Vom Nutzen der Poesie: Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie [1. Aufl.] 9783839407707

Welche alltagsweltliche Relevanz haben Gedichte für erwachsene Leserinnen und Leser? Im Mittelpunkt dieses Buches steht

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Vom Nutzen der Poesie: Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie [1. Aufl.]
 9783839407707

Table of contents :
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INHALT
EINLEITUNG
TEIL I. THEORETISCHER HINTERGRUND UND HINFÜHRUNG ZUR FRAGESTELLUNG
1 Empirische Gedichtrezeptionsforschung
1.1 Stand der Forschung
1.2 Implikationen fiir die Studie
2 Biografische Leseforschung
2.1 Stand der Forschung
2.2 lmplikationen fiir die Studie
3 Forschung zur kommunikativen Aneignung von Medien
3.1 Stand der Forschung
3.2 lmplikationen ftir die Studie
4 Forschung zum Sprechen über Kunst
4.1 Stand der Forschung
4.2 lmplikationen ftir die Studie
5 Fragestellung und Design der Studie
TEIL II. METHODE UND DOKUMENTATION DES VORGEHENS
1 Erhebungsmethode
1.1 Autobiografisches Narratives Interview
1.2 Methode des "Lauten Denkens"
2 Auswertungsmethode
2.1 A Ii gemeine Grundlagen der Textanalyse
2.2 Methoden der Erzähl- und Konversationsanalyse
2.3 Positionierungsanalyse
2.4 Fallübergreifende Analyse
3 Dokumentation des Forschungsvorgehens
3.1 Erhebung der Interviews
3.2 Auswertung der Interviews
3.3 Methodenausblick
TEIL III. EMPIRIE
1 Die zwei Phasen des Interviews
1.1 Autobiografische Erzählung
1.2 Sprechen über ein vorgelegtes Gedicht
2 Die Bedeutung von Gedichten in unterschiedlichen sozialen Kontexten: Positionierungen im Umgang mit Gedichten
2.1 Gedichte im Kontext persönlicher Beziehungen: konkrete Bezugspersonen als Gegenüber
2.2 Gedichte im Kontext weiterer sozialer Bezüge: das soziale Umfeld als Gegenüber
2.3 Gedichte im Kontext der Beziehung zum Dichter: der Dichter als Gegenüber
2.4 Gedichte vor dem Horizont des Selbstbezuges: das Gedicht als Gegenüber
3 Die aktuelle Gesprächssituation: Sprechen über Gedichte und durch Gedichte
3.1 Selbstpositionierung im Sprechen über Gedichte
3.2 Das Sprechen über Gedichte im Spannungsfeld zwischen Subjektivierung und Verallgemeinerung
3.3 (Re-)Zitieren: das wörtliche Einbinden von Gedichten
TEIL IV. DISKUSSION UND AUSBLICK: DER UMGANG MIT GEDICHTEN - MERKMALE EINER KULTURELLEN PRAXIS
1 Die Vielfalt einer kulturellen Praxis
1.1 Darstellung der Ergebnisse
1.2 Die Vielfalt einer kulturellen Praxis: Diskussion der Ergebnisse
2 Der Umgang mit Gedichten als Prozess der Selbstverhandlung und Lebensbewältigung
2.1 Darstellung der Ergebnisse
2.2 Der Umgang mit Gedichten als Prozess der Selbstverhandlung und Lebensbewältigung: Diskussion der Ergebnisse
3 Sprechen über und durch Gedichte. Merkmale einer Kommunikation
3.1 Darstellung der Ergebnisse
3.2 Sprechen über und durch Gedichte. Merkmale einer Kommunikation. Diskussion der Ergebnisse
LITERATUR
ANHANG
A Interviewverlauf
B Interviewpartner
C Transkriptionsregeln
D Übersicht der Belegstellen

Citation preview

Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie

Christina Burbaum (Dipl. Psych., Dr. phil.) arbeitet klinisch im Konsildienst und wissenschaftlich als Gesprächsanalytikerin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik in Freiburg.

(HRISTINA BURBAUM

Vom Nutzen der Poesie. Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie

[transcript]

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dekan: Prof Dr. Hans Spada. Erstgutachter: Prof Dr. Michael Charlton. Zweigutachterin: Prof Dr. Gabriele Lucius-Hoene. Promotionsbeschluss vom 11. August 2006.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

©

2007

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Photocase, >>Lesen im Hochformat.

Feinanalyse: Den Kontext dieser Textstelle bildet die Er::.ählung der eigenen Kindheit in einer materiell wie auch kulturell ärmlichen Umgebung. Die Er::.ählerin schildert sich selbst damals als sehr einsam. Nachdem sie die in der Schule gelernten Gedichte bereits als Lichtblick in dieser ansonsten eher düsteren Welt beschrieben hat11 , wird mm auch die Freundin als nicht selbstverständliche Bezugsperson eingeführt (Zeile l-2). Die Erzählerirr verortet den Begirm der Freundschaft zeitlich ("um dreizehn rum") und im Kontext der bereits erwähnten Schule. Mit der Formulierung "sie war auch an Gedichten interessiert" kennzeichnet sie die Freundin vor dem Hintergrund der bisherigen Erzählung bereits als besonders und ebenso wie sich selbst als eine Person, die aus dem übrigen Umfeld herausgehoben ist. Diese Sonderposition wird nun durch die mit der Extremformulierung ("in allen Pausen") charal(terisierten Ausschließlichkeit der gemeinsamen Tätigkeit unterstrichen. Vor dem Hintergrund, dass mit Schulpausen oft eher Bilder von chaotischem Spielen, Aktivitäten mit vielen Kindern und Lärm verbunden sind, hebt sich das gemeinsame Gedichtlesen weiterhin ab. Es entsteht das Bild einer eigenen Welt, in der die beiden Mädchen zusammen sind. Die beiden Personen (die Freundin und sie selbst) tauchen in den Sätzen Zeile 6-7 nicht mehr als handelnde Einzelpersonen auf und verschmelzen in der "wir"-Fom1. Selbst wenn das Verb "Vorlesen" noch verteilte Rollen impliziert, wird durch die Formulierung ("haben uns unsere Gedichte vorgelesen") nahezu eine Gleichzeitigkeit von Vorlesen und Hören nahe gelegt. Mit

11 In kursiver Schrift wird innerhalb der Feinanalysen das notwendige Kontextwissen zu der Belegstelle gegeben.

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der Bezeichnung "unsere Gedichte" bleibt offen, ob es sich um eigene Lieblingsgedichte oder aber um Selbstgedichtetes handelt; diese Unterscheidung scheint letztlich für die Erzählerin an dieser Stelle auch nicht relevant zu sein. Wesentlich für die Erzählerin wirken hier das Teilen von etwas Wertvollem und die Nähe, die in dieser gemeinsamen Aktivität liegt.

(2) Gemeinsame Resonanz Der vorgestellte Interviewausschnitt "Unsere Gedichte" von Frau A. konnte zeigen, wie der gemeinsame Umgang mit Gedichten als eine besondere geteilte Welt konstruiert wurde. Auch in anderen Interviewpassagen vermitteln die Erzählerinnen das Bild eines gemeinsamen Erfahrungsraumes. In der folgenden Erzählung beschreibt Frau I. eine Begebenheit, in der ihr Onkel und sie beim Wandern sich gegenseitig Gedichte aufsagen. Dabei beschreibt die Erzählerirr das Aufsagen von Gedichten als ein Mittel, eine gemeinsam erlebte Stimmung und Atmosphäre zu schaffen. Gedichte ermöglichen nicht nur potenziell, die eigenen Stimmungen zu beeinflussen (wie Frau I. an anderen Stellen im Interview expliziert, siehe Unterkapitel 2.4.2), sondern lassen auch gemeinsame Stimmungen entstehen. Beleg 4: "Mit meinem Onkel" (Frau 1.: S.ll [22-36])

1

E:

5

10 I: E: 15

!Ach j a ! Dann hatt i c h n och äh=n, ( . ) mi t meinem ONKel b in ich irgendwi e ganz viel wAn dern gegangen , # das is=nen e v ange lischer PFARre r und mit dem haben wir auch g egen seitig, ( . ) uns gedrehte auswen=aus=s äh AUSWENdig v Or g esag t s o b eim wa nde rn irgendwie # ä h=s=so, ( . ) GOTTfried BENN und so (( lacht)) und s o s achen i r gendwie, > ich mußte dann eben auch noch aus meiner ausbildungs z e itwelche auswendig können (( l ach t)), (. ) haben wir uns gegense i t ig so in dies e STIMMungen hab=n EINTAUCHEN lasse n und so, (. ) Ach das is ja schÖn , ( . ) [beim wandern] [n=j a ja gEnAU; l (( kurzes lac hen ) ) , (. ) Eben=dann s ind wi r a uch o ft n och bi s in d ie spät e nAc ht re i nGELAUFEN irgendwi e , und da nn war das immer alles noch so- ( . ) viEl PASsender mit dies=n KOSmis c hen (.) geFÜHLe ndabei und s o ,

Feinanalyse: Mit dem Ausruf " ! Ach ja!" markiert Frau I. im Interview einen aktuellen Einfall, der dann die fo lgende Erzählung nach sich zieht, die an die Aufzählung ihrer bisherigen Erlebnisse mit Gedichten anschließt ("dann halt ich noch"). Zu Beginn dieser episodischen Erzählung schildert die Erzählerin zunächst die Ausgangssituation (Zeile 1-2), wobei sie mit einem kurzen Einschub (Zeile 3) ihr Gegenüber über das verwandtschaftliche Verhältnis hinausgehend noch über seinen Beruf vorstellt. Dieser Einschub lässt sich in vielfacher Weise verstehen: So kann der "evangelische Pfarrer" für die Erzählerin prädestiniert sein, Gedichte auswendig zu können.

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TEIL 111 - EMPIRIE

Sie positioniert ihn damit gleichzeitig auch als jemanden mit einem ehrwürdigen, moralisch integren Hintergrund und baut ihn so als eine Institution auf. Für den weiteren Gang der Erzählung erscheint dies in zweierlei Hinsicht dienlich: Zunächst positioniert sie sich selbst in dem Fortgang des Geschehens einer solchen Autorität als ebenbürtig. Zum anderen verleiht sie der erzählten geistigen Nähe und Intimität Seriosität. Im folgenden Satz (Zeile 3-5) vollzieht die Erzählerirr im Sprechen eine Konstruktionsänderung: Während sie mit der Formulierung "und mit dem" noch einen Satz beginnt, in dem sie das alleinige Subjekt wäre, sind im Folgenden bereits beide Protagonisten die Handelnden ("haben wir ... "). Anschließend schildert sie in zwei parallelen Sätzen die Handlung: Während der erste Satz noch recht nüchtern klingt ("auswendig vorgesagt" ; Zeile 5) wählt die Erzählerin in der zweiten Formulierung eine bildreiche Ausdrucksweise ("haben wir uns gegenseitig so in diese Stimmungen hab'n eintauchen lassen";l0-11), die über das bloße Sagen von Gedichten hinausgeht und den Eindruck von Intimität der Situation vermittelt. Sie beschreibt dabei den Onkel und sich selbst als kompetent und fähig, den anderen in einen bestimmten Zustand zu versetzen und jeweils auch willig, sich durch die Gedichte des anderen selbst berühren zu lassen, (wobei die Erzählerin im Einschub Zeile 8-9 den Ursprung ihrer eigenen Kompetenz erklärt). Mit dem kurzen lauten Lachen Zeile 13 geht die Erzählerin einerseits auf den Kommentar der Zuhörerin ein und bildet gleichzeitig zu dem durch die vorhergehende Formulierung evozierten Bild der Intimität einen Gegenpol in der Stimmung. Möglicherweise durch die positive Rea!,tion der Zuhörerirr bestärkt schließt die Erzählerirr in den Zeilen 13-17 noch eine Steigerung des zunächst Erzählten an, die sie mit dem Wort "eben" wie belegend einführt. Sie greift nun ein in ihrer Erzählung häufig wiederkehrendes Motiv auf, in dem sie Gedichte am Übergang von Tag und Nacht als besonders passend charakterisiert hat. Durch die Formul ierungen "bis in die späte Nacht" (Zeile 14-15) und den stark stimmlich herausgehobenen "kosmischen Gefühlen" (Zeile 17) evoziert die Erzählerin eine besondere Situation, in der übliche Grenzen außer Kraft gesetzt sind. Es bleibt dabei in der Schwebe, wo sie die kosmischen Gefühle (durch die Referenz "diese" als bekannt vorausgesetzt!) ansetzt und wer diese Geilihle hat. Sie unterstreicht mit dem Partikel "oft", dass es sich nicht um ein singuläres Ereignis handelte und markiert die Totalität des Erlebens ("immer alles").

Als Gegensatz zu dieser Szene, in der es um einen gelingenden Austausch von Gedichten ging, lässt sich eine Erzählung von Herrn F. über eine Begegnung sehen. Herr F. schildert, wie sein Gegenüber ihm ein Angebot macht, die eigene Begeisterung über Gedichte mit ihm zu teilen. Herr F. erzählt, dass er dieses Angebot jedoch eher reserviert angenommen habe. Er zeigt, dass er seinem Gegenüber zwar seine Begeisterung zugesteht, sich sogar ein Stück weit mit ihm identifiziert und sich selbst im anderen in früheren Zeiten wiedererkennt. Gleichzeitig charakterisiert sich Herr F. jedoch als jemanden, der gereift ist und diese Phase jugendlicher Überschwänglichkeit hinter sich gelassen hat. Die Erzählung lässt

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sich als ein Beispiel sehen ftlr eine Kommunikation über Gedichte, in dem die Möglichkeit- und die des Scheiterns - einer Nähe von zwei Per sonen durch die gemeinsame Beschäftigung mit Gedichten angelegt ist.

(3) Wir- Gegenseitigkeit ln vielen Erzählungen schildern die lnterviewpartnerinnen, dass mit einer ähnlich empfundenen Begeisterung oder Bewunderung flir ein Werk, einem grundsätzlich ähnlichen Geschmack bei Gedichten oder auch einer gemeinsamen Tätigkeit (dichten, Gedichte hören oder lesen) eine Nähe zwischen zwei Personen verbunden ist, bzw. eine Nähe in dieser Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommt. Zwei Aspekte dieses Phänomens, wie sie in den Belegerzählungen "Mit meinem Onkel" (Beleg 4) und "Unsere Gedichte" (Beleg 3) thematisiert werden, sollen an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden. Zunächst ist die Verschiebung des Fokus von zwei handelnden Einzelpersonell hin zu einer Wir-Form in den Darstellungen zu verzeichnen. Die Erzähler konstruieren eine neue Gruppenidentität im gemeinsamen Umgang mit Gedichten. Hierbei finden sich sprachlich immer wieder die Formulierungen wie "haben uns unsere Gedichte vorgelesen" (siehe Beleg 3) oder "haben wir auch gegenseitig uns Gedichte auswendig vorgesagt" (siehe Beleg 4). Sehr häufig wird dabei das Wort "gegenseitig" gebraucht und damit die Reziprozität der an sich komplementären Handlungen betont. Die Unterscheidung in hörende und sprechende Person entfällt. Die Erzählerinnen konstruieren auf diese Weise die gedichtbezogene Kommunikation als eine Tätigkeit, in der keine der Beteiligten herausgehoben wird. In der Textstelle "Mit meinem Onkel" (Beleg 4) und im folgenden Beleg "Gegenseitig" (Beleg 5) wird sogar zunächst eine Asymmetrie in der Beziehung (z.B. ein mögliches Kompetenzgefälle der Akteure) betont, die dann im gemeinsamen Lesen oder Aufsagen verschwindet. Durch diese Kontrastkonstruktionen wird der gemeinschaftsstiftende Aspekt der Handlung nur noch unterstrichen. Die eigene Person erfährt gleichzeitig eine Aufwertung, indem sie einer vorher eher als kompetenter positionierten Person als gleichberechtigt zur Seite gestellt wird. Beleg 5: "Gegenseitig" (Herr K.: S.3 [1-9]) 1

5

E:

ich hab da n FREUND, (. ) in : K., (--) der sozusagen von seiner ve rANlagungseine s StUdiums n- ( . ) starken bezug zu- (.) zu germanistik hat, also er habilitiert sich jetzt- (--) in LINguistik , er hat ## ja äh auch n draht sehr- (--) zu zu gedichten noch viel stärker als Ich, # u n d macht auchseminaredarüber aber eben dann- ( . ) warn 128

TEIL 111 - EMPIRIE

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mer abends bei Ihm und ham dann (.) uns so gegenseitig so gedichte (--) (uns) so vorge tragen oder vorgelesen, ## es war FURCHTBAR witzig, # es war echt- (.) richtig schÖn , (.) ja;

Feinanalyse: Der Erzähler führt zunächst sein Gegenüber durch die Bezeichnung "n Freund" unspezitlsch als eine ihn1 bekannte Person ein und fügt zur näheren Bestimmung eine Ortsangabe an. Von Zeile 1-7 zählt der Erzähler nun vier Belege aut: die den starken Bezug des Freundes zu Gedichten zeigen sollen: Mit dem BegritT "Veranlagung" kennzeichnet er eine sehr fundamentale Beziehung (die sich dann überraschenderweise auf eine selbst gewählte Tätigkeit bezieht). Er charakterisiert den Freund über dessen beruflichen Status: Der andere hat nicht nur Germanistik studiert, sondern qualifiziert sich gerade auf höchstem akademischen Niveau. Während das "auch" in Zeile 5 eine Gemeinsamkeit mit dem Erzähler suggerieren könnte, wird durch den Komparativ in Zeile 6 das bereits aufgebaute Gefälle noch erhöht. Mit diesen Sätzen positioniert der Erzähler sein Gegenüber als wirklichen Profi im Umgang mit Gedichten. Durch die adversative Wendung in Zeile 7 wird nun eine Gleichheit angefuhrt, die zu der vorhergehenden Positionierung im Kontrast stehen soll. Mit der zeitlichen Angabe "abends" und der mehrfachen Verwendung des Modalpartikels "so" zur Charakterisierung der gemeinsamen Tätigkeit wird eine vertraute, lockere Situation konstruiert. ln den zwei resümierenden Sätzen qualifiziert der Erzähler die Situation global nicht nur als unterhaltsam, sondern durch die Autentizitätsmarkierer "echt" und "richtig" verstärkt als umfassend positiv. Das eingangs konstruierte Gefälle ist in der Handlungs- und Situationsbeschreibung vollständig zugunsten einer Gleichberechtigung und Gemeinsarnkeit aufgehoben.

(4) Trennungssituation überbrücken Noch ein weiterer Aspekt der durch Gedichte vermittelten Kommunikation kommt zum Ausdruck in der bereits erwä.hnten Situation, in der Herr K. erzählt, dass er für seinen von ihm getrennt lebenden Sohn Gedichte auswendig gelernt hat. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Unterscheidung der Gedichte als Gabe und als Gemeinsames eine Frage der Perspektive zu sein scheint und die beiden Bereiche ineinander übergehen können. So schildert Herr K. zunächst ausfuhrlieh die Idee, flir seinen Sohn Gedichte auswendig zu lernen und auch die Umsetzung dieser Idee von seiner Seite. Hier ist er eindeutig der aktive Part. Zu einem späteren Zeitpunkt im Interview zeichnet Herr K. dann sehr deutlich das Bild, dass diese auswendig gelernten Gedichte ftir seinen Sohn und ihn eine gemeinsame Basis darstellten und die Kommunikation einen ritualisierten Charakter hatte: Herr K. beschreibt das wiederholte Auswendiglernen auf den Zugfahrten und berichtet einige Gedichte, die sein Sohn immer wieder von ihm hören wollte. Auf diese Weise konstruiert Herr K. die Gedichte als etwas Verbindendes über die Trennungssituation hinaus;

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eine Form der ritualisierten Kommunikation, die unabhängig von Ort und Zeit von beiden Seiten aufgegriffen werden konnte.

2.1.3 Beziehung reflektieren ln allen bislang vorgestellten Erzählungen haben die Gedichte eine Bedeutung in der Kommunikationssituation zwischen zwei Personen. Die Art und Qualität der gemeinsamen Beziehung wird durch die Weise der gedichtbezogenen Kommunikation zum Ausdruck gebracht. So wird der Vater in der Erzählung "Tröstegedicht" (Beleg I) von Frau C., indem sie ihn in der Erzählung das Gedicht sprechen lässt, als Beschützer und Tröster installiert. Ebenso wird in der Erzählung "Unsere Gedichte" (Beleg 3) demonstriert, dass sich die Freundschaft der beiden Mädchen gerade im Teilen der Gedichte vollzieht. In den Erzählungen finden sich nun auch Passagen, in denen die Interviewpartner beschreiben, dass in Gedichten die Beziehung zu einer anderen Person explizit reflektiert und thematisiert werden kann. Ein Beispiel ist die bereits vorgestellte Belegerzählung " ... der mich angedichtet hat" (Beleg 2). Die Erzählerirr konstruiert hier die Gedichtgeschenke des Jugendfreundes an sie letztlich als einen Spiegel, der die wahre Art der Bezogenheit des Freundes auf sie zwar zunächst verschleiert, dann aber deutlich wiedergibt. Zwei Phänomene sollen hier vertiefend erwähnt werden: Das eigene Schreiben wird als ein Weg konstruiert, sich über Beziehungen klar zu werden (1). Außerdem kann in der gemeinsamen Beschäftigung mit einem Gedicht, die Beziehung thematisiert und reflektiert werden (2). ( 1) Eigenes Schreiben als Beziehungsklärung Viele Erzähler berichten im Interview von Liebesgedichten, die sie für eine andere Person geschrieben haben. Herr E. und Frau I. schildern Situationen, in denen sie selbst Gedichte geschrieben haben, um sich über ihre Beziehung zu einer anderen Person klarer zu werden: So erzählt Herr E., wie er durch das Schreiben eines Gedichtes eine problematische Beziehungssituation verarbeitet hat. In diesem Gedicht, das er zu einem späteren Zeitpunkt im Interview auch rezitiert, spricht er seine Gedanken und Geftihle der Freundin gegenüber in direkter, wörtlicher Rede aus. Dabei bildet das Gedicht einen Rahmen, in dem er auf ästhetische Weise Zynisches sowie seine Verletzung zum Ausdruck bringt. Ob Herr E. dieses Gedicht tatsächlich seiner Freundin damals gegeben hat oder ob er es zunächst für sich selbst geschrieben hat, ist in der Erzählung zunächst nicht wesentlich.

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Frau I. erzählt von zwei ihr nahe stehenden Personen, denen sie "was sagen wollte" und sie jeweils ein Gedicht schreibt, mit dem Ziel, dass es "was Wesenhaftes von ihm irgendwie zum Ausdruck bringen würde". AufNachfrage berichtet Frau 1., dass sie diese Gedichte nach einiger Zeit den jeweiligen Personen gegeben habe. Dies sagt die Erzählerin allerdings in sehr zögerlicher, fragender Weise. Sie erinnert sich zwar genau an das Schreiben, die Weitergabe stellt offenbar einen anderen, unabhängigen Schritt dar. An diesen beiden Stellen wird deutlich, dass das Schreiben der Gedichte eine Art Vorform der direkten Kommunikation darstellt: Eigene Gefühle und Gedanken in Bezug auf ein Gegenüber werden in Sprache gebracht. (2) Gemeinsame Beziehungsreflexion Neben der Gedichtproduktion wird auch die Gedichtrezeption als eme Handlung beschrieben, in der Beziehung reflektiert und thematisiert wird. Viele Passagen des Sprechens über das Gedicht von Jimenez in Teil B sind ein Nachsinnen über Beziehungen zu anderen Menschen. Hier wird im Sprechen über das Gedicht in Abwesenheit der betreffenden Person mit einem Dritten (der Zuhörerin im Interview) Beziehung reflektiert. Frau A. berichtet von einer früheren Begegnung, in der sie zusammen mit ihrem Gegenüber das im Interview besprochene Gedicht von Jimenez ausgetauscht hatte. Sie erzählt, wie sie mit einem "Herzensfreund" (siehe auch ausführlich Abschnitt 2.4.3) das Gedicht bereits gelesen und "geteilt" hatte. Dabei sind für sie die gemeinsame Beschäftigung und das immer wieder erwähnte "Teilen" des Gedichtes relevant. Wer damals wem das Gedicht gegeben hatte, wird von ihr nicht mehr erinnert und wirkt auch belanglos. Als für sie nahe liegende Begründung erklärt Frau A. nur, dass in dem Gedicht das gemeinsame Beziehungsthema angeklungen sei. Eine weitere - sehr ausdifferenzierte - Form der Beziehungsreflexion findet sich in den Interviews von Frau I. und Herrn G. (ein Ehepaar). Beide erzählen im Interview ausfUhrlich, wie sich der eigene Bezug zu Gedichten von dem des Partners/der Partnerin unterscheide. Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung sind die jeweiligen Lieblingsdichter: Hesse (Herr G.) und Rilke (Frau I.). Wie in den Passagen deutlich wird, stehen die Dichter jeweils für einen gesamten Lebensentwurf: Frau I. und Herr G. verteidigen jeweils den eigenen Entwurfiden eigenen Gedichtgeschmack und kritisieren oder necken den des anderen. An Hand der Dichter arbeiten beide die unterschiedlichen Positionen klarer heraus und verhandeln auf dieser Ebene ihre verschiedenen Lebensentwürfe. Die

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VOM NUTZEN DER POESIE

beiden nutzen das Thema, um sich voneinander abzugrenzen und unterschiedliche Standpunkte auszudifferenzieren. Hier eine Passage aus der Darstellung von Herrn G.: Beleg 6: "Polarisiert" (Herr G.: 8.241281- S. 251151) 1

E:

5

10

15

20

25

30

35

I: 40 E:

Habe sponTAN# ja- (.) a:so äh EINfalln lassen was ich vorhin eben noch ganz vergEssen hatte ne, (.) mit diesen rilkegeDICHten; (.) rilke ist für mich- (.) AUCH- (.) jetzt WIEder; ne- (. ) also die A. (Ehefrau) sch=is : sehr- (-) ba beGEistert von von## rilke ne, (.) und geDICHten da so; ne, und- ( . ) em: des war so=n bissel auch n GRUNDsätzlicher f:=verSCHIEdenheit # irgendwi e so, (.) hat sich deswegen natürlich auch MEHR polarisiErt, ne- #so dass ich gesagt hab- (. ) (- ) stilfigurn. (( schnieft)) em- ( --) aber d=DA, ( -)jetzt im STUdium is es-( .) di e ANALYTIK irgendwie steht schon im vOrdergrU: n d.

Feinanalyse: Diese kurze Passage ist Teil eines Abschnittes, in dem die Erzählerin die üblichen Verfahren ::ur Gedichtinterpretation im Studium mitjenen in der Schule prakti::ierten kontrastiert. Sie entwirft das Bild einer größeren Freiheit im schulischen Vorgehen (Zeile 1), die zwar auch bestimmten Regeln unterworfen war (2-5), aber trotzdem den aktuellen Anforderungen im Studium an Strenge nachsteht (Zeile 5-

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TEIL 111 - EMPIRIE

7). Die Erzählerin präsentiert sich hier nicht nur durch die Verwendung der Fachausdrücke ("Rhetorik", Zeile 4; "Stilfigurn", Zeile 5; "Analytik", Zeile 6-7) und ihrer argumentativen Analyse als Teil einer wissenschaftlichen Deutungs- und Sprachgemeinschaft. Sie formuliert auch die in dieser Gemeinschaft geltenden Regeln und Normen in unpersönlicher Form ("man einfach, mehr Spielräume", Zeile I; "Dinge, wo man sich so abarbeiten musste", Zeile 3-4; "die Analytik irgendwie steht schon im Vordergrund", Zeile 6-7). Die beiden Regelsysteme werden als unabhängig von der Person der Erzählerin stehend konstruiert; wie eine Verfahrensnorm, die jede und jeder der Reihe nach durchführen kann. Die Formulierung "Abarbeiten" impliziert dabei zum einen ein Abhaken, ein unbeteiligtes Erledigen einer Aufgabe und zum anderen ein Bearbeiten, eine gewissenhafte Beschäftigung. Die Erzählerirr selbst taucht aktuell nur in der Rolle der Analysierenden dieser Systeme aut~ die auf einer Metaebene die unterschiedlichen Regelsysteme kontrastiert und gleichzeitig ihre Analyse relativierend rahmt ("hab ich so das Gefühl", Zeile 2; Vielzahl an abschwächenden Partikeln), um so die eigene Glaubwürdigkeit zu stärken.

In einer etwas anderen Weise präsentiert sich Frau A. als Teil einer konkreten Gemeinschaft - einem Künstlerprojekt Auch diese Erzählerirr spricht von einem klaren, schematisierten Prozedere und wählt eine generalisierende Form der Rede ("also immer hat jemand deinen Gedanken weiterverfolgt." Frau A.: S.lO [3-4]). Sie referiert ein typisches, habituelles Vorgehen und beschreibt, wie sie selbst eine Zeit lang Teil dieses Projektes war, indem sie sich als Handelnde gemäß des Systems konstruiert.

2.2.3 Hervortreten aus der Gruppe- Expertenschaft Die komplementäre Seite zu der eben beschriebenen Gruppenzugehörigkeit im Umgang mit Gedichten ist das in sehr vielen Interviews zum Ausdruck gebrachte Hervortreten, die Besonderung oder das lnErscheinung-Treten als Einzelperson in der gedichtbezogenen Kommunikation. Folgende Aspekte werden an unterschiedlichen Stellen in den Interviews von den Erzählerinnen thematisiert und sollen hier vorgestellt werden: Zunächst geht es um Situationen, in denen sich die Erzähler als Einzelperson, die ein Gedicht spricht/rezitiert, einer zuhörenden Gruppe/einem Publikum gegenüber positionieren (1). Anschließend wird das sehr häufig erwähnte Motiv der Kompetenz im Hinblick auf den Umgang mit Gedichten vorgestellt (2). An einigen Beispielen wird gezeigt, wie einzelnen Personen aufgrund von besonderen Kompetenzen im Zusammenhang mit Gedichten ein Amt zugeschrieben wird (3).

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( 1) Situation: Einzelperson und Publikum Sehr häufig wählen einzelne Interviewpartner im Erzählen der eigenen Erfahrungen im Umgang mit Gedichten folgende Positionierungen: Sie selbst sprechen/(re-)zitieren ein Gedicht und es gibt gleichzeitig ein Publikum oder einfach nur andere anwesende Personen, die zuhören. Die Erzä.hler zeigen mit dieser Art der Positionierung, wie sie selbst durch das Sprechen eines Gedichtes als Einzelperson einer Gruppe gegenübertreten. Das Sprechen des Gedichtes wird als ein aus der üblichen Kommunikation herausgehobener Akt des Sprechens konstruiert. Sehr unterschiedliche Szenen, in denen dieser Grundtyp der Positionierung zu finden ist, sollen kurz referiert und mit den jeweiligen Besonderheiten hervorgehoben werden: • Gemeinsame Verzauberung: Solistin - Saal. Frau I. erzählt von einer Situation, in der sie während ihrer Eurythmieausbildung ein Gedicht solistisch vortragen musste und die sie als "Durchbruch" charakterisiert. Sie versucht sich aus heutiger Perspektive an Dichter und Titel des Gedichtes zu erinnern. Anschließend bewertet sie das Aufsagen als gelungen und schließt mit der Formulierung: "weiß noch wie irgendwie der ganze der Saal so richtig totenstill war von, (.) von Spannung irgendwie dieser Saal", (Frau 1.: S.6 [9-10]). Die Erzählerirr charakterisiert die Wirkung ihres Vortrages mit einer atmosphärischen Beschreibung des Raumes. Sie konstruiert damit eine Einheit: zwischen sich selbst als Sprecherin und den Zuhörenden. Die Erzählerirr schildert hier das Aufsagen des Gedichtes als ein Gesamterlebnis, das alle Beteiligten verzaubert und in einen gemeinsamen Erlebensraum führt. Sie schreibt dabei dem Aufsagen von Gedichten eine Macht zu, die eine Gruppe von Menschen verzaubern kann. • Notsituation überbrücken: Alleinunterhalter- ungewollte Nutznießer. Herr L. erzählt in typisierender Weise die Situation, wie er beim Wandern die letzten Kilometer seine Kinder mit dem Aufsagen von Balladen bei Laune zu halten weiß. Er positioniert sich dabei als jemand, der originell und ungeniert klassische Werke für seine Zwecke zu nutzen versteht und berichtet den Nebeneffekt, dass sein Sohn eine Weile später sogar an einem der aufgesagten Gedichte Interesse zeigte. Der Erzähler beschreibt Gedichte hier als ein Medium, das er beherrscht und als Mittel zur Unterhaltung zur Verfügung hat. • Frühe Begabung: reimendes Kind- verzückte Familie. Frau T. schildert in ihrer Anfangserzählung, wie sie bereits als kleines Mädchen begeistert auf Sprache reagiert und selbst kleine Reime gemacht habe, die ihre Familie "ganz entzückend" gefunden habe. Die Erzählerirr positioniert sich als jemand, die durch ihren frühen Ausdruck von eigenen Reimen Aufmerksamkeit und Anerkennung erhalten hatte.

