer höheren theologischen Lehranstalt“ (TL 162) in der wissenschaftlichen Sektion zu diskutieren sei. Später stellt er heraus, dass „die Gründung einer höheren Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums“ die „höchste Aufgabe im Interesse der wissenschaftlichen Erkenntniß des Judenthums“ (TL 166) sei. Da die Idee der Berliner Hochschule, die nicht auf Geiger selbst zurückgeht, bereits virulent ist, kann davon ausgegangen werden, dass Geiger sie konkret vor Augen hat und deshalb seine 63 64 65 66 67 68

Vgl. zur Diskussion um Geigers Anstellung in der Berliner Gemeinde: L. Geiger, Abraham Geiger, 200–203. Moritz Lazarus ist der Begründer Völkerpsychologie. Moritz Veit wirkt als Autor, Verleger und Politiker. Salomon Neumann ist Arzt und Statistiker. Zitiert nach: Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 132. Elbogen nennt die Originalquelle des Zitats nicht. Philipson legt dar, dass die Gründung einer wissenschaftlichen Institution auf der Leipziger Synode als dringendes Erfordernis angesehen und infolgedessen eine Kommission gegründet wird, welche die Errichtung einer wissenschaftlichen Einrichtung konzeptionell begleiten soll. Geiger wird neben Philippson, Astrue, Joel und Lazarus in die Kommission gewählt. Geigers Rolle bei der Synode beleuchtet Philipson nicht weiter, sodass unklar bleibt, welchen Anteil Geiger an der Realisierung hat (vgl. Philipson, The reform movement in judaism, 300f).

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Terminologie anpasst, also nicht mehr die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät fordert.69 Abermals zeigt sich, dass Geiger Versammlungen wie Synoden und Rabbinerkonferenzen eine konstitutive Rolle im Planungs- und Vorbereitungsprozess der Errichtung einer wissenschaftlichen Einrichtung zuweist, was ihre Deutung als Institutionen professioneller Reflexion bestätigt.70 Wenngleich Geigers Thesen bei der Leipziger Synode nicht zugrunde gelegt werden, äußert sich die Kommission für höhere Lehranstalten, deren Mitglied Geiger ist, in nahezu gleicher Weise und bezeichnet die „Gründung einer oder mehrerer höherer Lehranstalten für die Wissenschaft des Judentums […]“ als „höchste Aufgabe im Interesse der wissenschaftlichen Erkenntnis des Judentums“.71 Lazarus, der dem Kuratorium der späteren Hochschule angehört und einer ihrer Gründungsväter ist, berichtet auf der Synode über den Entwicklungsstand der Berliner Hochschule, der nach seinem Bekunden durch Fortschritt gekennzeichnet ist. Die Leipziger Synode begrüßt das vorgestellte Konzept und segnet es ab. Der Institutionalisierungsprozess scheint demgemäß an Gestalt zu gewinnen.72 Geigers Beteiligung daran ist allerdings zunächst eher gering, was jedoch nicht nur an ihm selbst liegt, sondern auch daran, dass er quasi übergangen wird. Einmal mehr ist es Philippson, der auch 1869 eine Subskriptionsaufforderung in seinem 69

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Philipson betont bestätigend: „Already at this time plans were under way for the foundation of a theological seminary of a progressive character at Berlin. These plans found fulfilment in the establishment of the Hochschule […] für die Wissenschaft des Judenthums in 1872“ (a. a. O., 301). Auf der Augsburger Synode, die vom 11. bis zum 17. Juli 1871 stattfindet, wird die Errichtung einer wissenschaftlichen Lehranstalt nicht verhandelt (vgl. dazu: a. a. O., 307–328). In § 7 der Resolution der Unterrichtskommission der Leipziger Synode heißt es ausführlicher: „Die Versammlung betrachtet endlich als höchste Aufgabe im Interesse der wissenschaftlichen Erkenntnis des Judentums die Gründung einer oder mehrerer höherer Lehranstalten für die Wissenschaft des Judentums (Theologische Fakultät), und stellt sich selbst als einen ihrer wesentlichen Zwecke, die allgemeine Beteiligung an der Herstellung und Erhaltung derselben zu erwecken. Sie erklärt, daß deren Bedeutung vorzugsweise darin besteht, eine Pflegestätte der freien wissenschaftlichen Erkenntnis zu sein, berufen, das Judentum in seiner geistigen Macht zu ergründen und ihm seinen berechtigten Einfluß auf die gesamte geistige Entwicklung zu gewinnen. Sie ernennt demnach eine Kommission, welche sich mit den bereits hervortretenden Bestrebungen verbindet, um die Herstellung solcher höherer Lehranstalten zu verwirklichen“ (zitiert nach: Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 8 f. Die Resolution der Unterrichtskommission der Leipziger Synode konnte trotz intensiver Recherche nicht gefunden werden, daher wird auf den Abdruck bei Elbogen zurückgegriffen). Auch hier fällt die aus heutiger Sicht irritierende Verknüpfung der Begriffe „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ und „theologische Fakultät“ auf. Demnach entspricht Geigers bisweilen ebenfalls unpräzise Terminologie dem Zeitgeist. Vgl. Brief Geigers an Moritz Lazarus vom 5. Oktober 1869, in: S 5, 325; Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 24.

Wissenschaftliche Einrichtungen239 Periodikum Allgemeine Zeitung für das Judenthum veröffentlicht und dadurch ein finanzielles Fundament zu errichten sucht.73 Noch im gleichen Jahr bilden sich der Trägerverein und ein Komitee, welches in das Kuratorium der künftigen Hochschule übergeht. Die Hochschule wird damit begründet. Aufgrund des deutsch-französischen Krieges verzögert sich die tatsächliche Eröffnung der Hochschule noch um knapp drei Jahre. Geiger weiß um diese Entwicklungen und gibt offen zu, dass er die Rabbinatsstelle in der Berliner Gemeinde nur annimmt, weil er hofft, dort seinen Plan verwirklichen zu können.74 Diese explizite Motivation zeigt, wie wichtig Geiger die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums und die wissenschaftliche Arbeit allgemein sind und dass ihn die amtliche Tätigkeit allein nicht befriedigt, wenngleich er zeitlebens engagiert an ihr festhält. Folgende Formulierung bringt prägnant zum Ausdruck, welche Tragweite der Wechsel nach Berlin für Geiger hat und welche Hoffnungen für ihn damit verbunden sind: „Allein ich glaube, mich meiner Pflicht nicht entziehen zu dürfen, die mich mahnt, dort meine Kräfte zu verwenden, wo die Wirksamkeit weitergreifend und weithin fruchtbar sein kann, und wo sich mir die Aussicht eröffnet, ein Ziel zu erreichen, das ich seit meinem ersten öffentlichen Auftreten anstrebe und vorzubereiten mich bemühe, nämlich die Begründung einer Pflegestätte und Pflanzschule echter jüdischer Wissenschaft, an der ich auch nach dem Maasse meiner Kräfte mitzuwirken vermag.“75 Geiger scheint einer Berufung zu folgen, wenn er nach Berlin geht, was 73 74

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Vgl. Philippson, Die jüdisch-theologische Facultät (3.8.1869), 617; ders., Die Rießersammlung. Philippson will die nicht genutzten Spenden der Riessersammlung in den Fonds zur Errichtung der Lehranstalt einspeisen und fordert seine Leser zur Unterstützung auf. So schreibt er an den Vorstand der Berliner Gemeinde: „Doch ebenso hoch, ja in gewissem Sinne höher steht mir die Aussicht auf lebendige, durch mündliche Belehrung vermittelte Anregung wissenschaftlichen Sinnes und wissenschaftlicher Erkenntniss innerhalb der jüdischen Theologie. […] Da darf ich es auch nicht verschweigen, dass […] ich vielmehr bloss durch die Gründung einer umfassenden theologischen Lehranstalt und meine thätige Betheiligung an derselben mich befriedigt fühlen werde. Weit entfernt bin ich davon, an den wohllöblichen Vorstand die Anforderung zu stellen, dass er die Erfüllung eines solchen Ansuchens mir zusichere, wenn es mir auch zur hohen Freude gereicht haben würde, in der mir gewordenen Berufung ausgesprochen zu finden, dass man die Hoffnung hege, ein solches Institut dort erstehen zu sehen, erwarte, dass ich zu einem solchen Resultate mitwirke und bereitwillig meine Kräfte dazu anbieten werde“ (Brief Geigers an den Vorstand der jüdischen Gemeinde in Berlin vom 6. Oktober 1869, in: S 5, 323). Brief Geigers an den Vorstand der jüdischen Gemeinde in Berlin vom 6. Oktober 1869, in: S 5, 326. In einem Brief an Lazarus formuliert er deutlich die Bedingung für seine Zusage, indem er herausstellt, dass „die bestimmte Aussicht auf die Mitwirkung an einer höheren theologischen Lehranstalt“ als einziges Entscheidungskriterium fungiert. Er fordert recht selbstsicher: „Geben Sie mir die Zusicherung, dass ich von vornherein eine Stellung an derselben einnehme, so bin ich der Ihrige, ohne diese Zusicherung nicht“ (Brief Geigers an Moritz Lazarus vom 5. Oktober 1869, in: S 5, 325).

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

einmal mehr die große Bedeutung der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums hervorhebt. Geiger tritt seinen Dienst in Berlin demnach mit einer großen Erwartungshaltung an und hätte sich eine eindeutige Zukunftsperspektive in Form einer verbindlichen Zusage einer Stelle an der Berliner Hochschule gewünscht, die er freilich nicht bekommt. Auch seine Enttäuschung weil er zunächst nicht in die Planungen der Hochschule einbezogen wird, zeigt, wie sehr ihm die Institutionalisierung am Herzen liegt und dass er sich als kompetenten Ansprechpartner in dieser Angelegenheit sieht.76 Im Jahre 1870 tritt das Komitee an Geiger heran und bittet ihn, sich zur konzeptionellen Gestaltung der wissenschaftlichen Einrichtung zu äußern, woraufhin Geiger einen Lehrplan entwirft und ein kommentierendes Gutachten schreibt. Wieder zeigt sich, dass Geiger die Institutionalisierung konzeptionell begleitet, selbst jedoch keine konstituierenden beziehungsweise initiierenden Maßnahmen ergreift.77 1871 wird Geiger „officiell um […] mitwirkende Lehrthätigkeit“78 gebeten. Ein Jahr später, am 6. Mai 1872 wird die Hochschule der Wissenschaft des Judentums79 schließlich in jüdischer Selbstorganisation in Berlin eröffnet. 1.2.2.2 Profil Im Folgenden gilt es, die konzeptionelle Ausrichtung der Hochschule vorzustellen, also ihr wissenschaftliches Profil zu erhellen. Neben Geiger, der den Lehrstuhl für Geschichte und Literatur des Judentums vertritt, werden Chajim Steinthal (1823– 1899)80 für den Lehrstuhl für Bibelwissenschaft und vergleichende Religionsgeschichte, David Cassel (1818–1893)81 für den Lehrstuhl für semitische Philologie und jüdische Literaturgeschichte und Israel Lewy (1840–1917)82 für den Lehrstuhl

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Im Brief an den Vorstand der Berliner jüdischen Gemeinde schreibt Geiger: „Von diesem Allen habe ich nämlich bloss zufällig gehört, directe Nachricht ist mir nicht geworden […]“ (Brief Geigers an den Vorstand der jüdischen Gemeinde in Berlin vom 6. Oktober 1869, in: S 5, 324). Zu den Sitzungen des Kuratoriums und zum Statutenentwurf, also zur Konstituierung der Hochschule vgl. Philippson, Berlin und die jüdisch-theologische Facultät I–III. Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 26. Dezember 1871, in: S 5, 338. Diesen Namen trägt die Einrichtung von 1872–1883 und von 1922–1933. In den anderen Jahren muss sie auf staatliche Anordnung hin im Zuge der Verleihung der Korporationsrechte die Bezeichnung „Lehranstalt“ tragen, um die Äquivalenz zu deutschen Universitäten wenigstens auf begrifflicher Ebene zu umgehen. Chajim Steinthal ist Sprachwissenschaftler und Philosoph. Die Schreibweise Hajim ist ebenfalls gebräuchlich. David Cassel ist jüdischer Historiker. Israel Lewy ist Talmudist.

Wissenschaftliche Einrichtungen241 für talmudisch-halachische Literatur berufen.83 Verwaltet wird die Hochschule von einem neunköpfigen Kuratorium, welches durch einen Verein zur Erhaltung und Verwaltung der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums unterstützt wird.84 Zunächst nehmen zehn Studenten das Studium, das sich über sechs beziehungsweise acht und später zehn Semester erstreckt, an der jüdischen Hochschule auf.85 Die Zahl der Hörer variiert im Laufe der Zeit in Abhängigkeit zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen erheblich, sodass sie zwischen 10 und 155 Hörern schwankt. Auch wenn die Hochschule prinzipiell nicht-jüdischen Studenten offen steht, nutzen nur wenige dieses Angebot.86 In den Anfangsjahren kommen die Studenten hauptsächlich aus Österreich-Ungarn und den USA, später machen osteuropäische sowie deutsche Juden den größten Anteil an der Hochschule aus.87 Das Studium gliedert sich in ein „Vorstudium (Präparandie)“, ein „Grundstudium“ und eine „Oberstufe mit wissenschaftlicher Spezialisierung“ sowie „fortgeschrittene[n] Seminare[n] und Vorlesungen in den judaistischen Fächern“88 und muss durch obligatorische Universitätsstudien an der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität ergänzt werden. Resultierend aus dem Selbstverständnis der Einrichtung, „alle Zweige der Wissenschaft des Judentums“89 zu repräsentieren, umfasst der erste Lehrplan, welcher vom Lehrerkollegium entwickelt worden ist, eine Bandbreite an Fächern, sodass im Idealfall Vorlesungen zu folgenden Bereichen 83

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Vgl. Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 26–29. Im Laufe der Zeit lehren zahlreiche bekannte Dozenten wie beispielsweise Ismar Elbogen, Hermann Cohen und Leo Baeck an der Berliner Hochschule. Dem ersten Kuratorium gehören folgende Personen an: Herrmann B. H. Goldschmidt, Dr. phil. S. Gumbinner, Professor Dr. M. Lazarus, Kommerzienrat B. Liebermann, Dr. med. M. J. Meyer beziehungsweise aufgrund seines plötzlichen Todes Alexander Wolf, Dr. jur. Paul Meyer, Dr. med. S. Neumann, William Schönlank, Rabbiner Dr. Ludwig Philippson. Vgl. zur Verwaltung der Hochschule ausführlicher: III. Abschnitt (§§ 7–14) und VII. Abschnitt (§§ 32–36) der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 20f, 23 f. Vgl. a. a. O., 26 f. Die Offenheit zeigt sich auch daran, dass Frauen an der Hochschule studieren können, was sie zu Geigers Zeit jedoch nicht tun. Prominenteste Studentin ist Regina Jonas (1902–1944), die 1930 ihr Studium an der Hochschule zunächst als Religionslehrerin beendet und 1935 als erste Rabbinerin Deutschlands ordiniert wird. Vgl. Herlitz, Die „Lehranstalt (Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, 209; Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869–1900, 41–44. Strauss, Die letzten Jahre der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums, 44. § 24 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 22.

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

angeboten werden: „Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums (Encyclopädie und Methodologie)“, „Einleitung in die biblischen Bücher“, „Biblische Exegese“, „Geschichte der Bibel-Auslegung unter den Juden (der Uebersetzungen, der Commentare, Grammatika und Lexika bis zur Gegenwart, Entstehung der Vocalisation und Accentuation, die Massora)“, „Darlegung der religiösen Idee in den biblischen Schriften“, „Geschichte der hebräischen Sprache“, „Einleitung in den Talmud“, „Geschichte der Halacha und der Haggada“, „Geschichte der den Talmud nicht anerkennenden Abzweigungen im Judenthum (Samaritaner, Sadducäer und Böethusen, Karäer)“, „Geschichte der Juden und der jüdischen Literatur“, „Geschichte der jüdischen Religionslehre und Philosophie“, „Stellung und Lehrinhalt und Aufgabe des Judentums in der Gegenwart“, „Vergleichende Religionsgeschichte“, „Ethik und Religionsphilosophie“, „Homiletik“.90 Ergänzend dazu sollen Seminare gehalten werden, in denen die Studierenden das erworbene Wissen eigenständig anwenden und vertiefen können. So soll es beispielsweise Seminare geben, in denen biblische Schriften interpretiert, talmudische und rabbinische Texte gelesen, religionsphilosophische Quellen studiert und homiletische Übungen durchgeführt werden.91 Der Lehrplan muss laut Statut der Hochschule als „ungefähre[ ] Richtschnur“92 aufgefasst werden und nicht als verbindliches Korsett.93 Sowohl den Dozierenden als auch den Studierenden soll demzufolge eine gewisse Lehr- und Lernfreiheit eingeräumt werden, die individuelle Interessen und Neigungen berücksichtigt. Damit zusammenhängend gibt es in den Anfangsjahren keine Studien- und Prüfungsordnungen. 90 91

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Lehrplan der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 25 f. Vgl. a. a. O., 26. Die Auflistung, welche Veranstaltungen tatsächlich angeboten werden, offenbart, dass es solche Seminare zumindest in den Anfangsjahren nicht gibt, sondern ausschließlich Vorlesungen angeboten werden (vgl. Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 27–29). § 31 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 23. Das Lehrerkollegium erläutert weiterhin: „Was wir bieten, ist nicht sowohl ein Lehrplan im vollen Sinne, als vielmehr genau genommen, blos ein Verzeichnis der Disciplinen oder Lehr-Objecte, in welche sich die zu lehrende Wissenschaft gliedert. […] aber nicht blos die Reihenfolge und Gleichzeitigkeit, sondern selbst die Zahl der Vorlesungen oder Semester […] glaubten wir im Voraus nicht bestimmen zu dürfen, bevor uns nicht wenigstens die Erfahrung eines einzigen Cursus zur Seite stände […]“ (Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 25). Philippson grenzt die Hochschule von einem Seminar ab und charakterisiert Letzteres wie folgt: „Ein Seminar befolgt einen ganz detaillierten Lehrplan nach der Art eines Gymnasiums […]“ (Philippson, Die jüdisch-theologische Facultät (3.8.1869), 615f).

Wissenschaftliche Einrichtungen243 Der spätere Dozent für jüdische Geschichte Ismar Elbogen (1874–1943)94 betont, dass der vorgestellte Lehrplan ein Ideal sei, welches an der Realität scheitern müsse und führt begründend an, dass einerseits das Pensum zu umfangreich sei, von den Studierenden demzufolge nicht bewältigt werden könne und andererseits die aufgezeigten Vorlesungen angesichts der finanziellen Begrenztheit der Hochschule nicht angeboten werden könnten.95 Ein Blick auf die ersten Lehrstühle verrät, dass nicht alle Bereiche der Wissenschaft des Judentums von Beginn an tatsächlich vertreten sind, was Elbogens Einschätzung bestätigt. Das Lehrangebot ist de facto vorrangig an den materiellen Bedingungen der Hochschule orientiert. Im Laufe der Zeit wird der Lehrplan darüber hinaus immer wieder an die Umstände, das heißt an die Studentenschaft und die politischen Verhältnisse angepasst. Daraus folgt, dass es nicht den einen obligatorischen und immer gültigen Lehrplan gibt, sondern vielmehr eine gewisse Lehrplanangebotsvarianz. Betrachtet man die Bereiche, fällt auf, dass neben traditionellen Disziplinen der klassischen jüdischen Gelehrsamkeit auch von der Moderne und anderen Fächern befruchtete Disziplinen angeboten werden, was das Bestreben der effektiven Verschränkung von Tradition und Moderne demonstriert. Pluralismus und Universalismus können offenkundig als Leitbegriffe des Lehrplans angesehen werden und verhindern eine Konzentration auf talmudische Fächer, wie sie in den Jeschiboth praktiziert wird. Dem Bedürfnis, ein möglichst breites Feld abzudecken, also dem Universalitätsanspruch gerecht zu werden, soll durch ein vielfältiges Vorlesungsangebot entsprochen werden, wobei dieses an den finanziellen Möglichkeiten scheitert und dementsprechend als ein Ideal aufgefasst werden muss. Weiterhin fällt auf, dass die angebotenen Disziplinen an deutschen Universitäten nicht oder ausschließlich aus christlicher Perspektive gelehrt werden, sodass die Hochschule tatsächlich eine Lücke in der akademischen Landschaft schließt und ein virulentes Desiderat befriedigt. Das Statut der Hochschule deutet ihr Wissenschaftsverständnis an, ohne es jedoch explizit zu machen. Von Völker wird es in offenkundiger Anlehnung an Zunz’ Wissenschaftsprogramm dahingehend interpretiert, dass „von der jüdischen Theologie emanzipierte[ ] Wissenschaft des Judentums“96 betrieben 94

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Ismar Elbogen, jüdischer Historiker, lehrt nach seinem Studium an der Breslauer Universität und dem Breslauer jüdisch-theologischen Seminar am Florenzer Collegio Rabbinico Italiano jüdische Geschichte und Bibelforschung. Ab 1902 wirkt er als Dozent für jüdische Geschichte und Literatur an der Berliner Hochschule und bringt sich maßgeblich in deren Gestaltung ein. 1919 wird ihm der Professorentitel verliehen. 1938 emigriert er in die USA und hat dort in den letzten Jahren eine Forschungsprofessur inne. Seine bekannteste Schrift ist das Standardwerk Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung (1913). Vgl. Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 42 f. Die „erste offizielle Studienordnung“ wird erst 1890 verabschiedet (a. a. O., 48). Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869–1900, 30. Zunz hat stets für eine von der jüdischen Theologie losgelöste Wissenschaft

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werden soll. Eine Engführung auf theologische Fragestellungen soll demnach vermieden und überdies die religiös-subjektive Bindung aufgelöst werden. Die Hochschule will offensichtlich eine jüdisch-theologische Fakultät überbieten und einem religiösen Charakter entgegenwirken, was sich im breiten Fächerangebot und dem intendierten Hörerkreis widerspiegelt. So soll sich die Studentenschaft idealiter nicht nur aus Theologen und außerdem nicht nur aus Juden rekrutieren.97 Der gewählte Name „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und die damit verbundene Absage an die jüdische Theologie bringen das Selbstverständnis ebenfalls zum Ausdruck.98 Diese kulturwissenschaftliche Ausrichtung

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des Judentums plädiert, wie folgende Äußerung exemplarisch zeigt: „Unsere Wissenschaft soll sich […] zunächst von den Theologen emanzipieren und zur geschichtlichen Anschauung erheben […]“ (Zunz, Die jüdische Literatur, 57).Vgl. zu Zunz’ Wissenschaftsverständnis Kapitel 1.1 des III. Hauptteils. Elbogen verdeutlicht das universale Wissenschaftskonzept der Hochschule, indem er den Gründungsplan der Hochschule zitiert: „Die gesamte Wissenschaft des Judentums ist nicht bloss die Wissenschaft seiner Theologie; die Geschichte der Juden z. B. oder die Geschichte der jüdischen Literatur, selbst die semitischen Sprachstudien treten aus dem Rahmen einer theologischen Fakultät heraus. Alle Erzeugnisse und Schicksale des jüdischen Geistes, sein Beruf und seine Entwicklung, seine Berührung und Durchdringung mit dem Geiste anderer Völker, seine Teilnahme an der theoretischen und praktischen Entwicklung des Geistes und seine Stellung in der Geschichte der Menschheit – dies alles wird von der gesamten Wissenschaft des Judentums umfasst, aus den Schätzen seiner eigenen oder fremden Literatur erforscht und in verschiedenen Disziplinen gelehrt“ (zitiert nach: Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 133. Der Gründungsplan selbst konnte trotz intensiver Recherchen nicht gefunden werden.). Philippson reflektiert, warum die Gründungsväter der Hochschule die gängige Bezeichnung „jüdisch-theologische Facultät“ aufgeben und durch den Terminus „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ ersetzen, der nach Philippsons Ansicht Unklarheit stiftet. Er sucht dieses Vorgehen zu erklären und schreibt, dass „in unserer Zeit Theologie und Theologen in Mißcredit gerathen sind […]“. Und folgert entsprechend: „Man wählte daher einen Ausdruck, vor welchem alle Vorurtheile schwinden und gegen den nur Einwendungen streng doctrinärer Art erhoben werden können“. Dennoch bleibt er selbst bei dem seit 32 Jahren geläufigen Begriff und spricht im Kontext der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums stets von einer „jüdisch-theologischen Facultät“. Er stellt dazu heraus: „Für uns hat dies allerdings keine Bedeutung, aber wir gestatten uns deshalb vorläufig noch den hergebrachten Namen anzuwenden“ (Philippson, Berlin und die jüdisch-theologische Facultät II, 22). Elbogen äußert sich zur Problematik der Namensgebung ebenfalls und schreibt: „Ob die Lehranstalt den Namen und den Charakter einer Fakultät trägt, darauf kommt es wenig an, wichtig ist, daß ihr die Attribute und die Ausdehnung einer Fakultät nicht fehlen, daß ihre Lehrstühle voll besetzt und alle Lehrgegenstände selbständig durch Fachmänner bearbeitet werden“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 95). Darüber hinaus stellt er heraus: „Viele Berührungspunkte hatte die Hochschule mit der seit langer Zeit vorgeschlagenen jüdischtheologischen Fakultät; ihrer Verfassung und ihren Aufgaben nach sind sie fast identisch. Was hat die Gründer dabei geleitet, diesen Namen, der durch Jahrzehnte lange Propaganda einen volkstümlichen Klang hatte, zu verwerfen? Er hätte sicherlich über das Wesen und die Ziele

Wissenschaftliche Einrichtungen245 erinnert unweigerlich an Zunz und den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, welche, das sei im Vorgriff auf Kapitel 1 des III. Hauptteils schon konstatiert, stets eine von der Theologie losgelöste Wissenschaft des Judentums fordern.99 Dennoch ist das theologische Profil offenkundig, da beispielsweise Disziplinen wie jüdische Malerei und Musik nicht angeboten werden, obwohl auch sie Ausdruck des jüdischen Geistes, der jüdischen Kulturproduktivität sind.100 Das erlaubt freilich die kritische Rückfrage, ob tatsächlich „alle Zweige der Wissenschaft des Judentums“101, wie es das Statut fordert, durch das Lehrangebot abgedeckt werden und was grundsätzlich unter Wissenschaft des Judentums zu verstehen ist, welche Disziplinen die Hochschule darunter fasst. Weiterhin stellt sich in Anlehnung an Völkers Interpretation unweigerlich die Frage, wie weit der Begriff „Theologie“ zu fassen ist, welche Bereiche also darunter zu subsumieren sind. Präzise definitorische Bestimmungen sucht man im Statut jedoch vergeblich, sodass das zugrunde gelegte Wissenschaftsverständnis unscharf bleibt und ergo die „Zweige der Wissenschaft des Judentums“ nicht exakt benannt werden. Die aufgeworfenen Fragen bleiben unbeantwortet. Schnell kommt daher der Eindruck auf, dass Konzeption und Präsentation der Hochschule vorrangig der dezidierten Abgrenzung zum Breslauer Seminar, welches sich explizit als jüdischder Anstalt leichthin Aufklärung geboten und ihr manchen Kampf gegen Unkenntnis und Vorurteil erspart. Der Umfang der Studien der neuen Hochschule sollte über die Grenzen der Theologie hinausreichen“ (a. a. O., 11). 99 Zunz und der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden werden in nahezu jeder Abhandlung über die Berliner Hochschule genannt, insofern zahlreiche Berührungspunkte herausgestellt werden. Freilich gibt es Parallelen zwischen dem Wissenschaftsprogramm des Kulturvereins und der intendierten, das heißt idealen Konzeption der Berliner Einrichtung. Betrachtet man die tatsächliche Umsetzung, überwiegen jedoch eher die Unterschiede. Dass Zunz trotz mehrmaliger Gesuche weder ein Gutachten für die Hochschule schreibt noch die Festrede bei der Eröffnungsfeier hält, spricht für sich und unterstützt die Auffassung, dass der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gewiss nicht als ideale Institutionalisierungsform seiner Vorstellungen betrachtet hätte. So darf auch nicht vergessen werden, dass Zunz die Etablierung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an der Berliner Universität gefordert und sich vehement gegen selbstständige Einrichtungen und den Zweck der Rabbinerausbildung gewehrt hat, weshalb er auch dem Breslauer jüdisch-theologischen Seminar distanziert gegenübersteht (vgl. dazu: Kapitel 1 des III. Hauptteils). 100 Philippson, der Kuratoriumsmitglied der Hochschule ist, hält beispielsweise an der Bezeichnung „jüdisch-theologische Facultät“ fest und schreibt entsprechend, dass die Berliner Hochschule „alle jüdisch-theologischen Disciplinen in Vorlesungen lehren“ solle, was die theologische Ausrichtung der Hochschule widerspiegelt (Philippson, Berlin und die jüdischtheologische Facultät II, 21f). 101 § 24 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 22.

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theologisches Seminar bezeichnet, und zu den Jeschiboth geschuldet sind. Denn faktisch werden an der Berliner Hochschule theologische Disziplinen gelehrt und theologische Fragestellungen erforscht, wenngleich daneben auch über die Theologie hinausgehende Themen beleuchtet werden. Vermutlich soll eine gewisse Offenheit und Universalität suggeriert werden, um viele Studierende zu interessieren und darüber hinaus möglichst weltläufig und interdisziplinär zu erscheinen. Die Hochschule ist bestrebt, ein eigenes Profil zu etablieren, das sie von bereits existierenden Einrichtungen abhebt. Völkers Wendung „von der jüdischen Theologie emanzipierte[ ] Wissenschaft des Judentums“, die zugegebener Maßen missverstanden werden kann, wenngleich sie dem ursprünglichen Selbstverständnis der Institution entspricht, kann folglich dahingehend entschlüsselt werden, dass eine Reduktion auf die jüdische Theologie unerwünscht ist, der generelle Ausschluss theologischer Fragestellungen und Perspektivität jedoch ebenfalls. Die Hochschule zeichnet sich demzufolge durch einen breiten kulturwissenschaftlichen Fächerkanon aus, der die Theologie zwar inkludiert, sich aber nicht in ihr erschöpft. Im direkten Zusammenhang dazu betont die Hochschule stets, dass sie sich nicht ausschließlich als Ausbildungsstätte für Rabbiner verstehe, dass sie demzufolge nicht nur berufsbildenden Zwecken und praktischen Bedürfnissen jüdischer Gemeinden verpflichtet sei. Dieses Selbstverständnis ist auch in der Satzung der jüdischen Einrichtung verankert, in der die Intention der wissenschaftlichen Institution mit „Erhaltung, Fortbildung und Verbreitung der Wissenschaft des Judentums“102 beschrieben wird. Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums soll demzufolge die Wissenschaft des Judentums durch Forschung und Lehre weiterentwickeln, stabilisieren, sie schließlich in den intellektuellen Diskurs einspeisen und dort als gleichwertige Disziplin etablieren. Der Selbstzweck der Wissenschaft des Judentums soll an der wissenschaftlichen Einrichtung fokussiert und kultiviert werden und nicht durch eine verabsolutierte praktische Funktionalität in Form der Ausbildung aufgehoben werden. Das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, das nicht unmittelbar für die religiöse Praxis nutzbar gemacht werden soll, wird demzufolge hoch angesetzt und dem berufsbildenden Zweck nebengeordnet. Die Hochschule versteht sich demnach nicht nur als Nachwuchsschmiede gemeindlichen Führungspersonals, was im unmittelbaren Nexus zum Anspruch einer „von der jüdischen Theologie emanzipierten Wissenschaft des Judentums“ betreiben zu wollen steht. Offenkundig wird hier „Theologie“ jedoch auf ihren praktischen Zweck der Ausbildung reduziert, was gewiss zu kurz greift. 102 § 2 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 20.

Wissenschaftliche Einrichtungen247 Dahinter steht freilich die Abgrenzungstendenz zum Breslauer Seminar, das sich primär als Rabbinerausbildungsstätte versteht.103 Wenngleich die Hochschule bestrebt ist, der fachwissenschaftlichen und beruflichen Bildung gleichermaßen Raum zu geben und die Wissenschaft des Judentums als solche zu pflegen, entwickelt sie sich im Laufe der Zeit doch zu einem beziehungsweise zu dem liberalen Rabbinerseminar, was vorrangig mit den geringen alternativen beruflichen Perspektiven der Absolventen zusammenhängt.104 So bieten sich einem jüdischen Gelehrten so gut wie keine adäquaten Tätigkeitsfelder. Die Studierenden, die vornehmlich der jüdischen Religion angehören, besuchen die Berliner Hochschule daher in erster Linie, um „Rabbiner[ ], Prediger[ ] und Religionslehrer[ ]“105 zu werden und eben nicht, um die Wissenschaft des Judentums um ihrer selbst willen zu studieren oder um Gelehrte zu werden. Die Berliner Hochschule trägt faktisch zur Institutionalisierung, Professionalisierung und Akademisierung der Rabbinerausbildung bei.106 Das reine Wissenschaftsideal scheitert dagegen an der Realität. Wenngleich der praktische Zweck der Rabbinerausbildung sicherlich überwiegt, befördert die Hochschule aber auch die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums, was durch zahlreiche anerkannte Forschungsarbeiten ihrer Dozenten und vereinzelt auch ihrer Studenten deutlich wird. Viele der an der Hochschule arbeitenden Lehrenden können gerade auch in der Retrospektive als herausragende Vertreter der Wissenschaft des Judentums bezeichnet werden. Sie haben durch ihre wissenschaftliche Arbeit maßgeblich zur Ausgestaltung der noch jungen Disziplin beitragen und ihr Profil mitgeprägt.107

103 Philippson betont: „Die jüdisch-theologische Fakultät ist durchaus nicht mit einem ‚jüdischtheologischen Seminar‘ zu verwechseln. Das erstere hat einen zweifachen Zweck: die vielseitige Ausbildung der jüdischen Lehrer, der Rabbiner, Prediger und höheren Lehrer, und die wahrhafte Pflege der jüdischen Wissenschaft“ (Philippson, Die jüdisch-theologische Fakultät (3.8.1869), 615). 104 Vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 72. 105 Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 47. Völker erläutert, dass ca. 30% der Studierenden eine Rabbinatsstelle übernehmen (vgl. Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869–1900, 45). 106 Die Rabbinerausbildung verlief bis ins 19. Jahrhundert hinein unstandardisiert, das heißt, dass es weder Curricula und Prüfungsordnungen gab, welche die Ausbildung inhaltlich strukturierten und die Leistungsanforderungen für die Verleihung des Rabbinerdiploms formulierten, noch einen konkreten Ausbildungsgang für Rabbiner (vgl. Brämer, Die Anfangsjahre des Jüdisch-Theologischen Seminars, 99f). 107 Exemplarisch seien hier nur Ismar Elbogen, Hermann Cohen, Leo Baeck und Max Wiener erwähnt (vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland; Kaufmann, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872–1942), 54–57).

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Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft

Die Wissenschaftlichkeit fungiert als Leitparadigma der Einrichtung, was neben dem methodischen Ansatz, der als historisch-kritisch beschrieben werden kann, auch anhand der Anforderungen, die an Dozenten und Studenten gestellt werden, ersichtlich wird. So müssen die Lehrenden einen akademischen Grad, konkret den Doktortitel, haben und die Studierenden über die Hochschulreife verfügen.108 Die gewählte Bezeichnung der Einrichtung als „Hochschule“ suggeriert ebenfalls ein gewisses wissenschaftliches Niveau. Es erweckt den Anschein, dass die jüdische Hochschule in bewusster Analogie zu etablierten institutionellen Strukturen konstruiert wird, um Akzeptanz und Anerkennung zu bekommen. Denn die formale Vergleichbarkeit zu deutschen Universitäten oder kirchlichen Hochschulen erhöht die Chance der Akzeptanz und Würdigung. Die jüdische Einrichtung muss den gängigen Anforderungen wissenschaftlicher Institutionen entsprechen, wenn sie als vollwertige Größe in der akademischen Landschaft und im wissenschaftlichen Diskurs akzeptiert werden will. Ausgehend vom Anspruch der Wissenschaftlichkeit kann die Unabhängigkeit vom Staat, aber auch von jüdischen Gemeinden und synagogalen Verwaltungen und die daraus resultierende Freiheit in Forschung und Lehre, als ein weiteres charakteristisches Merkmal der Hochschule genannt werden.109 Elbogen bezeichnet die Hochschule dementsprechend als „unparteiische Pflanzstätte der Wissenschaft“110. Diese so stark gemachte Interdependenz markiert einen entscheidenden Unterschied zu deutschen Universitäten, die trotz der Wissenschaftsfreiheit in finanzieller Abhängigkeit zum Staat stehen und zu kirchlichen Hochschulen, die sich in Dependenz zu den Kirchen befinden. Aufgrund dieser gewünschten Unabhängigkeit und Selbstständigkeit ist das Bestehen der jüdischen Einrichtung im Laufe der Zeit, vorrangig in den Anfangsjahren, auch durch finanzielle Probleme bedroht, sodass die Hochschule trotz des Bestrebens nach Autonomie auf Schenkungen und Stiftungen angewiesen ist, zumal gemäß jüdischer Tradition 108 Vgl. § 15 und § 26 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, S. 21 f. Wiese ist der Auffassung, dass die Hochschule der Wissenschaft des Judentums in evidenter Anlehnung an deutsche Universitäten „jüdischen wie nicht-jüdischen Akademikern einen fundierten Zugang zur jüdischen Tradition und Geschichte zu vermitteln“ sucht (Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 71). 109 In § 1 der Hochschulstatuten heißt es: „Unter dem Namen: ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums‘ wird zu Berlin eine selbstständige, von den Staats-, Gemeinde- und Synagogen-Behörden unabhängige Lehranstalt begründet“ (§ 1 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 20). 110 Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 13.

Wissenschaftliche Einrichtungen249 keine Studiengebühren erhoben werden.111 Bis zu ihrer Schließung hält die Hochschule trotz zum Teil gravierender Schieflagen an ihrem Interdependenz-Ideal fest und bewahrt ihre Unabhängigkeit zu jüdischen Gemeinden.112 Und auch, wenn die ersten Kuratoriumsmitglieder zum Teil mit dem liberalen Judentum sympathisieren und Geiger als liberaler Rabbiner und prominenter Repräsentant dieser religiösen Strömung an der Konzeption der Hochschule beteiligt und als Dozent tätig ist, betont die Einrichtung immer wieder ihre Unabhängigkeit im Hinblick auf die verschiedenen religiösen Richtungen des Judentums, was mit dem stets hervorgehobenen nicht-religiösen Charakter der Hochschule korreliert.113 Anschauungen sollen den eigenen wissenschaftlichen Forschungen entwachsen und nicht qua Zugehörigkeit zu einer religiösen Strömung gesetzt sein beziehungsweise von der Leitung vorgegeben werden. Daher wird auch der Direktorenposten an der Berliner Einrichtung nicht besetzt und auf diese Weise eine größere positionelle Vielfalt und Gleichberechtigung ermöglicht. Die Hochschule soll kein vom Direktor vorgegebenes theologisches Profil aufoktroyiert bekommen, wie es beispielsweise in Breslau durch Frankels prägende Leitungstätigkeit offenkundig der Fall ist.114 Die propagierte Freiheit der Wissenschaft, die sich auch in einer Lehr- und Meinungsfreiheit ausdrückt, soll durch die Berliner Hochschule institutionell gestützt werden und markiert einen weiteren entscheidenden Unterschied zu den religiös verfassten Rabbinerseminaren. Auch die Leitvorstellung einer religiösen Unabhängigkeit muss in der Retrospektive als ein bloßes Ideal entlarvt werden. Denn so spielt zwar bei der Berufung der Dozenten 111 Anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Hochschule konstatiert Elbogen nüchtern: „So arm wie die Hochschule hat keine gleichartige Anstalt begonnnen – nur an Gegnern war sie reich“ (Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 134). Vgl. zur finanziellen Erhaltung der Hochschule Abschnitt II (§§ 5 und 6) der Statuten (§ 5 und 6 der Statuten der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 20). 112 Vgl. Braun, „Eine unparteiische Pflanzstätte jüdischen Wissens“, 122; Völker, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, 206. 113 Elbogen konstatiert in diesem Zusammenhang: „Die Hochschule, welche parteilos ins Leben trat, welche keiner Partei dienen, keiner zuliebe und keiner zuleide verwaltet sein wollte, hat alle Parteien zu Feinden gehabt“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 14). Ab 1892 erhält die Hochschule schließlich doch finanzielle Unterstützung von der Berliner jüdischen Gemeinde, wendet sich aber strikt gegen eine „Übernahme der Hochschule in Eigentum und in die Verwaltung der Gemeinde“ (a. a. O., 74). 114 Philippson grenzt die Hochschule von einem Seminar ab und charakterisiert dieses wie folgt: „Ein Seminar […] steht unter der straffen Leitung eines Mannes, des Direktors. Sie ist dadurch von der Richtung, dem Charakter, den Ansichten und Kräften eines einzigen Mannes abhängig, prägt der Anstalt einen durchaus bestimmten und einseitigen Charakter auf […]“ (Philippson, Die jüdisch-theologische Fakultät (3.8.1869), 615f).

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die Glaubensrichtung keine Rolle, wird also nicht als Einstellungskriterium veranschlagt, die zunächst angestrebte doppelte Besetzung der Lehrstühle, welche die Unabhängigkeit von den verschiedenen Strömungen sichern soll, kann jedoch nicht durchgehalten werden.115 Wenngleich man sich um religiöse Unabhängigkeit bemüht, ist die Berliner Hochschule gerade auch in Abgrenzung zu anderen jüdischen Einrichtungen die zentrale, weil einzige wissenschaftliche Institution und damit Repräsentantin des liberalen Judentums beziehungsweise des Reformjudentums in Deutschland und wird zumindest in der Außenperspektive stets so wahrgenommen. Die Lehrinhalte und der methodische Ansatz spiegeln explizit eine liberale Gesinnung wider und auch vielen Dozenten kann trotz der propagierten Wissenschaftsfreiheit ihre liberale Position nicht abgesprochen werden.116 Prominentestes Beispiel hierfür ist Leo Baeck. An dieser Stelle muss auf die Skizzierung der weiteren Entwicklung der Berliner Einrichtung verzichtet werden. Die folgende Äußerung eines Studenten mag genügen, um ihre spannungsvolle und schwierige Geschichte anzudeuten: „Die Hochschule […] spiegelt in ihrer institutionellen Geschichte das gebrochene Verhältnis des deutschen Wissenschaftsestablishments zur jüdischen Wissenschaft wider.“117 Diese Aussage erklärt, dass die geschichtliche Entwicklung der Hochschule und damit einhergehend auch die Ausprägung der Wissenschaft des Judentums durch (wissenschafts)politische Umstände des Makrokosmos kontinuierlich beeinträchtigt worden ist und dass die Hochschule stets um Anerkennung und Gleichberechtigung hat kämpfen müssen, die ihr während ihres Bestehens jedoch konstant verwehrt worden ist.118 Abschließend kann festgehalten werden, dass die Berliner Hochschule für einige Jahre eine akademisch relevante, wenn auch 115 Vgl. Braun, „Eine unparteiische Pflanzstätte jüdischen Wissens“, 122; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 71–74. 116 Exemplarisch sei auf folgende Titel verwiesen, welche die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums als wissenschaftliche Institution des Reformjudentums darstellen: W. P. Eckert, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und Abraham Geiger, 261; Strauss, Die letzten Jahre der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums, 38f; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 69–74, bes. 72. 117 Strauss, Die letzten Jahre der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums, 36. Anlässlich der Einweihung des neuen Heims konstatiert Elbogen: „Und die Geschichte der Hochschule ist in der Tat eine dornenvolle gewesen, ein ständiges Ringen gegen Vorurteil und Böswilligkeit, ein ununterbrochener Kampf gegen Hemmungen und Hindernisse. Jeder Schritt vorwärts mußte in heißem Mühen erstritten werden, und was heute nach langem, rastlosem Streben gewonnen ist, kann erst die Grundlage bilden, auf der künftige Geschlechter weiter bauen“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 1). 118 Im Jahre 1940 wurde die Hochschule neben dem Breslauer Seminar als „Anstalt von Universitätscharakter […]“ von der amerikanischen Regierung anerkannt, was ihr internationales Ansehen zum Ausdruck bringt (Baeck, Letters from War-Time Berlin, 353).

Wissenschaftliche Einrichtungen251 nicht im vollen Umfang staatlich anerkannte Einrichtung im deutschen Judentum gewesen ist. Sie hat maßgeblich zur Pflege und liberal ausgerichteten Profilierung der Wissenschaft des Judentums beigetragen, gut ausgebildete Rabbiner, Prediger und Lehrer hervorgebracht, zur Verbreitung und Etablierung des Begriffs „Wissenschaft des Judentums“ beigetragen und kann daher als zentrale Größe der jüdischen Wissenschaftsgeschichte bezeichnet werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass sie einzig auf jüdischer Initiative, Verantwortung und Finanzierung fußte, können ihre Wirksamkeit und Leistungen nicht hoch genug geschätzt werden. Die Hochschule ist 1942 durch die Nationalsozialisten geschlossen worden.119 1.2.2.3 Bedeutung Nach den allgemeinen Ausführungen zur Hochschule für die Wissenschaft des Judentums soll der Fokus nun stärker auf Geigers Wirksamkeit an der wissenschaftlichen Einrichtung gerichtet werden. Dabei wird vornehmlich beleuchtet, welche Bedeutung die Hochschule für Geiger und welche Bedeutung Geiger für die Hochschule hat und letztlich geklärt, ob sein Wissenschaftsbegriff in ihr institutionalisiert ist. Wie bereits dargelegt, entwirft Geiger auf Anfrage des Kuratoriums hin einen Lehrplan für die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, begleitet die Gründung der wissenschaftlichen Einrichtung demnach konzeptionell und speist so seine eigenen Ideen in die Hochschulprogrammatik ein. Er erwartet, dass er als Dozent an der Lehranstalt tätig sein kann und macht seinen Wechsel von der Frankfurter in die Berliner Gemeinde davon abhängig. Schließlich wird Geiger auch in das erste Lehrerkollegium der Hochschule berufen und bekommt den Lehrstuhl für Geschichte und Literatur des Judentums. Der 1875 in seinem Periodikum Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben veröffentlichte Aufsatz Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ fungiert als zentrales, weil in diesem Umfang einziges Zeugnis Geigers, in dem er seine Lehrtätigkeit an der Hochschule und den derzeitigen Entwicklungsstand der Wissenschaft des Judentums reflektiert.120 Seine Lehrtätigkeit erstreckt sich über fünf Semester, vom Sommer 1872 bis zum Sommer 1874. Geigers Lehrdeputat beträgt in den ersten beiden Semestern drei Stunden, danach sechs oder sieben Stunden in der Woche. Folgende Vorlesungen 119 Vgl. dazu: Strauss, Die letzten Jahre der Hochschule (Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums; Völker, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 120 Bereits 1874 wird der Artikel im Ersten Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin veröffentlicht. Geiger blickt in einem ersten Bericht auf das Sommersemester 1872 und das Wintersemester 1872/73, in einem zweiten Bericht auf das Sommersemester 1873 und das Wintersemester 1873/74 zurück.

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hält er mehrfach an der Berliner Hochschule: Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, Einleitung in die biblischen Schriften, Interpretation der Genesis, Erläuterung des „Mischna Aboth“, Das Buch Josua.121 Bis auf die Interpretation der Genesis und Das Buch Josua sind alle gehaltenen Vorlesungen in den Nachgelassenen Schriften posthum publiziert. Die beiden Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums und Einleitung in die biblischen Schriften hält Geiger in jedem Semester. Welche Relevanz die Lehrverpflichtung für ihn hat, zeigt folgende Äußerung: „Was mich betrifft, so kann ich nicht die Zeit aufwenden, die ich gerne dieser Tätigkeit widmen möchte. […] Gerne möchte ich nun noch mehr lesen, aber ich darf mir nicht zu viel aufbürden.“122 Seine Worte spiegeln eindrücklich wider, welch große Freude ihm die Arbeit an der wissenschaftlichen Einrichtung bereitet und lassen erahnen, wie viel ihm die Hochschule und damit einhergehend auch die Wissenschaft des Judentums bedeuten. Wie wichtig Geiger neben der amtlichen Tätigkeit als Rabbiner, die er stets parallel zur Arbeit an der Hochschule versieht, die Anbindung an die Berliner Hochschule ist, zeigen bereits seine Verhandlungen mit der Berliner Gemeinde vor seiner dortigen Wirksamkeit. Dass er die Annahme des Rabbinats von der Zusicherung eines Lehrstuhls an der wissenschaftlichen Institution abhängig macht, reflektiert, wie entscheidend die doppelte Wirksamkeit als Rabbiner und Wissenschaftler und die dadurch bedingte Verbindung von Theorie und Praxis für ihn sind. In seinen letzten Lebensjahren steht die von ihm so geschätzte Vorlesungstätigkeit offenkundig im Mittelpunkt seiner Wirksamkeit und fungiert für ihn als wahre Erfüllung.123 Daraus kann geschlussfolgert werden, dass er die Einheit von Forschung und Lehre der Wissenschaft des Judentums, die es nur in Form einer wissenschaftlichen Institution gibt, hochhält und ihn die Forschung allein ergo nicht restlos befriedigt. Wenngleich Geigers Äußerungen über die Hochschule einen durchweg positiven Tenor haben, 121 Curatorium der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums (Hrsg.), Erster Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, 27–29; dass. (Hrsg.), Zweiter Bericht über die Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums in Berlin, 37. Vgl. auch Geigers eigene Reflexionen zu seiner Vorlesungstätigkeit: Geiger, Meine Wirksamkeit an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“. 122 Brief Geigers an Wechsler vom 25. November 1872, in: S 5, 355. Geigers Äußerung wird durch Elbogens Aussage bekräftigt, sodass Selbst- und Fremdwahrnehmung übereinstimmen. Elbogen konstatiert: „Diese hervorragende Liebe zu seinem Lehramt gewährte Geiger die Kraft, neben ausgebreiteten anstrengenden Amtspflichten eine emsige, vielseitige Lehrtätigkeit zu entfalten. […] Geiger arbeitete mit jener freudigen Hingebung, welche alle Schwierigkeiten überwindet. […] Seine Lehrtätigkeit gewährte ihm Erhebung und Befriedigung, bot ihm die willkommene Anregung, längst gewonnene wissenschaftliche Resultate zu ordnen und durchzuarbeiten, den Zwang, alte Forschungen abzurunden“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 31). 123 Vgl. L. Geiger, Einleitung zum vierten Abschnitt: Frankfurt und Berlin 1863–1874, 278.

Wissenschaftliche Einrichtungen253 betrachtet er die Situation realistisch und benennt noch bestehende Defizite, wie folgende Äußerung exemplarisch darlegt: „Es ist nun hier eine ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‘ gegründet worden; sie ist noch eine schwache Pflanze, sie bewegt sich noch materiell wie geistig unsicher.“124 Geiger erkennt bei aller Euphorie, dass sich die Hochschule noch im Entwicklungsprozess, in der Erprobungsphase befindet und vor allem in finanzieller Hinsicht Unwägbarkeiten ausgesetzt ist. Er betrachtet den Status der Hochschule also durchaus nüchtern, ist sich demnach darüber im Klaren, dass es sich noch nicht um eine etablierte, stabile Institution handelt, sondern eher um ein Pilotprojekt. Die Unsicherheit wird nach Geigers Einschätzung zweifach genährt: zum einen durch die finanzielle Lage, die der gewünschten Unabhängigkeit geschuldet ist, und zum anderen durch die noch flexible konzeptionelle Ausrichtung. Es leuchtet ein, dass das in der Theorie entwickelte Profil der Einrichtung der Prüfung in der Praxis bedarf und erst längerfristig abzusehen ist, ob die Konzeption der Realität standhält und Erfolg stiftet. Denn wirkliche Vorbilder, an denen sich die Hochschule auf jüdischer Seite orientieren und auf dessen Erfahrungswerte sie zurückgreifen könnte, gibt es nicht. Festzuhalten ist demnach, dass Geiger mit großer Freude und Engagement seine Lehrtätigkeit an der Berliner Hochschule ausübt und sich dabei nicht von bestehenden (Anfangs)Schwierigkeiten der jungen Institution abhalten lässt. Nachdem deutlich geworden ist, welche Relevanz Geiger seiner Tätigkeit an der Hochschule beimisst, soll im Folgenden ermittelt werden, wie seine Rolle an der Berliner Einrichtung eingeschätzt wird, wie er demzufolge von anderen wahrgenommen wird.125 Eine kleine Auswahl an Äußerungen mag genügen, um Geigers Stellenwert zu eruieren. Wenngleich die Äußerungen allesamt in der Retrospektive und von Personen, die ihm positionell nahe stehen, formuliert wurden, folglich einem Nachruf gleichen, spiegeln sie seine Bedeutung für die Hochschule wider. Elbogen expliziert 1907 im Kontext der Einweihung des eigenen Heims, welche Bedeutung Geiger für die Berliner Hochschule hatte und stellt beispielsweise heraus: „Für die Hochschule war es ein hoher Vorzug, daß ein Lehrer in ihr Kollegium eintrat, der auf eine lange, ehrenvolle wissenschaftliche 124 Brief Geigers an L. R. Bischoffsheim vom 8. Oktober 1872, in: S 5, 351 f. Auch folgende Äußerung deutet auf die finanzielle Unsicherheit hin: „Man empfindet in unseren Verhältnissen überall den Mangel an einem Nachwuchse tüchtiger Theologen. Dem soll nun die hiesige Hochschule abhelfen. Aber auch sie ist noch erst im Werden begriffen. An wackeren Zuhörern fehlt es nicht und ihre Zahl würde sich noch bedeutend vermehren, aber es fehlt noch an der materiellen Unterstützung für dieselbe, da die Armen mehr dem Fache sich widmen“ (Brief Geigers an Wechsler vom 25. November 1872, in: S 5, 355). 125 Vgl. dazu auch die Reden, die anlässlich Geigers 100. Geburtstages in der Berliner Hochschule gehalten wurden: Elbogen; Klein, Reden bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910).

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Laufbahn zurückblickte, dessen Schriften ganz neue Einblicke in die Entwicklung des Judentums und seiner Literatur eröffnet hatten, der nun die Ergebnisse einer überaus fruchtbaren Lebensarbeit vortragen konnte.“126 Geigers wissenschaftliche Leistungen, die beim Eintritt in die Hochschule aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seiner großen Produktivität beträchtlich waren, wurden demzufolge hoch geschätzt und anerkannt. Die Hochschule konnte von seinem unermüdlichen Einsatz für die Wissenschaft des Judentums, seinem ausgeprägten wissenschaftlichen und theologischen Sachverstand, seiner jahrelangen literarischen Tätigkeit und seinem kritischen Gegenwartsbewusstsein nur profitieren. Und so sind Geigers Erfahrung, seine wissenschaftliche Kompetenz und Gediegenheit und seine Reputation der Hochschule gewiss zugute gekommen und haben ihre Entwicklung positiv befördert. Sein theologisches Profil fungierte zwar nicht wie in Breslau als Ausschlusskriterium, war aber durchaus auch ein Diskussionsgegenstand. Geiger war zur Zeit seiner Ernennung prominenter Repräsentant der Reformbewegung und wusste seine Anhänger zu mobilisieren, was für die Rekrutierung von Studenten und den Ruf der Hochschule generell von Vorteil war, jedoch auch kritisch gesehen wurde, da es konträr zur intendierten Unabhängigkeit und Parteilosigkeit stand. Geigers Feststellung: „Die Wissenschaft muss frei sein und darf nicht einer einzelnen Richtung zu eigen gegeben werden […]“127 und seine Popularität wird die Kritiker vermutlich milde gestimmt haben. Seine Berufung konnte demnach auch für die Hochschule als Gewinn bezeichnet werden. Elbogen konstatiert entsprechend, dass Geiger „als eine Zierde gewirkt“ und „als ein Meister und Vorbild“ fungiert habe.128 Geigers Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums und Einleitung in die biblischen Schriften bezeichnet Elbogen als ein „Vermächtnis […] für alle Zeiten“129, da sie die Lehre an der Hochschule beständig fundieren. Gustav Klein, ein Student Geigers, beschreibt die Wirkung von dessen Vorlesungen auf die Studierenden exemplarisch wie folgt: „Wir haben alle im Aether der Idee geschwebt und die Bergluft der Freiheit geatmet. Was er sprach, war Geist, durchgeistigt und dabei frohe Wissenschaft. Wir haben an seinen Lippen gehan126 Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 29. Folgende Äußerung zeigt erneut Elbogens Wertschätzung: „In Abraham Geiger […] gewann die Hochschule einen Lehrer von weltberühmten Namen, dessen Auftreten innerhalb des Judentums in Wissenschaft und Leben epochemachend gewirkt hat“ (a. a. O., 28). Auch in den 1990er Jahren wird Elbogens Einschätzung noch vertreten, dass „die herausragende wissenschaftliche Persönlichkeit dieser ersten Lehrergeneration […] ohne Zweifel Abraham Geiger [war] […]“ (Awerbuch, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, 536). 127 Brief Geigers an Moritz Lazarus vom 5. Oktober 1869, in: S 5, 325. 128 Elbogen, Rede bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910, 66. 129 A. a. O., 65.

Wissenschaftliche Einrichtungen255 gen, wir haben seine Worte verschlungen und seine mächtige Stimme schallt noch jetzt in meinen Ohren und ich höre ihn den Geist herbeirufen, dass er Israel zu neuem Leben wecke, dass es seiner weltgeschichtlichen Aufgabe inne werde.“130 Kleins Worte, die eines gewissen Pathos freilich nicht entbehren, zeigen eindrücklich, welch große Ausstrahlung und Prägekraft Geiger auch auf seine Studenten gehabt hat. Seine Anziehungskraft war so stark, dass sich einige Studenten nur seinetwegen an der Berliner Hochschule eingeschrieben haben.131 Geigers Name ist freilich untrennbar mit der Hochschule verbunden, da er das Profil der Hochschule in ihren ersten Jahren mitgeprägt hat und die Einrichtung unter anderem seine Handschrift trägt. Berücksichtigt man jedoch, dass die Hochschule 70 Jahre bestand, erscheint seine dreijährige Wirksamkeit nahezu bedeutungslos. Auch seine Prägekraft relativiert sich vor dem Hintergrund dieser langen Zeitspanne, in der sich die Gestalt der Hochschule mehrfach veränderte. Heute wird sicherlich zuerst Leo Baeck mit der Hochschule assoziiert, weil er der letzte Dozent an der Einrichtung war, sie durch die schwere Zeit des Dritten Reiches begleitet hat und prominenter Repräsentant des liberalen Judentums im 20. Jahrhundert war. Geiger war unbestritten eine wichtige und prägende Persönlichkeit für die Berliner Hochschule, aber gewiss nicht die einzige. Ihm folgten zahlreiche bedeutende Dozenten, welche die Hochschule ebenfalls bereicherten. Die Ausführungen zeigen, dass sich die Selbst- und Fremdwahrnehmungen decken, insofern Geigers Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auf beiden Seiten als Bereicherung angesehen wird. Trotz dieses positiven Konsenses muss kritisch hinterfragt werden, ob Geigers langjähriger Wunsch der Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät in der Berliner Hochschule tatsächlich seine Erfüllung gefunden hat, ob sein Wissenschaftsbegriff demzufolge angemessen institutionalisiert worden ist. Abschließend soll daher reflektiert werden, ob die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Geigers im I. Hauptteil dargelegten Wissenschaftsbegriff und seinen im II. Hauptteil entfalteten Entwurf einer Institutionalisierungs in die Realität umgesetzt 130 Klein, Rede bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910, 78. Klein stellt weiterhin heraus, dass das persönliche Verhältnis zwischen Geiger und den Studenten äußerst positiv war und Geiger sich stets um die Belange der Studierenden kümmerte und ein offenes Ohr hatte. Klein zeichnet Geiger als einen „Vater und Berater“ für die Studenten (ebd.). 131 Auch folgende Formulierung Elbogens bringt Geigers Rolle an der Berliner Einrichtung prägnant zum Ausdruck: „Die Hochschule hatte die Weihe des Schmerzes erhalten, der hellste Stern an ihrem Himmel war erloschen. Der Tod Geigers hinterließ eine Lücke in der Lehrtätigkeit, die niemals aufgefüllt worden ist“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 32). Derenburg schreibt in seinem Nachruf: „Man muß es tief beklagen, daß Geiger in dieser neuen Laufbahn, die für die Wissenschaft und die Ausbildung der Zöglinge so fruchtbar geworden wäre, so plötzlich aufgehalten wurde“ (Derenburg, Nachruf, 308).