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TEIL 111 - EMPIRIE













Aufsagen von Weihnachtsgedichten: Aufsagende - I Frau C. erwähnt in sehr knapper Form das Aufsagen von Weihnachtsgedichten in der Kindheit (siehe Beleg 8). Sie skizziert dabei diese Aufsagesituation als eine typische Situation, das Aufsagen als eine Rolle. Die Sprecherirr könnte diese Rolle übernommen haben oder aber auch z.B. ein Geschwisterkind. Ein zuhörendes Gegenüber erwähnt die Erzählerin nicht, die typisie1te Darstellung legt die Eltern bzw. die Familie als Zuhörer nahe. Mutprobe: Powerman - Bühne. Herr F. schildert das Aufsagen eines Gedichtes in der Schule (siehe Beleg 11: "Powerman"). Hier stellt er ausschließlich seinen Stolz, diese als Herausforderung erlebte Situation gut gemeiste1t zu haben. Seine Klasse bzw. die Zuhörer erwähnt der Erzähler nicht. Sie bilden offensichtlich nur den Rahmen/die Bühne für die eigene Mutprobe. Nebenprodukt: genießendes Kind - genervte Umwelt. Frau C. beginnt das Interview mit der Erzählung, wie sie selbst als Kind die Glocke von Schiller oft laut vor sich hingesagt habe. Schmunzelnd kommentiert sie, damit auch ihre Brüder genervt zu haben. Sie positioniert sich als unbefangen, das eigene Können genießend und lässt mit anklingen, mit diesem Aufsagen und der Demonstration ihres Könnens an sich Unbeteiligte genervt zu haben. Auftritt: Künstler - Publikum. An verschiedenen Stellen im Interview tinden sich bei Herrn E. in generalisierenden Beschreibungen oder aber in exemplarischen Belegen eine Vielzahl an unterschiedlichen Positionierungen; sowohl für die Person auf der Bühne als auch für das Publikum: Dompteur - gestaltbare Masse; Scheiternder - "schwarzes Loch", Kandidat - Bewertungsinstanz (und in Bezug auf einige Konkurrenten: Dilettanten - niveauloser Mob). Vorstellung: Endlos Rezitierender - Zuhörende. Frau C. erzählt ausführlich Situationen aus ihrer Ausbildungszeit an der Schauspielschule. Sie schildert in diesem Rahmen die Begebenheit, dass ein Lehrer oft ein sehr langes Brechtgedicht rezitiert hat (siehe Beleg 13: "Kinderkreuzzug"). Die Erzählerin beschreibt, wie sie als Zuhörerinnen diesen Lehrer bewunderten und gleichzeitig in diesen Situationen wie einem sich verselbständigten Prozess beiwohnten, der eine bestimmte Zeit in Anspruch nahm. Verkündigung: Vermittler - Gemeinde. Herr H. wählt an vielen Stellen im Interview folgende Positionierung: Er selbst als Pfarrer und Seelsorger nutzt Gedichte als Weg, eine Botschaft und eine Lebensweise zum Ausdruck zu bringen. Sein Rezitieren von Gedichten, aber auch sein Verwenden von Gedichten für Predigten etc. konstruiert der Erzäh ler als offe ne Einladung an potenziell Interessierte. (siehe auch Beleg 23: "Probiers doch auch mal")

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VOM NUTZEN DER POESIE

An den Beispielen wird deutlich, dass die klassische Situation: "Rezitator -Publikum" nur eine genannte Variante des Hervortretens in einer unbestimmten Gruppe durch das Rezitieren eines Gedichtes darstellt. Häufig werden eben auch zufällige oder unfreiwillige Zuhörende erwähnt. Das Rezitieren eines Gedichtes erscheint in den Erzählungen als ein besonderes kommunikatives Phänomen, bei dem unterschiedlich gerahmt eine vorgeformte Rede wiedergegeben wird (siehe auch Unterkapitel3.3). Die Beispiele weisen daraufhin, dass das Rezitieren eines Gedichtes offenbar sehr unterschiedliche Funktionen, Beziehungskonstellationen und Formen haben kann.

(2) "Können vs. Nichtkönnen": Kompetenz als eine Dimension des Umgangs mit Gedichten Alle Erzähler schildern an verschiedenen Stellen in den Interviews im Umgang mit Gedichten die Dimension der Kompetenz. Sie konstruieren das Auswendiglernen, Aufsagen, Interpretieren etc. von Gedichten als eine Fähigkeit, die man gut oder schlecht kann. Es sind Stellen in den Interviews, in denen unterschiedliche Formen der Kompetenz thematisiert werden: Kompetenzen der eigenen Person oder die einer anderen Person. Die Erzählerinnen heben jeweils unterschiedliche Aspekte im Umgang mit Gedichten als Fähigkeit heraus. Folgende Kompetenzbereiche führen die Erzählerinnen in ihren Darstellungen aus: • Auswendiglernen: die Fähigkeit, sich Gedichte einprägen zu können • Auswendigkönnen: die Fähigkeit, eine (große) Anzahl an Gedichten zur Verfügung zu haben und als Wissensschatz zu haben • Dichten: die Fähigkeit, selbst Gedichte zu formulieren/produzieren • Ausdrucksstärke : die Fähigkeit, Gedichte rezitieren zu können • Unterhalten: die Fähigkeit, durch das Vortragen von Gedichten andere Personen zu amüsieren oder zu erreichen • Analysieren: die Fähigkeit, nach bestimmten Kriterien, ein Gedicht zu interpretieren • Wissen: die Fähigkeit, Werke und Dichter zu kennen und Stilrichtungen zuordnen zu können • Auslegen: die Fähigkeit, Sinn für sich und andere aus Gedichten herauslesen zu können • Sensibilität: die Fähigkeit, sich durch Gedichte ansprechen und emotional bewegen und berühren zu lassen. Zunächst ist zu erwähnen, dass das eigene Auswendigkönnen, das Aufsagen, Interpretieren etc. in den Erzählungen häufig als äußerst genussvolle Tätigkeit beschrieben wird. Die Erzähler formulieren dieses Genießen zum Teil explizit. Darüber hinaus kann es aus der Art der Beteili148

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gung im Schildern der Tätigkeit, aus der reinszenierten Begeisterung rekonstruiert werden. Für die erwähnten Kompetenzbereiche finden die einzelnen Erzählerinnen jeweils persönliche Ausformulierungen. Jede Erzählerirr und jeder Erzähler präsentiert im Interview ein ganz persönliches Koordinaten- und Bewe1tungssystem, was sie selbst als wichtig, richtig und gut ansieht im Umgang mit Gedichten. Häufig konstruieren die Erzähler diese Bewertungen vor dem Hintergrund ihrer sozialen oder beruflichen Sozialisation. Während in Unterkapitel3.1 gezeigt wird, wie die Erzählerinnen sich durch ihre jeweiligen Kriterien aktuell im Interview positionieren (Welche Fähigkeiten werden als relevant beschrieben? Was heißt es für sie, gut zu dichten (z.B. das Geflihl der inneren Stimmigkeit oder die Schönheit der Sprache etc.) oder ein Gedicht ausdrucksstark aufsagen zu können? Wer wird als Bewertungsinstanz konstruiert (z.B. sie selbst oder eine äußere Autorität)?) soll an dieser Stelle die Tatsache betont werden, dass die einzelnen Erzählerinnen jeweils eigene Bewertungsmaßstäbe im Hinblick auf Kompetenzen mitbringen und dass der Umgang mit Gedichten als ein Feld konstruie1t wird, das von ästhetischen und sozialen Normen und Bewertungsmaßstäben bestimmt ist. So ist beispielsweise das anfängliche Zögern einer Interviewpartnerin zu erwähnen, die zu Beginn unsicher war, ob sie flir das Interview geeignet wäre. Es gäbe sicherlich andere, die sich besser auskennen würden als sie. Hier, wie an vielen ähnlichen Stellen in den Interviews, wird deutlich, dass das Sprechen über den eigenen Umgang mit Gedichten auch ein Diskurs ist, der von Konzepten der Expertenschaft und von gesellschaftlichen Bewertungsmaßstäben gezeichnet ist. Im Beschreiben der eigenen Kompetenz lassen sich einige Phänomene immer wieder rekonstruieren: Viele Erzählerinnen beschreiben und zeigen in den Interviews auch immer wieder Stolz auf die eigene Fähigkeit. Besonders in den Erzählungen aus der Kindheit und im Jugendalter schildern viele Erzählerinnen, dass sie auf ihre Kompetenzen im Umgang mit Gedichten stolz waren. Im Beleg "Powerman" demonstriert der Erzähler ein Erfolgserlebnis aus der Jugend. Beleg 11: "Powerman" (Herr F.: S.7 [8-13)) 1

5

E:

ja, ( .) auch eins eben=des, (--)klar in der schule=dann das gute gefÜhl, (.) dann das=auch, (.) wO ich dann eins VORgetragen dann h ab, (.) # also, (.) mich dann auch gemEldet hatte, (.) dass ich= s kann- (.) und das dann aUc h, (.) sehr gut lief, ( . ) und ich war # natürlich stolz wie ein POWERMAN, (.) des=s:, ( . ) #klAr;

149

VOM NUTZEN DER POESIE

Der Erzähler erwähnt in diesem Zusammenhang keine Reaktionen anderer Personen, sondern bringt seinen Stolz mit der konsequenten Durchfiihrung seiner Aktion selbst (in Form einer "ich kam, sah und siegte"Folge) in Verbindung. Andere Interviewpartner erwähnen in vergleichbaren Passagen die Reaktionen des Umfeldes oder positionieren andere Personen dergestalt, dass sie Zeugen und Spiegel der eigenen Leistung werden. In diesem Zusammenhang stehen Interviewpassagen, in denen Bewunderung thematisiert wird: Bewunderung der eigenen Kompetenz durch ein Gegenüber oder umgekehrt die Bewunderung der Fähigkeiten im Umgang mit Gedichten von einem Gegenüber. (siehe z.B. Beleg 13: "Kinderkreuzzug") Hiermit verbunden ist häufig ein Ab- oder Aufwärtsvergleich der Kompetenzen mit anderen Personen: Eine Erzählerin positioniert sich im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen als sehr schnell im Auswendiglernen, eine andere im Kontext ihrer Familie als besonders kompetent im Dichten (siehe Beleg 12: "das war dann so ne Erwartungshaltung"). In diesem Sinn schildern die Erzähler, dass sich die eigene Kompetenz häufig am sozialen Umfeld erwiesen oder bewährt hat; bzw. sie nutzen diesen Vergleich in den Erzählungen, um die eigene Kompetenz zu verdeutlichen. Eine W eiterftihrung dieses Kompetenzvergleiches stellt das von Herrn E. erwähnte Siam Poetry dar. In dieser als Wettkampf organisierten Form des Präsentierens eigener Gedichte messen die Teilnehmenden ihre Fähigkeiten im Dichten und Darbieten von Gedichten vor Publikum. So findet sich bei Herrn E. im Interview auch nicht nur aktuell die Demonstration des eigenen Könnens der Zuhörerin gegenüber (z.B. zweimaliges Rezitieren eigener Gedichte im Interview), der Erzähler erwähnt auch beiläufig, welche Plätze er in einzelnen Wettkämpfen gemacht habe und parodiert seine Konkurrenten. Die eigene Kompetenz im Umgang mit Gedichten konstruiert der Erzähler als Kriterium, der sozialen Unterscheidung: zwischen "Gossenpropheten" und denen, die wirklich gute Gedichte schreiben können. Bei diesem Erzähler aber auch bei fast allen anderen Interviewpartnern findet sich auch der Vergleich des eigenen Dichtens im Hinblick auf das Können bekannter Dichter. Diese Formen des Vergleichens werden ausfUhrlieh unter 2.3 .1 vorgestellt. Auch Frau D. konstruiert Fähigkeiten als Kriterium der sozialen Unterscheidung. Dieser Erzählerin geht es jedoch nicht ums eigene Dichten, sondern um die Fähigkeit einer ihrer Ansicht nach angemessenen Art der Rezeption von Gedichten. Sie unterscheidet zwischen wirklicher Verbundenheit mit Werken und bloßer dilettantischer Stilisierung. So erwähnt die Erzählerin beispielsweise, wie sie sich von der Beschäftigung mit dem Werk eines zeitgenössischen Dichters wieder gelöst habe, nach-

150

TEIL 111 - EMPIRIE

dem dieser durch andere hochstilisielt worden wäre. Dabei vermittelt die Erzählerirr auf der einen Seite die eigene sehr ursprüngliche Verbundenheit mit den Werken des Künstlers und konstruiert den Umgang anderer Personen mit diesen Werken als kurzfristigen Trend. Auf diese Weise hebt sie die eigene Kompetenz hervor und grenzt sich durch den eigenen Stil, mit Gedichten umzugehen, von ihrem Umfeld ab.

(3) Fähigkeiten zum Amt geronnen: Experten Verschiedene Erzählerinnen formulieren in den Interviews eine Weiterfiihrung dieser Kompetenzdimension. Sie erwähnen nicht nur sich selbst oder eine andere Person als besonders gut hinsichtlich einer bestimmten Fähigkeit im Umgang mit Gedichten. Sie schildern darüber hinausgehend, wie/dass eine solche Fähigkeit im sozialen Kontext zu einem Amt gerinnen kann. Sie selbst oder eine andere Person werden in der Gruppe mit der bestimmten Fähigkeit identifiziert und immer wieder in Verbindung gebracht, so dass es zu einer selbstverständlichen Rollenzuweisung durch die Beteiligten und einer überdauernden Funktion in der Gruppe kommt. In den Interviews sind diese Passagen durch typisierende Beschreibungen von Routinen und Gewohnheiten gekennzeichnet. 14 Besonders bei Frau D. lässt sich dieses Motiv finden . Sie erwähnt nicht nur mehrfach die partnerschaftliehe Rollenmifteilung, dass ihr Mann ihr häufig gut und auch gerne Gedichte vorlese und sie selbst gerne Gedichte höre. Die Erzählerirr schildert außerdem, wie sie selbst im Rahmen des Dichtens für Familienfeste eine Professionalisierung vorangetrieben habe, sich so aus dem üblichen Vorgehen löste und sich im Laufe der Zeit eine stabile Fremdpositionierung (sie als Familiendichterin) entwickelte. Beleg 12: "Das war dann so ne Erwartungshaltung" (Frau D.: S. 11371- 2121)

1

5

10

E:

U:nd . ( (räuspern)) (-- ) ja, später war : s dann, (-) ehm, (-) jA, die sAchendass man- (2.0) im familienkreis eigentlich, (--) Anfing für jedes fEst selber=n gedieht zu machen. (---) UND, natürlich waren das zunächst-> SCHON die einfachen vERse, die dann später war das langweilig; wenn=s immer nur AB, AB wAr. # h ab ich=s vers=versucht AUSZUweiten, UND, (-) das war dann so ne erwArtungshAltung; (2.0) die dAnn von seiten der familie=kam zu jedem fEst .

14 Dabei ist oft der Übergang zu einer stilisierten Darstellung nicht weit, in der die Interviewpartner auf Klischees im Umgang mit Gedichten anspielen (siehe 3.1.2). 151

VOM NUTZEN DER POESIE

Zu einem späteren Zeitpunkt, noch einmal auf das Thema angesprochen, erwidert die Erzählerirr "das habe ich abgelegt, weil unsere Kinder mittlerweile das genauso gut können" und legt mit dieser Formulierung selbst die Auffassung nahe, das Dichten in diesem Kontext sei ein Amt, das jemand gemäß der Fähigkeiten innehabe. Die Art, wie Herr E. sich selbst als Experte und Ratgeber im Hinblick aufDichten positioniert, lässt sich auch unter dem Aspekt des Amtes sehen: der Erzähler schildert nicht nur immer wieder Szenen, in denen er selbst anderen Tipps gibt, er vermittelt auch das Bild, dass andere ihn immer wieder um Rat bitten, bzw. ihn in eine Leitungsposition hineindrängen. Auch in Bezug auf das Auswendigkönnen werden in den Interviews Personen besonders stabile Fähigkeiten zugeschrieben. Herr L. positioniert sich selbst als wandelnder Balladenrezitator und Herr F. und Herr G. erwähnen jeweils ein Gegenüber, das sie als eine Institution positionieren: eine Person, die unentwegt Gedichte aufsagen konnte. Sie schildern dieses Phänomen in schillernder Weise: Die Erzähler zeigen sich einerseits beeindruckt von diesem Können und äußern Bewunderung und Neid. Gleichzeitig greifen beide zum Stilmittel der Übertreibung und lassen auf diese Weise durchblicken, dass ihnen das Verhalten der anderen Person ein wenig wunderlich, in nicht abbrechender Endlosschleife auch lästig sei. Die Personen werden so als Vorbild und abschreckendes Beispiel zugleich positioniert. Auch Frau C. wählt in der Charakterisierung eines Lehrers von ihr das Bild eines sich verselbständigenden Prozesses (Beleg 13). Die Erzähler schildern hier das Auswendigkönnen und Aufsagen von Gedichten als bewunde11e Fähigkeit, aber auch als eine Tätigkeit, in der sich die rezitierende Person in einer Weise aus der aktuellen gemeinsamen Situation löst, dass sie - einmal begonnen - nicht mehr zu stoppen ist. Beleg 13: "Kinderkreuzzug"(Frau C.: S.3 [27-39]) 1

E: I: E:

5

I: E: 10

weil dieser lEhrer war=n brechtschauspieler, aha und hAt eh EINE SPEZIALITÄT gehabt nämlich den KINDERKREUZZUG von berthold brecht mit ungefähr dreißig oder vierzig strophen. ((lacht )) [] [ein kreuzzug] (---) [ ( lacht laut) ] .h so das war dann wie so ne LÜcke oder wie s on [(--) Licht ( . ) blick,] [JA ja]

2.2.5 Im Spannungsfeld: Privat- Öffentlich ln den Interviews konstruieren die Erzahlerinnen in verschiedenen thematischen Zusammenhangen ein Spannungsfeld, in dem sie den eigenen Gedichtbezug verhandeln: Sie stellen dar, dass der eigene Umgang mit Gedichten etwas sehr Persönliches und Privates sein kann . Gleichzeitig zeigen sie, dass sie mit und durch Gedichte im Kontakt stehen zu anderen Menschen und insofern der eigene Bezug zu Gedichten auch eine öffentliche Seite hat. Dieses Spannungsfeld soll an folgenden Themenbereichen rekonstruiert werden: die eigene berufliche Professionalität im Umgang mit Gedichten (1); die Bedeutung der Muttersprache für die Erzählerinnen (2) und das eigene Schreiben (3).

(1) Professionalität zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit Zwei Erzählerinnen (Frau B. und Frau C.) und zwei Erzähler (Herr E. und Herr H.) sehen ihren Umgang mit Gedichten durch ihre professionelle Arbeit beeinflusst. Die vier Interviewpartner konstruieren in je eigener Weise für sich so etwas wie einen persönlichen sowie einen professionellen Zugang zu Gedichten. Dabei zeichnen sie das Verhältnis zwischen ihrem persönlichen und professionellen Umgang mit Gedichten in unterschiedlicher Weise: Trennung von Privatem und Professionellem Frau B. präsentiert sich als Studentin der Literaturwissenschaft. Die Erzählerin bemüht sich im Interview, ihr professionelles Verständnis des Themas zum Ausdruck zu bringen. Sie versucht im Sinne einer mündlichen Prüfung eine analysierende Expertensicht auf das komplexe Thema "Lyrik" einzunehmen. So finden sich bei der Erzählerin vorwiegend Beschreibungen und Argumentationen. Ihre Gesamtkonstruktion baut sie als ein Expertenplädoyer ftir die Besonderheit, Verbreitung und Anwen157

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dung von Lyrik auf. Ihre persönlichen Erfahrungen bringt die Erzählerin als illustrierende Beispiele ein und versucht, diese von einer objektiven Sicht auf das Thema zu trennen. Sie generalisiert und objektiviert gleichzeitig die eigenen Erfahrungen, um allgemeingültige Genreeigenschaften zu diskutieren und normalisiert sich und den eigenen Umgang mit Gedichten auf diese Weise. An verschiedenen Stellen im Interview gewährt die Erzählerin Einblick in persönliche Themen: Sie schildert Gedichte als Stütze in Zeiten von Liebeskummer, das Schreiben von Gedichten als persönlichen Freiraum und nennt einige ihrer Lieblingsgedichte, wobei sie sehr werkorientiert bleibt und nur indirekt über sich selbst spricht. An diesen Stellen wird deutlich, dass die Erzählerin in einem Rollenkonflikt steht. Den privaten Bereich betrachtet die Erzählerin durch die berufliche Brille (siehe Skizze 1) und filtert und begrenzt persönliche Aussagen (z.B. die generalisierende und als Schlussformel eingesetzte ,jeder hat einen Schuhkarton unterm Bett").

I

Privater Bereich

Professiooeller Bereich

Skiz=e 1: Frau B.

Die Erzählerin wird außerdem von der lnterviewerin als Expertin ihres persönlichen Umgangs mit Gedichten angesprochen und so durch Paraphrasen und Fragen immer wieder nicht nur als Analysierende, sondern auch in ihrer persönlichen Erfahrungsgeschichte angesprochen. Auch an diesen Stellen wird im Zögern oder in Satzabbrüchen und Planungsschwierigkeiten deutlich, dass dies nicht die Ebene ist, die die Erzählerin im Interview anstrebt oder im Sprechen über Gedichte gewohnt ist. ln der Steuerung und Trennung der beiden Bereiche gerät die Erzählerin an manchen Stellen im Interview in Konflikt. Diese von Frau B. versuchte Trennung von zwei verschiedenen Bereichen im Umgang mit Gedichten soll an zwei Beispielen illustriert werden: 158

TEIL 111 - EMPIRIE

Auf die Nachfrage nach einem typischen Lesesetting erwähnt die Erzählerin zunächst ihren Schreibtisch und beschreibt in strukturierter und nüchterner Ausdrucksweise das Bild einer Arbeitsatmosphäre. Anschließend formulie11 sie in bildreicher Sprache ein weiteres Szenario, in dem sie sich vom Schreibtisch löst und einen kreativen, persönlichen Umgang mit Gedichten schildert. Auch im Teil B des Interviews mit der Erzählerin zeigt sich die Trennung in zwei Herangehensweisen. So beginnt die Erzählerin zunächst ausführlich mit einer Analyse des Gedichtes, in der sie keine persönliche Resonanz oder Beteiligung mit einschließt. Sie schließt mit dem Satz "ich glaub ich bin mit meiner Interpretation schon am Ende" und dem Hinweis auf mögliche Fragen von Seiten der Interviewerin ab. In den anschließenden von Fragen unterbrochenen Passagen bringt die Erzählerin auf Nachfrage ihre persönliche Lesart (von ihr als allgemeine selbstverständlich vorausgesetzt) zum Ausdruck. Gleichzeitig ist die Erzählerin bemüht, weiterhin generalisierende, objektive Phänomene am Gedicht zu interpretieren (hierzu siehe auch Unterkapitel 3.2).

Professionelles als Voraussetzung für Privates. Frau C. erwähnt sehr häufig im Interview ihren Beruf als Schauspielerin. Die Begegnung mit Gedichten im Rahmen ihrer Schauspielausbildung nimmt den Hauptteil der Spontanerzählung von Frau C. ein. Diese Passagen sind auch durch eine große Beteiligung beim Sprechen und einer Wiederholung der Szenen herausgehoben. Im Laufe der Erzählung unterscheidet die Erzählerin zwischen einer "beruflichen" Beschäftigung mit Gedichten (Gedichte schauspielerisch umsetzen als Übung des Ausdrucks) und einer "privaten" Beschäftigung. Die Erzählerin reflektiert im Erzählen, dass sie privat seit Jahren kaum noch mit Gedichten zu tun habe, sondern vorwiegend nur noch beruflich. Sie schildert die ausbildungsbedingte Beschäftigung mit Gedichten als eine Heranführung an das Genre und sogar als Bedingung ftir das eigene Verständnis der Werke. Dies wird z.B. im Beleg 25: "Hupsla" deutlich, in dem die Erzählerin ein persönliches Berührtsein von Gedichten im Rahmen der beruflichen Auseinandersetzung beschreibt. Die private Beschäftigung mit den Gedichten basiert bei der Erzählerin insofern auf dem primär beruflichen Umgang mit den Gedichten. Im Interview zeigt sich die Erzählerin gleichzeitig selbst als Expertin der von ihr als beruflich entscheidend beschriebenen Kompetenzen im Umgang mit Gedichten. Im Reinszenieren verschiedener biografischer Episoden verleiht sie den unterschiedlichen Beteiligten durch Intonation, Gestik und Mimik überaus lebendige Züge und erweist sich als Meisterin des von ihr bewunderten reduzierten und komprimierten Sprachstils.

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ProfessioneUer Bereich

Skiz::.e 2: Frau C.

Auch bei Frau C. lässt sich das Verhältnis von beruflicher und privater Beschäftigung an der Frage nach Lesesetting und am Umgang mit dem Gedicht in Teil B veranschaulichen. Die Frage nach dem typischen Lesesetting beantwortet die Erzählerin mit der Ironisierung eines romantischen Gedichtlesetyps (Siehe Beleg 33: "Kuschelsocken"), eröffnet die Unterscheidung zwischen einem "Gedichttyp und einem Nichtgedichtyp" (wobei sie sich auf Nachfrage der Zuhörerin eher als Nichtgedichttyp bezeichnen würde) und betont das fiir sie wichtige Herangeführtwerden und ihre eher berufliche Anwendung der Gedichte. In Teil B des Interviews schildert die Erzählerirr zunächst, dass sie das Gedicht aus ihrer derzeitigen Rolle wahrgenommen habe. Im Folgenden erprobt die Erzählerirr unterschiedliche Lesarten des Gedichtes, die sie zum Teil szenisch anspielt. Im Gegensatz zu Frau B. bezieht die Erzählerirr persönliche Stimmungen und Assoziationen zum Gedicht spontan mit ein.

Persönliches liefert Material für Professionelles Herr E. präsentiert sich im Interview als Profi im Hinblick auf die Darstellung seines Bezuges zu Gedichten, seiner eigenen Gedichte und seiner Person. In der Gesamtkonstruktion des Erzählers lassen sich drei verschiedene Bereiche finden (vgl. Skizze 3). So spricht der Erzähler zum einen von einem öffentlichen Bereich: die Bühne, Wettbewerbe, da wo er seine Gedichte einem unbekannten, zahlenmäßig unbegrenztem Personenkreis zugänglich macht. Dieses Publikum zeichnet er als unpersönliche, auch unberechenbare Menge und beschreibt, dass er sich (durch Qualität oder die Auswahl des Grades an Persönlichem) vor dieser Menge auch schütze. In diesem Bereich sind Gedichte ein Medium der ProflIierung und des Ausdrucks der eigenen Person.

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Periönlicher Berbich

Zwischenbereich: Peers Öffentlicher Bereich

Ski::.ze 3: Herr E.

Der Erzähler schildert außerdem einen Zwischenbereich: seine Freunde, Dichterkollegen und seinen Bruder. Diesen Bereich kennzeichnet der Erzähler durch seinen Werkstattcharakter: Hier kann er sich auch ungeschützt mit Unfertigem oder auch Persönlichem zeigen, bekommt und gibt Inspiration. Er schildert sich in diesem Kontext als einer unter Gleichen: Gedichte sind hier ein Medium, das eine Gruppenidentität schafft und das ein persönliches Mitteilen mit sich bringt. Außerdem spricht der Erzähler von einem Bereich, den er als sehr persönlich kennzeichnet. Er schildert diesen Bereich als Ort des eigenen Schreibens und bezeichnet Gedichte einmal metaphorisch als "Brücke in die Welt" . Der Erzähler beschreibt an verschiedenen Beispielen (siehe z.B. Beleg 28: "Gehörsturz"), wie er im Schreiben persönliche Erlebnisse und Geft.ihle verarbeitet, umwandelt und als allgemeinmenschliche Erfahrungen in Sprache bringt. So belegt der Erzähler in zwei Schlüsselerzählungen, wie die zwei Gedichte, die er bei Auftritten und auch im Interview präsentiert, ursprünglich Verarbeitungen von biografisch wichtigen Erfahrungen gewesen sind. In diesem persönlichen Bereich verortet der Erzähler noch einmal herausgehoben A-ländische Gedichte als höchste Stufe der Privatheit (siehe zur Muttersprache im kommenden Unterabschnitt). Diese zeige er vielleicht noch ganz nahen Freunden, aber nicht öffentlich. Diese Aländischen Gedichte siedelt der Erzähler auch außerhalb seiner Qualitätsmaßstäbe an und öffnet den Gegensatz zwischen seinen anderen und diesen A-ländischen Gedichten, die vergleichsweise "zu viel Emotion" und keine Leserorientierung hätten. Außerdem referie11 der Erzähler seinen Anspruch, dass Gedichte nicht zu stark mit den Erfahrungen und der Biografie des Dichters verbunden sein sollten. Auf die Frage nach dem Lese-/Schreibsetting antwortet der Erzähler, indem er verschiedene Szenen entwirft (Kneipe, Waldwiesen-Romantik, gestörtes Genie in WG), die für ihn nicht zutref161

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fen. Herr E. schildert dann als zutreffend Umbruchssituationen als eine typische Zeit und Zugfahren als einen typischen Ort für die eigene Beschäftigung mit Gedichten und spielt außerdem bei der Beschreibung der von ihm favorisierten Variante mit der Formulierung "meistens so still im Zimmer" mit dem Klischee des "stillen Kämmerleins". ln der Darstellung entwirft der Erzähler das Bild einer geschlossenen Tür: Seine persönliche Beschäftigung mit Gedichten bleibt dahinter seine Privatsache. ln Teil B übernimmt der Erzähler die Rolle des Kritikers, der das Gedicht sowohl in seinen Stärken als auch in seinen Verbesserungsmöglichkeiten betrachtet. Er zieht außerdem Parallelen zu den von ihm verwendeten Bilderwelten und seinem eigenen Schreiben.

Persönliches Auftreten ist professionell. Herr H. spricht im Laufe des Interviews an vielen Stellen über die Bedeutung, die Gedichte ftlr ihn als Pfarrer und Seelsorger haben. Er positioniert sich an diesen Stellen als jemand mit langjähriger Berufserfahrung, der über die Jahre den vielfaltigen Reichtum im Umgang mit Gedichten als Schatz und hilfreiche Methode entdeckt und zur Anwendung gebracht hat: das Schreiben von Gedichten, das eigene Predigtschreiben in einem kreativen Schreibstil, das Rezitieren von Gedichten als Predigt und die theologische Auslegung auch ursprünglich nicht theologisch gedachter Gedichte. Gedichte beschreibt der Erzähler als Medium, mit Wahrheit, Sinn, Wachstum und kreativem Leben in Berührung zu kommen. Zur gleichen Zeit erzählt Herr H. viel von seinen eigenen Erfahrungen, beschreibt seinen persönlichen Entwicklungsweg und zeigt sich als jemand, der sich tiefvon Gedichten anrühren lässt (Beleg 20: "Woher ich die Kaschnitz kenne"). Diese Passagen haben in der Gesamtkonstruktion eine belegende Funktion: Seine persönlichen Erfahrungen nutzt der Erzähler, um seine berufliche und damit menschliche Glaubwürdigkeit zu stützen. Er demonstriert auf diese Weise, dass er nicht irgendwelche Theorien oder Gedankengebäude vermitteln möchte, sondern dass er aus persönlicher Erfahrung als selber Suchender spricht. Seine persönlichen Erfahrungen sieht der Erzähler als Basis und Voraussetzung für seinen beruflichen Einsatz (z.B. im Rahmen einer Predigt etc.). Persönliches und Professionelles gehören für den Erzähler zusammen. Dieser Zusammenhang wird beispielsweise an der Stelle deutlich, an der Herr H. von einem kleinen Büchlein spricht, in das er Gedichte schreibt, die ihn "spontan ansprechen". Anschließend merkt der Erzähler an, dass diese Gedichte zu Material werden könnten für Predigten etc. und betont in einem Einschub, dass das persönliche Angesprochensein natürlich die Voraussetzung daftlr wäre.

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Persfiolicher

Skiz=e 4: Herr H.

Mit der Betonung der persönlichen Resonanz stützt der Erzähler seine Glaubwürdigkeit indem er zeigt, dass er nur etwas an andere weitergibt, was sich für ihn selbst bewährt habe. Er wird so metaphorisch gesprochen zu einem Vorkoster, der prüft, wieweit sich etwas als gut und lebensförderlich erweist. Diese Position nimmt der Erzähler auch im Verhältnis zum Gedicht in Teil B ein. Hier erprobt er das Gedicht, indem er sich unterschiedliche Situationen und Lebenslagen verschiedener Personen ausmalt und sich fragt, inwieweit sich das Gedicht in diesen Situationen bewähren würde. Seine eigene persönliche Erfahrung, die ihm zu dem Gedicht eingefallen ist, erwähnt der Erzähler immer wieder als ersten Einfall, lässt sie aber im Interview als "eigene Abschiedserfahrung" unausgeführt. Damit zeigt er sich einerseits als berührbar und beteiligt, hält aber gleichzeitig seine Privatsphäre geschützt. (2) Muttersprache Im vorigen Abschnitt wurde bereits erwähnt, dass die Wahl der Sprache als Filter oder Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit fungieren kann: Herr E., der sich als zweisprachig aufgewachsen beschreibt, schildert sein Schreiben von Gedichten in A-ländischer Sprache als Ausdruck höchster Intimität und als Gegensatz zur Öffentlichkeit. Der Erzähler konstruiert dabei die A-ländische Sprache als ihm ursprünglich näher liegend. Beleg 16: "da kommts auch automatisch immer auf A-ländisch raus" (Herr E., s. 14 [15-39) 1

E:

5

E:

aber, (-) wenn ich mir WIRKlich manchmal so was von der von der SEEle schreiben mUss, ( -) Immer A-ländisch, [... Passage , in der er die Erwähnung des eigenen Leidens iro nisiert und n o r malisiert ...] also, (. ) die sAchen die wirklich EIN ins mArk

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treffen, (.) das große- (--) LEiden, (. ) ehm ((hustet)) ja,(.) alsoda- (-) dadEnkichauf A-ländisch oder da kommt=s auch automatisch immer auf A-ländisch raus. 10

(---)

I: E:

15

[(is ja toll)] [also irgendwelch] gedichte. #und dAs, (.) dAs also das hängt glaub ich wirklich damit zusammen dass das einfach DIE:- ( .) die mUttersprAche is. # #

( ( lacht leise))

Auch Frau A. kommt in ihrer Erzählung mehrfach auf ihre Muttersprache zu sprechen. Die Erzählerirr ist in A-land aufgewachsen, hat auch Deutsch gelernt und lebt seit der Heirat mit einem B-länder in B-land. Die Erzählerirr beschreibt diesen Länderwechsel als dramatisch. Während Herr E. seine Muttersprache durch den automatischen Ausdruck und damit durch eine von ihm nicht beeinflussbare innerpsychische Regulation gesteuert als ihm näher liegend beschreibt, versucht Frau A. in einer Argumentation zunächst ihre Präferenz ftir A-ländische Gedichte an Charakteristika der Sprachen selbst festzumachen. Mit dem Verweis, dass Aländisch ihre Muttersprache sei, beendet die Erzählerirr diese Argumentation und demonstriert durch den Gebrauch des Wortes "Muttersprache", dass dies ein unwiderlegbares und nicht näher erklärungsbedürftiges Argument sei. Zwei weitere Erzählerinnen, Frau C. und Frau D., beziehen sich in ihren Erzählungen auf ihren Heimatdialekt Frau D. schildert (ähnlich wie Frau A. und Herr E. in Bezug auf die Muttersprache) eine persönliche Nähe zu Gedichten in ihrem Heimatdialekt Sie charakterisiert diese Gedichte als Wärme und Geborgenheit stiftend. Frau C., die im Interview Hochdeutsch spricht, thematisiert das Dialektale im Anschluss an das Interview nur in Bezug auf die Hochdeutsch sprechende Zuhörerirr und erwähnt die Notwendigkeit, als Schauspielerirr dialektfrei sprechen zu können. Im Interview nutzt die Erzählerin den Dialekt (siehe Beleg l: "Tröstegedicht"), um ein Gedicht aus der Kindheit wiederzugeben. Mit der Verwendung des Dialektes gibt sie der Szene jene Wärme, Vertrauen und Geborgenheit stiftende Note, die die anderen Erzählerinnen dem Dialekt explizit zuschreiben. (3) Die eigenen Gedichte: Rechtfertigungs- und Balancierungsstrategien beim Öffentlichmachen Wie bereits erwähnt sprechen in ihren gedichtbiografischen Erzählungen ausnahmslos alle Interviewpartner spontan vom eigenen Gedichteschreiben. Diesem eigenen Schreiben messen die Erzähler beispielsweise für eine bestimmte vergangene biografische Phase oder auch aktuell eine 164

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Bedeutung bei. In diesen Zusammenhängen wird immer wieder thematisiert, inwieweit die eigenen Gedichte anderen Personen gezeigt, gegeben oder vorgelesen/vorgetragen wurden . Diesen Schritt, einem Gegenüber die eigenen Gedichte zu zeigen, soll im Folgenden "Öffentlichmachen" genannt werden. Diese Bezeichnung soll das Mitteilen eigener Gedichte sowohl im persönlichen Kontext als auch in größeren Zusammenhängen umfassen; also z.B. das Zeigen eines eigenen Gedichtes einer nahe stehenden Person aber auch Publizieren oder Auftritte vor einem fremden Publikum. "Öffentlichmachen" soll die Eröffnung und das Zugänglichmachen der eigenen Gedichte an ein Gegenüber bezeichnen. Die Erzählerinnen verwenden für diesen Akt umgangssprachliche Bezeichnungen "geben", "schenken" oder "zeigen", in größeren Zusammenhängen auch "verlegen", "rausbringen" etc. Die Interviewpartner beschreiben Situationen, in denen sie etwas ein Gedicht - geschaffen haben, das potenziell teilbar ist; etwas, das auch über längere Zeit in einer bestimmten Form erhalten bleibt und damit auch prinzipiell über eine Zeitspanne hinaus zur Verfügung steht: in schriftlicher oder in erinnerter Form. Die Frage, ob sie dieses eigene Produkt einem Gegenüber zeigen und mitteilen wollen, ist für die einen Erzä.hlerinnen selbstverständlich, für andere stellt sie sich offenbar nicht, sondern wird erst durch die Interviewerin ins Spiel gebracht. Je nachdem, wer beim Öffentlichmachen als Gegenüber gewählt wird (ein vertrauter, ausgewählter Kreis oder aber auch ein anonymes öffentliches Publikum), ist eine prinzipielle Öffnung des Zeigens hin zu einem unbekannten Gegenüber mit eingeschlossen. Je nach Art der Präsentation - als eine mündliche oder als eine schriftliche Form der Veröffentlichung - werden die Gedichte über die aktuelle Situation und damit über die eigene Anwesenheit (und Kontrolle) hinausgehend anderen zugänglich gemacht. In vielen Passagen verdeutlichen die Erzählerinnen, dass das Öffentlichmachen (oder bereits die Mitteilung, selbst Gedichte zu schreiben) bedeutet, sich dem Kommentar und Urteil anderer Personen auszusetzen. Die Erzählerinnen beschreiben die mit dem Öffentlichmachen verbundenen Situationen als ein Spannungsfeld zwischen Stolz und Angst vor Verletzung. Ihre Gegenüber positionieren sie als Kritiker, Bewunderer, Kommentatoren, als schweigende, unbeholfene, wohlwollende, oder auch inkompetente Personen. ln einer Passage aus dem Interview mit Frau B. werden unterschiedliche Facetten dieses Spannungsfeldes deutlich: Die Erzählerin schildert eine Begebenheit, in der sie in der Schule alle selbst ein Gedicht schreiben sollten. Beim Vortragen des von ihr geschriebenen Gedichtes zeigt sich ein Mitschüler ungläubig, dass das Gedicht wirklich von ihr sei. Die Erzählerin zeigt, dass sie diese Unterste!-

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lung einerseits als Anerkennung ihres Gedichtes und damit auch ihres Könnens, aber auch als verletzenden Fälschungsvorwurf auffasste. Die Erzählerirr muss in diesem Fall die eigene Urheberschaft rechtfertigen oder verteidigen. In dem Vorwurf des Mitschülers wird deutlich, dass mit der Kritik des Gedichtes auch Erwartungen und Bewertungen der eigenen Person verbunden sein können: In der Erzählung unterstellt der Mitschüler der Erzählerirr implizit, dass er ihr ein so gutes Gedicht nicht zutraut. In den Erzählungen beschreiten die Interviewpartner in den Selbstund Fremdpositionierungen unterschiedliche Wege, die eigene Autorenschaft darzustellen. Mit diesen unterschiedlichen Darstellungen kommentieren sie die Veröffentlichungssituation und balancieren sowohl potenzielle Kritik aber auch potenzielles Lob aus. Die Erzähler positionieren ihr Umfeld und ihre Gegenüber und halten mit verschiedenen Strategien die eigene Autorenschaft und damit die Verantwortlichkeit für das präsentierte Gedicht und das Öffentlichmachen selbst in der Schwebe. Die Selbstpositionierung als dichtende Person ist ftir die meisten Interviewpartner ein Akt, der ihnen erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig erscheint (siehe auch 2.3.2). Das eigene Dichten und das Öffentlichmachen ist offenbar ein Feld, in dem Normen und Kompetenz eine Rolle spielen. Im Folgenden sollen diese Strategien im Spannungsfeld der Situation des Öffentlichmachens vorgestellt werden. Auch wenn einzelne Motive im Folgenden prototypisch dargestellt werden, soll mit den Strategien keine Typisierung der Interviewpartner impliziert werden. Kein Erzähler verwendet nur eine einzige Strategie. Vielmehr verwenden die Erzähler die folgenden Strategien sehr flexibel und in vielfaltigen Variationen.

(/) Sich nicht oder nur sehr eingeschränkt in Situationen des Öffentlichmachens begeben Für einzelne Erzähler ist das Öffentlichmachen von Gedichten in den Spontanerzählungen kein Thema. Sie erzählen zwar vom eigenen Schreiben, eine Weiterverwendung über das Schreiben hinaus und ein Weitergeben der Gedichte an ein Gegenüber erscheint an diesen Stellen nicht relevant. Der eigene Schreibprozess selbst steht im Vordergrund in diesen Interviewpassagen. AufNachfrage berichten die Erzähler, das eigene Gedicht niemandem oder nur sehr ausgewähltem Gegenüber gezeigt zu haben und kommentieren ihre Abstinenz folgendermaßen: • Normen: Dichter als Elite oder eigene QualitätsmängeL Wie in Abschnitt 2.3.1 ausführlich dargestellt wird, konstruieren viele Erzähler normative Ansprüche und rechtfertigen das eigene Dichten diesen gegenüber. Dichter werden als eine homogene Gruppe konstruiert und Dichten und somit Veröffentlichen in größerem Ausmaß sollte daher ihnen überlassen bleiben.

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Die Erzähler zeigen in dieser Positionierung, dass sie sich selbst nicht zur Gruppe der Dichter zählen bzw. gezählt werden wollen. Tn ähnlicher Weise wird das selbst geschriebene Gedicht vor eigenen oder objektiven Normen qualitativ abgewertet und damit als nicht veröffentlichungswürdig oder mitteilbar eingestuft. Schlechte Eifahrungen: Unbeholfenheit der Gegenüber. Mit dem Verweis, die Erfahrung gemacht zu haben, ein Gegenüber habe unbeholfen, desinteressiert, befangen, vielleicht auch verletzend - zumindest in einer unbefriedigenden Art- auf das Zeigen eines Gedichtes reagiert, wird impliziert, dass ein weiteres Öffentlichmachen nicht angestrebt wurde. Privatsphäre: Gedicht als etwas Intimes. Auch die Betonung, dass das eigene Gedicht etwas sehr Persönliches sei oder zum Ausdruck bringe, wird als Argument verwendet vom Veröffentlichen abzusehen. Die eigene Schutzbedürftigkeit wird an diesen Stellen hervorgehoben. Zeitliche Verzögerung. Eine zeitliche Distanz zwischen Schreiben und Öffentlichmachen wird als Möglichkeit beschrieben, ein an sich auch sehr persönliches Gedicht anderen zugänglich zu machen. Diese zeitliche Verzögerung lässt sich als eine Art Übergangsraum interpretieren, in dem sich metaphorisch gesprochen das Gedicht vom Autor löst bzw. sich die mit dem Gedicht verbundenen Gefühle und Themen stabilisieren.

(II) Strategien der Immunisierung Einige Erzählerinnen weisen im Kontext des eigenen Schreibens und der Möglichkeit des Öffentlichmachens den Gedichten bzw. dem eigenen Schreiben einen von üblichen Bewertungen gesonderten Platz zu. Mit den folgenden Strategien wird für die eigenen Gedichte eine neue Beurteilungsdimension eröffnet. Auf diese Weise findet eine Immunisierung der eigenen Texte (und der eigenen Person) statt. • Unabhängiger Wert. Die eigenen Gedichte und das eigene Schreiben werden als Wert in sich konstruiert, ohne dass dies näher erläutert oder gerechtfertigt wird. Dieser Wert wird den Gedichten unabhängig und noch vor jeder Reaktion des Umfeldesapriori zugeschrieben. • Persönliche Relevanz. Tm Hervorheben der biografischen Relevanz des Gedichtes oder auch im Unterstreichen, ein Gedicht "flir mich selbst" gemacht zu haben, wird das Gedicht nach persönlichen Maßstäben bewertet. So kann eine Unabhängigkeit vom Urteil anderer demonstriert werden: Lob oder Kritik wird auf diese Weise die Bedeutsamkeit genommen. Außerdem kann so dem Vorwurf, um der Anerkennungwillen geschrieben zu haben, der Boden genommen werden. Der Hinweis auf die persönliche Relevanz kann gleichzeitig die eigene Schutzbedürftigkeit signalisieren, um eine mögliche scharfe Kritik oder Bewertung zu verhindern. Tn jedem Fall be-

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kommt das Gedicht auch so einen Wert zugesprochen noch vor jeder Reaktion von anderen. Prozess- nicht Produktorientierung Eine Betonung des Schreibprozesses gegenüber dem Produkt nimmt dem kommunizierten Gedicht die Relevanz und damit Kritikwürdigkeit Auf diese Weise wird das öffentlich gemachte Gedicht zum Nebenprodukt.

(111) Strategien, sich von einem sanktionierenden Umfeld oder von (potenziellen) Kritikern zu distanzieren Unter (I) wurde bereits erwähnt, dass mit dem Hinweis auf die eigene Privatsphäre oder aufgrund schlechter Erfahrungen von einem Öffentlichmachen abgesehen werden kann. Die eigenen Gedichte werden in einem persönlichen Bereich angesiedelt und daher nicht anderen zugänglich gemacht. ln einer Weiterführung finden sich in Bezug auf ein eingeschränktes Öffentlichmachen ähnliche Konstruktionen. Parallel zum Betonen der Privatsphäre wird meist gleichzeitig die Konstruktion eines unguten oder sanktionierenden Umfeldes verknüpft. Auf diese Weise wird entweder ein Öffentlichmachen vollständig ausgeschlossen oder aber das soziale Umfeld wird aufgegliedert: • Trennung der Bereiche: Milieu- und Gruppennormen Die eigenen Gedichte werden nur in bestimmten Kontexten oder nur bestimmten Personen gezeigt. Damit konstruieren die Erzählerinnen eine Trennung unterschiedlicher sozialer Kontexte: Es gibt Bereiche, in denen sie die eigenen Gedichte zeigen. Andere Kontexte werden charakterisiert durch konkrete Gruppennormen (z.B. die Jugendband von Herrn F.) oder implizite Milieunormen (z.B. der wissenschaftliche Kontext von Frau B.), die persönliche Gedichte oder Gedichte schreiben überhaupt sanktionieren würden. Tn diesen Kontexten sehen die Erzähler vom Öffentlichmachen ab. • Trennung der Bereiche: Selektion der Texte. Auch die Gedichte selbst werden hinsichtlich des Grades an Privatheit in eine Rangreihe gebracht und je nach Nähe und Distanz zum jeweiligen sozialen Umfeld öffentlich gemacht: Einige Texte sind einem Erzähler näher und werden als vollständig privat bezeichnet, andere können einem nahen Kreis gezeigt werden und wieder andere Gedichte können an eine anonyme Öffentlichkeit gegeben werden (siehe Unterabschnitt (1 ): Herr E.). Neben dieser Unterteilung des sozialen Umfeldes positionieren Erzähler (potenzielle) Kritiker so, dass deren Kritik (oder auch Lob) relativiert wird. • Abwertung der Kritiker. Indem dem Gegenüber persönliche Motive und Attribute zugeschrieben werden, verliert eine mögliche Kritik an Gewicht: Jemand, der neidisch, inkompetent, befangen oder auf eine andere Weise

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emotional involviert dargestellt wird, dessen Urteil verliert an Bedeutung. Eine Kritik wird auch relativiert, indem der Kritiker als Ausnahme unter vielen Bewunderern beschrieben wird oder jenes Gegenüber sowieso alles kritisiere. Ähnlich lässt sich ein Verweis auf den Erfolg, den ein Gedicht in einem größeren Rahmen bereits hatte, verstehen. Dieser Hinweis auf Preise und Erfolg ist auch als eine weitere Tmmunisienmgsstrategie interpretierbar. Ebenso stellt die fachliche Erläuterung von Stilfiguren im Gedicht eine Immunisierungsstrategie dar, die mögliche Kritiker als unqualifiziert erscheinen lässt. Umdeutung der Kritik und Solidarisierung mit verkannten Genies. Wenn ein Gegenüber oder eine ganze Gruppe oder Gesellschaft als vom Zeitgeist verblendet positionie11 wird, kann deren Kritik als Lob gedeutet werden und ist ein Zeichen der Qualität des Gedichtes. Das eigene Gedicht kann nun als unbequem und nicht gerne gehört, gerade aber durch diese Kritik geadelt als umso wahrer konstruiert werden. Mit dieser Art der Fremdpositionierung kann eine Selbstpositionierung einhergehen, in der eine Analogie zu berühmten verkannten Genies der Vergangenheit gezogen wird. Deren Größe wurde oft auch erst nachträglich erkannt. Mit dieser Art der Positionierung soll die Beliebigkeit der Kommentare des Umfeldes entlarvt werden.

(IV) Strategien zur Auflösen der Identität "Text bin ich"l"lch bin Schreiberin" Im Folgenden werden Strategien vorgestellt, mit denen die Erzählerinnen den Bezug zum selbstgeschriebenen Gedicht modalisieren, indem sie die eigene Verantwortlichkeit als Autorinnen relativieren und eine Distanz zwischen sich und dem Text konstruieren. Dadurch, dass sie unterschiedliche Einflüsse auf das Entstehen des Gedichtes rekonstruieren, können sie mögliche Kritik delegieren aber auch ein mögliches Lob mit dem Verweis auf günstige Bedingungen sozial verträglich annehmen. Mit der Verwendung dieser Strategien wird der eigene Anteil der Verantwortung für das Gedicht und das eigene Schreiben in der Schwebe gehalten. • Hinweis au/Mitverantwortliche. Mit dem Hinweis auf Koproduzenten, die Anteil an der Entstehung des Gedichtes hatten oder auf Vorbilder, an die man das eigene Schreiben anlehnt oder Lehrer, die den eigenen Stil beeinflusst haben, wird die Verantwortlichkeit für den Text aufgeteilt. Lob oder Kritik wird so auf viele Schultern verteilt. • Hinweis auf Ressourcen. Ähnlich fungie11 der Hinweis auf die Ressourcen, die einem beim Schreiben zur Verfügung standen: eine ruhige/störende Umgebung, ein besonders schön oder schwer zu fassendes Thema etc. • Hinweis auf den Kontext der Produktion. Mit der Betonung des Rahmens, in den das Schreiben des eigenen Gedichtes gestellt wird, wird ein Teil der

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Verantwortlichkeit auf Kontextbedingungen umverteilt: Die Rabmung der eigenen Produktion als Familientradition lässt das eigene Schreiben und das eigene Gedichtete als Bedienen eines typischen Genres sehen (siehe Beleg 12: "Das war dann so ne Erwartungshaltung"). Auch das Hervorheben der beruflichen Bedeutung des eigenen Schreibens legt den Fokus auf die funktionale Einbettung des Gedichtes in den Entstehungskontext (z.B. Rahmung: selbst Schreiben, um ein Modell für andere zu sein (siehe Abschnitt (I) Herr H. und Beleg 23: "Probiers doch auch mal"). Selbstdistanzierungsstrategien. Diese Strategie, den Kontext hervorzuheben, lässt sich auch als eine Strategie zur Distanzierung von sich selbst als Schreiberirr verstehen. Indem sich jemand von sich selbst als Schreiberirr distanziert, wird auch der produzierte Text von der eigenen Person weggerückt Dies findet zum einen in der eben beschriebenen Betonung der Rolle, in der man ein Gedicht produziert hat, statt (impliziert: "ich bin mehr als diese Rolle"). Eine Selbstdistanzierung kann auch im Hinblick auf die zeitliche Dimension angewandt werden: indem eine Erzählerirr betont, dass sie zur Zeit des Schreibens des Gedichtes noch jung, unreif oder in einem psychischen Ausnahmezustand war, konstruiert sie eine Distanz zwischen sich selbst als Schreiberirr (und damit dem Gedicht) und sich in der heutigen Zeit. Eine in Aussicht gestellte persönliche Entwicklung rahmt das aktuelle Gedicht wiederum als vorläufiges (impliziert: "in mir ist noch mehr Potenzial als es der Text vielleicht erahnen lässt"). Eine Normalisierung des eigenen Schreibens ("so etwas haben wir doch alle mal gemacht") rahmt das Gedicht als verzeihlichen "Ausrutscher" und dient der Selbstdistanzierung. Auch eine humorvolle Relativierung der eigenen Person lässt sich als Distanzierung von sich selbst als Schreibender begreifen (Beleg 24: "ich bin ja nicht Hölderlin"). Direkte Distanzierung vom Text. Neben der direkten Distanzierung von sich als Schreiberio gibt es auch die direkte Distanzierung vom Text selbst. Ein Gedicht als Ausnahme, als Glück, Pech oder Zufall zu beschreiben, dient der Schaffung von Distanz zwischen dem Gedicht und der eigenen Person. Ebenso ist die Betonung der Vorläufigkeit wie auch die Demonstration der Bedeutungslosigkeit eines Gedichtes ein Weg, sich vom Text zu distanzieren. indem ein Gedicht deutlich als in sich geschlossenes Werk oder als Kunstwerk beschrieben wird, wird eine Trennung zwischen sich und dem Gedicht konstruiert. Das Gedicht wird so in einen unabhängigen Bereich gestellt, und Kritik oder Lob gelten nun nicht mehr der Schreiberio. Hinweis auf eine andere Quelle. Ein Gedicht kann außerdem als Produkt einer höheren Macht beschrieben werden. Wenn ein Erzähler das eigene Schreiben als einen selbständigen Prozess schildert oder eine höhere Macht (z.B. im Sinne einer Selbstdistanzierung eine innere Instanz oder aber das

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eigene Schreiben in einen größeren Sinnhorizont stellt) als Urheber für den Text nahe legt, positioniert sich der Erzähler selbst als ein Medium. Durch ihn spricht etwas anderes. Meist ist mit dieser Konstruktion die Inanspruchnahme einer größeren Autorität verbunden. Passivische Formulienmgen (wie sie ausführlich in Abschnitt 2.4.1 vorgestellt werden) für das eigene Schreiben ("es kam mir", "es ist mir in die Feder geflossen", "ich musste es machen") können Varianten dieser Strategie sein und die Funktion haben, die Urheberschaft für ein Gedicht in der Schwebe zu halten.

(V) Strategien, sich vom Schritt des Öffentlichmachens zu distanzieren Auch der Schritt, Gedichte überhaupt öffentlich zu machen, kann als erklärungsbedürftig gesehen werden. Mit den folgenden Strategien wird einem (impliziten oder expliziten) Vorwurf begegnet, aus "unlauteren" Motiven Gedichte öffentlich zu machen (z.B. zur bloßen Selbstdarstellung oder um sich in den Vordergrund zu rücken). • Sich bitten lassen. Analog zu einem sanktionierenden Umfeld oder potenziellen Kritikern kann ein Umfeldlein Gegenüber konstruiert werden, das zum Öffentlichmachen drängt. Andere Personen oder schlichtweg die Situation selbst werden für das Öffentlichmachen verantwmtlich gemacht. Indem eine Erzählerio beschreibt, wie andere sie gebeten oder gar gedrängt haben, ihre Gedichte zu zeigen und zu veröffentlichen, spricht sie sich selbst frei von eigenen Motiven und macht sich gleichzeitig unabhängig von Kritik und Lob. Dieses Motiv kann gleichzeitig als indirekter Weg verwendet werden, die Güte der eigenen Gedichte herauszuheben, ohne sich selbst plump zu loben. • Öffentlichmachen als unverbindliches Angebot. Das Öffentlichmachen eigener Gedichte lässt sich auch als unverbindliches Angebot konstruieren. Auf diese Weise wird einem Umfeld die Reaktion freigestellt und wird unabhängig von Zielen und Ambitionen der eigenen Person als Schreiberio und Veröffentlichende. • Verkleinerungsformeln Die Bedeutung von Auftritten, schriftlichen Veröffentlichungen oder auch der Gedichte selbst können durch Verkleinerungsformeln oder Belanglosigkeit signalisierende Bezeichnungen herabgesetzt werden ("Büchlein" etc.). • Mission. Auch mit dem Hinweis für einen höheren Zweck oder um einer Sache selbst willen, weil es sonst niemand machen würde oder dem Publikum zuliebe etc. gehandelt zu haben, wird dem Öffentlichmachen und den Gedichten ein höherer Wert zugeschrieben, und das Öffentlichmachen geschieht nicht mehr um der eigenen Person willen.

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Abschließend sollen an einer Textpassage gezeigt werden, wie ein Erzähler im Sprechen über das eigene Öffentlichmachen von seinen Gedichten unterschiedlichste Strategien anwendet. Die Erzählung dient Herrn H. als Beleg, sich nicht mit Persönlichem in die Öffentlichkeit gespielt zu haben, sondern von seinem Umfeld gebeten worden zu sein. Indirekt demonstriert er auf diese Weise, den Wert, den seine Gedichte ftir andere haben. Schreiben und Veröffentlichen stellt der Erzähler in den Dienst einer höheren Aufgabe (Modell sein ftir andere; als unverbindliche Einladung etc.). Beleg 17: " ... und hat dann das Büchle also gedruckt" (Herr H.: S.12 [24-35]) 1

E:

5

10

I:

15 E:

vielleicht ghört dazu j et zt n och (-) also über selber text, dass ich selber texte, ja , gemacht habe, die ich für mich gemacht habe, also nicht für andere, die ich aber dann doch auch anderen zugänglich gemacht habe , zunächst fre unden so ganz vorsichtig ### man man man is ja so verletzbar #, und dann hier, als ich hier angefangen hab, hab ich=s auch dem ein oder anderen kurgast angeboten und dann kam e ine frauund sagt zu mir, fünfzig exemplare, und ich sag, ich hab noc h fünf oder so, jetzt drucken wir dass, sag ich nee , ich hab kein geld, aber ich bezahls #, sie hat achttausend mark investiert =Oh = und hat dann das büchle also gedruckt

Feinanalyse: Gegen Ende der Spontanerzählung greift Herr H. das bereits angesprochene Thema des eigenen Schreibens noch einmal auf. Im Folgenden konstruiert der Erzähler das Motiv einer allmählichen Veröffentlichung seiner Gedichte. Während er zunächst die Gedichte vollständig in seinen persönlichen Bereich stellt und die persönliche Relevanz der Gedichte hervorhebt (Zeile 3-4) beschreibt er in einem Spannungsbogen eine schrittweise Öffnung ("zunächst .. . und dann ... und dann") an andere: von einem geschützten sozialen Umfeld (hier spielt er ironisierend und normalisierend mit dem Motiv der Verletzlichkeit (Zeile 6-7)) über einzelne unverbindlichere Kontal(te ("dem ein oder anderen Kurgast", Zeile 8) bis hin zu einer radikalen Öf~ fentlichkeit. Der Erzähler inszeniert in dem kurzen Dialog mit der Frau (Zeile 912), die bereits nicht näher charalüerisiert wird und so jemand aus der anonymen Ötientlichkeit sein kann, eine Art ,J(uhhandel". Seine Gedichte sind hier nur noch verhandelbare Ware ("funfzig exemplare", Zeile I 0; "sie hat achttausend Mark investiert" Zeile 12-13). Mit den abschwächenden Formulierungen "zugänglich gemacht" (Zeile 5), "angeboten" (Zeile 9) "büchle" (Zeile 15) spielt der Erzähler die Bedeutung des Veröffentlichens herunter.

Bei der Betrachtung dieser Vielzahl an unterschiedlichen Strategien wird deutlich, dass sowohl die Tatsache des eigenen Dichtens selbst als auch

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das Öffentlichmachen der eigenen Gedichte offenbar ftir die Erzähler erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig und mit verschiedenen Dilemmata verbunden ist. Schreiben oder Veröffentlichen könnte als Anmaßung oder Peinlichkeit verstanden werden. In Abschnitt 2.3 .1 wird dieses noch einmal aufgegriffen, indem gezeigt wird, auf welche Weise die Erzählerinnen die Tatsache selbst zu schreiben im Hinblick auf die Person des Dichters als rechtfertigungsbedürftig erscheint. Mit den hier vorgestellten Strategien versuchen die Erzähler das eigene Gedicht und das eigene Schreiben in größere Sinn- und Verweisungszusammenhänge zu stellen und so Kritik aber auch Lob auszubalancieren: Sie gewähren einen Schutz der eigenen Person vor kritischen Kommentaren und ermöglichen auf der anderen Seite, Bewunderung und Lob sozial verträglich anzunehmen. Auf diese Weise dienen sie der Beziehungsgestaltung und -regulation. Die Nähe und die Verbundenheit mit den selbstgeschriebenen Gedichten wird reguliert und die Verantwortlichkeit ftir die Gedichte in der Schwebe gehalten. Diese Einklammerung der eigenen Verantwortlichkeit kann z.B. auch die Funktion haben, dem Gegenüber die Scheu zu nehmen, das eigene Gedicht zu kommentieren. Einige Strategien können so als Gesprächseröffnung dienen: Die eigene Verantwortlichkeit und damit auch Verbundenheit mit dem Gedicht wird eingeklammert. Auf diese Weise wird das Gedicht stärker als unabhängiges Objekt konstruiert und so für Kommentare freigegeben . Ausblickend ist zu fragen, ob die Strategien in dieser Form nur im Hinblick auf selbstgeschriebene Gedichte Anwendung finden : Auch beim Schritt, mit anderen eigenen Produkten in die Öffentlichkeit zu treten, sind ähnliche Strategien zu erwarten. Außerdem stellt sich die Frage, ob im Präsentieren fremder Gedichte, die einer Person wichtig sind, nicht auch ein Teil dieser Strategien eingesetzt werden.

2.2.6 Zusammenfassung In diesem Unterkapitel wurden soziale Aspekte des Umgangs mit Gedichten vorgestellt. Die Erzählerinnen präsentieren sich durch die jeweilige Ausformulierung des persönlichen Umgangs mit Gedichten als Mitglieder konkreter Gruppen und als Angehörige bestimmter Milieus und Berufsgruppen. Darüber hinaus positionieren sie sich in der Darstellung von Gedichten als allgemeinem Kulturgut und in der Darstellung des Umgangs mit Gedichten als selbstverständliche Kulturtechnik als Angehörige eines bestimmten Kulturkreises. Im sozialen Kontext können Gedichte ein gemeinsames, geteiltes Wissen darstellen, einen gemeinsamen Schatz, eine Geheimsprache oder einen Spezialcode. Zugehörigkeit zu einer Gruppierung kann durch die

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jeweilige Bezugnahme auf Gedichte demonstriert werden. Im Sprechen über ihren Umgang mit Gedichten zeigen die Erzähler eine gemeinschafts- und identitätsstiftende Gruppenzugehörigkeit, die im gemeinsamen Dichten, Interpretieren, Lesen etc. vollzogen wird. Aber auch eine eher unpersönliche Art der identitätsstiftenden Zugehörigkeit bspw. zu einer Berufsgruppe wurde vorgestellt, die im Anwenden von geteilten Normen im Umgang mit Gedichten zum Ausdruck kommen kann. Das gedichtbezogene gemeinsame Handeln kann bspw. als gemeinsames kreatives Tun dargestellt werden, als geistige Intimität, als Möglichkeit, sich Kultur anzueignen und mitzugestalten oder als gemeinsame EntschlüsseJung historischer Werke. Neben diesem gemeinschafts- und normalitätsstiftenden Aspekt des Umgangs mit Gedichten kommt in den Interviews auch eine exponierende Qualität im sozialen Umgang mit Gedichten zum Ausdruck: Zunächst wurde das (Re-)Zitieren von Gedichten als eine Tätigkeit vorgestellt, in der in vielfältigen Beziehungs- und Teilnehmerkonstellationen eine Person eine besondere, herausgehobene Form des Sprechens vollzieht. Darüber hinaus können im Umgang mit Gedichten Kompetenzen entwickelt und demonstriert werden: das Auswendiglernen, Aufsagen, Dichten, Interpretieren etc. von Gedichten schildern die Erzahlerinnen als Fahigkeiten, die Anlass für Stolz und Bewunderung sein können, und als Fähigkeiten, in denen man eine Expertenschaft entwickeln kann bzw. die im Laufe der Zeit eine besondere soziale Position mit sich bringen. Es wurden auch Veränderungen und Wechsel in der Gruppenzugehörigkeit vorgestellt: die gedichtbezogene Kommunikation mit Kindern wird als eine Tätigkeit charakterisiert, die eine Gemeinschaftszugehörigkeit und ein Kompetenzgefühl vermitteln kann und ein allmähliches Hineinwachsen in einen (Kultur-)Kreis ermöglicht, indem im Kennen, Können und Mitsprechen von Texten die Teilhabe in je unterschiedlichem Ausmaß gestaltet werden kann. Das Kennen und Auswendigkönnen von Gedichten kann als eine Zugangsvoraussetzung zu kultureller Teilhabe betrachtet werden. Es kann in konkreten Kommunikationssituationen, eine Gruppenidentität im gemeinsamen Erinnern stabilisieren aber auch zwischen Unbekannten stiften, indem es als ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund interpretiert wird. Diese Art der Verbundenheit gibt es offensichtlich noch vor einer Interpretation oder einem Austausch über das eigene Erleben und Verstehen eines Gedichtes. Der eigene Umgang mit Gedichten kann auch als ein Wechsel in der Bezugsgruppe erlebt und interpretiert werden. Die eigene Beschäftigung mit Gedichten kann - z.B. wenn das soziale Umfeld nicht als tragend und nährend erlebt wird - einen neuen Bezugsrahmen, eine eigene Welt aufbauen, sei es durch das Geftlhl der geistigen Verbundenheit mit den

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Dichtem oder durch eine Horizonterweiterung und einem Wechsel in der Erlebnisqualität und Weitsicht, die im Lesen der Gedichte erfahren wird. In diesem Unterkapitel wurde an unterschiedlichen Themenfeldern aufgezeigt, wie die Erzähler den Umgang mit Gedichten als eine Tätigkeit charakterisieren, in der zwischen Persönlichem und Öffentlichem vermittelt wird/werden muss. Der Umgang mit Gedichten bzw. die Erfahrungen in der Beschäftigung mit Gedichten werden auf der einen Seite als etwas Persönliches, ja Intimes geschildert. Gleichzeitig gibt es eine öffentliche Seite: Gedichte sind ein geteiltes, gemeinsames Kulturgut bzw. liegen in einer mitteilbaren Form vor. Im Kontext beruflicher Beschäftigung mit Gedichten, im Zusammenhang mit Dialekten oder Zweisprachigkeit und in der Frage, inwieweit eigene Gedichte öffentlich gemacht werden, konnte gezeigt werden, wie die Erzähler das Verhältnis zwischen Persönlichem und Privaten definieren und ausbalancieren. Bei der Darstellung der Balancierungsstrategien, mit denen das Öffentlichmachen der eigenen Gedichte gerahmt wird, wurde deutlich, dass das eigene Dichten zwar als eine selbstverständliche kulturell anerkannte Form eines besonderen Sprechens betrachtet werden kann, es dennoch eine sehr prekäre Praxis darstellt, dieangesichtsvon Normen und Autoritäten gerechtfertigt werden muss.