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hat, ob sich sein (wissenschaftlicher) Lebenstraum also am Ende seines Lebens nach zahlreichen Enttäuschungen und Rückschlägen noch erfüllt hat. Bevor eigene Überlegungen angestellt werden, soll sein Sohn Ludwig Geiger zu Wort kommen, da von Geiger selbst diesbezügliche Stellungnahmen fehlen. Ludwig Geiger schreibt: „Er sah freilich weder durch die Art der Gründung dieser Lehranstalt, noch durch die Art, in welcher an ihr gelehrt wurde, das Ideal erfüllt, das er sich von einer jüdisch-theologischen Fakultät gemacht hatte, […] erachtete endlich die Tendenz, Männern entgegengesetzter Parteien ein Lehramt an der Anstalt anzuvertrauen, um ihr dadurch den Charakter einer echt wissenschaftlichen zu geben, eher für bedenklich als für heilsam, unterzog sich aber trotz aller dieser Bedenken freudig dem ihm gewordenen Auftrag und erfüllte während der fünf Semester, in denen er zu lesen vermochte, mit dem grössten Eifer seine Pflicht.“132 Ludwig Geiger findet deutliche Worte und stellt unmissverständlich heraus, dass sein Vater die Hochschulgründung nicht als vollkommene Erfüllung seines Anliegens betrachtet hat. Er betont jedoch auch im versöhnlichen Duktus die große Freude, mit der sein Vater dennoch seine Lehrtätigkeit an der Berliner Einrichtung versehen hat. Nach Ludwig Geigers Einschätzung hat sich sein Vater vornehmlich an der Verwaltungsform der Hochschule, an der Ausgestaltung der Lehre und an der positionellen Heterogenität beziehungsweise Bedeutungslosigkeit gestoßen. Demzufolge hätte Geiger es präferiert, wenn dem Lehrerkollegium die Leitung der Hochschule übertragen worden wäre.133 Vermutlich hätte er selbst gerne mehr Verantwortung und Gestaltungsspielraum gehabt und erkannte dem Kuratorium die nötige wissenschaftliche und theologische Kompetenz ab. Darüber hinaus hätte er die Zweiteilung der Lehre in Vorlesung und Seminar, wie er sie in seinem Lehrplanentwurf auch vollzieht, an der Hochschule konsequent umgesetzt gesehen gewusst, was auf seine Idee der fruchtbaren Ergänzung von Theorie und Praxis zurückzuführen ist. Der Lehrplan und das Statut der Hochschule sahen zunächst vor, korrelierende Seminare respektive Übungen anzubieten, die tatsächlich abgehaltenen Veranstaltungen zeigen jedoch, dass zumindest in den Anfangsjahren ausschließlich Vorlesungen angeboten wurden. Seine Kritik an der fehlenden Positionierung der Hochschule hinsichtlich der religiösen Richtungen des Judentums ist zum einen nachvollziehbar, verwundert zum anderen jedoch auch. Es leuchtet grundsätzlich ein, dass sich Geiger aufgrund seiner eigenen liberalen Einstellung ein Kollegium Gleichgesinnter gewünscht hätte, 132 L. Geiger, Einleitung zum vierten Abschnitt: Frankfurt und Berlin 1863–1874, 277. 133 Im Gutachten, welches Abraham Geiger dem Lehrplan für die Berliner Hochschule beilegt, schreibt er explizit: „Sie überläßt […] die Leitung zumeist den Männern der Wissenschaft, welche ihr ihre Lehrkraft zu widmen erkoren sind […]. Nur die äußeren Angelegenheiten wird sie der Verwaltung eines aus freier Wahl sämtlicher Kontribuierenden hervorgehenden Kuratoriums anvertrauen“ (GLP 222).

Wissenschaftliche Einrichtungen257 da seine Vorstellungen so leichter zu verwirklichen gewesen wären. Dennoch irritiert seine Kritik, da er an anderer Stelle die Unabhängigkeit der Hochschule zugunsten der Wissenschaftsfreiheit einfordert und zu verstehen gibt, dass er es nicht erwarte, dass alle Lehrstühle mit Gesinnungsgenossen besetzt würden.134 Dieser Widerspruch lässt sich nicht befriedigend auflösen. Vielleicht gründet er auf einer Fehl-Interpretation Ludwig Geigers, auf einer Entwicklung oder auf der Verschwiegenheit Geigers. Es wäre denkbar, dass er erst im Laufe der Zeit gemerkt und artikuliert hat, dass eine klare liberale Ausrichtung sinnvoller wäre. Denkbar wäre aber auch, dass Geiger die liberale Ausrichtung zwar gerne gesehen hätte, dies aber nie in der Hochschulöffentlichkeit zum Ausdruck gebracht hat. Wenngleich Ludwig Geigers Einschätzung interessante Anhaltspunkte liefert, ist sie nicht präzise genug, um die aufgestellte Frage umfassend zu beantworten. Daher soll im Folgenden durch einen Vergleich zwischen Geigers Entwurf einer Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums und der tatsächlichen Umsetzung in Form der Berliner Hochschule offen gelegt werden, warum die Hochschule nicht in toto Geigers eigener Vorstellung entspricht, warum ihm die dortige Lehrtätigkeit aber dennoch so viel Befriedigung verschafft. Vorweg sei angemerkt, dass die nun folgende Gegenüberstellung von Geigers Auffassung und der Hochschulkonzeption keinesfalls die beachtlichen Leistungen der Berliner Hochschule in Abrede stellen soll. Als Hauptkritikpunkt Geigers, den sein Sohn überraschenderweise nicht explizit macht, kann die institutionelle Form, also der Status der Einrichtung als selbstständige, das heißt separate jüdische Einrichtung angeführt werden. Denn trotz terminologischer Unschärfe und Varianz plädiert Geiger bevor er in das Umfeld der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums tritt, stets für die Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer Universität. Er spricht sich dezidiert für die Integration der Wissenschaft des Judentums in die universitas litterarum, also für die Einbindung in eine deutsche Universität aus und lehnt eigenständige jüdische Einrichtungen aufs schärfste ab. Vornehmlich strukturelle Differenzen sind es, die eine jüdisch-theologische Fakultät von einer jüdischen Hochschule unterscheiden und damit seine Ablehnung begründen. Die strukturelle Ausprägung einer Institution hat jedoch weit reichende Konsequenzen. Sowohl die Anerkennung und Würdigung der Lehranstalt selbst als auch die der Wissenschaft des Judentums werden dadurch beeinflusst. So lässt sich die von Geiger angestrebte Gleichberechtigung der Wissenschaft des Judentums beispielsweise einzig durch eine jüdisch-theologische Fakultät an der Univer134 Geiger konstatiert dazu: „Ich verlange […] nicht, dass sie ausschließlich nach meinem Sinne errichtet werde, nur Männer meiner Richtung angestellt werden. Die Wissenschaft muss frei sein und darf nicht einer einzelnen Richtung zu eigen gegeben werden […]“ (Brief Geigers an Moritz Lazarus vom 5. Oktober 1869, in: S 5, 325).

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sität realisieren, da die Wissenschaft des Judentums nur durch die universitäre Verankerung als gleichwertiges Fach wahrgenommen und anerkannt wird. Die Hochschule eröffnet der Wissenschaft des Judentums dagegen keinen optimalen Zugang zum wissenschaftlichen Diskurs und befördert keinen interdisziplinären Dialog auf Augenhöhe, den Geiger immer wieder einfordert. Sie festigt vielmehr die innerjüdische Abgeschlossenheit. Neben der adäquaten Positionierung in der akademischen Landschaft verkörpert eine Fakultät idealiter auch die staatliche Akzeptanz, ja vielmehr noch die staatliche Beteiligung, die bei einer selbstständigen Einrichtung angesichts der konstitutiven Unabhängigkeit hinfällig ist. Das Standing der Wissenschaft des Judentums und des Judentums im Allgemeinen innerhalb des Makrokosmos können demnach einzig durch die Aufnahme in eine deutsche Universität umfassend verbessert werden. Die Berliner Hochschule kann dieses virulente Desiderat der Gegenwart nicht erfüllen, da sie eine Institution des Mikrokosmos, negativer gewendet des jüdischen Ghettos ist und daher nur schwerlich eine über den Mikrokosmos hinausgehende Reputation und Wirksamkeit erreichen und den Emanzipationsprozess folglich nur peripher unterstützen kann, dahingegen die akademische Isolation der Wissenschaft des Judentums stabilisiert. Darüber hinaus kann die funktionale Effizienz der Wissenschaft des Judentums nach Geigers Auffassung einzig durch eine Fakultät ausgespielt werden, das bedeutet, dass die Wissenschaft des Judentums ihr Leistungsspektrum nur an einer deutschen Universität zu entfalten vermag. Ergo kann die Berliner Hochschule trotz erfolgreicher Wirksamkeit, die ihr freilich nicht abzusprechen ist, nicht die gleichen Ergebnisse erzielen, wie es eine Fakultät könnte. Weiterhin kann die selbstständige jüdische Einrichtung keine akademischen Grade, wie beispielsweise den Doktortitel, verleihen, was einen weiteren gewichtigen Unterschied zu einer jüdisch-theologischen Fakultät markiert. Es zeigt sich deutlich, dass die konkrete institutionelle Gestalt weit reichende Konsequenzen für die Profilierung und Etablierung der Wissenschaft des Judentums und damit für das Judentum insgesamt hat und daher mehr als eine reine Formalie, ja Nebensächlichkeit ist.135 Neben der institutionellen Form kann die zugrunde gelegte Wissenschaft, also der Wissenschaftsbegriff, als Diskussionspunkt benannt werden. Das Selbst135 Elbogen sieht das offensichtlich anders und schreibt: „Ob die Lehranstalt den Namen und den Charakter einer Fakultät trägt, darauf kommt es wenig an, wichtig ist, daß ihr die Attribute und die Ausdehnung einer Fakultät nicht fehlen, daß ihre Lehrstühle voll besetzt und alle Lehrgegenstände selbständig durch Fachmänner bearbeitet werden“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 95). Einmal mehr stellt sich der Eindruck ein, dass im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Terminologie nicht in der heutigen Reflektiertheit und Differenziertheit gebraucht wurde. Auch Elbogen scheint genau wie Geiger den Bezeichnungen nicht viel Bedeutung beizumessen.

Wissenschaftliche Einrichtungen259 verständnis der Berliner Hochschule kann mit Völker dahingehend beschrieben werden, dass eine „von der jüdischen Theologie emanzipierte[ ] Wissenschaft des Judentums“136 betrieben werden soll. Die obigen Ausführungen haben diese scharfe Formulierung relativiert und dargelegt, dass kein Ausschluss theologischer Frage- und Problemstellungen gemeint ist, dennoch eine theologische Fakultät überboten werden soll, was auch terminologisch durch die Bezeichnung „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ zum Ausdruck gebracht wird.137 Daran wird sich Geiger gestoßen haben, wenngleich es keine diesbezüglichen überlieferten Äußerungen gibt.138 Berücksichtigt man, dass er sich zeit seines Lebens als jüdischer Theologe versteht, die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie entwickelt, konsequenterweise die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät fordert und sein Konzept für ebendiese Form der Institutionalisierung entfaltet, liegt ein gewisses Missfallen nahe. Es leuchtet ein, dass zwischen einer Institution der jüdischen Theologie, wie sie Geiger eigentlich intendiert und einer Institution der Wissenschaft des Judentums, wie sie die Hochschule verkörpert, Differenzen bestehen. Einige Beispiele mögen genügen, um Geigers Einwand am Selbstverständnis der Hochschule, den er nie artikuliert, zu veranschaulichen. Die Theologizität und Religiosität sind für Geiger konstitutive Momente der Wissenschaft des Judentums, sollen an der Hochschule jedoch in den Hintergrund treten. Das wird unter anderem daran deutlich, dass Geiger die jüdische Binnenperspektive einfordert, also zur notwendigen Sichtweise erklärt und Glaube und Wissenschaft in harmonischer und produktiver Verschränkung denkt, wohingegen die Berliner Einrichtung auch nicht-jüdischen sowie nicht an Theologie interessierten Studenten offen steht und jüdische Wis136 Völker, Die Gründung und Entwicklung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1869–1900, 30. 137 Elbogen bestätigt diesen Eindruck mit folgender Aussage: „Viele Berührungspunkte hatte die Hochschule mit der seit langer Zeit vorgeschlagenen jüdisch-theologischen Fakultät; ihrer Verfassung und ihren Aufgaben nach sind sie fast identisch. Was hat die Gründer dabei geleitet, diesen Namen, der durch Jahrzehnte lange Propaganda einen volkstümlichen Klang hatte, zu verwerfen? Er hätte sicherlich über das Wesen und die Ziele der Anstalt leichthin Aufklärung geboten und ihr manchen Kampf gegen Unkenntnis und Vorurteil erspart. Der Umfang der Studien der neuen Hochschule sollte über die Grenzen der Theologie hinausreichen“ (Elbogen, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, 11). 138 Dass keinerlei kritische Äußerungen Geigers in dieser Hinsicht zu finden sind, kann zwei Gründe haben: So kann zum einen angenommen werden, dass Geiger tatsächlich keine öffentliche Kritik an der Konzeption übt, weil die Freude über die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums und seine Lehrtätigkeit an der Hochschule überwiegen und er sich mit der Kompromisslösung zufrieden gibt. Zum anderen wäre es auch denkbar, dass sein Sohn Ludwig im Sinne glättender und harmonisierender Absichten, die er in anderen Kontexten offenkundig zugibt, allzu negative Passagen getilgt hat, um das posthume Verhältnis zwischen seinem Vater und der Berliner Einrichtung nicht zu trüben.

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sensgüter aus ihrer religiös-subjektiven Verflechtung lösen und in eine objektivierte Erkenntnissphäre einspeisen möchte. Weiterhin ist die Praxisdimension, das heißt die Bedeutung der Wissenschaft des Judentums für die religiöse Frömmigkeitspraxis, welche Geiger sowohl in der Einleitung in die jüdische Theologie als auch in seinen Fakultätsschriften betont, in der Hochschulkonzeption und dementsprechend auch in der Allgemeinen Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, die er im Umfeld der Hochschule entwickelt, zurückgestuft. Vor allem besagt das, dass die Nutzbarmachung der Wissenschaft des Judentums für den Reformprozess in der Berliner Einrichtung nicht erkennbar ist, was selbstredend damit zusammenhängt, dass sie sich nicht als Einrichtung des Reformjudentums und als religiös verfasste Institution versteht. Die Berliner Einrichtung fokussiert den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und nicht den lebensweltlichen Ertrag für die religiöse Praxis. Auch in Geigers zweitem Kompendium, das er im direkten Umfeld der Hochschule entwickelt, wird eben diese Nutzbarmachung, die zuvor als Geigersches Spezifikum fungierte, nicht mehr so hervorgehoben. Im Zusammenhang mit der abgeschwächten Praxisdimension wird der berufsbildende Zweck und zwar vornehmlich der auf gemeindliche Tätigkeiten ausgerichtete an der Berliner Einrichtung zunächst in den Hintergrund gerückt beziehungsweise stets mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gekoppelt. Die doppelte funktionale Ausrichtung der Hochschule auf die Pflege der Wissenschaft des Judentums und die Ausbildung jüdischer Gelehrter, die Geiger selbstredend auch mitträgt, wird beständig betont und die Reduktion auf die berufliche, das heißt praktische Bildung, vehement abgelehnt. Die Vereinnahmung für gemeindliche Interessen wird besonders scharf kritisiert und dementsprechend eine Engführung auf die Rabbinerausbildung, die Geiger freilich auch nicht intendiert, zurückgewiesen. An der Berliner Einrichtung gibt es zumindest bei ihrer Gründung keine auf die gemeindliche Praxis angelegten Lehrstühle und auch Übungen, die auf die Arbeit in der Praxis vorbereitet hätten, scheinen nicht vorgesehen gewesen zu sein. Faktisch hat sich die Hochschule aber zum liberalen Rabbinerseminar entwickelt, sodass auch die Ausbildung theologischen Nachwuchses an der Institution integriert worden sein muss. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die angeführten Unterschiede zwischen Geigers Entwurf und der Hochschulkonzeption erklären, warum Ludwig Geiger die Ansicht vertritt, dass die Hochschule nicht Geigers Plan einer Fakultätsgründung entspricht. Angesichts der Divergenzen stellt sich die Frage, wieso er dennoch so viel Freude an der Lehrtätigkeit findet. Betrachtet man das Profil der Hochschule erneut, fällt auf, dass es in vielen Aspekten auch mit Geigers Institutionalisierungsvorstellung der Wissenschaft des Judentums übereinstimmt. Genau diese Schnittmenge gilt es nun näher zu beleuchten, um dadurch zu eruieren, wieso Geiger trotz der Einwände an der

Wissenschaftliche Einrichtungen261 Hochschule tätig ist. Das konstitutive Leitparadigma der Einrichtung – die Wissenschaftlichkeit – wird von ihm uneingeschränkt befürwortet und ebenfalls als Leitgedanke veranschlagt, was als zentrale Gemeinsamkeit gedeutet werden kann. Die damit einhergehenden Charakteristika wie die historisch-kritische Ausrichtung von Forschung und Lehre, die Unabhängigkeit, welche in eine absolute Wissenschaftsfreiheit mündet, die Einheit von Forschung und Lehre und die Abgrenzung zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit einschließlich ihrer Institutionen werden sowohl von der Berliner Hochschule als auch von Geiger propagiert, wodurch die konzeptionelle Nähe ebenfalls sichtbar wird. Vergleicht man die disziplinäre Ausdifferenzierung der Wissenschaft des Judentums, wie Geiger sie in seinen Vorlesungen Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums und in dem Lehrplanentwurf für die Hochschule darstellt, mit dem tatsächlichen Lehrplan der Lehranstalt, sind die Parallelen ebenso offenkundig. Freilich gibt es geringe Akzentverschiebungen, formale Abweichungen und unterschiedliche Terminologien, der Grundtenor aber ist derselbe. Nach Geigers Auffassung soll die Wissenschaft des Judentums an einer Einrichtung in Gänze repräsentiert sein und auch an der Berliner Hochschule sollen alle Zweige der Wissenschaft des Judentums vertreten sein. Eine Reduktion auf nur eine wissenschaftliche Disziplin wird demgemäß von beiden abgelehnt, was als weitere Gemeinsamkeit angeführt werden kann. Grob betrachtet, sollen die jüdische Geschichte und Literatur, die religiösen Schriften des Judentums, die jüdische Religionsphilosophie und die Sprachwissenschaft an einer wissenschaftlichen Einrichtung gelehrt werden und zwar aus historisch-kritischem Blickwinkel. Diese inhaltliche Parallelität fungiert als weitere bezeichnende Übereinstimmung und zeigt überdies deutlich, dass Geigers im Lehrplanentwurf niedergelegten Ideen Eingang in die Hochschulkonzeption gefunden haben. Dass sich die disziplinäre Ausdifferenzierung der jüdischen Theologie, wie er sie in seinem ersten Kompendium darstellt, von den an der Hochschule angebotenen Disziplinen unterscheidet, verwundert nicht, da es damit zusammen hängt, dass Geiger in seiner frühen Wirksamkeit den Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie zugrunde legt. Wenngleich Geiger Vorbehalte gegenüber der konkreten institutionellen Form der Berliner Hochschule gehabt hat, wird ihn die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums als solche befriedigt haben. Denn durch die Institutionalisierung wird Öffentlichkeit hergestellt, die Wissenschaft des Judentums also aus Gelehrtenzimmern geholt, die konstitutiven Verbreitungs-, Vermittlungs- und Aneignungsdimensionen der Wissenschaft des Judentums ausgespielt und damit einhergehend Lehr- und Lernprozesse arrangiert, die funktionalen Bedeutungen der Wissenschaft des Judentums aktiviert, die Professionalisierung vorangetrieben, eine fruchtbare und produktive Kooperation unter Kollegen ermöglicht und adäquates Material sowie nötige Mittel zur Verfügung gestellt. Kurzum die Lehr- und Forschungs-

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bedingungen der Wissenschaft des Judentums werden durch ihre Institutionalisierung derart verbessert, dass ihre positive Entfaltung und dadurch die Fortexistenz und Weiterentwicklung des Judentums insgesamt garantiert sind. Es kann somit konstatiert werden, dass die von Geiger in seinen Fakultätsschriften angeführten Argumente für eine wissenschaftliche Einrichtung durch die Berliner Hochschule erfüllt werden, sie ergo zusammengefasst dem theoretischen Bedürfnis, das heißt der Pflege der Wissenschaft des Judentums, und dem praktischen Bedürfnis, das bedeutet der Ausbildung von Nachwuchs, die nicht nur Praktiker umfasst, gerecht wird. Einzig die Hinsichten, die auf die universitäre Integration, sprich auf die konkrete Ausgestaltung der Institutionalisierung anspielen, bleiben unerfüllt. Vergleicht man Geigers direkte konzeptionelle Äußerungen zur Berliner Hochschule mit der tatsächlichen Gestalt, fällt auf, dass auch Geiger in diesem Kontext die Reduzierung auf die Rabbinerausbildung ablehnt, stets die Förderung der Wissenschaft des Judentums hochhält, jegliche Instrumentalisierung bemängelt und überdies auch die Ausbildung von Gelehrten propagiert. Darüber hinaus betrachtet auch Geiger die Gründung der Hochschule als ein innerjüdisches Projekt und plädiert für die absolute Unabhängigkeit vom Staat, wodurch sich eine weitere Gemeinsamkeit auftut. Die Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftlichkeit fungieren auch für ihn als Leitgedanken der Einrichtung und markieren eine weitere Parallele. Die Übereinstimmungen zwischen Geigers Lehrplanentwurf und dem für die Hochschule verabschiedeten Lehrplan sind, wie bereits dargelegt, groß, was den inhaltlichen Konsens zum Ausdruck bringt und Geiger gewiss befriedigt haben wird. Die angeführten Berührungspunkte geben Aufschluss darüber, warum er trotz konzeptioneller Einwände der Hochschule seine Mitwirkung nicht versagt. Es gilt nun, die aufgeführten Divergenzen und Parallelen zwischen Geiger und der Hochschule zu gewichten und unter Rückgriff auf Geigers eigene Stellungnahmen zu einer abschließenden Einschätzung zu kommen. Geigers Arbeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums kann als Krönung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gedeutet werden, da sie ihm, das zeigen seine Selbstaussagen und die Fremdeindrücke, große Befriedung verschafft und ihm viel bedeutet. Unweigerlich stellt sich dann die Frage, wie diese positive Einschätzung mit der stets artikulierten Abneigung gegenüber selbstständigen jüdischen Institutionen und den anderen konzeptionellen Differenzen wie beispielsweise dem sich unterscheidenden Wissenschaftsbegriff vereinbar ist. Ist sie gar einer Sinneswandlung geschuldet? Geiger Opportunismus vorzuwerfen, wäre sicherlich unangebracht und auch von einem Sinneswandel kann keine Rede sein. Denn Geiger verleugnet oder revidiert seine Position nicht um der Karriere willen, gibt sie erst recht nicht auf, sondern erkennt aller Voraussicht nach vielmehr, dass seine Vorstellungen an der Realität scheitern und er sich daher auf die anderen zu bewegen muss, wenn

Wissenschaftliche Einrichtungen263 er an der Profilierung der Wissenschaft des Judentums mitwirken will, was ihm offenkundig am Herzen liegt. Geigers engagiertes Lehren an einer Einrichtung, deren Konzeption er in Gänze nicht mitträgt, spiegelt also wider, dass er seine eigenen Vorstellungen zugunsten der allgemeinen Förderung der Wissenschaft des Judentums zurückstellt, nicht jedoch aufgibt. Angesichts zahlreicher Niederlagen pocht er nicht länger auf die Durchsetzung seiner Ideen, sondern akzeptiert, zumindest öffentlich, andere Ansätze und nutzt die günstige Gelegenheit, überhaupt eine Institution der Wissenschaft des Judentums zu etablieren. Vermutlich hat Geiger selbst auch Zweifel, ob sich seine Ideen umsetzen lassen und rechnet nicht mehr mit einer vollständigen Realisierung. Der konzeptionell größte Unterschied besteht sicherlich im zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriff, also in der jüdischen Theologie beziehungsweise in der Wissenschaft des Judentums. Ein Blick auf die von Geiger im Umfeld der Hochschule entwickelten Entwürfe zeigt, dass er sich im Kontext der Berliner Einrichtung der ihm vorgegebenen kulturwissenschaftlichen Richtung der Hochschule anpasst und zum einen einen entsprechenden Lehrplan und zum anderen die Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums, welche der intendierten Hochschulausrichtung gerecht wird, entwirft. Nun stellt sich die Frage, ob er mit dieser Angleichung seine eigenen Ideen verleugnet. Im I. Hauptteil ist erarbeitet worden, dass die durch äußere Umstände bedingte Umgestaltung in erster Linie begrifflicher und nicht so sehr konzeptioneller Natur ist. Es kann angenommen werden, dass Geigers Herz weiterhin an der jüdischen Theologie hängt, er seine Ideale also nicht für die Hochschule verkauft, und sein eigentlicher Traum darin besteht, die jüdische Theologie zu institutionalisieren. Geiger hat sich aber mit der Situation arrangiert und die äußeren Vorgaben so zu erfüllen gesucht, dass er trotz der terminologischen Deklaration als „Wissenschaft des Judentums“ an seinem Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie festhalten kann. So kann er die an ihn gestellten Erwartungen befriedigen, gleichzeitig jedoch auch seinen eigenen Vorstellungen und Idealen wenigstens zum Teil gerecht werden, was ihm, wie der Vergleich der beiden Kompendien und auch die evidente theologische Ausrichtung der Hochschule zeigen, weitestgehend gelungen ist. Wenngleich also de facto eine andere Wissenschaft als ihm vorschwebt in Forschung und Lehre an der Hochschule institutionalisiert ist, entspricht deren Konzeption dennoch, wenn auch unter anderem Deckmantel, also unter anderem Namen, in weiten Teilen seinen Vorstellungen. Denn es hat sich gezeigt, dass Idealität und Realität, vor allem Gewand und Kern an der Berliner Hochschule nicht immer kongruent sind. Die oben angeführten Differenzen, die trotz harmonisierender Tendenzen bleiben, sind dafür verantwortlich, dass sich Geigers wissenschaftlicher Lebenstraum nicht in Gänze erfüllt hat. Es hat sich aber auch gezeigt, dass das Profil der Hochschule zahlreiche Entlehnungen aus Geigers Programm aufweist, was dazu führt, dass die Hochschule seinen Vorstel-

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lungen in vielen und zwar entscheidenden Aspekten vollends entspricht und sich dadurch als die wissenschaftliche Institution qualifiziert, die seinen Vorstellungen am ehesten gerecht wird, wenn auch nicht in toto. Es erweckt den Anschein, als ob sich Geiger am Ende seines Lebens mit dieser Kompromisslösung zufrieden gibt und bei allen konzeptionellen Einwänden dennoch die Etablierung der wissenschaftlichen Einrichtung zu würdigen weiß, ihr viel Positives abgewinnen kann und sich dementsprechend voller Enthusiasmus und Engagement der Arbeit an der Hochschule zuwendet. Das bedeutet freilich nicht, dass er von seinem ursprünglichen Plan abrückt und seine eigene Position aufgibt, vielmehr stellt er sie zurück, um die Pflege der Wissenschaft des Judentums und die Ausbildung von Nachwuchs zu ermöglichen. Denn wenngleich sein Ideal durch die Berliner Einrichtung nicht vollends erfüllt wird, findet die Wissenschaft des Judentums in ihr doch eine adäquate Institution, die ihre positive und fruchtbare Entwicklung befördert. Die damit idealiter einhergehende Profilierung der Wissenschaft des Judentums stimmt Geiger versöhnlich, da es ihm genau darum immer geht. Er hängt die Institutionalisierung der Wissenschaft als solche folglich höher als die konkrete Form der Institutionalisierung und kann sich daher mit der Berliner Hochschule arrangieren, wenn sie auch nicht seine genuinen Ideen verwirklicht. Abschließend kann in Anlehnung an Ludwig Geigers Einschätzung konstatiert werden, dass die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sicherlich kein Lebenstraum Geigers war, sondern eher ein Kompromiss, jedoch ganz bestimmt der bestmögliche. Für die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war Geiger gewiss kein Kompromiss, sondern vielmehr die ideale erste Besetzung des Lehrstuhls für die Geschichte und Literatur des Judentums.

2. Wissenschaftliche Periodika Die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums kann als Herzensanliegen Geigers gedeutet werden. Kapitel 1 des II. Hauptteils hat offen gelegt, dass vor allem der Wunsch einer Fakultätsgründung Geigers komplettes Leben durchzieht und er sich immer wieder zu dieser Thematik äußert. Im Folgenden soll der Fokus auf die andere Form der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums – die wissenschaftlichen Periodika – gelegt werden, die sich ebenfalls als ein bedeutungsvolles Anliegen Geigers darstellt. Wissenschaftliche jüdische Periodika existieren während Geigers frühen Wirksamkeit nicht. Die von Suchy als „erste wissenschaftliche jüdische Zeitschrift“139 ausgemachte Zeitschrift 139 Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 181.

Wissenschaftliche Periodika265 für die Wissenschaft des Judenthums überdauert nur einen Jahrgang und wird bereits 1823 wieder eingestellt. Die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Form von wissenschaftlichen Zeitschriften erscheint in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts damit als ein dringliches Desiderat und wird auch von Geiger als solches empfunden. Bevor Geigers Institutionalisierungsentwurf für wissenschaftliche Zeitschriften entfaltet wird, soll zunächst beleuchtet werden, welche Bedeutung wissenschaftliche Periodika in seinem Leben, Wirken und in seinen Werken einnehmen. Erstmalig äußert er sich im Jahr 1830 im Kontext eines Gespräches über seine zukünftige Tätigkeit zu jüdischen Periodika. In seinem Tagebucheintrag heißt es: „Unter Anderem war von einer jüdischen Zeitschrift die Rede, an die ich schon manchmal gedacht hatte, deren Plan und Tendenz mir ziemlich klar vor Augen stehen.“140 Konkrete Informationen bietet diese erste Äußerung zwar nicht, sie zeigt dennoch, dass Geiger bereits während seines Studiums den Wunsch zur Gründung einer jüdischen Zeitschrift verspürt, ja vielmehr noch die Konzeption und Realisierung einer solchen schon andenkt. Wie „Plan und Tendenz“ aussehen, verrät sein Tagebuch nicht, inwiefern und ob er dieses Bedürfnis tatsächlich umzusetzen sucht, bleibt zunächst ebenfalls offen. Nur ein knappes Jahr später wendet sich Geiger mit seinem Anliegen an Zunz. Im Rückblick berichtet er: „Bereits im J. 1831 war ich von der Ueberzeugung durchdrungen, daß das Judenthum zur tiefern, gründlichern wissenschaftlichen Anregung und lebendigeren Gestaltung einer Zeitschrift bedürfe, welche sich dieses Ziel vorsetze. […] Allein es ist immer einem neu erblühenden Geschlechte vorbehalten, für den eigenen Drang die Initiative zu ergreifen, und so begleitete mich von nun an der sehnsüchtige Wunsch, selbst Hand anzulegen und die vorhandenen tüchtigen Kräfte für ein derartiges Unternehmen zu vereinigen“ (JZII 462). Während sein Verlangen nach Gründung einer jüdischen Zeitschrift 1830 noch diffus erscheint, formuliert er 1831 klare Vorstellungen und sucht sein Vorhaben konsequent in die Realität umzusetzen. Er will den Institutionalisierungsprozess initiieren und vorantreiben, indem er Mitstreiter akquiriert und die brachliegenden Kräfte aktiviert und bündelt. Aus diesem Grund wendet er sich auch an Zunz, da ihm vorschwebt, diesen als „Begründer und Leiter“ (GZ 305)141 für das Projekt zu gewinnen. Sein Wunsch ist demnach gereift, ausdifferenzierter und dringlicher, weshalb er nach einer raschen Verwirklichung strebt. Geiger fühlt sich berufen, nahezu verpflichtet, sich für die Gründung einer Zeitschrift zu engagieren. 1835 setzt er 140 Tagebucheintrag Geigers vom 19. August 1830, in: S 5, 25. 141 Rückblickend schildert Geiger sein Gesuch wie folgt: „Der Jüngling, erfüllt von diesem Gedanken, besiegte seine Schüchternheit und wendete sich im April des Jahres 1831 an Zunz, das ganze Herz ausschüttend, sein ganzes vielleicht noch unbeholfenes Ringen darlegend“ (GZ 305).

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sein Anliegen in die Tat um und gründet die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie. Von 1835 bis 1839, 1844 und 1847 erscheinen jährlich drei Hefte, die Geiger gemeinsam mit dem Verein jüdischer Gelehrter herausgibt. 1862 gründet Geiger die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, die bis 1875 besteht. Pro Jahr werden drei oder vier Hefte veröffentlicht, 1875 werden posthum noch zwei Bände publiziert. Die Herausgabe jüdischer Periodika bestimmt folglich Geigers Leben und Wirken, wenngleich es einige Unterbrechungen gibt. Neben der Veröffentlichung wissenschaftlicher Organe formuliert Geiger auch programmatische Ansichten zu jüdischen Zeitschriften und publiziert 1839 und 1844 die Aufsätze Jüdische Zeitschriften142, in denen er sich zum einen zur Bedeutung und Wirksamkeit jüdischer Periodika im Allgemeinen äußert und zum anderen bereits existierende Organe hinsichtlich ihrer Effizienz bewertet und deren Profile skizziert. Diese Artikel liefern einen Einblick in seine institutionstheoretischen Ansichten und sind daher für diese Studie zentrale Quellen. Darüber hinaus nimmt Geiger noch vereinzelt zur Thematik Stellung und integriert diese kurzen Äußerungen in seine Abhandlungen. Freilich publiziert er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht nur in seinen eigenen Organen, sondern auch in anderen Periodika wie Allgemeine Monatsschrift für Erziehung und Unterricht, Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts, Allgemeine Zeitung des Judenthums und Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft. Im Folgenden sollen zunächst Geigers allgemeine institutionstheoretische Äußerungen zu jüdischen Periodika zusammengetragen und analysiert werden. Sodann sollen seine beiden gegründeten Zeitschriften Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie und Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben näher betrachtet und hinsichtlich ihrer Konzeptionen und Umsetzungen beleuchtet werden. Vorweg sei angemerkt, dass die Ausführungen zum Institutionalisierungsverständnis jüdischer Zeitschriften bei Geiger deutlich schmaler sind als die jüdischer Lehranstalten. Daraus folgt, dass auch diese Darstellung kürzer ausfällt und überdies nicht konsequent die Trennung zwischen Idee und Umsetzung durchhält. Denn Geiger äußert sich vor der tatsächlichen Etablierung seiner Zeitschrift nur sehr vereinzelt zur Thematik. Vielmehr formuliert er die allgemeinen institutionstheoretischen Aussagen, die sich also nicht auf seine eigenen Periodika beziehen, erst während des Erscheinens seiner Zeitschriften. So sind die allgemeinen institutionstheoretischen Äußerungen, die in Kapitel 2.1 des II. Hauptteils wiedergegeben werden, im Dunstkreis der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie und der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben anzusiedeln.

142 Geiger, Jüdische Zeitschriften [im Folgenden: „JZI–IV“].

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2.1 Idee Geiger charakterisiert die gegenwärtige Lage des deutschen Judentums mit dem Begriff der „Zerfahrenheit“ (WtN 251), welche ausschließlich mittels Bildungsanstrengung verbessert werden kann, weil diese extern vernetzt, intern reformiert und so Missstände zu beseitigen vermag.143 Entsprechend fungiert die Wissenschaft des Judentums für Geiger als zentrale Größe des Reformprozesses und wird von ihm als solche konzipiert. In Kapitel 2 des I. Hauptteils ist die differenzierte Rolle der Wissenschaft des Judentums im Reformprozess expliziert und anhand der Aufgaben sichtbar gemacht worden, wie die Wissenschaft des Judentums auf konzeptioneller Ebene die Reformen umzusetzen sucht. Im vorangegangenen Kapitel ist deutlich geworden, dass die Wissenschaft des Judentums ihre Wirksamkeit nur in institutionalisierter Form entfalten kann, dass es also konkret der wissenschaftlichen Einrichtungen bedarf. Wenngleich diesen ihre prinzipielle Effizienz nicht abzusprechen ist, legt Geiger ein weiteres Konzept einer wissenschaftlichen Organisation vor und schreibt: „Die jüdische Presse hat gewirkt und wirkt an dieser Aufgabe nach ihrem Theile redlich mit […]“ (WtN 253). Auch wissenschaftliche Periodika sollen sich demnach der virulenten Bedürfnisse und Pflichten annehmen. Wie ihre allgemeine Wirksamkeit aussieht, spiegelt folgende Äußerung wider: „Die […] Aufgabe ist, die Gesammtheit zur Klarheit zu erziehen, den wissenschaftlichen Erwerb zugänglich zu machen, auf das Leben zu übertragen“ (WtN 254). Jüdische Periodika initiieren Bildungsprozesse, indem sie wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln und deren lebenspraktische Relevanz aufzeigen. Geiger schreibt Zeitschriften also eindeutig eine erzieherische, will heißen aufklärende und prägende Bedeutung zu, die eine rein informierende Rolle überbietet. Sie intendieren einen breiten Erkenntnisgewinn, der sich nicht im informativen Duktus erschöpft, sondern vielmehr geistanregenden und handlungsleitenden Charakter hat. Indem Zeitschriften wissenschaftliche Erkenntnisse in die Öffentlichkeit einspeisen, dienen sie als Bindeglieder zwischen Wissenschaft und Leben und transformieren Expertenwissen in Allgemeinwissen, theoretische in praktische Kenntnisse, vergrößern damit die Geltungssphäre der Wissenschaft des Judentums und erwecken deren Lebenswelt- und Gegenwartsbezug. Dank jüdischer Periodika verharren wissenschaftliche Erkenntnisse nicht länger in Gelehrtenzimmern und Expertenkreisen, fristen also nicht länger ihr isoliertes Schattendasein, sondern werden einem größeren Publikum zugänglich 143 Exemplarisch zeigt dies folgende Äußerung: „Die einzige Lösung besteht nun darin, daß das Judenthum einerseits seinem tieferen Wesen, seinen schaffenden Ideen, seinen geschichtlichen Bildungen nach erkannt, andererseits aber geschichtlich im Einklange mit der Gesammtentwickelung der Menschheit fortgeleitet und in seinen Institutionen dargestellt werde“ (WtN 253).

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gemacht und in die Praxis integriert, wo sie ihre Wirkungskraft entfalten können und einen breiten Erkenntniszuwachs evozieren. Die Herstellung von Öffentlichkeit und die dadurch bedingte Darbietung wissenschaftlicher Erkenntnisse konzentrieren sich nicht nur auf den Mikrokosmos, sondern umfassen idealiter auch den Makrokosmos. Indem die Forschungsergebnisse der Wissenschaft des Judentums in wissenschaftlichen Periodika veröffentlicht werden, werden sie prinzipiell in den allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs eingespeist und im Idealfall auch von nicht-jüdischen Gelehrten wahrgenommen und rezipiert. Wissenschaftliche Zeitschriften eröffnen einen aussagekräftigen Einblick in die Produktivität und Effizienz einer Wissenschaft und sind dadurch Indizien einer lebendigen Wissenschaftskultur. Die Herausgabe wissenschaftlicher Zeitschriften, die eine weitere strukturelle Parallele zur christlichen Universitätstheologie beziehungsweise zu anderen Wissenschaften darstellt, trägt demnach auch zu einer vermehrten Außenwirkung und idealerweise Anerkennung der Wissenschaft des Judentums bei. Demzufolge dienen wissenschaftliche Organe theoretisch auch als Bindeglieder zwischen der Wissenschaft des Judentums und anderen Disziplinen sowie zwischen Mikro- und Makrokosmos.144 Zeitschriften fungieren also als Institutionen der Wissenschaft des Judentums, indem sie als wissenschaftliche Publikationsmedien die neuesten Forschungsergebnisse darbieten und im Mikro- und Makrokosmos verbreiten. Inwiefern sie konkret als Organisationen der Wissenschaft des Judentums wirken, zeigt Geigers Äußerung, dass ein wissenschaftliches Periodikum „für [die] wissenschaftliche Bearbeitung jüdischer Denkmale, für die bürgerliche und religiöse Verbesserung unserer Glaubensbrüder“ (GZ 307)145 ins Leben gerufen werden soll. Jüdische Periodika sollen nach seinem Dafürhalten also primär wissenschaftliche Abhandlungen über die jüdische Geistesgeschichte enthalten, dadurch die wissenschaftliche Erforschung jüdischer Geistesäußerungen vorantreiben und schließlich der Öffentlichkeit zugänglich machen. Offensichtlich dienen Zeitschriften vorrangig der Förderung der Wissenschaft des Judentums, indem sie Raum für die öffentliche Präsentation und anschließende Diskussion wissenschaftlicher Forschungsergebnisse bieten sowie die positive Entwicklung der Wissenschaft des Judentums unterstützen. Sie sind somit Plattformen der Wissenschaft des Judentums, wo jüdische Gelehrte ihre Forschungsergebnisse präsentieren und in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen können. Auf diese Weise ist der Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse unter den einzelnen Gelehrten möglich und einer 144 So konstatiert Geiger: „Das Bestreben, die Juden ebenmäßig mit in den Kreis der rascher sich bewegenden Geschichte zu ziehen, hat […] seinen Ausdruck in Zeitschriften gefunden“ (JZII 459). 145 Das Zitat entstammt ursprünglich einem Brief Geigers an Leopold Zunz aus dem Jahre 1831. Dieser Brief ist in Bd. 5 der Nachgelassenen Schriften jedoch nicht abgedruckt.

Wissenschaftliche Periodika269 Vereinzelung kann entgegengewirkt werden. Gerade weil jüdische Wissenschaftler in der Regel nicht in christlichen Periodika veröffentlichen können, bedürfen sie eigener Organe, um ihre Erkenntnisse verbreiten und zur Diskussion stellen zu können. Eine Zeitschrift muss als Einrichtung der Wissenschaft des Judentums ein wissenschaftliches Profil haben, einen gelehrten Duktus aufweisen und Themen aus dezidiert wissenschaftlicher Perspektive beleuchten. Die Wissenschaftlichkeit konstituiert sich vor allem durch die historisch-kritische Methodik, das heißt durch einen reflektierten standardisierten Umgang mit historischen Quellen.146 Als Institutionen der Wissenschaft des Judentums befördern die Zeitschriften auch den Reform- und Emanzipationsprozess des Judentums. Sie entspringen demnach nicht nur dem wissenschaftlichen Selbstzweck, sondern stets auch lebensweltlichen Erfordernissen. Zeitschriften sind somit doppelt legitimiert. Die beiden Begründungshinsichten – Förderung der Wissenschaft des Judentums und Verbesserung der gegenwärtigen Situation – bestimmen freilich auch ihre thematische Ausrichtung, legen also die Inhalte der Artikel fest. Folgende Formulierung verdeutlicht, wie wissenschaftliche Periodika die gegenwärtige Situation in concreto zu beeinflussen oder gar zu verändern vermögen: „Untrennbar ist einem Organe, welches fördernd auf die Zeitverhältnisse wirken und dem Leben Schritt vor Schritt vorangehen will, die Eigenschaft verbunden, daß es den Maßstab vernünftiger Ansprüche an die bestehenden Zustände anlegt, daß es diesen, wo sie der ganzen Umgestaltung in der Zeit entgegenstehen, kämpfend entgegentritt, und je tiefer gewurzelt dieselben sind, je schärfer und bestimmter“ (JZII 463). Als Organ des Reformprozesses analysiert eine Zeitschrift kritisch die gegenwärtige Lage und stellt sie realitätsnah dar, deklariert also Probleme und Missstände als solche. Periodika zielen jedoch nicht nur auf die Bewusstmachung und Sensibilisierung negativer Entwicklungen ab, bleiben also nicht bei der bloßen Gegenwartsanalyse stehen, sondern zeigen vielmehr auch Veränderungsmöglichkeiten auf, liefern demnach Impulse zur produktiven Verbesserung und zeichnen sich somit durch eine Zukunftsperspektive aus. Gleichzeitig führen sie stets auch den Rekurs auf die Vergangenheit mit. Zeitschriften implizieren folglich innovatives, prägendes und gestalterisches Potential und haben handlungsleitenden Charakter, was sie im Übrigen von Zeitungen unterscheidet, die nach Geigers Verständnis vorrangig die Lage der Gegenwart in verständlicher Weise darstellen, nicht jedoch kritisch analysieren und Zukunftsperspektiven aufzeigen.147 Zeitschriften 146 Als Autoren solch eines Organs benennt Geiger „jüdische Gelehrte“ (GZ 307), wodurch das wissenschaftliche Profil unterstrichen wird. 147 Im Rekurs auf Philippsons Allgemeine Zeitung des Judenthums kontrastiert Geiger die Aufgaben einer Zeitung mit denen einer Zeitschrift und konstatiert: „Jene [eine Zeitung] hat nicht unmittelbar den Beruf wie diese [eine Zeitschrift], zu Bestrebungen zu erwecken und diesel-

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integrieren folglich die Vergangenheit, die in wissenschaftlichen Untersuchungen beleuchtet wird, die Gegenwart, welche kritisch betrachtet wird und die Zukunft, die nachhaltig gestaltet werden soll. Im Idealfall initiieren Zeitschriften die fruchtbare Umgestaltung der Gegenwart, indem sie ihre Leser mobilisieren und gleichzeitig anleiten. Damit das gelingen kann, müssen Zeitschriften der Leblosigkeit, dem Indifferentismus und dem Desinteresse entgegenwirken, wie auch folgende Äußerung veranschaulicht: „Soll ein periodisches Organ wirklich in solcher Weise Bahn brechen, dann muß es die Lebensgeister aufrütteln, der Schlaffheit […] entgegentreten […]“ (JZII 465). Eine wissenschaftliche Zeitschrift soll die eingefahrene negative Stimmung der Zeit aufbrechen und ins Positive wenden, indem sie Aktionismus, Engagement, Lebendigkeit, Wachheit und Interesse zu vermitteln sucht und damit die Basis für weit reichende Umgestaltungen schafft. Jüdische Periodika evozieren demzufolge eine reformfreudige Atmosphäre und das Bewusstsein für die Reformnotwendigkeit, was konstitutive Elemente eines erfolgreichen Reformprozesses sind. Durch die Reichweite, die Zeitschriften idealiter haben, kann eine breite Öffentlichkeit erreicht und das Gedankengut der Reformbewegung großflächig vermittelt werden, wodurch sich einmal mehr der Charakter eines Streuungs- und Verbreitungsorgans zeigt. Als Medium der Wissenschaft des Judentums dient ein wissenschaftliches Periodikum demnach auch der Förderung des Reformprozesses. Dadurch fungiert es als ausdrucksstarker Spiegel der Zeit und ist eine bedeutende historische Quelle der jüdischen Geistesgeschichte.148 So liefert eine wissenschaftliche Zeitschrift einen authentischen, unmittelbaren und lebendigen Eindruck der Historie und legt gängige Frage- und Problemstellungen, virulente Bedürfnisse und Empfindungen, verbreitete Themen und Gedanken, kurzum die gesamte Stimmung einer Zeit offen. Folgende Formulierung Geigers bringt die Bedeutung von Periodika für historische Studien zum Ausdruck: „Es ist von Interesse, sich die Geschichte ben zur Klarheit zu bringen, kurz die Zukunft vorzubereiten, sie soll vielmehr hauptsächlich einen treuen Abdruck der Gegenwart liefern durch Nachweisung und Zusammenstellung des Vorhandenen und der im Leben vorgebenden Ereignisse, sie hat auch diese Ereignisse wohl zu erklären, aber weniger einen eigenen Standpunkt an dieselben zu legen, sondern sich eben blos in den Standpunkt des Lebens, dem sie entsprungen sind, zu versetzen […]“ (JZII 468). 148 So stellt Geiger heraus: „Der Rückblick auf die mannichfaltigen Erscheinungen, welche das vielbewegte geistige Leben der Juden in Deutschland periodisch an’s Licht gefördert hat, befestigt ebenso das freudige Bewußtsein von wirklichem Reichthum der Bildung und dem vorhandenen Interesse an einer lebendigen Entwickelung, wie er auch die Hoffnung nährt, daß der Einfluß einer solchen unermüdlichen Anregung immermehr im Leben sich bewähren werde. Auch dürfen wir gewiß sein, daß die Produktionskraft des jüdischen Geistes mit den bestehenden Organen nicht erschöpft ist, es werden neue hinzutreten, welche bisher vernachlässigte Seiten mehr anbauen, das Interesse für brach liegende Zweige mehr anregen und anders nüancirte Richtungen vertreten“ (JZIII 390).

Wissenschaftliche Periodika271 der Geistesrichtung und der Bestrebungen der letzten Zeit und der Gegenwart unter den Juden durch die Ueberblickung der zeitschriftlichen Erscheinungen zu veranschaulichen“ (JZI 286). Zeitschriften liefern demgemäß konkrete Informationen über die Zeitverhältnisse, bringen jedoch auch ganz grundsätzlich die geistige Bewegung einer bestimmten Zeit zum Ausdruck, indem sie selbst Zeugnis geistiger jüdischer Produktivität sind. In den Zeitschriften verdichten sich die intellektuelle Schaffenskraft und das geistige Potential des deutschen Judentums. Geiger fasst wissenschaftliche Periodika demnach als Indikatoren, ja als Indizien für geistige Dynamik und Kreativität auf und konstatiert entsprechend: „Am besten aber spiegelt sich die Bewegung der Zeit in der periodischen Litteratur ab; sie selbst ist ein Zeugniß der Bewegung […]“ (JZIII 372).149 Die enge Verflechtung mit den Zeitverhältnissen kristallisiert sich bereits bei der Erschaffung eines solchen Organs heraus, wie Geigers Äußerung zeigt: „Periodische Schriften werden von einem Zeitinteresse hervorgerufen und getragen; selbst wenn der Gedanke oder auch das persönliche Interesse eines Einzelnen oder mehrer Einzelnen die erste Veranlassung zu denselben giebt, so muß doch immer eine Zeitidee vorhanden sein, an welche sich ein solches Unternehmen anlehnt […]“ (JZI 286). Geigers Worte können dahingehend gedeutet werden, dass eine spezifische „Zeitidee“ oder ein bestimmtes „Zeitinteresse“, das sind konkret die Reformbestrebungen, die Gründung einer Zeitschrift motiviert, initiiert und fundiert. Dementsprechend dient die gegenwärtige Situation des deutschen Judentums als Motor einer jüdischen Zeitschrift, insofern sie ihre Errichtung evoziert und legitimiert. Geiger konkretisiert, dass „das regste und neueste Bedürfniß den Kern derselben bilden muß […]“ (JZII 461). Gegenwärtige Erfordernisse stellen folglich den Mittelpunkt, ja das Herzstück einer wissenschaftlichen Zeitschrift dar und bestimmen ergo die Inhalte und die Zielrichtung mit. Die thematische Gestaltung einer Zeitschrift ergibt sich demnach unter anderem aus den Zeitverhältnissen und wird durch diese beständig genährt. Zeitschriften sind dementsprechend am Puls der Zeit und zeichnen sich durch Aktualität, Unmittelbarkeit, Dialogizität und Lebendigkeit aus. Sie können schnell auf Ereignisse reagieren, gegenwärtige Probleme zeitnah reflektieren, sich in laufende Diskussionen einschalten und 149 Dementsprechend nimmt Geiger auf die konkrete Situation Bezug und konstatiert: „Die außerordentliche journalistische Fruchtbarkeit in den vierziger Jahren war ebenso der Abdruck einer sehr bewegten religiösen Zeit im Judenthum wie umgekehrt das Verstummen der öffentlichen Organe in dem darauf folgenden Jahrzehnt ein nur zu beredetes Zeugniß für die Erschlaffung“ (ZZ 178). Optimistisch betont Geiger: „Auch dürfen wir gewiß sein, daß die Produktionskraft des jüdischen Geistes mit den bestehenden Organen nicht erschöpft ist, es werden neue hinzutreten, welche bisher vernachlässigte Seiten mehr anbauen, das Interesse für brach liegende Zweige mehr anregen und anders nüancirte Richtungen vertreten“ (JZ III 390).

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Auseinandersetzungen ein öffentliches Forum bieten. Das bedeutet jedoch nicht, dass ausschließlich die Gegenwart als Gegenstand der Zeitschrift veranschlagt wird und sich die Artikel einzig mit gegenwärtigen Aspekten beschäftigen. Vielmehr gilt es, derzeitge Phänomene unter Rückgriff auf die Historie zu erklären und in Anknüpfung an die Vergangenheit Umgestaltungsideen zu formulieren und so die Zukunft produktiv zu formen. Daneben finden auch rein wissenschaftliche Themen ihre Berücksichtigung, die nicht zwangsläufig mit der Gegenwart korreliert werden. Eine Zeitschrift ist nach Geigers Vorstellung dem allgemeinen oder mehrheitlichen Bedürfnis und Interesse geschuldet, versteht sich damit als ein Organ der Gesamtheit und befriedigt nicht nur die Ansichten eines Einzelnen oder elitären Kreises. Sie kann natürlich dem Einfall eines Einzelnen entspringen, muss aber die generellen Ideen der Zeit umfassen, für diese einstehen und globale Forderungen zu artikulieren wissen. Diese intendierte universale Dimension verhindert, dass eine Zeitschrift zum Sprachrohr oder zur wissenschaftlichen Spielwiese eines Einzelnen verkommt und sich durch eine zu ausgeprägte Subjektivität, Singularität und Spezialisierung vom allgemeinen Diskurs entfernt und so ihre eigentliche Zielsetzung verfehlt. Die Bestimmung einer wissenschaftlichen Zeitschrift als Institution der Wissenschaft des Judentums, die als Organ des Reformprozesses und als Spiegel der Zeit fungiert, deutet ihr Profil bereits an. Es lässt sich dahingehend konkretisieren, dass Geiger dem wissenschaftlichen Periodikum eine „höhere Tendenz“ (JZII 465) zuschreibt und in dem Zusammenhang deutlich herausstellt, dass es nicht ein „Conversationsaal zu gegenseitiger Unterhaltung, zu behaglichem Geplauder“ (JZII 465) sei. Wissenschaftliche Zeitschriften sollen, wie auch der Zusatz „wissenschaftlich“ nahe legt, über ein gewisses Niveau verfügen, eine seriöse Ausstrahlung haben, sich einer höheren Intention verpflichtet fühlen und sich durch Intersubjektivität und Verbindlichkeit auszeichnen. Demzufolge dienen sie nicht dem alltäglichen Austausch von Neuigkeiten, der schnellen Befriedigung von Neugierde, der harmonischen Zerstreuung oder dem unverbindlichen Geschwätz. Geiger wehrt sich offenkundig gegen eine Verflachung und Banalisierung oder positiver gewendet gegen den ausschließlichen Unterhaltungszweck. So konstatiert er entsprechend: „So muß auch an einer entschiedenen Ueberzeugung festgehalten, ein festes Ziel vorgehalten werden“ (JZII 465). Zeitschriften sind Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung und suchen diese in die Wirklichkeit einzuspeisen und für diese fruchtbar zu machen, verfolgen also eine klare Zielrichtung, die mit dem Begriff Bildung zusammengefasst werden kann. Es erweckt den Eindruck, dass jüdische Periodika einen gelehrten, nahezu elitären Charakter und damit einhergehend eine spezifische Autoren- und Leserschaft vor Augen haben. Dementsprechend stehen solche Organe nach Geigers Auffassung nicht allen schreib- und mitteilungsfreudigen sowie interessierten

Wissenschaftliche Periodika273 Menschen offen. Sie fordern ein gewisses intellektuelles Niveau, ja mehr noch eine bestimmte Haltung auf Seiten der Autoren und Leser ein.150 Speziell die Autoren der Zeitschriften müssen demnach die Leitgedanken der Zeitschriften teilen und sich ihren Idealen verpflichtet fühlen. Sie müssen also die konstitutive „höhere Tendenz“ mittragen und sie mit ihren Artikeln zu verwirklichen suchen. Was Geiger konkret unter der „höhere[n] Tendenz“ versteht, erklärt er nicht. Es kann davon ausgegangen werden, dass er vorrangig das wissenschaftliche und damit gelehrte Profil einer Zeitschrift meint, nicht jedoch die positionelle religiöse Ausrichtung. Qua definitionem kennzeichnen Wissenschaftlichkeit, Regelmäßigkeit und formelle Einheitlichkeit wissenschaftliche Periodika. Sie zeichnen sich damit zusammenhängend idealiter durch Objektivität und Unabhängigkeit aus, fungieren aber gleichzeitig oft auch als meinungstransportierende und -bildende Organisationen, insofern sie eine bestimmte Perspektive auf die Gegenwart offenbaren und ausgehend von ihrem Standpunkt die momentane Situation beschreiben sowie Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigen. Der Blickwinkel auf die Gegebenheiten ist positionell eingefärbt, selbst wenn dies nicht explizit gemacht wird. Und so verorten auch die skizzierten Aufgaben, die Geiger wissenschaftlichen Periodika verleiht, diese eindeutig in den Reformprozess, schreiben ihnen damit eine bestimmte religiöse Position zu und machen sie zu Sprachrohren, ja zu Parteiorganen des Reformjudentums.151 Das wirft unweigerlich die Fragen auf, ob diese Ausrichtung tatsächlich mit dem postulierten Paradigma der Wissenschaftlichkeit vereinbar ist, wie es ferner um die religiöse Gesinnung der Autoren bestellt ist und ob die Unabhängigkeit des Periodikums noch gewahrt bleibt. Hierzu erörtert Geiger, was er unter „Unparteilichkeit“ versteht und grenzt sie scharf von der „Tendenzlosigkeit“ (JZII 465) ab. So ist er der Ansicht, dass jeder und damit auch eine Zeitschrift eine Position haben müsse, die sich auf fundierte Forschungen und Reflexionen, nicht aber auf die bloße Zugehörigkeit zu einer religiösen Richtung gründe und diese selbstbewusst in Diskussionen vertreten müsse.152 Das unreflektierte Festhalten an einer einmal gewonnenen Haltung lehnt 150 Folgende Äußerung spiegelt es exemplarisch wider: „Aber wenn man eine höhere Tendenz hat, dann muß auch sie fest im Auge gehalten werden, und es kann dann Niemand sich verletzt fühlen, wenn man ihn ganz höflich vor die Thüre setzt, will er mit Widerspruch gegen die Grundanschauung sich eindrängen“ (JZII 465). 151 Geiger kontrastiert die Aufgabe einer Zeitschrift mit der einer Zeitung und stellt heraus: „[…] sie [die Zeitung] hat auch diese Ereignisse wohl zu erklären, aber weniger einen eigenen Standpunkt an dieselben zu legen, sondern sich eben blos in den Standpunkt des Lebens, dem sie entsprungen sind, zu versetzen […]“ (JZII 468). 152 Geiger konstatiert: „Ein Anderes ist Unparteilichkeit, ein Anderes völlige Tendenzlosigkeit. Ein jeder gebildete Mann muß eine feste Ueberzeugung haben, die ihm aus sorgfältigen Studien und wiederholter Beobachtung hervorgegangen ist […]“ (JZII 465).

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Geiger mit Verweis auf die Prozessualität aufs schärfste ab und fordert stattdessen geistige Flexibilität sowie kritische Selbstreflexion. Ein Autor kann in seinen Augen trotz gefestigter religiöser Position unparteiisch sein, indem er andere religiöse Ausrichtungen sachlich betrachtet, sie in ihrer Andersartigkeit akzeptiert, als gleichwertige Meinungen im wissenschaftlichen Diskurs anerkennt und seine eigene Position einer regelmäßigen Hinterfragung aussetzt.153 Es erweckt den Anschein, dass Geiger konträre Meinungen der Meinungslosigkeit und Unverbindlichkeit vorzieht und diesen Anspruch auch an wissenschaftliche Periodika anlegt, die demgemäß als dezidierte Sprachrohre einer bestimmten religiösen Richtung aufzufassen sind, aber dennoch offen für andere Meinungen sind und diese konstruktiv zu integrieren wissen. Sobald die „höhere Tendenz“ gewahrt bleibt, die Wissenschaftlichkeit, Objektivität und daraus folgend auch die Wahrheit als Leitparadigmen fungieren, akzeptiert Geiger einen positionellen Pluralismus und die religiöse Heterogenität. Das heißt, dass prinzipiell auch Autoren anderer religiöser Richtungen ihre Aufsätze in einem reformorientierten Organ veröffentlichen können. Periodika sollen demnach idealiter ein pluralitätsfähiges Forum für eine lebendige Auseinandersetzung bilden, wo unterschiedliche Auffassungen auf sachlicher, also wissenschaftlicher Ebene diskutiert werden können. Es wird sich zeigen, ob dieses Ideal in der Realität praktikabel ist oder sich als wissenschaftlicher Traum entpuppt. Eine weitere Konkretisierung des Profils ergibt sich dadurch, dass eine wissenschaftliche Zeitschrift nach Geigers Ansicht in deutscher und nicht in hebräischer Sprache verfasst sein muss, weil Deutsch Ausdruck und Teil des Lebens, also auch der geistigen Tätigkeit ist, wohingegen Hebräisch nur noch eine „fremde todte Sprache“ (JZIII 385) ist. Den schriftlichen Gebrauch des Hebräischen degradiert er als „Sache der Kunst, der sich immer mehr verringernden Liebhaberei“ (JZIII 385). Das Verfassen wissenschaftlicher Artikel in hebräischer Sprache ist demzufolge unnatürlich, konstruiert, antiquiert und unangebracht, da es einem tiefen Verständnis im Wege steht und überdies die Lebendigkeit geistiger Denkprozesse eindämmt, die originalgetreue Wiedergabe der wissenschaftlichen Kenntnisse erschwert, einem fruchtbaren Diskurs und gelungenem Erkenntnisgewinn entgegenwirkt. Zwei Gründe sprechen demnach vorrangig gegen die schriftsprachliche Verwendung des Hebräischen: die unzureichenden Hebräischkenntnisse der Leser sowie die defizitäre Präsentation und Übermittlung wissenschaftlicher 153 Dementsprechend stellt Geiger heraus: „Dennoch ist er unparteiisch, wenn er einen jeden fremden Standpunkt gerecht zu würdigen sucht, ihn nicht deshalb abweist, weil er nicht der seinige ist, nicht die Gesinnung angreift, wo er einen Irrthum gewahrt, vielmehr die tüchtige Kraft überall anerkennt, wenn er auch ihre Anwendung nicht loben kann, dem Schönen, welches von entgegengesetzter Seite aus geleistet wird, freudig seinen Beifall zollt“ (JZII 465).