2.3 Gedichte im Kontext der Beziehung zum Dichter: der Dichter als Gegenüber ln diesem Unterkapitel wird die Art und Weise rekonstmiert, wie die Erzähler sich auf die erwähnten Dichter 15 beziehen (siehe Abbildung 5). Dies geschieht unter zwei Perspektiven : Zunächst geht es darum, welche Funktionen das Erwähnen des Dichters hat und wie er als Gegenüber entworfen wird (2.3 .1 ). Anschließend soll gezeigt werden, wie die Erzähler das eigene Schreiben von Gedichten im Hinblick auf die Dichter konstruieren (2.3 .2). 15 I) Bis auf wenige Ausnahmen beziehen sich alle Erzählerinnen auf eher berühmte Dichter. Nur Frau B. erwähnt im Sprechen über zeitgenössische Lyrik Dichter, die sie mit kurzen Attributen erläutert und damit nahe legt, dass sie sich auf Spezialwissen beziehe. (siehe auch "Dichtername als Produktbezeichnung") TI) Außerdem übelwiegen die Erwähnungen männlicher Autoren. Aus diesem Grund wird im Folgenden vorwiegend von "Dichtern" die Rede sein. Lediglich Herr H. spricht vorwiegend über Frauen als Dichterinnen und kommentiert diese Tatsache auch metakommunikativ. Frau A., Frau B. und Frau I. beziehen sich jeweils einmal auf eine weibliche Autorin. 175

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Narrath·e Darstellung des erzihlenden Ich

A bbi/dung 5: Positionierungsschema " Dichter als Gegenüber " (in Erweiterung des Schemas von Lucius-Hoene & Deppermann (2002))

2.3.1 Die Person des Dichters: ein vielschichtig konstruiertes Gegenüber Alle Erzählerinnen erwähnen in den Interviews an der einen oder anderen Stelle Dichter. Aus der narrativen Einbettung dieser Passagen und den Selbst- und Fremdpositionierungen lässt sich rekonstruieren, als was die Erzählerinnen die Person des Dichters verstehen und wie sie selbst in Bezug zu den Dichtern gesehen werden wollen. Dabei beziehen die Erzählerinnen ihr Wissen über die Dichter entweder aus Hintergrundwissen über die Person und Biografie des Dichters oder sie schließen von den gelesenen Gedichten auf die Person des Autors. Im zweiten Fall verwenden die Erzählerinnen die Gedichte als eine Art Spiegel, in dem sie etwas über Denken und Fühlen des Dichters erfahren und ihm auf diese Weise begegnen können. Es folgen nun vier Darstellungen, in denen unterschiedliche Arten charakterisiert werden, wie die Erzähler Dichter als Gegenüber konstruieren: Der Dichtername wird häufig lediglich als ein Synonym für die Werke verwendet (I). Außerdem wird der Dichter als menschliches Gegenüber, mit eigener Biografie und in den Gedichten zum Ausdruck gebrachten Erfahrungen geschildert (2). Dichter werden darüber hinaus als Seelenverwandte und bewunderte Autoritäten beschrieben (3). Und der

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Dichter wird als ein überpersönliches Gegenüber konstruiert, das in stellvertretender Weise Funktionen fiir die Lesenden übernimmt (4). In den Interviews verwenden die einzelnen Erzähler diese verschiedenen Weisen der Bezugnahme auf die Person des Dichters nicht durchgängig einheitlich. Vielmehr schillern die Darstellungen, so dass die Erzähler innerhalb kurzer Zeit auf sehr verschiedene Aspekte der Person des Autors anspielen. (1) Der Dichtername als Produktbezeichnung ln dieser ersten Art der Bezugname auf die Person des Autors konstruieren die Erzählerinnen den Dichter gerade nicht als ein Gegenüber. Der Name des Dichters stellt lediglich die nähere Kennzeichnung eines Werkes oder einer Stilrichtung dar. Der Name verweist nicht mehr auf eine Person, sondern benennt nur noch eine Epoche oder ist eine Produktbezeichnung für die Werke eines Dichters. Meist wird nur der Nachname des Dichters genannt. Der Name der Dichter wird formal als Synonym für deren Werk verwendet und wirkt an den Stellen wie ein Label. Ähnlich wie in Bezug auf einzelne Werke lässt sich in den Interviews an vielen Stellen zeigen, dass die Erzähler die Dichternamen (und die damit implizierten Stilrichtungen) als selbstverständlich geteiltes Wissen sehen. Gelegentlich ist mit der Nennung eines Dichternamens ein kurzes paraverbales Kontaktaufnehmen zur Interviewerirr verbunden, in dem sie eine Ratifizierung ("kenne ich", "kenne ich nicht" ) einfordern, um zu überprüfen, ob sie tatsächlich von geteiltem Wissen ausgehen können. Diese Art der Bezugnahme auf die Dichter hat oft einen Belegcharakter: Mit dem Namedropping wird die eigene Vertrautheit mit den Werken der Dichter kenntlich gemacht und auch eine Verftlgbarkeit über diesen (Wissens-)Fundus signalisiert. Beleg 18: "Brecht hammer in der Schule relativ viel gemacht'' (Herr G.: S.3 [18-29]) 1

E:

5 I: E:

10 I: E:

BRECHTgedichte - also mir fällt jetz t manchmal, (.) GRADE ERST EIN: wenn ich da so sprEch gelauch ne,> (. ) brEcht hammer i n der SCHUle relativ viel [gemacht] auch [mi t] gedichten ne, [ja, ( - ) ja.] dAs: war auch immer TREFFEND find, (- ) i ch da AUch ne, was da so positiv die=die DARstellung ABER, (.) es WAR a uch wieder ni c h das HERZbewEgende, natürlich ne, ja h=hm und da ich eher gefühlsmÄßig orienTIERT BIN, oder zumindest beHAUPte das ((lacht ) ) HAT MICH, (- ) hat mich diese ANdre Art

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15

gedrehte ne diE eben he s se oder n ovali s o der so was, ( . ) # #

Feinanalyse: Den Kontext dieser Passage aus dem Interview mit Herrn G. bildet die Beschreibung des eigenen Gedichtgeschmacks in der Schulzeit. Herr G. führt hier eine bereits angedeutete UnterscheidWlg zwischen zwei Arten von Gedichtstilen weiter. In diesem Interviewausschnitt verwendet der Erzähler die Namen der Dichter als Synonym für verschiedene Stilrichtlillgen. Dabei verhandelt der Erzähler die Brechtgedichte in einem typischen Schülerjargon als ein Wissensgebiet ("Brecht hammer in der Schule relativ viel [gemacht]", Zeile 3-4), das man (ähnlich wie z.B. Stochastik oder den kalten Krieg) ausführlich abhandeln ("auch mit Gedichten", Zeile 4-5), sich seiner bemächtigen und anschließend einen bewertenden Kommentar abgeben kann (Zeile 7-1 0). In der als gegensätzlich konstruierten Stilrichtlillgen setzt der Erzähler die Dichternamen ebenfalls als Bezeichnung für eine ganze Stilrichtung ein. Mit der Listenbildung in Zeile 15-16 "hesse oder novalis oder so was" suggeriert der Erzähler zum einen eine geschlossene, klar angerissene Kategorie von Gedichten. Er unterstellt gleichzeitig, dass er sich auf geteiltes Wissen mit der Zuhörerio berufen kann, und diese nicht nur die mit dem Dichternamen gemeinten Gedichte kennt, sondern darüber hinaus die Liste selbst vervollständigen könnte ("oder so was").

Im Interviewausschnitt wird deutlich, dass die Erwähnung der Dichter als Bezeichnung für dessen Werke und eine gesamte Stilrichtung auch als Mittel der Selbstpositionierung und - charakterisierung verwendet wird. So lässt sich die individuelle Auswahl - nicht nur der im Interview erwähnten Gedichte, sondern auch der erwähnten Dichter - als eine Art persönliches Profil begreifen, mit dem die Erzählerinnen den eigenen Geschmack und das eigene Selbstverständnis zum Ausdruck bringen wollen. Wie der Interviewausschnitt auch zeigte, transportieren für die Interviewpartner die Namen der Dichter auch bereits Assoziationen zu der jeweiligen Stilrichtung. Diese Verweisungszusammenhänge, in denen ftir die Interviewpartner ein jeweiliger Dichter steht, unterstellen die Erzähler häufig als gemeinsames Wissen mit der Erzählerin . Dabe i nutzen unterschiedliche Erzählerinnen den gleichen Dichter als Figuren in sehr unterschiedlichen Geschichten: Bei einer Erzählerio bedeutet die Erwähnung von Erich Fried einen Verweis auf Wahrhaftigkeit, die andere nutzt den Namen um eine betuliche, eher pubertäre Emotionalität zu charakterisieren. Diese jeweiligen Interpretationen lassen sich nur aus dem j eweiligen Verwendungskontext ansatzweise herausarbeiten. (2) Der Dichter als Mensch An vielen Stellen in den Interviews erwähnen die Erzählerinnen einzelne Dichter und beziehen sich dabei auf die konkrete Person: auf den Mensch mit einer eigenen Biografie, der zu einer bestimmten Zeit gelebt hat. Un178

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terschiedliche Facetten dieser Art der Bezugnahme auf die Dichter sollen nun vorgestellt werden. Eine besondere Art, die Dichter als konkrete Menschen darzustellen, wählt Herr H .. Der Erzähler zieht an vielen Stellen im Interview in Hintergrundkonstruktionen Parallelen zwischen sich selbst und einzelnen Dichtem. Dies wird besonders bei Ortsbeschreibungen deutlich: So verweist Herr H. im Interview auf die räumliche Nähe zum Grab von MarieLuise Kaschnitz oder er erwähnt, dass er eine Schule besucht habe, in der auch Hesse und Hölderlin gewesen waren. In diesen Passagen demonstriert der Erzähler, dass sein eigenes Referenzsystem zur Beschreibung von Orten mit seinem Wissen um die Biografien der Dichter durchwirkt ist. Auf diese Weise vermittelt er eine persönliche Vertrautheit mit den Dichtem und trägt zur Plastizität und Lebendigkeit seiner Darstellung bei (siehe auch Beleg 20: "Woher ich die Kaschnitz kenne"). An einer Interviewpassage von Frau A. wird eine weitere Weise sichtbar, die Dichter als reale Personen aufzufassen. Frau A. erzählt, wie sie nach jahrelanger intensiver Beschäftigung mit einem Gedichtband versuchte, mit der Dichterirr persönlich Kontakt aufzunehmen. Im Mittelstück der Erzählung, einem reinszenierten Telefongespräch mit dem Verlag, zeichnet die Erzählerirr die Erfahrung nach, dass die geschätzte Dichterin, die bislang eher eine unbiografische bewunderte Instanz für sie gewesen ist, schlagartig zu einer real existierenden Person wird. Frau A. inszeniert dieses Telefonat so, dass die eigene schüchterne Anfrage, ob die Dichterirr noch lebe, eine lachende Zurechtweisung erfährt mit dem Satz, dass die Dichterirr sogar sehr lebendig sei. ln dieser Erzählung vermittelt Frau A. plastisch den Einbruch einer neuen Art der Bezogenheit auf die Dichterirr als Person. Dabei zeichnet sie die eigene Verehrung dieser Dichterirr nach und auch die Freude darüber, dass diese Dichterirr später den Kontakt zu ihr schätzte und sie sogar um Rückmeldung zu ihren neuen Büchern bat. Des Weiteren charakterisieren die Erzähler Dichter als Identifikationsfiguren und Vorbilder. So bezieht sich Herr K. auf die Vorbild funktion der Dichterbiografien bei der eigenen Suche nach einem künstlerischen Lebensweg. Oder der Dichter wird als Begleiter und insofern als vertrauenswürdig konstruiert, als er gleiche Erfahrungen gemacht hat. In der folgenden Textstelle "Es geht nicht nur mir allein so" (Beleg 19) schildert Herr G. eine Leseerfahrung aus seiner Jugend, in der er eine Legitimation seiner eigenen Erfahrungen erfährt. Herr G. fasst das Gedicht als einen Erfahrungsbericht von Hesse auf. Das Lesen wurde zum Realisieren einer Gemeinsamkeit zwischen dem eigenen Erleben und dem von Hesse Beschriebenen. Hesse wird als ein menschliches Gegenüber konstruiert: als ein Artgenosse, der auf gleicher Ebene wie Herr G.

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selbst fühlte, und als Pate, der Herrn G. stützen und stärken konnte. Indem Hesse sowohl als eine gesellschaftlich anerkannte Person dargestellt wird als auch dem eigenen Erleben nahe stehend, schreibt ihm Herr G. eine Brückenfunktion zu. Er beschreibt eine Umattribuierung: Die zuvor als ungewöhnlich erlebte eigene Erfahrung wird als normal und "allgemein menschlich" gesehen. Die erfahrene Nähe zu Resses Erleben, der eine gesellschaftlich anerkannte Person ist, konstruiert Herr H. so als eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Beleg 19: "Es geht nicht nur mir allein so" (Herr G.: S.8 [18-271) 1

5

10

E:

auch diese stUfen natürlich das is auch so- ja klAr,

ja auch bei den ÜberGÄNgen die s o :- #die DA sO SIND , die werden stärker ja auch erlebt ne, # .h und dann war das mit=n stUfen auch sehr tröstend irgendwi e ne, # mit diEsem:- (.) auch NEUbeginn, ABschiEd und all so dinge dass man das da- (--) das war, (.) WAR=n trüst also hab ich da so e=empfUnden ne, (.) # dass ich gedacht hab eben, es geht ni cht nur MIR alLEIN so un, (-) jemand dEn ich sonst a uch sehr schätze wie dieser AUtor, der hat das a u ch erlebt, hat es so was allgemEinmenschliches.

Feinanalyse: Dieser Beleg ist ein Ausschnitt aus einer langen Passage des Interviews. in der der Er::.ähler die Bedeutung darstellt, die Gedichte für ihn in der Pubertät hatten. Diese Passage hat bereits zusammenfassenden Charakter und ist sprachlich auf einem eher abstrakten Niveau. Der Erzähler greift in der Passage das bereits erwähnte Gedicht von Hesse "Stufen" in einer eher tlapsigen Weise wieder auf ("diese Stufen" und "mit'n Stufen", Zeile 1 und 5) mit der er die Annahme kennzeichnet, dass er und die Erzählerin sich in einer Art Insiderkommunikation auf Werke beziehen können. Mit den Worten "natürlich" und ,ja klar" rahmt er die fol gende Äußerung als Allgemeingut. Zunächst charakterisiert er generalisierend Erfahrungen in Phasen des Übergangs als besonders herausgehoben ("werden stärker ja auch erlebt", Zeile 3-4), wobei der Erzähler die eigenen bereits als problematisch beschriebenen Gefühle und Stimmungen an dieser Stelle nur noch abstrakt umreißt. Der Erzähler schließt mit "und dann" eine zeitliche Folge an und erwähnt in dieser Situation das Gedicht. Der Erzähler spielt nur ganz kurz auf die im Gedicht thematisierten Phänomene an und wählt als Darstellungstürm die eine Vollständigkeit implizierende Listenbildung ("mit diesem, auch Neubeginn, Abschied und all so Dinge" Zeile 67): Das Gedicht in seiner Gesamtheit charakterisiert der Erzähl er als umfassend tröstlich. Auch die Art der Rezeption, ob gelesen, gehört oder auswendig gelernt bleibt an dieser Stelle irrelevant. Auf diese Weise charakterisiert der Erzähler die Beschäftigung mit dem Gedicht als umfassendes Erlebnis. Er erläutert sein damaliges Erleben (Zeile 7-8) und reinszeniert in wörtlicher Rede seine Gedanken (Zeile 9-12), in denen er die Analogie seines eigenen Erlebens mit dem von Hesse erkennt. Der Erzähler öftnet die zuvor beschriebene Einsamkeit über die Zweisam-

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keit hin zu einer umfassenden Eingliederung in die Gemeinschaft. ln dieser Passage positioniert der Erzähler sein Gegenüber gleichzeitig als einen Vertrauten und eine Institution (,jemand den sich sonst auch sehr schätze wie dieser Autor", Zeile 10-11), der eine Bindegliedfunktion bekonnnt. Mit der vom Erzähler oft verwendeten Bezeichnung "Allgemeimnenschliches" verweist Hen G. auf eine von allen Menschen geteilte Basis, die eine Verbundenheit zwischen allen impliziert und eine Eingliederung des eigenen (partikulären) Erlebens gewährleistet

ln der Passage wird deutlich, dass Gedichte einen Beitrag zur (Mit-) teilbarkeit des eigenen Erlebens leisten können: Einerseits werden persönliche Erfahrungen im geteilten Format der Gedichte als Begegnung zwischen einem imaginierten Autor und dem Leser verstanden, außerdem können sie im Sprechen über das eigene Erleben wie im Interview eine (vermeintlich?) geteilte Basis darstellen. Ein weiteres Phänomen hinsichtlich der Konstruktion der Dichter als konkrete Menschen findet sich im Teil B der Interviews. Dort nehmen die Erzähler immer wieder zur Erklärung und Rechtfertigung eigener Lesarten Bezug auf die mögliche Biografie des Dichters ("hat der was mit Gewalt zu tun gehabt dieser Dichter? also mit der Chunta da oder mit Chile oder so?", Frau C.: S.l6 [30.31]). Sie rechtfertigen eigene Kritik oder das Missfallen des Gedichtes mit Hypothesen über die Biografie des Dichters. Mit diesem Motiv erklären sie implizit die Diskrepanz zwischen dem Gedicht und dem eigenen Geschmack mit der Verschiedenheit der Biografien von Juan Rarnon Jimenez und sich selbst.

(3) Der Dichter als Weisheitslehrer, Seelenverwandter oder Autorität In 2.1.3 ist in der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Frau I. und Herrn G. bereits deutlich geworden, wie die Dichter (Rilke und Hesse) von beiden Interviewpartnern als Prototypen ftir eine Lebensweise bzw. ein umfassendes Deutungsmuster konstruiert wurden. Dabei skizziert besonders Herr G. die Dichter als reale Personen mit Stärken und Schwächen und ermöglicht so eine direkte Identifikation mit dieser oder jener Figur. Gleichzeitig ist in beiden Interviews eine starke Verehrung der jeweiligen Dichter zu finden: bei Herrn G. im prolotypisierenden Beschreiben von Hesse und bei Frau I. durch die Darstellung von Dichtern als ihren Seelenverwandten. Bereits in 2.2.4 wurde geschildert, wie Frau I. aus ihrer Pubertät einen Bezugsgruppenwechsel erzählt: Sprachlich sehr ausgestaltet charakterisierte sie sich in der Jugend als eine Anhängerin der Romantik und konstruiert die Dichter dieser Zeit als eigene Verwandte. Den zitierten Dichtern verleiht die Erzählerirr nun aber nicht biografische Gestalt, sondern sie bleiben metaphorisch gesprochen Lichtgestalten einer anderen Dimension, mit denen man sich in Gleich181

VOM NUTZEN DER POESIE

klang begeben kann durch eine in den Gedichten geteilte Wirklichkeitssicht. Eine weitere Art der Bezogenheit zu Dichtern bringt Herr H. zum Ausdruck. Wie bereits erwähnt, referiert Herr H. explizit wiederholt biografische Hintergründe der Dichter und konstruiert sie auf diese Weise als leibhaftige, greifbare Personen. Gleichzeitig eröffnet er jedoch auch eine Art Rangreihe der Dichter bezüglich seiner Hochachtung ihnen gegenüber (zur Rangreihe und deren Funktion siehe ausfuhrlieh 2.3 .2). Dichter werden als Vorbilder gezeichnet, die in besonderer Weise Wahrheit zum Ausdruck gebracht haben. Diese Auffassung wird besonders in der von Herrn H. praktizierten Anwendung der Gedichte deutlich: Herr H. zieht im Interview Gedicht heran zur Veranschaulichung einer von ihm als erstrebenswert erachteten Lebensweise. Die Dichter sind in der Darstellung Vorbilder, Verkünder und Sprachrohre dieser Lebensauffassung. Durch die Einbindung von Dichtern - über die Konfessionen und Religionen hinweg - positioniert sich Herr H. überdies als ein weltoffener und liberaler Pfarrer, der zu einer Lebensweise einlädt und nicht eine begrenzte Konfession vertritt. Im Ausschnitt "Woher ich die Kaschnitz kenne" werden die unterschiedlichen erwähnten Aspekte anschaulich: die Dichterirr als konkrete Person, die Dichterirr als verehrte Person und Autorität und die Dichterirr als Verkünderirr einer bewegenden Botschaft. Beleg 20: "Woher ich die Kaschnitz kenne" (Herr H.: S.2 [5-30)) 1

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E:

. hh also ä=ich, ( . ) ich dEnke sehr assoziaTIV, # und=äh- (.) also im moMENTfiel mir dann eben e in, ( - ) äm- (-) biografiE von : - (.) r ose AUSländer, # oder von marie luise KASCHnitz, # un : d em::; (--) äh=ö- (-) jetz t muß ich mal AUFpassen; (.) sie wollten ja so mehr bioGRafisch, ( . ) aber ich FANG so mal An, (.) e:m- (.)

(--) nicht die KASCHnitz ist ja da oben, ( . ) beGRAben, # em: #da in=in=in A-dorf, # un:d=em : :; (--)ich weiß nicht waRUM, wohEr ich die kasc hni t z kenne, ( --) doch als ich nach B-stadt kam v or fünfundzwanzig jAhren , ( . ) da kannt i c h sie Eigentli ch noch NICHT, (-) u:nd em; (.) durchbegEg nungmit LEUten- ( .) die sie, (. ) perSÖNlieh kannten und auch i hre geDICHte- ( . ) hab ich sie dann KENNgelernt, ( .) und war auch b eim GRAB und e:h=inzwischen lieb ich, (.)also i: hr geDICHT und ä=auferSTEHung, (.) grad in der Osterze it sind, # # äh - mitten am TA:ge, (.) äh=stehn wir auf mit leBENdigem atem> # # (10 ) ich halt «all > jetzt=eben> mAl; (1.2) ein bisschen Inne, WEIL,(--) es mir lei c ht passiert, ( -) wenn ich- (-- ) beGEistert erzÄhle- (-- ) dann irgendwann ziemlich beRÜHRT werde ; ## .hh

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TEIL 111 - EMPIRIE

(1. 3) Also; (--) ä:hm- ( ---) ((räuspe r n ) ) .hh (1.2 ) wenn man bioGRa fi s ch vorgeht, ( . ) also in der SCHU:le, (.) muß t e n wir natürli c h b e stimmte gedichte AUSwendig l e rne n, # u:nd- ( - ) Feinanalyse: Dieser Interviewausschnitt steht fast gan= zu Beginn der Spontanerzählung von Herrn H. . Voraus geht eine Phase der A bwägung, in der der Er=ähler reflektiert, wieweil er sich als adäquaten Interviewpartner bezüglich des Themas sieht. Mit der informierenden Aussage "ich denke sehr assoziativ" (Zeile 1) gibt Herr H. sowohl eine entschuldigende Erklärung seines Vorgehens als auch eine Gebrauchsanweisung, wie er seinen Sprechstil verstanden wissen will: als Programm, das er im Folgenden direkt umsetzt (Zeile 2-4). Mit dem Verweis auf die Erzählaufforderung ruft sich der Erzähl er meta-kommunizierend kurz zur Ordnung und kennzeichnet in der adversativen Wendung ("aber ich fang so mal an") dass sein Vorgehen nicht unmotiviert von der vorgeschlagenen biografischen Struktur abweicht. In der folgenden Passage zeigt der Erzähler anschaulich, dass sein Verhältnis zu Gedichten vielschichtig und lebendig ist, indem er in kürzester Zeit durch die Öff.. nung einer Vielzahl von Verweisungszusammenhängen seine räumlichen, zeitlichen und emotionalen Bezüge zum Thema zum Ausdruck bringt. Herr K. baut schrittweise den biografi schen Bezug zur Dichterin auf (die er im Folgenden nicht mehr wie formal eingeführt beim vollen Namen nennt sondern seine Vertrautheit und Expertenschaft andeutend als "die Kaschnitz" (Zeile 8) kennzeichnet). Zunächst weist der Erzähler mit der deiktischen Formulierung "da oben begraben" (Zeile 8) den Ort des Interviews als im Bannkreis des Genius Loci stehend aus. Anschließend kennzeichnet er den eigenen Bezug zur Diehierin ("woher ich die Kaschnitz kenne", Zeile I 0) und suggeriert mit der Formulierung eine persönliche Bekanntschaft. Der Erzähl er zeichnet nun den Weg des KennenJem ens nach: von einem Noch-nicht-kennen, über die Vermittlung über andere Personen hin zu einem Kennen, das der Erzähler im eigenen Besuch des Grabes der Dichterin gipfeln lässt. Mit diesem Bild kreiert der Erzähler den Eindruck, den Saum des Gewandes der verehrten Person berührt zu haben und stellt sich in eine Nähe zu ihr. Diese Demonstration des persönlichen Bezuges zur Diehierin mündet im Zitieren eines Gedichtanfangs, der nun das Werk der Diehierin alü ualisiert und die Größe ihres Könnens belegen soll. Indem der Erzähler das Gedicht prosodisch nicht stark aus dem Umfe ld abhebt, und es mit einer eher neutralen, aber bedächtigen Stimmqualität wiedergibt, erweckt er den Eindruck, dass die Diehierin selbst nun spreche. In der anschließenden langen Pause ringt der Erzähler um Fassung. Der Erzähler zeigt im kurzen Weinen und indem er das Übermanntwerden von Emotionen zulässt, dass das Gedicht ihm über seine eigene Kontrolle hinaus nahe geht. Anschließend (Zeile 22-25) kommentiert der Erzähler dieses Geschehen ohne Bewertung und weist damit diese Art von emotionaler Ergriffenheit als eine natürliche persönliche Gestimmtheil aus. Die emotionale Überwältigung wird von dem Erzähler in der Metakommunikation aufgefangen. Herr H. greift nun den in der Erzählanforderung nahe gelegten chronologischen Aufbau der Erzählung auf und schließt mit dem Neubeginn in Zeile 26 die vorhergehende Passage ab.

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Im Interview hat diese als eine Präambel zum biografischen Interview zu lesende Schlüsselpassage nicht nur die Funktion, von Vomherein die Tiefe zu demonstrieren, die der Erzähler dem Thema des Interviews zuschreibt. Zusätzlich weist sich Herr H. als Experte des Gespräches aus indem er das Thema der Kommunikationssituation vielschichtig aktualisiert. Er positioniert sich selbst als jemanden, der durch die assoziative Kraft die Wirkung von Gedichten passieren und sich von ihnen selbst überwältigen lässt. Durch den Kontext des Zitierens (der persönlichen Bekanntschaft mit der Dichterin) zeichnet der Erzähler Gedichte dabei als Wirkweisen von Personen und nicht als anonyme Werke.

(4) Der Dichter als überpersönliches Gegenüber und als Stellvertreter Eine weitere Bezugnahme auf einen Dichter - mit einer etwas anderen Nuance - wird in diesem Abschnitt vorgestellt. Frau A. schildert an verschiedenen Stellen im Interview die Erfahrung als ausgesprochen bedeutsam, dass eine andere Person ihr Erleben in Sprache bringt. Die Persönlichkeit oder Biografie des Dichters, wie sie in den in den beiden letzten Abschnitten beschriebenen Entwürfen relevant war, wird hier nun völlig irrelevant. Vielmehr entwirft Frau A. allgemein das Dichtersein als Amt und spricht an vielen Stellen im Interview generalisierend von Dichtern an sich. Der Dichter wird schlicht als ,jemand" oder als "er" konstruiert (siehe Beleg 21: "Er sagt jetzt genau, was ich ftihle" und Beleg 22: "Jemand drückt mal aus"). Auf diese Weise entwirft Frau A. das Bild vom Dichter als Gegenüber, der Dichter als eine unpersönliche (oder treffender wäre vermutlich der Begriff "überpersönliche") Instanz, die ihr mit dem Formulieren des Gedichtes einen wichtigen Dienst erweist. In einem solchen Zusammenhang nennt Frau A. den Dichter an sich auch einen "Stellvertreter": jemand, der stellvertretend ftir sie ihr innerstes Erleben in Worte bringt. So positioniert Frau A. den Dichter - jenseits von Biografie und Namen - als ein Gegenüber, als ein Du, das ihr Aufschluss gibt über sich selbst, weil es einer allgemeinen Wahrheit und ihrem ganz persönlichen Erleben näher ist, als sie selbst es ist. Insofern trifft auch für diese Art der Bezogenheit die im vorherigen Unterabschnitt genannte Bezeichnung "Weisheitslehrer" oder " Lebenslehrer" ftir die Dichter zu: in diesem Fall jedoch verbunden mit einer Entbiografisierung zugunsten eines generalisierten Gegenübers. In den zwei folgenden Belegen wird deutlich, wie Frau A. Dichtern als Gegenüber eine basale Funktion in ihrem eigenen innerpsychischen Haushalt zuschreibt. Beleg 21: "Er sagt jetzt genau, was ich f"Uhle" (Frau A.: S. 20 (40-43])

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E:

also ein gefühl, JA, ge er sagt jetzt geNAU, (-) er sagt jetzt geNAU was ich fühle. also ja geNAU das, ja so ist es.

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Feinanalyse: Diese kurze Passage aus dem Teil B des Interviews steht im Kontext der Beschreibung eines Gefühls, das Frau A. als ein Passungserieben beschreibt: eine Passung zwischen dem eigenen Erleben und den Worten des Gedichtes. Frau A. inszeniert hier in wörtlicher Rede ihr Getlihl hinsichtlich des Gedichtes. Mit dem wiederholten ,j a" signalisiert sie Zustimmung und zeichnet mit dem wiederholten "genau" das Bild einer exakten Übereinstimmung. Dabei bezieht sich die Erzählerin mit "er" unspezifisch auf ein Gegenüber und stellt das Gedicht als ein aktuelles Geschehen und eine aktuelle Äußerung (zwei mal: "er sagt jetzt genau") dieses Gegenübers dar. Das Bild der direkten Passung erzeugt die Erzählerin auch, indem sie einen denkbaren Zwischenschritt z.B. "der Erzähler sagt etwas und ich fühle es genauso" weglässt und den Satz so formuliert, als würde der Autor IHR Erleben in Worte fassen (und nicht sein Eigenes oder das eines Protagonisten). Auf diese Weise vermittelt die Erzählerin eine Passung, die über eine Analogie des Erlebens hinausgeht und eine Identität impliziert. Beleg 22: "Jemand drückt mal aus" (Frau A. S.35 [33-41 l) 1

s

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E:

als o daß (.) daß ich dan n plÖtzlich (. ) also wiE: (-- ) w ie:~mi ch drin v erlie r e [indenemotiona/en Schmerzen] (. ) o der a u c h e h gef ä : hrdet b in ( -- ) s ogar, # ( --) eh und DA: k önnen die ged i c hte hel f en weil das sind ( . ) ja die sind> ( . ) also JEMAND DRÜCKT MAL AUS, was ich sElber ni c h t ausdrücken kann; # also wie i c hs schon s a gte und- (-) und wenn ichs SELBER VERsuche, dann d a n n dann (- ) dann bin ich gezwungen diese schmerze n also SO: lAng zu erspü:ren bis ich sie in ( . ) wörter bring en kann ode r? # # und d a nn sind sie plötzli c h in be zug auf emo ti onale schmerz en s ind die g e d i c ht e sehr wichtig , # aber ...

Feinanalyse: Dieser Beleg findet sich gan::. am Ende des Gesamtinterviews. Auf bereits sehr abstraktem Niveau fasst die Erzählerin den Wert von Gedichten für sich zusammen. Kontext der Passage ist eine Unterscheidung zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen und die Darstellung der Bedeutung, die Gedichte im Hinblick auf diese verschiedenen Schmerzarten für die Erzählerin haben. Frau A. spricht im Folgenden anfangs sehr zögerlich und stockend. Die Erzählerirr schildert zunächst (Zeile 1-3) die Dramatik, die die Schmerzen für sie mit sich bringen. Sie zeichnet die Schmerzen als einen Zustand in dem ihr Selbstbezug droht verloren zu gehen und sie an den Rand ihrer Existenz gelangt. Nach einer kurzen Pause beginnt die Erzählerin mit dem stark betonten "DA:" und schreibt den personifizierten Gedichten selbst die Potenz zu, in dieser existenziellen Situation eine Änderung zum Positiven herbeizufUhren (zur Personifizierung der Gedichte siehe auch Abschnitt 4.1). Mit dem "können" deutet die Erzählerirr eine mögliche, nicht aber eine zwangsläufige Änderung an (Alternativen wären die Darstellung einer Gewohnheit "da helfen mir die Gedichte immer" oder einer automatischen "wenn-dann" Folge). Mit zweimaligen abgebrochenen Sätzen ("" Zeile

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5), die ein Abbild des Suchens nach Worten darstellen, versucht die Erzählerirr eine Begründung für die Wirkung der Gedichte zu geben. Mit beiden Satzanfängen will die Erzählerirr den Gedichten Attribute zuschreiben. Sie setzt neu an ("also", Zeile 5) und liefert in einem vollständigen Satz in betonter Sprechweise eine Erklärung. In dieser zeichnet sie den Dichter als ein unpersönliches Gegenüber, dem sie die Potenz zugeschreibt, etwas zu können, was sie selbst nicht kann. Sich selbst charal(terisiert sie implizit mit dem Wunsch, etwas auszudrücken und der Begrenzung des eigenen Könnens. Die Erzählerirr impliziert außerdem, dass die bloße Tatsache, dass jemand etwas ausdrückt, was sie selbst nicht ausdrücken kann, eine enorme Hilfe ist, denn die Erzählerirr greift nun eine Variante des Themas auf und kennzeichnet das Vorherige damit als abgeschlossen erschöpfend behandelt. Sie verweist außerdem auf bereits Gesagtes (Zeile 7). Anschließend konstruiert die Erzählerin parallel den Fall, dass sie selbst die Aufgabe übernimmt und selbst versucht, Worte zu finden. Die Erzählerin zeichnet im Sprechen "dann dann dann (-) dann" (Ziele 8) den Prozess des Suchens nach und kommentiert durch die stimmliche Heraushebung des "so lang" und "erspürn" den quälerisch andauernden Versuch. Inhaltlich und formal analog konstruiert die Erzählerirr dieses eigene Finden der Worte zum Vorhergehenden. Mit dieser Parallelsetzung weist sie dem eigenen und dem fi·emden Dichten eine prinzipiell gleiche Funktion mit einer vergleichbaren Wirkung zu und konzeptualisiert beides als einen fundan1entalen, existentiellen Akt.

In diesen Darstellungen entwirft die Erzählerin das Bild, dass der Dichter zu ihr spreche. Der Dichter wird zwar als ein äußeres Gegenüber konstruiert, er ist aber so stark entbiografisiert, dass er zu einer unpersönlichen Wahrheitsinstanz wird: nicht mehr, wie in der unter (3) beschriebenen Form als angesehene, gesellschaftliche Autorität, auch nicht durch ein Konstrukt wie Seelenverwandtschaft gestützt, sondern nun ausschließlich als Autorität aufgrund der Gedichte, die die Erzählerin aufgewühlt als wahre, auf sie zutreffende Aussagen erfährt. Hierbei beschreibt die Erzählerin das eigene Erleben der Passung zwischen Gedicht und eigener Erfahrung Der Dichter wird so zu einer Person, die gleichzeitig einer eigenen inneren Wahrheit/Instanz, die der Erzählerirr selbst noch verborgen ist, eine Stimme verleiht. Auf diese Weise entsteht ein Doppelbild: Es sind zwar Texte einer anderen Person, die die Erzählerirr liest, sie werden aber gleichzeitig als Ausdruck der eigenen inneren z.t. noch unbewussten Erfahrungswelt gelesen. Das Gedicht und der Dichter sind in dieser Darstellung der Erzählerirr einen Schritt voraus und ermöglichen ihr eine Auseinandersetzung mit einer eigenen Wahrheit, die ihr bislang noch verborgen war. Zur Verdeutlichung soll als Kontrast kurz die Darstellung von Herrn H. erwähnt werden: Der Erzähler entwirft die Werke von Hölderlin als den Innbegriff von verdichteter Weisheit. Er erzählt, wie er zwar bereits erste Erfahrungen mit den Gedichten von Hölderlin gemacht habe, diese 186

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ihn in Erstaunen und Begeisterung versetzt hätten, sie aber letztlich einen Schatz darstellten, den er in seiner Zukunft noch näher kennen lernen will. Diese Tatsache bringt er mit der spielerischen Formulierung "Der Hölderlin wartet immer noch auf mich" (Beleg 46) auf den Punkt. Die Nuance, die den Unterschied zu der Darstellung von Frau A. ausmacht, ist die, dass Herr H. Hölderlin gleichzeitig deutlich als eine biografische Person und gesellschaftliche Autorität entwirft. Dieser Person und ihren Werken schreibt er die Fähigkeit zu, ihn zu erstaunen, zu verwirren, zu beeindrucken und herauszufordern. Bei Frau A. wird der Gruppe der Dichter die besondere Fähigkeit zugeschrieben, Wahrheit zur Sprache bringen zu können. Durch das eigene Erleben einer Passung wird der Dichter zu einer Instanz, die ihr im Gedicht eine innere Wahrheit vermittelt.