Wissenschaftliche Periodika275 Erkenntnisse.154 Im Zuge der fortschreitenden Akkulturation und Integration des Judentums in die deutsche Gesellschaft und damit einhergehend in die deutsche Bildungs- und Geistessphäre ist die deutsche Sprache zur Muttersprache, also zur Sprache des alltäglichen Denkens und Sprechens, ja Lebens avanciert. Sollen die Leser erreicht werden und die intendierte globale Verbreitung und Vermittlung jüdischen Wissens umgesetzt werden, muss die Zeitschrift in der Muttersprache der Adressaten, also in Deutsch, verfasst werden. Die hebräische Sprache würde als Barriere fungieren und dadurch der Unkenntnis, dem Desinteresse und der Distanz noch Vorschub leisten und damit die eigentliche Intention von Zeitschriften unterlaufen. Darüber hinaus hat sich das Deutsche nach Geigers Dafürhalten auch als jüdische Wissenschaftssprache etabliert. So ist die Wissenschaft des Judentums untrennbar mit der deutschen Sprache verbunden und dementsprechend erfolgen Forschungsleistungen auf Deutsch.155 Das jüdische Wissen und die deutsche Sprache bilden wie Kern und Hülle eine Einheit und konstruieren zusammen den Sinn. Der Austausch der Hülle würde einen Bedeutungsverlust nach sich ziehen und die inhaltliche Dimension beeinträchtigen. Daraus folgt, dass die Publikationen auf Deutsch verfasst werden müssen. Dieses deutliche Plädoyer für die deutsche Sprache spiegelt Geigers reformerische Haltung wider und bekräftigt die Einschätzung, dass die wissenschaftlichen Periodika als Parteiorgane zu verstehen sind. Denn durch die konstante Verwendung des Deutschen gibt sich eine wissenschaftliche Zeitschrift im 19. Jahrhundert unmissverständlich als Sprachrohr des Reformjudentums zu erkennen. Gewiss überbieten Geigers institutionstheoretische Äußerungen zur Fakultäts- und Lehranstaltsgründung seine Ideen zur Etablierung eines wissenschaftlichen Periodikums hinsichtlich Komplexität, Differenziertheit und Ausgereiftheit. Aber dennoch offenbaren die vorangegangenen Ausführungen, dass Geiger wissenschaftliche Zeitschriften als Institutionen der Wissenschaft des Judentums auffasst, die als Organe des Reformprozesses und als Spiegel der Zeit fungie154 So stellt Geiger heraus, dass „die Theilnahme des größeren Publikums […] im Gegentheile die Allen verständliche Sprache [erfordert] […]“ (JZIII 385). Er konstatiert weiterhin: „Und auch die wahre Wissenschaft muß darauf bestehen, daß ihre lebensvollen Gebilde, wie sie gedacht, innerlich empfunden, also in der Muttersprache, so auch dargestellt werden, nicht aber durch die Umsetzung in eine fremde todte Sprache die rechte Innerlichkeit verlieren, ein nicht eigenthümlich angehöriges, und daher nicht eng anschließendes, sondern ein erborgtes, bald zu enges bald zu weites Gewand anlegen“ (ebd.). 155 Auch Meyer schreibt: „Although Geiger himself wrote a number of scholary articles in Hebrew, he had qualms about using the language of traditional Jewish scholarship precisely because he feared use of the old linguistic expression might subtly disguise the novelty of the scholarship and obscure the contradiction between past and present which would be quite obvious in an article written in German“ (Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 30).

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ren. Sie machen überdies deutlich, welche Hoffnungen und Erwartungen Geiger mit der Etablierung von publizistischen Organen verbindet und welche Bedeutung diese für die produktive und zukunftsfähige Entwicklung der Wissenschaft des Judentums und des Judentums haben. Im Folgenden gilt es, die tatsächliche Umsetzung ebendieser Konzeption darzustellen und anhand der beiden real existierenden Zeitschriften Geigers institutionstheoretische Vorstellungen zu konkretisieren. Zunächst wird Geigers Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie ausführlich vorgestellt, anschließend die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben präsentiert. Im Zusammenhang der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit die Wendung „jüdische Theologie“ benutzt, im Kontext der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben der Begriff „Wissenschaft des Judentums“.

2.2 Umsetzung 2.2.1 Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie Nachdem Geiger 1830 erstmalig die Idee einer Zeitschriftgründung erwähnt und sich ein Jahr später mit seinen Vorstellungen an Zunz gewendet hat, gewinnen seine Absichten 1833 deutlich an Konkretion wie folgende Äußerung zeigt: „Noch zwei Plane gehen mir durch den Kopf. Zuerst möchte ich eine wissenschaftlich-jüdisch-theologische Zeitschrift gründen, die keiner bestimmten theologischen Ansicht huldigen soll, im Gegentheile für eine jede wissenschaftliche Verfechter aufzeigen soll […].“156 Seine Worte deuten das ihm vorschwebende Profil einer zu gründenden Zeitschrift an und erinnern an die allgemeinen institutionstheoretischen Ausführungen im vorherigen Kapitel. Er will ein jüdisches Periodikum etablieren, das sich durch Wissenschaftlichkeit auszeichnet, die jüdische Theologie als Bezugswissenschaft anerkennt und ergo als ihr publizistisches Sprachrohr fungiert. Die Zeitschrift soll demnach Themen der jüdischen Theologie aus dezidiert wissenschaftlicher Perspektive beleuchten und entsprechende Artikel veröffentlichen. Das Themenspektrum ist damit fest umrissen, da ausschließlich Aspekte der jüdischen Theologie Eingang in die Zeitschrift finden und andere Bereiche ausgeklammert werden.157 Überdies wird eine bestimmte Betrachtungsweise, ja ein gewisses intellektuelles Niveau eingefordert, indem die 156 Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 6. Mai 1833, in: S 5, 81. 157 In einem Brief an Zunz schreibt Geiger ausdrücklich, dass „die religiösen Interessen“ des Judentums „ganz verwaist“ seien und er mit seinem Periodikum Abhilfe schaffen möchte (Brief Geigers an Leopold Zunz vom 13. Oktober 1833, in: L. Geiger, Aus L. Zunz’ Nachlaß, 248).

Wissenschaftliche Periodika277 Wissenschaftlichkeit betont wird. Es erweckt dadurch den Anschein, dass eine gelehrte Zeitschrift gegründet werden soll und kein populär-wissenschaftliches Organ, was selbstredend neben der inhaltlichen und methodischen Gestalt auch auf die Autoren- und Leserschaft Auswirkungen hat. Geiger betont ausdrücklich, dass sich die zu gründende Zeitschrift nicht auf eine theologische Haltung festlegen dürfe, sondern vielmehr der positionellen Vielfalt gerecht werden müsse, indem unterschiedliche Meinungen aufgenommen und schließlich dargeboten werden. Nicht die theologische Gesinnung, sondern die wissenschaftliche Tendenz fungiert demzufolge als entscheidendes Kriterium. Es wird sich zeigen, ob diese Vorstellung tatsächlich in die Realität umsetzbar ist und konsequent durchgehalten werden kann. Nachdem Geiger die Idee der Herausgabe eines wissenschaftlichen Organs einige Jahre mit sich herumträgt und vereinzelt artikuliert, kann er sie 1835, also im Alter von 25 Jahren, in die Realität umsetzen. Rückblickend schreibt er zur Gründung seines Periodikums: „Ich selbst hatte durch die Herausgabe meiner Preisschrift den Anknüpfungspunkt mit jüdischen Gelehrten, durch das Amt als Rabbiner die geeignete Stellung, um ganz aus dem innersten Lebensbedürfnisse der Gesammtheit heraus zu fühlen, gefunden. Und so reifte denn der Plan zur Herausgabe der ‚wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie‘ und trat, nach mannigfachen Vorbereitungen, mit dem Beginne des J. 1835 ins Leben“ (JZII 462f). Geigers Äußerung kann dahingehend gedeutet werden, dass er sich zur Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift geradezu berufen fühlt. Seine doppelte Tätigkeit als Gelehrter und Rabbiner und die damit verbundene Verknüpfung von Theorie und Praxis qualifizieren ihn nach seinem Dafürhalten eine wissenschaftliche Zeitschrift herauszugeben. Durch seine wissenschaftliche Wirksamkeit verfügt er über die notwendigen Kontakte zu potentiellen Autoren, kennt den Forschungsstand der jüdischen Theologie, weiß also um relevante Inhalte und Themen für die Zeitschrift. Durch seine Einbettung in die Gemeinde, die seinem Rabbineramt zu verdanken ist, überblickt er die virulenten Bedürfnisse sowie Erwartungen und hat Einblick in gegenwärtige Entwicklungen des deutschen Judentums. In Anlehnung an das 1833 skizzierte Profil trägt Geigers erste Zeitschrift den Namen Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie und versteht sich entsprechend als Medium der jüdischen Theologie. Er gibt sie zusammen mit dem Verein jüdischer Gelehrter158 heraus und fungiert selbst als 158 Der Verein jüdischer Gelehrter besteht beim ersten Heft aus folgenden Mitgliedern: Dr. M. Creizenach, Dr. Joseph Derenburg, Dr. Formstecher, Dr. Abraham Geiger, E. Grünbaum, Dr. Herxheimer, Dr. Heß, Dr. J. M. Jost, Dr. Kley, Dr. Levi, Dr. Maier, S. Munk, S. L. Rapoport, Dr. Salomon, Dr. Steinheim, Dr. Zunz. Der Verein setzt sich demnach aus Freunden Geigers und bekannten Persönlichkeiten der Zeit zusammen. Im Laufe des Bestehens ändert sich die Zusammensetzung geringfügig, da manche Mitglieder ausscheiden und andere hinzukom-

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verantwortlicher Hauptherausgeber. In den ersten beiden Jahrgängen umfasst die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie die drei Sparten „Abhandlungen“, „Recensionen“ und „Nachrichten (aus der Synagoge)“. Ab dem dritten Jahrgang komplettiert der Bereich „Bibliographie“ das Periodikum. Die letzten beiden Jahrgänge enthalten überdies noch „Miscellen“, wobei der letzte Jahrgang nur noch aus „Abhandlungen“ und „Miscellen“ besteht. Geiger plant, ab dem vierten Jahrgang noch eine weitere Abteilung in die Zeitschrift aufzunehmen und zwar die der „gutachtliche[n] Erklärungen“159. Nach seiner Auffassung könne es so gelingen, dass die „theoretisch ausgesprochene Ansicht zum fürs praktische Leben gültigen Beschlusse erhoben werde[ ]“160. Faktisch wird diese Rubrik jedoch nicht in das Periodikum integriert. Die Artikel sind in deutscher Sprache verfasst. Hebräische Artikel sucht man vergebens, wenngleich zum Teil hebräische Wendungen in deutsche Aufsätze integriert werden. Im Laufe des Bestehens der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie nimmt Geigers Engagement nach eigenem Bekunden ab, was dazu führt, dass er die Zeitschrift 1839 einstellen will, weil sie ihm immer mehr zur „Last“161 wird und das Verfassen größerer wissenschaftlicher Abhandlungen verhindert. Darüber hinaus fehlen Geiger aufgrund seiner vielfältigen Verpflichtungen Zeit und Muße zur gewissenhaften, gelungenen Herausgabe und Redaktion der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie. Daraus folgt, dass er von 1840 bis 1843 tatsächlich kein Exemplar seiner Zeitschrift herausgibt (vgl. JZIII 375).162 1844 nimmt er seine Tätigkeit als Herausgeber jedoch wieder auf, aller-

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men. Allen gemein sind ihre Nähe zum Reformjudentum, die freilich unterschiedlich stark ausgeprägt ist, und ihre Tätigkeit als Rabbiner oder Gelehrte. Auffällig ist, dass die Mehrzahl der Mitglieder promoviert ist, was zum wissenschaftlichen Anspruch Geigers passt. Brief Geigers an Jakob Auerbach vom 22. August 1837, in: S 5, 100. Brief Geigers an Jakob Auerbach vom 22. August 1837, in: S 5, 100. Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 2. August 1839, in S 5, 144 f. Ausführlicher heißt es in dem Brief an Stern: „Die Sache verhält sich so: schon seit etwa drei Jahren ist mir die Zeitschrift, so sehr ich darin gelebt, doch in anderer Beziehung zur Last gewesen, durch die ungeheure Correspondenz, durch die beständige Spannung, in der sie mich erhielt, und durch die hieraus sich erzeugende Unmöglichkeit, ein grösseres in länger anhaltender Musse und Ruhe auszuarbeitendes Werk vorzunehmen. […] Ich ging daher schon lange mit dem Gedanken um, mich dieser Last zu entledigen, allein die Betrachtungen, welche mir Freunde jetzt entgegenstellen, wirkten damals bei mir immer in gleicher Weise, und mit wechselnden Empfindungen setzte ich die Zeitschrift fort“ (ebd.). Konkret verweist er auf die „äußern Verhältnisse[ ] des Herausgebers“ und seine „Amtsbeschäftigungen“ (JZIII 373f). Die lange Pause kann überdies mit kontextuellen Umständen, konkret mit staatlichen Hindernissen erklärt werden. So schreibt Geiger in einem Brief an Zunz: „Zur Herausgabe einer Zeitschrift habe ich noch immer nicht die Erlaubniss; unter dem 12. v. M. habe ich mich darüber direct an das Ministerium des Inneren gewandt; aber zur Stunde noch keinen Bescheid erhalten“ (Brief Geigers an Leopold Zunz vom 4. März 1841, in: S 5, 155). Schon in einem Brief an Zunz vom 16. Dezember 1840 berichtet Geiger

Wissenschaftliche Periodika279 dings nur für zwei weitere Jahre. Der Erscheinungsverlauf des Periodikums ist dementsprechend unregelmäßig: In den Jahren 1835, 1836, 1837, 1839, 1844 und 1847 werden je drei Hefte herausgegeben. Geiger nennt neben seiner eigenen beruflichen Eingebundenheit noch einen weiteren Grund, der zum lückenhaften Erscheinen und zur Einstellung der Zeitschrift führt. So liegt „die Schuld auch in dem Mangel eines bis jetzt noch nicht hinlänglich vorgerückten wissenschaftlichen Bewusstseins im Judenthume“ (JZIII 373f).163 Geiger ergänzt, dass die religiöse Position der Zeitschrift im Mikrokosmos noch keine umfassende Akzeptanz erfahre, was der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie zusetze. Das kann dahingehend gedeutet werden, dass die Zeit für die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie noch nicht reif ist, dass es also einen zu kleinen Adressatenkreis gibt. Es fehlt demnach an Rezipienten solcher wissenschaftlicher Artikel. Freimütig gesteht Geiger schließlich noch ein, dass „die etwas stark ausgeprägte wissenschaftliche Individualität“ (JZIII 373) die schwierige Lage noch verschärfe, was so interpretiert werden kann, dass Geiger der Zeitschrift sein eigenes wissenschaftliches Profil einverleibt und ihr dadurch eine spezifische Note verleiht, die selbstredend nicht von der Gesamtheit getragen beziehungsweise befürwortet wird. Freilich macht sich ein Organ, welches sich wissenschaftlich und religiös positioniert und so ein individuelles Gepräge entwickelt, angreifbar und wird zum Gegenstand von Diskussionen und zur Zielscheibe von Kritik. Die in der Zeitschrift veröffentlichten Auseinandersetzungen Geigers mit jüdischen und christlichen Gegnern, denen er nicht aus dem Weg geht, spiegeln die wissenschaftlichen und religionspolitischen Kontroversen der Zeit eindrücklich wider.164 Meyer begründet das Einstellen der Zeitschrift mit den politischen Ereignissen im Jahr vor der Revolution.165 Vermutlich haben mehrere Aspekte zusammen dazu beigetragen, dass die Zeitschrift eingestellt werden muss. Denn auch in finanzieller Hinsicht ist die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie mit Schwierigkeiten konfrontiert, was sich unter anderem im von der fehlenden Genehmigung (vgl. Brief Geigers an Leopold Zunz vom 16. Dezember 1840, in: S 5, 154). 163 Suchy bestätigt Geigers Einschätzung und stellt heraus, dass die generell kurze Laufzeit jüdischer Periodika mit den geringen „finanziellen Mittel[n]“ und der schwachen „Resonanz“ zu erklären sei (Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 196). 164 Vgl. zum Beispiel: Geiger, Bruno Bauer; ders., Ist der Streit in der Synagoge ein Zeichen von ihrem Zerfall oder von ihrem neuerwachten Leben?; ders., Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, namentlich mit Bezug auf Anton Theodor Hartmann. 165 Meyer schreibt: „Caught in the storm of political events leading up to the Revolution of 1848, Geiger had to suspend publication of his Zeitschrift after sixth volume in 1847“ (Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 31).

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häufigen Verleger-Wechsel niederschlägt. So wird die Zeitschrift in Frankfurt am Main bei Sauerländer, in Stuttgart bei Brodhag und in Grünberg und Leipzig bei Levysohn verlegt. Insgesamt zeigt sich, dass das Erscheinen der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie von vielfältigen Problemen begleitet wird und das Periodikum häufig kurz vor dem Aus steht. Dennoch überdauert Geigers Periodikum zwölf Jahre, wenn auch mit Unterbrechungen und mit nur sechs Jahrgängen. Überblickt man die Geschichte jüdischer Periodika, kommt der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie eine besondere Rolle zu, weil sie nach der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums166, die vom Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden unter der Federführung Zunz’ herausgegeben wird, als zweites wissenschaftliches Organ ausgemacht werden kann und ihr damit eine gewisse Vorbildfunktion zukommt.167 Als Medium der jüdischen Theologie fungiert sie gar als Prototyp, da sie deren erste gelungene Institutionalisierung darstellt und dadurch von besonderer Relevanz ist. Das bedeutet jedoch auch, dass Geiger die Konzeption seiner Zeitschrift nicht in Anlehnung an bereits etablierte Strukturen entwickeln kann, sondern weitestgehend auf sich alleine gestellt ist. Einzig christliche wissenschaftliche Zeitschriften existieren bereits und könnten als Beispiel fungieren. Explizite Verweise darauf lassen sich jedoch nicht ermitteln. Nachdem die Entstehungsgeschichte und die Formalia umrissen wurden, soll nun das Profil der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie dargestellt werden, das heißt konkret, ihr Selbstverständnis, ihre Aufgaben, ihre Autoren und Adressaten und ihre Bedeutsamkeit entfaltet werden. Die Wissen166 Vgl. zur Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums: Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 181–184. Vgl. auch: JZI 288. Geigers kurze Darstellung der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums deutet bei aller Würdigung bereits an, dass er ihr Profil nicht in Gänze gutheißt. So schreibt er, „daß man […] mit diesem Bestreben ziemlich außer dem Bereich der lebendiggeschichtlichen, organischen Entwickelung innerhalb des Judenthums gerathen sei und auf dem rein gelehrten Boden stehe […]“ (JZI 289). Dass Geiger die Programmatik des Periodikums trotz aller Anerkennung mit Skepsis betrachtet, verwundert vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Wissenschaftsverständnisse Geigers und der Gruppe um Zunz keineswegs. 167 Vgl. Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 180–198. Suchy bezeichnet die beiden Periodika ha-Meassef und Sulamith als erste jüdische Periodika Deutschlands, spricht ihnen jedoch die Wissenschaftlichkeit ab, sodass sie nicht als Vorgänger der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie veranschlagt werden können. Suchy entdeckt in beiden Organen jedoch bereits ein „Leitmotiv“, welches auch die folgenden Zeitschriften prägt. Sie beschreibt es als „das Bemühen, den Juden mit Hilfe rationaler Aufklärung und Wissenschaft den Weg in die Moderne zu bahnen – unter Beibehaltung, ja Festigung jüdischen Lebens- und Traditionsgefüges“ (a. a. O., 181). Vgl. zu den Anfängen auch Geigers Ausführungen: JZI 286–288. Auch Geiger rekurriert dort auf ha-Meassef und Sulamith.

Wissenschaftliche Periodika281 schaftlichkeit kann wie der Name schon zu erkennen gibt als Leitparadigma der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie ausgemacht und die jüdische Theologie als Bezugswissenschaft bestimmt werden. In deutlicher Anlehnung an seinen allgemeinen Wissenschaftsbegriff schreibt Geiger: „In der Wissenschaft erkannte sie [die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie] die edle Frucht und zugleich den befruchtenden Keim des Geistes […]“ (AJG 268). Das Periodikum fasst die Wissenschaft offenkundig als differenzierteste Ausprägungsform des Geistes auf, spricht ihr gleichzeitig eine kreative und inspirierende Gestaltungskraft zu und erklärt sie zum inneren Motor geistiger Bewegung. Daran anknüpfend stellt Geiger heraus, dass die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie „[…] überhaupt für Weckung höheren geistigen Lebens im Judenthume gewiß das Ihrige beigetragen habe[ ] […]“ (JZII 467). Die Zeitschrift weckt offenkundig das wissenschaftliche Interesse, befördert die wissenschaftliche Erkenntnis, verbreitet den wissenschaftlichen Geist und zeichnet sich dadurch als akademisches Organ aus. Dementsprechend bedient sie sich auch der historisch-kritischen Perspektive und leistet eine Historisierung im Gegenwartsinteresse.168 Geiger konkretisiert ihre Wirksamkeit, indem er herausstellt: „[…] und so wandte sie sich schaffend und beurtheilend nach allen Zweigen der Wissenschaft, welche mit dem Judenthum in Verbindung stehn, und Sprachliches und Geschichtliches ward in Liebe gepflegt. Sie scheute auch nicht um den religiösen Geist und die Bedürfnisse der Gegenwart kennen zu lernen, den Blick über die engen Grenzen des Judenthums hinaus zu werfen, und sie suchte sich und den Lesern von den interessanteren Erscheinungen im Christenthum Rechenschaft zu geben“ (AJG 267f). Der konstitutive Universalitätsgedanke klingt an und erklärt die thematische und funktionale Breite des Periodikums. Die Zeitschrift will die jüdische Theologie in Gänze repräsentieren, um dadurch die umfassende Verbreitung jüdischen Wissens zu realisieren und ihrem 168 Dass sich die Zeitschrift dem historisch-kritischen Ansatz verpflichtet weiß, zeigt folgende Äußerung: „Unter den verschiedenen Standpunkten, von welchen aus das Judenthum der Gegenwart betrachtet werden kann, hat diese Zeitschrift bei ihrem Beginne den der geschichtlichen Betrachtungsweise als denjenigen bezeichnet, welchem sie sich widmen wolle“ (BSR 492). Und auch diese Formulierung bringt die historisch-kritische Perspektive des Periodikums zum Ausdruck: „Die […] kritisch-geschichtliche Auffassungsweise […] mußte drei Punkte immer entschieden hervorheben: die Kritik der bestehenden Grundsätze nach ihrer allmäligen Ausbildung, […] zweitens die Geschichte der geistigen Bewegung im Judenthume, […] und […] drittens die Kritik des Lebens nach der gegenwärtig gewonnenen geistigen Höhe, die Anforderung dasselbe ihr gemäß zu gestalten […]“ (JZIII 374). Folgende Artikel demonstrieren die Anwendung der historisch-kritischen Methodik: Geiger, Einiges über Plan und Anordnung der Mischnah; ders., Lexikographische Studien; ders., Das Verhältnis des natürlichen Schriftsinns zur thalmudischen Schriftdeutung; ders., Litterarische Studien; ders., Literarisch-kritische Uebersicht.

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Status als Medium der jüdischen Theologie gerecht zu werden. Dennoch steht die jüdische Geschichte im Mittelpunkt des Periodikums. Folglich intendiert die wissenschaftliche Zeitschrift vorrangig einen breiten geschichtlichen Erkenntnisgewinn und sucht deshalb die ganze Geschichte des Judentums zu beleuchten. Daraus folgt, dass die Zeitschrift auch die Gegenwart umfasst, also die derzeitige Lage des Judentums einschließlich gegenwärtiger Bedürfnisse, Erfordernisse und Probleme einzufangen weiß und überdies eine Zukunftsperspektive eröffnet. Sie erschöpft sich demnach nicht in unzähligen Studien über die Vergangenheit des Judentums, sondern integriert stets auch gegenwärtige Entwicklungen und Tendenzen, zeichnet sich demnach durch einen ausgeprägten Gegenwartsbezug und – wie folgende Formulierung zeigt – Lebensweltbezug aus: „Sie will zum Leben erwecken, nicht das Leben ausbeuten, aber wohl doch wieder die Resultate desselben in seinen allgemeinsten Zügen darstellen“ (JZII 467). Geiger schreibt der Zeitschrift eine inspirierende und aktivierende Wirkung zu, erhofft sich also, dass sie Impulse zu formulieren und Lebendigkeit zu vermitteln vermag. Offenkundig soll das Periodikum demnach die als desolat empfundene Situation des gegenwärtigen Judentums verbessern, wodurch die These bestätigt wird, dass mittels Bildungsanstrengung, die in der Zeitschrift institutionalisiert sind, die gegenwärtige Lage verbessert werden kann. Wieder zeigt sich hier Geigers Hochschätzung des Wissenschaftsbegriffs, der nicht nur theoretisches Wissen einschließt, sondern auch auf die Verwirklichung drängt. Die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie wird also gemäß Geigers allgemeinen institutionstheoretischen Vorstellungen als Institution der jüdischen Theologie für die Verbesserung der gegenwärtigen Lage des Judentums eingespannt, wie folgende Äußerung exemplarisch bestätigt: „Ihren Mittelpunkt fanden diese Bestrebungen [Reformbestrebungen] in der wissenschaftlichen Zeitschrift für die jüdische Theologie […], die diese Richtung anregte und deren Organ war“ (AJG 267).169 Demzufolge fungiert die Zeitschrift als Sprachrohr der reformorientierten Richtung des deutschen Judentums und offenbart dadurch eine eindeutige religiöse beziehungsweise religionspolitische Position.170

169 Geiger führt weiterhin aus: „Die angegebene Richtung herrscht in dieser Zeitschrift entschieden, ja sie ist erst in ihr ausgebildet, Frische weht überall darin […]“ (AJG 267f). 170 Dass die wissenschaftliche Zeitschrift im Sinne eines Parteiorgans durch die Ideale des Reformjudentums getragen wird, zeigt auch folgende Aussage Geigers: „Die Zeitschrift hat daher weniger die Darstellung und unmittelbare Ausbildung des gegenwärtigen Lebens im Judenthume im Auge, als vielmehr die klare Erfassung des vergangenen, auch des gegenwärtigen, aber als eines im geschichtlichen Übergange nothwendig begriffene, und die Vorbereitung eines mehr den wahrhaft geistigen Anforderungen entsprechenden Lebens in baldiger Zukunft“ (JZIII 375).

Wissenschaftliche Periodika283 Die offenkundige reformerische Ausrichtung der Zeitschrift sowie Geigers Zugehörigkeit und klares Bekenntnis zum Reformjudentum können auf den ersten Blick nur schwer mit der per definitionem postulierten und von Geiger auch konstatierten Unparteilichkeit in Einklang gebracht werden.171 Nach Geigers Auffassung bedingt die Wissenschaftlichkeit die Unparteilichkeit, das heißt, dass durch die in der Programmatik der Zeitschrift verankerte und im Titel ausgedrückte Wissenschaftlichkeit automatisch auch Unparteilichkeit garantiert wird, wie folgende Äußerung zeigt: „Sie hat stattdessen ein anderes Epitheton, das gewissermaßen jenes in sich einschließt, für sich in Anspruch genommen, ich meine das der Wissenschaftlichkeit, und sie hat dadurch wenigstens von vorn herein bewiesen, daß sie sich ihres Zweckes bewußt, sowie durch die Ausführung, daß sie ihrem Zwecke treu geblieben ist“ (JZII 466).172 Vor dem Hintergrund, dass sich das Periodikum der Unparteilichkeit verschrieben hat, gleichzeitig aber ein eindeutig reformerisches Profil aufweist, stellt sich die Frage, welche Autoren in der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie ihre Artikel veröffentlichen. Folgende Aussage bietet Aufschluss über den Autorenkreis: „Die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, von der Zulässigkeit eines Fortschrittes und freier wissenschaftlicher Untersuchung steht an der Spitze des Unternehmens“ (JZII 466). Autoren müssen demnach die Wissenschaftlichkeit und den Entwicklungsgedanken hochhalten und zur Basis ihrer Arbeit machen. Sie müssen also die Ideale des Reformjudentums und der modernen jüdischen Theologie mittragen. Damit erteilt Geiger allen Gegnern des Reformjudentums und der modernen Wissenschaft eine eindeutige Absage. Daher verwundert es auch nicht, dass er Artikel ablehnt, die konträr zur Programmatik der Zeitschrift stehen, die also den Leitgedanken der Reformbewegung widersprechen.173 Diese Haltung steht aus heutiger Sicht im Gegensatz zur veranschlagten konstituti171 Geiger äußert sich dazu in selbstbewusster Weise: „Und so wiederhole ich nochmals, die Zeitschrift hat sich als unparteiisch bewährt, wenn sie auch nicht diese Bezeichnung an der Stirne trug“ (JZII 466). 172 In einem Brief an Zunz heißt es: „Ich habe die Unparteilichkeit, die sie behaupten soll, indem sie als Dienerin der Wissenschaft auch eine jede Auffassungsweise derselben vertreten muss, […] nicht genugsam hervorgehoben, den dringenden Vorstellungen mehrerer Freunde, die für das Aufkommen derselben fürchteten, nachgebend, werde aber als Herausgeber, freilich nicht als Mitarbeiter, diese mir zum Gesetze machen“ (Brief Geigers an Leopold Zunz vom 12. August 1834, in: S 5, 82f). 173 Geiger konstatiert entsprechend: „Die Zeitschrift hat daher weniger die Darstellung und unmittelbare Ausbildung des gegenwärtigen Lebens im Judenthume im Auge, als vielmehr die klare Erfassung des vergangenen, auch des gegenwärtigen, aber als eines im geschichtlichen Übergange nothwendig begriffene, und die Vorbereitung eines mehr den wahrhaft geistigen Anforderungen entsprechenden Lebens in baldiger Zukunft. Einer solchen Tendenz mussten viele an sich werthvolle Beiträge weichen, ihr können sich weder die Männer anschließen, welche ein Fertiges, Festbegränztes wünschen und ausstellen wollen, noch die große Anzahl

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ven Unparteilichkeit des Organs. Die Zeitschrift präsentiert sich als dezidiertes Reformorgan und enthält ergo keine abweichenden Meinungen, beispielsweise von orthodoxen Gelehrten. Um im strengen Sinn unparteiisch zu sein, müssten aber verschiedene religiöse Positionen dargeboten und diskutiert werden, damit sich die Leser ein eigenes Urteil bilden können. Durch das Bekenntnis zum Reformjudentum wird die Unparteilichkeit unterlaufen, da es kein unparteiisches Parteiorgan geben kann. Geigers konzeptionelles Ideal, welches in der Theorie durchaus schlüssig ist, scheitert demnach an der Realität, wird von ihm selbst nicht konsequent umgesetzt. Denn nach heutigem Verständnis fungiert die Wissenschaftlichkeit allein, welche der Zeitschrift freilich nicht abzusprechen ist und auch durch das Bekenntnis zum Reformjudentum nicht aufgehoben wird, noch nicht als Garant einer absoluten Unparteilichkeit, wenngleich sie die Parteilichkeit gewiss etwas abfedert beziehungsweise objektiviert. Trotz der formulierten Auflagen ist Geiger zuversichtlich, dass genügend Personen mit dem Reformjudentum sympathisieren und sich dadurch als Autoren qualifizieren. Er stellt entsprechend heraus: „Ist jedoch die Richtung, welcher die Zeitschrift sich hingiebt, keine falsche, dann darf ich auch hoffen, daß die Zahl der Mitwirkenden doch zur Erhaltung derselben genügend sein wird“ (JZIII 375). An anderer Stelle legt er dar, dass er auf seine eigene Popularität setzt und hofft, dass er aufgrund seines Namens Autoren für die Zeitschrift gewinnen kann.174 Wenngleich einige jüdische Wissenschaftler, vorrangig Vereinsmitglieder, Artikel für die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie verfassen und veröffentlichen, zeigt ein Blick auf die einzelnen Jahrgänge und Hefte, dass Geiger selbst die meisten Artikel publiziert, manchmal auch anonym.175 Er agiert demnach nicht nur als Herausgeber, sondern ist offenkundig der eifrigste Autor, wodurch die ZeitDerer, die in das praktische Leben aufgehend, auch ihre Forschungen dessen unmittelbarem Heile widmen“ (JZIII 375). 174 So schreibt Geiger: „[…] ich denke, wenn ich erst einmal literarisch bekannt bin, eine hinlängliche Anzahl Mitarbeiter zu finden […]“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 6. Mai 1833, in: S 5, 81). 175 Vgl. L. Geiger, Einleitung zum zweiten Abschnitt: Wiesbaden 1832–1838, 70. Ludwig Geiger erläutert: „Er war in allen Abtheilungen gleichmäßig vertreten: in den größeren Abhandlungen, den Rezensionen, die sich mitunter zu ausführlichen gelehrten Arbeiten ausweiteten, in Nachrichten, die teils Korrespondenzen über allgemeine jüdische Angelegenheiten der verschiedensten deutschen Städte, auch mancher auswärtiger Länder waren […], teils Ausschnitte aus Zeitungen enthielten, mitunter Urkunden, neue Judengesetze und ähnliches betrachten; nur selten wurden hier einzelne gelehrte Notizen veröffentlicht“ (ders., Abraham Geiger, 41). Er führt weiterhin aus: „Zur Charakteristik der Tätigkeit des Herausgebers muß man vier Arten von Beiträgen unterscheiden: allgemeine theologische Artikel; solche, die auf das Praktische Rücksicht nehmen, die nötige Verbindung von Leben und Wissenschaft bekunden; Aufsätze, die auf die Stellung der Juden eingehen mit sympathischer Begrüßung der Verfechter der Emanzipation; endlich rein gelehrte Arbeiten“ (ebd.).

Wissenschaftliche Periodika285 schrift seine wissenschaftliche und religiöse Handschrift erhält und sich faktisch zu seinem publizistischen Organ entwickelt.176 Die literarische Präsenz Geigers kann zweifach gedeutet werden: Zum einen können seine hohe Produktivität und Publikationsdichte damit erklärt werden, dass es nur wenige andere Autoren gibt, die Interesse an einer Veröffentlichung haben beziehungsweise die mit dem programmatischen Profil der Zeitschrift konform gehen und als potentielle Autoren infrage kommen und er selbst so viel schreiben muss, um den vorhandenen Platz zu füllen und die Zeitschrift am Leben zu halten. Zum anderen können aber auch der eigene wissenschaftliche Profilierungsdrang, positiver gewendet das eigene ungebrochene Bestreben der Förderung der jüdischen Theologie zu seiner überproportional hohen Präsenz geführt haben. Geiger selbst liefert keine diesbezüglichen Äußerungen, sodass die Gründe seiner literarischen Dominanz nicht endgültig bestimmt werden können. Geiger begründet die endgültige Einstellung seiner Zeitschrift auch mit der zu geringen Nachfrage und verweist auf einen zu kleinen Adressatenkreis. Das wirft die Frage auf, welche Leser die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie vorrangig anzusprechen sucht. Folgende Aussage vermag Aufschluss darüber zu geben: „Es handelt sich jetzt nicht um Belehrung des gemeinen Mannes, es handelt sich um die geistige und geschichtliche Erfassung des Judenthums, welche zunächst in den gebildeten Kreisen durchdringen muß und von ihnen durchs Leben nach allen Richtungen hin getragen werde […]“ (JZII 467).177 Offenkundig versteht sich die Zeitschrift primär nicht als ein periodisches Organ 176 Meyer stellt entsprechend heraus: „But despite this Verein, which existed only on paper, the Zeitschrift was largely a personal organ for Geiger’s own ideas. He wrote the leading articles and he determined ist direction“ (Meyer, Jewish religious reform and Wissenschaft des Judentums, 29). Und auch Ludwig Geiger expliziert dazu: „Nicht alle, aber doch die meisten der eben Genannten [Mitglieder des Vereins jüdischer Gelehrter], sind mit größeren, zum Teil mehrfachen Beiträgen in der Zeitschrift vertreten; Rapoport hatte freilich nur einen Beitrag eingesendet, Zunz eine Rezension und mehrere Analekten; von Nichtmitgliedern des Vereins beteiligten sich Julius Fürst und Salomon Stern aus Rechnitz. Manche Aufsätze der ersten Bände sind gar nicht oder nur mit einigen Buchstaben unterzeichnet; bei den meisten dieser anonymen Artikel darf man wohl den Herausgeber als Verfasser annehmen, der sich keineswegs verbergen, sondern nur seinen wesentlichen Anteil nicht so offen hervortreten lassen wollte. In der Tat war er der fleißigste Mitarbeiter seiner Zeitschrift. So bedeutsam auch einzelne Aufsätze seiner Genossen waren, er gab dem Unternehmen die eigentliche Signatur“ (L. Geiger, Abraham Geiger, 41). Folgende Autoren veröffentlichen Artikel in der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie: Creizenach, Herxheimer, Dernburg, Rapoport, Jost, Steinheim, Grünbaum, Salomon, Zunz, Koh(e)n, Arnheim, Stern, Wechsler, Fürst, Auerbach, Stein, Fassel, Gutmann, Bloch, Formstecher, Krafft, Lippmann, Reggio, Saalschüz, Levy, Luzzatto, Holdheim. 177 Bereits 1832 benennt Geiger den „gebildeten Laien, der eine gewisse theologische Bildung besitzt“ als Zielgruppe einer wissenschaftlichen Zeitschrift (Brief Geigers an S. Frensdorff vom 3. Dezember 1832, in: S 5, 72). Vgl. auch: JZII 467.

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für die breite Masse, sondern vielmehr als ein Periodikum für Eliten, worauf bereits der Name Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie hindeutet. Erinnert sei daran, dass Geiger wissenschaftliche Bildungsprozesse generell auf einen spezifischen, das heißt konkret gebildeten Adressatenkreis zuschneidet, auf diese Weise die Professionalisierung der Wissenschaft des Judentums anstrengt und dementsprechend wissenschaftlichen Periodika eine „höhere Tendenz“ (JZII 465) verleiht. Konsequenterweise fordert er demzufolge auch ein gewisses intellektuelles Niveau, ja einen bestimmten Bildungsstand der Leser ein, welcher einer wissenschaftlichen Ausbildung geschuldet ist, nicht aber mit einer Besserstellung einhergeht, und wehrt sich so gegen eine populär-wissenschaftliche Ausrichtung der Zeitschrift.178 Betrachtet man das Profil der Zeitschrift und die in ihr publizierten Artikel, ist Geigers Forderung nach einem bestimmten Bildungsstand einleuchtend und darf nicht als Dünkel oder Elitismus missverstanden werden. Die dezidiert wissenschaftliche Profilierung und der ausgeprägt gelehrte Duktus der Abhandlungen erklären, warum Laien die dargebotenen wissenschaftlichen Ergebnisse nicht erfassten und der angestrebte Erkenntnisgewinn ins Leere liefe. Die an die Leser gestellten Anforderungen führen letztlich jedoch dazu, dass der Adressatenkreis des wissenschaftlichen Organs eingeschränkt ist, die Zeitschrift folglich mit einer schwachen Resonanz zu kämpfen hat. Das wird noch dadurch verstärkt, dass nicht alle potentiellen gelehrten Leser die reformerische Ausrichtung des Periodikums gutheißen und sich daher nicht automatisch angesprochen fühlen.179 Die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie erschöpft sich jedoch nicht in der Ansprache gelehrten Publikums. So sollen die unmittelbaren Adressaten das gewonnene Wissen nach Geigers Dafürhalten in breitere Kreise überführen, es somit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen. Die gebildeten Leser fungieren demnach als Vermittler, indem sie ihre Lesefrüchte weiter tragen, in die Lebenswelt einspeisen und so für eine weite Streuung wis178 Auf die mehrfach geäußerte Kritik, dass „[…] eine Zeitschrift […], wolle sie einwirken, populär sein [muss]“ (JZII 466), entgegnet Geiger: „Dabei hat man aber vergessen, daß Fragen, welche eine philosophische Betrachtungsweise und tief eindringende geschichtliche Kenntnisse zu ihrer Lösung erfordern, keineswegs vor das Forum Unkundiger gehören. Man geht von gar verschiedenen irrthümlichen Voraussetzungen bei der Aufstellung jenes Vorwurfs aus“ (JZII 466). Auch Suchy stellt heraus: „Standen sie dem Judentum nahe, so lasen sie wohl eher die allgemeineren jüdischen Blätter, die gute alte ‚Allgemeine Zeitung des Judentums‘, das ‚Israelitische Familienblatt‘, den ‚Israelit‘ oder die Gemeindeblätter“ (Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 197). 179 Suchy fragt entsprechend: „Wer las sie schon, die Blätter?“ und antwortet: „Die Rabbiner bestenfalls, […] vielleicht der eine oder andere jüdische Lehrer und der eine oder andere christliche Theologe und Orientalist“ (Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 196).

Wissenschaftliche Periodika287 senschaftlicher Erkenntnisse sorgen. Demzufolge spricht die Zeitschrift indirekt auch Laien an, hat also einen durchaus breiten Wirkungskreis und erschöpft sich nicht im elitären Diskurs. Es zeigt sich demnach, dass das publizistische Organ seiner genuinen Aufgabe als Medium der jüdischen Theologie gerecht wird und die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Herstellung von Öffentlichkeit umzusetzen vermag. Abschließend gilt es, die Wirkung der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie zu eruieren, also zu ermitteln, welches Renommee und welchen Stellenwert sie hat. Nach Geigers Einschätzung hat sich die Zeitschrift nach anfänglicher „Gleichgültigkeit“ „Anerkennung und Einfluss“ (AJG 269)180 erarbeitet. Er konstatiert, dass sie ein „allgemein günstige[s] Urtheil“ erfahre und beschreibt manche Reaktionen gar als „Furore“181. Das kann dahingehend gedeutet werden, dass Geiger sein Projekt positiv beurteilt und der Ansicht ist, dass sich die Zeitschrift im intellektuellen Diskurs etabliert und als wissenschaftliches Organ profiliert hat. Er schätzt die Wirksamkeit demnach als durchaus befriedigend ein. Während der Laufzeit rekurriert Geiger jedoch auch auf gängige Kritikpunkte, mit denen die Zeitschrift konfrontiert wird: „Einige fanden die in der Zeitschrift befolgte Richtung etwas zu negirend, keck einstürmend und wünschten mehr gehaltenen Ton, mehr ruhige Besonnenheit; Andere meinten, es sollten doch auch gegnerische Stimmen sich in derselben vernehmen lassen, damit die Unparteilichkeit gewahrt werde; auch kam Vielen das Meiste darin gar zu gelehrt vor, so daß der Inhalt gar nicht ins Leben dringen könne, und besonders auch dem Ungebildeten wollten sie ja seinen Theil an der regsamen Förderung gönnen. Allein bei einer genauen Erwägung des Gegenstandes zeigen sich in diesen Vorwürfen blos einige veraltete und oberflächliche Ansichten“ (JZII 463). Es kristallisiert sich heraus, dass der reformerische Impetus und die damit einhergehende Dynamik, die kämpferische Unumwundenheit, der Innovationsdrang und der virulente Fortschrittsglaube kritisiert werden. Damit zusammenhängend wird das strikte Selbstverständnis als Parteiorgan des Reformjudentums und die damit verbundene Abwehr konträrer Meinungen infrage gestellt. Weiterhin wird Kritik 180 Ausführlicher heißt es bei Geiger: „Die Zeitschrift hatte natürlich Anfangs, wie jede neue Erscheinung, mit der Gleichgültigkeit zu kämpfen […]; allein sie errang sich bald Anerkennung und Einfluss, die Orthodoxen schimpften, die Verständigen und Empfänglichen freuten sich bald, namentlich solange es bloss ein rein geistiger Kampf war, und das Leben noch nicht von dem Kampfe berührt war, wie der vormärzliche Liberalismus. Jemehr sie Einfluss hatte, je dringender die Anforderungen an das Leben wurden, je mehr stellt sich auch bei einem Theile des Publikums die Zaghaftigkeit ein, jemehr bildete sich auch als Gegensatz ein theologischer Conservatismus. Sie sei destructiv, radical, pietätslos; die Albernen, die aus Mangel an wahrhaft innerlichen und positiven Elementen sich nur an äusserlich Bestehendes und verwaschene Sentimentalität zu halten vermochten“ (AJG 268f). 181 Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 2. August 1839, in: S 5, 144.

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am Selbstverständnis als Institution der jüdischen Theologie geübt, indem der wissenschaftliche Duktus und der nicht ausreichende Lebensweltbezug gerügt werden. Im Zusammenhang damit wird häufig angeführt, dass ein populär-wissenschaftliches Organ einen deutlich größeren Wirkungskreis habe und damit auch wirkmächtiger sei. Dementsprechend wird dem Periodikum seine Ausstrahlungs- und Durchschlagskraft abgesprochen (vgl. JZII 466). Genau genommen wird demzufolge das komplette Profil des Periodikums bemängelt. Geiger stellt sich der Kritik nicht, sondern tut sie als „veraltet[ ] und oberflächlich[ ]“ (AJG 269) ab. Und auch den Vorwurf, „sie sei destructiv, radical, pietätslos“ (AJG 269), wertet Geiger nur als Albernheit ab. Es verwundert nicht, dass die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie zum Teil massiver Kritik ausgesetzt ist, eben weil sie sich als explizites Reformorgan präsentiert und die Ideale des Reformjudentums zu verkünden und zu streuen sucht. Durch das offensive Bekenntnis zum Reformjudentum und zur jüdischen Theologie bedingt sie die Kritik gewissermaßen selbst und verschließt sich einem größeren Adressatenkreis und einer weitläufigeren Anerkennung. Nachdem die Kritiker bis jetzt nur indirekt zu Wort kamen, wird die gekürzte Einschätzung Heinrich Graetz’ (1817–1891)182 angeführt, wie er sie in seiner Geschichte der Juden formuliert. Berücksichtigt werden muss, dass Graetz und Geiger zeitlebens ein äußerst spannungsvolles Verhältnis haben und in ihren religiösen und wissenschaftlichen Positionen keinen Konsens finden können. Graetz’ konservative Haltung und die damit verbundene Ablehnung von Reformen klingt auch in seiner Bewertung der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie an. Er schreibt: „Sie hat durch ihr Ungestüm und ihre Stürmerei Bewegung und Rührigkeit in jüdische Kreise gebracht, einen regen, wissenschaftlichen Blutumlauf erzeugt und die anderweitig gewonnenen Ergebnisse der Forschung in verdünnter Gestalt faßbar und gemeinverständlich gemacht. Wer vermag heute schon abzuwägen, ob der Gewinn oder der Schaden größer war, den sie dem Judentume gebracht hat? Sie hat nämlich auch tief eingreifende Irrtümer verbreitet […]. Seine Zeitschrift hat der Willkür, mit der Friedländer, Jacobson und ihre Gesinnungsgenossen die Reformen eingeführt hatten, den Schein der Notwendigkeit und der wissenschaftlichen Berechtigung verleihen wollen. Durch ihr ungestümes und absprechendes Wesen hat sie einen herben, heftigen Gegensatz hervorgerufen und somit den Samen der Zwietracht in Jakobs Weinberg gestreut.“183 182 Heinrich Graetz ist jüdischer Historiker, verfasst das elfbändige Standardwerk Geschichte der Juden (1853–1876), lehrt am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau und übernimmt nach Frankel die Herausgabe der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums. 183 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, 472 f. Weiterhin heißt es dort: „Ihr Ziel war von Anfang an Stürmerei. Sie schlug in jugendlicher Zuversicht einen hohen Ton an, als wollte sie sich zum höchsten Tribunal aufwerfen, von dem alle Bestrebungen ihr endgültiges Urteil, Lob

Wissenschaftliche Periodika289 Wenngleich eine gewisse Polemik mitschwingt, kann Graetz der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie zunächst auch etwas Positives abgewinnen, insofern sie nach seinem Dafürhalten Lebendigkeit im deutschen Judentum evoziert, den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn befördert und Bildungsprozesse angeregt hat. Darüber hinaus habe die Zeitschrift dazu beigetragen, ausgesparte Themen zu beleuchten und ihnen die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Weiterhin hebt Graetz lobend hervor, dass das Periodikum judenfeindliche Äußerungen konsequent und engagiert bekämpft habe. Gleichzeitig und zwar vordergründig formuliert er scharfe Kritik an der Zeitschrift beziehungsweise vielmehr an den Leitgedanken des Reformjudentums generell, indem er auf vermittelte „Irrtümer“ des Reformjudentums verweist und dieses der Spaltung des Judentums bezichtigt. In concreto kritisiert Graetz, dass das Periodikum respektive Geiger und die Reformbewegung das Judentum theologisiere, mithilfe der Wissenschaft seiner Traditionen und damit seiner Identität beraube, die Wissenschaft zur totalen Umgestaltung des Judentums instrumentalisiere und jegliche wissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihre lebensweltliche Nutzung reduziere. Weiterhin wirft er Geiger vor, dass dieser den Reformbestrebungen eine vermeintlich wissenschaftliche Legitimation verschafft habe. Nach Graetz’ Ansicht hat Geiger überdies die Zersplitterung des Judentums in verschiedene religiöse Richtungen provoziert und damit die Querelen im Judentum verankert. Berücksichtigt man Graetz’ religiösen Hintergrund und seine persönliche Beziehung zu Geiger, verwundert seine Kritik keinesfalls, sondern kann vielmehr als logische Konsequenz betrachtet werden. Auffällig ist, dass sich die Kritik an der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie mit der grundsätzlichen Kritik an Geiger und am Reformjudentum mischt. Daraus folgt, dass die Kritik zwar als solche wahrgenommen werden kann, jedoch keine konstruktiven, weiterführenden Einsichten für die Zeitschrift als solche zu vermitteln vermag. Eben weil sie vornehmlich einer unterschiedlichen religiösen Gesinnung und persönlichen Animosität geschuldet ist, entbehrt sie der Sachlichkeit und Objektivität, die nötig wären, um tatsächliche Schwachstellen der Zeitschrift ausfindig machen zu können. Deutlich wird jedoch, dass Geigers Periodikum genau wie Geiger und die Richtung des Reformjudentums durchaus umstritten sind und keine breite Zustimmung erfahren. oder Tadel, zu erwarten haben müßten. Mutig trat sie der unverschämten Anmaßung sich gelehrt dünkender Judenfeinde […] entgegen und bekämpfte die Gedankenschwäche derjenigen Juden, welche noch immer die Ideale in das Christentum verlegten. Als verdienstlich ist der Zeitschrift oder dieser Schule anzurechnen, daß sie früher vernachlässigte, weil ganz oder halb geächtete Episoden und Personen der jüdischen Geschichte […] wieder in frische Erinnerung brachte“ (Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, 472).

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Dass die Einschätzungen von Vertretern des Reformjudentums deutlich positiver ausfallen, überrascht indes auch nicht. So sind die Bewertungen Ludwig Geigers, überdies noch Sohn des Herausgebers, erwartungsgemäß anerkennender. Er schreibt beispielsweise: „Die Zeitschrift […] war in ihrer Art, durch die Vereinigung wissenschaftlicher Arbeit und praktischer Thätigkeit, durch die Zusammenstellung streng gelehrter Untersuchungen, scharfer Kritiken, Abwehr von Angriffen gegen Juden und Judenthum, und Versuchen zur Reform jüdischen Lebens und Gottesdienstes, durch ihre kühnen Angriffe gegen hochgestellte Gelehrte […] und eng verbunden gewesene Freunde wie S. R. Hirsch […] die erste, und ward für Viele von nachhaltigem Einflusse.“184 Eingedenk aller familiären Sympathie zeigt diese Einschätzung dennoch, worin das Spezifikum des periodischen Organs liegt, wodurch es sich somit auszeichnet und warum ihm eine gewisse Vorreiterrolle zukommt. Ludwig Geiger hebt gerade die fruchtbare Verschränkung von Theorie und Praxis, also von jüdischer Theologie und religiöser Lebenswelt, sowie die reformerische Ausrichtung hervor und bewertet das dadurch konstituierte Profil der Zeitschrift als innovativ, produktiv, prägend und wegweisend. Fungierte das programmatische Gepräge der Zeitschrift bei den Gegnern noch als Substanz der Kritik, bildet es bei Ludwig Geiger den Kern der positiven Würdigung. Er schreibt weiterhin: „Den Anhängern des Alten konnte die Zeitschrift nicht behagen. Denen, die jedes deutsche Wort verpönten, denen die Anwendung der fälschlich sogenannten christlichen Wissenschaft auf das Judentum verderblich schien, mußte das ganze Unternehmen ein Greuel sein. […] Denn fast in allen Abschnitten, hauptsächlich in den von dem Herausgeber herrührenden Beiträgen, betonte sie immer wieder den engen Zusammenhang von Wissenschaft und Judentum. Das für schädlich Erkannte sollte sofort abgeschafft, das für Recht Befundene eingeführt werden in Gottesdienst, Gebräuchen und Lehren.“185 Ludwig Geigers Beurteilung spiegelt eindrücklich wider, dass die Zeitschrift aufgrund ihres spezifischen reformerisch-wissenschaftlichen Profils viele Kritiker und Gegner hat. Alle, die der Reformbewegung und der jüdischen Theologie kritisch gegenüber stehen und Einwände vorbringen, kritisieren nach seinem Dafürhalten auch die Programmatik des Periodikums, wie Graetz’ Äußerung explizit zeigt. Daraus folgt schließlich auch, dass es nur einen speziellen Adressatenkreis gibt und die Zeitschrift stets mit der eingeschränkten Resonanz zu kämpfen hat. Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen konstatiert Ludwig Geiger: „Das ist das Unternehmen, das von größter Wichtigkeit, ja von einschneidender Bedeutung für sein Leben wurde: die ‚wissenschaftliche

184 L. Geiger, Einleitung zum zweiten Abschnitt: Wiesbaden 1832–1838, 70. 185 L. Geiger, Abraham Geiger, 44.

Wissenschaftliche Periodika291 Zeitschrift für jüdische Theologie‘ […].“186 Seine Worte lassen erahnen, welche Bedeutung die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie für seinen Vater hat. Gerade weil sie die lang ersehnte Institutionalisierung der jüdischen Theologie realisiert und ihre Professionalisierung wenigstens ansatzweise verwirklicht – wohingegen die Etablierung jüdischer Lehranstalten stets scheitert – kommt ihr eine so große Relevanz zu. Die Zeitschrift fungiert als erste Institution der jüdischen Theologie und entspricht vollends Geigers Vorstellungen und ist seinem Engagement zu verdanken, was seine besondere Verbundenheit erklärt. Überdies bietet sie ihm die Möglichkeit, seine wissenschaftlichen Abhandlungen wenigstens einem kleinen Publikum zugänglich zu machen, seine Erkenntnisse auf diese Weise zu verbreiten und sie gegebenenfalls auch für das religiöse Leben fruchtbar zu machen. Mit Suchy kann konstatiert werden, dass die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie genau wie andere jüdische Periodika „eine Ersatz- oder Ventilfunktion für den wissenschaftlichen Betätigungsdrang ihrer hochgebildeten Schöpfer gehabt hat“, dass sie dementsprechend als „Ersatzkanzel“ und „Ersatzkatheder“187 fungierte, was ihre Bedeutung prägnant zum Ausdruck bringt. Wenngleich Geiger sein Periodikum selbst wieder einstellt, kann die Bedeutung der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie für Geiger dennoch hoch eingeschätzt werden und das Scheitern damit erklärt werden, dass die Zeit und vielleicht auch Geiger selbst noch nicht reif für solch ein jüdisch-theologisches Organ waren.

2.2.2 Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben Vorweg sei angemerkt, dass die Darstellung von Geigers zweiter Zeitschrift deutlich kürzer ausfällt, überdies streng programmatischer Äußerungen ermangelt und nicht die gleiche Systematik wie die vorherige aufweist. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Geiger nur sehr vereinzelt zur Konzeption seiner Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben Stellung bezieht und programmatische Reflexionen fast gänzlich ausspart, zum anderen damit, dass die Konzeption der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben in weiten Zügen der Programmatik der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie ähnelt und um Wiederholungen zu vermeiden, der Fokus hier auf das konzeptionell Neue 186 A. a. O., 40 f. Ludwig weist daraufhin, dass die Bedeutung der Zeitschrift nicht aus finanziellen Vorteilen resultiert. So stellt er heraus: „Ein Entgelt erhielt weder der Herausgeber noch die Mitarbeiter; für den ersteren waren die Kosten, die durch die Korrespondenz entstanden, sehr erhebliche“ (ebd.). 187 Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 197.

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gerichtet wird. Daraus folgt, dass der Schwerpunkt auf dem Entstehungsprozess der wissenschaftlichen Zeitschrift liegt. Nachdem Geiger seine Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 1847 eingestellt hat, verwirft er seinen Wunsch zur Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums nicht, sondern hält weiterhin an der Idee fest, ein wissenschaftliches Periodikum zu etablieren. Dass er trotz des Scheiterns seiner ersten Zeitschrift das Vorhaben eines wissenschaftlichen Organs nicht aufgibt, zeigt, wie wichtig ihm die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Form eines wissenschaftlichen Periodikums ist. 1851 gibt er in einem Brief an seinen Kollegen Samuel David Luzzatto (1800–1865)188 zu erkennen, dass er schon seit längerem, also bereits kurz nach Beendigung der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, über die Herausgabe eines neuen Periodikums nachdenke, jedoch noch keine konkreten Schritte zur Umsetzung eingeleitet habe. Er schreibt: „Mein Plan, betreffend die Herausgabe ‚jüdischer Jahrbücher für Leben und Wissenschaft‘, ist vorläufig noch nicht weiter gerückt. Abgesehen davon, dass ich noch keinen Verleger mit Bestimmtheit dafür habe, sind allerdings auch überhäufte Amtsgeschäfte […] daran Schuld. Doch hoffe ich sicher, im nächsten Jahr den ersten Band veröffentlichen zu können.“189 Der Name des geplanten publizistischen Organs deutet dessen Selbstverständnis an und offenbart, dass Geiger ein gelehrtes Periodikum mit ausgeprägtem Lebensweltbezug gründen möchte, also gemäß seinem allgemeinen Wissenschaftsbegriff die Korrelation von Theorie und Praxis publizistisch umzusetzen sucht. Auffällig ist, dass er den Terminus „Jahrbuch“ verwendet und von der sonst gewählten Bezeichnung „Zeitschrift“ abrückt. Damit geht einher, dass das Themenspektrum klarer abgesteckt ist.190 Seine Äußerung legt weiterhin dar, dass vornehmlich kontextuelle Bedingungen die Herausgabe beziehungsweise die Gründung eines wissenschaftlichen Periodikums erschweren. Zum einen gilt es einen kooperationswilligen Verleger und zum anderen selbst genügend Zeit für die Herausgabe zu finden. Wieder wird deutlich, dass sowohl finanzielle als auch berufliche Dispositionen ein solches Projekt erschweren. Geiger fehlt angesichts seiner Tätigkeit als Rabbiner die Zeit und vermutlich auch die Muße, um sich engagiert 188 Samuel David Luzzatto lehrt am Collegio Rabbinico Italiano in Padua. Er macht sich als Gelehrter, Dozent und Übersetzer einen Namen und begründet die Wissenschaft des Judentums in Italien mit. 189 Brief Geigers an Samuel David Luzzatto vom 25. Februar 1851, in: S 5, 211 f. 190 An anderer Stelle definiert Geiger, was er unter einem Jahrbuch versteht: „Ein jüdisches Jahrbuch muß einen religiösen, historischen und gemeinnützigen Gehalt haben, der allerdings nicht blos in faßlicher Rede, sondern auch mit dichterischem Schmucke auftreten mag; das eigenthümlich ästhetische Element darf auch eine Stelle einnehmen, aber nicht ausschließlich vorwalten“ (JZIII 388).

Wissenschaftliche Periodika293 dem Periodikum widmen respektive um es überhaupt auf den Weg bringen zu können. Auch seine Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie musste unter anderem schon aufgrund seiner beruflichen Eingebundenheit eingestellt werden. Die nächste überlieferte Äußerung zur Gründung eines wissenschaftlichen Organs stammt erst wieder aus dem Jahre 1862 und rekurriert auf das Jahr 1861.191 In einem Brief an seinen Freund Wechsler erläutert Geiger abermals, dass er den Plan einer Zeitschriftengründung schon länger mit sich herumtrage und sich seine thematischen Vorstellungen auf „Urschriftliches, Alt- und Neuhalachisches und dergl.“192 beziehen. Einmal mehr erweckt es den Anschein, dass er zwar die Ideen hat und vereinzelt auch artikuliert, jedoch wenig unternimmt, um sie in die Wirklichkeit zu überführen. Innovative Pläne und wirkungsvolles Potential liegen folglich brach. Ein einschneidendes Erlebnis rüttelt Geiger schließlich jedoch auf, beschleunigt und konkretisiert seinen Plan einer Zeitschriftengründung: die Zurückweisung seines Artikels über Symmachus, der Uebersetzer der Bibel durch Adolf Hilgenfeld (1823–1907)193, Herausgeber der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, aufgrund seiner Religionszugehörigkeit.194 Geiger berichtet: „Aergerlich über diese Engherzigkeit pseudofreisinniger Christlichkeit also, nahm ich den Gedanken wieder auf; ein Jahrbuch für biblische und jüdische Wissenschaft sollte es werden.“195 Aufgrund seiner eigenen schmachvollen Erfahrung und der allgemeinen desolat empfundenen Situation, dass jüdischen Gelehrten kaum Möglichkeiten zur Veröffentlichung ihrer Abhandlungen eingeräumt werden, dass die Wissenschaft des Judentums ihre inhärenten Aneignungs- und Vermittlungsdimensionen nicht adäquat ausspielen und sich in der Öffentlichkeit angemessen positionieren kann, verstärkt sich Geigers Wunsch, erneut ein eigenes publizistisches Organ ins Leben zu rufen. Geiger empfindet die Situation gewiss schon lange als unbefriedigend, äußert sich mehrmals in kritischer Weise dazu und formuliert Institutionalisierungsbestrebungen, ohne jedoch den letzten Schritt zu wagen. Es macht den Eindruck, dass die Ablehnung seines Artikels als auslösender Moment für sein Engagement zu deuten ist und ihm letztlich drastisch vor Augen führt, dass sich die Situation 191 Über die Ursachen lässt sich nur spekulieren. Sicherlich spielt die Veröffentlichung seines opus magnum Urschrift und Übersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judentums eine erhebliche Rolle, da sie viel Zeit und Kraft eingefordert hat. 192 Brief Geigers an Wechsler vom 7. Januar 1862, in: S 5, 255. 193 Adolf Hilgenfeld ist protestantischer Theologe, wirkt als Professor an der Universität Jena, gehört der Tübinger Schule an und ist Herausgeber der Zeitschrift für wissenschftliche Theologie. 194 Geiger veröffentlicht diesen Artikel später in seinem eigenen Periodikum (vgl. Geiger, Symmachus, der Übersetzer der Bibel). 195 Brief Geigers an Wechsler vom 7. Januar 1862, in: S 5, 255.

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schnell ändern muss. Er intendiert deshalb zunächst das Jahrbuch für biblische und jüdische Wissenschaft zu gründen. Die Genre-Bezeichnung „Jahrbuch“ ist geblieben, im Unterschied zu seinem Plan aus dem Jahr 1851 soll sich das Organ nun jedoch auf die „biblische und jüdische Wissenschaft“196 konzentrieren, was in thematischer Nähe zu „Urschriftliche[m], Alt- und Neuhalachische[m], und dergl.“ steht. Der Lebensweltbezug und die stets hervorgehobene fruchtbare Korrelation von Wissenschaft und Leben scheinen zugunsten der Gelehrtheit aufgehoben und Bibel- und Talmudstudien ins Zentrum gerückt. Geiger entwirft bereits Ende 1861 einen Prospectus dafür, muss dann jedoch feststellen, dass die ursprünglich angedachte thematische Ausrichtung des Jahrbuchs zu speziell ist, also zu wenig Resonanz erfahren würde. Dementsprechend konstatiert er: „[…] So bedeutsam die bibelkritische Frage, die Frage über die Entwickelung aus der Bibel in den Thalmudismus ist, so muss sie, wenn sie nicht in selbstständigen Werken auftreten, sondern ein periodisches Organ zu ihrer Vertretung schaffen will, doch mehr in Verbindung mit der ganzen Zeit treten.“197 Geiger erkennt demzufolge, dass die streng gelehrte Konzeption des Gegenwarts- und Lebensweltbezuges ermangelt, sich dadurch von der potentiellen Leserschaft entfernt und als wissenschaftliches Periodikum disqualifiziert. Nach Geigers Auffassung muss ein wissenschaftliches Periodikum grundsätzlich ein Organ der Zeit sein, muss also die Bedürfnisse, Erwartungen und Probleme der gegenwärtigen Lage kennen und beleuchten. Auch bei wissenschaftlichen Abhandlungen gilt es stets die Lebensweltbedeutung mitzuführen und fruchtbar zu machen. Die Konzentration auf wissenschaftliche Studien, die ausschließlich dem Forschergeist und dem wissenschaftlichen Selbstzweck entspringen, steht somit konträr zur eigentlichen Zielrichtung eines publizistischen Periodikums und widerspricht auch Geigers Wissenschaftsbegriff. Die selbstkritische Erkenntnis Geigers führt dazu, dass er den Prospectus umgestaltet, die Konzeption des zu gründenden Organs also verändert. Die Modifikation drückt sich auch im veränderten Namen aus. Geiger will nun eine Zeitschrift biblischer und jüdischer Wissenschaft etablieren und sie im vierteljährlichen Rhythmus herausgeben. Konzeptionelle Einzelheiten nennt Geiger nicht, was jedoch nicht schwer wiegt, da er auch diesen Plan umgestaltet und schließlich die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben herausgeben möchte. Den letzten Entwicklungsschritt von der thematisch recht spezifischen Zeitschrift biblischer und jüdischer Wissenschaft hin zur thematisch offeneren Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben begründet Geiger wie folgt: „Doch ich bin noch frisch genug, dass, wenn ich an ein periodisches Organ gehen will, ich mir nicht den Blick verengen kann auf ein begrenztes wis196 Brief Geigers an Wechsler vom 7. Januar 1862, in: S 5, 255. 197 Ebd.

Wissenschaftliche Periodika295 senschaftliches Gebiet, ich stehe in den Wogen der Zeit und ich muss nach rechts und links schauen und frisch mitarbeiten.“198 Es zeigt sich demnach, dass Geiger der prinzipiellen wissenschaftlichen Universalität und Offenheit gerecht werden will und sein Periodikum daher nicht auf ein zu enges Themengebiet beschränken möchte. Die Bezeichnung Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben suggeriert ebendiese thematische Weite, indem sie im Allgemeinen, ja Unspezifischen bleibt und keine thematische Reduktion, positiver formuliert inhaltliche Spezialisierung anklingen lässt. Einzig der für Geiger konstitutive Nexus zwischen Theorie und Praxis wird erkennbar, insofern er zur Programmatik der Zeitschrift erhoben und dadurch als Leitparadigma bestimmt wird. Neben der Wissenschaftlichkeit zeichnet sich das Periodikum demnach durch einen ausgeprägten Lebenswelt- und Gegenwartsbezug aus, der sich letztlich in der Einbindung in den Reformprozess konkretisiert. Berücksichtigt man, dass Geiger den weiten Begriff „Wissenschaft“ häufig als Synonym für jüdische Theologie oder Wissenschaft des Judentums verwendet, liegt es nahe, dass er auch im Rahmen seines Periodikums mit dem unspezifischen Begriff „Wissenschaft“ die Wissenschaft des Judentums, die er als jüdische Theologie konzipiert, vor Augen hat. Ein Blick auf die Inhalte der Zeitschrift bestätigt diese Annahme. So beleuchten zahlreiche Aufsätze unterschiedliche Aspekte der jüdischen Theologie, wohingegen andere Wissenschaften, die mit dem Terminus „Wissenschaft“ ebenfalls abgedeckt sein könnten, keine Berücksichtigung finden. Einmal mehr zeigt sich also, dass Geiger auf terminologischer Ebene eine thematische Offenheit und Universalität anstrengt, auf inhaltlicher Ebene jedoch eindeutig die jüdische Theologie fokussiert und klare thematische Vorstellungen mitbringt. Es kann angenommen werden, dass Geiger bewusst auf die explizite Deklaration der jüdischen Theologie als Bezugswissenschaft im Titel verzichtet, um einen größeren Adressaten- und Autorenkreis anzusprechen, um also die negativen Erfahrungen mit der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie nicht zu wiederholen. Eingedenk der Erkenntnis, dass er in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts den Begriff „jüdische Theologie“, wenn überhaupt nur noch sehr vereinzelt verwendet und immer häufiger auf die Wendung „Wissenschaft des Judentums“, die er als jüdische Theologie auffasst, zurückgreift, kann der Titel der Zeitschrift dahingehend interpretiert werden, dass Geiger mit „Wissenschaft“ die Wissenschaft des Judentums meint. Er selbst präzisiert den unscharfen Begriff nicht und hat bei der Zeitschriftengründung auch noch kein konkretes wissenschaftstheoretisches Konzept zur Wissenschaft des Judentums entwickelt. Dennoch kann aber davon ausgegangen werden, dass die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben die Wissenschaft des Juden198 Brief Geigers an Wechsler vom 7. Januar 1862, in: S 5, 255.

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tums als Bezugswissenschaft für sich in Anspruch nimmt und sich dadurch als Medium der Wissenschaft des Judentums präsentiert. Der Titel des neuen Periodikums offenbart, dass sich die Themen sowohl aus der Wissenschaft des Judentums als auch aus der jüdischen Lebenswelt speisen und die Zeitschrift ergo als Förderin der Wissenschaft des Judentums und der religiösen Frömmigkeitspraxis fungiert, sich so produktiv in den Reformprozess einschaltet und sich damit als Organ des Reformjudentums auszeichnet.199 Die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben ist eine Vierteljahresschrift, wobei sich einige Jahrgänge nur aus drei Heften zusammensetzen.200 Von 1862 bis 1872 werden zehn Jahrgänge herausgegeben, da die Jahrgänge 1864 und 1865 zusammengefasst sind. Im Jahr 1875 erscheint posthum unter der Herausgeberschaft Ludwig Geigers ein weiterer Jahrgang, der jedoch nur noch aus zwei Heften besteht. Die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben wird fortwährend bei der Schletter’schen Buchhandlung in Breslau verlegt. Sie setzt sich in den ersten beiden Jahrgängen aus den Rubriken „Abhandlungen“, „Recensionen“, „Journal-Revue“ und „Notizen“ zusammen. Ab dem dritten Jahrgang konstituiert sie sich aus den Sparten: „Abhandlungen“, „Recensionen“, „Umschau“, „Aus Briefen“ und „Notizen“, wobei es teilweise Abweichungen gibt. Die „Abhandlungen“ sind entweder wissenschaftlicher oder allgemeiner Natur, beleuchten demnach entweder vorrangig wissenschaftliche Topoi oder gegenwärtige Phänomene, wobei idealiter beide Aspekte gemäß der Programmatik der Zeitschrift verknüpft werden. Die „Rezensionen“ fokussieren vorrangig neue wissenschaftliche Bücher und in der „Journal-Revue“ werden neben jüdischen auch christliche Periodika in zum Teil scharfem Ton besprochen. Die „Notizen“ beinhalten wissenschaftliche Miszellen und die Rubrik „Aus Briefen“ bietet wissenschaftliche Äußerungen von Geigers Freunden und Kollegen dar. Die Sparte „Umschau“ lässt sich inhaltlich schwer beschreiben, da sie ein Sammelsurium von kurzen Artikeln unterschiedlicher Art enthält. Der Aufbau erinnert offenkundig an den der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, insofern die thematische Ausrichtung ähnlich ist, wenngleich neue Rubriken vorhanden sind und die Bezeichnungen zum Teil divergieren. Und auch die konsequente Abfassung aller Artikel in deutscher Sprache, unter vereinzelter Integration hebräischer Wendun199 So schreibt Geiger: „Aber die Arbeiten sind mannigfaltig, und neben ernsten wissenschaftlichen Arbeiten auch frische, unmittelbar eingreifende“ (Brief Geigers an Wechsler vom 7. Januar 1862, in: S 5, 255f). In einem Brief an seinen Freund Stern schreibt er: „Nun bin ich freilich sehr begierig auf die Aufnahme, welche die Zeitschrift finden wird; frisch wird sie sein und zugleich wissenschaftlich, und ich denke mir, sie wird anregen. Doch warten wir es ab“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 12. Februar 1862, in: S 5, 256). 200 In den Jahren 1863, 1864/65, 1867, 1870, 1872 erscheinen drei Hefte, 1875 nur zwei Hefte, in den übrigen Jahrgängen vier Hefte.

Wissenschaftliche Periodika297 gen, erinnert an die Konzeption des früheren Periodikums. Im Hinblick auf die Autorenfrage konstatiert Ludwig Geiger: „Dreiviertel jedes Bandes, also etwa 15 Druckbogen wurden ausnahmlos von dem Herausgeber geliefert.“201 Ludwig Geigers Äußerung bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben genau wie die Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie in erster Linie Geigers publizistisches Forum ist und er das Organ vorrangig nutzt, um seine gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie Ansichten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Neben Geiger veröffentlichen gelegentlich noch Persönlichkeiten wie Auerbach, Wechsler, Rapoport, Adler, Zunz, Steinschneider, Nöldeke und Derenburg im Periodikum.202 Überblickt man Geigers Aufsätze kann mit Heschel konstatiert werden: „Die meisten Artikel Geigers waren Fortsetzungen der Thesen, die er in der Urschrift vorgebracht hatte, und widmeten sich entweder der biblischen Geschichte, der nachbiblischen und rabbinischen Literatur oder den Ursprüngen des Christentums; nur gelegentlich verbanden sie seine formale Wissenschaft mit expliziten Erwägungen über die Reform des Judentums.“203 Heschels letzter Beobachtung kann jedoch nur bedingt zugestimmt werden, da die Zeitschrift durchaus Artikel enthält, welche die gegenwärtige Lage des Judentums beleuchten und für Reformbestrebungen plädieren. Die Artikel problematisieren die zeitgenössische (religiöse) Lebenswelt, analysieren sie aus wissenschaftlicher Perspektive und korrelieren Theorie und Praxis, genau wie es der Titel der Zeitschrift auch suggeriert.204 Im ersten Jahr des Bestehens der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben äußert sich Geiger zu ihrer Resonanz und umreißt damit auch ihre Bedeutung. Er schreibt in einem Brief an Wechsler: „Meine Zeitschrift wird fortgesetzt. Ist auch vorläufig die Zahl der Abonnenten noch nicht gross, so vermehrt sie sich doch von Woche zu Woche, indem jede Woche neue Bestellungen bringt. […] sie fände dort [in Berlin] in allen Kreisen, und zwar auch in christlichen, 201 L. Geiger, Abraham Geiger, 167. Heschel konstatiert zustimmend: „Die ‚Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben‘ folgte der Struktur der ‚Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie‘: Geiger verfasste fast alle Artikel, die originellen Forschungsarbeiten, die Besprechungen neuer Publikationen und die Essays über das zeitgenössische jüdische Leben“ (Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 89f). 202 Teilweise lassen sich die Verfasser nur schwer ermitteln. Allem Anschein nach publizieren folgende Autoren in Geigers Periodikum, manche auch mehrfach: Wechsler, Steinberg, Auerbach, Adler, Harlavy, Stern, Brüll, Cohn, Auerbach, L. Geiger, Sänger, Schauer, Hilse, Koppmann, Rothschild, Kley, Rapoport, Wolff, Neubauer, Kohler, Grünebaum, Kirchheim, Zunz, Steinschneider, Nöldeke, Grätz, Derenburg, Landsberger, Rosenberg, Steinschneider, Kohut, Goldziher und Oppenheim. 203 Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 90. 204 Vgl. exemplarisch: Geiger, Der Boden zur Aussaat; ders., Die Begleitung des gottesdienstlichen Gesangs durch die Orgel; ders., Zur gegenwärtigen Lage; ders., Man treibt zum Extreme hin.

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viele Anerkennung.“205 Aufgrund des positiven und stetig wachsenden Zuspruchs und der steigenden Leserzahl beschließt Geiger, einen zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift herauszugeben. Wenngleich er einen positiven Trend aufzeigt, wird doch deutlich, dass der Leserkreis anfangs noch nicht sonderlich groß und die Ausstrahlungskraft des Periodikums entsprechend eingeschränkt ist. Seine Auskunft, dass die Zeitschrift auch christliche Leser interessiert, von diesen wahrgenommen und sogar gewürdigt wird, mag vielleicht überraschen, entspricht aber vollends seiner Intention. Festzuhalten ist also, dass Geiger den Start seiner Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben durchaus verheißungsvoll bewertet und optimistisch in die Zukunft blickt. Spätere Aussagen zur Wirksamkeit und Bedeutung der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben sucht man vergebens, sodass offen bleibt, ob sich seine optimistische Prognose bestätigt. Da die Zeitschrift jedoch durchgängig bis zu seinem Tod erscheint, kann vermutet werden, dass sie über eine beständige Leserschaft verfügt und überdies durch keinerlei gravierende (finanzielle) Schwierigkeiten bedroht wird, wodurch sie sich von der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie unterscheidet. An zu veröffentlichenden Artikeln ermangelt es ihr nicht, wie ein Blick auf die einzelnen Ausgaben verrät. Es erweckt den Anschein, dass Geiger genügend Zeit findet, um sich publizistisch zu betätigen. Denn auch während seiner Berliner Zeit, in der er als Rabbiner und Dozent wirkt, gibt er die Zeitschrift heraus und bestückt sie mit eigenen Abhandlungen. In seinen letzten Lebensjahren erfüllt sich somit sein lebenslanges Anliegen in doppelter Hinsicht, insofern zwei Institutionalisierungsformen der Wissenschaft des Judentums nebeneinander existieren und beide nachhaltig von ihm geprägt werden. Vergleicht man Geigers beiden wissenschaftlichen Zeitschriften miteinander, sind die Parallelen augenscheinlich und vorherrschend. Die Programmatiken sind nahezu identisch, einzig kleine Akzentverschiebungen, die schon in den jeweiligen Namen anklingen, sind ersichtlich. So fällt beispielsweise auf, dass die produktive Vernetzung von Wissenschaft und Leben zwar in beiden Periodika hochgehalten und zum Charakteristikum erklärt wird, der Lebenswelt- und Gegenwartsbezug in der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben aber stärker ausgeprägt ist. Damit einhergehend ist der Duktus der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie gelehrter und die Anbindung an die Bezugswissenschaft größer, was freilich nicht bedeutet, dass die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben eines wissenschaftlichen Profils entbehrt. Durch die Titulierung der jüdischen Theologie als Bezugsgröße der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie wird der enge Nexus explizit gemacht, wohingegen die Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben auf einen weiten Wis205 Brief Geigers an Wechsler vom 12. Dezember 1862, in: S 5, 260.

Wissenschaftliche Periodika299 senschaftsbegriff setzt, der Offenheit und eine Vielfalt an Themen suggeriert. Faktisch verbirgt sich hinter dem unspezifischen Begriff „Wissenschaft“ jedoch die Wissenschaft des Judentums, sodass der Titel in „Jüdische Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums und das Leben“ umformuliert werden könnte. Wie oben entfaltet versteht und konzipiert Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie und verwendet beide Termini nahezu synonym, wenn auch in unterschiedlichen Abschnitten seines Lebens. Die Deutung der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben als Medium der Wissenschaft des Judentums markiert daher keinen gravierenden Unterschied zum Verständnis der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie als Medium der jüdischen Theologie. Ergo dürfen die unterschiedlichen Bezugswissenschaften beider Periodika nicht allzu sehr gewichtet werden, da die Divergenz vorrangig terminologischer Natur ist, was ein Vergleich der inhaltlichen und funktionalen Profile bestätigt. Beide Zeitschriften fungieren als Organisationen der Wissenschaft des Judentums beziehungsweise der jüdischen Theologie und dadurch auch als Organe des deutschen Reformjudentums. Sie befördern daher die Wissenschaft des Judentums respektive die jüdische Theologie und die gegenwärtige Lage gleichermaßen, tragen beide Geigers Handschrift und sind gelungene Institutionalisierungen seines Wissenschaftsbegriffs. Ein Vergleich zwischen Geigers allgemeinen institutionstheoretischen Äußerungen zu jüdischen Periodika, wie sie in Kapitel 2.1 des II. Hauptteils dargelegt wurden, und der tatsächlichen Umsetzung in Form der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie und der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, wie sie in den Kapiteln 2.2 und 2.3 des II. Hauptteils beleuchtet wurde, deckt ebenfalls eine große Schnittmenge auf. Es ist ihm weitestgehend gelungen, seine Ideen in die Wirklichkeit zu überführen und damit sein zentrales Anliegen zu erfüllen. Aus heutiger Perspektive wird einzig das Ideal der Unparteilichkeit nicht konsequent umgesetzt und durch das explizite Bekenntnis zum Reformjudentum infrage gestellt, was Geiger selbst vermutlich nicht so empfunden hat. Im Unterschied zur Etablierung einer jüdisch-theologischen Fakultät sind Geigers Institutionalisierungsbestrebungen folglich von Erfolg gekrönt. Das zeigt sich neben der realen Existenz auch darin, dass beide Organe seine institutionstheoretischen Vorstellungen in toto entsprechen und er somit keine Kompromisse eingehen muss. Gerade weil die Institutionalisierungsbestrebungen im Hinblick auf eine Fakultätsgründung so häufig ins Leere laufen, bekommt die gelungene Etablierung der wissenschaftlichen Periodika einen besonderen Stellenwert. Sie fungieren lange als einzige Organisationen der Wissenschaft des Judentums beziehungsweise der jüdischen Theologie, wie Geiger sie versteht, und werden von ihm daher so geschätzt. Beide Zeitschriften sind beachtenswerte Größen in der jüdischen Wissenschaftsgeschichte und bedürfen daher der Würdigung.

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Eine bündelnde Reflexion von Geigers Institutionalisierungsverständnis soll den II. Hauptteil abschließen: Sowohl jüdische Lehranstalten, in welcher konkreten Gestalt auch immer, als auch jüdische Periodika dienen zusammengefasst der Förderung der Wissenschaft des Judentums, indem sie Öffentlichkeit konstituieren, die Verbreitung und Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse ermöglichen und idealiter Anerkennung im Makro- und Mikrokosmos evozieren. Insofern sie die Wissenschaft des Judentums befördern, unterstützen sie auch die produktive Entwicklung des Judentums insgesamt und sichern dessen Zukunftsfähigkeit. Wissenschaftliche Lehranstalten und wissenschaftliche Zeitschriften können als Institutionen der Wissenschaft des Judentums gedeutet werden, legen also die gleiche Bezugswissenschaft zugrunde und institutionalisieren sie. Bei aller Parallelität zwischen beiden Institutionalisierungsformen unterscheiden sie sich jedoch auch in vielen Aspekten und weisen ihr je spezifisches Gepräge auf, wodurch sich die grundsätzliche Legitimation zweier Organisationen der Wissenschaft des Judentums ergibt und deutlich wird, warum auch Geiger auf zwei Formen der Institutionalisierung setzt und zwei Entwürfe konzipiert. Die Wissenschaft des Judentums kann ihre komplexe Wirksamkeit nach Geigers Auffassung nur entfalten, wenn sie doppelt institutionalisiert ist, wenn also wissenschaftliche Lehranstalten und wissenschaftliche Periodika nebeneinander existieren und ihre jeweiligen Stärken ausspielen. Beide Institutionalisierungsformen haben ihre Berechtigung, da sie trotz ihres gleichen Status als Organe der Wissenschaft des Judentums unterschiedlich akzentuierte Profile aufweisen, also leicht divergierende Bedeutungen und Wirkungsmodi haben. Während jüdische Lehranstalten, wie Geiger sie konzipiert, der Pflege der Wissenschaft des Judentums und der Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses dienen, entbehren jüdische Periodika weitestgehend der berufsbezogenen Ausrichtung, weil sie keine explizite Ausbildungsaufgabe inkludieren, wenngleich sie freilich bildenden Anspruch haben. Damit einhergehend befördern wissenschaftliche Lehranstalten die Professionalisierung der Wissenschaft des Judentums und im speziellen auch die der Rabbinerausbildung, was jüdische Zeitschriften wenn überhaupt nur bedingt vermögen. Weiterhin können die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen einzig in einer jüdischen Lehranstalt institutionalisiert werden, nicht jedoch durch ein wissenschaftliches Periodikum. Jüdische Lehranstalten fungieren weiterhin als soziale Knotenpunkte und dienen der Vergemeinschaftung jüdischer Wissenschaftler, was wissenschaftliche Periodika nicht zu leisten vermögen. Jüdische Lehranstalten offerieren zudem günstige Forschungsbedingungen, derer es zur nachhaltigen Förderung der Wissenschaft des Judentums dringend bedarf, weil dort die nötigen Mittel und Materialien dargeboten werden und so die Qualität der Forschung merklich verbessert werden kann. Die Wirkungskraft und der Ertrag von jüdischen Lehranstalten sind daher längerfristig mehrgestaltig, durch-

Wissenschaftliche Periodika301 schlagender und größer, da sie die gebündelte Effizienz von Forschung und Lehre in sich vereinen und insgesamt ausdifferenzierter und komplexer strukturiert sind. Eine jüdisch-theologische Fakultät bringt außerdem die Gleichberechtigung und Akzeptanz der Wissenschaft des Judentums deutlicher zum Ausdruck als ein jüdisches Periodikum, da Letzteres selbstständiger zu etablieren und nicht Teil einer staatlichen Organisation ist. Eine jüdisch-theologische Fakultät spiegelt die akademische und staatliche Anerkennung ausdrucksstark wider und besitzt auch deshalb eine größere Ausstrahlungskraft im Makrokosmos. Und sogar eine selbstständige jüdische Lehranstalt weist eine stärkere Leuchtkraft als eine jüdische Zeitschrift auf und findet gerade auch im Makrokosmos mehr Beachtung und Aufmerksamkeit. Betrachtet man die angeführten Spezifika, kommt unweigerlich der Eindruck auf, dass wissenschaftliche Lehranstalten wissenschaftliche Periodika überbieten und Letztere nahezu bedeutungslos sind. Sicherlich übertreffen wissenschaftliche Einrichtungen wissenschaftliche Periodika in vielen Punkten und können daher als Krönung der Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums gedeutet werden. Das heißt jedoch nicht, dass wissenschaftliche Zeitschriften in manchen Aspekten nicht auch wissenschaftliche Lehranstalten überbieten. So schlagen Zeitschriften Einrichtungen hinsichtlich Unmittelbarkeit, Aktualität, Dialogizität und Diskursivität. Sie sind wesentlich stärker in die jeweilige Zeit integriert beziehungsweise mit dieser verflochten, also Teil des unmittelbaren Lebens, ja der Praxis, und können schneller auf gegenwärtige Bedürfnisse und Probleme reagieren und sich in laufende Diskussionen einschalten. So haben die obigen Ausführungen gezeigt, dass jüdische Periodika, wie Geiger sie konzipiert, in den Reformprozess eingebunden sind, also für die Umsetzung von Reformen nutzbar gemacht werden können. Daraus folgt, dass sie als Organe des deutschen Reformjudentums zu verstehen sind, was jüdische Lehranstalten trotz eines reformorientierten Wissenschaftsverständnisses nicht zwangsläufig sind. Periodika sind überdies niederschwelliger angelegt und erreichen dadurch prinzipiell einen größeren Adressatenkreis, indem sie einen leichteren Zugang und eine offenere Zielgruppe haben. Jüdische Lehranstalten suchen ausschließlich Studenten und zwar vorrangig jüdische zu erreichen, wohingegen jüdische Zeitschriften auch bereits ausgebildete und nicht-jüdische Leser ansprechen wollen. Das Lesen von Zeitschriften ist unverbindlich, mit keinerlei Bedingungen oder Konsequenzen verbunden und demzufolge jedem möglich, wohingegen die Aufnahme eines Studiums an einer jüdischen Lehranstalt voraussetzungs- und vor allem folgenreich ist und zudem deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt. Darüber hinaus ist die Gründung von Zeitschriften einfacher, da sie unabhängiger und schneller realisiert werden kann und kostengünstiger ist. Die Abhängigkeit vom Staat und den jüdischen Gemeinden ist geringer, sodass der Entstehungsprozess beschleunigt

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werden kann und viele Hürden umschifft werden können. Dass wissenschaftliche Zeitschriften relativ unkompliziert ins Leben gerufen werden können und daher auch zu Geigers Lebzeiten existieren, kann als Vorsprung, ja als gewichtiger Vorzug gegenüber Lehranstalten gewertet werden, die zumeist ihrer Errichtung harren. Auch Geiger geht die konkrete Umsetzung einer Zeitschriftengründung beherzter und offensiver an als die einer Fakultätsgründung, was auf die günstigeren Bedingungen und einfacheren Modalitäten zurückzuführen ist. Die kurze Gegenüberstellung beider Institutionalisierungsformen zeigt, dass beide Organisationen ihre Stärken und Schwächen haben, daher nur gemeinsam die Wissenschaft des Judentums und dadurch auch das Judentum nachhaltig fördern können. Daher leuchtet es vollends ein, dass Geiger bestrebt ist, sowohl jüdische Lehranstalten als auch jüdische Periodika zu gründen, um die Wissenschaft des Judentums adäquat zu institutionalisieren und zu profilieren. Geigers Idee der zweifachen Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums lebt nach ihm noch fort, wie das Erscheinen zahlreicher jüdischer wissenschaftlicher Zeitschriften und das Bestehen von wissenschaftlichen Einrichtungen zeigen. Prominentestes Beispiel ist sicherlich die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, die vom jüdisch-theologischen Seminar (Fraenckel’scher Stiftung) in Breslau bis 1938 herausgegeben wird.206 Auch die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gibt von 1874–1938 die Berichte der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums heraus. Obgleich Geigers eigene Periodika seinen Tod nicht überdauern, bestehen seine institutionstheoretischen Vorstellungen demnach fort, wenn auch in leicht modifizierter Form.

206 Vgl. zur Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums und zu jüdischen wissenschaftlichen Periodika im Allgemeinen: Suchy, Die jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften in Deutschland von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, 189–192.

III. Hauptteil: Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Im I. Hauptteil ist deutlich geworden, dass das Judentum Ideen der Gesellschaft und Kultur aufnimmt und für die eigene Entwicklung fruchtbar macht. Geigers Äußerung: „Das Judenthum steht nicht abgeschlossen da, es empfängt von der gesammten Entwickelung der Menschheit, wie es ihr giebt […]“ (BA 6) spiegelt exemplarisch den lebendigen Austausch mit der geistigen Umwelt wider. Das Judentum benötigt diese Inspiration, speist gleichzeitig aber auch eigene Gedanken in die universale Ideengeschichte ein und bereichert diese dadurch. Es ist demgemäß keine weltabgewandte Einheit, sondern öffnet sich für nicht-jüdische Einflüsse und ist einer fruchtbaren Interaktion zugetan. Der durch den Idealismus und Neuhumanismus ausgelöste und gestaltete Wandel des Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsverständnisses sowie die beginnende Scientifizierung des gesellschaftlichen Lebens bestimmen das intellektuelle Klima zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Universitätsreformen, die maßgeblich von Wilhelm von Humboldt angeregt und umgesetzt werden, münden 1810 in die Gründung der Berliner Universität, die fortan als Prototyp der modernen Universität gilt und eine beachtliche Prägekraft über Preußen hinaus entwickelt. Die Berliner Universität verkörpert die neue Idee der Wissenschaft und der Universität und setzt das neuhumanistische Bildungsideal um. Folglich werden die Einheit von Forschung und Lehre, der Selbstzweck der Wissenschaft und die damit einhergehende Abkoppelung der Ausbildungsfunktion an der Berliner Einrichtung propagiert.1 „Selbstbestimmung“, „Selbsttätigkeit“, „Individualität, Universalität, Totalität (Ganzheit)“2 fungieren von nun an als Kerngedanken von Bildung und Wissenschaft. Die sich in dieser Zeit entwickelnde Wissenschaft des Judentums partizipiert am Zeitgeist und ist ergo durch Motive des Idealismus, des Neuhumanismus und die neue Idee der Wissenschaft beeinflusst. Was für das Judentum im Ganzen gilt, trifft also auch auf dessen Wissenschaft zu, sodass mit Homolka konstatiert werden kann: „[…] Jewish theology is highly contextual“3. Diese noch unspezifische Prägung gilt es nun zu präzisieren und zu systematisieren, indem konkrete Einflussfaktoren des Geigerschen Wissenschaftsverständnisses erhellt 1 2 3

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 56–65, 470–482. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 57 f. Homolka, Continuity in change, 90. Homolka schreibt weiterhin: „Jewish theology has always been determined by the distinctive social environement in which it developed its particular character“ (ebd.).

304

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

und benannt werden. In Kapitel 1 wird der innerjüdische Kontext, das heißt die Wissenschaftskonzepte der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums, beleuchtet. Kapitel 2 nimmt den Kontext der protestantischen Theologie in den Blick, näher Friedrich Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums. In beiden Kapiteln wird untersucht, ob und inwieweit Geiger sich an bereits vorliegenden Entwürfen orientiert und sein Verständnis der Wissenschaft des Judentums in Anlehnung an die Leitannahmen von Vertretern der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums und insbesondere von Schleiermacher entwickelt hat.

1. Innerjüdischer Kontext Geiger ist, wie bereits gezeigt, nicht der Erste, der einen Entwurf der Wissenschaft des Judentums entwickelt. Der Hegelianer Gans führt den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ 1821 während seiner Präsidentschaft im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden ein. Fortan wird der Begriff im Kulturverein verwendet. Öffentliche Verbreitung findet er ab 1823 durch die vereinseigene Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Erste konzeptionelle Merkmale des Begriffs liegen in Zunz’ Schrift Etwas über die rabbinische Literatur (1818) und Wolfs Aufsatz Ueber den Begriff der Wissenschaft des Judenthums (1823) vor. Zunz’ Schrift gilt als erste programmatische Reflexion über die Wissenschaft des Judentums, wenngleich der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ selbst noch nicht begegnet. Zunz verwendet in seinem Erstlingswerk den allgemeineren Ausdruck „Wissenschaft“, da die Bezeichnung „Wissenschaft des Judentums“ 1818 noch nicht ausgeprägt ist. Seine Ausführungen können jedoch schon auf die Wissenschaft des Judentums bezogen, als Ideen der Wissenschaft des Judentums gedeutet und ergo als Wissenschaft des Judentums bezeichnet werden. Im Folgenden wird daher auch im Kontext von Zunz’ Frühwerk stets „Wissenschaft des Judentums“ geschrieben. Nachdem der Terminus „Wissenschaft des Judentums“ von Gans eingeführt worden ist, greift auch Zunz darauf zurück, sodass in seinen späteren Äußerungen der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ vorkommt. Wolf verwendet den Begriff „Wissenschaft des Judentums“ in seinem wissenschaftsprogrammatischen Entwurf, wie schon sein Aufsatztitel zu erkennen gibt. 1823 ist der Terminus demgemäß zumindest innerhalb des Kulturvereins, dem auch Wolf angehört, eine geläufige Bezeichnung. Als Geiger sein Wissenschaftsprogramm formuliert, sind die Entwürfe der ersten Generation und der Begriff „Wissenschaft des Judentums“ demnach bereits im Umlauf. Sie könnten Geigers Konzept daher beeinflusst haben. Im Folgenden werden zunächst die Wissen-

Innerjüdischer Kontext305 schaftsverständnisse von Zunz, vom Berliner Kulturverein sowie von Wolf skizziert und es wird so das Wissenschaftskonzept des intellektuellen Judentums erhellt. Davon ausgehend soll geklärt werden, ob und inwieweit Geiger sich bei der Formulierung seines Wissenschaftsverständnisses an den Vorlagen des intellektuellen Judentums orientiert.

1.1 Leopold Zunz’ Verständnis der Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz (1794–1886)4 erfährt zunächst eine traditionelle jüdische Erziehung, die von den Ideen der Haskala weitestgehend unbeeinflusst ist. Nach dem Besuch eines Gymnasiums, auf dem er mit aufklärerischem und humanistischem Gedanken- und Bildungsgut in Kontakt kommt, studiert er Altertumswissenschaft und Philologie an der neu gegründeten Berliner Universität, unter anderem bei Friedrich August Wolf (1759–1824), August Boeckh (1785–1867), Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) und Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849). Mit der Arbeit De Schemtob Palkira, die Fragment geblieben ist, promoviert er sich 1821 an der Universität Halle. Zunz arbeitet als Lehrer, Direktor einer Gemeindeschule und eines Lehrerseminars, Redakteur sowie Prediger. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Berliner Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden und ist Redakteur der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Er verfasst zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Monographien und weiß sich zeit seines Lebens der Wissenschaft des Judentums verpflichtet. Neben seinem Erstlingswerk Etwas über die rabbinische Literatur (1818) sind vor allem seine Schriften Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt. Ein Beitrag zur Alterthumskunde und biblischen Kritik, zur Literaturund Religionsgeschichte (1832), Zur Geschichte und Literatur (1845) und Die Literaturgeschichte der synogalen Poesie (1865/67) von Bedeutung. Vor allem wegen seiner Vorreiterrolle und seines lebenslangen Engagements für die Wissenschaft des Judentums wird er in der Literatur häufig als der „Begründer der Wissenschaft des Judentums“5 bezeichnet. Aufgrund seines großen politischen Interesses engagiert er sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beispielsweise auch als Wahlmann für die preußische und deutsche Nationalversammlung und hält politische Reden. Zunz gehört keiner religiösen Strömung des Judentums an und hat nie ein Rabbinat inne.6 4 5 6

Geboren wird er als Jomtob Lippmann Zunz. Erst ab 1815 nennt er sich Leopold. Glatzer (Hrsg.), Leopold Zunz, V. Wallach stellt daher auch heraus: „[…] Zunz lived in and for his Wissenschaft, which was part of himself“ (Wallach, Liberty and Letters, 19). Vgl. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, 170–184.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Zunz entfaltet sein Wissenschaftsverständnis vorrangig in seiner Schrift Etwas über die rabbinische Literatur.7 In dieser Schrift gibt er einen Abriss über das umfangreiche Gebiet der jüdischen Literatur. Hinter der Wendung „rabbinische Literatur“ verbirgt sich also die Gesamtheit der „neuhebräische[n] oder jüdische[n] Litteratur“ 8, welche die rabbinische Literatur im engeren Sinn deutlich übersteigt. Seine Schrift enthält demgemäß eine Enzyklopädie der jüdischen Literatur. Die jüdische Literatur bildet für Zunz wie für Herder den „Eingang“9 in die jüdische Kultur und fungiert damit als Spiegel der vielfältigen kulturellen Ausprägungsformen des Judentums, ja der jüdischen Kreativität. Für Zunz ist die jüdische Literatur „geschlossen“10, das heißt zum Abschluss gebracht, woraus sich die zur Erforschung nötige Distanz ergibt. Daher entbehrt die jüdische Literatur auch jeglicher Lebensweltrelevanz und normativer Bedeutung für die Gegenwart. Unter der Wissenschaft des Judentums versteht Zunz die kritische Betrachtung und historische Darstellung des jüdischen Schrifttums, welches sich nicht in den religiösen Schriften des Judentums erschöpft, sondern die gesamte jüdische Literatur als Ausdruck des jüdischen Geistes umfasst.11 Die Wissenschaft des Judentums ist für Zunz demnach in erster Linie historische Philologie. Die jüdische Literatur(geschichte) fungiert damit als zentraler Forschungsgegenstand und der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn als primäre Zielsetzung der Wissenschaft des Judentums. Zunz’ wissenschaftliche Perspektive ist historischphilologisch und sein Wissenschaftsideal universalistisch ausgerichtet, entbehrt also eines theologischen Gepräges.12 Dezidiert wendet sich Zunz gegen eine theologisch motivierte Erforschung jüdischer Schriften und gegen die ausschließliche Betrachtung religiöser Schriften. Er plädiert für eine von der Theologie emanzipierte Wissenschaft des Judentums. Zunz stellt die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Literatur als dringendes Desiderat der Gegenwart dar. Er fordert ein kritisches Studium der jüdi7

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12

Zunz’ 1845 erschienene Schrift Zur Geschichte und Literatur und sein 1832 erstmalig veröffentlichtes Werk Die gottesdienstlichen Vorträge spiegeln sein Wissenschaftsverständnis ebenfalls wider (vgl. Zunz, Zur Geschichte und Literatur; ders., Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt). Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, 3, Fn. 1. Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, 6. A. a. O., 4. Zunz führt erklärend an: „Hier wird die ganze Litteratur der Juden, in ihrem grössten Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt, ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder kann“ (a. a. O., 5, Fn. 1). Folgende Äußerung zeigt exemplarisch, dass Zunz eine von theologischen Interessen geleitete Forschung ablehnt: „Unsere Wissenschaft soll sich daher zunächst von den Theologen emanzipieren und zur geschichtlichen Anschauung erheben […]“ (Zunz, Die jüdische Literatur, 57).

Innerjüdischer Kontext307 schen Traditionen unter Berücksichtigung des historischen Kontextes, macht sich also für eine historisch-kritische Schriftauslegung stark. Innerhalb der Kritik unterscheidet er eine „grammatische“, eine „doctrinale“ und eine „historische“.13 Die „grammatische“ Kritik analysiert die Sprache. Die „doctrinale“ legt die Traditionen und Ideen dar und die „historische“ Kritik betrachtet und systematisiert die Entwicklung der Tradition. Dadurch wird der Bruch zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit deutlich, die als unreflektierte Autoritätsgläubigkeit eine rationale, objektive, also wissenschaftliche Textauslegung ablehnt. Gleichzeitig ist die Anlehnung an die Altertumswissenschaft und die klassische Tradition, die seinem Studium geschuldet ist, erkennbar. Zunz bedient sich also moderner wissenschaftlicher Methoden, offenbart eine historisierende Perspektive und wendet diese auf das jüdische Schrifttum an. Er sucht offenkundig eine konstruktive und fruchtbare Verbindung, ja Aussöhnung von Tradition und Moderne zu verwirklichen und durch die Anwendung etablierter wissenschaftlicher Methoden außerjüdische Anerkennung zu erwirken. Ausgehend vom Forschungsgegenstand – die Gesamtheit der jüdischen Literatur – ergibt sich auch die disziplinäre Aufgliederung, die von Zunz jedoch nicht systematisiert und als solche kenntlich gemacht wird. Nach Zunz’ Dafürhalten sollen literarische Erzeugnisse des Judentums aus unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Handelns und Denkens betrachtet werden und zwar unabhängig von ihrer normativen Bedeutung. Folgende Themengebiete können daher ausgemacht und als Disziplinen der Wissenschaft des Judentums gedeutet werden: Theologie, Mythologie, Dogmatologie, Religion, Gesetzgebung und Jurisprudenz, Ethik, Astronomie, Geographie, Mathematik, Chronologie, Astrologie, Technologie und Gewerbskunde, Industrie und Handel, Kunst, Baukunst, Buchdruckerkunst, Musik, Erfindungen, Geschichte, Altertumskunde, Sprache, Poesie, Rhetorik, Grammatik, Synonymik, Etymologie und Diplomatik.14 Vor allem am Ende seiner Wirksamkeit betont Zunz wie kein anderer Vertreter den Selbstzweck der Wissenschaft des Judentums. Sie solle einen universalen Erkenntnisgewinn anbahnen und das literarische Erbe des Judentums zu Bewusstsein bringen und dadurch bewahren. Gleichwohl verleiht er ihr aber auch gewisse emanzipatorisch-politische Implikationen, wie folgende Äußerung exemplarisch zeigt: „Die Gleichstellung der Juden in Sitte und Leben wird aus der Gleichstellung der Wissenschaft des Judenthums hervorgehen.“15 Zunz versteht die Wissenschaft des Judentums damit eindeutig als Motor der Emanzi-

13 14 15

Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, 7. Vgl. Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, 7–22. Zunz, Die jüdische Literatur, 59.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

pation. Moralisch-erzieherische oder berufsbezogene Intentionen schreibt er ihr hingegen nicht zu. Zunz engagiert sich wie kaum ein anderer für die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums und mahnt mehrfach die fehlende akademische Integration der Wissenschaft des Judentums an.16 Konkret sucht er die jüdische Geschichte und Literatur auf eine wissenschaftliche Ebene zu heben und als gleichberechtigte Fächer an deutschen Universitäten zu etablieren, um so die Emanzipation des Judentums in Gänze zu realisieren.17 Die Wissenschaft des Judentums kann für ihn nur in strenger Korrespondenz mit staatlichen Einrichtungen etabliert werden. 1848 beantragt er deshalb beim preußischen Ministerium für Erziehung und religiöse Angelegenheiten die Errichtung einer „ordentliche[n] Professur für jüdische Geschichte und Literatur“18 an der philosophischen Fakultät der Universität Berlin. Zunz’ Antrag wird mit der Begründung abgelehnt, dass das Judentum keine Bevorzugung erfahren dürfe und die jüdische Geschichte durch die allgemeine Geschichtswissenschaft mit abgedeckt würde. Es gelingt Zunz zeitlebens nicht, die Wissenschaft des Judentums nach seinen Vorstellungen zu institutionalisieren und sie in der akademischen Landschaft zu verorten. Von jüdischen Einrichtungen, wie beispielsweise der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und dem Breslauer Rabbinerseminar, distanziert Zunz sich und lehrt dort auch nicht.

1.2 Das Wissenschaftsverständnis des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden Am 7. November 1819 gründen Leopold Zunz, Isaac Levin Auerbach, Eduard Gans, Joseph Hillmar, Isaac Marcus Jost, Joel Abraham List und Moses Moser in Berlin als Reaktion auf die Hep!-Hep!-Krawalle den Verein zur Verbesserung des Zustandes der Juden im Deutschen Bundesstaate, der, wie der Name unschwer zu erkennen gibt, die als desolat empfundene politische und soziale Situation der 16

17 18

Folgende Äußerung Zunz’ bringt die als defizitär empfundene Lage zum Ausdruck: „Für jüdische Angelegenheiten gab es keine Sachverständigen, da jüdische Wissenschaft mit den Juden in ein Ghetto verwiesen war. Das Ghetto ist gesprengt, aber die Verweisung noch nicht aufgehoben […]“ (Zunz’ Brief an Minister Ladenberg vom 25. Juli 1848, in: L. Geiger, Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, 335). Zunz schreibt dazu prägnant: „Die Gleichstellung der Juden in Sitte und Leben wird aus der Gleichstellung der Wissenschaft des Judenthums hervorgehen“ (Zunz, Die jüdische Literatur, 59). Zunz’ Brief an Minister Ladenberg vom 25. Juli 1848, in: L. Geiger, Zunz im Verkehr mit Behörden und Hochgestellten, 336.

Innerjüdischer Kontext309 Juden zu verändern sucht. 1821 wird der Verein umbenannt, heißt von nun an Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden19 und weist eine dezidiert wissenschaftliche Ausrichtung auf. Er erfährt eine starke Prägung durch idealistisches Gedankengut, vorrangig durch Hegel, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass einige Mitglieder Hegel-Schüler sind. Der Verein unterhält vier Institute, durch welche die wissenschaftlichen Bildungsprozesse institutionalisiert werden: das Institut für die Wissenschaft der Juden, die Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, die Unterrichtsanstalt und ein Archiv für Korrespondenz. Im Institut für die Wissenschaft der Juden werden Forschungsergebnisse der Mitglieder vorgestellt und diskutiert. Die Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums ist das erste jüdische wissenschaftliche Periodikum, welches Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit einspeist. Allerdings kommt es nicht über drei Ausgaben hinaus und weist eine nur geringe Verbreitung auf. Die Unterrichtsanstalt will vornehmlich osteuropäische Juden auf die Universität vorbereiten. Im Archiv für Korrespondenz werden Briefe, Zeitschriftenartikel und andere Dokumente gesammelt und aufbewahrt. Der Verein fungiert als erste Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums, also als erste Einrichtung, die sich im modernen Sinne mit der Wissenschaft des Judentums beschäftigt und kontinuierlich Öffentlichkeit herstellt, was für die Profilierung der Wissenschaft des Judentums unabdingbar ist. In der Literatur wird er deshalb auch als „Keimzelle aller späteren Wissenschaft des Judentums“20 bezeichnet. Bereits Anfang 1824 löst sich der Verein jedoch wieder auf. Die kleine private Initiative, die ohne jegliche staatliche Unterstützung und ohne gemeindliche Anbindung und breiten Rückhalt existiert, kann demnach keine lange Wirksamkeit vorweisen.21 Dennoch kommt dem Kulturverein aufgrund seiner Pionierleistung, vor allem in begriffsgeschichtlicher Hinsicht, eine große Bedeutung innerhalb der jüdischen Wissenschaftsgeschichte zu. Als Präsident hält Gans drei Reden im Verein, die als einzige gut zugängliche Quellen Aufschluss über die Vereinskonzeption geben und dessen Wissenschaftsverständnis zumindest andeuten.22 Die wissenschaftsprogrammatischen Ideen gründen unmittelbar in der existenziellen Situation der Vereinsmitglieder, die Gans wie folgt beschreibt: „[…] Geburt, Verwandschaft, Erziehung und freundschaftliche Verhältnisse […] fesseln uns an die Glaubensgenossen […]. 19 20 21 22

Vgl. zum Kulturverein exemplarisch: Schorsch, Breakthrough into the Past; Ucko, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums. Blänkner; Göhler; Waszek (Hrsg.), Einleitung: Eduard Gans, 13. Bezeichnend ist, dass zwei Vereinsmitglieder, Gans und Heine, später zum Christentum konvertieren. Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden legt keinen ausgearbeiteten wissenschaftsprogrammatischen Entwurf vor, sodass auch diese Darstellung knapp ausfällt.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Dankbarkeit für die Wohltat unserer Erziehung und unserer Menschwerdung im besseren Sinne, Dankbarkeit für den Standpunkt, auf den wir uns haben stellen dürfen, fesselt uns an das Vaterland.“23 Qua Geburt gehören die Vereinsmitglieder der jüdischen Glaubensgemeinschaft an und fühlen sich ihr aufgrund von prägenden Kindheitserfahrungen verbunden, was sich jedoch nicht in einer praktizierten Frömmigkeitskultur ausdrückt. Durch ihre Bildung, erworben an Gymnasien und Universitäten, nehmen sie gleichzeitig verstärkt Anteil an der deutschen Kultur und fühlen sich dementsprechend auch als Deutsche und Europäer. Geprägt durch den geistesgeschichtlichen Kontext, vor allem durch die Ideale der Haskala, begegnen die jungen Intellektuellen ihrer jüdischen Tradition zunehmend mit kritischer Distanz. Diese doppelte Zugehörigkeit ruft bei ihnen existenziell bedeutsame Fragen wie: „Was ist das heutige Europa? und was sind die Juden?“24 hervor, welche die Wissenschaft des Judentums beantworten soll. Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden sucht „das Judenthum als den Gegenstand, auf den er ausschließlich angewiesen ist, zum Bewußtseyn zu bringen, die jüdische Welt sich selbst vorstellig zu machen“25 und deutet die Wissenschaft als das „reinste Bewußtseyn der Dinge“26. Die Wissenschaft des Judentums wird demgemäß als selbstreflexives Instrument zur Darstellung und Interpretation des Judentums aufgefasst. Sie soll primär die wissenschaftliche, zweckfreie Bearbeitung des Judentums realisieren, schließlich die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Mikro- und Makrokosmos unterstützen und dadurch die innerjüdische Identifikation sowie außerjüdische Anerkennung befördern. Auf diese Weise soll die Integration des Judentums in die deutsche Kultur und Gesellschaft unter den Bedingungen der Moderne ermöglicht, also Judentum und Deutschtum sowie Tradition und Moderne fruchtbar miteinander verbunden, so auf virulente Identitätsprobleme reagiert und Spannungen aufgelöst werden. Dabei gilt die Maxime: „aufgehen ist nicht untergehen.“27 Die jüdische Identität, das heißt das Individuelle der jüdischen Kultur, soll also nicht um der Integration willen aufgegeben werden. Offenkundig wird die Wissenschaft des Judentums in den Emanzipationsprozess des Judentums eingebunden und für diesen dienstbar gemacht. Die Wissenschaft des Judentums befördert damit sowohl die Bewahrung der jüdischen Identität als auch die Eingliederung in die Gesamtgesellschaft. Für die Vereinsmitglieder differenziert sich das Judentum in die Religion, welche das Private und den Einzelnen berührt, und in andere, 23

Gans, Rede bei der Wiedereröffnung der Sitzungen des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden (28.10.1821), 58. 24 Gans, Halbjähriger Bericht im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (28.4.1822), 63 f. 25 Gans, Dritter Bericht im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (4.5.1823), 78. 26 Ebd. 27 Gans, Halbjähriger Bericht im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (28.4.1822), 66.

Innerjüdischer Kontext311 gesellschaftliche Bereiche aus. Durch diese Differenzierung soll soziale Inklusion erreicht und Anerkennung durch gesellschaftliche Partizipation erlangt werden. Die religiöse Praxis wird offenkundig als eine Privatsache eingestuft. Damit einhergehend weist das Wissenschaftsverständnis keinen Bezug zur religiösen Frömmigkeitspraxis auf und auch der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden selbst hat keine Berührungspunkte mit jüdischen Gemeinden. Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden kann daher als Repräsentant eines Kulturjudentums gedeutet werden. Die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Form von Fakultäten, Professuren oder Seminaren wird im Kulturverein nicht diskutiert.

1.3 Immanuel Wolfs Verständnis der Wissenschaft des Judentums Immanuel Wolf (1799–1847), der sich ab 1822 Immanuel Wohlwill nennt, studiert Philologie und Philosophie an der Berliner Universität und besucht Lehrveranstaltungen unter anderem bei Friedrich August Wolf und Hegel. Er ist zeitweise Sekretär des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden und arbeitet als Lehrer an der Hamburger Freischule und der Jacobsonschule in Seesen, deren Direktor er später auch ist.28 Neben dem Zeitschriftenaufsatz Ueber den Begriff der Wissenschaft des Judenthums verfasst er nur wenige kurze Gelegenheitsaufsätze, die nicht unmittelbar in das Gebiet der Wissenschaft des Judentums fallen und hier daher vernachlässigt werden können. Wolf legt sein Wissenschaftsverständnis 1823 in dem oben genannten Zeitschriftenartikel dar. Wolfs Aufsatz, welcher die Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums eröffnet, fungiert als erste begriffliche Definition der Wissenschaft des Judentums, woraus sich seine Bedeutung innerhalb der jüdischen Wissenschaftsgeschichte ergibt. Wolf bestimmt darin den Begriff der „Wissenschaft des Judentums“, charakterisiert ihr Wesen, benennt ihre Forschungsgegenstände, skizziert im Zusammenhang damit die Geschichte des Judentums und spricht sich ausdrücklich für die Konzeptionalisierung und Etablierung der Wissenschaft des Judentums aus. Wenngleich Wolf als Autor des Artikels angegeben ist, ist davon auszugehen, dass auch andere Mitglieder des Kulturvereins an der Formulierung des Entwurfs beteiligt gewesen sind.29 Aus diesem Grund wird Wolfs Zeitschriftenaufsatz oft als Wissenschaftskonzept des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden gedeutet.

28 29

Wolfs Biographie liegt weitgehend im Dunkeln, da es nur sehr wenige Angaben darüber gibt. Vgl. Schulte, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums, 284; Wallach, Liberty and Letters, 12.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Wolf versteht unter der Wissenschaft des Judentums die historisch-kritische Bearbeitung des Judentums. Das Judentum erschöpft sich auch für ihn nicht in der jüdischen Religion, sondern umfasst vielmehr die Gesamtheit der Ausdrucksformen des jüdischen Geistes in seiner historischen Entwicklung.30 Wolf vertritt also einen universalen Wissenschaftsbegriff. Konkret definiert Wolf die Wissenschaft des Judentums wie folgt: „Sie entwickelt das Judenthum seinem Begriffe gemäß, und stellt es dar systematisch, das Einzelne stets auf das Grundprincip des Ganzen zurückführend. […] Sie behandelt ihr Objekt an und für sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besondern Zweck, oder aus einer bestimmten Absicht.“31 Wolf versteht die Wissenschaft des Judentums offenkundig als kategoriale Arbeit. Sie zeichnet sich durch eine kritische Perspektive aus, mit der sie ihren Forschungsgegenstand – das Judentum in all seinen Ausprägungen – analysiert. Sie konstituiert durch die Verwendung distinktiver Begriffe Ordnung und Struktur. Dadurch strebt sie nach der Bildung eines Systems, welches Zusammenhänge stiftet, indem es einzelne Momente zu einem Ganzen verbindet. Als zentrale Merkmale der Wissenschaft des Judentums benennt Wolf die Unparteilichkeit, die Unabhängigkeit, die Objektivität, die Freiheit, die Wahrheit und den Selbstzweck. Er vertritt demnach ein objektivistisches Wissenschaftsverständnis. Das Judentum, das wissenschaftlich durchdrungen werden soll, zeigt sich nach Wolfs Auffassung in zweierlei Gestalt und zwar in „historisch-litterarischen Documenten“ und als „lebendes Princip“.32 Daraus folgend können das jüdische Schrifttum und das lebendige Judentum der Gegenwart, das heißt die Menschen jüdischen Glaubens, als Forschungsgegenstände der Wissenschaft des Judentums bestimmt werden. Letzteres Forschungsgebiet bezeichnet Wolf als „Statistische Judenthumskunde“33. Hierin liegt der entscheidende Bestimmungszuwachs zu Zunz. Nach Wolfs Konzeption umfasst die Wissenschaft des Judentums auch gegenwartsbezogene Forschungsfelder und beschränkt sich nicht auf die Vergangenheit. Wolf differenziert die Wissenschaft des Judentums in die drei Disziplinen: „Philologie“, „Geschichte“ und „Philosophie“ aus.34 Die „Philologie“ betrachtet und analysiert die gesamte Literatur des Judentums aus historisch-kritischer Per30

31 32 33 34

Wolf versteht das Judentum „als Inbegriff der gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten […]“ (Wolf, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, 1). Wolf, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, 18. A. a. O., 15. A. a. O., 18. A. a. O., 19.

Innerjüdischer Kontext313 spektive, beschränkt sich also nicht auf religiöse Schriften. Unter die Disziplin der „Geschichte“ subsumiert Wolf die „religiöse, die politische und die litterarische“35 Geschichte des Judentums, wodurch einmal mehr erkennbar wird, dass Wolf das Judentum nicht ausschließlich als Religion auffasst. Die „Philosophie“ beleuchtet den „Begriff des Judenthums an und für sich“36, analysiert also das Wesen des Judentums und wird von Wolf als dezidiert gegenwartsbezogene Disziplin konzipiert. Obgleich Wolf den methodischen Ansatz der Wissenschaft des Judentums nicht näher expliziert, kann dieser eindeutig als historisch-kritisch gedeutet werden. Die Abgrenzung zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit ist dadurch evident. Wenngleich auch Wolf den Selbstzweck der Wissenschaft des Judentums betont und für eine zweckfreie Erforschung des Judentums eintritt, schreibt er ihr zugleich eine Einheit und Gleichberechtigung fördernde Kraft zu, wie seine prominente Äußerung zeigt: „Und soll je ein Band das ganze Menschengeschlecht umschlingen, so ist es das Band der Wissenschaft, das Band der reinen Vernünftigkeit, das Band der Wahrheit.“37 Die Wissenschaft des Judentums weist demnach aufgrund ihres Eingebundenseins in einen spezifischen Kontext auch gewisse emanzipatorisch-politische Implikationen auf. Auf die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums geht Wolf in seinem programmatischen Aufsatz nicht ein.

1.4 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext der ersten innerjüdischen Wissenschaftsverständnisse Diese knappe Darstellung zeigt, dass es Parallelen zwischen Geigers Wissenschaftsverständnis und denen der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums gibt, dass demnach bestimmte Faktoren in Geiger fortwirken. Geiger teilt folgende Leitgedanken mit dem intellektuellen Judentum: Die Wissenschaft des Judentums soll nach Geigers Auffassung genau wie nach Dafürhalten der ersten Generation den Emanzipationsprozess und damit die Gleichberechtigung des Judentums befördern. Die Wissenschaft des Judentums wird demnach als Vehikel der Emanzipation und der Integration verstanden. Die historische Kritik fungiert als Herzstück des Wissenschaftsbegriffs, was als weitere zentrale Gemeinsamkeit und deutliche Abgrenzung zur traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit gedeutet werden kann. Gleichwohl kann eine vollständige Über35 36 37

Wolf, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, 18. A. a. O., 20. A. a. O., 24.

314

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

nahme der Wissenschaftsverständnisse der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums durch Geiger aufgrund abweichender wissenschaftlicher Profile ausgeschlossen werden. Geigers Selbstverständnis als jüdischer Theologe und seine Konzeptionalisierung der Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie divergieren vom Selbst- und Wissenschaftsverständnis des intellektuellen Judentums. Vorrangig das theologische Gepräge und die Ausbildungsfunktion markieren den Unterschied zu den Wissenschaftsbegriffen der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums.38 Solch einen funktionalen und thematischen Wissenschaftsbegriff und die Professionalisierung der religiösen Institutionen findet er bei den Vertretern des intellektuellen Judentums nicht vor. Deutlich spiegelt folgende Äußerung Geigers, die er in einer Rezension über Zunz’ Zur Geschichte und Literatur formuliert, die konzeptionelle Differenz zwischen beiden wider: „Es scheint mir zunächst ein Grundfehler in dieser Betrachtungsweise zu liegen daß der Hr. Verf. die jüdische Literatur nicht als eine religiöse, sondern als eine Volksliteratur aufgefaßt wissen will […]. Also die jüdische Literatur ist eine jüdisch-religiöse […]“ (RezZI 3f). Nach Meyer fungiert dieser Unterschied zwischen religiösem und säkularem Gepräge der Wissenschaft des Judentums als eine der zwei „persistent tensions within Wissenschaft des Judentums“39. Geiger versteht sich offenkundig nicht als Vertreter eines Kulturjudentums und unterscheidet sich dadurch von der ersten Generation. Da Geiger die Ideen des intellektuellen Judentums kennt, sogar im persönlichen Kontakt40 mit einigen Vertretern steht, kann davon ausgegangen werden, dass er sich bewusst von der eingeschlagenen Richtung abgrenzen beziehungsweise abheben will. Das zeigte sich bereits daran, dass er zunächst den vorgeprägten Begriff „Wissenschaft des Judentums“ verwirft und stattdessen auf den Terminus „jüdische Theologie“ zurückgreift. Wenngleich also bestimmte wissenschaftsprogrammatische Faktoren der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums in Geiger 38

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Geiger selbst hebt auf einen weiteren Unterschied ab und beschreibt ihn wie folgt: „Jost, Zunz und Rappoport haben hier fruchtbar begonnen, Munk, Luzzatto und Dukes trefflich mitgearbeitet, freilich meistens das Auesserliche beachtend, während ich den inneren Kern immer mit zu verarbeiten und Resultate für die Reform daraus zu ziehen bemüht war“ (ETh 27). An anderer Stelle heißt es: „[…] Zunz aber ist zu rein gelehrt, geht auch zu wenig auf innere Entwickelung im religiösen Leben ein […]“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 88). Meyer, Two persistent tensions within Wissenschaft des Judentums, 105. Vgl. etwa den Verweis auf Zunz und den Kulturverein: GB 253; vgl. auch die Briefe Geigers an Zunz und das Glückwunschschreiben anlässlich dessen Geburtstages: Briefe Geigers an Leopold Zunz vom 3. März 1840, vom 27. Juli 1840, vom 16. Dezember 1840, vom 4. März 1841, in: S 5, 152–156; GZ. Geiger äußert sich vielfach in positiver Weise zu Zunz und lobt dessen Werke, wenngleich er auch kritische Einwände formuliert. Im Hinblick auf Zunz’ Wissenschaftsverständnis distanziert sich Geiger klar von ihm, würdigt aber dennoch Zunz’ Pionierarbeit (vgl. exemplarisch: ETh 27; EWdJ 242f).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis315 fortwirken, fungiert der innerjüdische Kontext nicht als durchschlagende Prägekraft. Da der Begriff „jüdische Theologie“ erst von Geiger ausgeprägt wird und er als erster eine jüdisch-theologische Enzyklopädie vorlegt, kann er auf keine jüdischen Entwürfe oder terminologischen Reflexionen zur jüdischen Theologie zurückgreifen. Daher bleibt die Frage, woher Geiger Anregungen erhalten hat, offen. Deshalb muss der Blick auf den außerjüdischen Kontext gerichtet und dieser hinsichtlich potentieller Einflussfaktoren beleuchtet werden.

2. Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis der evangelischen Theologie Geiger sucht die Wissenschaft des Judentums als eine anerkannte wissenschaftliche Disziplin innerhalb des akademischen Fächerkanons zu etablieren. Um Akzeptanz und Würdigung zu erlangen, liegt es nahe, die Wissenschaft des Judentums in struktureller Anlehnung an bereits bestehende Wissenschaften zu konzipieren. Da Geiger im innerjüdischen Umfeld keine adäquaten Vorbilder vorfindet, muss er sich an anderen, ihm eigentlich ferner liegenden Größen orientieren. Er studiert nach eigenem Bekunden protestantisch-theologische Schriften, kennt also die zeitgenössischen Diskurse der protestantischen Theologie. Betrachtet man Geigers Wissenschaftsentwurf und die bereits etablierte protestantische Universitätstheologie auf rein formaler Ebene, zeigen sich gewisse strukturelle Parallelen und zwar die begriffliche Nähe von protestantischer und jüdischer Theologie, die gleiche Institutionalisierungsform in Gestalt einer theologischen Fakultät und die doppelte Institutionalisierung in Form von Fakultät und wissenschaftlichem Periodikum.41 Die protestantische Theologie kommt daher trotz aller möglichen inhaltlichen und persönlichen Distanzierungen als Orientierungsgröße infrage,42 zumal sie der allgemeinen Entwicklung des 19. Jahrhunderts folgend in Bewegung ist.43 Prominent und wegweisend im wissenschaftstheoretischen Diskurs der protestantischen Theologie im ausgehenden 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Er steht programmatisch für die Modernisierung, die Professionalisierung und die fortschreitende Akademisierung der Theologie. Seinen Entwurf der evangelischen Theologie bietet Schleiermacher 1811 und 1830 in seiner 41 42 43

Angesichts dieser strukturellen Parallelen und Geigers Selbstverständnis als Theologe wird ausschließlich eine andere Theologie als mögliche Orientierungsgröße veranschlagt und näher beleuchtet. Im Gegensatz dazu scheint Geiger die Forschungsdiskurse der katholischen Theologie nicht verfolgt zu haben, weshalb die katholische Theologie als Orientierungsgröße ausscheidet. Vgl. dazu: Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1815–1870, bes. 34–63.

316

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen44 dar. Schleiermachers theologischer Entwurf kann als die „epochenscheidende Neuorientierung der Theologie“45 gedeutet werden. Schleiermacher entwickelt ein modernes, programmatisches Theologieverständnis, welches die wissenschaftstheoretischen und theologischen Diskurse des Protestantismus im 19. Jahrhundert bestimmt,46 sich gleichwohl faktisch nicht durchsetzt.47 Hier soll der Frage nachgegangen werden, ob Geiger sich am Wissenschaftsideal Schleiermachers orientiert und seine Wissenschaftsprogrammatik in ideeller Anlehnung daran entwickelt. Diese Frage gilt es zu beantworten, indem Geigers Wissenschaftsverständnis, Ritters Forschungsperspektive der „shared history“ folgend, mit Schleiermachers Wissenschaftsverständnis „konfrontiert“ und „kontextualisiert“ wird.48 Zunächst soll dafür Schleiermachers Kurze Darstellung in ihren Hauptpointen vorgestellt werden.

2.1 Die Kurze Darstellung als zentrale wissenschaftsprogrammatische Schrift Schleiermacher verfasst seine Theorie über das Selbstverständnis der evangelischen Theologie in einer allgemeinen wissenschaftstheoretischen Debatte. Konkurrierende Modelle der idealistischen Philosophie schwingen also mit, sodass 44 45

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47

48

Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen [im Folgenden: KD1 und KD2]. Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik, 99. Schon Emanuel Hirsch konstatiert, dass „zum ersten Mal […] die neue Gestalt, welche die Theologie in der Arbeit vieler Geschlechter angenommen hat, mit der Klarheit eines Ganzheitseindrucks vor uns hin [tritt]“ (Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, 356). Weiterhin betont er, dass die evangelische Theologie durch Schleiermachers Entwurf eine „moderne Universitätswissenschaft“ geworden sei (ebd.). Birkner unterstreicht die Wirksamkeit der Kurzen Darstellung, indem er erläutert: „Die enzyklopädischen und theologietheoretischen Werke des 19. Jahrhunderts nehmen durchweg auf sie Bezug und sind ihr zumindest in vielen Zügen verpflichtet“ (Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 289f). Dinkel begründet das letztliche Scheitern des Entwurfes mit dem Aufkommen fachspezifischer Professuren, wie folgende Äußerung zeigt: „Derartige Fachprofessuren machen eine interne Aufteilung der Theologie nach Funktionen unmöglich und erzwingen eine primär an Gegenständen orientierte Gliederung der Theologie, wie sie sich schließlich auch durchsetzte. Insofern ist Schleiermachers Dreiteilung der Theologie ein Anachronismus, der mit dem Ende des Universalgelehrtentums zum Aussterben verurteilt war“ (Dinkel, Kirche gestalten, 121). Wenngleich sich Schleiermachers Entwurf nicht durchgesetzt hat, weiß Dinkel ihn für die Gegenwart fruchtbar zu machen und Impulse daraus abzuleiten (vgl. a. a. O., 252–257). Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“, 125.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis317 der geistesgeschichtliche Bezugsrahmen als prägende Determinante wirkt. Als weitere Einflussgröße kann das institutionelle Umfeld ausgemacht werden. Schleiermacher schreibt seine Kurze Darstellung zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an der neu gegründeten Berliner Universität, welche als neuhumanistische Reformuniversität die Gleichberechtigung der akademischen Disziplinen etabliert und der Theologie damit ihren Status als obere Fakultät abspricht. Darauf reagiert Schleiermacher mit seiner Darstellung, indem er die Theologie als eine Wissenschaft unter anderen Wissenschaften zu präsentieren sucht. Die (akademische) Theologie durchläuft also einen Wandlungsprozess und ist dadurch zur Reflexion ihres Selbstverständnisses herausgefordert. Auch in diese Perspektive schaltet sich Schleiermacher mit seiner Kurzen Darstellung ein und formuliert unter den Bedingungen der Moderne eine innovative enzyklopädische Rekon­ struktion der evangelischen Theologie.49 Die Kurze Darstellung geht aus der von Schleiermacher mehrfach in Halle und Berlin gehaltenen Vorlesung Theologische Enzyklopädie hervor, die im 19. Jahrhundert zu den Standardvorlesungen der evangelischen Theologie zählt. Zwölfmal liest Schleiermacher die Theologische Enzyklopädie insgesamt, achtmal auf der Basis seiner Kurzen Darstellung.50 Der Untertitel „zum Behuf einleitender Vorlesungen“ weist explizit auf ihren Verwendungszweck hin und erklärt überdies den Duktus der Schrift. So formuliert Schleiermacher in seinem Lehrbuch kurze Leitsätze, welche der Erklärung und Interpretation in der Vorlesung bedürfen. Es handelt sich also nicht um eine verschriftlichte Version seiner Theologischen Enzyklopädie, sondern um ein „aphoristisches Kompendium“51. Schleiermacher selbst bezeichnet seine Kurze Darstellung als „formale Encyclopädie“ (KD2 § 20) und bestimmt damit ihr literarisches Genre. Im Unterschied zur materialen Enzyklopädie, welche die Inhalte der Disziplinen entfaltet, biete eine formale Enzyklopädie „eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Theile der Theologie unter sich, und dem eigenthümlichen Werth eines jeden für den gemeinsamen Zwekk“ (KD2 § 18).52 Demgemäß beleuchtet 49 Vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 285 f. 50 Vgl. a. a. O., 286. Nur einmal liest Schleiermacher die Theologische Enzyklopädie noch auf der Grundlage der Kurzen Darstellung von 1830. Hiervon liegt die Vorlesungsmitschrift von David Friedrich Strauß vor (vgl. ThEnz). 51 D. Schmid, Historische Einführung. Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1. Auflage 1811), XL. 52 Vgl. zur Geschichte der theologischen Enzyklopädie: Hummel, Art. Enzyklopädie, theologische. Hirsch hebt die Bedeutung der Schleiermacherschen Schrift hervor: „Dies kleine Werk ist der einzige bedeutende Versuch, den Gesamtorganismus aller theologischen Wissenschaften im systematisch durchdachten Zusammenhange von einer klaren und einfachen Grundanschauung her zur Darstellung zu bringen“ (Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen

318

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

die Kurze Darstellung den Aufbau und die Aufgaben der Theologie einschließlich ihrer Disziplinen und versucht so die „propädeutische Hinführung und prinzipielle Grundlegung“53 miteinander zu verbinden. „Die Frage ‚Was ist Theologie?‘ wird von Schleiermacher also beantwortet im Rahmen der Frage ‚Wie studiert man Theologie?‘.“54 Nicht nur Schleiermachers im Kompendium entfaltetes Theologieverständnis weist also einen programmatischen Charakter auf, sondern auch seine spezifische Gestaltung der theologischen Enzyklopädie. Die Verknüpfung von wissenschaftsprogrammatischer und propädeutischer Reflexion sowie die Ausprägung als formale Enzyklopädie markieren einen deutlichen Unterschied zu den früheren theologischen Enzyklopädien und begründen einen gattungsgeschichtlichen Neuanfang.55 Der formale Charakter der theologischen Enzyklopädie kann ambivalent bewertet werden. Einerseits beeinträchtigt er die unmittelbare Durchschlagkraft der Schrift, wie das zurückhaltende zeitgenössische Rezeptionsverhalten auch zeigt. Andererseits ermöglicht er auf lange Sicht jedoch eine Ausstrahlungs- und Prägekraft, die Schleiermachers eigene Lebenszeit überdauert und die Kurze Darstellung zu einem „klassische[n] Dokument“56 macht. Das formale Gepräge der Kurzen Darstellung lädt auch nicht-christliche Leser zur Lektüre ein, da der Blick auf die formalen Leitlinien nicht durch eine ausführliche Entfaltung christlicher Inhalte verstellt wird. Ein religionsübergreifender Zugang zu Schleiermachers theologischem Entwurf wird eröffnet und eine kritische Auseinandersetzung ermöglicht. 1830, also knapp 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Kurzen Darstellung publiziert Schleiermacher eine überarbeitete Auflage der Kurzen Darstellung.57 So fügt Schleiermacher allen Leitsätzen Erklärungen bei, integriert eine durchgängige Paragraphennummerierung, verändert Begriffe sowie Formulierungen und ändert den Aufbau. Freilich gibt es auch inhaltliche Bearbeitungen, diese Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, 348). 53 Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 9. Rössler stellt weiterhin heraus, dass Schleiermacher „die traditionelle Einführung ins Studium der Theologie zur wissenschaftstheoretischen Grundlagendisziplin umgestaltet“ habe und bringt dadurch Schleiermachers programmatische Leistung zum Ausdruck (a. a. O., 17). 54 A. a. O., 69. 55 Materialer Natur sind beispielsweise die theologischen Enzyklopädien von Nösselt und Planck, die Schleiermacher auch studiert hat. Sie bieten eine ausführliche Einführung in die Inhalte der theologischen Disziplinen, sparen eine wissenschaftsprogrammatische Reflexion der evangelischen Theologie hingegen aus (vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 287). 56 A. a. O., 291. 57 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der ersten und zweiten Ausgabe: D. Schmid, Historische Einführung. Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1. Auflage 1811 und 2. Auflage 1830), XL–XLVII, LXIV–LXVII.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis319 fallen jedoch nicht besonders ins Gewicht.58 Die erläuternden Ergänzungen, die zu einer erheblichen Aufstockung des Umfangs führen, sollen das Verständnis der Schrift erleichtern, weshalb es schließlich auch die zweite Auflage ist, die in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte die vorrangige Rolle spielt.59 Auch in der Forschungsliteratur60 wird primär die zweite Ausgabe diskutiert und interpretiert, was mitunter an der Edition der Vorlesungsmitschrift von David Friedrich Strauß (1808–1874) liegen mag, die neue Deutungsperspektiven eröffnet.61 Aus diesem Grund soll im Folgenden die Kurze Darstellung von 1830 im Mittelpunkt stehen und nur vereinzelt der Blick auf die erste Ausgabe gerichtet werden. Es gilt ihre Hauptaspekte vorzustellen, das heißt, den Wissenschaftsbegriff, den Theologiebegriff inklusive der allgemeinen Merkmale des Begriffs, der disziplinären Aufgliederung und der Bedeutung für die Kirchen(um)gestaltung zu entfalten.62

2.1.1 Schleiermachers Wissenschaftsbegriff Bevor der Fokus auf die Theologie gerichtet wird, soll zunächst Schleiermachers allgemeiner Wissenschaftsbegriff beleuchtet werden, weil, so Birkner, „Schleiermacher […] mit allen Denkern des deutschen Idealismus die Überzeugung [teilt], daß kein einzelnes Wissen und keine einzelne Wissenschaft in sich bestehen kann außer im Gesamtzusammenhang des Wissens und im durchsichtigen Bezug

58

59

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61 62

Vgl. zu den Modifikationen der zweiten Auflage: D. Schmid, Historische Einführung. Kurze Darstellung des theologischen Studiums (2. Auflage 1830), LXVII–LXIX. Schmids Einschätzung, die Kurze Darstellung sei „praktisch neu geschrieben worden“, kann angesichts der inhaltlichen Parallelität jedoch nur bedingt zugestimmt werden (a. a. O., LXVII). Vgl. zur Wirkungsgeschichte der Kurzen Darstellung: A. Eckert, Einführung in die Prinzipien und Methoden der evangelischen Theologie, 23–51; D. Schmid, Historische Einführung. Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1. Auflage 1811 und 2. Auflage 1830), XLVII– LXIII, LXIX–LXXVII. Vgl. exemplarisch die Forschungsliteratur zur Kurzen Darstellung: Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm; ders., Theologie und Philosophie; ders., Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik; Dinkel, Kirche gestalten; Doerne, Theologie und Kirchenregiment; Fedler-Raupp, Der Gemeindepfarrdienst als Zentrum kirchenleitenden Handelns; Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe; Luther, Praktische Theologie als Kunst für alle; Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie. Vgl. Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie. Die Präsentation der Kurzen Darstellung konzentriert sich ausschließlich auf die Hauptpointen, detaillierte Interpretationen spart sie folglich aus. Die Knappheit der Darstellung ist damit zu begründen, dass das eigentliche Augenmerk dieser Studie auf dem Wissenschaftsverständnis Geigers liegt und die Schleiermacher-Betrachtung ausschließlich der besseren Einordnung von Geigers Ideen dient.

320

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

auf ein höchstes Wissen“63. Schleiermacher schließt sich der idealistischen Auffassung an, dass jede Wissenschaft im Kontext des gesamten Wissenschaftssystems betrachtet werden muss. Daher muss auch der Wissenschaftsbegriff, den Schleiermacher in der Kurzen Darstellung zugrunde legt, im Zusammenhang seines allgemeinen Wissenschaftssystems verstanden werden.64 Und auch die Theologie muss in Schleiermachers System der Wissenschaften verortet werden, um durch die wissenschaftssystematische Positionierung ihr Gepräge beschreiben zu können.65 Aus diesem Grund soll Schleiermachers Wissenschaftssystem kurz dargestellt und schließlich der Ort der Theologie darin ermittelt werden.66 Dabei muss berücksichtigt werden, dass Schleiermacher selbst sein System der Wissenschaften nicht zusammenhängend entwickelt, sondern nur dessen Grundlagen kurz behandelt. Es gleicht einem Fragment und muss unter Rekurs auf unterschiedliche Schriften, vor allem auf die Vorlesungen zur Dialektik und zur Philosophischen Ethik, konstruiert werden, wodurch sich gewisse Interpretationsschwierigkeiten ergeben, die hier aber nicht ins Gewicht fallen.67 Schleiermacher greift die antike Dreiteilung der Philosophie in Ethik, Physik und Dialektik auf und entwickelt sie weiter. Die Dialektik konzipiert er vereinfacht betrachtet als Theorie des Wissens.68 Physik und Ethik sind für Schleier63

Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophischtheologischen Systems, 30. 64 So auch Albrecht: „In der Schleiermacher-Forschung jüngeren Datums herrscht im wesentlichen Einigkeit darüber, daß sich die einzelnen Teile und der umfassende Rahmen des Schleiermacherschen Denkens einem einheitlichen systematischen Konzept verdanken. Anders als noch vor etwa dreißig Jahren ist heute weitgehend unbestritten, daß das Schleiermachersche Gesamtwerk trotz seines fragmentarischen Charakters nur in jenem geschlossenen Gesamtzusammenhang zu verstehen ist, der geradezu als Schleiermachers ‚philosophisch-theologische(s) System()‘ bezeichnet werden kann“ (Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 15). 65 So unterstreicht Birkner, dass der Wissenschaftsbegriff, den Schleiermacher in der Kurzen Darstellung entwickelt, ein „Grundelement aus Schleiermachers allgemeiner Theorie der Wissenschaften und der Universität“ sei (Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 293). 66 Eine ausführliche Interpretation des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems soll an dieser Stelle nicht geleistet werden, da sie zu sehr vom eigentlichen Thema wegführen würde (vgl. dazu: Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 15–104; Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, 30–64; Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 18–71). 67 Vgl. Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 20. Birkner verweist in diesem Zusammenhang auf die stets mitzuführende Differenzierung zwischen „Systematik und faktischer Gestaltung des Schleiermacherschen Gesamtwerkes“ (Birkner, Theologie und Philosophie, 168). 68 Albrecht charakterisiert die Dialektik wie folgt: „Die Aufgabe der Dialektik besteht in der Klärung der Ermöglichungsbedingungen des realen Wissens und in der Zusammenstellung

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis321 macher „reale[ ] Wissenschaften“ (Ethik (Einl u. Gtl: 1812/13) 248), weil sie grundsätzlich gegenstandsbezogen sind. Der Gegenstandsbezug ist aufgeteilt in den Rekurs auf „dingliche[s] […] Sein[ ]“, also die Natur, und den Rekurs auf „geistige[s] Sein[ ]“ (Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 531), das heißt die Vernunft. Die Physik, die auf „dingliche[s] […] Sein[ ]“ rekurriert und damit eine Naturwissenschaft ist, fasst er als Naturphilosophie auf. Die Ethik, die auf „geistige[s] Sein[ ]“ bezogen und folglich eine Vernunftwissenschaft ist, versteht Schleiermacher als Geschichtsphilosophie respektive Kulturphilosophie (vgl. Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 534). Weiterhin unterscheidet Schleiermacher zwischen „beschauliche[m]“, das heißt spekulativem, auf dem Begriff fußendem und „erfahrungsmäßige[m]“ (Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 535), also empirischem, auf dem Urteil fußendem Wissen und veranschlagt damit zwei Erkenntnismethoden beziehungsweise Wissensformen. Aus der Verschränkung von Vernunft- und Naturwissenschaften mit spekulativem und empirischem Wissen erwächst schließlich sein Wissenschaftssystem der „realen Wissenschaften“ (vgl. Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 535). Dieses enthält somit die Vernunftwissenschaften, also Geisteswissenschaften spekulative Ethik und empirische Geschichtskunde und die Naturwissenschaften spekulative Physik und empirische Naturkunde (vgl. Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 535–536).69 Auf der Seite der Vernunftwissenschaften ordnet Schleiermacher noch die kritischen und die technischen Wissenschaften ein, die zwischen Spekulativem und Empirischem verortet sind, aber nicht den „realen Wissenschaften“ angehören (vgl. Ethik (Einl u. GtlI:1816) 549). Die kritischen Disziplinen deuten auf Basis spekulativer Erkenntnisse und Begriffe die Empirie, indem sie Kategoriales und Reales aufeinander beziehen und eine Vermittlung von spekulativem und empirischem Wissen anstrengen. Als kritische Wissenschaften bezeichnet Schleiermacher zum Beispiel die Religionsphilosophie (vgl. Ethik (Einl u. Gtl: 1812/13) 365f), die Ästhetik (vgl. Ethik (Einl u. Gtl:1812/13) 366) und die Grammatik (vgl. Ethik (Einl u. Gtl: 1812/13) 357). Die technischen Disziplinen, die Schleiermacher als Kunstlehren auffasst, formulieren unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Spekulativem und Empirischem Anweisungen, also „Kunstregeln“ (KD2 § 265 Zs.) zur Gestaltung unterschiedlicher Lebenssphären. Unter die technischen Disziplinen subsumiert er unter anderem die Hermeneutik (vgl. Ethik (Einl u. Gtl: 1812/13) 356), die Pädagogik (vgl. Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 550) und die Politik (vgl. Ethik (Einl u. GtlI: 1816) 550).

69

der Formeln des realen Wissens“ (Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit, 68). Auf die Dialektik soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da sie für die Kurze Darstellung von nachrangiger Bedeutung ist (vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik und Wagner, Schleiermachers Dialektik). Vgl. Rösslers Herleitung dieser Disziplinen: Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 26–31.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Während Schleiermacher gemeinhin die Bezeichnung „reale[ ] Wissenschaften“ wählt, benutzt er in seiner Theologischen Enzyklopädie auch den Terminus „reine Wissenschaften“ (ThEnz 1) und meint damit sowohl die „realen Wissenschaften“ als auch die Dialektik.70 Der Name „reine Wissenschaften“, mit dem er Wissenschaften versieht, „welche vermöge einer Beziehung des Wissens auf das Seyn sich ergeben“ (ThEnz 1), wird von Schleiermacher in expliziter Abgrenzung zu einer anderen Wissenschaftsform gebraucht. Von den „reine[n] Wissenschaften“ zu unterscheiden sind nämlich die „positiven Wissenschafte[n]“, die Schleiermacher wie folgt definiert: „Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind“ (KD2 § 1 Zs.).71 „Positive Wissenschafte[n]“ beziehen sich demnach auf etwas gesellschaftlich Gegebenes, das sie zu gestalten suchen. Sie zeichnen sich folglich durch ein praktisches Handlungsfeld und einen Anwendungsbezug aus. Im Unterschied zu den „reine[n] Wissenschaften“ sind die „positiven Wissenschafte[n]“ nicht spekulativ ableitbar, sondern rekurrieren auf eine historische Bezugsgröße, sind demnach empirisch-geschichtlich begründbar. Sie entspringen also konkreten Bedürfnissen und lassen sich nicht aus der Idee des Wissens deduzieren. Folglich konstituieren sie sich durch ihren Rekurs auf eine praktische Aufgabe als Wissenschaft und als Ganzes. Der praktische Zweckbezug evoziert demgemäß die Positivität und innere Einheitlichkeit, weil die „positiven Wissenschafte[n]“ in sich in verschiedene Arbeitsbereiche gegliedert sind.72 Sie fungieren als Schnittmenge der realen, kritischen und technischen Wissenschaften, insofern sie sich deren Wissenssphären und Methoden bedienen und in einem für die Lösung ihrer praktischen Aufgabe sinnvollen Zusammenhang auswählen und arrangieren.73 Schleiermacher 70 71

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73

Vgl. Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 45, Fn. 192. In Schleiermachers Universitätsschrift heißt es: „Die positiven Facultäten sind einzeln entstanden durch das Bedürfniß, eine unentbehrliche Praxis durch Theorie durch Tradition von Kenntnissen sich zu fundiren“ (GelGed 53). In der Theologischen Enzyklopädie schreibt Schleiermacher: „Alle diese Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines hervorbringen wollen“ (ThEnz 1). Pannenberg präzisiert den oben angedeuteten Einfluss des ideengeschichtlichen Kontextes auf Schleiermachers Wissenschaftsverständnis, wenn er schreibt: „Schleiermacher hat von Schelling die Bezeichnung der drei oberen Fakultäten als ‚positiv‘ übernommen, damit aber den von Kant und Fichte betonten Gesichtspunkt ihrer praktischen Abzweckung verbunden“ (Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 248). Schleiermacher beschreibt das Verhältnis in seiner Universitätsschrift wie folgt: „Jene drei Facultäten hingegen haben ihre Einheit nicht in der Erkenntniß unmittelbar, sondern in einem äußeren Geschäft, und verbinden, was zu diesem erfordert wird, aus den verschiedenen Disciplinen“ (GelGed 54).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis323 stuft die Jurisprudenz, die Medizin und die Theologie, die hier noch unspezifisch, also nicht im christlichen Horizont verstanden wird, als „positive Wissenschafte[n]“ ein.74 Zusammenfassend können vier zentrale Charakteristika einer „positive[n] Wissenschaft“ bei Schleiermacher ausgemacht werden: die „Zweckgebundenheit“, die „methodische und sachliche Vielfalt“, der „Praxisbezug“ und die „geschichtliche Bedingtheit“.75 Die Theologie wird von Schleiermacher als „positive Wissenschaft“ bestimmt, wodurch ihr Profil bereits umrissen ist. Im Folgenden gilt es, diese Einstufung zu konkretisieren und Schleiermachers Theologiebegriff, wie er ihn in seiner Kurzen Darstellung entfaltet, genauer darzustellen.

2.1.2 Schleiermachers Theologiebegriff 2.1.2.1 Allgemeine Merkmale Die Theologie wird von Schleiermacher durch diese prominente Äußerung charakterisiert: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“ (KD2 § 5). Als eine positive Wissenschaft bezieht sich die Theologie auf ein Gegebenes, konkret auf eine praktische Aufgabe. Schleiermacher bestimmt die Kirchenleitung als praktisches Handlungsfeld und Anwendungsbezug der Theologie.76 Die Kirchenleitung wird von ihm begrifflich sehr weit gefasst. Sie umfasst jegliches planmäßige, organisierte und theoriegeleitete Einwirken, das heißt Handeln innerhalb des Sozialgefüges Kirche (vgl. KD2 § 11), welches auf dessen Erhaltung und Vervollkommnung abzielt.77 Wenngleich die Kirchenleitung nur bestimmten Personen obliegt, ist sie nicht an ein bestimmtes Amt gebunden und damit auch nicht ausschließlich institutionell organisiert (vgl. KD2 § 3).78 Die Theologie wird von Schleiermacher 74 75 76 77

78

Vgl. GelGed 52–54. Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 47 f. Rössler merkt einleuchtend dazu an: „Die Funktion der Theologie für die Kirchenleitung […] ist zugleich ihr Einheitsgrund wie ihr zentrales Charakteristikum“ (a. a. O., 205). Schleiermacher gliedert die Kirchenleitung später auf in das „Kirchenregiment“, welches die Kirche als Ganzes im Blick hat, und in den „Kirchendienst“, welcher auf die einzelne Kirchengemeinde ausgerichtet ist (KD § 274). Vgl. dazu Kapitel 2.1.2.2 des III. Hauptteils: Disziplinäre Aufgliederung. Laut Dinkel impliziert die Kirchenleitung „Tätigkeiten eines Pfarrers, eines Bischofs, einer Synode, eines Kirchenamtes, eines gebildeten Laien oder eines Theologieprofessors“ (Dinkel, Kirche gestalten, 102). Vgl. zum Begriff der Kirchenleitung auch: Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 57–59.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

als Konglomerat derjenigen „Kenntnisse und Kunstregeln“ definiert, die es zur Kirchenleitung bedarf. Die Theologie soll demnach die Kompetenzen ermitteln und schließlich vermitteln, die ein reflektiertes Handeln innerhalb der Kirche ermöglichen. Die Theologie fundiert also jegliches Einwirken, indem sie das dazu erforderliche Fachwissen erarbeitet und darbietet. Schleiermacher definiert die Theologie offenkundig über ihre Funktionalität, das heißt über ihren Zweckbezug, wodurch er sie explizit als positive Wissenschaft konzipiert. Versteht man die Theologie als Vermittlung kirchenleitender Kompetenzen, konkretisiert sich die Funktionalität als Ausbildungsfunktion. Die Theologie dient nach Schleiermachers Auffassung demgemäß der Ausbildung kirchenleitender Kräfte und wird dadurch dezidiert in den Dienst der Kirche(nleitung) gestellt. Für den Glauben des frommen Individuums ist sie hingegen ohne unmittelbaren Belang (vgl. KD2 § 5 Zs.). Die Theologie ist eine handlungsleitende Wissenschaft und keine doctrina sacra. Eine Religion benötigt beziehungsweise entwickelt nicht qua Existenz eine Theologie. Erst spezielle historische und sozio-kulturelle Bedingungen bewirken die Ausbildung einer Theologie (vgl. KD2 §§ 2 und 4).79 Das bedeutet, dass eine Religion eine historische Komplexität, ja Ausdifferenziertheit, einen gewissen Organisationsgrad und eine bestimmte Reflexivität aufweisen muss, da die religiöse Kommunikation und das religiöse Zusammenleben kleinerer Gruppen intuitiv, ungesteuert und individuell ablaufen kann und keiner wissenschaftlichen Reflexion, also Theorie bedarf.80 Nach Schleiermachers Auffassung bilden die einzelnen Religionen unter der Bedingung historischer Komplexität ihre individuellen Theologien aus, sodass sich verschiedene Gestalten von Theologie ergeben. Schleiermachers Theologiebegriff ist so allgemein angelegt, dass er als analytische Kategorie für all diejenigen Religionen fruchtbar gemacht werden kann, die eine gewisse historische und organisatorische Komplexität aufweisen. Er ist nicht an bestimmte Lehrinhalte oder Institutionen geknüpft. Die Pluralität der Religionen und damit zusammenhängend der Theologien wird von Schleiermacher daher grundsätzlich als historisches Faktum anerkannt. Gleichwohl ist die christliche Theologie darunter aufgrund ihrer Verbreitung und Komplexität 79

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So auch Gräb: „Die Religion gehört unbedingt zum humanen Lebensvollzug. Der Theologie hingegen bedarf es nur angesichts bestimmter sozial-kultureller Bedingungen, unter denen sich Religion geschichtlich realisiert“ (Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 157). Und auch Schröder verweist auf die „Unterscheidung von lebensweltlicher Religion und akademischer Theologie“ (Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 101). Schleiermacher schreibt in § 2: „Jeder bestimmten Glaubensweise wird sich in dem Maaß als sie sich mehr durch Vorstellungen als durch symbolische Handlungen mittheilt, und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung und Selbstständigkeit gewinnt, eine Theologie anbilden […]“ (KD2 § 2).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis325 die ausdifferenzierteste.81 Zu der von Schleiermacher vorausgesetzten Komplexität gehören der stabilisierte Gegensatz zwischen religiöser Produktivität und Rezeptivität, der sich vorzüglich im institutionalisierten Unterschied zwischen Klerus und Laie niederschlägt. Dieser Gegensatz ist Ausdruck von Steuerungsbedarf.82 Die Organisations- und Steuerungsnotwendigkeit institutionalisiert sich schließlich in der Kirchenleitung und verlangt nach einer wissenschaftlichen Theorie, das heißt nach einer Theologie. Die skizzierte Funktionalität des Theologiebegriffs entbehrt des spezifisch christlichen Gepräges, wodurch die Allgemeinheit von Schleiermachers Theologiebegriffs erkennbar wird. Denn interpretiert man den Begriff der Kirchenleitung in einem generalisierten Sinn, gilt das skizzierte funktionale Verständnis von Theologie auch für andere Religionen. Dadurch zeigt sich, dass Schleiermachers Theologiebegriff formal so angelegt ist, dass er prinzipiell zu einer nicht-christlichen Rezeption einlädt. Der erste Leitsatz der Kurzen Darstellung legt ein weiteres Merkmal von Schleiermachers Theologiebegriff offen. In § 1 heißt es: „Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum“ (KD2 § 1). Als weiteres Attribut des Schleiermacherschen Theologiebegriffs kann demnach die Thematizität genannt werden, insofern die Theologie als Ganze und ihre Disziplinen im Wesen des Christentums gründen.83 Die Spezifizierung auf die christliche Religion beziehungsweise christliche Kirche erfolgt somit über den Begriff „Wesen des Christentums“. Schleiermacher definiert die Theologie also auch thematisch, indem er sie auf das Wesen des Christentums, das er als „eigenthümliche Glaubensweise“ (KD2 § 24) bestimmt, 81 82

83

In § 4 konstatiert Schleiermacher: „Je mehr sich die Kirche fortschreitend entwikkelt, und über je mehr Sprach- und Bildungsgebiete sie sich verbreitet, um desto vieltheiliger organisirt sich auch die Theologie; weshalb denn die christliche die ausgebildetste ist“ (KD2 § 4). In § 3 heißt es: „Die Theologie eignet nicht Allen, welche und sofern sie zu einer bestimmten Kirche gehören, sondern nur dann und sofern sie an der Kirchenleitung Theil haben; so daß der Gegensaz zwischen solchen und der Masse und das Hervortreten der Theologie sich gegenseitig bedingen“ (KD2 § 3). In der Schleiermacher-Forschung wurde lange Zeit nur die funktionale Bestimmung des Theologiebegriffs propagiert. Der Interpretationszuwachs in Form der thematischen Begründung ist Markus Schröder zu verdanken, der in seiner überzeugenden Studie das Wesen des Christentums als Konstruktionsprinzip der Theologie bestimmt. Vgl. besonders das Unterkapitel „Wesensbestimmung und Theologiebegriff“, in dem Schröder zu beleuchten sucht, „inwiefern die These einer formalen Einheit der Theologie aus der Perspektive der Wesensbestimmung defizitär bleibt und durch die Möglichkeit einer sachlichen Konvergenz der theologischen Disziplinen im ‚Begriff des Christentums‘ als Formulierung der materialen Einheit der Theologie ergänzt werden muß“ (Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 101).

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bezieht. Die Wesensbestimmung fungiert folglich als inneres Kohärenzmoment der Theologie und ersetzt das traditionelle Schriftprinzip. Die Umwälzungsprozesse der Moderne und die dadurch bedingte Heterogenität und Pluralität innerhalb des Christentums und der christlichen Theologie verlangen nach neuen Identitäts- und Zusammengehörigkeitsmustern. Schleiermacher reagiert darauf und sucht durch die Neuformulierung des Theologiebegriffs die Wesensbestimmung für den innertheologischen Reformprozess fruchtbar zu machen und so Identifikation, Orientierung und Einheit zu stiften und die geforderte Vergewisserung zu ermöglichen.84 Dementsprechend kann der Wesensbegriff des Christentums als „materiale[s] Konstruktionsprinzip der Theologie“ und in wissenschaftstheoretischer Hinsicht als „enzyklopädisches Organisationsprinzip“ gedeutet werden.85 Diese Bestimmungen können, wie § 1 zeigt, auch generalisierend auf die Ebene anderer Religionen übertragen und das Wesen einer Religion damit als definierende Größe der jeweiligen Theologie bestimmt werden, vorausgesetzt die Religionen erfüllen die Komplexitätsbedingungen, die auch für den funktionalen Theologiebegriff gelten. Einmal mehr wird deutlich, dass Schleiermachers Theologiebegriff formal so konzipiert ist, dass er andere Religionen zu umfassen weiß und sich nicht in der christlichen erschöpft. Weiterhin kann die Interdisziplinarität als besonderes Merkmal des Schleiermacherschen Theologiebegriffs ausgemacht werden. Als eine positive Wissenschaft weist die Theologie einen Schnittmengencharakter auf, insofern die Wissenssphären und Methoden der realen, kritischen und technischen Wissenschaften anteilig in die Theologie eingehen und diese sich ergo durch inhaltliche und methodische Vielfalt, ja Interdisziplinarität auszeichnet. Das wirft die Frage nach der Einheit der Theologie als Wissenschaft auf. Nach neuestem Forschungsstand wird die Einheit doppelt hergestellt: durch die Funktionalität und durch die Thematizität der Theologie. Das hängt damit zusammen, dass Schleiermachers Theologiebegriff, wie oben entfaltet, nicht rein funktional, sondern auch thematisch bestimmt ist, da das Wesen des Christentums im Zweckbezug mit angelegt ist. Der Leitsatz aus § 6 zeigt, dass der Zweckbezug die Einheitlichkeit und Theologizität der Theologie mit begründet. Dort heißt es: „Dieselben 84 85

Vgl. Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 73; Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 23 f. Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 112. Ausführlicher schreibt Schröder: „Das Wesen des Christentums ist für die Entfaltung des Theologiebegriffs bedeutsam, da sich die Christlichkeit theologischer Aussagen nur herleiten kann aus ihrem inneren Bezug auf die durch Wort und Geschichte Jesu initiierte Erlösung. Die durch das kritische Verfahren ermittelte individuelle Bestimmtheit des christlichen Gottesbewußtseins fungiert […] in Schleiermachers Theologieprogramm als allgemeines Darstellungsprinzip: Die einzelnen theologischen Disziplinen entfalten jeweils am geschichtlich gegebenen Material das in der Wesensbestimmung artikulierte christliche Identitätsprinzip“ (a. a. O., 100).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis327 Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören“ (KD2 § 6)86. Genau wie die Theologie als Ganze beziehen sich auch die einzelnen theologischen Disziplinen auf das „Kirchenregiment“, das Schleiermacher hier als Synonym für die Kirchenleitung benutzt, partizipieren folglich an der Lösung der praktischen Aufgabe, sind alle dem identischen Zweck verpflichtet und generieren ihr Gepräge aus eben diesem Praxisbezug. Die Kirchenleitung bestimmt damit den Zuschnitt der Theologie insgesamt und die Theologizität ihrer Disziplinen. Ohne die Beziehung auf die Kirchenleitung würden die theologischen Disziplinen ihrer Theologizität beraubt und damit wieder ihren ursprünglichen Wissenschaften zufallen. Der funktionale Bezug, das heißt eine äußere Instanz, stiftet also die Einheit der Theologie, macht sie somit zu einem Ganzen.87 Darin besteht das innovative Moment des Schleiermacherschen Theologiebegriffs, da die theologische Einheit vormals über die Bibelautorität, also von Innen aufgebaut wurde. Die einzelnen theologischen Disziplinen haben ihren wissenschaftlichen Einheitsgrund jedoch nicht nur im Zweckbezug, sondern auch im Wesensbegriff, wie § 1 offen gelegt hat. Die theologischen Disziplinen haben trotz ihrer sachlichen Vielfalt ein gemeinsames Thema – das Wesen des Christentums – und dementsprechend lässt sich ihr Zusammenhang auch inhaltlich, vom christlichen Wesensbegriff her begründen. Festzuhalten ist demnach, dass sich der Schleiermachersche Theologiebegriff durch Interdisziplinarität, die wiederum Implikat der Positivität ist, auszeichnet und die Einheit der theologischen Disziplinen funktional-thematisch begründet ist. Die Subjektivität kann als weiteres Merkmal von Schleiermachers Theologiebegriff angeführt werden. Schleiermacher postuliert zunächst einen gewissen „Willen“ (KD2 § 7)88 und verleiht der Theologie damit ein subjektives Moment, ohne es jedoch auszuschärfen. In der Kurzen Darstellung von 1811 verwendet er die pointiertere Formulierung „Trieb zum Wohl“ (KD1 § 7) und verdeutlicht dadurch klarer, dass die Theologie eine Art Sozialtrieb, ja einen psychologischen 86

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In der Erläuterung zu § 6 heißt es: „Diese Wissenschaften sind dann der Natur der Sache nach die Sprachkunde und Geschichtskunde, die Seelenlehre und Sittenlehre nebst den von dieser ausgehenden Disciplinen der allgemeinen Kunstlehre und der Religionsphilosophie“ (KD2 § 6 Zs.). Diese Ansicht war in der Schleiermacherforschung sehr verbreitet und bestimmte den Forschungsdiskurs bis zur Veröffentlichung von Schröders Studie (vgl. zum Beispiel: Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 292; Dinkel, Kirche gestalten, 42; Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 72; Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 205f). In der Erläuterung zu § 7 schreibt Schleiermacher: „Ohne diesen Willen geht die Einheit der Theologie verloren, und ihre Theile zerfallen in die verschiedenen Elemente“ (KD2 § 7 Zs.).

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Movens zur planmäßigen sozialen Wirksamkeit verlangt. Das subjektive Moment der Theologie erfährt schließlich eine Konkretion, wenn Schleiermacher es als „Interesse am Christentum“ (KD2 § 8) bezeichnet und eine endgültige Präzisierung, indem er es als „religiöses Interesse“89 und „wissenschaftlichen Geist“90 (KD2 § 9) beschreibt.91 Das „religiöse[ ] Interesse“, welches von Schleiermacher auch „kirchliches Interesse“ (KD2 § 12) genannt wird, kann als innere Regung, als Eifer, als dynamischer Tatendrang gedeutet werden. Das „religiöse[ ] Interesse“ konkretisiert sich in Handlungsimpulsen, welche auf die religiöse Gemeinschaft und die Kirche, also auf die Praxis gerichtet sind. Es handelt sich demnach um eine individuelle handlungsorientierte Motivation zum Wohl der religiösen Frömmigkeitspraxis. Dahingegen kann der „wissenschaftliche[ ] Geist“ als wissens- und theorieorientiert charakterisiert werden, insofern er sich aus der Wissenschaft speist, auf sie bezogen ist und wissenschaftliche Erkenntnisse, also kognitives Wissen inkludiert. Schleiermacher verortet das „religiöse[ ] Interesse“ und den „wissenschaftlichen Geist“ im Theologen und deklariert dadurch beide Faktoren dezidiert als subjektive Bedingungen, ja als individuelle Dispositionen der Theologie.92 Befinden sich „religiöses Interesse“ und „wissenschaftliche[r] Geist“ in einer optimalen Balance, sind Handlungsorientierung und Wissensorientierung also ausgeglichen, avanciert der Theologe zu einem „Kirchenfürsten“ (KD2 § 9). Dieses Gleichgewicht wird von Schleiermacher jedoch als „theologische[s] Ideal“ (KD2 § 9 Zs.) eingestuft, da es in der Realität nicht zu verwirklichen ist. Die tatsächliche Ausgestaltung der subjektiven Disposition, das heißt die individuelle Qualifikation und Begabung, determiniert letztlich das Berufsprofil eines Theologen und legt dessen vorrangigen Tätigkeitsbereich innerhalb der Kirchenleitung fest. Überwiegt der „wissenschaftliche[ ] Geist“ handelt es sich um einen „Theologe[n] im engeren Sinn“ (KD2 § 10), herrscht das „religiöse[ ] Interesse“

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Rössler deutet das „religiöse[ ] Interesse“ wie folgt: „‚Religiöses‘ oder ‚kirchliches Interesse‘ bezeichnet für Schleiermacher den zur Selbsttätigkeit innerhalb der Kirche motivierenden Handlungsimpuls […]“ (Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 53). Den „wissenschaftlichen Geist“ beschreibt Rössler in folgender Weise: „Er [der wissenschaftliche Geist] bezeichnet die im Subjekt selbst liegende Konstitutionsbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis, das ‚Talent für die ersten Prinzipien‘“ (a. a. O., 55). Später greift er noch auf die Ausdrücke „Wissen um das Christenthum“ und „Thätigkeit für das Kirchenregiment“ zurück (KD2 § 10). Nach Rösslers Dafürhalten trägt genau diese Verortung zur Wahrung der Einheit der Theologie bei, da so die Aufspaltung der Theologie in zwei Teile abgewehrt werden kann. Er konstatiert: „Diese doppelte Konstitutionsweise führt jedoch nicht zur Zweiteilung der Theologie nach Methoden oder Gegenständen, sondern wird ins theologische Subjekt verlagert […]“ (Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 206).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis329 vor, handelt es sich um einen „Kleriker“ (KD2 § 10).93 Trotz der Spezialisierung und Arbeitsteilung muss ein Theologe nach Schleiermachers Auffassung stets beide Kompetenzbereiche in sich vereinen, wenn auch nicht im idealen Gleichgewicht (vgl. KD2 § 12). Das „religiöse[ ] Interesse“ und der „wissenschaftliche[ ] Geist“ können als „sachliche[s] Fundament des Schleiermacherschen Theologiebegriffs“94 und als Ausdruck der „doppelte[n] Konstitutionsweise der Theologie“95 gedeutet werden. Durch Profilierung der Subjektivität betont Schleiermacher die perspektivische Gebundenheit der Theologie als Wissenschaft und die existenzielle Standpunktbezogenheit, die freilich mit seinem Religionsbegriff zusammenhängt. Auch die Subjektivität lässt sich auf andere Religionen, die eine Theologie ausgebildet haben, übertragen, wodurch sich einmal mehr zeigt, dass Schleiermachers offener Theologiebegriff prinzipiell religionsübergreifend ausgerichtet ist. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Christentum als die historisch komplexeste und ausdifferenzierteste Religion, in der sich der Unterschied zwischen religiöser Produktivität und Rezeptivität verfestigt hat, nach einer Steuerungseinheit und ergo nach einer Theologie verlangt. Diese wird als eine positive Wissenschaft und damit als eine handlungsleitende Wissenschaft bestimmt. Schleiermacher formuliert einen funktionalen Theologiebegriff mit materialen Einschüssen. Das heißt, dass die Theologie funktional auf die Kirchenleitung bezogen ist und gleichzeitig thematisch im Wesen des Christentums gründet. Die Theologie vereint die Wissens- und Handlungsorientierung in sich, indem sie religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist als subjektive Dispositionen des Theologen bestimmt. Schleiermacher entwickelt einen modernen formalen Theologiebegriff, der sich durch Funktionalität, Thematizität, Interdisziplinarität und Subjektivität auszeichnet und trotz seines christlichen Hintergrundes so offen und allgemein angelegt ist, dass er einen großen, über den christlichen hinausgehenden Adressatenkreis anzusprechen vermag. 2.1.2.2 Disziplinäre Aufgliederung Seit dem 18. Jahrhundert differenziert sich die evangelische Theologie in die vier Disziplinen Exegese sowie Historische, Systematische und Angewandte Theo93 94 95

Schleiermacher weist in der Erklärung zu § 10 daraufhin, dass die Bezeichnung „Theologe“ „in dem weiteren beide Richtungen umfassenden Sinne genommen“ (KD2 § 10 Zs.) wird. Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 60. Vgl. auch Rösslers Ausführungen zum Begriffspaar: a. a. O., 53–64. A. a. O., 206. Rössler führt erklärend an: „Diese doppelte Konstitutionsweise positiver Wissenschaften durch Theorie und Praxis hat Schleiermacher für die Theologie detaillierter und differenzierter anhand eines eigenen Begriffspaares beschrieben“ (a. a. O., 52f).

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logie aus.96 Schleiermacher gibt mit seinem Theologieentwurf die gängige Aufteilung auf und gliedert die evangelische Theologie in die Philosophische Theologie, die Historische Theologie und die Praktische Theologie (vgl. KD2 §§ 24–26). Schleiermachers Dreiteilung kann neben dem funktionalen Theologiebegriff, mit dem sie unmittelbar zusammenhängt, als die größte Neuerung gewertet werden. Durchgesetzt hat sich die Dreiheit der evangelischen Theologie letztlich aber nicht. Als Bestandteile einer positiven Wissenschaft gründen die theologischen Disziplinen in außertheologischen Wissenschaften. Ihre Einheit wird, wie oben gezeigt, durch die Funktionalität und die Thematizität der Theologie hergestellt (vgl. KD2 §§ 24–26). Schleiermacher ändert damit nicht nur die disziplinäre Aufgliederung an sich, sondern auch die Herleitung der einzelnen Disziplinen. Im funktionalen Theologiebegriff liegt die Stärke von Schleiermachers Theologiebegriff, da er die Integration unterschiedlicher Methoden und Wissenssphären bedingt und damit die charakteristische thematische sowie methodische Vielfalt, das heißt die Interdisziplinarität der Theologie realisiert.97 Dementsprechend kann die Theologie auch als „eine funktionsbedingte Zusammenfassung verschiedener Fächer, gewissermaßen eine universitas in der Universität“98 gedeutet werden. Dieser funktionale Zuschnitt der Theologie begründet die Modernität von Schleiermachers Theologiekonzept und hebt es von anderen Entwürfen ab.99 Nach neuestem Forschungsstand wird die wissenschaftliche Einheit der Theologie jedoch nicht ausschließlich über die Funktionalität hergestellt. So bekommen die Disziplinen ihren thematischen Zusammenhang durch das Wesen des Christentums.100 Denn inhaltlich muss überall vorausgesetzt und thematisch werden, 96

Planck vertritt beispielsweise die Viergliederung der evangelischen Theologie in seiner theologischen Enzyklopädie (vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 294). 97 Birkner schreibt dazu: „Die wissenschaftliche Organisation der Theologie ist nach Schleiermacher zu begreifen als funktionsbedingte Ausbildung und Zusammenfassung von Disziplinen, deren Gegenstände grundsätzlich auch außerhalb der Theologie wissenschaftlich bearbeitet werden beziehungsweise bearbeitet werden können“ (Birkner, Theologie und Philosophie, 177). 98 A. a. O., 178. 99 Vgl. Dinkel, Kirche gestalten, 270; Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 159. 100 Schröder führt dazu erklärend aus: „Durch die Wesensbestimmung wird so ein innerer Sachzusammenhang aller theologischen Disziplinen angezeigt, der sich dadurch ergibt, daß in den pragmatischen Funktionszusammenhang der Theologie zugleich der Begriff des Christentums involviert ist. Die Einheit oder das ‚Ganze‘ der Theologie wird gerade durch die Verbindung von praktisch-kirchenleitendem Bezug und wissenschaftlicher Kenntnis des geschichtlichen Christentums konstituiert“ (Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 107f). Weiterhin rekurriert Schröder auf das christliche Moment der Theologie, welches nur durch die Wesensbestimmung evoziert werden kann und schreibt: „Das Wesen des Chris-

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis331 was das Wesen der Religion ist, zu deren Steuerung ausgebildet wird. Auch über den Wesensbegriff baut sich demnach die Einheit der Theologie auf, insofern alle theologischen Disziplinen thematisch auf das Wesen des Christentums bezogen sind: Die Philosophische Theologie bestimmt das Wesen des Christentums, entwickelt also die Wesensformel und bringt damit die zentrale Kategorie hervor. Die Historische Theologie bezieht diesen idealen Wesensbegriff auf die Empirie, wendet ihn also auf die historische Wirklichkeit des Christentums an, um sie auf diese Weise wissenschaftlich zu erschließen und darzustellen. Die Praktische Theologie entwickelt Kunstregeln zur Kirchenleitung auf der Basis der Wesensbestimmung, setzt also den Begriff des Christentums immer schon voraus. Demnach baut sich der Zusammenhang der Disziplinen auch über einen „inhaltlichen Konvergenzpunkt“101 auf, der sich im Wesen des Christentums konkretisiert. Bevor die Profile der einzelnen Disziplinen skizziert werden, soll ihr bereits angedeutetes Verhältnis untereinander genauer beleuchtet werden.102 Ausgehend von der Historischen Theologie beschreibt Schleiermacher es wie folgt: „[…] so ist sie [die historische Theologie] zugleich nicht nur die Begründung der praktischen, sondern auch die Bewährung der philosophischen Theologie“ (KD2 § 27). Die Praktische Theologie setzt demnach die Historische Theologie voraus, die wiederum der Philosophischen Theologie bedarf. Die Beziehung zwischen den theologischen Disziplinen kann daher als eine „gestufte[ ] Fundierung“103 und ein „sukzessive[s] Abhängigkeitsverhältnis“104 gedeutet werden. Der enge Nexus der theologischen Disziplinen, der aus dem Zweckbezug und dem Wesensbegriff resultiert, wird so deutlich und die Idee des Ganzen, die trotz der disziplinären Aufgliederung und Arbeitsteilung konstitutiv ist, herausgestellt. In seiner Kurzen Darstellung von 1811 bestimmt Schleiermacher das Verhältnis zwischen den Disziplinen auch bildlich, insofern er die Philosophische Theologie als „Wurzel“ (KD1 § 26), die Historische Theologie als „Körper“ (KD1 § 36) und die Praktische Theologie als „Krone“ (KD1 § 31) bezeichnet. In der zweiten Kurzen Darstellung gibt Schleiermacher das aus der Botanik entlehnte und häufig zitierte Bild jedoch

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tentums ist für die Entfaltung des Theologiebegriffs bedeutsam, da sich die Christlichkeit theologischer Aussagen nur herleiten kann aus ihrem inneren Bezug auf die durch Wort und Geschichte Jesu initiierte Erlösung. Die durch das kritische Verfahren ermittelte individuelle Bestimmtheit des christlichen Gottesbewußtseins fungiert […] in Schleiermachers Theologieprogramm als allgemeines Darstellungsprinzip: Die einzelnen theologischen Disziplinen entfalten jeweils am geschichtlich gegebenen Material das in der Wesensbestimmung artikulierte christliche Identitätsprinzip“ (a. a. O., 100). A. a. O., 111. Vgl. ausführlich zum Verhältnis der drei Disziplinen: Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 133–146. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 295. Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 134.

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auf und benennt einzig die Historische Theologie noch als „Körper“ (KD2 § 28). Bildet die Historische Theologie das Zentrum des Studiums, so konstituiert die Philosophische Theologie die Verbindung zur Wissenschaft und die Praktische Theologie die zur Praxis, das heißt zur Kirche.105 Das Verhältnis zwischen Philosophischer und Historischer Theologie, das durch wechselseitige Abhängigkeit bestimmt wird, verdichtet sich in der von Schleiermacher eingeführten historischphilosophischen Wesensbestimmung des Christentums.106 Nach Schleiermachers Auffassung kann die Wesensbestimmung ausschließlich durch Verschränkung der historischen mit der philosophischen Perspektive erfolgen, da die empirische Wirklichkeit mithilfe von philosophischen Kategorien, die ihrerseits wiederum des historischen „Stoff[s]“ (KD2 § 65) bedürfen, erschlossen werden muss. Erst das kritische Gegeneinanderhalten von historischem Material und spekulativen Begriffen ermöglicht eine Wesensbestimmung (vgl. KD2 § 32).107 Schleiermacher definiert die christliche Theologie als „Inbegriff […] wissenschaftliche[r] Kenntnisse und Kunstregeln“ (KD2 § 5) und verleibt der christlichen Theologie damit zwei Wissenstypen ein, die sich auf die theologischen Disziplinen verteilen. So liefern die Philosophische und die Historische Theologie „wissenschaftliche[ ] Kenntnisse“, wohingegen die Praktische Theologie als technische Disziplin „Kunstregeln“ formuliert. Inwiefern sich die „wissenschaftliche[n] Kenntnisse“ in philosophische und historische ausdifferenzieren und was sich genau hinter „Kunstregeln“ verbirgt, gilt es nun zu beleuchten, indem ein kurzer Abriss der drei theologischen Disziplin gegeben wird.108 Die Dreiheit der evangelischen Theologie kann schon als innovativ beurteilt werden, die Aufnahme der Philosophischen Theologie in den theologischen Fächerkanon verdient diese Bezeichnung noch viel mehr. Denn ursprünglich 105 In § 28 heißt es: „Die historische Theologie ist sonach der eigentliche Körper des theologischen Studiums, welcher durch die philosophische Theologie mit der eigentlichen Wissenschaft, und durch die praktische mit dem thätigen christlichen Leben zusammenhängt“ (KD2 § 28). 106 In § 21 der Kurzen Darstellung schreibt Schleiermacher: „Es giebt kein Wissen um das Christenthum, wenn man, anstatt sowohl das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auffassung begnügt“ (KD2 § 21). 107 Schröder betont Schleiermachers programmatische Leistung, wenn er schreibt: „Schleiermacher hat als erster neuzeitlicher Theologe das Wesen des Christentums nicht nur auf rein historische Weise zu bestimmen gesucht, sondern dabei gleichzeitig auf die die historische Analyse tragende Methode und deren Prinzipien reflektiert“ (Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 124). 108 Eine detaillierte Analyse der einzelnen Zweige erfolgt nicht, da sie zu sehr vom eigentlichen Thema wegführen würde. Vgl. hierzu die in Fn. 60 des III. Hauptteils genannte Forschungsliteratur.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis333 hatte die Philosophische Theologie keinen Ort im theologischen System im Gegensatz zur Systematischen Theologie. Diese scheint in Schleiermachers Entwurf ihre etablierte Stellung als klassisches theologisches Fach an die Philosophische Theologie abgetreten zu haben, wenngleich die systematisch-theologischen Disziplinen – Dogmatik und theologische Ethik – weiterhin als der Historischen Theologie integrierte Bestandteile der evangelischen Theologie angehören.109 Die Philosophische Theologie, die von Schleiermacher nie als Einzeldisziplin entfaltet worden ist, hat sich letztlich nicht als ein eigenes theologisches Fach etablieren können.110 Ihre Themen werden weitgehend in den Prolegomena der Dogmatik behandelt.111 Als Teildisziplin einer positiven Wissenschaft gründet die Philosophische Theologie per definitionem in außertheologischen Disziplinen. Konkret bedeutet das, dass die Philosophische Theologie methodisch und inhaltlich auf die Philosophische Ethik112 und die Religionsphilosophie113 rekurriert und dieser wissenschaftssystematische Zusammenhang auch namensgebend ist (vgl. KD2 §§ 23, 24 Zs., 29, 35, 43 Zs.).114 Anknüpfend daran kann der Philosophischen Theologie „die Funktion der theologischen Grunddisziplin, in der es um die Kategorien geht, die Verstehen von Geschichte und Gegenwart des Christentums erschlie109 So konstatiert beispielsweise Birkner, dass die philosophische Theologie „die Stelle der klassischen Prinzipienlehre der protestantischen Dogmatik“ einnehme (Birkner, Theologie und Philosophie, 176). 110 Hirsch bemerkt dazu: „Die philosophische Theologie erweist sich dabei als das sperrigste Stück. So wie sie Schleiermacher vorschwebte, ist sie weder von ihm selbst noch von einem andern zusammenhängend bearbeitet worden“ (Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, 351). 111 Vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 304 f. 112 Die Philosophische oder Spekulative Ethik versteht Schleiermacher als „Wissenschaft der Geschichtsprincipien“ (KD2 § 35), also als historische Kategorienlehre, ja als eine Art Kulturtheorie. 113 Die Religionsphilosophie fasst Schleiermacher als eine Begriffswissenschaft, welche die „Aufstellung […] der Wechselbegriffe des natürlichen und des positiven“ realisiert (KD2 § 43) und als eine „vergleichende Theorie der geschichtlichen Religionen“ auf (Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 302). 114 Birkner führt dazu aus: „Die Philosophische Theologie faßt die für die Theologie wichtigen Teile der philosophischen Ethik zusammen mit der kritischen Disziplin der Religionsphilosophie. Sie nimmt ihren Einsatz bei der philosophischen Ethik, in der das allgemeine Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes erörtert wird. Von diesen Voraussetzungen her kann dann in der kritischen Religionsphilosophie das eigentümliche Wesen des Christentums und der christlichen Gemeinschaft bestimmt werden“ (Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, 53).

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ßen“115 zugeschrieben werden. Zieht man Schleiermachers Definition der Philosophischen Theologie, wie er sie in § 24 formuliert, hinzu, gewinnt die Aufgabe der Philosophischen Theologie weiter an Konkretion. Es heißt dort: „Alles was dazu gehört um von diesen Grundlagen aus sowol das Wesen des Christenthums, wodurch es eine eigenthümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu bringen, als auch die Form der christlichen Gemeinschaft und zugleich die Art, wie beides sich wieder theilt und differentiirt, dieses alles zusammen bildet den Theil der christlichen Theologie, welchen wir die philosophische Theologie nennen“ (KD2 § 24).116 Die Philosophische Theologie soll nach Schleiermachers Auffassung demnach das Wesen des Christentums117 bestimmen und mittels der Wesensformel die konkrete historische Situation der christlichen Glaubensgemeinschaft analysieren.118 Die Wesensbestimmung erfolgt bei Schleiermacher, wie oben gezeigt, durch das Zusammenspiel von historischer und philosophischer Perspektive, wie auch folgende Äußerung unterstreicht: „Da das eigenthümliche Wesen des Christenthums sich eben so wenig rein wissenschaftlich construiren läßt, als es bloß empirisch aufgefaßt werden kann: so läßt es sich nur kritisch bestimmen […] durch Gegeneinanderhalten dessen, was im Christenthum geschichtlich gegeben ist, und der Gegensäze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können von einander verschieden sein“ (KD2 § 32).119 Als Methode der Philosophischen Theologie wird offenkundig die Kritik bestimmt und damit das „Gegeneinanderhalten“ als operationale Kategorie veranschlagt. Das empirische Material, das heißt die historische Wirklichkeit, gilt es dementsprechend mit den theoretischen Kategorien zu verknüpfen. Daraus folgt, dass die Philosophische Theologie aus

115 Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 301. Daraus folgend deutet Birkner die Philosophische Theologie auch als „Fundamentaltheologie“ (ders., Theologie und Philosophie, 176). 116 In § 21 heißt es: „Es giebt kein Wissen um das Christenthum, wenn man, anstatt sowol das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur einer empirischen Auffassung begnügt“ (KD2 § 21). 117 Schleiermacher unterscheidet zwischen einer allgemeinen Philosophischen Theologie und einer speziellen oder besonderen Philosophischen Theologie. Erstere betrifft das Christentum und sucht ergo das Wesen des Christentums zu bestimmen, Letztere betrifft die protestantische Kirche und soll daher das Wesen des Protestantismus bestimmen (vgl. KD2 §§ 36 und 42). 118 Rössler beschreibt die zweite Aufgabe detaillierter: „Das Wesen dieser zweiten Aufgabe liegt in der Aufstellung von Grundsätzen für die Beurteilung eines bestimmten geschichtlichen Zustands, die ihrerseits darin besteht, diesen Zustand mit der aufgestellten Wesensformel, der ‚Idee‘ des Christentums, zu vergleichen“ (Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 98). 119 Vgl. auch: KD2 § 59.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis335 wissenschaftssystematischer Perspektive eine kritische Disziplin ist.120 Die Theologizität der Philosophischen Theologie konstituiert sich wie bei allen theologischen Disziplinen durch ihren Bezug zur Kirchenleitung.121 Gleichwohl ist im funktionalen Bezug der Wesensbegriff mit eingetragen und die Philosophische Theologie ergo auch auf das Wesen des Christentum bezogen. Die „erhaltende Richtung der Kirchenleitung“ (KD2 § 39) intendiert nach Schleiermachers Auffassung durch die Mitteilung nach außen Wertschätzung zu erwirken, während die „zusammenhaltende[ ] Richtung“ (KD2 § 40) krankhafte Zustände im Inneren zu Bewusstsein zu bringen sucht.122 Die „erhaltende Richtung der Kirchenleitung“ ist also bestrebt, die Wesensformel des Christentums nach außen zu kommunizieren und dadurch die Stellung des Christentums und den Wahrheitsanspruch zu sichern. Die „zusammenhaltende[ ] Richtung“ der Kirchenleitung sensibilisiert innerhalb der Kirche für defizitäre Zustände, indem mittels „Gegeneinanderhalten“ von Historischem und Kategorialem, also durch Abgleich von historischem Zustand und Wesensformel, auf Abweichungen und Fehlentwicklungen aufmerksam gemacht wird.123 Ausgehend von ihrem Bezug zur Kirchenleitung und deren Tätigkeiten differenziert Schleiermacher die Philosophische Theologie in die zwei Unterdisziplinen „Apologetik“ (KD2 § 41)124 und „Polemik“ (KD2 § 41)125 aus und ordnet die „Apologetik“ der „erhaltende[n] Richtung der Kirchenleitung“ und die „Polemik“ der „zusammenhaltenden Richtung“ zu, wodurch sich die Aufgaben der beiden Bereiche ergeben. 120 In § 37 der Kurzen Darstellung schreibt Schleiermacher dementsprechend: „[…] so ist diese ihrem wissenschaftlichen Gehalt nach Kritik, und sie gehört der Natur ihres Gegenstandes nach der geschichtskundlichen Kritik an“ (KD2 § 37, vgl. dazu: Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 80). 121 Schleiermacher konstatiert entsprechend: „Als theologische Disciplin muß der philosophischen Theologie ihre Form bestimmt werden durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung“ (KD2 § 38). Vgl. dazu: Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, 146. 122 Bereits in § 25 heißt es: „Der Zwekk der christlichen Kirchenleitung ist sowol extensiv als intensiv zusammenhaltend und anbildend […]“ (KD2 § 25). 123 Schleiermacher konkretisiert: „Krankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen Organismus […] können theils in zurücktretender Lebenskraft gegründet sein, theils darin, daß sich beigemischtes fremdartiges in denselben für sich organisirt“ (KD2 § 54). Da beide Fehlformen innerhalb der Lehre und der Verfassung auftreten können, ergeben sich insgesamt vier Fehlformen, die von Schleiermacher als „Indifferentismus“ (KD2 § 56), „Separatismus“ (KD2 § 57), „Ketzerei“ (KD2 § 58) und „Schisma“ KD2 § 58) charakterisiert werden. 124 Schleiermacher unterscheidet zwischen der „allgemeinen“ (KD2 § 39) und der „specielle[n] Apologetik“ (KD2 § 50). Erstere bestimmt das Wesen des Christentums, Letztere das Wesen des Protestantismus. 125 Schleiermacher differenziert auch zwischen der „allgemeinen“ (KD2 § 40) und der „specielle[n] Polemik“ (KD2 § 61).