2.3.2 Das eigene Schreiben im Hinblick auf die Dichter Die Person der Dichter wird in den Interviews außerdem an Stellen relevant, in denen die Erzählerinnen das eigene Schreiben von Gedichten thematisieren. So wurde bereits erwähnt, dass z.B . Herr J. die Biografien der Dichter als Vorbild für den eigenen künstlerischen Lebensentwurf sieht. Auch andere Erzähler thematisieren darüber hinausgehend Dichter wiederholt im Kontext der Selbstpositionierung als selbst dichtende Person. Die Dichter dienen als Folie der Abgrenzung, Rechtfertigung, Legitimierung und Plausibilisierung des eigenen Schreibens. Die Dichter werden durchgehend als eine allgemein anerkannte Instanz konstruiert, angesichts derer man das eigene Schreiben rechtfertigen muss. Die meisten Erzähler scheinen es als erklärungsbedürftig zu sehen (oder unterstellen dies der Zuhörerin), dass sie überhaupt selbst schreiben (z.B. Frau A., Frau B., Herr H., etc.) (I). Außerdem kommentieren die Erzähler (z.B. Herr E., Herr H. und Herr J.), wie sie schreiben (2). Diese Phänomene und wie sie in Bezug zu den Dichtern gesetzt werden sollen im Folgenden untersucht werden.

(1) Legitimierung des eigenen Schreibens An vielen Stellen in den Interviews wird deutlich, dass es den Erzählerinnen ein Anliegen ist, das eigene Schreiben zu legitimieren. In aufwendigen Konstruktionen plausibilisieren sie das eigene Dichten. Dichter werden dabei einerseits als Vorbilder beschrieben. Gleichzeitig werden sie aber auch als Autoritäten positioniert, und das eigene Schreiben steht damit in Gefahr, als vermessen und peinlich dilettantisch bewertet zu werden. Es folgen nun verschiedene Konstruktionen, in denen die Erzäh-

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lerinnen im Dilemma zwischen impliziten Vorwürfen stehen und in denen sie diese zu überwinden versuchen. Einige Konstruktionen, die bereits in Abschnitt 2.2.5 erwähnt wurden, werden hier nun vertiefend dargestellt. Einige Erzählerinnen, bei denen das eigene Schreiben im Interview nur einen kleinen, oft auch biografisch zeitlich umschriebenen Raum einnimmt, konstruieren ihr eigenes Schreiben als etwas, das von den Gedichten der Dichter vollständig getrennt ist (z.B. Frau C. oder Herr G.). Das eigene Schreiben wird als private Tätigkeit, als kurzfristiges Hobby oder gar als Ausrutscher dargestellt. So hat das eigene Tun mit dem der Dichter nichts zu tun: es werden zwei getrennte Welten entworfen. Mit dieser Art der Konstruktion heben die Erzähler das eigene Schreiben auf eine vollständig andere Ebene und kommen nicht in Konflikt mit möglichen Normen oder kulturellen Bewertungen. Eine etwas andere Variante finden wir bei Frau A .. Sie stellt beim Sprechen über das eigene Dichten sofort klar, dass sie ihre eigenen Gedichte und "gute Gedichte" nie vergleichen würde. Gleichzeitig räumt sie den eigenen Gedichten aber eine sehr hohe und ungebrochene persönliche Relevanz ein. Auf diese Weise siedelt sie ihre eigenen Gedichte zunächst prinzipiell in einer anderen Liga an. Im Kontext ihrer gesamten Gedichtbiografie stellt sie das eigene Schreiben jedoch als eine logische Folge dar. So erzählt Frau A. zunächst ausführlich über das Lesen von Gedichten, dann folgt die persönliche Kontaktaufnahme zu einer Dichterin (siehe oben: Der Dichter als Mensch) und direkt im Anschluss spricht die Erzählerin vom eigenen ersten Schreibversuch. Frau A. konstruiert Dichten nicht als umschriebene Tätigkeit, sondern verhandelt es auf dem Horizont einer fundamentalen Sprach- und Ausdrucksfähigkeit Die Fähigkeit Worte zu finden siedelt sie auf einem unendlichen Kontinuum liegend an, so dass die Entwicklung und Ausformung dieser Ausdrucksfähigkeit eine lebenslange Aufgabe wird- für sie selbst aber auch für die "wirklichen Dichter". Auf diese Weise stellt die Erzählerin in ihrer Gesamtkonstruktion das eigene Schreiben (bzw. fundamentaler: das eigene Finden von Worten) als eine Sehnsucht und einen großen Wunsch dar. Die persönliche oder kunstfertige Nähe zu den "wirklichen Dichtern" schildert die Erzählerin explizit und implizit als Versuchung und Verlockung. So erzählt Frau A. beispielsweise verschmitzt die Anekdote, dass sie versehentlich ein Gedicht von einem verehrten Dichter "umgemodelt" habe und nun "frecherweise" ihre eigene Version besser fände. Auch Frau B. konstruiert das eigene Schreiben und das Schreiben der Dichter parallel, wie sich an einem unbeabsichtigten fließenden Übergang von einer allgemeinen Lyrikproduktionstheorie im Hinblick auf die Werke anderer Dichter zum eigenen Schreiben zeigen lässt. In dieser

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Passage wird deutlich, dass Frau B. selbst zwischen der Rezipientinnenseite und der Produzentinnenseite changiert, dies aber eher beiläufig geschieht und nicht wie z.B. bei Frau A. auf einer Gesamtkonstruktion basiert. Frau B. beginnt mit einer akademischen Theorie, in der sie ihre eigene Rezipientinnenerfahrung exemplarisch zur Erläuterung einer allgemeinen Theorie verwendet. Im Laufe der Darstellung wechselt sie offenbar zunächst unbeabsichtigt die Perspektive und fußt ihre Theorie der Lyrikproduktion nun auf eigenen Erfahrungen als Gedichtschreiberin. Die Erzählerirr ruft sich selbst zur Ordnung, "ich muss immer son bisschen aufpassen, weil ich selber auch gern schreib, dass ich das jetzt nich durcheinander bring". Die Nachfrage der lnterviewerin, die den schillernden Wechsel in der Selbstpositionierung von der Rezipientirr zur Produzentin noch nicht nachvollzogen hatte, ob sie denn selbst schreibe, schließt die Erzählerirr mit der normalisierenden Floskel "hat glaub ich wahrscheinlich jeder son Schuhkm1on unterm Bett". Sie signalisiert damit, dass dies ein Bereich ist, der intim, privat und darüber hinaus im Rahmen des von ihr professionell aufgefassten Interviews nicht von Interesse sein soll. Die Präsentation der eigenen Person als selbst kunstschaffend, scheint im Rahmen einer professionellen Selbstdefinition fiir Frau B. heikel und unangemessen zu sein und wird eher verschämt erwähnt. Anhand eines Interviewausschnittes soll eine letzte Konstruktion vorgestellt werden, die im Kontext des Bezuges zu Dichtem der Legitimation des eigenen Schreibens dient: eine Initiationsgeschichte, in der Herr H. schildert, wie ein Dichter ihn dazu aufgefordert und ermutigt habe, selbst mit schreiben zu beginnen. Auch Herr H. konstruiert dabei sich und die anderen Dichter letztlich auf einem Kontinuum, wobei die Fähigkeit zum Schreiben prinzipiell jedem zugänglich ist und nach Herrn H. Dichter Menschen sind, die auf einem Erkenntnisweg weiter vorangeschritten sind. Herr H. entwirft implizit eine Rangreihe mit Übergangen, die von Hölderlin bis hin zu normalen, einfachen Menschen reicht. Sich selbst siedelt der Erzähler zwischen Kurt Marti auf der einen Seite - der einerseits als Kollege andererseits als ernstzunehmender Dichter konstruiert wird - und auf der anderen Seite den Menschen, die Herr H. selbst durch seine Arbeit zum kreativen Schreiben motivieren und inspirieren möchte. Kurt Marti und in Folge Herr H. selbst werden auf diese Weise positioniert als Vermittler und Ermutiger zu dichten und - umfassender verstanden in Herrn H.'s Deutung- einen kreativen Lebensprozess zu wagen. Beleg 23: "Probiers doch auch mal!" (Herr H.: S.9 [12-35]) 1

E:

da war ja ne große verbindung da bei kurt marti zwischen theologie, aber auch lebensbewältigung, politische theologie und dichtung # und # ich

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30 I:

würd schon sagen, also der, der, vor den anderen, also hölderlin oder rase ausländer oder kaschnitz, da hab ich einen wahnsinnigen respekt #, würd ich nicht sagen, dass ich mich da inspirieren lassen würde zu was eigenem #, während der kurt marti, so als kollege #, und ich h ab ihn dann auch schon dann mal erlebt, hat mir dann da, also mich eingeladen, probier=s doch auch mal #, s=is sehr wichtig für mich geworden, weil ich dann in der erwachsenenbildung, wenn ich seminare machte, also wochenendseminare, sehr oft über biblisches, bibliodrama oder meditation und so und es da drum ging, die teilnehmer einzuladen, am schluss zusammenzufassen, was ihnen wichtig war, da war immer auch angebot, fassen se des in, ein kleines gedieht schreiben # # oder so # #. und da hab ich immer als leiter auch mit gemacht und da sind eine ganz ordentliche anzahl von texten entstanden #. auch ne Studentengemeinde, wo ich diese sieben jahre lang jedes semester bibliodrama angeboten habe, immer am schluss, schreibt n text #, und dann hat man se gegenseitig vorgelesen #, und da war ich selber überrascht, was da so mir in die feder floss und so und hab da, hab des auch was festgehalten, ich geb ihnen da mal auch was mit [((lacht))] [ah ja]

Feinanalyse: Zunächst eröffnet der Erzähler das thematische Feld, in dem er die Arbeit seines Gegenübers ansiedelt (Ziele 1-3). Der Erzähler bricht dann den begonnenen Satz ab und führt eine Hintergrundskonstruktion ein (Zeile 3-8), die für den weiteren Verlauf eine sehr wichtige Funktion hat. Der Erzähler positioniert hier drei bereits erwähnte Dichter als wahre Größen. Durch die Auslassprobe bei dieser Passage wird deutlich: Trotz der starken Entrückung dieser großen Dichter (sich nicht einmal von diesen inspirieren zu lassen) stellt der Erzähler gleichzeitig das anschließende eigene Dichten in diesen Verweisungszusannnenhang. Durch den Einschub hat die Einladung von Kurt Marti an den Erzähler nichts Dilettantisches, sondern es fallt - metaphorisch gesprochen - bei aller Bescheidenheit, die durch die stark hervorgehobene Trennung zum Ausdruck kommt, etwas Glanz von dem Tun der Großen auf das eigene Tun. Kurt Marti positioniert der Erzähler als eine Person, die an beiden Welten teilhat und diese für den Erzähler miteinander verbindet: Er erwähnt ihn auch an anderer Stelle in einem Atemzug mit Hölderlin und Rose Ausländer. Andererseits schildert er ihn als seinen Kollegen und hebt die persönliche Ähnlichkeit hervor. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle die Parallelkonstruktion von der Einladung, die der Erzähler Kurt Marti an ihn in wörtlicher Rede wiedergibt (Zeile II) und der Einladung, die der Erzähler anschließend in wörtlicher Rede an die Kursteilnehmer weitergibt (Zeile 18-19). Beide Male konstruiert der Erzähler die Anregung zum Schreiben als ein offenes Angebot. Im reinzenierten Satz "probiers

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doch auch mal" (Zeile II) kulminiert die Botschaft der ganzen Passage. Der unverbindliche Begriff "probieren" und die spezielle Partikelkombination vermitteln den Eindruck: Es ist eine freundschaftlich , wohlwollende, anspruchslose Aufforderung, eine umschriebene, machbare Tätigkeit auszuprobieren. Dichten wird mit dieser Äußerung vom Sockel eines zu hohen Anspruchs geholt. Anschließend führt der Erziihler die beruflichen und die persönlichen Früchte des angenommenen Angebotes an. Im Anschluss an diese Passage führt der Erzähler theologisch und seelsorgerisch sein Verständnis von Kreativität und dem Ausdruck von Gefühlen aus. Die Erzählung kann als eine wichtige Schlüsselerzählung im Interview von Herrn H. gesehen werden (in der ausgesprochen christliche Bilder verwendet werden!). Hier konstruiert der Erzähler sehr deutlich sein eigenes Selbstverständnis und seine Rolle im Hinblick auf Gedichte. Er sieht sich selbst als Vermittler. Dichten ist für ihn nicht privater Selbstzweck, sondern Ausübung seines Berufes - ja einer Berufung: Ausdruck seiner eigenen Kreativität und seines Vertrauens auf eine Lebenskraft und darin gleichzeitig Vorbild und Anregung für andere zu sein. Dichten konstruiert der Erzähler in diesem Kontext als ein Medium der Selbsterfahrung und der Erfahrung der kreativen Lebenskraft in jeder Person.

Dieser Interviewausschnitt verdeutlicht noch einmal unterschiedliche Motive, die auch bereits in den vorhergehenden Konstruktionen zum eigenen Schreiben zu finden waren: Einerseits stellt der Erzähler das eigene Schreiben in die Nähe der bewunderten Dichter. Andererseits positioniert der Erzähler sich und das eigene Schreiben in eine vollständig andere Liga und umgeht damit den impliziten Vorwurf der Vermessenheit und Peinlichkeit, sich an eine den Könnern vorbehaltene Tätigkeit zu versuchen. Der Erzähler legitimiert sein Schreiben, indem er die Agentenschaft für seinen Schreibimpuls einer als renommiert positionierten Person zuweist. (2) Rechtfertigung des eigenen Schreibstils Es soll nun ein Motiv aus der Erzählung von Herrn E. vorgestellt werden. Herr E. beschreibt seinen Bezug zu Dichtern in einer schillernden Weise: Einerseits positioniert er sich selbst in direkter Linie stehend mit den großen Dichtern, präsentiert sich professionell als jemand, der mit großem Erfolg Gedichte schreibt und der letztlich in geschickter Weise in der Selbstpositionierung Züge der Genialität für sich in Anspruch nimmt. Er entwirft im Interview die Theorie eines kollektiven unbewussten Bilderarsenals, aus dem Künstler- so auch er selbst- in ihrem jeweils eigenen Stil ihre Werke erschaffen. Insofern positioniert sich Herr E. in Bezug auf die Dichter als einer von ihnen. Auf der anderen Seite spielt Herr E. absichtlich mit dieser Art von Darstellung, indem er sie immer wieder ironisiert und sich über seine eigene Ernsthaftigkeit lustig macht.

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In unterschiedlichen Passagen des Interviews diskutiert Herr E. das eigene Schreiben im Hinblick auf andere Dichter. Thema dieser Passagen ist jedoch nicht die Frage der grundsätzlichen Legitimation des eigenen Schreibens, sondern die Erläuterung des eigenen Schreibstils, den Herr E. offensichtlich glaubt, verteidigen zu müssen. Er setzt sich hier mit einem impliziten Vorwurf des Plagiates auseinander. Die erste Erwähnung dieses Themas ist nach dem ersten Rezitieren eines eigenen Gedichtes. Direkt im Anschluss an das Rezitieren und eine paraverbale Bewunderungsäußerung von der Zuhörerin kommentiert Herr E. erklärend: "aber das auch son biss! so. das war da auch grade so ne Phase wo ich sehr viel so Erich Kästner gelesen hab" (S. 18 [22-23]). Er legt damit bescheiden nahe, dass das Lob vielleicht nicht nur ihm gebühre, sondern er unter dem Einfluss eines anderen großen Geistes stand. Damit räumt der Erzähler aber gleichzeitig auch seinem Gedicht einen Platz neben Erich Kästners Werk ein. Er gewährt Einblick in sein Vorgehen und geht einem fiir ihn im Bereich des möglichen liegenden Plagiatsvorwurf offensiv entgegen. Anschließend konstruiert der Erzähler die Metapher der "Osmose": eine Durchdringung und Beeinflussung, die zwischen dem eigenen Schreiben und dem, was man gerade lese, stattfinde. So dekonstruiert er die Möglichkeit eines Nicht-Beeintlusstwerdens. Das Bild der "Osmose" impliziert in diesem Zusammenhang, dass die Tatsache möglicher stilistischer Ähnlichkeiten zu einem bekannten Dichter und Beeinflussungen ein normaler nicht zu verhindernder biologischer Prozess mit eigenen Gesetzmäßigkeiten sei. In der folgenden Passage nimmt der Erzähler dieses Thema wieder auf. Herr E. präsentiert sich hier als souveräner Dichter, der nicht unbewusst von berühmten Dichtern abschreibt, sondern einen typischen künstlerischen Entwicklungsprozess durchlaufen hat und hinsichtlich seines Arbeitsstils nichts zu verheimlichen hat. Direkt im Anschluss an die Selbstpositionierung als erfahrener und bereits fortgeschrittener Dichter bricht er in der Interaktion mit der Zuhörerin diese Perspektive mit einer kleinen Inszenierung, in der er diesen hohen Anspruch parodie1i. Beleg 24: "Bin ja nicht Hölderlin" (Herr E.: S.19 [7-36]) 1

I:

5

E:

10

und könnste dann wenn de zurückblickst auch so Sagen dass es so bestimmte DICHter in b estimmten PHAsen gab diE, (--) die du dann, ( --- ) gelesen hast oder die dann wichtig warn, also ich GLAUB am ANfang mehr als: ( - ) als jetzt a lso einfach nur weil sich halt auch nac h und nach ich mein das is ja auch wenn wenn du dir KOMPONISten oder BANDS oder so angucks t am Anfang merkst du immer noch sehr stark wie die sich so an andre sachen anlehn b is dann, (- ) irgendwann sich sic h so=n so=n eigener stil herausprägt. #

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15

I: 20 E: I:

DER, (--) der dann auch wieder relativ u nabhängig is also der dann schon INPUT von irgendwoher kriegt aber, (---) also ich=ich wei' i c h kann, (.) kann dir gEllAU in nem ORDner anzeigen WO, (-) eben grade gottfried BENN gelesen wurde und wo ich grade georg trakel super FAND und u n d wann erich KÄSTNER und:- (---) das du das auch IN deinen gedichten wiedererkennst? (--) ahaMITTLERweile eben nich mehr so stark. [ ( .) also] des is[aha-] ( ---) wie so=ne n oVIZENzeit irge n dwie, (--)

25 E:

30 I:

(-) das is nich ich mein ich bin ja- (-) bin ja nich; (--)

(--- ) bin ja nich HÖLDERlin der grAde hier sitzt u nd ((lacht )) «p> ja> (--)

E:

((räuspert sich)) (--- ) ja da HAUN wir n och die ZEIT noch auf BAND und dann, #

Feinanalyse: Die Frage der Interviewerirr zielt zunächst offen auf die mögliche Bedeutsamkeil einzelner Dichter für den Erzähler in verschiedenen Lebensphasen (Zeile 1-4). Herr E. fasst diese Frage im Kontext des Beeinflusstwerdens durch andere Dichter auf und antwortet aus der Perspektive des Schreibenden und nicht des Lesers. Im Folgenden konstruiert er eine Entwicklung: "am Anfang mehr [ ... ]als jetzt" (Zeile 5) "nach und nach" (Zeile 6-7). In der nun vorgestellten Analogie wechselt der Erzähler den Bereich, lenkt die Perspektive weg von seiner Person und entwirft einen typischen Verlauf einer künstlerischen Laufbahn (7 -14 ). Er formuliert die Analogie aber offen, dass sich bereits ab Zeile 8 der beschriebene Entwicklungsprozess auf das eigene Schreiben beziehen kann. Mit der Analogie ordnet der Erzähler sein eigenes Schaffen in eine normale, allgemein gültige künstlerische Entwicklungslinie ein und normalisiert die für ihn in der Frage implizierte Anlehnung an andere Werke. Im Folgenden expliziert er die Anlehnungs- w1d Ablösungstheorie. Mit den sehr konkreten Verweisen auf Ordner und einzelne Dichter (Zeile 15-17) erötfuet der Erzähler die Möglichkeit, konkret Einblick in sein handwerkliches Vorgehen zu geben und vermittelt damit den Eindruck von Transparenz. Er positioniert sich damit gleichzeitig als jemand, der sich traut, bekannte Dichter zu rezipieren und im eigenen Werk deren Einfluss nachzuzeichnen. Den Verweis auf die Entwicklung und eigene Ablösung von dieser Phase der Anlehnung versucht die Zuhörerin mit dem BegritT der Novizenzeit (Zeile 23) zu paraphrasieren, der eine legitime Lernphase und eine Entwicklung hin zu einer Reife, Unabhängigkeit und Meisterschaft nalle legt Im Folgenden bekundet der Erzähler sein Unbehagen durch ein sehr stockendes Sprechen, viele Satzabbrüche und inszeniert ein persönliches, fast leidvolles Missfallen dieser Ä ußerung "och Mann" (Zeile 25). Er räumt in einem Nebensatz die prinzipielle Richtigkeit der

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Paraphrase ein und wechselt dann mit der stark betonten adversativen Wendung (Zeile 27) die Ebene. Hier deutet er mit mehreren Satzabbrüchen die Suche nach einerneuen Selbstpositionierung an (" ich mein ich bin ja-(-) bin j a nich;" Zeile 2728). Er inszeniert nun mit der Formulierung "bin ja nich Hölderlin der gerade hier sitzt und ... " (Zeile 27 -28) sich selbst als Hölderlin, den er damit als Inbegriff für einen meisterhaften und auch stilisierten Dichter wählt, und als der er selbst nun ein Interview gibt. Das lautmalerische ,,Höähhh" inszeniert der Erzähler als Äußerung von Hölderlin. Den Laut gestaltet der Erzähler durch die herausgehobene Lautstärke und eine erhöhte, sehr geziert klingende Melodie. Damit inszeniert er sich als einen eingebildeten Meister, der gerade ein (nichts sagendes!) Interview gibt. Mit dieser kurzen Szene rückt der Erzähler die Relationen wieder zurecht und weist die für ilm durch die Interviewerinneu-Paraphrase nahe gelegte unzulässig überhöhende Fremdpositionierung zurück. Inhaltlich beendet der Erzähler das Thema, indem er das Vorstellen des bereits angekündigten Gedichtes vorschlägt. Mit dem Begritlen wie "Sachen" als Bezeichnung für Werke (Zeile 10), "input" (Zeile 13), und der Formulierung "Haun' wir noch die Zeit noch auf Band und dann ... " (Zeile 32-33) bedient sich der Erzähler eines saloppen Künstlerjargons, in dem das eigene Schaffen absichtlich heruntergespielt wird, und demonstriert auf diese Weise seine Professionalität.

2.3.3 Zusammenfassung In den Interviews nehmen die Erzähler immer wieder und in sehr unterschiedlicher Weise Bezug auf dem Dichter. Die Dichter scheinen im Umgang mit Gedichten ftir die Interviewpartner wichtige Figuren zu sein und in den Darstellungen werden sie auf vielfältige Weise als Gegenüber konstruiert. Welche Rolle die Interviewpa11ner den Dichtern im Erzählen zuweisen und welche Funktion die Thematisierung der Dichter haben kann, war Thema dieses Unterkapitels. Es wurde zunächst vorgestellt, in welcher Weise die Interviewpartner die Person des Dichters in ihren Erzählungen thematisieren. Vier Arten der Konstruktion eines Dichters als Gegenüber wurden dargestellt. Zunächst wird auf die Dichter in einer Art Insidersprache Bezug genommen, indem ihre Namen z.T. als Label für die Werke und die Stilrichtung genutzt werden. So kann eine persönliche Nähe aber auch eine Verfügbarkeit kulturell und gesellschaftlich anerkannter Werke zum Ausdruck gebracht werden. Die Namen der Dichter stehen für ihre Werke, für geteiltes und bekanntes Allgemeingut und zur gleichen Zeit - häufig eher implizit - für die eigene Erfahrungsgeschichte mit den Gedichten. In ähnlicher Weise wird auf biografisches Wissen über die Dichter Bezug genommen und mögliche Ähnlichkeiten oder Unterschiede zur eigenen Biografie gezogen. Dichter werden beispielsweise als vermittelnde Instanzen beschrieben, die das eigene Erleben legitimieren können und so

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eine Versöhnung mit der eigenen Befindlichkeit auf der einen Seite und der Gesellschaft auf der anderen Seite ermöglichen. Dichter werden weiterhin als Autoritäten und herausragende Genies beschrieben, so dass die Beschäftigung mit Gedichten auch eine persönliche Bezugnahme zu diesen Qualitäten bedeutet. Es konnte auch gezeigt werden, wie Dichter in einer Art Doppelbild als Gegenüber und gleichzeitig als eine Art innere Instanz und Wahrheit konstruiert werden. Hier findet in der Auseinandersetzung mit Gedichten ein Übergang statt: Das Wort einer anderen Person wird nicht nur sich angeeignet, sondern wird als zutiefst eigenes Wort oder eigener Ausdruck erlebt. Wie in vorangegangenen Unterkapitel bereits deutlich wurde, stellt das eigene Dichten und das Öffentlichmachen eigener Gedichte flir die Interviewpartner eine erklärungsbedürftige Tatsache dar. ln diesem Zusammenhang spielen die Dichter offensichtlich eine große Rolle. Im Abschnitt "Das eigene Schreiben im Hinblick auf die Dichter" wurde illustriert, dass im Zusammenhang mit der Darstellung des eigenen Schreibens immer wieder das Verhältnis zu bekannten Dichtern thematisiert wird. Mit zum Teil aufwendigen Konstruktionen versuchen die Interviewpartner spontan das eigene Schreiben zu rechtfertigen und zu plausibilisieren. Die Notwendigkeit dieser Konstruktionen ergab sich jedoch nicht aus Anfragen der Interviewerin, sondern stellt offenbar flir die Erzähler ein Anliegen dar. Immer wieder bearbeiten die Erzählerinnen in Selbst- und Fremdpositionierungen das eigene Verhältnis zu bekannten Dichtern. Das eigene Schreiben erweist sich so im Hinblick auf die als Autoritäten konstruierten Dichter als erklärungsbedürftig. Die Erzähler präsentieren sich hier in folgendem Spannungsfeld: Die Verbundenheit und Identifikation mit diesen Dichtern und ihrem Tun auf der einen Seite und das Relativieren und Herunterspielen der eigenen dichterischen Tätigkeit auf der anderen Seite und die Konstruktion einer deutlichen Trennung bzw. ausdifferenzietter Übergänge der Bereiche. Die kulturelle Praxis des eigenen Schreibens scheint so ftir viele Erzählerinnen einerseits sehr naheliegend und natürlich zu sein, andererseits im Rahmen des Interviews massiv erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig zu sein. Unterschiedliche Ausformungen dieser ambivalenten Konstruktionen konnten im Hinblick auf das eigene Schreiben und den eigenen Schreibstil nachgezeichnet werden.

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2.4 Gedichte vor dem Horizont des Selbstbezuges: das Gedicht als Gegenüber ln den Interviews sprechen die Erzähler in vielen Passagen über Erfahrungen in der Beschäftigung mit Gedichten, denen sie eine Funktion in der persönlichen Entwicklung und im eigenen Umgang mit sich selbst zuweisen. Diese Erfahrungen sind in den Erzählungen in den sozialen Kontext eingebunden. Über die bislang erwähnten Positionierungen hinaus finden sich hier jedoch noch zwei weitere Formen der Positionierung: die Erzählerinnen konstruieren sprachlich das Gedicht als ein Gegenüber (siehe Positionierungsschema, Abbildung 6).

Narrative Darstellung des erzihlenden Ich

Abbildung 6: Posilionierungsschema " Das Gedicht als Gegenüber" (in Erweiterung des Schemas von Lucius-Hoene & Deppermann (2002))

Außerdem stellen sie es sprachlich so dar, dass sie vermittelt über Gedichte zu sich selbst und der eigenen Gefühlswelt in Kontakt treten. Dieser Aspekt wird im Folgenden an verschiedenen Stellen ausgeführt und abschließend unter 2.4.4 eines erweiterten Positionierungsschemas (Abbildung 7) dargestellt. Diese Phänomene werden in folgenden Schritten dargestellt: Zunächst wird illustriert, in welcher Weise Gedichte von den Erzählerinnen sprachlich-metaphorisch als ein Gegenüber konstruiert werden (2.4.1 ). Anschließend werden die in den Interviews erwähnten persönlichen Wandlungs- und Veränderungsprozesse analysiert (2.4.2). ln einem wei196

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teren Schritt wird der soziale Kontext rekonstruiert, der in diesen Zusammenhängen relevant ist. Außerdem wird gezeigt, wie Erzählerinnen den Umgang mit Gedichten als eine Methode deuten (2.4.3). Abschließend soll die zeitliche Perspektive in die Betrachtung mit einbezogen werden: die erzählte Bedeutung von Gedichten in Krisen und Umbruchszeiten und zeitliche Phänomene im biografischen Erzählen (2.4.4 ).

2.4.1 Das Gedicht als Objekt das Gedicht als Gegenüber (1) Zwischen Ergreifen und Ergriffen werden Es soll nun ein sprachliches Phänomen betrachtet werden, das in der bisherigen Darstellung bislang unkommentiert geblieben ist. Es geht um das Phänomen, dass die Erzähler an vielen Stellen im Interview Gedichte sprachlich-metaphorisch als ein Gegenüber konstruieren : z.B. "das Gedicht hat mich angesprochen", " das Gedicht hat mich eine ganze Weile begleitet", "das Gedicht ist mir dann Jahre später wieder begegnet" etc.. Die Erzähler konstruieren so das Bild einer Beziehung, einer Interaktion zwischen sich und einem Gedicht bzw. den Gedichten im Allgemeinen. Gedichte werden so als etwas dargestellt, das selbst zur handelnden Instanz/zum handelnden Gegenüber wird. Im Folgenden soll dies an einigen kurzen Beispielen illustriert werden . Zuvor ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass die Erzähler in den Interviews sich über weite Strecken im Hinblick auf die Gedichte mit den eigenen autonomen Handlungen (z.B. "dann habe ich das Gedicht auswendig gelernt"), mit Entscheidungen (z.B. "ich habe mir das Gedicht ausgesucht") und Initiativen (z.B. "ich habe ihm das Gedicht geschenkt") darstellen. Gedichte werden so als etwas dargestellt, auf das man einen Zugriff hat, derer man sich bedient und die man zu eigenen Zwecken nutzen kann. Wie ausfuhrlieh in 2.2.3 beschrieben, demonstrieren die Erzähler die eigene Kompetenz, Gedichte aufsagen, interpretieren oder schreiben zu können und zeigen Stolz und Begeisterung, angesichts dieser Möglichkeiten, mit Gedichten umzugehen (" ... ganz viel Spaß, dass man dann irgendwie Dinge rausziehen kann und em, sich da so was Rundes basteln kann"). In den Interviews gibt es nun auch viele Stellen, in denen die Gedichte als etwas dargestellt werden, das über den eigenen Kompetenzbereich hinausgeht. Einem Gedicht wird auf diese Weise eine eigene Handlungsinitiative zugeschrieben. In dem folgenden kurzen Interviewausschnitt beschreibt Frau C. sogar eine Art Umschlagspunkt Im Rahmen der Darstellung ihrer Schauspielausbildung, in der das Rezitieren von Gedichten als Methode eingesetzt wurde, die eigene Ausdrucksfähigkeit und schau-

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spielerische Kompetenzen zu schulen, beschreibt die Erzählerirr ein plötzliches Berührtsein durch einzelne Gedichte. Sprachlich wendet sie so die Darstellung der Gedichte als reines Mittel zum Zweck (Gedichterezitieren als ein erforderliches Durchgangsstadium zum Rollenspielen) hin zu dem Bild von Gedichten als autonomer Wirkkraft. Beleg 25: "Hupsla" (Frau C.: 3 [24-26) und [38-43)) 1

E:

also da kann man UNhEimlich viEle, ( . ) ve rSCHIEDEne eh sAchenmachen mi t EINEM, # ( - ) mit einem gedieht; [ ... ]

5

.hhh und eh:m da DA sin mir durchAUS, ( .) n pAAr sachen wie rilke gedichte die mich ziemlich berührt haben, # ( --) äh wo ich dann plötzlich dachte hUpslA, (--) in so kurz also mi t so, (-) KNAPPEN, (-) ZEILEN, # ( .) so v:IEl SAgen das f=fand ich total klasse. #

In ähnlicher Weise konstruieren viele Erzählerinnen im eigenen Umgang mit Gedichten so ein Moment der Widerfahmis: Sie beschreiben die Gedichte als Handlungsträger, denen eine Initiative zugeschrieben wird, und die so selbst überraschen, berühren etc. können. Auf diese Weise werden die Gedichte personifiziert. Folgende Handlungen schreiben die Erzählerinnen den Gedichten beispielsweise zu: • Ansprechen, Begegnen, Sagen etc. Gedichte werden als ein Gegenüber beschrieben, das einem begegnet oder einen aktiv in eine Kommunikation verwickeln kann (z.B. ,,ja s'Thema wäre glaub ich endlos für mich, weil, Gedichte haben mich immer ganz ganz stark angesprochen"). • Berühren, Bewegen, Entführen, Bergen, Trösten, Begleiten, Gefühle Auslösen, Aufregen, Nerven, Argern etc. Die Erzähler konstruieren Gedichte metaphorisch als ein Gegenüber, das räumlich, körperlich und emotional der eigenen Person nahe kommen kann und das so auf das eigene Erleben Einfluss nehmen kann (z.B. "wo dann n'Gedicht, einem, einen birgt, em Trost gibt und so."). • Gehen durch den Kopf, Fallen ein, Verfolgen, Entfallen etc. Einem Gedicht oder einzelnen Zeilen und Worten eines Gedichtes schreiben die Erzähler eine autonome Aktivität zu (z.B. "Die mich wochenlang verfolgt haben" (Beleg 26) oder "Die Gedichte kommen dann") In ihren Darstellungen wechseln die Erzählerinnen zwischen der Ausführung des eigenen Zugriffes auf Gedichte und dieser den Gedichten zugeschriebenen Handlungsinitiative. Auch im Hinblick auf das eigene Schreiben beschreiben die Erzählerinnen ein Wechselspiel zwischen eigener Aktivität und der Aktivität eines Gegenübers. Als Gegenüber wird hier das eigene Unbewusste, eine 198

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Kreativität, die zum Schreiben drängt oder eine nicht näher ausgeführte Kraft, die letztlich das Gedicht mitgestaltet und verantwortet konstruiert. Bereits in Formulierungen wie "herunterschreiben" oder "loswerden lassen" für das eigene Schreiben findet sich dieses Zusammenspiel von eigener Aktivität und Passivität/Rezeptivität. Nur selten lösen die Erzählerinnen dieses Zusammenspiel vollständig in Richtung eines Poles hin auf. Eine ausschließliche Aktivität würde bedeuten, das eigene Schreiben als vollständig eigene Leistung und Handlung zu konstruieren und eine ausschließliche Passivität/Rezptivität würde beispielsweise eine Darstellung bedeuten, in der sich der Schreiber als reines Medium und ausführendes Organ oder als "von einer Muse geküsst" darstellt. Dem eigenen fe1tigen Gedicht schreiben die Erzählerinnen dann ebenfalls wie den nicht Selbstgeschriebenen eine eigene Aktivität zu. Diese eigenen Gedichte werden gleichzeitig als Produkt und als Gegenüber beschrieben, das begleiten, stärken oder stolz machen kann. In der Belegstelle 26 illustriert Frau I. die Bedeutung und Wirkung eines selbst geschriebenen Gedichtes. Beleg 26: "Die mich wochenlang verfolgt haben" (Frau I. S.7[41)-S. 8[4)) 1