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Der Historischen Theologie verleiht Schleiermacher einen neuen Zuschnitt, welcher sich von gängigen Auffassungen unterscheidet und den programmatischen Charakter seines Theologieverständnisses mit begründet.126 Schleiermacher benennt „die exegetische[ ] Theologie“ (KD2 § 88), „die historische Theologie im engeren Sinne oder die Kirchengeschichte“ (KD2 § 149) und „die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“ (KD2 § 195) als Bereiche der Historischen Theologie.127 Zentral ist dabei die Hochschätzung der Gegenwartsthematik, die in der Unterdisziplin „die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“ zum Ausdruck kommt. Für Schleiermacher ist die Gegenwart also Teil der Geschichte. Es ist unübersehbar, dass Schleiermacher der Historischen Theologie generell eine große Bedeutung einräumt, nimmt sie in seiner theologischen Enzyklopädie doch mit Abstand den größten Raum ein und wird von ihm als „Körper“ (KD2 § 28) des theologischen Studiums bezeichnet.128 Die Historische Theologie, die wissenschaftssystematisch „ihrem Inhalte nach ein Theil der neuern Geschichtskunde“ (KD2 § 69) ist, erhält ihre Theologizität wie alle theologischen Disziplinen durch ihren Bezug zur Kirchenleitung, in den der Wesensbegriff thematisch eingetragen ist. Schleiermacher definiert die Historische Theologie daher wie folgt: „Die Kirchenleitung erfordert aber auch die Kenntniß des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande, welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als Ergebniß der Vergangenheit begriffen werden kann; und diese Auffassung in ihrem ganzen Umfang ist die historische Theologie im weiteren Sinne des Wortes“ (KD2 § 26).129 Die Historische Theologie betrachtet also die Geschichte des Christentums von der Entstehung bis zur Gegenwart, beleuchtet demzufolge die historische Wirklichkeit in ihrer Entwicklung, welche die Kirchenleitung zu gestalten sucht.130 Die Historische Theologie fokussiert dabei die inneren Zusammenhänge und streift ergänzend dazu die äußeren Gegebenheiten. Operationale Kategorie der Historischen Theologie ist hierfür die „historische Kritik“ (KD2 § 102). Exemplarische Beachtung sollen im Folgenden „die exegetische[ ] Theologie“ und „die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“ erhalten, da sie Schleiermachers innovativen Geist besonders gut widerspiegeln. 126 Vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 297. 127 Vgl. zur Herleitung der Unterdisziplinen: KD2 §§ 81–85. 128 Erstaunlicherweise wird die Historische Theologie in der Forschungsliteratur hingegen nicht häufig diskutiert. Im Gegensatz zu den beiden anderen Disziplinen gibt es keine Monographie, die sich einzig der Historischen Theologie widmet. 129 Vgl. auch KD2 § 81. 130 In § 70 heißt es: „Als theologische Disciplin ist die geschichtliche Kenntniß des Christenthums zunächst die unnachläßliche Bedingung alles besonnenen Einwirkens auf die weitere Fortbildung desselben […]“ (KD2 § 70).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis337 Schleiermachers Einstufung der „exegetische[n] Theologie“ in die Historische Theologie und die damit einhergehende Deklaration als historische Disziplin kann als Novum ausgemacht werden. Obwohl die „exegetische[ ] Theologie“ dadurch ihren vormals eigenständigen Status verliert, realisiert Schleiermacher auf diese Weise ihre Aufwertung, da ihr durch die Integration in die Historische Theologie nicht länger die Rolle einer „Hilfswissenschaft der Dogmatik“131 anhaftet. Unter „exegetische[r] Theologie“ versteht Schleiermacher die historisch-kritische Auslegung der kanonischen Schriften des Urchristentums, also die neutestamentliche Exegese. Er benennt die umfassende Erforschung des neutestamentlichen Kanons, den er als die „normale[ ] Darstellung des Christenthums“ (KD2 § 103) definiert,132 als zentrale Aufgabe der „exegetischen Theologie“, wie folgende Äußerung zeigt: „Das richtige Verständniß von diesem ist mithin die einzige wesentliche Aufgabe der exegetischen Theologie, und die Sammlung selbst ihr einziger ursprünglicher Gegenstand“ (KD2 § 104 Zs.). Ziel der „exegetischen Theologie“ ist es, zu einem theologisch begründbaren Urteil zu kommen, welche Schriften den Kanon bilden, das heißt die Kanonfrage zu lösen. Gegenstand der „exegetischen Theologie“ ist demnach der neutestamentliche Kanon. Schleiermacher erkennt den Kanon dabei einerseits als eine überlieferte geschichtliche Größe an, versteht ihn andererseits aber auch als ein wissenschaftlich zu ermittelndes Konstrukt, insofern mittels „höherer Kritik“ (KD2 § 110) die durchaus strittigen Kanongrenzen ausgemacht werden (vgl. KD2 §§ 106–110). Schleiermacher bestimmt die Hermeneutik als adäquates Instrument der Erkenntnisgewinnung und stellt sie ins Zentrum der „exegetischen Theologie“. So konstatiert er: „Die Kunstlehre der Auslegung […] ist […] der eigentliche Mittelpunkt der exegetischen Theologie“ (KD2 § 138). Schleiermacher fasst die Auslegung und damit das Verstehen des neutestamentlichen Kanons also als eine Kunst, ja als eine Technik auf. Die „neutestamentische Specialhermeneutik“ (KD2 § 137) gründet nach Schleiermachers Auffassung in der „allgemeine[n] Hermeneutik“ (KD2 § 137 Zs.). Die „exegetische[ ] Theologie“ bedient sich folglich historisch-philologischer Prinzipien anderer Wissenschaften und macht diese für die Exegese des Neuen Testamentes fruchtbar, wodurch sich einmal mehr der Charakter einer positiven Wissenschaft offenbart (vgl. KD2 § 119). Die Unterdisziplin „die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“ gliedert sich noch einmal auf in die „dogmatische[ ] Theologie“ und die „kirchliche[ ] Statistik“ (KD2 § 195), was in der generellen 131 Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 297. 132 In § 104 heißt es daher: „Die Sammlung dieser das normale in sich tragenden Schriften bildet den neutestamentischen Kanon der christlichen Kirche“ (KD2 § 104). Weiterhin stellt er heraus: „In den neutestamentischen Kanon gehören wesentlich sowol die normalen Documente von der Wirksamkeit Christi und mit seinen Jüngern, als auch die von der gemeinsamen Wirksamkeit seiner Jünger zur Begründung des Christentums“ (KD2 § 105).

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Unterscheidung zwischen kirchlicher Lehre und kirchlicher Verfassung begründet liegt.133 Schleiermacher definiert die Dogmatik als die „Kenntniß der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre“ (KD2 § 195).134 Die Dogmatik fungiert als Gipfel der Historischen Theologie. Sie wird von Schleiermacher ausgehend von der Aufgliederung des „Lehrbegriffs“ (KD2 § 223) in einen theoretischen und einen praktischen Teil in die „Dogmatik im engeren Sinn“ und die „christliche Sittenlehre“ (KD2 § 223), also in die Glaubenslehre und die theologische Ethik ausdifferenziert. Wissenschaftssystematisch bindet er die „Dogmatik im engeren Sinn“ über die rationale Theologie an die Metaphysik und die „christliche Sittenlehre“ an die Pflichtenethik der spekulativen Ethik zurück (vgl. KD2 § 226 Zs.). Eine ausführliche Behandlung erfährt die „christliche Sittenlehre“ im theologischen Entwurf nicht. Erst seine posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre geben Aufschluss über seine Konzeption der theologischen Ethik. In der Kurzen Darstellung konzentrieren sich seine Ausführungen auf die Glaubenslehre. Schleiermacher fasst die Dogmatik offenkundig nicht wie üblich als „Systematisierung biblischer Lehren“135 auf. Stattdessen schreibt er ihr die Aufgabe zu, die derzeitige kirchliche Lehre kritisch zu ermitteln und darzustellen, wodurch sie den Status eines empirischen Faches mit dezidiertem Gegenwartsbezug bekommt. Auffällig ist weiterhin, dass die kontinuierliche Fortentwicklung nach Schleiermachers Dafürhalten in der Dogmatik verankert sein muss, weshalb diese für ihn neben orthodoxen Elementen auch heterodoxe implizieren und trotz Verbindlichkeit und Kontinuität auch Flexibilität inkludieren muss. Die Dogmatik ist demgemäß einerseits normativ dimensioniert, andererseits auch reversibel und entwicklungsfähig (vgl. KD2 §§ 203–208). Sie wird durch ihre Integration in die Historische Theologie offensichtlich zurückgestuft, da sie zu einer theologischen Disziplin neben anderen wird, ihr keine herausragende Bedeutung innerhalb des theologischen Systems zugesprochen wird und die Theologie erst recht nicht in ihr aufgeht.136 Vor diesem immer wieder kontrovers diskutierten Hintergrund137 verwundert es, dass Schleier133 Vgl. zur „dogmatischen Theologie“: Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik, 99–112. 134 Ausführlicher schreibt er: „Die zusammenhängende Darstellung der Lehre wie sie zu einer gegebenen Zeit […] geltend ist, bezeichnen wir durch den Ausdrukk Dogmatik oder dogmatische Theologie“ (KD2 § 97). 135 Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 300. Exemplarisch kann auf Nösselt und Planck verwiesen werden, die beide die alte Auffassung vertreten. 136 So auch Birkner, der betont, dass „Theologie und Dogmatik nicht identisch [sind], auch nicht in dem Sinne, daß etwa die Dogmatik die Sachmitte der Theologie oder die eigentliche Theologie repräsentierte“ (Birkner, Theologie und Philosophie, 187). 137 Birkner stellt heraus, dass „Schleiermacher mit der Einordnung der Dogmatik in die Historische Theologie dann kaum Nachfolger, wohl aber viele Kritiker gefunden [hat]“ (Birkner, Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik, 106).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis339 macher die Dogmatik als Einzeldisziplin ausarbeitet und ihr durch sein zu Lebzeiten veröffentlichtes opus magnum Der christliche Glaube solch große Aufmerksamkeit und Wertschätzung verleiht. Den zweiten Bereich – die „kirchliche Statistik“ – arbeitet Schleiermacher zur eigenständigen Vorlesung aus, veröffentlicht wird sie erst nach seinem Tod.138 Er definiert die „kirchliche Statistik“ als die „Kenntniß des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Theilen der christlichen Kirche“ (KD2 § 195).139 Die „kirchliche Statistik“ beleuchtet also die gegenwärtige Lage der Kirche. Sie erhellt zum einen die inneren Verhältnisse, das sind zum Beispiel die Beziehungen zwischen Kirchenleitenden und Gemeindegliedern sowie die organisatorische Form der Kirchenleitung. Zum anderen betrachtet sie auch die äußeren Beziehungsstrukturen, beispielsweise die zu anderen Kirchen, zur Wissenschaft und zum Staat. Die „kirchliche Statistik“ zielt auf einen umfassenden Vergleich der inneren und äußeren Verfassungen der christlichen Konfessionen ab. Sie betrachtet dafür die unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften und entwirft so ein fundiertes Bild vom vielgestaltigen Christentum der Gegenwart. Daher kann die „kirchliche Statistik“ als „Vergleichende Konfessionskunde“140 oder als „Soziologie des Christentums“141 gedeutet werden. Als eigenständige theologische Disziplin etabliert sich die „kirchliche Statistik“ nicht. Auch das dritte theologische Fach, die Praktische Theologie, spiegelt Schleiermachers innovativen konzeptionellen Geist wider. Schleiermacher erklärt die Praktische Theologie als Erster zur theologischen Disziplin,142 legitimiert so ihren wissenschaftlichen Status und fungiert daher als ihr Begründer.143 Denn die Praktische Theologie galt aufgrund ihrer anwendungsbezogenen Ausrichtung, die sich auch im geläufigen Namen „theologica applicata“ ausdrückte, nicht als 138 Vgl. Schleiermacher, Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik. 139 Weiterhin schreibt Schleiermacher: „Die Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der kirchlichen Statistik“ (KD2 § 95). 140 Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 299. Birkner deutet sie weiterhin als „Oekumenische Kirchenkunde“ (ebd.). 141 Gerber, Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums, 447. Gerber expliziert, dass Schleiermachers „kirchliche Statistik“ als „empirisch-soziologische Beschreibung der Kirchen und ihrer Institutionen“ zu verstehen sei (a. a. O., 448, Fn. 16). 142 Dinkel begründet die Aufnahme der Praktischen Theologie in das theologische System einleuchtend mit Modernitätserfahrungen. Er stellt heraus: „Die Steigerung der Komplexität des Kirchensystems durch Ausdehnung und innere Differenzierung macht zugleich die Ausdifferenzierung des funktional auf die Kirche bezogenen Theologiesystems erforderlich. Es verwundert daher nicht, daß als Reaktion auf die Umwälzungen der Neuzeit eine neue Disziplin im theologischen Fächerkanon entsteht, die Praktische Theologie“ (Dinkel, Kirche gestalten, 108). 143 Gräb nennt Schleiermacher daher auch einen „Klassiker“ und den „Urheber“ der Praktischen Theologie (Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 147, 150).

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

echtes theologisches Fach.144 Schleiermacher hat die Praktische Theologie später auch zur eigenständigen Vorlesung ausgearbeitet und neunmal gehalten.145 Was er unter Praktischer Theologie versteht, zeigt folgender Leitsatz: „Der Zwekk der christlichen Kirchleitung ist sowol extensiv als intensiv zusammenhaltend und anbildend; und das Wissen um diese Thätigkeit bildet sich zu einer Technik, welche wir, alle verschiedenen Zweige derselben zusammenfassend, mit dem Namen der praktischen Theologie bezeichnen“ (KD2 § 25). Die Praktische Theologie entwickelt demnach auf Grundlage der Erkenntnisse der Philosophischen und Historischen Theologie – also der „wissenschaftlichen Kenntnisse“ (KD2 § 5) – „Kunstregeln“ (KD2 § 5), „Verfahrensweisen“ (KD2 § 260) und „Methoden“ (KD2 § 263), welche der Ausführung der praktischen Aufgabe, konkret der Gestaltung der Kirchenleitung dienen. Die Praktische Theologie bildet demgemäß eine Technik aus, welche die „besonnene Thätigkeit“ (KD2 § 257), das heißt jegliches kirchenleitendes Handeln, anleitet. Die von der praktischen Theologie konzipierten „Methoden“ fallen alle unter die Form der „Seelenleitung“ (KD2 § 263), da sich die vom Klerus durchgeführte „Einwirkung“ auf die Laien ausschließlich auf deren „Gemüther“ beziehen kann (KD2 § 263).146 Die Praktische Theologie kann daher als Ordnung einer „besonnene[n] Thätigkeit“ im Rahmen des Überwiegens von Rezeptivität durch funktionale Differenzierung von Klerus und Laie aufgefasst werden. Schleiermachers Titulierung der Praktischen Theologie als „Technik“ zeigt explizit ihren wissenschaftssystematischen Ort an: Sie hat den Status einer technischen Disziplin und ist damit „‚zwischen‘ Spekulation und Empirie“147 verortet.148 Trotz der Bezeichnung als „Technik“ ist die Praktische Theologie den theologischen Inhalten verpflichtet, insofern sie die philosophischen und historischen Erkenntnisse voraussetzt und davon ausgehend „Kunstregeln“ zur Gestaltung kirchenleitenden Handelns entwickelt, also das theoretische Fundament dieser „Methoden“ und eben nicht die praktische Anwendung selbst

144 Vgl. Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 295 f. Exemplarisch kann auf Plancks und Nösselts theologische Entwürfe verwiesen werden, in denen der „theologica applicata“ ihr theologischer Status abgesprochen wird. 145 Vgl. Fischer, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, 126–128; Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 165–172. 146 In § 263 konstatiert Schleiermacher, dass „Mittel und Zwekk gänzlich zusammenfallen“ und zwar in Gestalt der „Seelenleitung“ (KD2 § 263). 147 Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophischtheologischen Systems, Berlin 1964, 34. 148 Vgl. dazu: Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 163. Dinkel konstatiert erläuternd dazu: „All diese Kunstlehren müssen die spekulativ erhobene Idee einer Sache auf ihren empirischen Befund beziehen und angeben, wie die Wirklichkeit am besten zu gestalten ist“ (Dinkel, Kirche gestalten, 111).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis341 darstellt (vgl. KD2 § 265 Zs.).149 Auch die Praktische Theologie zeichnet sich demnach durch eine funktionale Bezogenheit auf die Kirchenleitung und eine thematische Fundierung im Wesen des Christentums aus. Schleiermacher benennt zwei Handlungssphären der Kirchenleitung: das „Ganze[ ]“, das heißt die Kirche insgesamt und das Einzelne, also die „Gemeinde“ (KD2 § 271). Die Kirchenleitung differenziert sich davon ausgehend in das „Kirchenregiment“ und den „Kirchendienst“ aus (KD2 § 274). Aus diesem Grund enthält auch die Praktische Theologie die beiden Zweige „Theorie des Kirchenregimentes“ und „Theorie des Kirchendienstes“ (KD2 § 275)150. Das „Kirchenregiment“151, welches die inneren Verhältnisse und äußeren Beziehungsstrukturen der Kirche insgesamt im Blick hat und auf der Kirchenverfassung gründet, gliedert sich in einen „gebundenen“ und in einen „ungebundenen“ Teil auf (KD2 § 312). Die beiden Elemente werden von Schleiermacher auf die beiden Berufstypen „Kleriker“ und „Theologe im engeren Sinn“ verteilt (KD2 § 10): Ersterer vertritt das „gebundene“ Element in Form der „kirchliche[n] Autorität“ (KD2 § 315), Letzterer differenziert sich noch einmal aus in den „akademischen Theologen“ und „kirchlichen Schriftsteller[ ]“ (KD2 § 328) und repräsentiert das „ungebundene“ Element in Gestalt der „freie[n] Geistesmacht“ (KD2 § 328). Der „Kirchendienst“, der auf die Ortsgemeinde bezogen ist, erstreckt sich auf die beiden Bereiche kirchlichen Lebens: „Cultus“ (KD2 § 279), der sich wiederum in „Predigt“152 (KD2 § 284) und Liturgie (vgl. KD2 §§ 286 und 287) aufspaltet, und „Sitte“ (KD2 § 279), worunter die „Seelsorge“ (KD2 § 291) fällt, die ihrerseits auch die „Katechetik“ (KD2 § 291) einschließt. Der „Kirchendienst“ umfasst damit „erbauende“ und „regierende“ Tätigkeiten (KD2 § 279).

149 Vgl. dazu: Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, 152, 161. Gräb betont, dass die Praktische Theologie daher kein „inhaltsleere[s] Regelwerk“ sei (a. a. O., 164). 150 Vgl. ausführlicher dazu: Dinkel, Kirche gestalten, 131–139; Fedler-Raupp, Der Gemeindepfarrdienst als Zentrum kirchenleitenden Handelns. 151 Vgl. zu Schleiermachers „Theorie des Kirchenregimentes“: Dinkel, Kirche gestalten; Doerne, Theologie und Kirchenregiment; Herms, Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment. Dinkel betrachtet Schleiermachers „Theorie des Kirchenregimentes“ als innovatives Element der Praktischen Theologie und schreibt ihr eine gewisse Originalität zu. So heißt es beispielsweise bei ihm: „Er entwirft als erster eine Theorie einer sich selbst, nach eigenen – und nicht nach staatlichen – Prinzipien steuernden Kirche und läßt damit die protestantische Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments weit hinter sich“ (Dinkel, Kirche gestalten, 145). 152 Vgl. dazu: Albrecht, Schleiermachers Predigtlehre.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

2.1.2.3 Bedeutung für die Kirchen(um)gestaltung Schleiermacher engagiert sich zeitlebens als Kirchenpolitiker und begleitet und fördert die Gestaltung der Kirche in konstruktiver Weise.153 Auch seine wissenschaftlichen Schriften sind vielfach solchen Bestrebungen verpflichtet, implizieren also kirchenpolitische Versatzstücke in Form von Stellungnahmen und Impulsen. Schleiermacher sucht somit immer wieder Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen und füreinander fruchtbar zu machen. Überblickt man Schleiermachers Kurze Darstellung, fällt auf, dass er die Theologie in den Dienst der Gestaltung der Kirche stellt und damit als Motor von Reformen hochschätzt. Das gilt es im Folgenden zu explizieren. Die Philosophische Theologie partizipiert an der Gestaltung der Kirche, indem die „Polemik“ durch kritisches Gegeneinanderhalten von Wesensformel und historischer Wirklichkeit Missstände sowie Fehlentwicklungen offenlegt. Dadurch zeigt sie die generelle Notwendigkeit von Veränderungen auf, sensibilisiert also für die Dringlichkeit und Wichtigkeit von Reformen und macht konkrete Defizite sichtbar. Zudem kann die historisch-philosophische Wesensbestimmung des Christentums als Instrument zur kreativen Bewältigung der von Umbrüchen und Pluralität gekennzeichneten Lage und als Mittel der Identitätsformulierung gedeutet werden, indem sie das Proprium, das heißt den Kern des Christentums aufzeigt und stark macht.154 Auch die Historische Theologie wird von Schleiermacher über ihren Bezug zur Kirchenleitung in den Dienst der Kirchengestaltung gestellt, wie folgender Leitsatz zeigt: „Als theologische Disciplin ist die geschichtliche Kenntniß des Christenthums zunächst die unnachläßliche Bedingung alles besonnenen Einwirkens auf die Fortbildung desselben […]“ (KD2 § 70).155 Zweierlei ist erkennbar: 153 Dinkel verweist beispielsweise darauf, dass „Schleiermacher sich mit hohem persönlichen Risiko für die Reform des Kirchenwesens in Preußen ein[setzte]“ (Dinkel, Kirche gestalten, 9). Überdies stellt er heraus: „Das große kirchenpolitische Ziel Schleiermachers, die Verwirklichung der kirchlichen Selbständigkeit auf der Basis einer Synodalverfassung und die Etablierung eines synodalen Kirchenregiments anstelle des landesherrlichen blieb jedoch bis zu Schleiermachers Tod 1834 unerreicht“ (Dinkel, Kirche gestalten, 15). 154 So Schröder: „Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion ist die Reaktion auf eine tiefgreifende Krise traditioneller Instanzen christlicher Identitätsvergewisserung. Die Frage nach dem Wesen des Christentums ist zeit- und christentumsdiagnostisch motiviert. Sie knüpft an die neuzeitliche Situation eines Pluralismus der Frömmigkeitsstile wie ihrer dogmatischen Reflexionsformen an und versucht, diesen prinzipiellen Sachverhalt in die Grundlegung der Theologie einzuholen“ (Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 228). 155 An anderer Stelle heißt es: „Von dem constitutiven Princip der Theologie aus den geschichtlichen Stoff des Christenthums betrachtet, steht in dem unmittelbarsten Bezug auf die Kirchenleitung die geschichtliche Kenntniß des gegenwärtigen Momentes, aus welchem die künftige

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis343 Zum einen, dass kirchenleitendes Handeln stets auf die produktive Weiterentwicklung, also auch auf Veränderungen abzielt und damit immer auch modernisierend ist. Zum anderen, dass historische Erkenntnisse, welche die Historische Theologie ermittelt und darbietet, als Basis jeglicher Fortentwicklung fungieren und damit zentralen Stellenwert innerhalb der Kirchengestaltung haben. Die historisch-theologische Unterdisziplin „die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“ spielt dabei eine besondere Rolle, da die Zukunft nur in Anknüpfung an die Gegenwart gestaltet werden kann. Veränderungen erfordern demnach eine fundierte Analyse der inneren und äußeren Verhältnisse kirchlichen Lebens, die einzig von der Theologie, konkret von der „kirchlichen Statistik“ durchzuführen ist. Und auch im Bereich der Lehre räumt Schleiermacher der Theologie gestalterische Kraft ein. Die Dogmatik soll die gegenwärtige Lehre der Kirche darstellen und neben orthodoxen auch heterodoxe Elemente enthalten, wodurch die Weiterentwicklung immer mit angelegt ist. Denn der christlichen Lehre wird dadurch eine Entwicklungsfähigkeit zugesprochen, wodurch dem Stillstand entgegengewirkt werden kann. Die Praktische Theologie beeinflusst durch die Formulierung von „Kunstregeln“ unmittelbar das kirchenleitende Handeln und kann damit auch direkt auf die Kirchengestaltung oder -umgestaltung einwirken. Die Praktische Theologie kann sich dadurch am wirkmächtigsten in die Kirchengestaltung einschalten. Vorrangig, aber freilich nicht ausschließlich, befördert sie Reformen über die „Theorie des Kirchenregiments“ (KD2 §275). Die „Kirchliche Autorität“ (KD2 § 315) sichert zwar primär mittels der Kirchenverfassung die Stabilität und Kontinuität der Kirche, bildet aber gleichzeitig auch das Fundament für Veränderungen. Die „freie Geistesmacht“ (KD2 §328) unterstützt ihrerseits die fortschrittliche Weiterentwicklung der Kirche, indem sie Gestaltungsimpulse mit reformerischem Gepräge liefert.156 Schleiermachers „Theorie des Kirchenregiments“ befördert demnach auf programmatische Weise die Zukunftsfähigkeit der Kirche. Diese kurze Zusammenstelllung zeigt, dass alle theologischen Disziplinen der Fortentwicklung der Kirche verpflichtet sind und damit ihren spezifischen Beitrag zur (Um)Gestaltung der Kirche leisten. Das liegt im funktionalen Theologiebegriff, also im praktischen Zweckbezug der Theologie insgesamt und ihrer einzelnen Disziplinen begründet. Auffällig ist dabei, dass Schleiermacher in der Kurzen Darstellung den Terminus „Reform“ nicht verwendet und die Theologie ergo auch nicht dezidiert als Initiatorin und Realisatorin von Reforsoll entwikkelt werden. Diese mithin bildet einen besonderen Theil der historischen Theologie“ (KD2 § 81). 156 Dinkel führt dazu aus: „Basis aller Kirchenverbesserung oder Reformation der Kirche ist für ihn [Schleiermacher] dabei eine Kirchenverfassung, die es der Kirche ermöglicht, sich selbst zu regieren“ (Dinkel, Kirche gestalten, 159).

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men beschreibt, sie implizit aber als solche versteht. Interessant ist zudem, dass seine theologische Enzyklopädie selbst als „theologisches Reformprogramm“157 gedeutet werden kann, da sie einen innovativen Entwurf des theologischen Systems darstellt, welcher die konventionellen Vorstellungen durchbricht. Schleiermacher reagiert mit seiner Schrift offensichtlich auf die gesellschaftlich-religiösen Modernitätserfahrungen und die akademischen Umstrukturierungsprozesse und will mit seinem theologischen Entwurf Impulse setzen und die Entwicklung konstruktiv mitgestalten.

2.2 Resümee: Geigers Wissenschaftsverständnis im Kontext von Schleiermachers Wissenschaftsverständnis Schleiermacher formuliert einen modernen, formalisierten Theologiebegriff, welcher prinzipiell auch auf andere religiöse Traditionen bezogen werden kann. Auch jüdische Theologen können deshalb zur vertieften Auseinandersetzung angeregt werden. Daher ist es gut vorstellbar, dass Geiger sich an Schleiermachers Wissenschaftsideal orientiert und seine Wissenschaftsprogrammatik in ideeller Anlehnung daran entwickelt hat. Im Folgenden gilt es nun, die Leitfrage des III. Hauptteils zu beantworten und dadurch zu klären, ob Schleiermacher für Geiger als Orientierungsgröße dient. Geiger rekurriert in seinem Gesamtwerk nur an wenigen Stellen explizit auf Schleiermacher, zumeist in kritischer, geradezu polemischer Weise. Weitestgehend beziehen sich die knappen Referenzen auf Schleiermachers Abwertung des Alten Testaments. Einen direkten Bezug auf Schleiermachers Wissenschaftsprogrammatik respektive auf seine Kurze Darstellung sucht man vergebens. Um das literarische Verhältnis zwischen Schleiermacher und Geiger zu erhellen und Schleiermachers Prägekraft auf Geiger zu ermitteln, muss Geigers Wissenschaftsbegriff der jüdischen Theologie mit Schleiermachers Theologiebegriff „konfrontiert“158 und hinsichtlich etwaiger Parallelen beleuchtet werden. Das soll auf Grundlage der beiden wissenschaftsprogrammatischen Entwürfe Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie und Kurze Darstellung erfolgen. Da beide Konzeptionen in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich analysiert worden sind, werden die einschlägigen Gemeinsamkeiten im Folgenden ausschließlich benannt, nicht aber erläutert. Entgegen der im I. und II. Hauptteil dominierenden Verwendung des Begriffs „Wissenschaft des Judentums“ wird der Fokus nun auf die „jüdische Theologie“ 157 Vgl. Birkners gleichnamigen Aufsatz: Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm. 158 Ritter, „Dolmetscherin der Vergangenheit und Prophetin der Zukunft“, 125.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis345 gerichtet und dieser Terminus benutzt. Das ist damit zu begründen, dass der Vergleich zweier Wissenschaftsbegriffe nur sinnvoll ist, wenn die zugrunde gelegten Wissenschaften einander auf formaler Ebene gleichen.159 Weil es sich bei den Bezeichnungen „Wissenschaft des Judentums“ und „jüdische Theologie“ bei Geiger ohnehin um Synonyme handelt, ist die reflektierte Variation der Begriffe unproblematisch. Vergleicht man Geigers und Schleiermachers enzyklopädischen Entwürfe, sind die Parallelen unübersehbar. Freilich dürfen die Differenzen, die sich bei näherer Betrachtung auch zeigen, nicht ausgeblendet werden. Aber sowohl auf begrifflicher als auch auf struktureller Ebene gibt es zahlreiche Übereinstimmungen. Schleiermacher und Geiger legen beide eine formale Enzyklopädie vor, wobei Geigers Kompendium in manchen Teilen eher einer materialen gleicht.160 Sie verfassen in definitionsartigem Stil, der von Schleiermacher strenger durchgehalten wird, Leitsätze, die das Selbstverständnis, den Aufbau, die Methoden und Aufgaben der Theologie erläutern. Beide Schriften gehen auf eine Vorlesung zurück.161 Schleiermacher und Geiger formulieren beide einen funktionalen Theologiebegriff, beziehen die Theologie also auf eine bestimmte praktische Aufgabe und begründen die Theologizität durch diesen Praxisbezug.162 Gleichwohl formulieren beide keinen rein funktionalen Theologiebegriff, sondern veranschlagen das Wesen der Religion als inhaltlichen Einheitsgrund und vertreten damit offenkundig einen funktional-thematischen Theologiebegriff. Schleiermacher und Geiger messen dem Wesen der Religion in der Phase religiöser Umbrüche große Bedeutung bei, verstehen es als identitätsstiftende Größe und binden es in die Umwälzungsprozesse ein. Beide Theologiebegriffe zeichnen sich durch Positivität163, damit einhergehend durch eine externe Bezugsgröße, eine Teil-Ganze-Relation und ein interdisziplinäres Gepräge aus. Auffällig ist, dass beide subjektive Bedingungen der Theologie bestimmen, damit gewisse 159 Aus diesem Grund spielt Geigers Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums im Vergleich keine Rolle. Andere Schriften, die ebenfalls wissenschaftsprogrammatische Versatzstücke enthalten, werden auch nicht berücksichtigt. 160 Der historische Bereich und zwar vor allem der nachbiblische Zweig sind recht inhaltsschwer und widersprechen daher dem prinzipiellen Gepräge einer formalen Enzyklopädie. 161 Geigers Vorlesungsmanuskript wird erst posthum von seinem Sohn veröffentlicht. Bei Schleiermachers Kurzer Darstellung handelt es sich hingegen um ein die Vorlesung unterstützendes Lehrbuch, das er selbst als Grundlage seiner Vorlesung heranzieht. 162 Die praktische Aufgabe besteht für Geiger in der Vermittlung religiöser Erkenntnisse, also in der Anbahnung religiöser Bildungsprozesse. Pointierten Ausdruck finden die Vermittlungsanstrengungen in der Ausbildung. Schleiermachers Zweckbezug konkretisiert sich in der Ausbildung von Theologen, denen schließlich die Kirchenleitung obliegt. 163 Im Unterschied zu Schleiermacher benennt Geiger die jüdische Theologie nicht explizit als positive Wissenschaft. Durch den Praxisbezug und die empirisch-geschichtliche Bedingtheit konzipiert Geiger die jüdische Theologie jedoch implizit als positive Wissenschaft.

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mentale Dispositionen der Theologen einfordern, die über rein kognitive Kompetenzen hinausgehen und die existenzielle Standpunktbezogenheit der Theologie betonen. Als zentrale Merkmale beider Theologiebegriffe können also zusammengefasst die Funktionalität, die Thematizität, die Interdisziplinarität und die Subjektivität ausgemacht werden. Geiger und Schleiermacher vertreten die Dreiheit der Theologie und gliedern die Theologie in einen philosophischen, einen historischen und einen praktischen Zweig auf. Sowohl die Anzahl und Reihenfolge der theologischen Disziplinen als auch die Benennung stimmen überein. Die Verhältnisbestimmungen der einzelnen Disziplinen untereinander und zum Ganzen sind in beiden Konzeptionen zudem ähnlich und die Beziehung der Philosophischen und Historischen Theologie verdichtet sich bei beiden in der historisch-philosophischen Wesensbestimmung, der zentrale Bedeutung zukommt. Dass beide die Philosophische Theologie in das theologische System integrieren, der Systematischen Theologie hingegen keinen eigenen Ort einräumen, kann als weitere Parallele benannt werden. Außerdem ist der historische Zweig, der in beiden theologischen Entwürfen eine Zentralstellung einnimmt, parallel aufgebaut, wenngleich die konkreten Termini und Inhalte voneinander abweichen. Schleiermacher und Geiger ordnen die „exegetische[ ]“ beziehungsweise „biblische Theologie“ der Historischen Theologie zu und verorten die Hermeneutik darin. Weiterhin weisen sowohl Schleiermacher als auch Geiger der Gegenwartsthematik einen konstitutiven Stellenwert innerhalb der Historischen Theologie zu und würdigen damit die Gegenwart als Teil der Geschichte. Überdies führen beide die Praktische Theologie als theologische Disziplin in den theologischen Fächerkanon ein. Neben den skizzierten Leitideen der theologischen Entwürfe ähneln sich auch die Selbstverständnisse sowie Tätigkeitsfelder von Geiger und Schleiermacher. Sie verstehen sich als Theologen, wirken als Gelehrte und damit auch als Professoren sowie als Geistliche, sind ergo sowohl in akademischen als auch in gemeindlichen Kontexten tätig und suchen daher stets Theorie und Praxis konstruktiv miteinander zu verbinden. Dadurch kommen sie offenkundig Schleiermachers Ideal des „Kirchenfürsten“ (KD2 § 9) nah. Damit zusammenhängend fördern beide die Fortentwicklung ihrer Religion, unterstützen also den Reformprozess, unter anderem indem sie die Theologie für Umgestaltungen fruchtbar machen. Geiger und Schleiermacher stehen in Judentum und Christentum jeweils programmatisch für die Modernisierung, die Professionalisierung und die Akademisierung der Theologie. Betrachtet man die Parallelen, stellt sich die Frage, ob sie dem gleichen zeitgeschichtlichen Kontext oder gar dem Zufall geschuldet sind oder als Indizien einer Beeinflussung Geigers durch Schleiermacher gewertet werden können. Es gilt demnach zu klären, ob Geiger sich bei der Formulierung seines Wissenschaftsbegriffs der jüdischen Theologie tatsächlich an Schleiermachers theologischem

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis347 Entwurf orientiert und diesem Leitgedanken entnommen hat. Um die Frage beantworten zu können, müssen die aufgezeigten Gemeinsamkeiten gedeutet und weitere Übereinstimmungen einbezogen werden. Neben der werkimmanenten Betrachtung muss darüber hinaus der biographische Kontext beleuchtet und auf Anhaltspunkte hin befragt werden. Die skizzierten Parallelen können fast alle als Neuerungen bezeichnet werden. Das heißt, dass Schleiermacher sie als Erster formuliert und in der evangelischen Theologie zu etablieren gesucht hat. Vor allem der funktionale Theologiebegriff, die Dreiheit der Theologie und die Integration der Philosophischen und Praktischen Theologie in das theologische System können als innovativ bewertet werden. Diese konzeptionellen Neuheiten finden sich nur bei Schleiermacher und haben in der evangelischen Theologie auch keine direkten Nachahmer gefunden, abgesehen von der Praktischen Theologie, die zum theologischen Fächerkanon gehört. Geiger kann die Ideen im Grunde nur durch die Kurze Darstellung kennen lernen. Weder das ideelle Klima allein noch andere (evangelische) Theologen kommen als passende Einflussfaktoren infrage. Bei den einschlägigen Gemeinsamkeiten handelt es sich um Leitideen, also um zentrale Merkmale der Wissenschaftsbegriffe, und nicht um Nebensächlichkeiten, die tatsächlich dem Zufall oder Zeitgeist geschuldet sein könnten. Deshalb wiegen die Konvergenzen die Unterschiede auf. Die Abweichungen Geigers von Schleiermacher sind der Binnenlogik der jüdischen Religion geschuldet und können für den Vergleich damit vernachlässigt werden. Dass der Begriff „Kirchenleitung“ nicht explizit in Geigers Entwurf vorkommt und die Dogmatik nicht Bestandteil der Historischen Theologie ist, ist einleuchtend und spricht nicht gegen eine Orientierung an Schleiermacher. Gleichwohl verwundert es, dass Geigers theologisches Kompendium im Vergleich zu Schleiermachers Entwurf unterkomplex bleibt und Geiger Schleiermachers Theorietiefe offenkundig nicht erreicht. Es stellt sich unweigerlich die Frage, warum Geiger, angenommen er kannte Schleiermachers Kurze Darstellung, nicht weitere, prinzipiell passende Aspekte übernommen und für die jüdische Theologie fruchtbar gemacht hat. Warum zum Beispiel Schleiermachers Ausdifferenzierung der Philosophischen Theologie, die Geiger inhaltlich gewiss hätte mittragen können, nicht in Geigers Entwurf vorkommt, erscheint zunächst unverständlich. Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass Geigers philosophischer Zweig insgesamt unterentwickelt ist und viele Leerstellen aufweist. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass Geiger kein sonderlich großes Interesse an der Profilierung der Philosophischen Theologie gehabt hat, weil seine Leidenschaft der Historischen Theologie galt. Sofern Geiger sich an Schleiermachers Kurzer Darstellung orientiert hat, wird er einige Aspekte als sekundär eingestuft und sie deshalb nicht in seinen Entwurf integriert haben. Folglich kann eine andere Priorität als weitere Erklärung für Unterschiede herangezogen

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werden. Darüber hinaus ist die Intention, ein spezifisch jüdisches Kompendium zu schreiben, sicherlich ebenfalls ein Grund dafür, dass Geiger, eine ideelle Orientierung vorausgesetzt, Schleiermachers Kurze Darstellung nicht einfach kopiert. Die Unterschiede müssen demnach als kreative Eigenleistung Geigers aufgefasst werden und können nicht gegen eine Orientierung gewendet werden. Dass Geigers Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie ein spezifisches Gepräge aufweist, spricht nicht gegen die Kenntnis der Kurzen Darstellung, sondern kann vielmehr als Indiz dafür gewertet werden, dass Geiger Schleiermachers Ideen selbstständig und in reflektierter Distanz fortgeschrieben hat.164 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass die Konvergenzen, die in Schleiermachers Kurzer Darstellung und Geigers Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie auszumachen sind, für eine Beeinflussung Geigers durch Schleiermacher sprechen. Dass die aussagekräftigen Gemeinsamkeiten ausschließlich Geigers eigenen Einfällen entspringen und nicht der Lektüre von Schleiermachers Kurzer Darstellung zu verdanken sind, ist freilich prinzipiell möglich, aber eher unwahrscheinlich. Die Anzahl und Ausprägung der Übereinstimmungen sprechen gegen eine zufällige Parallelität. Eine Rezeption165 erscheint hingegen wahrscheinlich. Es gilt nun, weitere Gemeinsamkeiten zu betrachten, welche diese Annahme bekräftigen. In Geigers Werk lassen sich weitere Anklänge an Schleiermacher ermitteln. Neben der skizzierten Parallelität im Bereich der Wissenschaftsprogrammatik sind die Gemeinsamkeiten auf dem Gebiet der Religionstheorie besonders eindrücklich.166 In seiner Schrift Das Judenthum und seine Geschichte beleuchtet Geiger in der ersten Vorlesung das Wesen der Religion und legt damit seine religionsphilosophische Auffassung dar. Hier ist die Nähe zu Schleiermachers Reden unübersehbar und daher bereits von Heinrich Julius Holtzmann (1832– 1910), einem protestantischen Zeitgenossen Geigers, erkannt und mit Kritik versehen worden. Der Neutestamentler betont abschätzig, dass „Gedanke und 164 Steuer stellt heraus: „Aber Geiger muss auch auf diesem Gebiete die ausserjuedischen Vorarbeiten gekannt haben […]“ (Steuer, Schleiermachers Religionsphilosophie in ihrer systematischen und historischen Bedeutung für die jüdische Religionsphilosophie, 126). 165 Unter Rezeption wird „die teils verarbeitende oder aktualisierende Übernahme, Verbreitung und Wirkung von Gedanken, Themen, Motiven, Formen und Stilen […] e. Autors oder Werkes“ verstanden (von Wilpert, Art. Rezeption, 684). 166 Eine detaillierte Analyse von Geigers Bezügen auf die Schleiermachersche Religionstheorie liegt zwar noch nicht vor, aber die Theorienähe Geigers zu Schleiermacher ist vereinzelt erkannt und diskutiert worden (vgl.: Grötzinger, Jüdisches Denken, 583–591; von Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede „Über die Religion“ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger; Steuer, Schleiermachers Religionsphilosophie in ihrer systematischen und historischen Bedeutung für die jüdische Religionsphilosophie, bes. 122–131).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis349 Ausdruck, nur möglich war in einer Zeit, zu der […] Schleiermacher über das Wesen der Religion geredet hatte […]“167. Sowohl auf begrifflicher als auch auf inhaltlicher Ebene gibt es tatsächlich deutliche Übereinstimmungen, die den Schluss nahe legen, dass Geiger sich bei der Formulierung seiner Religionstheorie an Schleiermacher orientiert hat und die Reden damit eine jüdische Rezeption erfahren haben.168 Geigers Religionsverständnis ist jedoch keine blasse Kopie von Schleiermachers Religionstheorie, sondern weist ein eigenes Gepräge auf, welches zeigt, dass Geiger sich kritisch mit Schleiermachers religionstheoretischem Ansatz auseinandergesetzt, diesen selbstständig gedeutet und weiterentwickelt hat. Dass es auch in einem anderen Themenbereich Konvergenzen zwischen Schleiermacher und Geiger gibt, die ebenfalls innovativen Charakter haben, unterstützt die Auffassung, dass von Schleiermacher Einfluss auf Geiger ausging. Denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sowohl die religionstheoretische Parallelität als auch die wissenschaftsprogrammatische dem Zufall geschuldet sind. Und trotz der Anerkennung der Wirkungskraft des romantischen Geistes können die Gemeinsamkeiten nicht ausschließlich auf den gleichen ideengeschichtlichen Kontext zurückgeführt werden. Die religionstheoretischen Parallelen bekräftigen folglich die Annahme von Geigers Rezeption der Kurzen Darstellung. Dass ein möglicher Einfluss Schleiermachers auf Geiger schon damals nicht unbemerkt blieb, zeigt die Debatte zwischen Holtzmann und Geiger. Geiger äußert sich an einer Stelle explizit zu Schleiermachers Prägekraft auf sein eigenes Denken und zwar im Offenen Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann (1865)169. Dabei handelt es sich um die Erwiderung Geigers auf Holtzmanns Rezension seiner Schrift Das Judenthum und seine Geschichte.170 Holtzmann hält Geiger vor, dass er Schleiermachers religionsphilosophische Ansichten übernommen habe, und begründet seinen Vorwurf der Erschleichung mit folgenden Worten: „Das aber sind jedenfalls Ideen, die dem echten Juden transcendent sind und bleiben.“171 Geiger konstatiert zunächst freimütig, dass er die „deutschen Classiker[ ]“ (OSH 192) im Allgemeinen rezipiert habe, sich von ihnen hat inspirieren lassen und deren Leitideen zum Teil aufgenommen und selbstständig verarbeitet habe. Geiger bestätigt also einen „Einfluß der Heroen unserer neueren Literatur“ (OSH 192) auf sein Denken, was zeigt, dass er die intellektuellen Dis167 Holtzmann, Jüdische Apologetik und Polemik, 227. 168 In einem Brief an Stern distanziert Geiger sich deutlich vom Junghegeltum sowie dem Pantheismus und konstatiert, dass er „dem Gefühle, das sich zum Abhängigkeitsbewusstsein steigert, sein Recht einräume und nicht verkümmert wissen will […]“ (Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 25.8.1843, in: S 5, 167). 169 Geiger, Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann [im Folgenden: OSH]. 170 Vgl. Holtzmann, Jüdische Apologetik und Polemik, 225–237. 171 Holtzmann, Jüdische Apologetik und Polemik, 227.

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kurse seiner Zeit verfolgt, also an der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung teilnimmt, indem er zentrale Gedanken für sich fruchtbar zu machen weiß und gleichzeitig eigene Erkenntnisse in die Geistesgeschichte einspeist. Schließlich äußert er sich auch direkt zur von Holtzmann festgestellten Entlehnung Schleiermacherscher Gedanken. Er schreibt: „Aber so wenig ich Anstand nehme zu bekennen, daß ich auf die Worte dieser Meister [Schleiermacher und Hegel] gelauscht und, ohne mich ihnen gefangen zu geben, ihnen gern entnehme, was ich als richtigen Gedanken bei ihnen finde, so werden sie doch bei meinem Anstreifen an die Religionsphilosophie gewaltsam herbeigezogen“ (OSH 193). Geiger gibt hier also offen zu, dass er Schleiermacher gelesen hat. Dieses Bekenntnis ist von Bedeutung, da Geiger in seinem Oeuvre an keiner Stelle explizit auf Schleiermachers Schriften rekurriert und damit unklar bleibt, ob er Schleiermachers Werk kennt. Wenngleich die Rezeption der Kurzen Darstellung dadurch noch nicht bestätigt wird, rückt sie immer weiter in den Bereich des Möglichen. Geigers Aussage zeigt zudem, dass er einige von Schleiermachers Ideen aufnimmt und reflektiert fortschreibt. Geiger bestätigt hier explizit die ideelle Orientierung an Schleiermacher und spricht diesem so eine Prägekraft auf sein eigenes Denken zu. Gleichwohl bestreitet er religionsphilosophische Entlehnungen aus Schleiermachers Reden, indem er darzulegen versucht, dass die thematisierten Gegenstände in der Tradition der jüdischen Philosophie wurzeln. Welchen Schriften er richtige Ideen entnommen hat, bleibt damit offen. Es kommen jedoch nicht viele infrage, die Geiger prinzipiell gelesen haben kann. So sind zur Abfassungszeit von Geigers Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie nur folgende Schleiermacher-Schriften bzw. Veröffentlichungen aus dem Nachlass zugänglich: die Reden, deren Lektüre trotz Geigers Einspruch als nachgewiesen gelten kann, die Monologen, die im Allgemeinen kaum Leserschaft finden, sodass Geigers Lektüre ausgeschlossen werden kann, die Grundlinien der Kritik aller bisherigen Sittenlehre, deren Lektüre ebenfalls ausgeschlossen werden kann, die Glaubenslehre, an die sich in Geigers Werk keinerlei Anklänge finden lassen, die Christliche Sittenlehre, an die in Geigers Schriften ebenfalls keine Reminiszenzen auszumachen sind, die Universitätsschriften und die Kurze Darstellung. Spannt man Geigers allgemeine Aussage, dass er Schleiermacher kritisch rezipiert, seinem Werk also wichtige Gedanken entnommen hat, mit den konkreten wissenschaftsprogrammatischen Konvergenzen zusammen, ist Geigers Orientierung an Schleiermachers theologischem Entwurf eindeutig. Die Ergebnisse der werkimmanenten Analyse sprechen demnach ausdrücklich für eine Rezeption der Kurzen Darstellung. Im Folgenden soll untersucht werden, ob der biographische Kontext die Rezeption bestätigt. Dadurch soll überdies geklärt werden, wo Geiger mit Schleiermachers Ideen in Kontakt gekommen ist.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis351 Geiger gibt weder in seinen Schriften noch in seinen Briefen oder Tagebucheinträgen einen expliziten Hinweis darauf, dass er Schleiermachers Kurze Darstellung gelesen hat. Es muss daher nach anderen Anhaltspunkten gesucht werden. Geigers Bibliothek könnte Aufschluss darüber geben, ob er Werke von Schleiermacher und konkret die Kurze Darstellung besessen hat. Die Rezeption der Kurzen Darstellung wäre damit zwar noch nicht bestätigt, sie rückte dadurch aber noch weiter in den Bereich des Möglichen. Ludwig Geiger hat die Bibliothek seines Vaters, die „vor allem eine umfangreiche Judaica-Sammlung“ und „wertvolle[ ] hebräische[ ] Handschriften und frühe[ ] Drucke[ ]“172 umfasste, nach dessen Tod der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums übergeben.173 Das leuchtet vor dem Hintergrund von Ludwig Geigers Lehr- und Forschungsschwerpunkten, die sich von denen seines Vaters unterschieden, und Abrahams Verbundenheit mit der Berliner Lehranstalt unmittelbar ein.174 Die Bibliothek der Berliner Hochschule und damit auch die eingegliederte Bibliothek Geigers sind durch die Nationalsozialisten fast vollständig vernichtet worden und stehen daher als Zeugnisse nicht mehr zur Verfügung.175 Einige Bücher Geigers sind später zwar an unterschiedlichen Orten entdeckt worden, beantworten aber nicht, ob Geiger Schleiermachers Kurze Darstellung besessen und gelesen hat. Ludwig Geigers Bibliothek, die größtenteils erhalten ist und sich im Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien befindet, beinhaltet keine Bücher von Abraham Geiger und kann deshalb auch keine Anhaltspunkte liefern. Realien können demnach zur Bestätigung der Rezeption nicht herangezogen werden.176 Neben der eigenen Lektüre von Schleiermachers Kurzer Darstellung, die nicht nachweisbar ist, könnte Geiger in Vorlesungen von Schleiermachers theologischem Entwurf erfahren haben. Während seines Studiums in Heidelberg und Bonn könnte er vermittelt durch einen Dozenten Schleiermachers theologische Enzyklopädie kennen gelernt haben, zumal Schleiermachers zweite Ausgabe der 172 173 174 175 176

Herrmann, Ludwig Geiger (1848–1919), 176. Vgl. Herrmann, Ludwig Geiger, 176; Holzhausen, Ludwig Geiger, 254. Vgl. Herrmann, Ludwig Geiger, 176. Vgl. ebd. Neben einer Bibliothek könnte auch der Nachlass Geigers wichtige Hinweise geben und zur Klärung herangezogen werden. Sein Nachlass scheint jedoch nicht mehr zu existieren. Heschel erwähnt ausschließlich ein „privates Familienarchiv, das sich im Besitz eines der Nachfahren Geigers, Rudolf Baum aus Dallas, befindet“ (Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 71, Fn. 62). Rudolf Baum, der zu den Förderern des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs gehörte, verstarb 2009. Es kann vermutet werden, dass sein Familienarchiv vorrangig private Familiendokumente wie Fotos und Stammbäume enthält und damit zur Klärung der Fragestellung wenig beitragen kann. Sein Buch Kinder aus gutem Hause bietet ebenfalls keine Anhaltspunkte (vgl. Baum-Mérom; Baum; Wiehn, Kinder aus gutem Hause).

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Kurzen Darstellung in genau dieser Zeit veröffentlicht worden ist. Ein Blick auf die von ihm besuchten Vorlesungen könnte Anhaltspunkte liefern und erhellen, ob Geiger im Studium mit Schleiermachers Gedankengut in Kontakt gekommen ist. Universitätsakten aus der relevanten Zeit existieren allerdings nicht mehr, sodass auf Basis offizieller Dokumente nicht ermittelt werden kann, welche Lehrveranstaltungen Geiger besucht hat.177 Geigers eigene Angaben in Tagebucheinträgen und Briefen zeigen jedoch, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, bei welchen Dozenten er welche Vorlesungen gehört hat. Von besonderem Interesse sind christliche Theologen und Personen, die eine Verbindung zu Schleiermacher haben. Zu nennen sind daher vor allem die besuchten Vorlesungen bei Friedrich Wilhelm Carl Umbreit (1795–1860), Carl Daub (1765–1836) und Christian August Brandis (1790–1867). Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Geiger in Umbreits und Daubs Vorlesungen von Schleiermachers Kurzer Darstellung erfahren hat. Denn Umbreit las über Orientalia und die Hebräische Bibel und der Hegelianer Daub über Anthropologie. Durch den Schleiermacherschüler Brandis könnte Geiger prinzipiell mit Schleiermachers Kurzer Darstellung in Kontakt gekommen sein. Da er bei ihm jedoch Logik und Moralphilosophie hörte, kann die Vermittlung von Schleiermachers theologischem Entwurf ausgeschlossen werden.178 Eine Vorlesung zur theologischen Enzyklopädie besuchte Geiger nach eigenen Angaben weder in Heidelberg noch in Bonn.179 Die von Geiger besuchten Vorlesungen liefern folglich keine Anhaltspunkte für eine Rezeption der Kurzen Darstellung und klären damit nicht, wo Geiger mit Schleiermachers Ideen konfrontiert wurde. Natürlich könnte Geiger auch nach seinem Studium mit Schleiermachers Wissenschaftsprogrammatik in Berührung gekommen sein und zwar vermittelt durch 177 Vgl. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 67, Fn. 39. 178 Vgl. Tagebucheinträge Geigers aus dem Jahren 1830, in: S 5, 12–14, 23. 179 Der evangelische Theologe Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868) hält im Sommersemester 1830 in Bonn eine Einführungsvorlesung in die Theologie, in der er nach eigenem Bekunden auf Schleiermachers Kurze Darstellung rekurriert. Darüber hinaus hält er am 3. August 1830 anlässlich des 60. Geburtstages Friedrich Wilhelms III. den Festvortrag „Ad theologiam practicam felicius excolendam observationes“. In seiner Festrede entwickelt er die Praktische Theologie als eine wissenschaftliche Disziplin und bietet deren programmatische Konzeption dar. Er verweist dabei mehrfach auf Schleiermachers Kurze Darstellung, entfaltet die Leitideen von Schleiermachers wissenschaftsprogrammatischem Entwurf und weiß sich ihnen offenkundig verpflichtet (vgl. Nitzsch, „Ad theologiam practicam felicius excolendam observationes“). Wenngleich Geiger Nitzsch nicht direkt erwähnt und damit unklar ist, ob er Nitzschs Vortrag gehört hat, stellt dieser ein mögliches Bindeglied dar, über welches Geiger mit Schleiermachers Kurzer Darstellung in Kontakt gekommen sein könnte. Obwohl es keine Belege für eine solche Vermittlung gibt, kann doch festgehalten werden, dass Schleiermachers theologischer Entwurf während Geigers Studium in Bonn ein Thema war und Geiger in seinen Studientagen auf die Schrift aufmerksam geworden und dadurch zu einer eigenen (späteren) Lektüre angeregt worden sein könnte.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis353 andere christliche Theologen beziehungsweise durch deren Werke. Überblickt man Geigers Referenzen auf christliche Gelehrte, sind die Verweise auf Strauß von besonderem Interesse. Geiger zeigt sich als Kenner von Strauß’ Schriften und äußert sich sowohl anerkennend als auch kritisch dazu.180 Wenngleich Strauß Schleiermachers Theologische Enzyklopädie gehört hat und damit ein Bindeglied wäre, kann eine Vermittlung von Schleiermachers Ideen durch Strauß ausgeschlossen werden. Strauß’ Mitschrift wurde erst am Ende des 20. Jahrhunderts herausgegeben, lag Geiger also noch nicht vor. Strauß’ Schriften, die Geiger gelesen hat, enthalten hingegen keine wissenschaftstprogrammatischen Versatzstücke, die auf Schleiermacher zurückgehen. Zu einem direkten wissenschaftlichen Austausch zwischen beiden Gelehrten ist es nie gekommen, sodass auch eine mündliche Übermittlung ausgeschlossen werden kann.181 Andere christliche Theologen, die Geiger in seinen Schriften und Briefen vereinzelt nennt, kommen als Gewährspersonen ebenfalls nicht infrage, da sie in keiner positiven Beziehung zu Schleiermacher beziehungsweise zu dessen Lehre stehen.182 Eine Vermittlung von Schleiermachers Ideen über eine dritte Person kann daher wohl ausgeschlossen werden, weil kein geeignetes Bindeglied ausfindig zu machen ist. Geigers eigene Lektüre der Kurzen Darstellung erscheint damit gerade auch vor dem Hintergrund, dass er sehr belesen war, am wahrscheinlichsten, obwohl sie nicht eindeutig zu beweisen ist. Wenngleich die knappe Analyse des biographischen Kontextes die konstatierte Rezeption nicht zu bekräftigen vermag, liefert sie auch keine Indizien, die dagegen sprechen. Daher kann auf Grundlage der werkimmanenten Interpretation festgehalten werden, dass Geiger sich bei der Formulierung seines theologischen Entwurfes an Schleiermachers Theologiekonzept orientiert, ihm einige Leitgedanken entnommen und diese kritisch fortgeschrieben hat. Die Kurze Darstellung hat damit eine jüdische Rezeption erfahren.

180 Vgl. vor allem Geigers Besprechung von Strauß’ Leben Jesu im Vergleich zu Rénans Werk: Geiger, Ein Blick auf die neueren Bearbeitungen des Lebens Jesu; vgl. weiterhin die Äußerungen Geigers in Briefen: Brief Geigers an Moritz Abraham Stern vom 31. März 1836, in: S 5, 89; Brief Geigers an Jakob Auerbach vom 5. Januar 1837, in: S 5, 96 und Jacob, Christianity through jewish eyes, 40–50. 181 Geiger stellt dazu heraus: „An letzterem Orte habe ich auch D. F. Strauss gesehen; doch gehört der zu den Schriftstellern, deren Bücher man lesen soll, mit denen aber weiter eine Beziehung nicht anzuknüpfen ist“ (Brief Geigers an Ludwig Geiger vom 3. Juli 1867, in: S 5, 314). 182 Berücksichtigt werden muss weiterhin, dass Geiger erst am Ende seines Lebens nach Berlin kommt. Mit dem anregenden intellektuellen Klima, das maßgeblich durch die neu gegründete Universität und das Zusammentreffen zentraler Größen der Geistesgeschichte konstituiert wird, kommt Geiger somit nicht unmittelbar in Berührung. Ein eher beiläufiges Kennenlernen von Schleiermachers Ideen durch Gespräche mit anderen Gelehrten kann daher wohl auch ausgeschlossen werden.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Unweigerlich stellt sich die Frage, wieso sich Geiger gerade an Schleiermachers theologischem Entwurf orientiert hat. Der allgemeine, formalisierte Theologiebegriff, der eine jüdische Rezeption prinzipiell zulässt, fungiert hier als überzeugende Erklärung. Offen bleibt allerdings, ob es darüber hinaus eine gewisse Affinität Geigers zu Schleiermacher gab. Neben impliziten Anklängen an Schleiermacher, die sich in Geigers Oeuvre ermitteln lassen, gibt es wenige direkte Anspielungen Geigers auf Schleiermacher. In dem Gelegenheitsaufsatz Die Schleiermacher-Feier und die Juden (1869)183 äußert Geiger sich zum einzigen Mal zusammenhängend zu Schleiermacher und zwar anlässlich dessen 100. Geburtstages. Dieser Zeitschriftenartikel, der inhaltlich keine bahnbrechenden Erkenntnisse liefert und in Geigers Gesamtwerk keinen nennenswerten Platz einnimmt, ist dennoch ein wichtiges Zeugnis, da er unmittelbar Geigers Einstellung zu Schleiermacher widerspiegelt. Auffällig ist, dass Geiger nur drei christlichen Theologen einen Zeitschriftenaufsatz widmet, was auf eine gewisse Verbindung, in welcher Form auch immer, schließen lässt.184 Geiger formuliert eine deutliche Kritik an der Wirkungsgeschichte Schleiermachers und kritisiert darüber hinaus die durch Schleiermacher maßgeblich begründete Zurückstufung der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Schriften innerhalb der christlichen Forschung und des christlichen Glaubens.185 Weiterhin stellt Geiger nüchtern fest, dass Schleiermacher „nichts für Juden und Judenthum geleistet [hat], für dieselben durchaus keine Sympathie hatte […]“ (SF 214). Schleiermachers prominente Äußerung aus der fünften Rede über die Religion, die repräsentativ für sein theologisches Verhältnis zum Judentum ist, bekräftigt Geigers Einschätzung und spiegelt Schleiermachers abwertendes Urteil exemplarisch wider. Schleiermacher stellt dort heraus: „[…] denn der Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jezt noch seine Farbe tragen, sizen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie, und weinen über sein Hinscheiden und seine

183 Geiger, Die Schleiermacher-Feier und die Juden (im Folgenden: SF]. 184 Geiger verfasst nur noch zwei weitere Zeitschriftenartikel über christliche Theologen: Geiger, Bruno Bauer und die Juden (1844); ders., Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, namentlich mit Bezug auf Anton Theodor Hartmann (1835/36). 185 Eher beiläufig bei der Besprechung zweier Abhandlungen Umbreits konstatiert Geiger, dass Schleiermacher „lieber die hebr. Bibel ganz aufgeben, mit dem Christenthum als einem ganz Neuen beginnen [will]“ (TSK 285). An anderer Stelle heißt es: „Schon mehrmals ist in dieser Zeitschrift darauf hingewiesen worden, wie die dogmatische Zuspitzung, welche in allen Richtungen der christlichen Theologie vorherrschend ist, die Aufmerksamkeit von der hebräischen Bibel ablenkt und zu einer Vernachlässigung von deren wissenschaftlicher Behandlung geführt hat. Es ist Dies ebenso für die Tübinger Schule wie für die Schleiermacher’sche Richtung und die schroffere Orthodoxie belegt worden […]“ (SB 208). Vgl. auch: MJ 93.