5

10

E:

ja, (.) und dann noch so eins=zwei gedichte wo ich=s gefühl hatte die=dieser innere ausdruck is=is auch gelungen, (.) wirklich so=n (dieses bild / // .) #wo ich dann auch so=n paar zeilen hatte, ( -) ehm, (.) die mich- (.) w (.) ochenlang irgendwie verfolgt hab=n weil die das so=n warte gefaßt haben was=was mir eigentlich, (. ) # nAhgeht > irgendwie so, ( .) also richtig wie so ne- (.) .hhh erLÖSungdas mal in worte gefaßt zu haben oder so was

(2) Funktionen und Wirkungen dieser Darstellungen Im Folgenden sollen einige Überlegungen und Beispiele zu den Funktionen und Wirkungen dieser A1t der Darstellung von Gedichten als handelndem Gegenüber vorgestellt werden. • Authentizität, Bedeutsamkeif und Dramatik unterstreichen. Die Konstruktion des Gedichtes als Handlungsinstanz kann dazu dienen, die Authentizität einer Erfahrung zu unterstreichen. Indem die eigene Person zur Betroffenen wird und die Verantwortlichkeit auf ein Gegenüber attribuiert wird, wird die eigene Einflussmöglichkeit auf das erzählte Ereignis geschmälert und das Ereignis so als objektiver dargestellt. Indem jemand im Umgang mit Gedichten eine Erfahrung als Widerfahrnis beschreibt, kann er auch die persönliche Bedeutsamkeit und Eindrücklichkeit dieser Erfahrung hervorheben. Die Darstellung einer Erfahrung als Widerfahrnis lässt sich auch als ein Mittel der Dramatik interpretieren, mit dem sich eine Leseerfahrung szenisch gestalten lässt und so plastischer und anschaulicher wird. 199

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Ausdruck größerer Wirkungszusammenhänge. Mit der Darstellung von Gedichten als Gegenüber kann der eigene Umgang mit Gedichten in einen größeren Wirkungs- und Sinnzusammenhang gestellt werden. Gelegentlich bleibt offen, wer oder was das Gegenüber eigentlich ist: Zumeist wird das Gedicht selbst als eine Instanz konst:miert. Gelegentlich könnte auch der Autor des Gedichtes als Handelnder im Hintergrund gemeint sein oder eine nicht näher umschriebene höhere Macht, zu der jemand sein eigenes Leben in Relation sieht. Das Berührtsein von einem Gedicht wird so z.B. als Botschaft des Schicksals, einer Macht oder als Beleg der eigenen inneren sinnhaften- Entwicklung gedeutet. Erzählerinnen nutzen diese Darstellung auch als Beleg für eine Lebenskraft oder höhere Weisheit, die im eigenen Leben zum Ausdruck kommt und sich auf unterschiedliche Weise- nun in der Sprache der Gedichte - ihren Weg sucht und ihnen entgegenkommt (z.B. Frau A und Herr H.). Diese Sinnzusammenhänge im Hintergrund können in Formuliemngen wie dem "Berührtwerden von Gedichten" aufscheinen (siehe auch 2.4.4 zum sozialen Horizont als Tiefendimension). Selbstpositionierung: berührbar und resonanzfähig Darstellungen, in denen Gedichte als handelnde Instanzen konstruiert werden, können auch der Selbstpositionierung dienen, sich als resonanzfähig oder besonders ernptanglich zu zeigen. Dies wird in den Interviews gelegentlich als Gnade, besondere Begabung oder Kompetenz gedeutet. Verantwortlichkeitsteilung Wenn Gedichte als Handlungsinstanz konstruiert werden, wird damit auch die Verantwortung für das eigene Lesen und Schreiben aufgeteilt. Beispielsweise konstru.iert Herr F. im Sprechen über das Jimenez-Gedicht sehr häufig das Gedicht als Gegenüber, das sich ihm verschließt ("sagt mir gar nix!" "'s spricht mich nich an"). Er selbst kennzeichnet sein Bemühen und unterstreicht seinen Willen, einen Zugang zum Text zu finden. Interessanterweise finden sich sprachlich bei allen Erzählern in den Argumentationen, aktuell kaum Gedichte zu lesen, Satzkonstruktionen, in denen die Gedichte selbst sich "entfernen", "abhanden kommen" oder "in den Hintergrund treten". Diese Art der Darstellung ermöglicht auch eine weitere Entlastung der eigenen Person, indem den Gedichten die Agentenschaft flir die Distanzierung zugesprochen wird.

ln unterschiedlichen Kontexten konstruieren die Erzählerinnen Gedichte so als autonom handelndes Gegenüber. In den folgenden Abschnitten wird immer wieder das hier vorgestellte sprachliche Motiv aufgegriffen und in den jeweiligen thematischen Kontexten vertieft werden.

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2.4.2 Umgang mit Gedichten als Wandlung und als Veränderungsprozess ln Abschnitt 2.4.1 wurde gezeigt, dass die Erzählerinnen m den Interviews Gedichte sprachlich-metaphorisch als ein Gegenüber konstruieren, dem sie einen Einfluss auf sich und das eigene Erleben zuweisen. An dieser Stelle soll nun rekonstruiert werden, wie die Erzählerinnen die "Begegnung" mit einem Gedicht beschreiben und wie sie diese Erfahrungen deuten. Zunächst ist an dieser Stelle auf einige Textphänomene hinzuweisen. Die betreffenden Passagen in den Interviews zeichnen sich durch eine besonders große Deutungsoffenheit aus: Die A11, Qualität und Bedeutung der erzählten Erfahrungen bleibt entweder im Ungesagten und geht nicht über positiv wertende Formulierungen wie "das hat mich angesprochen", "das fand ich toll" oder "das hat mich sehr berührt" hinaus. Oder die Erzählerinnen verwenden in diesen Passagen Metaphern oder Analogien, um Erfahrungen verständlich zu machen. Diese Sprachbilder zeichnen sich einerseits durch eine große Verdichtung und Prägnanz, zum anderen selbst durch eine große Deutungsvielfalt aus. ln den Passagen finden sich außerdem entweder bereits geronnene Formulierungen, Bilder oder Anekdoten für das Geschehen oder aber Reformulierungen, Pausen und Satzabbrüche, die auf eine aktuelle Formulierungsarbeit hinweisen. Ein Motiv, das sehr häufig im Hinblick auf den eigenen Umgang mit Gedichten von den Erzählerinnen gewählt wird, ist das Motiv der Wandlung oder der Veränderung. Das Lesen oder Schreiben, die "Begegnung" mit einem Gedicht beschreiben die Erzählerinnen in sich ähnelnder Weise als eine plötzliche Erkenntnis oder einen längeren Aneignungsprozess, der eine veränderte Sicht auf sich selbst, einen anderen Menschen, ein Thema oder eine Situation und möglicherweise eine veränderte Stimmungslage mit sich bringt. Im Folgenden werden 3 Facetten dieses beschriebenen Wandlungsphänomens nacheinander mit j eweil s einem ausfuhrliehen Textbeispiel betrachtet: die erlebte Pass ung bzw. ein Moment des Aufmerkens (I), eine Stimmungsveränderung (2) und eine Neudeutung oder Erkenntnis (3). Diese Facetten sind nicht klar voneinander zu trennen. Sie kennzeichnen eher Nuancen, die in den Erzählungen immer wieder genannt werden. Nicht immer finden sich alle drei Nuancen.

(1) Erlebte Passung- Stimmigkeit- WandlungsmomentIntegration von Gegensätzen Die Erzähler konstruieren das Lesen und Schreiben von einem Gedicht zeitlich als einen Wendepunkt. Es gibt ein "Vorher" und ein "Danach" (siehe Beleg 28: "Gehörsturz") und es wird ein Wandlungs- oder Er-

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kenntnismoment beschrieben, der mit Formulierungen wie "plötzlich" (siehe Beleg 29: "Wolkenwegfeger") oder "in dem Augenblick" als ein besonderer Moment gekennzeichnet wird und der durch Betonungen und paraverbale Signale noch unterstrichen wird. Es finden sich leichte Unterschiede in den Darstellungen, je nachdem ob vom Lesen oder vom Schreiben von Gedichten gesprochen wird. Deshalb werden die beiden Phänomene jetzt nacheinander betrachtet. Rezeption eines Gedichtes Das Lesen eines Gedichtes konstruieren die Erzähler häufig in einer Weise, die sich in einigen Bestimmungsstücken ähnelt. Die Erzähler beschreiben einen Moment der Verwunderung, des lnnehaltens oder des Aufmerkens, der z.B. lautmalerisch durch ein "huppsla" (siehe Beleg 25), durch eine Pause oder ein verlangsamtes Sprechen markiert wird. Herr G. erwähnt beispielsweise im Interview oft die Gänsehaut, die ein Gedicht bei ihm auslöst, als Beleg dafür, dass ein Gedicht ihm gefällt, ("Frühling lässt sein blaues Band, ja, mhm, also das ist einfach (---) jaja, (.) des ist wieder so Gänsehaut auslösend, ne?" Herr G.: S.lO [37-40]). Dieser Moment wird oft als Handlung des Gedichtes z.B. als ein Berühren oder Ansprechen beschrieben oder wie hier bei Herrn G., der das Gedicht als "Gänsehaut auslösend" bezeichnet. Für Herrn K., der im Interview viele lautmalerische Gedichte oder Gedichte mit einem "Clou" erwähnt, bringt die Rezeption eines Gedichtes wiederum einen Moment des Lachens, des Aufmerkens oder der Überraschung mit sich. Frau A. schildert bestimmte Momente als eine "starke Rührung", die noch vor dem Erkennen der Worte oder eines Sinnes stattfinde und kennzeichnet diesen Moment als eine Passung und Übereinstimmung (,ja genau. er sagt jetzt genau ...", Beleg 21) zwischen den Worten des Dichters und ihrem eigenen Erleben. Auch Frau I. hebt die Bedeutung des Wartetindens für ihr Erleben hervor (siehe Beleg 26: " Die mich wochenlang verfolgt haben"). Ebenso betonen auch andere Erzähler das Erleben einer Entsprechung zwischen ihren eigenen Gefühlen und den vom Autor beschriebenen. Wie in 2.3.1 beschrieben, konstruiert Herr G. das Lesen eines Hessegedichtes als eine Begegnung mit dem Autor, bei dem er eine Passung der eigenen Einsamkeit und der als Erleben des Autors verstandenen, im Gedicht zum Ausdruck gebrachten Stimmung erlebt hat. Hier bringt die Passung eine Resozialisierung mit sich: Das eigene Erleben wird in einem gesellschaftlich geteilten Text wieder gefunden und verbindet auf diese Weise mit anderen. Das Lesen von Gedichten schildern einzelne Erzähler in dem Sinne als das Empfinden einer Passung oder Entsprechung zwischen ihrem inneren Erleben und einer äußeren - sozial

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geteilten - Textrealität Diese Passung kann sich auf GeHihle beziehen, aber auch auf eine Sichtweise, eine im Gedicht beschriebene Situation. Sie wird global auf das gesamte Gedicht bezogen oder nur auf eine einzelne Zeile oder ein Wort des Gedichtes. Diese erlebte Passung und die hier beschriebenen Momente des Aufmerkens und Berührtwerdens gehen in den Darstellungen immer mit einer Stimmungsveränderung oder Neudeutung des eigenen Erlebens oder einer Situation einher. Diese Nuancen werden in Abschnitt (2) und (3) ausgeftihrt werden.

Produktion eines Gedichtes Das eigene Gedichtschreiben beschreiben fast alle Erzähler als emen Umwandlungsprozess. Folgende Facetten heben die Erzähler bei diesen beschriebenen Umwandlungen hervor, bei denen die Neudeutungen und Perspektivenwechsel immer schon beinhaltet sind: Zunächst wird das eigene Schreiben als ein Benennen oder in Worte/Sprache bringen von Gefühlen, Wahrnehmungen oder Gedanken von Erzählern betont. Das Schreiben wird als Ausdruck von Gefühlen oder als Meinungsäußerung konstruie11, wobei die Gedichtform als Rahmen dargestellt wird, um Gedanken oder wie Herr J. es metaphorisch formuliert "Energie fließen lassen" (S.l [32]) zu können. Einzelne Erzähler beschreiben auch das "Suchen" nach und das "Finden" von Worten, die sie als angemessen und passend empfinden. Auch hier implizieren die Erzähler, dass bereits im Benennen eines Gefühls oder einer Meinung Sinn, Entlastung und Veränderung beinhaltet ist. Beispielsweise räumt Herr J. dem eigenen Schreiben und damit einem kreativen Ausdruck einen Beitrag zur eigenen psychischen Gesundheit ein. Dieser Erzähler, wie auch andere, konstruieren das eigene Schreiben als ein "Heraus"setzen von etwas, das sie bis zu dem Zeitpunkt "Innen" angesiedelt hatten. Für das eigene Schreiben deuten die Erzählerinnen Sprache als Abbild von etwas, das in ihnen war und nun sichtbar und hörbar vorliegt. Auch in diesen Passagen heben die Erzähler den entlastenden Moment des "Ausdrucks" hervor, den sie als einen ungehinderten Fluss zwischen innen und außen schildern. Gelegentlich verbinden die Erzähler mit einem Formulieren auch ein Annehmen und Akzeptieren des Zur-Sprache-Gebrachten. Hier wird also ein Moment der Umwandlung vom Nichtakzeptierten zum Akzeptierten parallel mit dem Versprachlichungsprozess konstruiert (siehe Beleg 28: "Gehörsturz"). Eine weitere Nuance der Umwandlung, die den Erzählern nach im eigenen Schreiben geschieht, ist die Versöhnung oder Integration von vormals Gegensätzlichem. Beispielsweise heben Frau A. oder Herr E. hervor, dass in Gedichten auch Unangenehmes, Belastendes, Bedrohliches oder Hässliches in ästhetischer und damit annehmbarer Weise

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Gedoch ohne etwas zu schönen!) formulierbar sei. Schönheit/Ästhetik und Unangenehmes/Hässliches sind fiir die Erzähler in einem Gedicht gleichzeitig präsent und eröffnen in dieser Gleichzeitigkeit eine neue Perspektive. Dies fuhrt zu einer weiteren Facette der Umwandlung, die von vielen Erzählerinnen erzählt wird: Das geschriebene Gedicht konstruieren die Erzählerinnen als einen Behälter oder eine Form, die Ungenehmes, Quälendes, Ausuferndes oder Beherrschendes begrenzen und umwandeln kann ("da ist die ganze Jugendzeit drin" Frau A. S. 8 [33]). Das Gedichtschreiben wird so als etwas konstruiert, was chaotische oder diffuse Gefiihle bändigen und in eine Gestalt bringen kann. Erleben wird in Worte "gefasst" (Beleg 26: "Die mich wochenlang verfolgt haben"), damit benannt und greifbar gemacht und in anderer Weise als vorher auch emotional begriffen. Sprachlich findet sich hier immer wieder die Konstruktion, dass die Zeilen oder Worte diese Aktivität des Fassens sogar übernehmen (siehe wiederum Beleg 26). Den Aufbau und die klare Struktur von Gedichten (hervorgehoben wird von einigen Erzählern in diesem Zusammenhang die besonders klare Struktur der japanischen Kurzgedichte, der Haikus) deuten einige Erzähler als äußere, strukturierende Hilfe, die dem eigenen Selbstverhandlungs- und Verstehensprozess einen Rahmen gibt. Auch in diesem Zusammenhang kommt es vor, dass Gedichte als Handelnde konstruiert werden, die vom Schreiber eine bestimmte Struktur und Ordnung fordern. Gelegentlich bezeichnen einige Erzähler die Beschäftigung mit Gedichten (Lesen von Herrn G. und Schreiben von Herrn E.) als "Ventil" . Sie weisen mit dieser Metapher dem eigenen Schreiben kanalisierende und regelnde Funktionen im eigenen Gefühlshaushalt zu. Auch bei diesen Umwandlungen markieren die Erzählerinnen eine deutliche Zäsur, die das Erleben in ein Vorher und Nachher der eigenen Produktion teilt. Frau A. beschreibt zum Beispiel ein Gedicht, das sie im Nachhinein über ihre sie belastende Jugendzeit schreiben wollte. Sie erzählt zunächst von ihrer Schreibblockade und dem mühevollen Ringen um Worte. Das Gedicht selbst ist in der Erzählung dann unvermittelt plötzlich geschrieben, die Erzählerirr weist ihm eine starke abschließende und umwandelnde Bedeutung zu. Beleg 27: "Durchgelebt" (Frau A. S. 8 [37-41])

1

E: I:

E: 5

also da da die ganze jugend, konnte ich in dieserr gedieht schreiben. h=hm; und dann wars, dann hab ichs auf die sei, dann war das wie wie DURCHgelebt.

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Feinanalyse: ln diesem Abschnitt evaluiert die Erzählerin das eigene Schreiben eines Gedichtes. Mit der Formulierung "die ganze Jugend" betont die Erzählerin bereits die umfassende und abschließende Kraft des Schreibens. Die Erzählerirr nimmt drei Anläufe, wn die Folge ("dann") des Schreibens zu charakterisieren. In diesem Resümee zeigt die Erzählerin, dass sie mit dem tertig geschriebenen Gedicht nicht nur das Gedicht zur Seite gelegt ("dann hab ich' s auf die sei") hat und damit ein langer Prozess beende! war, sondern sie schließt das Resümee mit der Analogie der Katharsis ("wie durchgelebt", Zeile 5). Als Endpunkt konstruiert sie so nicht nur ein mühselig fertig geschriebenes Gedicht, sondern einen vollendeten emotionalen Bewältigungsprozeß. ln einer weiten Deutung lassen sich diese zweimaligen Satzabbrüche als eine Reinszenierung ihrer vorher beschriebenen Schreibblockade lesen, deren Überwindung sie als Entlastung charakterisiert und hier erneut vollzieht.

Die Umwandlung wird von den Erzählern zum Teil mit der Bildsprache einer Geburt erzählt. Das eigene Gedicht wird als etwas konstruiert, dessen Produktion Kraft, Geduld und Einsatz, auch mal Schmerz fordert, und das dann anschließend "geboren" ist, das vorliegt, sichtbar und greifbar ist und das mit Stolz betrachtet werden kann. Herr E. beschreibt das eigene Schreiben mit der Metapher, "sich n'Verbündeten in die Welt gesetzt" zu haben (S.3 [1 0-11]) und betont mit dieser Metapher einerseits die Unabhängigkeit des geschriebenen Gedichtes (es ist ein personifiziertes Gegenüber für ihn) und andererseits die Stärkung, die er aus diesem Gedicht bezieht. Während einige Erzähler den Fokus auf das Schreiben selbst, auf das Versprachlichen des eigenen Erlebens legen, und dies als persönlich wichtigen Prozess betonen und sogar letztlich das Produkt dieses Prozesses in seiner Relevanz relativieren, steht bei anderen Erzählern die Entlastung im Vordergrund, Worte in eine klare Form gebracht und damit etwas abgeschlossen zu haben, das nun vorliegt, mitteilbar, sichtbar und haltbar ist. So legen die Erzähler den Schwerpunkt jeweils auf unterschiedliche Phasen des Prozesses. Abschließend soll an einer ausftihrlichen Textpassage gezeigt werden, wie ein Erzähler einen Wandlungsprozess durch das eigene Schreiben konstruiert. Beleg 28: "Gehörsturz" (Herr E.: S. 15[25)-16[14))

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E:

un n ANdres is- ich hatt so zwischen z wölfte und dreiEZEHNte- (.) hat ich- (---) auch=n richtig KRASSENgehörsturz ((hustet)) #da war ich, (--) ( ) pünktlich zu den Sommerferien, da , (-) ja da ging halt sechs wochen gAr nichts und da da((hustet laut))

.hh da- (--) das war auch GRAde so=ne zeit wo ma auf einmal geMERKT hat was ma alles für mÖglichkei t en und

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fähigkeiten hat # und i c h kam mir halt v or wie achilles ja ich war ein- (-) UNbesiegBAR jA, und hab=bin halt, (.) bi s f ü nfuhrMORge n s AUFgeBLIEBEN, und dann trotzdem n och in die SCHULE und klausurn geschriEben , u n d geLERNT, und BANDprobe hiEr und- .h DINGS DA, und mit LEUte n dOrt und dann dann hat=s ein einfa ch irgendwann toTAL- ( -) zerLASSEN weil ich auch AUch, (-- ) also- ( - ) das war , (.) das war dan n auch irgendwa nn so geTRIEbe n dass ich immer g edacht hab hey MEHR, MEHR , MEHR ich bra u c h noch,># also= s g eht noch mehr u n d .h u:n ( (huste t)) diEses , ( . ) s o diEses gAnze, ( -) oa h des so dieses gAnz e g eTRIEben s e in- . h das , ( . ) das hab i c h a u c h in s o =m- ( . ) so=m text irg endwie di e die ZEIT, ( --- ) dann irgendwi e mal so- (. ) so r untergeschrie b en . (-) u:n, ( --- ) (-- ) öhh- ( ---) also was i c h da auch an mi r NICH so gErn geMOCHT hAtte irgen dwie wieder, ( --) wieder annehmen; weil des irgendwie in s o =ner , (- ) ansprechenden f Or m a lso ner, (.) n e r FORM DIE, ( . ) # # ( - ) die mir auc h irgendwi e - (. ) g eFALLN h a t aber das WA : R- (--) trOtzde m irgendwie s c hön und trEff e nd AUSgedrückt und=und irgendwie hat man sich da auc h Innerlich wi e d e r n biss c hen mit s i ch- (--) mi t si c h sElber ve r s öhnt. # ( --- )



Feinanalyse: In dieser Passage erzählt Herr E. wie er anlässlich eines Gehörsturzes das Gedichtschreiben als Therapeutikum erlebt hat. Der Erzähler liefert in der Erzählung (mit gelegentlicher Rückversetzung in die damalige Zeit) seine Krankheits- und Bewältigungstheorie. ln Zeile 3 beginnt Herr E. mit einer breit angelegten Erzählung, zu der er ab Zeile 7 in einem Detaillierungszwang noch weiter ausholt, um seine jugendliche Expandierungsphase zu inszenieren. Der Erzähler legt dabei die sich anl(ündigende Katastrophe seiner Gestinmltheit als hypomanisches Genie z.B. in der Doppeldeutigkeit der Figur des Achilles bereits an. Indem der Erzähler seine Handlungen in einer Beliebigkeil kulminieren lässt ("und-, dings da, und mit Leuten dort"), zeigt er auf sprachlicher Ebene, wie er sich in einem Aktionismus verfangen hat. Diesen Aktionismus inszeniert der Erzähler im Rahmen einer theoretischen Reformulierung mit einer Stimme als Getriebenwerden in einem sich verselbständigenden Prozess, den er in einer weiteren Inszenierung durch die Stimme seines Körpers beenden lässt. An dieser Stelle führt der Erzähler in stockender Weise das Schreiben des Gedichtes ein und deutet mit der Formulierung "dieses, so dieses ganze, (-) oah des so dieses ganze Getriebensein" die umfassende Erfassung

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des Erlebens im Schreiben des Gedichtes an. Mit der Pause und der anschließenden prosodischen Heraushebung des den zeitlichen Wendepunkt markierenden "danach" (Zeile 27) beginnt der Erzähler die Darstellung der Wirkung des Gedichtschreibens. Das Schreiben ermöglicht ihm einen neuen Zugang zu sich (" dadanach konnt ich auch ... ", Zeile 28). Die aus dem Schreiben gewonnene Erkenntnis schildert der Erzähler als ein Zurückkehren auf den Boden der Tatsachen und ein sich und seine Fehler einordnen in den Bereich des Normalen (,ja hey, das das das is menschlich", Zeile 34-35). Anschließend beugt der Erzähler einem denkbaren Vorwurf, etwas beschönigt zu haben, vor und betont die gleichzeitige Möglichkeit der ansprechenden, schönen Form, die der Erzähler als Ermöglichung fur die Versöhnung mit dem vorher nicht Gemochten nennt.

(2) Stimmungsveränderung Im letzten Unterabschnitt wurden bereits an verschiedenen Stellen die Entlastung und die Stimmungsveränderung angedeutet, die die Erzählerinnen mit dem Lese- oder Schreibprozess eines Gedichtes verbinden. Sie wird als etwas beschrieben, das unmittelbar mit einem Passungs- oder Umwandlungsmoment einhergehen kann. Die Erzählerinnen erwähnen eine ganze Reihe unterschiedlicher Gefühle und Stimmungen, die für sie im Umgang mit Gedichten verbunden waren: Entlastung, Beruhigung, Ruhe, Trost, Geborgenheit, Begeisterung, Besänftigung, Erheiterung, Ehrfurcht, Bewunderung, Neugier, Angeregtsein etc.. Zugleich wird diese Stimmungsveränderung oft als das Ende eines unangenehmen Gefühls, einer als problematisch erlebten Situation beschrieben (siehe z.B. Beleg 28: "Gehörsturz" oder Beleg 29: "Wolkenfeger"). Beim Erzählen zeichnen einige Interviewpartnerinnen die entl astende Wirkung des Lesens oder Schreibens im Sprechen nach: Ein kurzes Innehalten-, eine Veränderung der Stimmhöhe oder des Sprechternpos (siehe z.B. Beleg 28: "Gehörsturz") oder ein tiefes Durchatmen (siehe z.B. Beleg 26: "Die mich wochenlang verfolgt haben") lassen die Wirkung der Lese-/SchreibhandJung aktuell im Interview spürbar werden. Mal legen hier die Erzählerinnen in ihren Darstellungen den Fokus auf den Prozess des Schreibens und Lesens und stellen das eigene Handeln in den Vordergrund. Mal stellen sie hier jedoch auch das Gedicht als Wirkinstanz dar: Das Gedicht löst Geft.ihle aus, beruhigt etc. Beleg 29: "Wolkenfeger" (Frau 1.: S.1[29-42]) 1

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E:

und dann:: (.) war so in der PUberTÄTSZE IT irgendwie, kann ich mich e rinnern , (-) ehm, ( . ) dass es so phasengab wo ich irgendwie , (.) schlecht geLAUNT oder geKNATSCHT oder irgendwie so war, ( . ) dann hab ich irgendwie so=n : (. ) nen band mit gedrehten irgendwie in die finger gekriegt , ( .) und dann ha t mich das irgen dwie so,() ehm, ( .) beRÜHRT oder so was, (.) ( i st) die

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schlechte laune irgendwie wie weggeblasen war, (.) # d=s kann ich mich noch erinnern , ( .) das is wie so=so=n wolkenfeger irgendwie so=plötzlich sc ne innere klArhEit oder so was aufgetauc ht ist irr gedieht , (.) ## ehm, ( . ) das diese inneren bilder oder so was da entstanden is, (.) ode r so=nen angerührt sein von HÖheren, ( .) seitenirgendwie oder so was, ( -) ##

(-)

Feinanalyse: Mit Bezeichnung der zeitlichen Orientierung "Pubertätszeit" eröffnet die Erzählerirr einen ganz bestimmten Assoziationsraum, in dem sie das Folgende verstanden (und damit auch normalisiert) wissen will. Ihre emotionallabile Phase führt sie mit der Listenbildung ("schlecht gelaunt oder geknatscht oder irgendwie so war" Zeile 4) weiter aus und beschreibt ihren damaligen allgemeinen Stimmungszustand. Nach der Änderungsankündigung "dann" (entsprechend dem "plötzlich", Zeile 11, in der Wiederholung) fuhrt sie mit der sehr bildlich konkreten, szenischen und Zufälligkeit suggerierenden Formulierung "nen Band mit Gedichten irgendwie in die Finger gekriegt" (Zeile 5-7) eine Wende ein, die in der ebenso bildhaften Formulierung des Berührtwerdens ihre Antwort findet. Wer oder was hier mit dem "das" als Handlungsträger des Berührens gemeint ist, bleibt offen. Das Gelesene, das Lesen selbst, das Gedicht? In sehr bildlieber Sprache, mit der die Erzählerirr ihr sprachliches Repertoire unter Beweis stellt, führt sie nun die Wirkung des Lesens/der Gedichte an, indem sie einen großen Assoziationsraum mit Luft-, Leichtigkeits- und Berührungsmetaphorik eröffnet. Die Beschäftigung mit Gedichten deutet die Erzählerin in diesen Bildern als emotional bewegendes und erhebendes Ereignis, das sie mit großer Wirkkraft in eine andere Erlebenswelt versetzte. Die häufige Verwendung des modalisierenden Partikels "irgendwie" vor jeder substantiellen Phrase lässt sich im Hinblick auf das Gesamtinterview als Gewohnheit interpretieren. An dieser Stelle, in der die Erzählerirr den Partikel gehäuft verwendet, markiert sie möglicherweise das Erlebnis als diffus und schwer greifbar. Mit der dreimaligen Rahmung (Zeile 2, I 0, 16-17), in der sie auf ihre Erinnerung rekurriert, unterstreicht die Erzählerin die Authentizität des Erzählten.

(3) Erkenntnis- Neudeutung Nicht zu trennen von einem Wandlungsmoment und einer Stimmungsveränderung ist in den Darstellungen der Erzähler eine Neudeutung und eine Perspektivenänderung, die der Umgang mit Gedichten mit sich bringt. So wird beispielsweise die Erfahrung, das eigene Erleben selbst (oder in einem Gedicht vorgefunden) in Sprache gebracht zu haben, als große Entlastung und als Veränderung des Erlebens beschrieben. Die erwähnte Passung "Erleben - Wort" schildern die Erzähler als eine Öffnung der Perspektive (z.B. als "Erlösung" siehe Beleg 26: "Die mich wochenlang verfolgt haben"). Das zur Sprache bringen (und zwar in ästhetischer Weise, wie einige Erzähler hervorheben) bedeutet hier also nicht ein bloßes Benennen von bereits Vorliegendem, sondern eine Ver-

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änderung des zur Sprache gebrachten Erlebens. Frau A. deutet dieses neuschöpfende Potenzial beispielsweise als Bewusstwerdung. Sie entwirft das Bild, dass sie Gefühle bereits habe, und sich dessen aber erst durch die Worte des Gedichtes bewusst werde. Ebenso wird das eigene Wortefinden beim Schreiben von den Erzählern zwar als Passung von Erleben und Wort beschrieben, aber gleichzeitig als Veränderung des eigenen Erlebens und der Sicht auf die Situation geschilde1t. Die Erzähler zeigen damit, dass das Finden von Worten für das eigene Erleben einen hohen Wert für sie darstellt, dem sie eine verändernde Wirkung beimessen. Wie an verschiedenen Belegen bereits deutlich wurde, verbindet sich für viele Erzähler mit der verändernden Wirkung eine verände1te Perspektive auf sich selbst und eine Neudeutung einer Situation. Herr G. deutet nach dem Lesen des Hessegedichtes seine Einsamkeit als allgemein menschliches Phänomen (siehe Beleg 19: "Es geht nicht nur mir alleine so") und beschreibt, wie Gedichte ihn in seinem eigenen Lebensentwurf gestärkt haben, indem sie als Deutungsmuster sein Erleben legitimierten. Herr E. beschreibt, wie das Schreiben des Gedichtes ihn seine Lebenssituation anders sehen lässt und für ihn bislang als bedrohlich erlebte Anteile der eigenen Person integrierbar und annehmbar werden (siehe Beleg 28: "Gehörsturz"). Frau C. stellt Gedichte als eine Brille dar, die z.B. ihre Wahrnehmung der Natur in unterschiedlichen Situationen neu formt und lenkt. Oder sie zeichnet Gedichte als Spiegel, an dem sie erkennt, wie eine andere Person zu ihr wirklich steht ("das bin nicht ich" siehe Beleg 2: " ... der mich angedichtet hat"). In Abschnitt (1) wurde bereits der Moment des Aufmerkens beim Lesen (und in ähnlicher Form beim Schreiben) von Gedichten als eine erlebte Integration von Gegensätzlichem beschrieben: von Ästhetischem und Hässlichem oder von innerem Erleben und äußeren (sozialen) Texten. Darüber hinaus beschreiben einige Erzähler auch die Verwunderung und Erkenntnis über sprachliche Phänomene selbst. Herr H. erzählt die eigene Verwunderung beim Lesen von Gedichten von Hölderlin, dass dessen Sprache nicht benennend sei, sondern schöpferisch. Oder Frau C. schildert ihre Faszination, über den vermeintlichen Gegensatz "mit so knappen Zeilen, so viel sagen" zu können (siehe Beleg 25 : "Hupsla").

2.4.3 Lebensbewältigung durch Gedichte ln diesem Abschnitt soll im Hinblick auf die Themen der vorangehenden Abschnitte stärker die biografische Perspektive hinzugenommen werden. Es wird gezeigt, wie Erzählerinnen die eigene Beschäftigung mit Gedichten zum Teil als Methode nutzen ftir die eigene Selbstverhandlung und

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zur Lebensbewältigung (1). Im Interview sprechen die Erzählerinnen oft von Gedichten im Kontext von belastenden Situationen, Umbruchs- oder Übergangssituationen. Es wird dargestellt, welche Funktionen sie Gedichten in diesen Situationen zuschreiben (2). An der Auseinandersetzung einer Interviewpartnerin mit dem vorgelegten Jimenez-Gedicht in der zweiten Phase des Interviews wird die biografische Dimension des Sprechens über Gedichte und die darin sich vollziehende Aneignung eigener biografischer Erfahrungen aufgezeigt. (3). Schließlich wird aufgezeigt, wie die Interviewpartnerinnen rückblickend im biografischen Erzählen Gedichten unterschiedliche Funktionen aus aktueller Perspektive zuweisen und diese in der aktuellen Selbstthematisierung nutzen (4). Eingangs soll ein Aspekt der Gedichte hervorgehoben werden, der in zeitlicher Perspektive in den Erzählungen eine Rolle spielt. ln 2.4.2 wurde bereits erwähnt, dass die Erzähler die Gestalthaftigkeit der Gedichte als wichtigen Aspekt der Wirksamkeit von Gedichten betonen: das Gedicht metaphorisch gesprochen als Behälter, der Gefühle zu umschließen und begrenzen vermag, im Zuge dessen Produktion gleichermaßen Erfahrungen als abgeschlossen, beendet oder "durchlebt" dargestellt werden. Die Struktur und der Aufbau von Gedichten wurden hierbei von den Erzahlern als hilfreiches Merkmal erwahnt. Darüber hinaus spielt im Folgenden die mögliche Materialität bzw. Konservierbarkeit von Gedichten eine entscheidende Rolle: Gedichte sind schriftlich fixierbar in einem Buch/Tagebuch/Hörbuch oder auf Papier, sie lassen sich so nachlesen und wieder hervorholen. Gedichte können als klar umschriebene Wortabfolgen auswendig gelernt und im Gedächtnis behalten werden. Auf diese Weise können Gedichte über einen Zeitraum hinweg sichtbar oder greifbar bleiben. Auch nach einer längeren Zeit lässt sich ein Gedicht wieder hervorholen und aus einem Zeitabstand erneut lesen.