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis355 traurige Verlaßenschaft“ (R1 286).186 Schleiermachers Beziehung zum Judentum, die sich auf theologischer, politischer und persönlicher Ebene ausdrückt, wird erst in der neueren Schleiermacherforschung diskutiert.187 Von Scheliha hat zuletzt zusammenfassend erläutert, dass „[…] Schleiermacher zur jüdischen Religion ein positives Verhältnis nicht hat aufbauen können. Diesbezüglich war er wenig informiert, desinteressiert und hat sich abwertend geäußert. Dem stand seine persönliche Freundschaft zu Menschen jüdischer Herkunft nicht entgegen. In politischer Hinsicht hat er sich für die bürgerliche Gleichstellung der Juden eingesetzt. Einer aufgeklärten Einheitsreligion, dem Vorschlag David Friedländers (1750–1834), stand er ablehnend gegenüber.“188 Vor dem Hintergrund von Schleiermachers Haltung gegenüber dem Judentum stellt sich einmal mehr die Frage, wieso seine Gedanken dennoch eine gewisse Anziehungskraft auf Juden, konkret auf Geiger, ausüben.189 Gerade weil Geiger Schleiermachers abwertende Urteile wahrnimmt, kritisch betrachtet und sich inhaltlich davon distanziert, verwundert es, dass, wie gerade gezeigt, Schleiermacher eine Einflussgröße für ihn darstellt. Es irritiert, dass Geiger sich an Schleiermacher orientiert und seinem Werk wichtige Ideen entnommen hat, obwohl er gegen ihn und die christliche 186 Die religiöse Grundanschauung des Judentums beschreibt Schleiermacher wie folgt: „Keine andere, als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet, Entstehen und Vergehen, Glük und Unglük, selbst nur innerhalb der menschlichen Seele wechselt immer eine Äußerung der Freiheit und Willkühr und eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit; alle andere Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel, und werden immer in der Beziehung auf diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt“ (R1, 287f). 187 So stand der 4. Internationale Kongress der Schleiermachergesellschaft unter dem Thema „Christentum und Judentum“ und widmete sich Schleiermachers Verhältnis zum Judentum (vgl. R. Barth; U. Barth; Osthövener (Hrsg.), Christentum und Judentum). Vgl. außerdem exemplarisch: Friedländer; Schleiermacher; Teller, A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin; Nowak, Schleiermacher, 95–97; Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, bes. 325–371; ders., Schleiermacher und das Judentum. 188 von Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede „Über die Religion“ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, 213 f. Wolfes stellt heraus, dass „Schleiermacher eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung gegenüber dem Judentum niemals überwinden“ konnte (Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft, 327). 189 Auch Elbogen rekurriert in seinem Aufsatz Neuorientierung unserer Wissenschaft auf Schleiermacher. Er spricht sich für die Benutzung des Begriffs „jüdische Theologie“ aus und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Schleiermachers Theologie-Definition, wie er sie in § 1 der Kurzen Darstellung formuliert. Das stellt unter Beweis, dass Schleiermachers formalisierter, allgemeiner Theologiebegriff über eine religiöse Tradition hinausreicht und damit eine jüdische Rezeption möglich macht (vgl. Elbogen, Neuorientierung unserer Wissenschaft, 90).

356

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Theologie insgesamt polemisiert.190 Trotz der Kritik an Schleiermachers theologischen Vorstellungen und an dessen Haltung gegenüber Judentum und Juden und der damit verbundenen inhaltlichen sowie persönlichen Distanz konstatiert Geiger ein „allgemein menschliche[s] culturhistorische[s] Interesse“ (SF 214), das auch von jüdischer Seite gegenüber Schleiermacher empfunden werden, einen Zugang zu Schleiermacher eröffnen und zu einer jüdischen Auseinandersetzung mit ihm führen kann. Wenngleich damit eine prinzipielle Hinwendung zu Schleiermacher plausibel gemacht werden kann, wird eine mögliche Inte­ gration von Schleiermachers Ideen in die eigene Wissenschaftsprogrammatik dadurch noch nicht erklärt. Bei aller inhaltlichen Divergenz, die vorrangig den Binnenlogiken der beiden Religionen geschuldet ist, und der dadurch evozierten Distanz, ist das ähnliche Selbstverständnis von Geiger und Schleiermacher beachtlich. Schleiermachers und Geigers Tätigkeitsbereiche und ihre jeweiligen Rollen und Positionen innerhalb ihrer Religionen gleichen einander.191 Vor diesem Hintergrund erscheint eine Orientierung Geigers an Schleiermacher trotz aller inhaltlichen Einwände durchaus schlüssig. Es leuchtet ein, dass Geiger sich bei der Formulierung seines Wissenschaftsverständnisses an christlichen Entwürfen orientiert192 und dabei das Konzept auswählt, das seinen wissenschaftsprogrammtischen und theologischen Vorstellungen am nächsten kommt. Dass die Orientierung an christlichen Wissenschaftsprogrammatiken inhaltliche Einwände und eine persönliche Distanzierung bei Geiger hervorruft, ist unvermeidbar und wird Geiger klar gewesen sein. Gerade deshalb ist es nachvollziehbar, 190 Kritische Kommentare gegenüber christlichen Theologen und der christlichen Theologie durchziehen Geigers Schriften. Geigers zuweilen auch polemische Haltung manifestiert sich besonders in folgenden Aufsätzen, die sich dezidiert mit der christlichen Theologie auseinandersetzen: Geiger, Christliche Gelehrsamkeit und Judenthum; ders., Bruno Bauer und die Juden; ders., Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, namentlich mit Bezug auf Anton Theodor Hartmann; ders., Die protestantische Kirchenzeitung und der Fortschritt im Judenthume; ders., Die Stellung der hebräischen Bibel in der gegenwärtigen chrsitlichen Theologie. Geigers Geschichtsdarstellung, also vor allem seine Vorlesungen Das Judenthum und seine Geschichte, die von Heschel treffend als „counterhistory“ gedeutet wird, spiegelt seine kritische Haltung gegenüber dem Christentum und der christlichen Theologie ebenfalls prägnant wider. 191 Vgl. zum Verhältnis zwischen liberalem Judentum und liberalem Protestantismus am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt; ders., Leo Baeck und Adolf von Harnack; von Scheliha, Adolf von Harnack und Leo Baeck; Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 192 Auch Steuer konstatiert: „So war es nur natuerlich, dass der juedische Theologe sich mit seinen christlichen Vorgaengern – also auch mit Schleiermacher – auseinanderzusetzen hatte“ (Steuer, Schleiermachers Religionsphilosophie in ihrer systematischen und historischen Bedeutung für die jüdische Religionsphilosophie, 125f).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis357 dass er den theologischen Entwurf rezipiert, mit dem er sich am ehesten identifizieren kann.193 Schleiermachers durchaus problematische Haltung gegenüber dem Judentum und Geigers mitunter scharfe Kritik an der christlichen Theologie im Allgemeinen und an Schleiermacher im Besonderen sprechen demnach nicht gegen die konstatierte Rezeption. Offen bleibt weiterhin, warum Geiger sich an Schleiermachers theologischem Entwurf orientiert, welche Intentionen er damit also verfolgt. In der Forschungsliteratur finden sich dazu zwei, wenn auch auf einer allgemeineren Ebene anzusiedelnde, Interpretationsansätze: Wieses Akkulturationsthese und Heschels „counterhistory“-These. Vor dem Hintergrund der Geigerschen Rezeption der Kurzen Darstellung sollen diese Positionen auf Geiger Wissenschaftsverständnis bezogen und differenziert werden. Wieses allgemeine Akkulturationsthese194 erhält durch die Feststellung, dass Geiger sich an Schleiermachers theologischem Entwurf orientiert hat, ihre konkrete Bestätigung. Geigers offene Haltung gegenüber Schleiermachers Wissenschaftsprogrammatik und die Implementierung einiger ihrer Leitideen in das eigene Wissenschaftskonzept können als Resultate seiner fortgeschrittenen Akkulturation gedeutet werden. Der Begriff „Akkulturation“ wird hier in einem dezidiert positiven Sinne verstanden195 und keinesfalls negativ aufgefasst.196 Die Analyse von Geigers Wissenschaftsprogramm hat gezeigt, dass Geiger am intellektuellen Diskurs seiner Zeit partizipiert, sich also nicht isoliert, sondern sich vielmehr in einer produktiven und kreativen Wechselbeziehung mit der allgemeinen Geistesgeschichte befindet. Geiger erkennt, dass die Zukunftsfähigkeit des 193 Ludwig Geiger erzählt eine Anekdote, welche die positionelle Nähe zwischen Geiger und Schleiermacher zum Ausdruck bringt. Bei einem Treffen mit Minister Eichhorn 1843 in Breslau erwähnt dieser, „dass [ihn] seine [Geigers] theologischen Bestrebungen […] an die seines verewigten Freundes und Lehrers, Schleiermacher, erinnerten“ (L. Geiger, Einleitung zum dritten Abschnitt: Breslau 1838–1863, 122). 194 Wiese konstatiert: „Zugleich stellte sie [die Wissenschaft des Judentums] in der Orientierung am Wissenschaftsverständnis ihrer Zeit – ein Ergebnis fortschreitender Akkulturation dar“ (Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 60). 195 Darin folgt diese Untersuchung Wieses Position. Er äußert sich zur Akkulturation wie folgt: „Dieser Begriff, der Raum für die Vorstellung von einer Begegnung zweier Kulturen läßt, die nicht eine einseitige Aufgabe von Identität fordert, entspricht eher den Ergebnissen der neueren Historiographie, die die Integration der Juden nicht als ein passives Geschehen versteht, sondern als bewußt gestalteten Prozeß […]. Akkulturation ist […] gerade für die Beschäftigung mit der Wissenschaft des Judentums ein adäquater Begriff“ (a. a. O., 45f). 196 Vgl. dazu zum Beispiel Heschels Äußerung: „Meine These lautet, dass eine genaue Untersuchung der von Geiger vorgebrachten Argumente das vorherrschende Bild, wonach die Wissenschaft des Judentums ein apologetisches, auf Assimilation zielendes Programm verfolgte, widerlegt“ (Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 28). Vgl. ergänzend zur Thematik: Meyer, German Jewry’s path to normality and assimilation.

358

Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

Judentums nur durch eine offene Auseinandersetzung mit dem kulturellen Kontext gesichert werden kann und dass die Rezeption moderner nicht-jüdischer Theoreme für die selbstständige Fortentwicklung der jüdischen Religion unerlässlich ist.197 Geigers Entwurf veranschaulicht, dass die Akkulturation nicht als eine unreflektierte Anpassung an die Mehrheitsreligion bei gleichzeitiger Aufgabe respektive Verleugnung eigener Traditionen und Werte missverstanden werden darf. Vielmehr manifestiert sich in Geiger, dass Akkulturation idealiter eine kritische Annäherung an die Mehrheitskultur, eine reflektierte Übernahme einzelner Motive und deren kreative Verbindung mit dem eigenen kulturellen und religiösen Erbe meint. Aus heutiger Perspektive kann Geigers Wissenschaftsentwurf damit als positives Beispiel einer gelungenen Akkulturation interpretiert werden. Gleichwohl bringt die Akkulturationsthese Geigers Intentionen, die er mit der Formulierung seines Wissenschaftsprogramms verfolgt, nicht differenziert genug zum Ausdruck. Wenngleich Geiger sich bewusst an bereits etablierten Strukturen orientiert, intendiert er gewiss keine absolute oder unkritische Anpassung daran. Der Begriff der Akkulturation suggeriert jedoch solch ein Bestreben und ist daher ergänzungsbedürftig. Die Akkulturationsthese muss deshalb mit der von Heschel vertretenen „counterhistory“-These zusammengespannt werden. Heschel interpretiert die Wissenschaft des Judentums und damit auch Geigers Entwurf konsequent als „revolt of the colonized“198, also als Versuch jüdischer Intellektueller die christliche Vorherrschaft in der akademischen Sphäre zu durchbrechen. Pointiert bezeichnet Heschel die Wissenschaft des Judentums daher auch als „counterhistory“.199 Heschel kann insofern zugestimmt werden, als dass Geiger mit seinem Wissenschaftskonzept die christliche Hegemonie an deutschen Universitäten durchbrechen und die jüdische Theologie als ein gleichberechtigtes Fach innerhalb der universitas litterarum etablieren möchte. Geiger greift dafür christliche Ideen auf, schreibt sie selbstständig fort und konstruiert so eine eigene Programmatik, was als Folge seiner Akkulturation gedeutet werden kann. Es stellt sich aber die Frage, ob Geigers Wissenschaftsentwurf tatsächlich als Gegenentwurf zum christlichen Programm aufgefasst werden 197 Lewkowitz stellt dazu pointiert heraus: „Diese Wissenschaft des Judentums aber steht selbst auf dem Fundament der europäischen Wissenschaft, und so wirkt sich in ihr die innigste Verbindung des Judentums mit der europäischen Kultur aus“ (Lewkowitz, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, 2). 198 Vgl. Heschels gleichnamigen Aufsatz „Revolt of the Colonized“. 199 So konstatiert Heschel beispielsweise: „During this same period, Jewish scholarship in Germany was not a simple presentation of Jewish history but a counterhistory of the prevailing Christian scholarship“ (Heschel, „Revolt of the Colonized“, 63). Weiterhin stellt sie heraus: „Through such criticisms the first practitioners of Jewish studies saw the study of Judaism as not simply an addition to the general curriculum but as a revision of that curriculum, an effort to resist and even overthrow the standard portrayal of Western history“ (dies., Jewish Studies as counterhistory, 102).

Protestantischer Kontext: Schleiermachers Wissenschaftsverständnis359 kann, wie es die Interpretationsfigur der „counterhistory“ verlangt. Übersetzt man „counterhistory“ und überträgt den Begriff auf das Wissenschaftsverständnis, ergeben sich Bezeichnungen wie „Gegenwissenschaft“ oder „Gegentheologie“. Das „gegen“ suggeriert, dass sich die jüdische Theologie in ihrer Abgrenzung zur christlichen Theologie definiert und die Distanzierung zur christlichen Theologie konzeptionell verankert ist. Wissenschaftsprogrammatisch handelt es sich bei Geigers Konzept jedoch nicht um ein wirkliches Gegenprogramm. Denn Geiger interpretiert hier keine christlichen Quellen aus jüdischer Perspektive, kehrt den Blick also nicht um und durchbricht keine christlichen Interpretationen, wie es bei seiner Geschichtsdarstellung, die zurecht als „counterhistory“ gedeutet wird, der Fall ist.200 Das Wissenschaftsprogramm der jüdischen Theologie impliziert keine ausgeprägte Christentumspolemik und kann deshalb streng genommen auch nicht als eine „counterhistory“ zur christlichen Theologie aufgefasst werden.201 Trotz aller Vorbehalte gegenüber der Bezeichnung „counterhistory“ kann ihr aber auch auf wissenschaftsprogrammatischer Ebene etwas abgewonnen werden. Sie spiegelt die kreative Eigenleistung sowie Geigers reflektierte Distanz zur christlichen Vorlage wider und wehrt so dem Akkulturationsbegriff häufig anhaftenden Missverständnis des stumpfen Abschreibens und der kritiklosen Anpassung bei gleichzeitiger Selbstaufgabe. Diese Lesart entspricht jedoch nicht dem geläufigen Verständnis von „counterhistory“, weshalb die aufgezeigten Einwände bestehen bleiben. Die wissenschaftspolitischen Intentionen, das heißt die Institutionalisierung der jüdischen Theologie in einer deutschen Universität, die Geiger mit seinem Programm verfolgt, können als „counterhistory“ bezeichnet werden. Geigers Entwurf kann ergo durchaus als „revolt of the colonized“ und damit als Auflehnung gegen die christliche Hegemonie gedeutet werden. Die jüdische Theologie kann als konstruktive jüdische Antwort auf die Ausgrenzung, Benachteiligung und Verweigerung, kurzum als Reaktion auf die Nicht-Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft und damit als kreatives Instrument zur Bewältigung der als defizitär empfundenen Lage interpretiert werden. Geiger übernimmt die vor200 Diese Feststellung bezieht sich ausschließlich auf Geigers Wissenschaftsprogrammatik und umfasst nicht seine eigenen wissenschaftlichen Forschungen. Es kann vermutet, dass Heschel ihre „counterhistory“-These auf ebendiese gelehrten Studien bezieht und dafür die wissenschaftsprogrammatischen Aussagen vernachlässigt. 201 Berücksichtigt werden muss zudem, dass Geigers Christentumskritik zum Zeitpunkt der Vorlesungen Einleitung in das Studium der jüdischen Theologie noch gemäßigt ist. Erst im Laufe der Zeit verschärft sie sich zur radikalen Christentumspolemik. Weiterhin muss beachtet werden, dass die Vorlesungen von Geiger selbst nicht veröffentlicht werden, sondern erst posthum von seinem Sohn. Geiger konfrontiert die christlichen Theologen somit nicht mit seinen Ideen, was auch gegen die „counterhistory“-These spricht. Im Gegensatz dazu werden sowohl die Urschrift als auch die Vorlesungen Das Judenthum und seine Geschichte von Geiger selbst publiziert und damit in den theologischen Diskurs eingespeist.

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Kontextualisierung von Geigers Wissenschaftsverständnis

geprägten Ideen, um sie für seine Zwecke zu nutzen und in gewisser Weise auch gegen die christliche Theologie und gegen ihre Monopolstellung zu wenden. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Geiger nicht für die Verdrängung der christlichen Theologie aus dem akademischen Fächerkanon, sondern für die Integration der jüdischen Theologie und deren akademische Vernetzung plädiert. Das „gegen“ drückt Geigers Intention daher nicht präzise aus. Es geht Geiger nicht um die Alternative: christliche oder jüdische Theologie, sondern um ein interdisziplinäres Neben- und Miteinander. Auf der Basis einer gemeinsamen Ebene soll sich die Pluralität der Theologien entfalten. Die Deutungsfigur der „counterhistory“ bringt die wissenschaftspolitischen Bestrebungen Geigers, die er mit seinem Wissenschaftsprogramm auch verfolgt, zwar prägnanter zum Ausdruck als die Bezeichnung „Akkulturation“, trifft den Kern allerdings auch nur bedingt. Der Begriff der „counterhistory“ sollte im Hinblick auf Geigers Wissenschaftsentwurf eher als eine Herausforderung an die christliche Theologie, denn als scharfes Gegenprogramm zur christlichen Theologie verstanden werden. Es zeigt sich also, dass Heschels Interpretationsfigur der „counterhistory“, die im Hinblick auf Geigers Geschichtsdarstellung und auch Religionstheorie202 überzeugt, im Bereich der Wissenschaftsprogrammatik ergänzungsbedürftig ist. Erst die Verknüpfung von Wieses und Heschels Deutungen bringt prägnant zum Ausdruck, dass Geiger die christlichen Ideen in reflektierter Distanz fortschreibt und für die Etablierung der jüdischen Theologie innerhalb des universitären Fächerkanons einsetzt. Im Sinne der Akkulturation nimmt Geiger Schleiermachers Ansatz auf, formt diesen aber selbstständig, der jüdischen Binnenlogik folgend, um und konstruiert so eine „counterhistory“, wobei das „counter“ nicht im strengen Sinn verstanden werden darf. Dabei bedingt gerade die Pluralität der Theologien die Möglichkeit für eine „counterhistory“. Aus der Anpassung heraus fordert die jüdische Theologie die christliche heraus, indem sie deren Monopolstellung anficht. Geiger intendiert somit sowohl die kritische Anpassung an die christliche Theologie, also die Akkulturation, als auch die provozierende Herausforderung der christlichen Theologie, das heißt eine „counterhistory“. Demgemäß kann abschließend konstatiert werden, dass Geiger unter der Prämisse der Akkulturation „counterhistory“ betreibt.

202 Im Hinblick auf die religionstheoretische Nähe zwischen Geiger und Schleiermacher konstatiert zuletzt von Scheliha: „Es zeugt aber von dem Reichtum der Theorie Schleiermachers, dass ein Gelehrter wie Geiger auch dort, wo er den inhaltlichen Vorgaben nicht folgte, in der Konstruktion einer Counterhistory der theoretischen, methodischen und hermeneutischen Reichweite seines Konzeptes verhaftet bleiben konnte“ (von Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede „Über die Religion“ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, 213–227.).

Epilog

Abraham Geiger hat sich als Reformrabbiner einen Namen gemacht und dem deutschen Reformjudentum im 19. Jahrhundert ein ausdrucksstarkes Gesicht gegeben. Darüber hinaus zeichnet er sich als Gelehrter aus, indem er die Anfänge der Wissenschaft des Judentums in Forschung und Lehre mitgestaltet sowie die wissenschaftspolitischen und intellektuellen Diskussionen seiner Zeit mitbestimmt hat. Sein Wissenschaftsverständnis fungiert dabei als Brennpunkt seines Selbstverständnisses, insofern alle Facetten seiner Persönlichkeit darin einfließen und diesem ein unverwechselbares Gepräge verleihen. Dementsprechend kann Geigers Entwurf der Wissenschaft des Judentums nur vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit als Reformrabbiner und als Gelehrter angemessen gedeutet werden. Die konstitutiven Verknüpfungen von Wissenschaft und Reform, von Theorie und Praxis, von Wissen und Glauben, von Wissenschaftlichkeit und Gemeindeorientierung sowie von Moderne und Tradition erwachsen seinen unterschiedlichen Aufgaben und geben seinem Wissenschaftsprogramm ein originelles Profil. Das kann zweifelsohne als Bereicherung aufgefasst werden, erklärt zugleich aber auch, warum es einige Schwächen aufweist. Er ist eben kein reiner Wissenschaftsprogrammatiker, sondern zugleich Reformrabbiner und Gelehrter. Im Folgenden soll Geigers Wissenschaftsverständnis in einem ersten Schritt gebündelt dargestellt und kritisch gewürdigt werden. Dabei können nicht die heutigen Maßstäbe angelegt werden, da sich die aktuellen Standards grundlegend von den damaligen unterscheiden. Geiger muss daher vorrangig aus seiner Zeit heraus verstanden werden. Die Darstellung folgt weitgehend dem Gang der Studie.1 In einem zweiten Schritt soll die Prägekraft seines Wissenschaftsentwurfs ermittelt, soll also untersucht werden, wie er bis ins 21. Jahrhundert hinein fortwirkt. Um Geigers Wissenschaftsverständnis in seiner Tiefe verstehen zu können, muss man die Situation des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert und deren Einschätzung durch Geiger kennen, da sie als Ausgangspunkt seiner Reflexionen fungiert. Er bewertet die Lage des Judentums zwar als desolat, nicht aber als aussichtslos. Nach seinem Dafürhalten bewegt sich das deutsche Judentum im Makrokosmos zwischen Gleichberechtigung und Diskriminierung, im Mikrokos1

Damit zusammenhängend wird auch am üblichen Begriffsgebrauch festgehalten. Das heißt, dass die bei Geiger synonymen Bezeichnungen „Wissenschaft des Judentums“ und „jüdische Theologie“ analog zu den einzelnen Kapiteln der Studie verwendet werden.

362Epilog mos im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Geiger diagnostiziert einen großen Handlungsbedarf, zugleich aber auch eine große Handlungsmöglichkeit und sieht sich selbst in der Verantwortung. Angesichts dieser Zeitdiagnose vertritt er die optimistische Auffassung, dass die Lage des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert mittels Bildungsanstrengungen verbessert werden kann, weil diese extern vernetzen, intern reformieren und so Missstände zu beseitigen vermögen. Diese Ansicht kann als Leitgedanke von Geigers Wissenschaftskonzept und als Motor seines Wirkens gedeutet werden. Sie ist seiner doppelten Tätigkeit als Reformrabbiner und Gelehrter geschuldet, insofern er durch seine praktische Arbeit unmittelbar mit Problemen der Zeit konfrontiert wird und durch seine akademische Gelehrsamkeit die Wissenschaft als kreatives Instrument der Problembewältigung hochschätzt. Die programmatische Ausgestaltung des Nexus von Wissenschaft und (religiösem) Leben kann als Spezifikum des Geigerschen Wissenschaftsbegriffs gedeutet werden. Die offenkundige Zeit- und Kontextgebundenheit der Wissenschaft des Judentums bei Geiger kann freilich kritisch betrachtet werden, da sie auf den ersten Blick der längerfristigen Bedeutung und Aktualität des Wissenschaftsprogramms entgegenläuft. Die Wissenschaft des Judentums ist von Geiger auf die Situation des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert zugeschnitten und mit dieser verwoben, wodurch die Allgemeingültigkeit des Entwurfes in Frage steht. Eine Wissenschaft, die dem reinen Selbstzweck verpflichtet ist, lässt sich hingegen ohne weiteres in andere Zusammenhänge überführen und hat damit eine vermeintlich größere Wirkungs- und Ausstrahlungskraft. Abstrahiert man Geigers Ideen jedoch von ihrem konkreten historischen Kontext, treten allgemeingültige Aspekte hervor. Dazu gehört vor allem der Theorie-Praxis-Nexus, der die Wissenschaft des Judentums als kreatives Instrument zur Bewältigung virulenter Probleme des religiösen Lebens versteht. Wenngleich sich im Laufe der Zeit die Bedürfnisse und Erfordernisse und damit folglich auch das konzeptionelle Gepräge der Wissenschaft des Judentums ändern, bleibt die Verknüpfung zwischen Wissenschaft des Judentums und religiösem Leben bestehen. Es verwundert nicht, dass Geiger seinen Entwurf unmittelbar auf die konkrete Lage des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert ausrichtet und die langfristige Bedeutung nicht explizit bedenkt und herausarbeitet. Angesichts der von Geiger als misslich empfundenen Situation erscheint es einleuchtend, dass er vorrangig nach konkreten Bewältigungsstrategien sucht und als Gelehrter und Rabbiner die Wissenschaft des Judentums für die Lösung aktueller Probleme einspannt. Aufgrund seiner doppelten Wirksamkeit kann er Theorie und Praxis einander dienstbar machen und produktiv miteinander verschränken. Geigers doppelte Tätigkeit kann daher als Bereicherung für beide Sphären angesehen werden, da sie

Epilog363 impulsgebend für die Konzeption der Wissenschaftsprogrammatik einwirkt und zugleich optimistische Perspektiven für das religiöse Leben eröffnet. Geiger definiert die Wissenschaft des Judentums als die methodisch kontrollierte Erschließung der religiösen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Judentums. Das Judentum fasst er dabei als eine originelle Ausprägungsform des religiösen Geistes mit schöpferischer Gestaltungskraft auf. Als Untersuchungsgrundlage veranschlagt Geiger religiöse Schriften. Er spricht sich dezidiert für die perspektivische Gebundenheit und existenzielle Standpunktbezogenheit der Wissenschaft des Judentums aus und erklärt das religiöse Interesse und religiöse Bewusstsein zu Triebfedern jeglicher wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Geiger führt den umstrittenen Begriff „jüdische Theologie“ in die jüdische Wissenschaftsgeschichte ein, profiliert ihn und legt als Erster ein Konzept einer jüdischen Theologie vor. Dadurch distanziert er sich zunächst deutlich vom sich gerade etablierenden Begriff der „Wissenschaft des Judentums“, das heißt konkret von den eher säkular ausgerichteten Wissenschaftsprogrammen des intellektuellen Judentums. Gleichzeitig rückt er die jüdische dadurch in terminologische Nähe zur christlichen Theologie. Im Kontext seiner Beratungs- und Lehrtätigkeit an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gibt er aufgrund von externen Vorgaben zwar die Bezeichnung „jüdische Theologie“ auf, nicht aber seine damit verbundenen theologisch ausgerichteten Ideen. Gemäß seinem Selbstverständnis als jüdischer Theologe versteht und konzipiert Geiger die Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie. Für Geiger ist die Unterscheidung zwischen Wissenschaft des Judentums und jüdischer Theologie, die er selbst nie thematisiert, folglich eindeutig terminologischer und nicht konzeptioneller Art. Beide Bezeichnungen werden von ihm synonym verwendet, stehen in der jüdischen Wissenschaftsgeschichte aber für zwei unterschiedliche Konzepte. Geigers Verständnis des Judentums als religiöse Größe und die daraus folgende Konzeption der Wissenschaft des Judentums als jüdische Theologie sind Ausdruck seines Selbstverständnisses als jüdischer Theologe und Rabbiner. Das genuin Jüdische zeigt sich für Geiger nur noch in der jüdischen Religion, da die politische, die sozialgeschichtliche und die kulturelle Verfasstheit des Judentums zu stark vom Makrokosmos beeinflusst werden. Obgleich diese Auffassung schlüssig ist, findet die Konzentration der Wissenschaft des Judentums auf die jüdische Religion im Judentum keinen uneingeschränkten Zuspruch, wie anhand der Berliner Hochschule deutlich zu erkennen ist. Geigers spezifischer Zugang wird oftmals als Engführung aufgefasst und daher abgelehnt. Vielfach, so auch an der Berliner Institution, wird eine thematische Universalität und Offenheit angestrebt, welche die jüdische Religion inkludiert, sich aber keinesfalls in ihr erschöpft. Daher wird auch vorrangig auf den Begriff „Wissenschaft des Juden-

364Epilog tums“ zurückgegriffen, der diese eher kulturwissenschaftliche Breite ausdrückt. Gerade weil die erste Generation der Wissenschaft des Judentums ein säkular ausgerichtetes Programm vorgelegt hat, ist Geigers Intention, sich davon zu unterscheiden und eine dezidiert theologische Akzentuierung auszuprägen, naheliegend und überzeugend. Er erkennt richtig, dass sich die zu konstituierende Disziplin einzig durch ihre Theologizität in der universitas litterarum als unentbehrliche Wissenschaft etablieren kann. Der binnenperspektivisch-traditionsgeleitete, bekenntnisgebundene Zugang macht den Unterschied zu anderen Disziplinen aus und begründet das besondere Gepräge und die Legitimität. Ohne ihn könnten die jüdische Geschichte, die jüdische Philosophie und die hebräische Sprachwissenschaft auch im Rahmen der allgemeinen Geschichtswissenschaft, Philosophie und Sprachwissenschaft verhandelt werden. Gerade deshalb kommt auch der Ausbildungsfunktion eine so große Bedeutung zu. Die Ausbildung jüdischer Theologen nämlich kann einzig aus dem Geist des Judentums heraus erfolgen, muss also binnenperspektivisch-traditionsgeleitet und bekenntnisgebunden sein. Vor allem deshalb bedarf es der Institutionalisierung. Geiger sieht zudem, dass Theologien an deutschen Universitäten bereits profiliert sind, dass die Hochschätzung des theologischen Profils demnach Zuspruch findet. Obgleich Geiger dies nie explizit ausdrückt, fungieren die christlichen Theologien für ihn als Vorbilder. Das geht soweit, dass Geiger der christlichen Tradition den Begriff „Theologie“ entlehnt. Im Judentum ist die Bezeichnung nicht geläufig, sodass Geiger sie im Rückbezug auf Schleiermachers Kurze Darstellung aufgreift und in die jüdische Wissenschaftsgeschichte einführt.2 Gerade weil das Verhältnis des Judentums zum Christentum beziehungsweise zur christlichen Theologie jedoch höchst problematisch ist, ruft Geigers terminologischer Gleichschritt heftige Kritik und Widerstand im Judentum hervor. Der Begriff „Theologie“ ist eindeutig christlich konnotiert und im Judentum daher bis heute äußerst umstritten.3 Aufgrund dieser 2

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So betont etwa Mendes-Flohr, dass der Begriff „jüdische Theologie“ von Geiger eingeführt worden ist: „Significantly, the first to speak expressly of a Jewish theology was one of the founding fathers of Reform Judaism, Abraham Geiger (1810–74)“ (Mendes-Flohr, Jewish Philosophy and Theology, 764). Exemplarisch verdeutlicht dies eine Äußerung Elbogens: „In jüdischen Kreisen genießt das Wort Theologie keine übermäßigen Sympathien“ (Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 90). Im Folgenden erläutert er, warum der Begriff „jüdische Theologie“ innerhalb des Judentums keinen Zuspruch findet: „Man verbindet damit die nicht mehr zutreffende Vorstellung von einem dogmatisch spekulativen System, das sich mehr auf blinden Glauben als auf vernunftgemäße Forschung stützt. Man scheut ferner die Einengung der Studien auf das rein religiöse Gebiet, die jüdische Lehre und die Darstellung in Kultus und Ritus“ (ebd.). Elbogen selbst spricht sich jedoch für die Bezeichnung „jüdische Theologie“ aus und entkräftet die Gegenargumente: „Beide Befürchtungen sind nicht begründet. Theologie im heutigen Sinne ist eine Wissenschaft auf philologisch historischer Grundlage mit streng kritischer Methode, die theologischen Fakultäten genießen infolge ihrer wertvollen wissenschaftlichen

Epilog365 über den Schleiermacher-Bezug erreichten Nähe zur christlichen Theologie kann Geigers Entwurf innerhalb des Judentums im Grunde nur missfallen und keinen wirklichen Zuspruch bekommen. Dass er zeitlebens ein Einzelkämpfer geblieben ist und seine Wissenschaftsprogrammatik bis heute kritisch wahrgenommen wird, liegt auch hierin begründet. Erschwerend kommt hinzu, dass Geiger den Theologiebegriff übernimmt und auf die jüdische Tradition bezieht, das genuin Jüdische dabei aber nicht immer pointiert genug ausschärft. Geigers Intention und sein Ansatz, die jüdische Theologie an die christlichen Theologien anzupassen, um dadurch ihre Institutionalisierung und außerjüdische Anerkennung zu erwirken und im Sinne der „counterhistory“ zugleich als Herausforderung zu wirken, ist prinzipiell plausibel und daher auch positiv zu bewerten. Geiger hätte die rezipierten Ideen nur dezidierter im Geist des Judentums fortschreiben, hätte also das spezifisch Jüdische noch stärker ausprägen müssen. Dennoch kann positiv festgehalten werden, dass Geiger den Theologiebegriff aus der Perspektive der jüdischen Religion entfaltet und damit verdeutlicht, dass er nicht nur aus christlicher Perspektive explorierbar ist.4 Die Wissenschaft des Judentums kann als konstruktive Antwort auf die Benachteiligung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft und die innerjüdische Zerrissenheit und Entfremdung gedeutet werden. Ergo soll die Wissenschaft des Judentums externe Anerkennung und Gleichberechtigung sowie innerjüdische Identifikation und Orientierung hervorrufen und dadurch die Lage zu verbessern suchen. Geiger strengt auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen unter anderem die Legitimation des Judentums als geistige Größe mit kulturproduktiver und weltgeschichtlicher Bedeutung an. Die historischtheologische Selbstbeschreibung des Judentums soll auf eine wissenschaftliche Ebene gehoben und der Wissenschaftsanspruch des Judentums damit formuliert werden. Dadurch soll das Judentum innerhalb der universalen Geistesgeschichte adäquat positioniert werden. Auf diese Weise will Geiger die oftmals antijudaistische christliche Erforschung der jüdischen Religions- und Traditionsgeschichte durchbrechen. Weiterhin soll die Wissenschaft des Judentums so als eine anerkannte Wissenschaft innerhalb der universitas litterarum etabliert werden, die christliche Monopolstellung herausgefordert und die Vollständigkeit des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons realisiert werden. Wenngleich Geiger sein

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Arbeit hohes Ansehen“ (ebd.). Auch Novak weist auf die Problematik des Theologiebegriffs im jüdischen Kontext hin: „When speaking of Jewish theology, one should be aware at the outset that many Jews are uncomfortable with the word ‚theology‘ altogether as a designation of Jewish religious thought“ (Novak, Jewish Theology, 311). Elbogen konstatiert daher anerkennend: „Geigers Grosstat war die Schöpfung der jüdischen Theologie“ (Elbogen, Rede bei der Abraham Geiger-Feier der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums am 22. Mai 1910, 54).

366Epilog Wissenschaftsprogramm für die Verbesserung der Situation des Judentums im Makrokosmos fruchtbar machen möchte, konzentrieren sich seine Bestrebungen vorrangig auf den Mikrokosmos. Er spannt die Wissenschaft des Judentums in den Reformprozess ein und konzipiert sie als Realisatorin von Reformen. Diese für ihn charakteristische Einbindung der Wissenschaft des Judentums in den Reformprozess schlägt sich im funktionalen Wissenschaftsbegriff nieder. Die Funktionalität wird historisch, systematisch-normativ und praktisch ausgerichtet. Der praktischen Funktion, die in der Ausbildung von Gelehrten und Praktikern besteht, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Diese Hochschätzung der Ausbildungsfunktion ist ein weiteres Proprium des Geigerschen Wissenschaftsbegriffs. Betrachtet man das funktionale Profil der Wissenschaft des Judentums, drängt sich der Eindruck einer absoluten Instrumentalisierung für gegenwärtige Belange auf. Es erweckt den Anschein, dass die Wissenschaft des Judentums derart für praktische Zwecke vereinnahmt wird, dass der wissenschaftliche Selbstzweck vollkommen zurücktritt. In der Tat gestaltet Geiger den Nexus zwischen Wissenschaft des Judentums und religiösem Leben offensiv aus und verleiht der Wissenschaft des Judentums so einen dezidierten Lebensweltbezug. Das bedeutet jedoch nicht, dass wissenschaftliche Analysen ausschließlich dem Reformprozess oder der legitimatorischen und apologetischen Grundlegung des Judentums verpflichtet sind. Ein Blick auf Geigers eigene Studien bestätigt, dass es trotz der klaren Ausrichtung auf den Reformprozess auch gelehrte Untersuchungen mit wissenschaftlichem Selbstzweck gibt. Die Reformorientierung ist jedoch vorherrschend und deshalb kann konstatiert werden, dass der Selbstzweck der Wissenschaft des Judentums bei Geiger tatsächlich nicht wirklich ausgeprägt ist. Sicherlich kann man das kritisch sehen, zumal die damit unmittelbar zusammenhängende Zeitgebundenheit des Wissenschaftsprogramms ebenfalls Einwände hervorrufen kann. Bei allen kritischen Anfragen muss jedoch stets die Situation des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert und die der Wissenschaft des Judentums dadurch anhaftende existenzielle Bedeutung berücksichtigt werden. Geiger muss angesichts der als defizitär empfundenen Situation und seines Amtes als Rabbiner reagieren und sieht sich zu Lösungsstrategien herausgefordert. Die Wissenschaft des Judentums wird von Geiger dergestalt für den Reformprozess in Anspruch genommen, dass sie als Institution des Reformjudentums gedeutet werden kann. Die Ideologie des Reformjudentums klingt in Geigers Wissenschaftsentwurf dementsprechend durchgängig an. Da Geiger die führende Persönlichkeit des deutschen Reformjudentums im 19. Jahrhundert ist, überrascht das nicht. Gleichwohl kann es freilich kritisch gesehen werden: So verhindert das reformerische Profil des Geigerschen Wissenschaftskonzepts eine breite Zustimmung und Unterstützung innerhalb des Judentums. Dadurch, dass das Wissen-

Epilog367 schaftsverständnis unmittelbar mit seinem Selbstverständnis verknüpft ist, entzieht es sich zwangsläufig einem großen Adressatenkreis. Geigers Bekenntnis zum Reformjudentum, das seinem Entwurf unmissverständlich zu entnehmen ist, distanziert sein Wissenschaftsprogramm von anderen religiösen Strömungen des Judentums. Und selbst innerhalb des Reformjudentums erfährt es keinen uneingeschränkten Zuspruch, da das Reformjudentum in sich auch noch ausdifferenziert ist und divergierende Positionen inkludiert. Die Vermischung von religiöser Ideologie und Wissenschaftsprogrammatik, die nicht nur bei Geiger zu beobachten ist, verhindert eine sachliche Auseinandersetzung und objektive Würdigung. Lehnt man das Reformjudentum ab, lehnt man ungeachtet der eigentlichen Qualität auch Geigers Entwurf der Wissenschaft des Judentums ab. Geiger wird damit zu einem Einzelkämpfer. Eine Zusammenarbeit der einzelnen Wissenschaftsprogrammatiker über die Grenzen der unterschiedlichen religiösen Richtungen hinweg hätte idealiter ein gemeinsames Wissenschaftsprogramm hervorbringen können, welches vom Judentum insgesamt getragen worden wäre. Ein geschlossener, abgestimmter Auftritt hätte im Makrokosmos, aber auch im Mikrokosmos größere Wirkungskraft entfalten können, wäre aber dennoch nicht unbedingt erstrebenswert gewesen. Denn eine positionelle Konformität respektive Substanzlosigkeit hätte der Wissenschaft des Judentums gewiss geschadet und sie um ihr besonderes Gepräge gebracht. Da das Judentum selbst auch keine monolithische Größe darstellt, sondern unterschiedliche religiöse, kulturelle und ideelle Ansichten in sich vereint, die in den verschiedenen Strömungen ausdifferenziert sind, muss auch die Wissenschaft des Judentums vielfältig sein und den unterschiedlichen Auffassungen gerecht werden. Die unterschiedlichen religiösen Richtungen des Judentums, die sich auch in den Wissenschaftskonzeptionen widerspiegeln, sind demnach als Bereicherung wertzuschätzen. Demzufolge sollte auch das reformerische Gepräge von Geigers Wissenschaftskonzept nicht als Defizit aufgefasst werden, sondern vielmehr als das genuin Geigersche, welches seinem Wissenschaftsverständnis Format verleiht. Um der Originalität, der Authentizität und der Identität willen muss Geiger es demnach hinnehmen, dass er nicht jeden anzusprechen vermag. Geiger will die Wissenschaft des Judentums als eine den anderen Geisteswissenschaften gleichgestellte Wissenschaft etablieren, die akademische Anerkennung erfährt und am wissenschaftlichen Diskurs partizipiert. Infolgedessen prägt er keine genuin jüdische Methodik aus, sondern nimmt Impulse aus der Bildungssphäre auf, bedient sich also anerkannter methodischer Grundsätze der historischen und philologischen Wissenschaften. Durch die konsequente Historisierung religiöser Schriften in Form der historisch-kritischen Schriftauslegung erhofft sich Geiger außerjüdische Anerkennung, riskiert dadurch aber innerjüdisch Kritik. Denn sein Plädoyer für die historisch-kritische Interpretation von

368Epilog Bibel und Talmud sprengt die traditionelle jüdische Schrifthermeneutik und wird so als innerjüdische Traditionskritik wirksam. Die Verankerung der historisch-kritischen Perspektive in der Wissenschaft des Judentums kann insofern als innovativ bezeichnet und der methodische Ansatz als weiteres Spezifikum benannt werden. Auch in der Methodik spiegeln sich Geigers liberale Gesinnung und Reformorientierung wider. Überdies zeigt sie, dass Geiger um gegenwärtige wissenschaftliche Diskurse weiß, als Gelehrter also ‚über den eigenen Tellerrand schaut‘. Dass Geigers methodischer Ansatz nicht spezifisch jüdisch ist, muss nicht negativ beurteilt werden. Auch die protestantische Theologie prägt beispielsweise keine genuin protestantisch-theologische Methodik aus, sondern bedient sich vornehmlich der Methoden außertheologischer Wissenschaften. Geigers Motivation, eine den anderen Geisteswissenschaften gleichgestellte Wissenschaft zu entwickeln, leuchtet vor dem Hintergrund der konstant verwehrten Anerkennung ein. Obgleich er die religiösen Schriften des Judentums konsequent historisiert, gibt er die jüdischen Traditionen nicht um der Anpassung willen auf, sondern sucht vielmehr Tradition und Moderne konstruktiv miteinander zu verbinden, indem er die heiligen Schriften zwar historisch-kritisch, aber stets im Geist des Judentums interpretiert. Dennoch ruft Geigers innovativer Ansatz innerhalb des Judentums Kritik hervor und versagt ihm eine breite innerjüdische Zustimmung. Durch die Implementierung der historisch-kritischen Methodik schafft Geiger allerdings die prinzipielle Voraussetzung einer außerjüdischen Rezeption. In seiner Zeit gibt es für den von ihm intendierten interdisziplinären Diskurs zur historisch-kritischen Methode keine Alternative. Daher ist Geiger auch zutiefst enttäuscht, dass die Studien der Wissenschaft des Judentums trotz historischkritischem Ansatz nicht in der erhofften Weise von der christlichen Theologie rezipiert werden. Dass Geigers Leidenschaft der jüdischen Geschichte gilt, zeigen nicht nur seine eigenen gelehrten Untersuchungen, sondern auch die disziplinären Aufgliederungen der jüdischen Theologie und der Wissenschaft des Judentums. Der historische Zweig fungiert jeweils als Herzstück und ist der am besten ausgearbeitete. Geigers Selbstverständnis als jüdischer Theologe lässt sich also konkretisieren, insofern er sich als Wissenschaftler vor allem als historischer Theologe versteht. Die disziplinären Auffächerungen von Wissenschaft des Judentums und jüdischer Theologie, die er angesichts der inhaltlichen und methodischen Vielfalt als Organisations- und Strukturierungssystem für Forschung und Lehre etabliert, weisen Leerstellen auf und wirken, vor allem im direkten Vergleich mit Schleiermachers Kurzer Darstellung, unterentwickelt. Bei der disziplinären Ausdifferenzierung der jüdischen Theologie ist dieses Defizit freilich auch der Darstellungsform geschuldet. Inwiefern Geiger seine knappen Leitsätze in den Vorlesungen

Epilog369 ausgeführt und konkretisiert hat, ist nicht mehr rekonstruierbar. Gleichwohl sind die Präsentationen von Philosophischer und Praktischer Theologie im Kompendium unterkomplex, da die zentralen Ideen, die im Kompendium ja enthalten sind, die beiden Disziplinen nicht befriedigend darzustellen vermögen. Da sich Geigers Interesse gemeinhin auf die jüdische Geschichte konzentriert, kann davon ausgegangen werden, dass er die Philosophische und Praktische Theologie auch im öffentlichen Vortrag nicht präzisiert und profiliert hat. Die Disziplinendarstellung der Wissenschaft des Judentums überzeugt indes auch nicht restlos, da sie sehr materialreich ist und in weiten Zügen einer Geschichtsdarstellung gleicht. Es gelingt Geiger nicht, eine formale Enzyklopädie der Wissenschaft des Judentums zu verfassen, die ausschließlich in den Aufbau und die Aufgaben der Wissenschaft des Judentums einführt, nicht aber deren Inhalte ausführlich entfaltet. Allem Anschein nach sucht Geiger die jüdische Theologie und die Wissenschaft des Judentums zwar zu systematisieren – davon zeugen zumindest die beiden Kompendien – verfolgt dieses Ansinnen aber nicht konsequent genug. Das wird auch daran deutlich, dass er die Veröffentlichung seiner beiden Vorlesungen offensichtlich nicht anstrengt. Geiger selbst scheint folglich kein großes Interesse daran gehabt zu haben, seinen Entwurf der Wissenschaft des Judentums beziehungsweise der jüdischen Theologie zu präsentieren und eine konsequente Ausarbeitung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Einsicht wird dadurch bestärkt, dass er die Vorlesungen zur jüdischen Theologie und zur Wissenschaft des Judentums auf äußere Anfragen hin, das heißt nicht aus eigenem Antrieb heraus, hält. Es verwundert, dass er kein stringentes Programm vorlegt und keine eindeutige Terminologie sowie Definition ausprägt. Das schränkt dessen Wirkungskraft ein, insofern dadurch der Zugang und die Rezeption erschwert werden. Die zusammenhängende Darstellung des Geigerschen Wissenschaftsverständnisses, die diese Studie umzusetzen gesucht hat, ist also eher ein interpretatorisches Konstrukt, weniger ein Produkt Geigers selbst. Geiger engagiert sich zeitlebens für die Institutionalisierung und sucht sie in zweifacher Form – durch wissenschaftliche Einrichtungen und wissenschaftliche Periodika – umzusetzen. Er kämpft unaufhörlich für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät und damit für die Aufnahme der jüdischen Theologie in den universitären Fächerkanon. Auch dadurch wird deutlich, dass Geiger ein interdisziplinäres Gespräch oder mehr noch eine interdisziplinäre Kooperation anstrebt und die nur in einer Universität gegebene Nähe zu anderen Fächern schätzt. Die Notwendigkeit einer Fakultätsgründung begründet er vor allem mit der dadurch realisierten Vollständigkeit der universitas litterarum und mit der Ausbildungsfunktion. Eine jüdisch-theologische Fakultät soll Forschung und Lehre in historisch-kritischer Ausrichtung sowie Religiosität und Wissenschaftlichkeit vereinen und sowohl Gelehrte als auch Praktiker hervorbringen.

370Epilog Geiger sucht mit seinen institutionstheoretischen Ideen also auch die Professionalisierung und Akademisierung der Rabbinerausbildung voranzutreiben. Er grenzt sich so von innerjüdischen Entwürfen ab, gerät aber in das Fahrwasser der christlichen Universitätstheologie. Dadurch nährt er auch im Bereich der Institutionalisierung innerjüdische Kritik. Geigers Engagement, welches vor allem konzeptioneller Natur ist, ist jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Eine jüdisch-theologische Fakultät gibt es bis heute an keiner deutschen Universität. Wenngleich Geiger eine Fakultätsgründung nicht zu realisieren vermag, gehen seine Vorstellungen aber teilweise in die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein und wirken in ihr über seinen Tod hinaus fort. Weiterhin gelingt es ihm durch die Gründung der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie und der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben die konstitutive Verbreitung und Aneignung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Mikro- und Makrokosmos zu ermöglichen, ein wissenschaftliches Forum für Forschungsergebnisse zu errichten und jüdischen Gelehrten Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen. Geigers Engagement für die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät verdient zweifelsohne Anerkennung und Respekt. Sein Entwurf der Institutionalisierung ist modern, durchdacht und korreliert mit seinen Entwurf der Konzeptionalisierung, sodass sich ein schlüssiges Gesamtprogramm ergibt. Mit seinem Eintreten für eine jüdisch-theologische Fakultät fungiert Geiger als Pionier und wirkt impulsgebend. Gewiss hätten Geigers institutionstheoretische Vorstellungen eine größere Wirkungskraft entfalten können, wenn sie durch die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät in die Realität überführt worden wären. So verharren sie im Konzeptionellen und können ihre Praxistauglichkeit nicht unter Beweis stellen. Dass Geiger die Institutionalisierung in Form einer jüdisch-theologischen Fakultät nicht zu realisieren vermag, ist primär sicherlich auf die äußeren Umstände zurückzuführen. Die beständige Ausgrenzung und Benachteiligung des Judentums manifestieren sich besonders drastisch in der Bildungssphäre und erschweren eine gelungene Institutionalisierung ungemein, wie die zahlreichen gescheiterten Versuche unter Beweis stellen. Gleichwohl kann vorsichtige Kritik an Geigers Engagement formuliert werden, ohne die diskriminierende Haltung der Mehrheitsgesellschaft dadurch in Abrede stellen zu wollen. Mehrfach wurde bereits erwähnt, dass Geiger sich vorrangig in konzeptioneller Hinsicht für eine Institutionalisierung einsetzt, konkrete praktische Schritte zur Realisierung hingegen nur vereinzelt durchführt. So verwundert es zum Beispiel, dass sein engagiert vorgetragenes Anliegen nicht in einen offiziellen Antrag mündet und Geiger sich nicht offensiver an den deutschen Staat wendet.5 Zudem 5

Denn bei dem in Fn. 57 des II. Teils genannten Gesuch kann nicht zuverlässig davon ausgegangen werden, dass es tatsächlich von Geiger stammt.

Epilog371 ist es nicht nachvollziehbar, warum er seiner Forderung nicht mit einem vollständig ausgearbeiteten Programm der jüdischen Theologie Nachdruck verleiht. Mit einem zusammenhängenden Entwurf hätte sein Anliegen inhaltlich besser untermauert werden können, insofern dadurch die konzeptionelle Grundlegung offen gelegt und der noch unbekannten Disziplin ein Gesicht gegeben worden wäre. Es ist Geiger indes hoch anzurechnen, dass er seine institutionstheoretischen Vorstellungen am Ende seines Lebens zurückstellt und sich in die Gestaltung und Etablierung der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums einbringt. Dass er seine eigenen Ideen der generellen Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums unterordnet, verdeutlicht den großen Stellenwert, den die Wissenschaft des Judentums zeitlebens für ihn hat. Es geht Geiger nicht um die bloße Durchsetzung seiner eigenen Ansichten, sondern vor allem um die Profilierung und Etablierung der Wissenschaft des Judentums, was eine positive Würdigung verdient. Die von ihm gegründeten wissenschaftlichen Zeitschriften fungieren trotz ihrer mitunter kurzen Laufzeit als ernstzunehmende Organe der Wissenschaft des Judentums, realisieren also deren Institutionalisierung und sind daher wichtige Größen innerhalb der jüdischen Wissenschaftsgeschichte. Gerade weil die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in Form von wissenschaftlichen Einrichtungen fehlschlägt, kommt den Periodika eine so große Bedeutung zu. Dass Geiger die meisten Artikel selbst schreibt, ist zu bedauern. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die wissenschaftlichen Zeitschriften gemäß ihrer Konzeption tatsächlich als Foren des akademischen Austausches gedient hätten. Wenngleich einige Ideen der ersten Generation der Wissenschaft des Judentums in Geiger fortwirken, zeichnet sich sein Wissenschaftsentwurf durch ein spezifisches Gepräge aus. Vor allem die theologische Dimension und die Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums begründen sein eigenes Profil. Ausgehend von seinem Selbstverständnis als jüdischer Theologe entwickelt er sein Wissenschaftsverständnis in Abgrenzung zum bereits vorgeprägten. Der innerjüdische Kontext hat demnach nur eine begrenzte Prägekraft auf ihn. Die strukturellen Parallelen zur protestantischen Universitätstheologie sind hingegen unübersehbar. Besondere Bedeutung kommt hier Schleiermachers Kurzer Darstellung zu, da sie für Geiger offenkundig als ideelle Orientierungsgröße fungiert. Einschlägige formale Übereinstimmungen sprechen ausdrücklich dafür, dass Geiger sich bei der Formulierung seines Programms der jüdischen Theologie an Schleiermachers Kurzer Darstellung orientiert, ihr zentrale Leitgedanken entnimmt und diese selbstständig und in kritischer Distanz fortschreibt. Geiger zeigt sich dadurch weltoffen und liberal, insofern er sich trotz inhaltlicher und persönlicher Einwände für die formalen Vorstellungen der protestantischen Theologie, konkret für Schleiermachers enzyklopädischen Entwurf, öffnet und diesen rezi-

372Epilog piert. Er weitet seinen Blick, geht also über die eigene jüdische Tradition hinaus, ohne sie dabei aufzugeben. Einmal mehr wird deutlich, dass es Geiger vor allem um die Sache geht, dass ihm die Konzeptionalisierung der jüdischen Theologie also so am Herzen liegt, dass er dafür eigene Befindlichkeiten, die in einer zum Teil heftigen Christentumspolemik zum Ausdruck kommen, zurückstellt. Unter der Prämisse der Akkulturation betreibt Geiger mit seinem Wissenschaftsentwurf „counterhistory“, insofern er aus der kritischen Anpassung heraus, die christliche Theologie herausfordert und ihre akademische Alleinherrschaft zu durchbrechen sucht. Vor allem auf jüdischer Seite muss Geigers Intention, die hinter der Annäherung steht, berücksichtigt werden, da sie die ihm häufig entgegen gebrachte Kritik aufweichen kann. Es geht Geiger nicht um eine totale Anpassung, welche die Aufgabe des genuin Jüdischen impliziert, sondern um die Herausforderung der christlichen Vorherrschaft. Überdies muss beachtet werden, dass Geiger weiterhin an seiner kritischen Haltung gegenüber der christlichen Theologie festhält und zudem nicht deren Inhalte übernimmt. Da die jüdische Theologie nur durch Periodika, nicht aber in Form von Einrichtungen institutionalisiert ist, erfolgt Geigers Vorgehen fast ausschließlich in der Theorie, wodurch die Durchschlagskraft freilich eingeschränkt ist. Auf konzeptioneller Ebene gelingt es Geiger jedoch weitestgehend, die jüdische Theologie als eine den christlichen Theologien gleichwertige Disziplin darzustellen. Er weiß die jüdische Theologie also für den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs, der ihm offenkundig am Herzen liegt, kompatibel zu machen, weshalb ihm Anerkennung gebührt. Geiger demonstriert eindrücklich, dass die innerjüdische Abschottung der Vergangenheit angehört und sich das Judentum stattdessen für ideelle Einflüsse des Kontextes öffnet und in die Bildungssphäre integriert ist. Wie oben bereits angedeutet, hätte er das genuin Jüdische dabei allerdings prägnanter ausschärfen und damit auch innerjüdische Kritiker besänftigen können. Diese Bündelung demonstriert, dass Geigers spezifische Perspektive als Reformrabbiner und Gelehrter, also als jüdischer Theologe, das besondere Gepräge seines Entwurfs der Wissenschaft des Judentums begründet. Dass diese als Brennpunkt von Geigers Selbstverständnis fungiert, kann ambivalent bewertet werden: Einerseits wird dadurch eine breite Zustimmung und Rezeption unmöglich gemacht und eine langfristige, durchschlagende Wirksamkeit erschwert. Andererseits wird Geigers Wissenschaftsprogramm dadurch jedoch auch innovativ, originell und unverwechselbar. Die Bewertung hängt vom Selbstverständnis des Bewertenden ab und entwächst nicht ausschließlich der sachlichen Auseinandersetzung. So sind die Spezifika des Geigerschen Wissenschaftsverständnisses, also die Momente, die ihm ein individuelles Gepräge verleihen, zugleich auch die umstrittensten. Fehlten diese Momente jedoch und näherte sich Geigers Entwurf dadurch den anderen innerjüdischen Konzepten an, wäre er farb- und

Epilog373 leidenschaftslos, nichtssagend und unverbindlich. Dass Geiger die Wissenschaft des Judentums zusammengefasst als jüdische Theologie und als Realisatorin von Reformen versteht, kann zwar auch als Engführung kritisiert werden, ist aber vor allem Ausdruck seiner genuinen Intention. Geigers Bestreben, die Wissenschaft des Judentums als eine den christlichen Theologien gleichwertige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, ist, obwohl es fehlgeschlagen ist, positiv zu würdigen. Auch sein damit zusammenhängendes Vorhaben, die Wissenschaft des Judentums in struktureller Analogie zur protestantischen Universitätstheologie zu konzipieren, kann grundsätzlich als sinnvoll erachtet werden. Und sein Ansatz, die Wissenschaft des Judentums für die positive Weiterentwicklung des Judentums einzuspannen, ist schließlich überzeugend. Es gelingt Geiger, Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen mit dem Ziel, beide Bereiche von der produktiven Verschränkung profitieren zu lassen. Die tatsächliche Durchschlagskraft und Effizienz der Ansichten Geigers lässt sich kaum bewerten, da sie in toto keine Verwirklichung finden. Aus heutiger Sicht ist es schwer einzuschätzen, warum Geigers Vorstellungen nicht umfassend umgesetzt werden können. Sicherlich können unterschiedliche Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden. Besonders schwer wiegen gewiss die kontextuellen Umstände, das heißt die trotz aller Fortschritte vorherrschende Diskriminierung des Judentums im Makrokosmos. Daneben können der unzureichende Zuspruch und der mangelnde Rückhalt innerhalb des Judentums als Gründe angeführt werden. Letztlich spielt auch die teilweise unausgereifte Gestalt von Geigers Wissenschaftsprogramm eine Rolle. Wenngleich sein Entwurf Schwachstellen aufweist, verdient er insgesamt Anerkennung. Um dessen Bedeutung noch prägnanter fassen zu können, soll im Folgenden untersucht werden, wie groß die tatsächliche Prägekraft ist, die von Geigers Wissenschaftskonzept über seine Zeit hinaus ausgeht. Dafür soll beleuchtet werden, inwiefern Geigers Entwurf in der heutigen akademischen Landschaft institutionell verankert ist, inwiefern seine Gedanken also bis in das 21. Jahrhundert hinein wirken und für heutige Konzepte fruchtbar gemacht werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf wissenschaftlichen Institutionen der aktuellen Judaistik beziehungsweise der Jüdischen Studien6 in Deutschland. 6

Stemberger definiert die Judaistik wie folgt: „Judaistik ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte, Kultur und Religion des Judentums von seinen biblischen Anfängen bis zur Gegenwart“ (Stemberger, Einführung in die Judaistik, 9). Weiterhin stellt er heraus, dass die Judaistik einen „philologische[n] Zugang“ und ihren „Schwerpunkte[ ] in Antike und Mittelalter“ habe (a. a. O., 18). Davon grenzt er die jüngere Disziplin der Jüdischen Studien ab, die er folgendermaßen charakterisiert: „Unter dem Sammelbegriff ‚Jüdische Studien‘ bemühen sich ihre Verfechter, interdisziplinär die Beiträge zu bündeln, die verschiedene Fächer wie Geschichte, Germanistik, Soziologie, Politologie usw. zum Verständnis des Judentums und seiner Kultur bieten können, ohne notwendigerweise den Weg über das Hebräische zu

374Epilog Das Potsdamer Abraham Geiger Kolleg suggeriert wie keine andere wissenschaftliche Institution die Verbundenheit zu Geiger. Die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien wird trotz des grundsätzlichen Vorbehaltes gegenüber solchen Ausdrücken gemeinhin als Nachfolgerin der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bezeichnet, weshalb auch sie eine besondere Verbindung zur Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts und zu Geiger hat. Exemplarisch sollen daher vorrangig diese beiden Institutionen in den Blick genommen werden und untersucht werden, inwiefern sie auf Geigers Entwurf gründen, inwiefern sie also Geigers Ideen im 21. Jahrhundert weiterführen. Eine ausführliche Analyse der Jüdischen Studien, wie sie in vielfältiger Gestalt in Deutschland, Europa, den USA und Israel vorzufinden sind, und eine Skizze der Entwicklung der Disziplin können hier nicht gegeben werden.7 Nur folgende kurze begriffsgeschichtliche Beobachtung sei vorangestellt: Vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg dominiert der Begriff „Wissenschaft des Judentums“, der für unterschiedliche Konzeptionen steht,8 das Feld. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts prägt zunächst die Bezeichnung „Judaistik“ die universitäre Landschaft, bis schließlich mit der Heidelberger Hochschule der Name „Jüdische Studien“ als Übersetzung der bereits in den USA und Israel etablierten „Jewish Studies“ hinzukommt. Heute gibt es ein terminologisches und konzeptionelles Nebeneinander von Judaistik und Jüdischen Studien, wobei es keine eindeutige Zuordnung von Bezeichnung und Konzeption gibt und eine wissenschaftsprogrammatische Pluralität zu beobachten ist. Während es in der Vergangenheit aufgrund unterschiedlicher Akzentuierungen zu zum Teil scharfen Auseinandersetzungen gekommen ist, kann mittlerweile eine Tendenz der Annäherung und Angleichung festgestellt werden.9 Es bleibt abzuwarten, welcher Begriff und damit zusammenhängend welche Konzeption in Zukunft die bestimmende sein wird.