(1) Der eigene Umgang mit Gedichten als Methode ln 2.4.2 wurde vorgestellt, wie die Erzahlerinnen Momente im Umgang mit Gedichten in Form persönlicher Verwandlungs- und Bewältigungsgeschichten erzählten. Diese Wirkungszusammenhänge schildern die Erzählerinnen mit verschiedener emotionaler Beteiligung: Mal inszenieren die Erzählerinnen aktuell die Überraschung über das eigene damalige Erleben (siehe Beleg 25: "Hupsla"), mal schildern sie die Zusammenhänge fasziniert und begeistert (siehe Beleg 29: "Wolkenfeger"), mal ehrfürchtig, berührt und dankbar, mal verwundert oder aber die Erzählerinnen zeigen sich routiniert demgegenüber, was das persönliche Erleben im Umgang mit Gedichten für sie mit sich bringt.

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So präsentieren sich die Erzähler gelegentlich auch als Experten: nicht nur im Hinblick auf ihr eigenes Handeln in Bezug auf die Gedichte, sondern auch im Hinblick auf die dargestellten Wirkungszusammenhänge, in denen ihnen im eigenen Umgang mit Gedichten etwas widerfahrt, bei dem sie sich selbst nur bedingt die Kontrolle und Verantwortung zuschreiben. Die Erzähler berichten in diesem Zusammenhang erfahrene Gesetz- bzw. Regelmäßigkeiten. Beispielsweise generalisiert Frau I. direkt im Anschluss an die in der Belegstelle 29: "Wolkenfeger" - die beschriebenen Wirkungszusammenhänge folgendermaßen: Beleg 30: "Es konnten auch so Sprüche sein" (Frau 1.: S. 1[42)- 2[2))

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E:

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und das is auch dann immer wiEder so gewesen irgendwie, (-) also es konnten auch so sprÜche sein irgendwie, (.) so weisheitssprücheoder so was, (.) #oder ziTATEirgendwie von? ( - ) goethe= irgendwas, (.) oder so aber auch eben so gedrehte,

Feinanalyse: Mit der Formulierung "dann immer wieder" in Zeile 1 generalisiert die Erzählerirr die zuvor erzählte Erfahrung tur den totgenden Zeitraum. Anschließend nimmt die Erzähl erin eine Differenzierung der Lektürearten vor, denen sie allen eine ähnliche Potenz zuschreibt ("es konnten auch ... sein", Zeile 2). Mit den zahlreichen Unbestimmtheitsmarkierern ("So", "irgendwas" und "irgendwie") belässt sie die beschriebenen Zusammenhänge im Vagen.

Herr G. stellt aufgrund seiner Erfahrungen eine "wenn- dann" Systematik auf: Sein eigenes Anwenden eines Gedichtes ("wenn ich mir das so vorsag", Zeile 2) bringt eine emotionale Veränderung mit sich, die er als Widerfahrnis schildert. Beleg 31: "Wenn ich mir des so vorsag, dann ... " (Herr G.: S. 12 [35-39))

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E:

ja ziemlich SCHAde eigentlich, ich würd wirklich gerne DRIN sein aber, (.) wenn ich mir des so VORsag, dann- (.) äh bedeutet des doch eben so ne- ( ---) so ne STIMmungs : : ( - ) HEbung und man fühlt sich DAdurch e infach n bisse laus dem- ( .) ALLtag enthOben ja,

Feinanalyse: Perspektive in diesem kurzen Abschnitt ist das Bedauern von Herrn G., nicht stärker in der zuvor angesprochenen Fähigkeit des Auswendigkönnens von Gedichten "drin" zu sein. Nach dem Satzabbruch in Zeile 3 bringt der Erzähler eine Begründung für sein Bedauern, indem er den Zusammenhang aufstellt zwischen einem sich Vorsagen des :::uvor angesprochenen Gedichtes "Er ist's " und einer Stimmungshebung, die aus dem Alltag enthebt. Mit der Formulierung "bedeutet des doch" (Zeile 3) zieht der Erzähler eine Verbindung zwischen dem Aufsagen und

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der Stimmungshebung, die eine Gleichzeitigkeit impliziert undjenseits eines simplen kausalen Bewirkenkönnens liegt.

Auch der Verweis auf die Gänsehaut, die der Erzähler des Öfteren als fassbaren Beleg dafür liefert, wenn ihm ein Gedicht gefalle, lässt sich als eine kleine Theorie über die Wirkungszusammenhänge im eigenen Umgang mit Gedichten verstehen. Vor dem Hintergrund bestimmter heilsamer Erfahrungen im Lesen oder Schreiben von Gedichten berichten die Erzähler auch Gewohnheiten oder sogar ein eigenes methodisches Vorgehen. Beispielsweise schildert Herr F. das eigene Tagebuchschreiben in Gedichtform zu Pubertätszeiten als systematische Methode, die eigenen Geftihle zu ordnen und sich selbst besser zu begreifen. Auch die in 2.4.2 vorgestellten Bilder ftir das eigene Gedichtschreiben, das Schreiben als "Ventil", um Geftihle zu kanalisieren und umzuwandeln, als " Behälter", der Geftihle umfasst, begrenzt und verwandelt, sind bereits Bilder, die eine geronnene, wiederkehrende Erfahrung beschreiben. Ein Erzähler, Herr H., erwähnt sogar, das Schreiben von Gedichten (siehe Beleg 23: "Probiers doch auch mal") und das Rezitieren als Methode kennen gelernt zu haben. Dieser Erzähler reflektiert den Umgang mit Gedichten auch als therapeutische Methode. Das Schreiben oder die Beschäftigung mit einem Gedicht, die über ein einmaliges Lesen hinausgeht und von den Erzählerinnen mehr als ein längerer Prozess des Nachdenkens und Fühlens beschrieben wird und beispielsweise ein Sich-vorsagen beinhalten kann (Beleg 31: "Wenn ich mir das so vorsag, dann . .."), das Sprechen und Artikulierenlernen eines Gedichtes, all diese Umgangsweisen mit einem Gedicht werden von den Erzählern oft beiläufig als ein Mittel beschrieben, das ihnen zur eigenen Persönlichkeitsentwicklung, der Bewältigung des Alltags und besonderer Krisen hilft. Die Erzähler sprechen von der eigenen Beschäftigung mit Gedichten, deren Wirksamkeit sie im Laufe der Zeit ftir sich entdeckt und - vielleicht auch nur in einem bestimmten Zeitraum - im Sinne einer Methode angewendet haben. In dieser Weise ist z.B. auch das von einer Erzählerin (Frau 1.) berichtete ritualisierte abendliche Abschreiben von Gedichten in ein besonderes Buch zu sehen. Die Erzählerin charakterisiert diese Gewohnheit als feierliche, intime Momente, die sie regelmäßig am Übergang vom Tag zur Nacht zelebrierte. Eine andere Erzählerirr (Frau B.) berichtet im Kontext, in welcher Weise Gedichte sie im Alltag begleiteten, von einem Gedicht über die Liebe, das sie sich auf einen Stuhl geschrieben habe. Diese Erzählerirr weist Gedichten eine große stabilisierende Bedeutung bei Liebeskummer zu. Eine dritte Erzählerirr (Frau D.) schildert die eigene Beschäftigung mit Gedichten als Kind in einer Weise, dass das Bild einer ihr eigenen Welt entsteht.

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In den hier erwähnten Beispielen konstruieren die Erzähler Gedichte als ein Medium, das sie gezielt einsetzen und mit dem sie Einfluss auf sich selbst nehmen. Hier zeichnen sich die Erzähler selbst als Gegenüber. Sie beschreiben wiederkehrende Prozesse, in denen sich die eigenen Gefühle und ihre Wahrnehmung von sich und der Welt verändern . ln diesen Prozess, in denen sie sich selbst allerdings nur im begrenzten Maße die Kontrolle zuschreiben, zeigen sich die Erzähler als Handelnde und Behandelte zugleich. Es bleibt in den meisten Interviewpassagen schillernd, wem letztlich die Verantwortung ftlr die (zumeist als positiv beschriebene) Wirkung des Umgangs mit Gedichten zugeschrieben wird: Mallegen die Erzähler den Fokus auf die Gedichte, die als wirksames Mittel oder als aktiv handelndes Gegenüber konstruiert werden, mal auf die eigene Tätigkeit, in der sie selbst Gedichte als Mittel strategisch nutzen, und mal legen sie den Fokus auf den Prozess selbst, der als Wechselspiel von Aktivität und Rezeptivität beschrieben wird. (2) Funktionen von Gedichten in Krisen-, Umbruchs- und Übergangszeiten Einige Erzähler messen spontan oder auf Nachfrage Gedichten in bestimmten Lebensphasen und zu bestimmten Zeiten eine besondere Bedeutung bei. Dies wurde bereits an den in Abschnitt 2.4.2 vorgestellten Wandlungsmomenten durch Gedichte deutlich, die eine Stimmungsveränderung und Neudeutung mit sich brachten und einen Umschwung in problematischen Situationen bedeuteten. Die Erzähler sprechen von Krisenzeiten, Umbruchs- oder Übergangszeiten. So betonen zum Beispiel alle Erzähler flir die Pubertätszeit oder die Zeit als junge Erwachsene die Relevanz von Gedichten. Außerdem fUhren einige Erzähler Phasen von Liebeskummer oder der Aushandlung von Beziehungen als Zeiten an, in denen Gedichte flir sie relevant waren. Zwei Erzähler erwähnen beispielsweise außerdem Zugfahrten als typischen, passenden Rahmen für ihre Beschäftigung mit Gedichten. Der eine Erzähler schildert in diesem Zusammenhang eine besondere Gestimmtheit auf Zugfahrten, die er als "meditativ" beschreibt und mit einem die "Gedanken fließen lassen" charakterisiert (Herr K.: S.ll [18 bzw. 20]). Der andere Erzähler beschreibt einen Zustand, im Zug zwischen den Welten zu sein und fUhrt anschließend allgemein Umbruchs- oder Übergangszeiten als typische Zeiten für das eigene Schreiben von Gedichten an. Er begründet dies mit einem stärkeren Mitteilungsbedürfnis und einem auf sich selbst Zurückgeworfensein. Die Gedichte nennt er in diesem Kontext als etwas, das "handhabbar" sei, und bezeichnet das eigene Schreiben als einen Weg, "eine Brücke in die Welt die dich umgibt zu schlagen" (Herr E.: S. 22 [25) bzw. S. 23 [7-8]). Frau I. legt in ihrem Interview thematisch den zeitli-

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chen Schwerpunkt auf den Übergang zur Nacht. Die Gedichte, die sie im Lauf des Interviews erwähnt, haben größtenteils als thematischen Rahmen den Abend oder die Nacht. Sie ist auch diejenige, die von ihrem abendlichen Ritual des Aufschreibens von Gedichten erzählt und die auch explizit diesen zeitlichen Rahmen als fiir sie besonders stimmig für die Beschäftigung mit Gedichten bezeichnet. In diesen von den Erzählern als eher kritische Lebensphasen beschriebenen Zeiten weisen sie Gedichten folgende Funktionen zu: Gedicht als Wirkstoff/Enthebung/Zäsur Einige Erzähler weisen Gedichten - wie bereits an einigen Belegstellen illustrie11 wurde (siehe z.B. Beleg 29: "Wolkenfeger", Beleg 31: "Wenn ich mir des so vorsag, dann ... ") - die Potenz zu, die eigene Stimmung zum Positiven verändern zu können. Die Beschäftigung mit Gedichten bringt in den Erzählungen eine Enthebung aus möglichen problematischen Situationen mit sich oder lässt die Lesenden eine andere Welt oder eine virtuelle Gemeinschaft erfahren (siehe 2.4. Bezugsgruppenwechsel). Das Lesen der Gedichte wird außerdem als eine Zäsur oder Wendepunkt in der belastenden Zeit beschrieben. Gedicht als Stütze/Halt/ Begleiter I Deutungsmuster Einzelne Erzähler konstruieren Gedichte sprachlich-metaphorisch als ein Gegenüber, das sie in kritischen Zeiten stützt, sie begleitet und ihnen im eigenen Leben Orientierung zu geben vermag. Ein Gedicht kann als ein greifbares Symbol verwendet werden ftir eine bestimmte Erfahrung, einen angestrebten Stimmungszustand oder eine innerliche Ausrichtung. Beispielsweise erzählt Frau B., wie sie sich in Phasen von Liebeskummer an einer hoffnungsvollen Lebensweisheit "festhält" (S. 11 [2]), sich an lyrische Liedtexte "klammert" (S. 6 [4]) oder Gedichte sie "begleiten" (S. 6 [41]). Gedicht als Anregung Eine Erzählerirr schreibt der Auseinandersetzung mit Gedichten eine besondere Bedeutung für Zeiten zu, in denen sie stagniert oder eine Anregung sucht. Sie versteht das Lesen von Gedichten als Inspiration und Herausforderung, Neues zu erfahren. Gedicht-Aufsagen als Überbrückung Ein Erzähler (Herr L.) schildert das Aufsagen von Gedichten als Strategie, sich selbst bei anregungsarmer Arbeit oder andere z.B . beim Wandern zu motivieren und zu unterhalten.

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Beschäftigung mit Gedichten als Gestaltung von Übergängen Ein Erzähler (Herr K.) beschreibt die Zugfahrten von und zu dem von ihm getrennt lebenden Sohn als wichtige Übergangszeiten, in denen er Gedichte ftlr seinen Sohn auswendig lernte. Auch das erwähnte abendliche Aufschreiben von Gedichten von Frau I. ist als eine Gestaltung von einem Übergang zu sehen. Gedichtschreiben als aktuelle oder rückblickende Verarbeitung In ähnlicher Weise lässt sich das häufig erwähnte Schreiben von Gedichten verstehen, das als Verarbeitung und Bewältigung von belastenden Erfahrungen konstruiert wird (Beleg 28: "Gehörsturz"). Das Schreiben stellen die Erzähler als Rahmen ftlr den eigenen Selbstverhandlungsprozess dar. Auch in gewisser zeitlicher Distanz zu einer belastenden Phase kann das Schreiben eines Gedichtes als rückblickende Verarbeitung verstanden werden, so wie Frau A. das Schreiben über die eigene Jugendzeit deutete (Beleg 27: "Durchgelebt").

(3) Gedichte als Medium der Aneignung biografischer Erfahrungen An dieser Stelle soll an einem Einzelfall dargestellt werden, wie eine Interviewpartnerin in der Aneignung eines Gedichtes gleichzeitig die Aneignung und Neudeutung eigener schmerzlicher biografischer Erfahrungen vollzieht. Diese folgende Darstellung zeigt den individuellen Aneignungsprozess einer Intervierwpartnerin beim Sprechen über das Jimenez-Gedicht in der zweiten Phase des Interviews. Im Gegensatz zu den weitgehend erzählten Aneignungsprozessen dieses Abschnittes handelt es sich hier also um einen aktuell vollzogenen Prozess im Interview. Die Analyse dieses Prozesses kann im Besonderen Aufschluss geben über die komplexe Rolle von Gedichten im Prozess der Selbstverhandlung. 16 Der Umgang mit Gedichten findet nicht "nur" in biografischen Kontexten statt, die in einer biografischen Erzählung präsentiert werden können. Wie bereits gezeigt wurde, können im Lesen eines Gedichtes und im Sprechen über ein Gedicht zudem biografische Erfahrungen aktualisiert und erlebt werden, umgedeutet, verbalisiert und sich neu angeeignet werden. Dies wird im Interview mit Frau A. sehr anschaulich. Im Interview mit dieser Erzählerin liegt die Besonderheit vor, dass diese Erzählerin als einzige Interviewpartnerin das Gedicht "Abschied" bereits vor dem Interview kannte. Darüber hinaus sind für die Erzählerin mit diesem 16 Aus diesem Grund steht diese Passage auch in diesem Abschnitt und nicht in Kapitel 3, in dem es eigentlich schwerpunktmäßig um das Sprechen über Gedichte in der aktuellen Gesprächssituation geht. 215

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Gedicht wichtige biografische Erfahrungen verknüpft: Sie hatte das Gedicht in der Begegnung mit einem "Herzensfreund" kennen gelernt. Dabei hatte das Gedicht fiir sie gleichzeitig die Beziehung zu diesem Freund thematisiert und widergespiegelt. Die Erfahrungen, die sie im Gedicht widergespiegelt sieht, waren also lebensgeschichtlich bereits mit dem Gedicht verknüpft. Das Gedicht selbst war in der damaligen Situation ein reales Bindeglied zu der Person, mit der sie diese Erfahrungen verbindet. Das Gedicht hat die Beziehungsqualität zu dieser Person selbst zur Sprache gebracht. 17 Im Interview signalisiert Frau A. direkt beim Hören des Gedichtes ein Wiedererkennen. Sie zeigt sich tief berührt, ringt um Fassung und erwälmt, dass dieses Gedicht in ilu·er Biografie bereits eine Rolle gespielt habe. Sie schildert die Empfindung, dass der Autor in diesem Gedicht eine Erfahrung zur Sprache bringe, die für sie nicht nur eine hohe Relevanz besitze, sondern ihr eigenes Erleben so zum Ausdruck bringe, wie es ihr selbst noch gar nicht bewusst sei (vgl. Beleg 21: "Er sagt jetzt genau, was ich fühle"). An dieser Stelle erwähnt die Erzählerin den Eindruck, dass sie einerseits die Distanz zu ihrem damaligen Lebensgefuhl wahrnehme und andererseits die Gefühle der damaligen Situation sie durch das Gedicht sehr schnell wieder ergreiten würden. Zunächst versucht Frau A. in abstrakter Weise ihr Verständnis des Themas des Gedichtes zu formulieren und stellt dann die Frage, ob sie etwas über die damalige Situation erzählen solle. Nachdem die lnterviewerin ihr Interesse hierfur bekundet hat, folgt eine ausfuhrliehe biografische Erzählung. Frau A. erzählt die erste Begegnung mit dem Freund und wie sich im Laufe der Zeit eine Freundschaft entwickelt hat, in dem die gemeinsame Liebe zu Gedichten im Mittelpunkt stand. Hier führt die Erzählerin das Jimenezgedicht ein und erzählt, dass dieses eines der Gedichte gewesen sei, das sie damals "geteilt" hätten und in dem sie ihre Begegnung widergespiegelt sahen. Die Erzählerin schildert, wie aufgrund ihrer jeweiligen Lebenssituation die Begegnungen schon von Beginn an auch durch Verzicht und Begrenzung bestimmt gewesen seien und schließlich von Seiten des Freundes beende! wurden (siehe auch Beleg 42: "Wegschickende Hände"). Auch hier deutet die Erzählerin ihre damalige schmerzliche Abschiedserfahrung mit den Worten und Bildern des Gedichtes. Nach diesem ausführlichen Einschub, in dem die Erzählerin die damalige Bedeutung des Gedichtes abgearbeitet hat, kehrt sie erneut - nun aus ihrem aktuellen Erleben heraus - zu dem Gedicht zurück. Es folgt eine neue Phase der Auseinandersetzung mit dem Gedicht. Den Auslöser für diese Phase bildet für die Erzählerin der mittlere Vers des Gedichtes. ln ihm liest Frau A. die Endgültigkeit des Abschieds und schildert, dass sie damals die Endgültigkeit nicht habe wahrhaben wollen. ln dem Gedicht liest sie nun einen schmerzlichen, endgültigen Abschied, der zwar so von ihr nicht gewollt sei, im Gedicht jedoch in einer Weise 17 Die Auseinandersetzung dieser Erzählerirr mit dem Gedicht ist ein hochkomplexer Prozess und würde alleine als Basis für eine Rezeptionsstudie genügen. 216

TEIL 111 - EMPIRIE

zwar so von ihr nicht gewollt sei, im Gedicht jedoch in einer Weise formuliert sei, dass er nicht ausschließlich als Schmerz erscheine. Die Erzählerio findet im Gedicht ein Erleben verbalisiert, in dem Schmerz und Einwilligung ausbalanciert seien und das sie nun von diesem Gedicht lernen wolle. Wieder und wieder wendet sie sich dem mittleren Vers zu und betrachtet nun auch die Konstruktion dieses Verses, um sich darüber der Erfahrung anzunähern. Diese Erzählerio bringt sich selbst in diesem Interviewteil hinsichtlich des Gedichtes in unterschiedlichen Stadien zur Sprache. Sie spricht über sich selbst als Leserirr in der biografischen Situation, retrospektiv von ihren Gedanken und Gefühlen beim ersten Hören im Interview und später über ihr aktuelles Erleben und Verstehen des Gedichtes. Darüber hinaus spricht sie von sich als Leserirr in den zukünftigen Wochen und stellt eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Gedicht bzw. in Aussicht. Aus der Rekonstruktion des erzählten Verstehens- und Interpretationsprozesses dieser Erzählerirr wird deutlich, dass sie nicht lediglich eine einmal gespeicherte Bedeutung des Gedichtes mit sich herumträgt und diese reproduziert. Vielmehr erschließt sich die Erzählerio zusätzlich aus heutiger Perspektive in verschiedenen Phasen das Gedicht noch einmal neu aufgrund ihres biografischen Gewordenseins. Im Sprechen über das Gedicht bearbeitet die Erzählerirr ihre eigenen Erfahrungen und betreibt in der Aneignung des Gedichtes die erneute Aneignung eines Bereiches ihrer Biografie. Darüber hinaus bezieht sie das Gedicht als "Anleitung" für noch zu machende Erkenntnisse mit ein. 18

(4) Selbstverhandlung durch Gedichte in biografischer Perspektive In dieser Darstellung der Auseinandersetzung von Frau A. mit dem Jimenez-Gedicht wurde die Verwobenheil eines Gedichtes mit den biografischen Erfahrungen und der Deutung und Bewältigung dieser Erfahrungen aufgezeigt, wie es aus dem Sprechen über ein Gedicht zu rekonstruieren ist. An dieser Stelle sollen kurz weitere Dimensionen aufgezeigt werden, wie die Interviewpartnerinnen aus aktueller Perspektive im biografischen Erzählen Bezug nehmen auf Gedichte und ihnen damit eine bestimmte Bedeutung in der Selbstverhandlung zukommt.

18 Hinsichtlich der Konzeption dieser Studie kann diese Falldarstellung als Beleg dafür gesehen werden, dass die Betrachtung der biografischen Dimension im Kontext der Rezeptionsforschung ein wichtiger und sinnhafter Aspekt ist. 217

VOM NUTZEN DER POESIE

Gedichte als Speicher (für Erfahrungen und Können). Im biografischen Erzählen beziehen sich die Interviewpartner häufig auf Gedichte im Sinne eines Speichers. Analog zu einem Fotoalbum, das eigene Erfahrungen in einer bestimmten Weise fixiert und über die Zeit bewahrt, konstruieren die Erzähler Gedichte als ein greifbares Symbol für die eigene Entwicklung oder eine bestimmte Erfahrung. Dies gilt sowohl für rezipierte Gedichte, die als Kondensat einer eigenen Erfahrung betrachtet werden können, als auch ftir selbst geschriebene Gedichte, die über Erfahrungen hinaus auch das eigene Können repräsentieren. Diese Perspektive, Gedichte als Speicher zu sehen, konstruiert z.B. Herr J., wenn er von seiner ganzen Sammlung selbst geschriebener Gedichte spricht. Diese Sammlung stellt für ihn einen Speicher seiner Erfahrung und seiner Entwicklung dar. Gedichte als Transportmittel in die Vergangenheit. In der Vergangenheit relevante Gedichte werden auch als ein Mittel beschrieben, das einen in diese Zeit zurücktransportieren kann. Herr G. erzählt eine Episode, in der er selbst geschriebene Gedichte aus der Pubertät aus einer Kiste hervorholte. Er beschreibt dieses Erlebnis als eine Zeitreise. Dem eigenen Geschriebenen schreibt der Erzähler die Potenz zu, ihn in die Stimmung der Vergangenheit zu versetzen. Hierbei zeigt sich der Erzähler erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der die Gedichte ihn in das damalige Erleben zurückversetzen können. Gedichte als Vergegenwärtigung eigener Erfahrungen. Aktuell im Interview zeigen einige Interviewpartner im Umgang mit dem Gedicht von Jimenez die Potenz von Gedichten, biografische Erfahrungen zu vergegenwärtigen. So fühlt sich z.B. Herr J. durch das Gedicht an eine Situation erinnert, in der eine Freundin von ihm gestorben ist. Er spricht über seine heutigen Gefühle und Gedanken zu diesem Ereignis. In Frau A. ruft das Gedicht nicht nur thematisch aktuell Gefühle wach, sondern darüber hinaus Erinnerungen an die Erstlesesituation des Gedichtes zehn Jahre zuvor (siehe (3)). Hierbei konstruiert sie jedoch nicht das Bild einer Zeitreise, bei der sie vorwiegend damalige Geftihle wieder erlebt, sondern stellt ihren aktuellen Bezug zu den biografischen Erfahrungen in den Vordergrund. Gedichte als Spiegel für die Vergangenheit. Darüber hinaus konstruieren Erzählerinnen Gedichte als einen Spiegel, an dem sie sich selbst und eine eigene vergangene Situation ablesen können. So erzählt Frau A. zum Beispiel von einem Lieblingsgedicht zu Kindheitszeiten und interpretiert die Schwere und Hoffnungslosigkeit des

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Gedichtes als Zeichen dafür, wie hart die Armut und Schwere der damaligen Zeit gewesen sei. Die relevanten Gedichte der Vergangenheit können in diesem Sinne als ein Panorama des eigenen Lebens verstanden werden, die Auskunft geben über das, was zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens wichtig gewesen ist.

Gedichte als Medium der Abgrenzung von der eigenen Person in der Vergangenheitlais Medium, um die eigene Entwicklung zu veranschaulichen. Im biografischen Erzählen nehmen einige Interviewpartner Bezug auf relevante Gedichte der eigenen Vergangenheit und grenzen sich aus heutiger Perspektive vom damaligen Geschmack, Verhalten, Können oder einer damaligen Lesart eines Gedichtes ab. Auf diese Weise nutzen die Interviewpartner aktuell im Erzählen die Beschreibung damals relevanter Gedichte, um ihre persönliche Entwicklung zu veranschaulichen. Beispielsweise grenzt sich Herr F. von seiner eigenen damaligen Begeisterung über Gedichte ab und positioniert sich aktuell auf diese Weise als jemand, der heute reifer und erfahrener ist. Ebenso distanziert sich Frau C. beim Sprechen über ihr damaliges Lesen von Gedichten von Pablo Neruda und Erich Fried alleine schon durch die Intonation der Namen von ihrem damaligen Gedichtgeschmack bzw. möglicherweise von einem damaligen Zeitgeschmack (sie spricht die Namen gedehnt aus und zeigt durch die Art der Intonation, dass ftir sie mit den Namen eine ganze Lebensauffassung und Stimmung einer Phase verbunden ist (die sich als leidenschaftlich, romantisch, engagiert deuten lässt). Herr E. wiederum zeigt in einer Episode im gespielten Entsetzen über die eigene Autorenschaft von Gedichten aus der Jugend, dass er heute ein anderes Niveau im Schreibstil für sich in Anspruch nimmt. Frau A. nutzt in der Auseinandersetzung mit dem Gedicht von Jimenez dieses Gedicht als Spiegel für die Vergangenheit, indem sie an ihm ihr damaliges Erleben einer Situation abliest. Darüber hinaus erkennt sie an ihrer heutigen veränderten Lesart des gleichen Gedichtes die eigene Entwicklung. Die Erzä.hlerinnen erkennen, belegen und veranschaulichen über die Gedichte ihre eigene Entwicklung, indem sie zeigen, wie sich der eigene Bezug zu demselben Gedicht im Laufe der Zeit verändert hat. Gedichte als Kompass für die Zukunft! als Zukunftsvisionen. Die Erzähler ziehen außerdem eine Verbindung zwischen einem Gedicht und sich selbst in der Zukunft. Herr J. und Herr G. konstruieren beispielsweise Zukunftsvisionen. So entwirft Herr J. das Bild der eigenen Entwicklung, indem er antizipiert, im Laufe der Zeit reifer und erfahrener zu werden und dadurch die Qualität des eigenen Schreibens zu

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verbessern. Er nennt auch das Veröffentlichen seiner Gedichte eine Zukunftsvision. Herr G. wiederum erwähnt eine mögliche zukünftige Beschäftigung mit Kindergedichten als ein Zukunftsprojekt fiir den Fall, bald eigene Kinder zu haben. Frau A. stellt im Umgang mit dem Jimenez Gedicht die Vermutung an, dass eine Zeile sie in der nächsten Zeit wahrscheinlich beschäftigen werde. Sie misst dieser Zeile die Bedeutung zu, ihre eigenen Gefühle zu ordnen. Dieses, wie auch andere Gedichte im Laufe des Interviews, konstruiert sie als ein Deutungsmuster, in das sie durch eine intensive Beschäftigung emotional hineinwachsen will. In einem solchen Zusammenhang bezeichnet sie ein Gedicht auch als "zukunftsweisend". Herr H. nennt die Gedichte von Hölderlin ein Zukunftsprojekt. Mit der Formulierung "der Hölderlin wartet immer noch auf mich" (S.5 [41]) antizipiert und skizzie11 der Erzähler seine eigene Entwicklung. Für den Erzähler stehen die Hölderlingedichte symbolisch ftir eine Zukunftsvision seines eigenen, dann vertieften Begreifens der bereits jetzt bewunderten Gedichte. In den unter (2) beschriebenen kritischen Lebensphasen und Übergangssituationen messen die Erzählerinnen den Gedichten ftir die eigene Entwicklung eine Bedeutung bei. Hierbei ist sowohl die klar umschriebene, fixierbare Gestalt oder Form als auch die mögliche Materialität des Mediums eine notwendige Voraussetzung. Beides ist auch eine Voraussetzung ftir die unterschiedlichen Weisen der Interviewpartner, aus aktueller Perspektive im biografischen Erzählen auf Gedichte Bezug zu nehmen.