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nehmen“ (ebd.). Vereinfachend wird hier nur Jüdische Studien geschrieben, die Judaistik ist damit eingedenk der unterschiedlichen Profilbildungen stets mitgemeint. Vgl. hierzu den aktuellsten Beitrag: Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung, und exemplarisch folgende Darstellungen: Brenner; Rohrbacher (Hrsg.), Wissenschaft vom Judentum; Herrmann, Art. Judaistik; Schäfer, Judaistik – jüdische Wissenschaft in Deutschland heute; Stemberger, Art. Judaistik; ders., Einführung in die Judaistik. Elbogen schreibt dazu: „Es ist eine der Schwächen unserer Wissenschaft, daß ihr niemals eine unbestrittene, deutlich umgrenzte Definition gegeben wurde […]“ (Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 85). Daher stellt er heraus: „Ich für meine Person würde eine wesentliche Förderung der Sache darin sehen, wenn wir die übliche Bezeichnung mit der eindeutigen ‚jüdische Theologie‘ vertauschten“ (a. a. O., 89f). Stemberger äußert sich dazu beispielsweise wie folgt: „Die Frage ‚Judaistik oder jüdische Studien?‘ scheint müßig. Beide Zugänge haben ihre Berechtigung, Vor- und Nachteile. In welcher Form ein Studiengang verwirklicht wird, hängt von den jeweiligen Möglichkeiten ab“ (Stemberger, Einführung in die Judaistik, 19). Vgl. dazu auch: Brocke, „Judaistik“ between

Epilog375 Das Abraham Geiger Kolleg10 wird 1999 als An-Institut der Potsdamer Universität gegründet und nimmt 2001 seinen Lehrbetrieb auf. Das liberale Rabbinerseminar steht in enger Kooperation mit dem Institut für Jüdische Studien der Potsdamer Universität.11 Die Rabbinerausbildung ist daher zweigeteilt: Der theoretische Teil wird an der Universität und der praktische am Abraham Geiger Kolleg absolviert. Die Studierenden des Abraham Geiger Kollegs, die der jüdischen Religion angehören müssen, belegen demgemäß auch Veranstaltungen an der Universität Potsdam und beenden ihr zehnsemestriges Studium neben der Ordination mit einem universitären Abschluss in Jüdische Studien. Das Abraham Geiger Kolleg gehört der World Union for Progressive Judaism an und unterhält Partnerschaften mit den Hebrew Union Colleges-Institutes of Jewish Religion in Jerusalem, Cincinnati, Los Angeles und New York und dem Londoner Leo Baeck College. Es ist durch die Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner evaluiert sowie akkreditiert und wird durch den Zentralrat der Juden, aus öffentlichen Mitteln und der Leo-BaeckFoundation finanziert.12 Seit 2007 umfasst das Abraham Geiger Kolleg auch das Jewish Institute of Cantorial Arts, welches jüdische Kantoren und Religionslehrer ausbildet. Im Jahr 2006 sind die ersten Rabbiner in Deutschland nach der Schoah ordiniert worden, 2009, 2010 und 2011 folgten weitere Ordinationen.13 Das Abraham Geiger Kolleg setzt Geigers Vision von einer an einer deutschen Universität realisierten akademischen Rabbinerausbildung und die damit einhergehende Professionalisierung derselben um. Gleichzeitig knüpft es dadurch auch an die Arbeit der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums an. Das Abraham Geiger Kolleg bekennt sich durch den gewählten Namen zu Geiger und fühlt sich seinen Ideen verpflichtet: „Heute ist es das Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam […], das das geistige Erbe dieses Vordenkers des liberalen Judentums in aktuelle Bezüge setzt.“14 Das Abraham Geiger Kolleg

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12 13 14

„Wissenschaft“ and „Jüdische Studien“; Grötzinger, „Jüdische Studien“ oder „Judaistik“ in Deutschland; Schlüter, Judaistik an deutschen Universitäten heute. Vgl. grundlegend die Homepage des Abraham-Geiger-Kollegs. „Das ‚Kollegium Jüdische Studien / School of Jewish Studies‘, ein interdisziplinär angelegtes Zentrum, ist eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Potsdam. Es dient der Forschung und Forschungsplanung, der Lehre und Weiterbildung, der Nachwuchsförderung sowie der Kooperation mit anderen Einrichtungen auf dem Gebiet der Jüdischen Studien. Es betreut in Abstimmung mit der Philosophischen Fakultät den Studiengang Jüdische Studien“ (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 34). Vgl. auch die Homepage des Instituts. Vgl. Homolka; Bomhoff, „Durch Wissen zum Glauben“. Vgl. Burger, Mit Gottes Hilfe; Glöckner, Rabbiner für Deutschland; Kuhn, Made in Germany. Bomhoff, Abraham Geiger, 30. Rabbiner Walter Homolka, derzeitiger Direktor des Abraham Geiger Kollegs, erläutert: „Wir haben uns vor allem deshalb nach Abraham Geiger benannt, weil er der Begründer der modernen akademischen Rabbinerausbildung gewesen ist“ (in: Bomhoff, „Der unvergessene Lehrer“, 14).

376Epilog zeichnet sich durch eine explizite Bekenntnisgebundenheit und damit zusammenhängend durch eine enge Anbindung an die gemeindliche Praxis aus. Das wird unter anderem daran deutlich, dass die Studierenden der jüdischen Religion angehören und einen jüdischen Lebenswandel pflegen müssen. Die jüdische Religion steht zudem im Zentrum des Curriculums, welches ausschließlich auf die Rabbiner- beziehungsweise die Kantoren- und Religionslehrerausbildung ausgerichtet ist. Die Institution versteht sich als liberales Rabbinerseminar, bekennt sich also zu den Leitgedanken des Progressiven Judentums. Die konzeptionelle Nähe zu Geigers Ansichten ist evident. Gleichwohl hat das Kolleg nicht die institutionelle Form einer jüdisch-theologischen Fakultät und realisiert damit auch nicht Geigers Traum der Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät an einer deutschen Universität. Dennoch integriert das Kolleg als An-Institut der Potsdamer Universität die Rabbinerausbildung in den universitären Kontext und sichert durch die enge Kooperation mit dem Institut für Jüdische Studien und der obligatorischen zeitgleichen Verleihung eines universitären Abschlusses die wissenschaftliche Fundierung der Rabbinerausbildung. Durch die Anbindung an das Institut für Jüdische Studien kann ein breites Lehrangebot ermöglicht werden. Ganz im Sinne Geigers vereint das Kolleg Religiosität und Wissenschaftlichkeit und sucht Glauben und Wissen miteinander zu verbinden. Eingedenk aller Parallelität, die sich zwischen der Konzeption des Abraham Geiger Kollegs und Geigers Vorstellungen zeigt, muss berücksichtigt werden, dass das Rabbinerseminar ausschließlich Geigers Vision einer akademischen Rabbinerausbildung realisiert. Seine Hochschätzung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs, der nicht in gemeindlichen Kontexten tätig ist, findet am Abraham Geiger Kolleg selbst keine wirkliche Umsetzung. Das hängt damit zusammen, dass sich das Kolleg der praktischen Phase der Rabbinerausbildung verschrieben hat und die theoretische Ausbildung im Institut für Jüdische Studien realisiert wird, was allerdings nicht bedeutet, dass die Forschung vollständig aus dem Abraham Geiger Kolleg ausgeschlossen ist. Wenngleich das Kolleg Geigers Ideen ins 21. Jahrhundert überführt und in aktuelle Kontexte integriert, entspricht es seinen Ansichten also nicht in Gänze. Es weist auch ein eigenständiges Profil auf, welches den historischen Entwicklungen sowie den aktuellen Bedürfnissen und Bedingungen geschuldet ist. Von allen Institutionen wird das Abraham Geiger Kolleg seinen Vorstellungen dennoch am ehesten gerecht. Die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien15 wird 1979 gegründet und ist eine staatlich anerkannte und vom Wissenschaftsrat akkreditierte Einrich-

15

Vgl. Homepage der Hochschule für Jüdische Studien.

Epilog377 tung.16 Als Träger fungiert der Zentralrat der Juden in Deutschland, wodurch die besondere Beziehung zum deutschen Judentum deutlich wird. Sie unterhält eine enge Kooperation mit der Heidelberger Ruprecht-Karls-Universität, sodass Studierende parallel an beiden Einrichtungen studieren können. Darüber hinaus kooperiert die Hochschule für Jüdische Studien mit folgenden weiteren Institutionen: Hebräische Universität Jerusalem, Ben-Gurion-Universität des Negev in Beer-Sheva, SRH Fachhochschule Heidelberg, Pädagogische Hochschule Heidelberg, Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz, Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland und Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland. Die Heidelberger Einrichtung steht jüdischen und nicht-jüdischen Studierenden offen und bietet unterschiedliche Studiengänge an: Jüdische Studien, Gemeindearbeit, Rabbinat und Jüdische Religionslehre. Die Heidelberger Hochschule verfügt zudem über das Promotionsrecht. Studierende, die das Rabbinat anstreben, müssen der jüdischen Religion angehören, den Bachelorstudiengang Gemeindearbeit und den Masterstudiengang Rabbinat an der Heidelberger Hochschule oder einen vergleichbaren Studiengang absolvieren und überdies zwei Jahre eine rabbinische Institution besuchen. Folgender Auszug aus der Satzung spiegelt die Aufgabe der Hochschule wider: „Mit Forschung, Lehre und Studium dient die Hochschule für Jüdische Studien der Pflege und Entwicklung der jüdischen Geisteswissenschaften und der ihnen verwandten Disziplinen. Sie bereitet auf alle beruflichen Tätigkeiten in der jüdischen Gemeinschaft vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden erfordern, vor allem auf religiöse Aufgaben. Sie fördert den wissenschaftlichen Nachwuchs.“17 Die Hochschule zeichnet sich demnach durch die Verschränkung von Wissenschafts- und Gemeindeorientierung, die Verbindung von theoretischen und praktischen Lehrinhalten, die Verknüpfung von Forschung und Lehre und eine religiöse Schwerpunktsetzung aus. Die Heidelberger Einrichtung verfügt über acht Lehrstühle,18 sodass die Jüdischen Studien in

16 17 18

Vgl. Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Akkreditierung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS). Satzung der Hochschule für Jüdische Studien, beschlossen vom Kuratorium am 7.9.2007, veröffentlicht am 10.9.2007, § 1 (1) (vgl. Homepage der Hochschule für Jüdische Studien). Über folgende Lehrstühle verfügt die Hochschule für Jüdische Studien: Bibel und jüdische Bibelauslegung, Talmud, Codices und Rabbinische Literatur, Geschichte des jüdischen Volkes, Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte, Hebräische und jüdische Literatur, Jüdische Kunst, Jüdische Religionspädagogik. Weiterhin befinden sich an der Hochschule die Ignaz-Bubis-Stiftungsprofessur für Geschichte, Religion und Kultur des europäischen Judentums, die Ben-Gurion-Gastprofessur für Israel- und Nahoststudien und Dozenturen in der hebräischen Sprachwissenschaft.

378Epilog umfassender Breite studiert werden können. Die Hochschule gibt die Zeitschrift Trumah, das Hochschulmagazin Mussaf und eine eigene Schriftenreihe heraus.19 Die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien gilt gemeinhin als Nachfolgerin der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, weil sie sich als erste Institution nach der Schoah in Deutschland ähnlichen Aufgaben widmet.20 Wenngleich die Verhältnisbestimmung zwischen wissenschaftlichen Institutionen des 19. Jahrhunderts und heutigen Einrichtungen komplex ist und sich die Hochschule selbst nicht explizit als Nachfolgeinstitution beschreibt, sind die Parallelen zwischen der Heidelberger und der Berliner Hochschule doch greifbar. Beide Einrichtungen verstehen sich nicht ausschließlich als Ausbildungsstätten für Rabbiner, wenngleich sie der Akademisierung und Professionalisierung der Rabbinerausbildung dienen. Sie sind also nicht nur berufsbildenden Zwecken und praktischen Bedürfnissen jüdischer Gemeinden verpflichtet, sondern halten den Selbstzweck der Wissenschaft hoch und geben der wissenschaftlichen Forschung ergo viel Raum. Beide Einrichtungen suchen die Wissenschafts- und die Berufsorientierung konstruktiv miteinander zu verknüpfen. Die Lehrpläne ähneln einander, obgleich die Heidelberger Hochschule aufgrund ihrer komfortableren finanziellen Ausstattung das universale Wissenschaftsideal besser in die Realität umzusetzen vermag und ein breiteres Lehrangebot bieten kann. Im Unterschied zur Berliner Hochschule, die sich faktisch zu einem Rabbinerseminar entwickelt hat, liegt der Schwerpunkt der Heidelberger Hochschule nicht auf der Rabbinerausbildung. Das hängt mit den verbesserten Berufsaussichten in anderen Tätigkeitsfeldern, mit der geringeren Nachfrage nach gemeindlichem Führungspersonal und mit der heterogenen Studentenschaft zusammen. Nur ein Viertel der Studierenden in Heidelberg gehört dem Judentum an, wohingegen sich die Mehrzahl der Berliner Studenten zur jüdischen Religion bekannt hat. Es wird deutlich, dass die Divergenzen, die zwischen den beiden Hochschulen bestehen, vor allem äußeren Umständen geschuldet sind. Die Heidelberger Einrichtung kann angesichts der Schoah und den damit einhergehenden Veränderungen nicht nahtlos an die Tradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen und muss vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und aktueller Anforderungen eigene Akzente setzen und ihr spezifisches Profil ausprägen. Demzufolge handelt es sich bei der Heidelberger Einrichtung nicht um eine blasse Kopie der Berliner Hochschule, sondern um eine eigenständige wissenschaftliche Institution, die sich, ihrer Tradition bewusst, diese in heutige Kontexte integriert und dadurch ein eigenes Gepräge entfaltet. 19 20

Vgl. zum vielfältigen Forschungsspektrum der Hochschule: Heil; Krochmalnik (Hrsg.), Jüdische Studien als Disziplin – Die Disziplinen der Jüdischen Studien. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 35.

Epilog379 Versteht man die Heidelberger Hochschule eingedenk der prinzipiell problematischen Verhältnisbestimmung als Nachfolgeinstitution der Berliner Hochschule, wirken in ihr indirekt auch Geigers Ideen fort, weil er an der Konzeption der Berliner Lehranstalt beteiligt gewesen ist. Auffällig ist hierbei, dass Geiger im Zusammenhang der Heidelberger Einrichtung nicht erwähnt wird. Das leuchtet jedoch ein, da das explizite Bekenntnis zu Geiger einer religiösen Positionierung gleichkäme und die Hochschule als progressive Institution deklarierte. Nach eigenem Bekunden will die Heidelberger Einrichtung allerdings Studierenden aller jüdischen Denominationen und nicht-jüdischen Bekenntnissen offenstehen. Betrachtet man das Profil der Heidelberger Hochschule lassen sich implizite Anklänge an Geigers Vorstellungen, wie er sie vor allem im Kontext der Berliner Hochschulgründung formuliert, ausmachen. Die Bekenntnisgebundenheit und der Gemeindebezug, die Geiger hochschätzt, realisieren sich an der Heidelberger Hochschule zumindest in den Studiengängen Gemeindearbeit, Rabbinat und Jüdische Religionslehre. Die anderen Studiengänge sind hingegen für alle Studierende geöffnet und akzentuieren die Wissenschaftsorientierung. Trotz der Veranschlagung eines universalen Wissenschaftsideals und der Darbietung der Jüdischen Studien in kulturwissenschaftlicher Breite zeichnet sich die Heidelberger Institution offensichtlich durch eine religiöse Schwerpunktsetzung aus. Das Lehrangebot geht damit zwar über Geigers disziplinären Entwurf hinaus, ähnelt ihm aber dennoch in weiten Zügen. Geigers Hochschätzung der Humboldtschen Einheit von Forschung und Lehre und der Wissenschafts- und Berufsorientierung setzt die Heidelberger Hochschule insofern um, als sie eine akademische Rabbinerausbildung ermöglicht, sich darin jedoch nicht erschöpft, sondern auch wissenschaftlichen Nachwuchs hervorbringt und die aktuellen Forschungsdiskurse durch eigene Forschungsbeiträge bereichert. Die Heidelberger Hochschule geht also offenkundig über ein Rabbinerseminar hinaus und entspricht damit Geigers Ablehnung einer funktionellen Reduktion auf die Ausbildung von Praktikern. Geigers Ideen sind demnach auch durch die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien in der heutigen akademischen Landschaft verankert und wirken, wenn auch in modifizierter Form, im 21. Jahrhundert fort. Das Potsdamer Abraham Geiger Kolleg und die Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien demonstrieren Geigers Prägekraft auf heutige wissenschaftliche Institutionen und zeigen, dass einige seiner Ideen in Abwandlung bis ins 21. Jahrhundert fortwirken. Die Aktualität des Geigerschen Wissenschaftsverständnisses baut sich demnach vor allem über die von ihm profilierte Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums, konkret über die Rabbinerausbildung, auf. Denn beide Institutionen dienen unter anderem der Ausbildung von Rabbinern und unterscheiden sich dadurch von den anderen Instituten und Lehrstühlen in Deutschland. Die beiden Einrichtungen realisieren Geigers Bestreben,

380Epilog die Rabbinerausbildung zu akademisieren und zu professionalisieren, setzen also sein nur theoretisch vorgetragenes Anliegen in die Realität um und erfüllen so seine Vision. Sie unterstreichen, dass Geiger als Begründer der modernen akademischen Rabbinerausbildung verstanden werden kann, und betonen das innovative Gepräge seines Wissenschaftsentwurfs. Wenngleich beide Einrichtungen Geigers Vorstellungen nicht in Gänze umsetzen und diese überdies modifizieren, veranschaulichen sie doch, dass Geigers Ansichten auch im 21. Jahrhundert Bedeutung haben. Dort, wo theologische Ausrichtung und religiöse Bezogenheit institutionalisiert sind und die Ausbildung von Rabbinern realisiert wird, können und werden Geigers Ideen demnach implementiert. Dadurch wird deutlich, dass die Analyse seines Wissenschaftsprogramms tatsächlich nicht nur einem historischen Interesse geschuldet ist, sondern auch dem besseren Verständnis der aktuellen akademischen Landschaft dient. Das Abraham Geiger Kolleg und die Hochschule für Jüdische Studien realisieren gleichwohl nicht Geigers Vision einer Fakultätsgründung. Bis heute gibt es keine jüdisch-theologische Fakultät an einer deutschen Universität, sodass Geigers Forderung prinzipiell noch ihrer Erfüllung harrt.21 Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie weiterhin Aktualität hat, ob sie also nach wie vor als „dringendes Bedürfniß unserer Zeit“ (FacI) aufgefasst wird. Eingedenk der heutigen Profilierung des Faches sowie der (innerjüdischen) Distanzierung zu Begriff und Konzeption einer jüdischen Theologie, verwundert es nicht, dass eine jüdischtheologische Fakultät von der Mehrheit nicht mehr als Erfordernis empfunden wird.22 Dennoch ist der Wunsch einer Fakultätsgründung auch im 21. Jahrhundert noch virulent. Das Anliegen, die Jüdischen Studien im universitären Kontext als gleichberechtigte Disziplin strukturell fest zu etablieren und eine größere Organisationseinheit zu schaffen, besteht auch mehr als 150 Jahre nach Geigers Aufruf fort. Eine Berliner Initiative hat beispielsweise eine Fakultät für Jüdische Studien zu gründen gesucht, die „ein gemeinsames Dach für zahlreiche bereits 21

22

In den Jahren 1912 und 1913 engagiert sich der protestantische Theologe Martin Rade (1857– 1940) für die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät an der neu zu gründenden Frankfurter Universität. Und auch Willy Staerk (1866–1946) schaltet sich 1914 in die Diskussion ein. Alle Bestrebungen laufen jedoch ins Leere (vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 335–345). Franz Rosenzweig bezeichnet die Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät an der Frankfurter Universität 1916 als „brennendste[ ] Augenblicksaufgabe, die überhaupt vom antizionistischen deutschen Judentum jetzt und nur jetzt am Kriegsausgang zu lösen ist“ (Rosenzweig, Brief an die Eltern vom 18. September 1916, in: ders. Der Mensch und sein Werk, 227). Rosenzweig stellt weiterhin heraus: „[…] Man braucht die Fakultät um Lehrer zu bilden“ (a. a. O., 263). Gegenläufig dazu verhalten sich neuerdings Bestrebungen der Universität Potsdam und des Abraham Geiger Kollegs, eine jüdisch-theologische Einrichtung an der Universität Potsdam zu errichten (vgl. Mangelsdorf; Voigt, Ausbau der Jüdischen Theologie).

Epilog381 bestehende außeruniversitäre Institute in Berlin und Potsdam bilde[t]“23. Wenngleich sich die inhaltliche Konzeption grundlegend von Geigers 1836 geäußerten Vorstellungen unterscheidet, rekurrierte die Initiative implizit auf sein Gesuch und auch auf die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.24 Trotz der deutlichen konzeptionellen Divergenz wird Geigers Engagement auch im 21. Jahrhundert noch erinnert und gewürdigt. Die Verantwortlichen der Berliner Initiative verwiesen bei der Einwerbung finanzieller Mittel zu Recht auf die durch die Schoah ausgelöschte Tradition der Wissenschaft des Judentums in Deutschland beziehungsweise in Berlin und betonten, dass heutige akademische Einrichtungen die unterbrochene Traditionskette, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und in anderer Gestalt, fortführen müssten, und appellierten dabei auch an die Verantwortung der Bundesregierung.25 Inzwischen ist das Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg eröffnet.26 Die Tradition der Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts wird offensichtlich vor allem für (wissenschafts)politische Diskussionen fruchtbar gemacht, während auf wissenschaftsprogrammatischer Ebene eher eine Distanzierung zu beobachten ist. Auch Geigers Leistungen sind also offenkundig nicht in Vergessenheit geraten. Vor allem sein Engagement, die wissenschaftliche Disziplin in die universitas litterarum zu integrieren, weist noch immer Aktualität auf, wie die Berliner Initiative exemplarisch zeigt. Ausgehend davon stellt sich die Frage, ob sich die Prägekraft von Geigers Entwurf der Wissenschaft des Judentums darin erschöpft oder ob er in den aktuellen Jüdischen Studien insgesamt fortwirkt. Die Ausstrahlungskraft seines Wissenschaftsprogramms auf die Konzeption der Jüdischen Studien im 21. Jahrhundert muss folglich ausgeschärft werden. Dafür muss zunächst die generelle Frage geklärt werden, ob die Jüdischen Studien als Fortführung der Wissenschaft des Judentums aufgefasst werden können. Im Folgenden wird deshalb untersucht, ob die heutige Wissenschaftsdisziplin an die durch die Schoah ausgelöschte Tradition des 19. Jahrhunderts anknüpft, sich ihr verpflichtet fühlt und damit auch Geigers Ideen fortführt. Dass die wissenschaftliche Disziplin heute wie damals unterschiedliche Profilbildungen aufweist, erschwert die Verhältnisbestim23 24 25

26

Burchard, Ein Dach für jüdische Studien, 26. „Die ‚Fakultät für jüdische Studien‘ soll die Fachbereiche Geschichte, Theologie, Cultural Studies, Philosophie, Rabbinische Studien, Soziologie, Holocaust Communication und Israelstudien umfassen“ (ebd.). In dem Zusammenhang rekurriert die Initiative „auch auf einen Beschluss des Bundestages vom November 2008, nach dem der Kampf gegen Antisemitismus verstärkt und jüdisches Leben in Deutschland weiter gefördert werden soll. Mit Haushaltsmitteln des Bundes solle auch der Aufbau jüdischer akademischer Institutionen gefördert werden, heißt es in dem Beschluss“ (ebd.). Vgl. Homepage des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.

382Epilog mung.27 Brenner und Rohrbacher beziehen zur aufgeworfenen Frage dennoch klar Stellung: „Zwischen der Wissenschaft des Judentums und der nach 1945 in Deutschland erfolgten wissenschaftlichen Hinwendung an das Judentum besteht also ungeachtet aller späteren Rückbeziehung auf die großen Vorläufer ein wesensmäßiger Bruch: Was sich seither an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen an einschlägigem Interesse und Engagement entwickelt und verfestigt hat, steht per se nicht in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, sondern sucht auf sie zurückzugreifen, ohne sie fortführen zu können.“28 Es klingt an, dass die Verhältnisbestimmung komplexer Natur ist und es keine klare Traditionslinie gibt. Die heutigen Jüdischen Studien können daher nicht automatisch als Fortsetzung, ja als ‚Nachfahren‘ der Wissenschaft des Judentums verstanden werden, wenngleich es Rückbezüge und Schnittmengen gibt.29 Heil erläutert, warum die Jüdischen Studien nicht als unmittelbare Fortführung der Wissenschaft des Judentums verstanden werden können, indem er herausstellt: „[…] [Es] ist heute allenthalben ein Zögern spürbar, sich direkt in diese Tradition zu stellen; zu sehr europäisches 19. Jahrhundert, irritierend von Hegelschem Weltgeist durchweht, zu stark religiös gebunden und den Themen der vergangenen Epoche verpflichtet, bei näherem Hinsehen schon in den Anfängen mit einem verwirrend vielstimmigen Chor widerstreitender Ziele zwischen purer Wissenschaftlichkeit und festlegendem Gemeindebezug antretend, zugleich zu fern hinter dem Bruch, den die Schoah markiert, und begleitet von den bleibenden Irritationen, die dieser Bruch hinterlässt.“30 Die Jüdischen Studien grenzen sich also von der Wissenschaft des Judentums ab und stehen einer harmonisierenden Parallelisierung ablehnend gegenüber. Eine wissenschaftliche Disziplin wird vom historischen, sozio-kulturellen und ideellen Kontext beeinflusst. Virulente Theoreme und Ideen werden integriert, momentane Fragestellungen aufgegriffen und aktuelle Bedürfnisse zu befriedigen gesucht. Vergleicht man die sozio-kulturelle, die politische, die religiöse und die universitäre Situation im 27 28 29

30

Lehnhardt bezeichnet die heutigen Jüdischen Studien als „ein vielschichtiges Konglomerat von Forschungs- und Lehrinteressen mit disparaten Strukturen“ (Lehnhardt, Judaistik und Theologie, 76). Brenner; Rohrbacher, Vorwort der Herausgeber, 8. Sie stellen weiterhin heraus, „daß es nach dem Holocaust wohl nur um Annäherung an diese Tradition gehen kann“ (ebd.). Vgl. auch: Schlüter, Judaistik an deutschen Universitäten heute, 91. Heil betont, dass die heutigen Jüdischen Studien, auch wenn sie „etwas vom Erbe der Wissenschaft des Judentums in sich tragen“, nicht „einfach deren Fortsetzung wären“ (Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung, 3). Und auch Lehnhardt konstatiert: „Nach dem Untergang der meisten europäischen jüdischen Ausbildungsstätten und Institutionen in der Schoah konnte in Deutschland an die Tradition der Wissenschaft des Judentums nicht angeknüpft werden“ (Lehnhardt, Judaistik und Theologie, 72). Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung, 2 f.

Epilog383 19. Jahrhundert mit derjenigen im beginnenden 21. Jahrhundert, sind die Unterschiede freilich eklatant. Es überrascht daher nicht, dass die aktuellen Entwürfe nicht als unmittelbare Fortsetzung oder Kopie derjenigen des 19. Jahrhunderts gedeutet werden können. Die veränderten kontextuellen Bedingungen, die sich auf die Ausgestaltung der Wissenschaft auswirken, sind nicht allein auf den allgemeinen historischen und geistesgeschichtlichen Wandel, sondern vor allem auf die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten zurückzuführen. Die Schoah erschüttert das Judentum in unbeschreiblichem Maße, prägt das Selbst- und Fremdverständnis einschneidend, erfordert eine radikale Neuorientierung und -formulierung der jüdischen Identität und wirkt sich auch auf die Profilierung und Ausgestaltung der universitären Disziplin aus. Eine nahtlose Anknüpfung an die Tradition der Wissenschaft des Judentums ist angesichts der sich grundlegend veränderten Voraussetzungen nicht möglich. Und auch die Gründung des Staates Israels ist sowohl für das jüdische Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung des Judentums als auch für die Konzeption der wissenschaftlichen Disziplin von Bedeutung und begründet die Divergenz zwischen damals und heute mit. Hinzukommt, dass sich die institutionelle Situation maßgeblich geändert, ja verbessert hat. Die Jüdischen Studien haben inzwischen Eingang in die universitas litterarum gefunden, werden also staatlicherseits und gesellschaftlich anerkannt. Überdies rufen sie großes gesellschaftliches und akademisches Interesse hervor.31 Folglich können die Ideen des 19. Jahrhunderts und damit auch Geigers Vorstellungen nicht ohne weiteres in aktuelle akademische Kontexte überführt werden. Dass die Tradition der Wissenschaft des Judentums nicht einfach fortgesetzt werden kann, hängt primär also nicht mit der Qualität der Entwürfe der Wissenschaft des Judentums zusammen. Das heißt freilich nicht, dass die Wissenschaftsprogramme des 19. Jahrhunderts bar jeglicher Mängel sind. Einige Elemente sind aus heutiger Perspektive gewiss kritisch zu betrachten und sperren sich ungeachtet der historischen Entwicklung gegen eine Weiterführung im 21. Jahrhundert. Insgesamt stellt sich der Eindruck ein, dass sich die heutigen Jüdischen Studien ihrer Tradition bewusst sind und sich zum Teil auch auf diese berufen, um ihre Legitimation zu begründen.32 Gleichwohl verstehen sie sich 31

32

Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 32f, 70–72. Heil stellt dazu heraus, dass die „Disziplin Jüdische Studien vom Rand zunehmend ins Zentrum universitärer Disziplinen rückt“ (Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung, 21). Brenner und Rohrbacher bemerken treffend: „Es liegt eine bittere Ironie darin, daß judaistische Wissenschaft in Deutschland erst nach der Vertreibung und Ermordung der deutschen und europäischen Judenheit zur anerkannten akademischen Disziplin geworden ist“ (Brenner; Rohrbacher, Vorwort der Herausgeber, 7). So konstatiert Schäfer beispielsweise: „Die entscheidende und bis heute weiterwirkende Wurzel der Judaistik (nicht nur in Deutschland) ist die Wissenschaft des Judentums in

384Epilog nicht als direkte Fortsetzung dieser Tradition, sondern prägen ihr eigenes Profil aus. Die aktuellste Analyse der Situation der Jüdischen Studien liegt in Form der Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen des Wissenschaftsrates, dem wichtigsten wissenschaftspolitischen Beratungsgremium in Deutschland, vom Januar 2010 vor. Das Papier des Wissenschaftsrates hat die Diskussion um das Selbstverständnis der Jüdischen Studien und damit indirekt auch um die Verhältnisbestimmung zur Wissenschaft des Judentums und zu den christlichen Theologien neu angestoßen.33 Vergleicht man die Entwürfe der Wissenschaft des Judentums mit den heutigen der Jüdischen Studien, was hier en détail nicht geschehen kann, sind die Divergenzen vorherrschend. Infolgedessen zeigen sich auch zwischen Geigers Wissenschaftsprogramm und den aktuellen Konzepte Unterschiede, die darauf hindeuten, dass Geigers Prägekraft auf die Jüdischen Studien eingeschränkt ist. Die wohl größte Differenz wird durch folgende Äußerung herausgestellt: „Während die Wissenschaft des Judentums eine Disziplin von Juden für Juden war, die unter anderem auch der Bewahrung der eigenen Identität diente, wird in der heutigen Judaistik Wert darauf gelegt, das Judentum von einem neutralen Standpunkt aus zu erforschen. […] Judaistik und Jüdische Studien sind säkulare Disziplinen […].“34 Grundlegend unterscheiden sich also die wissenschaftlichen Subjekte voneinander, was die traurige Konsequenz der Schoah ist. Jüdische Studien werden mehrheitlich von nicht-jüdischen Dozenten gelehrt und erforscht und von nicht-jüdischen Studenten studiert, sodass die jüdische Binnenperspektive fehlt. Vor allem Geiger spricht sich für einen binnenperspektivisch-traditionsgeleiteten und bekenntnisgebundenen Zugang zum Judentum aus und konzipiert die Wissenschaft des Judentums ergo als Disziplin von Juden für Juden. Im unmittelbaren Zusammenhang dazu schreibt Geiger der Wissenschaft des Judentums existenzielle Bedeutung zu, insofern er in ihr eine identitätsstiftende und selbstvergewissernde Funktion sieht. Heute sind die existenzielle Bedeutung und die Subjektivität der wissenschaftlichen Disziplin aufgrund der Mehrzahl nicht-jüdischer Dozenten und Studenten und der nur kleinen, aber wachsenden tragenden jüdischen Schicht in der Gesellschaft stark abgeschwächt. Daraus folgt auch, dass die Entwürfe in der Regel keine ideologischen Implikationen enthalten und keine

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der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts […]“ (Schäfer, Judaistik – jüdische Wissenschaft in Deutschland heute, 200). Vgl. auch: Goodman, The Nature of Jewish Studies, 4; Stemberger, Art. Judaistik, 294. Vgl. zum Beispiel: Veltri, Vielfalt oder neue religiöse Regulierung? Homolka; Bomhoff, „Durch Wissen zum Glauben“, 171.

Epilog385 religiöse Positionierung zum Ausdruck bringen.35 Die Jüdischen Studien sind hauptsächlich im universitären Fächerkanon verankert, verstehen sich als säkulare Disziplin, weisen keine Bekenntnisgebundenheit auf und stehen in keiner produktiven Beziehung zu den religiösen Strömungen des deutschen Judentums. Die wenigsten Institute haben religiöse Schwerpunktsetzungen, stattdessen legen sie einen universalen Wissenschaftsbegriff zugrunde, der sich nicht in der jüdischen Religion erschöpft, nicht bekenntnisgebunden ist und über theologische Fragestellungen hinausgeht.36 Die Jüdischen Studien fassen das Judentum also offenkundig nicht nur als religiöse Größe auf und verstehen sich überdies nicht als jüdische Theologie. Sie verfolgen hingegen einen breiten kulturwissenschaftlichen Ansatz, der die jüdische Theologie als einen Zweig unter vielen versteht. Des Weiteren ist eine Formalisierung im Wissenschaftsverständnis erkennbar. Das heißt, die Jüdischen Studien weisen in der Regel keine praktische Abzweckung auf, sind also viel stärker dem Selbstzweck verpflichtet. Und so ist auch der für Geiger konstitutive Nexus zwischen Theorie und Praxis heute größtenteils nicht ausgeprägt. Geigers damit zusammenhängende Hochschätzung der praktischen Funktionalität der Wissenschaft des Judentums in Form der akademischen Rabbinerausbildung wird von den meisten heutigen Fachvertretern ebenfalls nicht mitgetragen. Sie wissen sich einem umfassenden Bildungsauftrag verpflichtet und lehnen die Reduzierung der Jüdischen Studien als eine Professionswis35

36

Dementsprechend stellt Lehnhardt heraus: „Doch sollte sich Judaistik keiner Weltanschauung verpflichtet wissen, sondern allein ihrem Gegenstand: dem Judentum, d. h. seiner Sprache, Kultur, Geschichte und Religion in ihren verschiedenen Ausprägungen“ (Lehnhardt, Judaistik und Theologie, 77). Vor dem Hintergrund dieses Befundes wird von Fachvertretern gegenüber den Empfehlungen des Wissenschaftsrates und der allgemeinen Wahrnehmung der Jüdischen Studien Kritik geäußert. Giuseppe Veltri, Vorsitzender des Verbandes der Judaisten in Deutschland, konstatiert beispielsweise: „Die Empfehlungen vermitteln den Eindruck, dass hier die Judaistik eindeutig und immer wieder auf das religiöse Phänomen beschränkt wird. Der Wissenschaftsrat versteht das Judentum faktisch (beinahe) ausschließlich als Religion, indem er andere Erscheinungen kulturwissenschaftlicher Bedeutung kaum beachtet oder ausgeklammert. Dies beruht auf einem christlichen Irrtum, den es heftig zu kritisieren gilt“ (Veltri, Vielfalt oder neue religiöse Regulierung?, (6)). Gewiss kann die durch den Wissenschaftsrat vollzogene Kategorisierung der Jüdischen Studien als „religionsbezogene[ ] Wissenschaft[ ]“ und das methodische Vorgehen, „diejenigen Teile der […] Judaistik, die sich auf die […] jüdische Religion beziehen“ zu analysieren, im Anbetracht des Selbstverständnisses der Disziplin kritisiert werden (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 5). Entgegen Veltris Einschätzung kann jedoch bemerkt werden, dass der Wissenschaftsrat die aktuelle Ausprägung der Jüdischen Studien in seinen Empfehlungen durchaus differenziert darstellt und explizit betont, dass sie mehr als die jüdische Religion umfassen (vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 31, 70).

386Epilog senschaft aufs Schärfste ab.37 Diese dienen der „Erforschung und Darstellung des Judentums in allen seinen geschichtlich gewordenen Erscheinungsformen“38 und thematisieren laut Wissenschaftsrat die „Religions-, Kultur-, Philosophie- und Literaturgeschichte sowie die allgemeine Geschichte des Judentums von seinen Anfängen bis zur Gegenwart […] sowie die hebräische Philologie (Hebraistik)“39. Dies erklärt, warum Geiger nur selten in wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen der Jüdischen Studien erwähnt wird.40 Die Prägekraft von Geigers Wissenschaftsprogramm scheint im 21. Jahrhundert demnach auf religiöse Ausbildungsstätten begrenzt zu sein, da dort die jüdische Religion curricular verankert ist und die institutionalisierte Wissenschaft den Charakter einer Professionswissenschaft inne hat. Vor dem Hintergrund, dass die Jüdischen Studien heute zu Reformen herausgefordert sind, stellt sich trotz der aufgezeigten Divergenzen die Frage, ob Geigers Vorstellungen hierfür nicht fruchtbar gemacht werden könnten, ob aus seinen Ideen also nicht doch Impulse und Perspektiven für die Zukunft abgeleitet werden könnten.41 In den Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen des Wissenschaftsrates heißt es zunächst recht allgemein: „Der Wissenschaftsrat empfiehlt […] eine Stärkung der Judaistik/Jüdischen Studien […].“42 Konkreter wird schließlich auf den Reformbedarf hingewiesen und unter anderem folgende Perspektive aufgezeigt: „Für den Bereich der Judaistik/Jüdische Studien empfiehlt der Wissenschaftsrat, die noch bestehenden institutionellen Abhängigkeiten der Judaistik von den Evangelischen Fakultäten aufzulösen und Institute mit dem Ziel zu schaffen, die weitere Entwicklung der Judaistik/Jüdischen Studien 37 38 39

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Vgl. zum Beispiel: Bodenheimer, „Wann haben wir die ersten Rabbiner?“. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 31. Ebd. Der Wissenschaftsrat konstatiert weiterhin, dass „die Forschungsinteressen weit über den Bereich der jüdischen Religion hinausreichen“. Zudem stellt er heraus: „Eine Bindung an die jüdische Religion und die jüdischen Gemeinden spielt nur dort eine Rolle, wo jüdische Religionslehrer und -lehrerinnen, Gemeindepersonal und Rabbiner ausgebildet werde […]“ (a. a. O., 70f). Heil etwa skizziert die Entwicklung der Jüdischen Studien ausgehend von der Entstehung der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert bis hin zum 21. Jahrhundert, erwähnt Geiger jedoch nicht (vgl. Heil, Jüdische Studien als Disziplin. Zur Einleitung). Schäfer nennt Geiger zwar in der Aufzählung der Gründungsväter der Wissenschaft des Judentums, geht jedoch auch nicht weiter auf ihn ein (vgl. Schäfer, Judaistik – jüdische Wissenschaft in Deutschland heute, 200). Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 73. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 7.

Epilog387 an diesen Standorten zu unterstützen und eigenständige Studiengänge einrichten zu können.“43 Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die hier en détail nicht entfaltet werden sollen, beziehen sich primär also auf strukturelle Reformen, streifen rein konzeptionelle Veränderungen hingegen nur am Rande. Aus diesem Grund können Geigers Vorstellungen unabhängig von ihrem konkreten Inhalt nur sehr eingeschränkt herangezogen werden. Mit den Fragen, die der Wissenschaftsrat behandelt, setzt Geiger sich größtenteils nicht auseinander, was vor allem mit der noch nicht erfolgten Institutionalisierung zusammenhängt. Der Wissenschaftsrat spricht sich ausdrücklich dafür aus, die Jüdischen Studien in den deutschen Universitäten zu verankern, lehnt die Neugründung eigenständiger Einrichtungen daher ab und stimmt darin vollkommen mit Geiger überein.44 Der Wissenschaftsrat stellt ferner heraus, dass die Heidelberger Hochschule und das Potsdamer Kolleg die „Ausbildung des jüdischen Kultus- und Lehrpersonals in ausreichendem Umfange in Deutschland sicherstellen“45. Daraus folgt, dass es keiner weiteren Institutionen bedarf, die sich der Ausbildung gemeindlichen Personals widmen. Geigers Ideen sind in unterschiedlichem Ausmaß in diesen beiden Einrichtungen bereits verankert und können ihr Potential für die Ausbildung von Praktikern, das sie offenkundig implizieren und das ihnen auch heute noch zugesprochen wird, darüber hinaus nicht weiter ausspielen. Häufig wird die Ausbildungsfunktion der Wissenschaft des Judentums bei Geiger auf die Ausbildung von Rabbinern enggeführt, was aber nicht seiner eigenen Intention entspricht. Dadurch entsteht der falsche Eindruck einer ausschließlich auf Praktiker zentrierten Ausbildung, die für heutige Bedürfnisse nicht weiter fruchtbar gemacht werden kann. Da sich Geiger jedoch stets auch für die (Aus)Bildung wissenschaftlichen Nachwuchses stark macht, könnte sein Entwurf prinzipiell auch hierfür angewendet werden. Denn auch die aktuelle Disziplin dient nicht ausschließlich dem Selbstzweck, sondern bringt immer auch qualifizierte Wissenschaftler hervor, die dann in unterschiedlichen Kontexten tätig sind. Der knappe 43

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Ebd. Weiterhin heißt es in dem Papier des Wissenschaftsrates: „Da an den meisten deutschen Hochschulen die Judaistik nicht in der gesamten Breite ihrer Teildisziplinen vertreten sein kann, sind unterschiedliche Schwerpunktbildungen bei der Ausgestaltung der Studiengänge zu empfehlen, um Überfrachtungen der Bachelor- und Masterstudiengänge zu vermeiden und die internationale Anschlussfähigkeit der Curricula sicherzustellen. […] Gegenüber den bestehenden Verhältnissen bedeutet eine solche Empfehlung zur Profilierung der judaistischen Lehrangebote weithin eine Neugestaltung, die mittelfristig zu einer Konzentration der Judaistik auf eine geringere Zahl an Standorten führen kann“ (a. a. O., 73). In den Empfehlungen heißt es: „Daher ist der Wissenschaftsrat zu der Überzeugung gelangt, dass der zentrale Ort der christlichen und nichtchristlichen Theologien das staatliche Hochschulsystem darstellt“ (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 59). A. a. O., 73.

388Epilog Vergleich der heutigen Disziplin mit Geigers Wissenschaftsprogramm hat jedoch gezeigt, dass die Divergenzen zu groß sind, als dass diese prinzipiell passende Perspektive aufgenommen und fortgeführt werden könnte. Geigers Wissenschaftsprogramm kann folglich vor allem aufgrund seines theologischen Gepräges nicht weiter für die heutigen und zukünftigen Jüdischen Studien fruchtbar gemacht werden, kann also nicht stärker in die akademische Landschaft integriert werden. Die Profile der wissenschaftlichen Disziplinen und die Situation des deutschen Judentums sind zu verschieden, als dass Geigers Ideen hier noch als kompatibel und weiter wirkend identifiziert werden können. Heute wie damals sind die spezifischen Merkmale seines Wissenschaftsbegriffs damit auch die umstrittensten. Das darf die Qualität seines Konzeptes eingedenk aller kritischen Anfragen jedoch nicht in Abrede stellen. Denn es muss berücksichtigt werden, dass auch andere Wissenschaftsprogrammatiker des 19. Jahrhunderts auf die heutige Verfasstheit der wissenschaftlichen Disziplin nur eine begrenzte Prägekraft haben.46 Die Jüdischen Studien können generell nicht als unmittelbare Fortführung der Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts aufgefasst werden. Einzig in der Diskussion um den Theologiebegriff, die vor allem im Kontext des interreligiösen Dialogs von Relevanz ist, könnte erneut auf Geiger abgehoben werden, wie es der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen auch tut. Aufgrund der religiösen Pluralität der Gesellschaft und deren Abbildung in der universitären Landschaft gibt es Gespräche über den Theologiebegriff, der traditionell christlich konnotiert ist. Eingedenk der damit verbundenen Problematik wird über eine jüdische Theologie, eine islamische Theologie und über einen „religionsübergreifende[n] Begriff von Theologie“47 debattiert. Der Wissenschaftsrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Geiger den Begriff „jüdische Theologie“ in die jüdische Wissenschaftsgeschichte eingeführt und ausgestaltet habe,48 stellt gleichwohl aber auch heraus: „Die Verwendung des Begriffs ‚Jüdische Theologie‘ ist bis heute im Kontext der jüdischen Tradition aus sachlichen Gründen problematisch. Denn ‚Jüdische Theologie‘ hat sich wesentlich in der Diaspora entwickelt. Von daher erklärt sich, dass ‚Jüdische Theologie‘ von Anfang an der argumentativen Selbstbehauptung diente und die in der Theologie verwendete Terminologie in aller Regel der jeweiligen Umgebung entlehnt worden

46 47 48

Auf protestantischer Seite ist ähnliches zu beobachten. So hat sich auch Schleiermachers in der Kurzen Darstellung entfaltetes Theologieverständnis nicht durchgesetzt. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 73. Vgl. Mendes-Flohr, Jewish Philosophy and Theology, 764.

Epilog389 ist.“49 Die sachliche Brisanz des Terminus spiegelt sich auch darin wider, dass sich der von Geiger eingeführte Begriff „jüdische Theologie“ in der jüdischen Wissenschaftsgeschichte nicht hat durchsetzen können.50 Auch Geiger selbst gibt ihn am Ende seines Lebens auf und greift auf die Bezeichnung „Wissenschaft des Judentums“ zurück. Dass er einen ursprünglich christlich konnotierten Begriff für sein Wissenschaftsprogramm nutzt, sich überdies noch an einem christlichen Entwurf orientiert, bringt ihm scharfe Kritik ein und erklärt die Distanzierung vieler seiner Zeitgenossen und Nachfahren. Der Theologiebegriff wird streng genommen weder dem Selbstverständnis der jüdischen Tradition noch dem der Jüdischen Studien gerecht. Das heißt, dass sowohl Juden als auch Fachvertreter der Jüdischen Studien Vorbehalte ihm gegenüber haben. Letztere betonen beständig, dass sich die Jüdischen Studien nicht auf die jüdische Theologie reduzieren lassen und diese nur einen Bereich unter vielen repräsentiere. Die heutige kulturhistorisch-philologische Ausrichtung der Disziplin zeigt folglich die Grenzen des (Geigerschen) Theologiebegriffs auf. Eingedenk dessen und der sicherlich optimierbaren Gestalt sollte Geigers Konzept in die heutigen Reflexionen zum Theologiebegriff einbezogen werden, da er den Terminus „jüdische Theologie“ als Erster profiliert und sich als Jude überhaupt mit dem Theologiebegriff auseinandersetzt.51 Geiger prägt aus seiner jüdischen Perspektive einen allgemeinen Begriff für Theologie aus, der über die eigene religiöse und konfessionelle Tradition hinausgeht und auch für andere Religionen spezifiziert werden kann. Gerade deshalb könnte er für den interreligiösen Dialog beziehungsweise für die dort verortete Diskussion um einen Theologiebegriff stark gemacht werden. Vielleicht könnte heute im Rückgriff auf Geiger ein formaler Theologiebegriff etabliert werden, der die akademische Selbstreflexion in Judentum, Islam und Christentum, die nicht von außen an die religiösen Traditionen herangetragen, sondern binnenperspektivisch vollzogen wird, umgreift und die Vorbehalte in Islam und Judentum hinter sich lässt. Die Distanzierung der Fachvertreter der Jüdischen Studien wird auch solch ein Theologiebegriff wohl nicht aufheben können, da er immer nur einen Zweig und nicht die gesamte Wissenschaft beschreibt. Geigers Theologiebegriff hat demnach zwar Potential für aktuelle Debatten, seiner Fruchtbarmachung für heutige Kontexte sind jedoch auch Grenzen gesetzt. Während die direkte Implementierung Geigerscher Ideen also mitunter problematisch erscheint, kann sein generelles Wirken als innovativ und weitsichtig 49 50 51

Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 54. Vgl. auch: Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 90; Novak, Jewish Theology, 311. Vgl. Elbogen, Ein Jahrhundert Wissenschaft des Judentums, 90. Daher verwundert es, dass etwa Novak Geiger in seinen Reflexionen über die jüdische Theologie überhaupt nicht erwähnt (vgl. Novak, Jewish Theology).

390Epilog bezeichnet werden. So sucht er einen interdisziplinären Austausch im akademischen Kontext, also ein Gespräch auf der Ebene der Wissenschaften, anzubahnen, was als modern und beispielhaft einzustufen ist. In seinen gelehrten Untersuchungen zeigt er sich offen und interessiert gegenüber Islam und Christentum, wie seine Dissertation Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? und sein opus magnum Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums eindrucksvoll unter Beweis stellen. Freilich muss seine dahinter stehende Motivation berücksichtigt werden, also seine Intention, das Judentum als die ursprüngliche und originelle Religion zu präsentieren, welche die beiden anderen Religionen aus sich hervorbringt. Ungeachtet dessen ist Geiger bestrebt, Querverbindungen und wechselseitige Einflüsse zwischen den drei Religionen herauszuarbeiten sowie einen interdisziplinären Forschungsdiskurs zu etablieren, der auch heute in Universität und Gesellschaft sachlich erforderlich und erstrebenswert ist. Abschließend gilt es, eine zusammenfassende Würdigung der Leistung Geigers zu formulieren: Geiger verkörpert den Fortschritt und die Liberalität innerhalb des Judentums wie kaum ein anderer. Er etabliert ein neues Verständnis des Judentums, prägt eine innovative Form von Wissenschaft aus und markiert damit den Beginn einer neuen Zeit. Geiger steht programmatisch für die Modernisierung, die Akademisierung und die Professionalisierung der Wissenschaft des Judentums. Da er sich als einer der ersten mit großer Leidenschaft um die Konzeptionalisierung und die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums bemüht, kann er als Vordenker bezeichnet werden. Mit seinem Wissenschaftsverständnis betritt er Neuland, konzipiert es also nahezu aus dem Nichts, da er auf so gut wie keine innerjüdischen Vorbilder zurückgreifen kann. Seine Arbeit ist deshalb als Pionierleistung einzustufen. Es gelingt ihm, die historisch-theologische Selbstbeschreibung des Judentums auf eine wissenschaftliche Ebene zu heben, den Wissenschaftsanspruch des Judentums plausibel zu machen und die Wissenschaft des Judentums als eine anerkennenswerte wissenschaftliche Disziplin zu konzipieren. Zudem realisiert er die konstruktive Verschränkung von jüdischer Reformbewegung und Wissenschaft des Judentums und stellt die produktive Fortentwicklung des Judentums auf eine wissenschaftliche Basis. Er sucht die als misslich empfundene Lage des deutschen Judentums konstruktiv zu verbessern und etabliert die Wissenschaft des Judentums als kreatives In­strument, um außerjüdische Anerkennung und Gleichberechtigung sowie innerjüdische Orientierung und Identifikation zu stiften. Zudem führt er den Begriff „jüdische Theologie“ in die jüdische Wissenschaftsgeschichte ein und profiliert die jüdische Theologie, wenn auch in optimierbarer Weise. Er nähert die jüdische Theologie an die christliche Theologie an, um deren Vorherrschaft zu durchbrechen und die jüdische Theologie im akademischen Fächerkanon zu etablieren.

Epilog391 Geiger steht damit für ein liberales Judentum, welches an der allgemeinen Entwicklung der Geistesgeschichte partizipiert, sich gegenüber anderen ideellen Größen öffnet und einen gemeinsamen intellektuellen Diskurs anstrebt. Obwohl er immer wieder auch heftig gegen das Christentum und seine Theologie polemisiert, liegt ihm der interdisziplinäre akademische Dialog am Herzen. Geiger trachtet nach einem wissenschaftlichen Austausch und schafft auf jüdischer Seite die entscheidenden Voraussetzungen dafür. Neben dem staatlich legitimierten Ausschluss der Wissenschaft des Judentums aus dem universitären Fächerkanon führt unter anderem auch das christliche Desinteresse dazu, dass solch ein interdisziplinärer Dialog auf Universitätsebene eine Vision bleibt. Ungeachtet der berechtigen Einwände gegen Geigers Entwurf muss positiv gewürdigt werden, dass er ein Programm der Wissenschaft des Judentums entwickelt und damit deren Profilierung und Etablierung anstrengt. Geiger setzt entscheidende Wegmarken, definiert Standards und stellt die Weichen für eine positive Entfaltung der Wissenschaft des Judentums sowie des Judentums insgesamt. Mit den anderen Protagonisten des 19. Jahrhunderts läutet Geiger eine neue Zeit ein und stößt eine entscheidende Entwicklung innerhalb des Judentums an, die durch die Schoah jäh unterbrochen und beendet worden ist. Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und ihre fatalen Folgen für das Judentum konnte Geiger nicht antizipieren. Dass sein Wissenschaftsverständnis nicht ohne weiteres in einen vollkommenen veränderten Kontext implementiert werden kann, ist selbstverständlich und stellt dessen Qualität nicht in Frage. Ohnehin darf die Bedeutung seines Entwurfes nicht nur aus dessen Prägekraft auf die heutige Zeit bemessen werden. Er muss auch als wertvolles Zeugnis seiner Zeit wahrgenommen werden. Unabhängig von der zeitüberdauernden Wirksamkeit und Effizienz verdient er also eine intensive Beschäftigung und Würdigung. Gerade weil Geigers Wissenschaftsverständnis als Brennpunkt seines Selbstverständnisses fungiert, enthält es viele interessante Perspektiven und gibt einen umfassenden Einblick in die Situation des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert. Es vermittelt in eindrücklicher Weise den Geist der Zeit und legt Denk- und Argumentationsstrukturen offen. Die Analyse seines Wissenschaftskonzepts lohnt sich demnach auch aus rein historischem Interesse und ist nicht nur einem Gegenwartsinteresse zu verdanken. Idealiter gehen beide Motivationshinsichten Hand in Hand. Freilich können in Geigers Wissenschaftsprogramm Schwachstellen identifiziert werden und natürlich hätten einige Aspekte ausgeschärft und optimiert werden können. Die fehlende Systematik und Ganzheitsperspektive sowie die unpräzise Terminologie sind einem unmittelbaren Zugang heute wie damals abträglich. Insgesamt handelt es sich aber um eine wegweisende und anerkennenswerte Leistung, die bis ins 21. Jahrhundert ausstrahlt und Geiger auch als Wissenschaftsprogrammatiker ausweist.

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404Literaturverzeichnis Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 6, hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin; New York 1998, S. 317–446. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hrsg. v. Walter Sachs, Berlin; New York 1987 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 4). Wellhausen, Julius, Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874. Wolf, Immanuel, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 1 (1823), H. 1, S. 1–24. Zunz, Leopold, Etwas über die rabbinische Literatur (1818), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Curatorium der „Zunzstiftung“, Berlin 1875, S. 1–31. Zunz, Leopold, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt. Ein Beitrag zur Alterthumskunde und biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte (1832), Nachdruck der Ausgabe Frankfurt am Main 2 1892, Hildesheim; New York 1966. Zunz, Leopold, Die jüdische Literatur (1845), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Curatorium der „Zunzstiftung“, Berlin 1875, S. 41–59. Zunz, Leopold, Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845.

II. Sekundärliteratur Albrecht, Christian, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin; New York 1994 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 15). Albrecht, Christian, Schleiermachers Predigtlehre. Eine Skizze vor dem Hintergrund seines philosophisch-theologischen Gesamtsystems, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, hrsg. v. dems.; Martin Weeber, Tübingen 2002, S. 93–119. Asche, Matthias, Art. Fakultät, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, hrsg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart; Weimar 2006, Sp. 781–783. Awerbuch, Marianne, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, in: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen, hrsg. v. Reimer Hansen; Wolfgang Ribbe, Berlin; New

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Beiträge zur rationalen Theologie Begründet von Falk Wagner †. Fortgeführt von Ulrich Barth und Jörg Dierken.

Band 1

Ewald Stübinger: Die Theologie Carl Daubs als Kritik der positionellen Theologie. 1993.

Band 2

Christian Henning: Der Faden der Ariadne. Eine theologische Studie zu Adorno. 1993.

Band 3

Eva-Maria Rupprecht: Kritikvergessene Spekulation. Das Religions- und Theologieverständnis der spekulativen Theologie Ph. K. Marheinekes. 1993.

Band 4

Manfred Müller-Simon: Von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts. Die Verbindung von juristischen und theologischen Themen im Werk von Hans Dombois. 1994.

Band 5

Michael Murrmann-Kahl: Strukturprobleme moderner Exegese. Eine Analyse von Rudolf Bultmanns und Leonhard Goppelts "Theologie des Neuen Testaments". 1995.

Band 6

Alexander von Keyserlingk: Die Erhebung zum Unendlichen. Eine Untersuchung zu den spekulativ-logischen Voraussetzungen der Hegelschen Religionsphilosophie. 1995.

Band 7

Falk Wagner: Religion und Gottesgedanke. Philosophisch-theologische Beiträge zur Kritik und Begründung der Religion. 1996.

Band 8

Richard Ziegert: Kirche ohne Bildung. Die Akademiefrage als Paradigma der Bildungsdiskussion im Kirchenprotestantismus des 20. Jahrhunderts. 1997. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage 1998.

Band 9

Alfred Walter: Friede als Streit der Freiheit mit sich selbst. Systematisch-ideengeschichtliche Untersuchungen zur normativen Grundlegung des Friedensbegriffs in Friedenspädagogik, Friedensforschung und Theologie. 1998.

Band 10

Martin Carmann: Mensch: Moral – Religion. Kant-Lektüren aus der polykontexturalen Gesellschaft. 1999.

Band 11

Matthias Neugebauer: Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus. 2002.

Band 12

Tomáš Voèka: Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule. 2003.

Band 13

Olaf Reinmuth: Religion und Spekulation. A.E. Biedermann (1819–1885). Entstehung und Gestaltung seines Einwurfs im Horizont der zeitgenössischen Diskussion. 2004.

Band 14

Anton Knuth: Der Protestantismus als moderne Religion. Historisch-systematische Rekonstruktion der religionsphilosophischen Theologie Kurt Leeses (1887–1965). 2005.

Band 15

Christian Danz / Jörg Dierken / Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie. 2005.

Band 16

Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth. Herausgegeben von Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener und Arnulf von Scheliha. 2005.

Band 17

Christine Pflüger: Georg Simmels Religionstheorie in ihren werk- und theologiegeschichtlichen Bezügen. 2007.

Band 18

Christian Wollmann: Versöhnung in Freiheit und Ordnung. Reflexionen zu einem sozialethischen Handlungsfeld in protestantischer Perspektive. 2007.

Band 19

Mareile Lasogga: Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne. 2009.

Band 20

Imke Stallmann: Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff. 2013.

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