2.4.4 Sozialer Horizont in der persönlichen Auseinandersetzung mit Gedichten In diesem Abschnitt werden die in den vorherigen Abschnitten erwähnten Wandlungs- und Veränderungsprozesse und die Frage, in welcher Weise Gedichte als ein Gegenüber konstruiert werden, im Hinblick auf die in ihnen relevante soziale Dimension reflektiert. Hier soll der soziale Rahmen aufgezeigt werden, in den diese Prozesse eingebettet sind. Außerdem soll die immanent soziale Dimension der persönlichen Auseinandersetzung mit Gedichten dargestellt werden, wie sie in den erzählten Situationen aufscheint. Zunächst werden die unter 2.1 dargestellten Kommunikationssituationen (Gedichte im Kontext persönlicher Beziehungen) unter dem Aspekt der Darstellung eines Gedichtes als Handlungsträger noch einmal betrachtet (1). In einem nächsten Schritt wird ausgeführt, dass die in diesem Abschnitt dargestellte Selbstverhandlung mittels Gedichten immer in ihrem jeweiligen sozialen Rahmen zu sehen ist (2). Schließlich wird eine

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"soziale Tiefendimension" von Gedichten anhand eines erweiterten Positionierungsschemas rekonstruiert (3). (1) Gedichte als Wirkfaktor im sozialen Raum Nachdem gezeigt wurde, dass Interviewpartnerinnen Gedichte im Kontext der Selbstverhandlung und im Kontext von persönlichen Bewältigungsgeschichten sprachlich-metaphorisch als Gegenüber konstruieren, soll an dieser Stelle kurz betrachtet werden, ob dieses Phänomen auch in den erwähnten Erzählungen der vorangegangenen Kapitel zu finden ist. Dies ist nicht der Fall: In den Interviews finden sich zwar Stellen, an denen Gedichten eine große Wirkmacht zugeschrieben wird, die eine andere Person oder eine ganze Gruppe berühren oder verzaubern können. Hier werden jedoch sprachlich die einzelnen Beteiligten als Handelnde konstruiert, die dann mittels eines Gedichtes oder durch ein Gedicht berühren. Als Beispiel soll auf die Belegstelle 4: "Mit meinem Onkel" noch einmal Bezug genommen werden. Hier spricht die Erzählerin davon, sich mit ihrem Onkel gegenseitig Gedichte aufgesagt zu haben: "haben uns gegenseitig so in diese Stimmungen haben eintauchen lassen" (Zeile 89). Gedichte sind hier ein Mittel, eine Beziehung zu gestalten. Sie werden als etwas beschrieben, das - auch durch die ihnen innewohnende magische Macht - einen gemeinsamen Erfahrungsraum zu eröffnen vermag. In den Erzählungen werden hier jedoch stets die anwendenden (rezitierenden) Protagonisten als Handlungsträger konstruiert. Auf diese Weise wird in den Interviews dieser Studie eher die gemeinsame Aktivität, Gedichte als geschenktes Objekt, das gemeinsame Verzaubertsein durch Gedichte oder eine Auseinandersetzung über Gedichte erzählt. Auf ein Gedicht wird gemeinsam Bezug genommen. Sprachlich werden Gedichte jedoch hier nicht als handelndes Gegenüber konstruiert, sondern nur als ein hochpotentes Mittel, das eine der beteiligten Personen zur Sprache oder zu Gehör bringt. (2) Einbettung des eigenen Umgangs mit Gedichten im sozialen Kontext Die in 2.4.2 beschriebenen Wandlungs- und Veränderungsprozesse stehen immer in einem ganz bestimmten sozialen Kontext und lassen sich nur vor diesem Horizont verstehen. Dies soll kurz an einigen Beispielen illustriert werden. Die Erzähler erwähnen oft bei Gedichten, die für sie wichtig geworden sind, eine Quelle: Das Gedicht wurde im schulischen oder Ausbildungskontext behandelt (siehe Beleg 25: ,,Hupsla"), war ein Geschenk oder wurde gemeinsam mit jemand anderem gelesen. Außerdem konstruieren die Erzähler persönlich relevante Gedichte als etwas, das mit anderen Personen emotional oder biografisch verwoben ist: Das

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Gedicht wird als gemeinsamer Schatz vorgestellt, als gemeinsames Deutungsmuster oder als ein umstrittenes Objekt. Auch Passagen, in denen die Erzähler den Fokus sehr stark auf die persönliche Erlebensebene legen, sind letztlich vor dem sozialen Horizont konstruiert: Die immense Bedeutung, die Frau A. dem Lesen in der Kindheit beimisst, deutet sie gleichzeitig als ein Refugium in einem Umfeld, das ihr keine geistige Anregung bot. Oder das Tagebuchschreiben in der Pubertät, das Herr F. als persönliche Selbstverhandlung beschreibt, konstruiert dieser Erzähler als persönlichen Freiraum, in denen die sozialen Normen nicht galten, die ihm beim Schreiben von Texten für seine damalige Band auferlegt waren. Wie aus diesen kurzen Beispielen deutlich werden sollte, ist die Selbstverhandlung im Umgang mit Gedichten in den Erzählungen immer in einen sozialen Horizont eingebettet. Im Folgenden (3) wird gezeigt, wie die soziale Dimension den Prozess der Selbstverhandlung sogar durchdringt: Im Gedicht als Gegenüber werden z.T. andere Personen zum Gegenüber, mit denen man sich in den Worten des Gedichtes auseinandersetzt oder in einen inneren Dialog tritt. (3) Sozialer Horizont als Tiefendimension des Gedichtes Die soziale Einbettung der Selbstverhandlung im Umgang mit dem Medium Gedicht soll abschließend um einen Schritt weiter vertieft werden. Anhand eines weiteren Positionierungsschemas soll gezeigt werden, wie ein sozialer Horizont als Tiefendimension eines Gedichtes in den Darstellungen der Interviewpartner aufscheint. Möglicherweise erscheint die folgende Darstellung etwas diffus und schwer zu greifen. Dies würde der Beobachtung bei der Analyse des Phänomens entsprechen. Der Eindruck des Diffusen und schwer zu Greifenden entspricht möglicherweise einem Aspekt des Gegenstandsbereiches. Unter 3.2 wird in einer vertiefenden Analyse einiger sprachlichkommunikativen Aspekte das Schillernde und schwer Fassbare der Kommunikation über das Jimenezgedicht rekonstruiert. An dieser Stelle soll das Phänomen einer sozialen Tiefendimension an einigen Beispielen veranschaulicht werden, es bleibt aber letztlich ein Bereich, der in zukünftiger Forschung weiter erarbeitet werden sollte. ln der bisherigen Darstellung in diesem Unterkapitel wurde gezeigt, wie die Interviewpartner ein Gedicht sprachlich-metaphorisch als ein Gegenüber konstruieren und ihm eine eigene Handlungsinitiative zuschreiben ("es berührt mich", "es verfolgt mich" etc.). Es wurde herausgearbeitet, wie die Interviewpartner in zahlreichen Wandlungs- und Bewältigungserzählungen ein Gedicht als eine Wirkmacht und z.B. als eine Begleitung oder Stütze konstruieren. Es soll an dieser Stelle nun gezeigt

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werden, dass in diesen dargestellten Situationen die Interviewpartner über das Gedicht zu anderen Personen oder Handlungsträgern in Auseinandersetzung treten bzw. das Gedicht als eine Aussage von jemand anderem konstruieren. Folgende Fragen können diese soziale Tiefendimension im Umgang mit einem Gedicht veranschaulichen: Als wessen Worte betrachten die Interviewpartner die Worte des Gedichtes? Wem legen sie das Gedicht in den Mund? Wen konstruieren die Erzähler als Urheber oder als Sprecher dieser Worte? Was sagen die Erzähler darüber, wessen Handlungen oder Aussagen die Worte des Gedichtes beschreiben? Zu wem werden diese Worte gesprochen? D.h. mit wem treten die Interviewpartner in Kontakt, mit wem setzen sie sich in der Aneignung des Gedichtes auseinander') Diese Fragen können auf das Gesamtgedicht bezogen werden, jedoch auch auf einzelne Verse oder Worte. Zwei Phänomene, die im folgenden Kapitel ausgeflihrt werden, können die Tiefendimension verdeutlichen. Daher soll hier bereits auf sie vorausgegriffen werden: ln der Analyse der jeweiligen Bilderwelten der Interviewpmtnerinnen zu dem Gedicht "Abschied" von Jimenez wird ersichtlich, dass jede Interviewpartnerin ziemlich klare Bilder davon entworfen hat, wer Abschied nimmt, wem sie die im Gedicht thematisierten Hände zuschreibt etc. (siehe 3 .2.1 ). In dieser Analyse wird ersichtlich, dass jede Leserirr eigene Protagonisten entwirft: Die eine sieht sich selbst in einer früheren Beziehung zu einem Freund und setzt sich mit den eigenen damaligen Gefühlen auseinander, ein anderer spricht vom Abschied vom Elternhaus, von dem er selbst Abschied nimmt und eine dritte hat ein Liebespaar aus dem 18. oder 19. Jahrhundert vor Augen und versetzt sich in die Rolle der verabschiedeten Frau. In der Analyse wird deutlich, dass die Erzählerinnen selten eine einzige Lesart entwickeln. Zumeist entwerfen sie unterschiedliche Bilderwelten mit je unterschiedlichen Protagonisten als Gegenüber. In der Auseinandersetzung mit dem Gedicht setzen sich die Interviewpartnerinnen zum Erleben und Handeln dieser z.T. realen z.T. fiktiven Protagonisten in Beziehung, identifizieren sich mit ihnen bzw. grenzen sich von ihnen ab und reflektieren eigene Beziehungs- und Abschiedserfahrungen. Da die Interviewpartnerinnen ihre jeweiligen Lesarten im Laufe des Sprechens über das Gedicht spezifizieren oder modifizieren, häufig auch unterschiedliche Lesarten ineinander verweben, werden die jeweiligen Protagonisten, mit denen sie sich auseinandersetzen, häufig erst auf Nachfrage für die Zuhörerirr erkennbar. Außerdem kann im Vorgriff auf die Analyse der Rezitierpassagen (3.3) an dieser Stelle gesagt werden, dass die Interviewpartnerinnen beim Rezitieren eines Gedichtes unterschiedlichen Personen oder Typen die

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Worte des Gedichtes in den Mund legen. Es findet sich hier eine Unterscheidung zwischen dem Dichter, als dem Urheber des Gedichtes und demjenigen, den sie darüber hinaus mit den Worten des Gedichtes in Verbindung bringen, der dieses Gedicht beispielsweise zu ihnen spricht. Auch hier ist es nur bei einzelnen Interviewpartnern möglich, aufgrund der sprachlichen und prosodischen Rahmung genau zu erkennen, wem die Interviewpartnerinnen die Worte des Gedichtes in den Mund legen. Wie auch im Folgenden an Beispielen veranschaulicht wird, sind für die Interviewpartnerinnen mit einem Gedicht andere Personen, andere Instanzen und Gegenüber verknüpft: Sie hören aus den Worten des Gedichtes diese Gegenüber sprechen, bzw. lesen etwas über sich und andere Personen heraus, indem sie das Gedicht als angemessene Beschreibung des eigenen Bezuges zu dieser Person darstellen. Dieses Phänomen soll hier als soziale Tiefendimension eines Gedichtes bezeichnet werden und ist im erweiterten Positionierungsschema (Abbildung 7) dargestellt.

Narrative Darstellung des erzihlenden Ich

Erzähltes Ich

Autor, Interaktanten, Wah res/Vet·gange nes Selbst,

Persönlichkeitsanteil, Höhere W ahrheit, Weisheit etc.

Abbildung 7: Positionierungsschema ••Tiefendimension" (in Enveiterung des Schemas von Lucius-Hoene & Deppermann (2002))

Folgende vier soziale Gegenüber beschreiben die Interviewpmtner:

Der Dichter im Gedicht Zunächst ist die Person des Dichters zu nennen, zu der die Interviewpartner durch ein Gedicht in Kontakt treten. Sie konstruieren die Worte des Gedichtes als Aussage und Mitteilung des Autors, die sie persönlich 224

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betrifft (wobei sie den Autor in der unter 2.3.1 ausgeführten Weise mal als biografische Person, mal als Seelenverwandten etc. darstellen). Aus den Worten des Gedichtes selbst lesen sie etwas über die persönlichen Erfahrungen und die Weltsicht dieses Menschen ab und setzen sich hierzu in Verbindung. Andere Personen im Gedicht Darüber hinaus sind Gedichte ftir die Interviewpartner mit anderen Personen verknüpft. Die Interviewpartner machen im Sprechen deutlich, dass sie ein Gedicht auf andere bezogen erleben. Diese Bezogenheit ist in den Interviews in folgenden Varianten zu finden: Ein Gedicht steht flir die Erzähler thematisch in einem Zusammenhang mit einer anderen Person. Die Worte eines Gedichtes können als Ausdruck einer bestimmten Beziehungserfahrung gelesen werden, die Worte des Dichters können als angemessene Beschreibung der eigenen Gefühle einer anderen Person gegenüber wahrgenommen werden oder als Beschreibung der Handlung eines anderen. In der Aneignung eines Gedichtes findet auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit dieser anderen Person und der eigenen Position statt. Außerdem beschreiben Interviewpartnerinnen, dass ein Gedicht aufgrund einer bestimmten Rezeptionssituation (noch vor dem Inhalt!) mit einer anderen Person verknüpft sind. So fällt Frau C. während des Interviews im Rezitieren eines Gedichtes auf, wie sich die Stimme ihres damaligen Schauspiellehrers beim Rezitieren dieses Gedichtes sozusagen in ihr eigenes Rezitieren eingeschrieben habe. Sie kommentiert, dass sie das Gedicht gar nicht mehr ohne diese damaligen Betonungen ihres Lehrers sagen und hören könne. Schließlich finden sich in den Interviews Passagen, in denen die Interviewpartner die Worte eines Gedichtes als Aussage einer anderen Person deuten; z.B. wird ein geschenktes Gedicht als Äußerung des Schenkenden betrachtet, der sich die Worte des Dichters leiht, um selbst etwas auszusagen. Am Gedicht lassen sich die Gefühle des Schenkenden mehr oder weniger eindeutig! -ablesen. Die Kommunikation mit dieser Person erstreckt sich also in den Bereich der Worte des Gedichtes hinein. Es finden sich jedoch auch Beispiele, in denen die Interviewpartner ein Gedicht als Aussage einer anderen Person deuten, selbst wenn diese Person mit dem Gedicht selbst gar nichts zu tun hat. Ein Gedicht kann so als Aussage über die Essenz des eigenen Verhältnisses zu einer anderen Person gedeutet werden. Im Gedicht selbst sehen die Erzähler eine Beziehung verhandelt. Das Gedicht wird häufig als ein sprachliches Symbol für eine bestimmte Beziehungserfahrung mit einer anderen Person gedeutet. In der Auseinandersetzung und Beschäftigung mit einem Gedicht

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reflektieren, spüren und verhandeln die Interviewpartner ihre Beziehungserfahrungen, bzw. lesen aus einem Gedicht die Beziehung ab. Wie bereits in 2.4.2 dargestellt wurde, beinhaltet die Neudeutung oder Erkenntnis, die die Erzähler mit der Beschäftigung mit einem Gedicht verbinden, häufig eine Neudefinition von Beziehungen. Zudem reflektieren die Erzähler in den selbstgeschriebenen Gedichten beispielsweise die persönliche Haltung zu anderen Personen und die eigene soziale Rolle (wie zum Beispiel in dem Gedicht, das Herr E. anlässtich seines Hörsturzes schreibt, Beleg 28: "Gehörsturz" , oder das selbstgeschriebene Gedicht, dessen Bedeutung Frau I. im Beleg 26: "Die mich wochenlang verfolgt haben" beschreibt). Man selbst im Gedicht Weiterhin beschreiben Erzählerinnen, wie sie im Umgang mit einem Gedicht sich selbst zum Gegenüber werden. Ein Aspekt dieses Phänomens wurde beispielsweise in der Darstellung der Bedeutung von Gedichten zur Lebensbewältigung deutlich (siehe auch 2.4.3): An einem Gedicht (einem zu früheren Zeiten gelesenen oder selbst geschriebenem) lesen die Erzählerinnen die eigenen Gefühle und Erfahrungen in einer früheren Lebensphase ab (Gedicht als Speicher, Gedicht als Transportmittel etc.). Die Worte des Gedichtes werden als treffende Äußerung oder Beschreibung der Perspektive des vergangenen Selbst gedeutet, zu dem sie sich aktuell neu positionieren. Am Beispiel "Gehörsturz" (Beleg 28) wird eine weitere Deutung gegeben, inwiefern man über ein Gedicht vermittelt sich selbst zum Gegenüber werden kann: Der Erzähler konstruiert das Gedicht als Versöhnung mit sich selbst. Dieser Erzähler verwendet häufig das Bild, in seinen Gedichten würden unbewusste oder unbekannte Seiten der eigenen Person einen Ausdruck finden. Auch Frau A. deutet die Bedeutsamkeit einiger Gedichte für sie als eine Resonanz unbewusster Gefühle, die im Gedicht ihren Ausdruck gefunden haben. Hier tritt Frau A. über die Gedichte mit ftir sie bislang unbekannten Seiten ihrer selbst in Kontakt. Die Gedichte werden in diesen Passagen zum Sprachrohr für das eigene Unbewusste, für Gefühle, Gedanken oder Regungen. Sie werden auch als Ausdruck einer inneren Stimme oder einer inneren Weisheit konstruiert. Einige Erzähler konstruieren so die Möglichkeit, dass Fremdes, Hässliches, Bedrohliches - analytisch ausgedrückt, von Abspaltung bedrohte oder bislang unbewusste Ich-Anteile - in den Gedichten zur Sprache kommen kann. Lesen oder Schreiben von Gedichten bedeutet in dieser Auffassung eine Selbstverhandlung: Kommunikation und Integration dieser Stimmen, dieser Persönlichkeitsanteile.

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Eine höhere Weisheit/Wahrheit im Gedicht ln 2.4.1 wurde bereits erwähnt, dass einige Erzähler den eigenen Gedichtbezug auch in den Kontext des Bezuges zu einer höheren Weisheit, einer Wahrheitsinstanz (religiös, spirituell oder psychologisch verstanden) deuten. Die Aneignung eines Gedichtes stellen Interviewpartner als ein In-Kontakt-Treten, als eine Auseinandersetzung mit einer höheren Weisheit, einer Wahrheitsinstanz dar. Lesen wird in diesem Sinne beispielsweise als eine Begegnung mit inneren Quellen, als eine Brücke zu Wahrheiten gedeutet. Dies wird z.B. besonders im Interview mit Herrn H. deutlich: Die Worte der Gedichte rahmt der Erzähler als von Dichtern zur Sprache gebrachte Weisheit. Der Erzähler stellt wiederholt dar, wie er sich von diesen Wmten und von dieser Weisheit berühren und anregen lässt (vgl. Beleg 20: "Woher ich die Kaschnitz kenne"). Auch im Hinblick auf das eigene Schreiben beschreiben Interviewpartner das eigene Tun als ein In-Kontakt-Kommen mit einer höheren Wahrheit: Herr E. schildert das eigene Schreiben oft als einen Akt, in dem er sich selbst eher passive oder nur rahmende Funktionen zuschreibt. Er spielt mit dem Bild, selbst eher ein Medium zu sein, wenn er mehrfach betont, einzelne Gedichte "heruntergeschrieben" zu haben. An einer Stelle deutet er das eigene Schreiben folgendermaßen: "da hat sich irgendwie so ne labyrinthische Wahrheit so ihren Weg gesucht." Schreiben wird hier als ein Prozess konstruiert, in dem eine Weisheit im wahrsten Sinne des Wortes die Federfiihrung übernimmt. Die Erzähler zeichnen sowohl ftir die eigene Autorenschaft als auch für die der Dichter gelegentlich eine tiefere Weisheit oder Wahrheitsinstanz als verantwortlich. Der eigene Umgang mit einem Gedicht ermöglicht es, mit dieser Weisheit, mit dieser Wahrheit, in Kontakt zu treten, sich mit ihr auseinander zu setzen oder - auch hier: sich von ihr berühren, bewegen, anregen zu lassen. Auch bei diesen unterschiedlichen Tiefendimensionen der Gedichte legen die Erzähler den Fokus mal auf das Objekt, mal auf den Prozess der Auseinandersetzung: Das Gedicht selbst als Symbol ftir eine Weisheit, als Symbol für eine Erfahrung, einen Ich-Anteil, als Symbol für eine Beziehung konstruiert. Häufig wird aber auch der Vollzug des Lesens und Schreibens, der Beschäftigung mit einem Gedicht als Weg oder Methode gedeutet, mit diesen Bereichen in Kontakt zu kommen. Abschließend soll an dem unter 2.4.3 dargestellten Alleignungsprozess des Gedichtes von .J.R. .limenez durch Frau A. diese soziale Tiefendimensionen illustriert werden: Frau A. liest das Gedicht als literarisches Werk eines Produzenten. Zugleich konstruiert sie den Schreiber - oder vielmehr Sprecher (vgl. Beleg 21: "Er sagt jetzt genau, was ich fühle") - als eine Weisheitsinstanz, die aus den Worten des Gedichtes spricht. Sie geht mit dem Gedicht um, als enthalte es eine Botschaft für sie persönlich. Das Gedicht wird bei dieser Erzählerirr zum Ausdruck einer Wahr-

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heit, die sie letztlich gleichzeitig als eine innere Weisheit konstruiert. Das Gedicht gebe dabei eigenen erlebten und verdrängten Gefühlen eine Stimme. Die Wahrheit/Weisheit hat insofern den Charakter der Verheißung, als dass sie als immer einen kleinen Schritt voraus konstruiert wird: In der Auseinandersetzung mit der konkreten sprachlichen Konstruktion geht die Leserirr bei dem Dichter - und der Weisheit - in die Lehre. Im Alleignungsprozess tritt die Erzählerirr zudem in Auseinandersetzung mit sich selbst in der Vergangenheit und positioniert sich aktuell in Anlehnung und Abgrenzung an die eigenen damaligen Gefühle. Schließlich ist mit dem Gedicht auf vielfältigen Ebenen der Freund verbunden, mit dem sie das Gedicht zum ersten Mal gelesen hatte. Die Erzählerin liest die Worte des Gedichtes als gemeinsam in der früheren Rezeptionssituation gelesene Worte (als Geschenk) und als Worte, die das Thema und die Qualität der Beziehung formulieren (als gemeinsames Symbol). Aus dem zeitlichen Abstand in der Interviewsituation betrachtet, wird das Gedicht für die Leserirr zu einem Kaleidoskop, das die heutigen und damaligen eigenen und fremden Gefühle, die gesprochenen Worte, eine Lebensweisheit und einen künftigen Lern- und Verarbeitungsschritt enthüllen kann.

2.4.5 Zusammenfassung ln diesem Unterkapitel wurden Gedichte als ein Medium im Prozess der Selbstverhandlung und Selbsterkenntnis beschrieben. Gedichte werden von den Erzählerinnen an vielen Stellen in den Interviews sprachlichmetaphorisch als ein Gegenüber konstruiert, dem sie eine eigene Handlungsautonomie zuschreiben. So lässt sich in den Darstellungen häufig ein Wechselspiel finden zwischen eigener Handlungsinitiative (z.B. Darstellungen der eigenen Kompetenz, ein Gedicht schreiben, auswendig zu lernen, rezitieren oder interpretieren zu können) und der Handlungsinitiative der Gedichte (z.B. Darstellungen, dass ein Gedicht einen berührt, begleitet, anspricht etc.). Auf diesem Phänomen basieren zahlreiche Wandlungserzählungen in den Interviews: Die Interviewpartnerinnen erzählen, wie das Lesen oder Schreiben eines Gedichtes flir sie einen Veränderungsprozess in Gang gesetzt habe. Folgende Aspekte werden in diesen Wandlungserzählungen wiederkehrend erwähnt: zunächst ein Moment des Erstaunens, des Aufmerkens, der Rührung, das mit einem Geftlhl der Passung und des persönlichen Angesprochenseins einhergeht. ln Darstellungen der Produktion eigener Gedichte wird das eigene Schreiben häufig metaphorisch als ein Ins-Fließen-Kommen, als eine Geburt und als ein Bändigen und Zähmen von Geftihlen beschrieben. Gedichte, einzelne Worte oder Zeilen werden als Behälter oder eine Form beschrieben, die das eigene Erleben fassen, begrenzen und im Benennen verwandeln können. In den Erzählungen bringt das Lesen und Schreiben von Gedichten eine Stimmungsveränderung mit sich, die häufig in den Erzählungen aktuell reins-

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zeniert wird. Die Wandlungsgeschichten schließen häufig mit der Schilderung einer Neudeutung, einer veränderten Perspektive auf das eigene Erleben, die eigene Person oder eine Situation. In diesem Sinne weisen die Erzählerinnen dem Lesen eines Gedichtes bzw. einem Gedicht selbst eine abschließende, entlastende und ordnende Wirkung zu. Gleichzeitig bringt es in einigen Darstellungen eine neue Perspektive, eine neue Zielrichtung, gelegentlich auch eine neu erkannte Aufgabe mit sich. In einem nächsten Schritt wurde die Bedeutung von Gedichten bei der Bewältigung von Lebensereignissen beschrieben. Hierbei spielte es eine Rolle, dass die Erzähler die Wirkweisen von Gedichten als ein persönliches oder allgemeines Wissen konstruieren, das sie methodisch anwenden. So schildern einige das eigene Dichten, Tagebuchschreiben, Auswendiglernen oder Lesen von Gedichten als eine Methode und eine Strategie, mit schwierigen Gefühlen und Situationen besser umgehen zu können. Anhand einiger Aspekte zur Bedeutung von Gedichten in biografischer und zeitlicher Perspektive wurde diese Thematik vertiefend dargestellt: Die Funktionen von Gedichten in Krisen- und Übergangszeiten wurde rekonstruiert. In der Rekonstruktion des Verstehens- und Alleignungsprozesses einer Erzählerirr in der Phase 2 des Interviews konnte gezeigt werden, wie die Erzählerirr nicht nur eine frühere Lesart des Gedichtes reproduziert, sondern sich aktuell in eine Auseinandersetzung mit dem Gedicht begibt und sich dabei einen Bereich ihrer Biografie neu aneignet. Zahlreiche thematische und zeitliche Ebenen ließen sich in der Betrachtung der biografischen Dimension an diesem Einzelfallbeispiel rekonstruieren. Schließlich wurden verschiedene Weisen dargestellt, in denen die Erzählerinnen auf Gedichte im biografischen Erzählen Bezug nehmen und über die Gedichte ihre eigene Person und biografische Erfahrungen thematisieren. Abschließend wurde aufgezeigt, dass Erzählerinnen in vielen Passagen nicht nur das Gedicht als ein Gegenüber positionieren. Vielmehr konnte eine (soziale) Tiefendimension der Gedichte rekonstruiert werden: Aus dem Gedicht lesen die Erzählerinnen etwas über den Autor ab, sie stehen über ein Gedicht in Verbindung mit einer anderen Person, beispielsweise indem das Gedicht ein gemeinsames Symbol darstellt oder Stimmungen aus einer gemeinsam erlebten Situation transportiert. Ein Gedicht wird aber auch als ein Spiegel konstruiert: Es kann Aufschluss geben über vergangenes Erleben, über eine vergangene Zeit; oder es wird als ein Medium konstruiert, über das die Erzähler etwas über sich selbst erfahren und mit Teilen ihrer eigenen Person, mit ihrer eigenen Gefühlswelt in Verbindung treten können. ln einem noch umfassenderen Schritt konstruieren Erzähler ein Gedicht als Ausdruck einer umfassenden Weisheit, als ein Medium, das einen mit inneren Quellen in Verbindung

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bringen kann oder das ein Fenster ist, durch das das eigene Schicksal oder eine göttliche Weisheit sichtbar und erfahrbar wird. All diese Aspekte konstruieren Erzählerinnen als Tiefendimension oder Entfaltungshintergrund eines Gedichtes. In den Darstellungen wird ein Gedicht zum Symbol oder zum Ausdruck dieser Tiefendimensionen oder aber der Prozess der Beschäftigung mit einem Gedicht wird als ein in Verbindung treten mit diesen Dimensionen geschildert. Im Hinblick auf das Öffentlichmachen der eigenen Gedichte (Abschnitt 2.2.4) und auf das Mitteilen rezipierter Gedichte stellt sich nach dem Gesagten die Frage: Was ist eigentlich das Ziel des Weitergehens von Gedichten, die als persönlich relevant erachtet werden, an eine andere Person? Was soll vermittelt werden? In 2.1.1 wurde gezeigt, dass die Erzä.hler häufig durch Gedichte vermittelt die eigene Haltung der anderen Person gegenüber zum Ausdruck bringen möchten oder ihr etwas mitteilen möchten. Dennoch zeigt sich dieses Feld als sehr sehr deutungsoffen: Soll dem Gegenüber die eigene persönliche Erfahrung, Stimmung oder Erkenntnis mitgeteilt werden? Oder soll sogar ihm durch das Zeigen des Gedichtes als auslösendes Gegenüber, diese Erfahrung "im Original" selbst ermöglicht werden? An dieser Stelle bleibt es bei den Fragen. Im folgenden Kapitel, in dem es um die Form und kommunikative Funktionen des Sprechens über Gedichte in der aktuellen Gesprächssituation im Interview geht, werden einige sprachlich-kommunikativen Phänomene rekonstruiert, die an diesen Fragen anknüpfen. Hier wird nicht nur die große Deutungsoffenheit von Gedichten, sondern auch die Deutungsoffenheit im Sprechen über Gedichte im Mittelpunkt stehen.

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3

DIE AKTUELLE GESPRÄCHSSITUATION:

SPRECHEN ÜBER GEDICHTE UND DURCH GEDICHTE Im vorangegangenen Kapitel war es das Ziel, die Vielfalt der Formen und Funktionen des Umgangs mit Gedichten in unterschiedlichen relevanten Kontexten zu rekonstruieren, wie sie die Erzählerinnen in ihren Darstellungen zur Sprache bringen. Dabei wurde immer wieder die Funktion der jeweiligen Darstellungen für die aktuelle Gesprächssituation mitgedacht Es wurde angesprochen, in welcher Weise die Erzählerinnen die Darstellung einer biografischen Begebenheit aktuell im Interview nutzen, um ein bestimmtes Bild von der eigenen Person zu zeichnen und so dem Sprechen über die eigenen Erfahrungen mit Gedichten in der aktuellen Gesprächssituation bestimmte Funktionen zukommen. Dieser Aspekt der aktuellen Selbstpositionierung im Sprechen über Gedichte und besondere sprachlich-kommunikative Phänomene des aktuellen Sprechens über und durch Gedichte stehen in diesem Kapitel im Mittelpunkt. So wurde bereits darauf verwiesen, dass die aktuelle Gesprächssituation den unter 2.1 rekonstruierten Situationen ähnelt (Gedichte im Kontext persönlicher Beziehungen) und insofern weiteren Aufschluss geben kann über die Bedeutung von Gedichten in einer konkreten Kommunikationssituation. Zentrale Perspektive ist es in diesem Kapitel zu rekonstruieren, welche Bedeutung dem Sprechen über Gedichte und über die eigenen Erfahrungen mit Gedichten zukommen kann, so wie es sich in der Gesprächssituation im Interview beobachten lässt. Zunächst geht es um die Frage, wie die Erzählerinnen im Sprechen über Gedichte Aussagen über die eigene Person treffen. Hier wird die Analyse der Positionierungsakte noch einmal aufgegriffen und es werden Dimensionen der aktuellen Selbstpositionierung der Erzähler rekonstruiert. Hierbei werden weitgehend Phänomene aus Phase 1 des Interviews betrachtet. (3.1 ). Anschließend steht noch einmal die Phase 2 des Interviews, das Sprechen über das Jimenez-Gedicht im Mittelpunkt des Interesses. In Kapitel 1.2 wurde dieser Teil des Interviews bereits in einer ersten Annäherung an die Darstellungen der Erzähler überblicksartig vorgestellt. Hier, am Schluss der empirischen Analyse, soll nun eine vertiefende Annäherung an diese komplexen Interviewpassagen versucht werden. Es geht um die Frage, was sich auf sprachlicher Ebene beobachten lässt, wenn die Interviewpartner über das vorgelegte Gedicht zu der

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Zuhörerirr sprechen. (3.2). Schließlich wird auf einen kommunikativen "Sonderfall" eingegangen, wenn die Bedeutung des (Re-)Zitierens, also des wörtlichen Einflechtens von Gedichtzeilen, hier noch einmal gesondert betrachtet wird (3.3). Im Laufe der Gesamtanalyse haben sich diese Phänomene als mögliche Schlüsselaspekte zum Verständnis der Bedeutungsdimensionen des Umgangs mit Gedichten gezeigt. Im Rahmen dieser Arbeit wird es jedoch nicht möglich sein, diese Aspekte erschöpfend zu bearbeiten. So wird in diesem Kapitel an einigen Punkten eine Diskussion eröffnet, die mögliche weitere Analysewege und künftige Forschungsperspektiven impliziert. In der Schlussdiskussion werden diese Punkte dann noch einmal aufgegriffen.

3.1 Selbstpositionierung im Sprechen über Gedichte Indem die Erzählerinnen im aktuellen Kontext des Interviews eine bestimmte biografische Situation erzählen, in der Gedichte eine Rolle gespielt haben, konstruieren sie eine damalige Situation aus ihrer heutigen Perspektive. Sie charakterisieren dabei nicht nur beispielsweise die Personen der damaligen Situation, sich selbst in dieser Situation oder bestimmte Funktionen von Gedichten. Durch die Art der Darstellung zeigen sie immer auch, wie sie aktuell von der Zuhörerirr als Mensch verstanden werden wollen und nehmen so Stellung zu der Frage "wer bin ich?" und "was bin ich ftir ein Mensch, wie möchte ich gesehen und verstanden werden?'" 9 Auf diese Weise zeichnen sie im Charakterisieren des eigenen Umgangs mit Gedichten auch ein aktuelles Bild der eigenen Person. Dies findet in der aktuellen Interviewsituation statt, d.h. zu einem anderen Zeitpunkt oder mit einem anderen Gegenüber würden diese Bilder möglicherweise anders aussehen. Im Folgenden soll nun skizziert werden, auf welche Weise die lnterviewpartnerinnen im Sprechen über Gedichte die eigene Person themati-

19 Die folgenden Ausfühmngen beziehen sich also auf den oberen, bislang eher weniger betrachteten Teil des Positioniemngsschemas (siehe Abbildung 2). Hier geht es um die aktuellen Positioniemngsakte der Erzählerirr und der Zuhörerin: also z.B. um die Frage, wie die Erzählerirr durch die jeweilige Konstmktion ihrer Erzählungen aktuell ein bestimmtes Bild von sich ihrer Zuhörerirr gegenüber entwirft oder wie sie z.B. durch Metakommentare Fremdpositionierungen durch die Zuhörerirr zurückweist. 232

TEIL 111 - EMPIRIE

sieren und sich selbst charakterisieren und positionieren.Z0 Ziel der folgenden Darstellung ist nicht die Herausarbeitung von "Gedichtlesertypen" oder situationsübergreifenden Charaktereigenschaften. Hier sollen vielmehr unterschiedliche Momente und Dimensionen der Selbstpositionierung im Sprechen über Gedichte in den Interviews vorgestellt und anhand von kurzen Beispielen illustriert werden. Mit welchen Mitteln zeichnen die Erzählerinnen in der Interviewsituation ein Bild, wie sie von der Zuhörerirr aktuell gesehen und verstanden werden wollen? In diesem Rahmen sind keine Einzelfallrekonstruktionen möglich, die jedoch nach dem vorliegenden Material zu urteilen an anderer Stelle sehr uniersuchenswert wären. Besonders die differenzierte Herausarbeitung der Selbstpositionierungen auf unterschiedlichen Ebenen, die im Einklang stehen, sich jedoch auch widersprechen können, ist wünschenswert. So ließe sich zeigen, wie die Erzählerinnen im Sprechen über Gedichte ihre Identität dar- und herstellen. Zunächst werden einige Aspekte der erzählerischen Gestaltung der Interviews dargestellt, in denen die Selbstpositionierung der Erzählerinnen zum Ausdruck kommt (3 .1.1 ). Anschließend geht es darum, wie die Erzählerinnen im Sprechen über den eigenen Bezug zu Gedichten zu einer Vielzahl an Klischees über Menschen, die Gedichte lesen, Stellung nehmen und sich selbst dabei gleichzeitig verorten (3.1.2). Abschließend wird gezeigt, dass die Erzählerinnen auf Gedichte Bezug nehmen und sich über diese Gedichte explizit oder implizit positionieren (3. I .3).

3.1.1 Erzählerische Gestaltung des Interviews ln einem narrativen Interview stehen die Interviewten im freien Erzählteil vor der Aufgabe, die Strukturierung, die Themenauswahl und die Art der narrativen Verhandlung dieser Themen selbst zu übernehmen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde versucht, die Bandbreite der erwähnten

20 In Kapitel 2 wurden an zahlreichen Stellen bereits Beispiele für die aktuelle Selbstpositionierung gegeben: beispielsweise wie sich Herr K. im Erzählen seines eigenen Dichtens und Auswendiglemens für andere ihm nahe Menschen als einfühlsam und fürsorglich präsentiert; wie sich Frau A. in ihrer Darstellung der Deprivation in ihrer Kindheit und Jugend in der Art der Konstruktion als heute sehr kompetent und kulturell gebildet präsentiert, wie Frau C. in der Prägnanz ihrer Erzählungen sich als Meisterin der szenischen Darstellung erweist, wie die Erzähler sich als Angehörige einer bestimmten Gruppe oder Kultur präsentieren, indem sie auf Gedichte als allgemeines Kulturgut Bezug nehmen, wie sich die Interviewpartner in schillernder Weise als Dichter oder gerade nicht als Dichter positionieren etc. An dieser Stelle werden diese Aspekte zusammenführend betrachtet.

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Themen und Gestaltungen des eigenen Umgangs mit Gedichten darzustellen. Dabei wurde besonders in den Feinanalysen bereits die jeweilige Funktion der Darstellung für die aktuelle Situation herausgearbeitet. Bei der Analyse der Interviews wurde während der Fallrekonstruktionen deutlich, dass jede der Erzählerinnen bestimmte persönliche Themenschwerpunkte setzt und den eigenen Umgang mit Gedichten vor einem bestimmten Horizont darstellt. An dieser Stelle soll auf einzelne Aspekte hingewiesen werden, an denen das jeweils persönliche Profil der Erzähler deutlich wird. Mit der jeweiligen erzählerischen Gestaltung des Interviews implizieren die Erzähler Antworten auf die Frage, wie sie gesehen und verstanden werden möchten. (1) Aushandlung und Gestaltung der Interviewsituation Was sagt eine Erzählerirr durch die At1 und Weise der Aushandlung und Gestaltung der Interviewsituation über ihr eigenes Selbstverständnis aus? Bereits die Vereinbarung des Interviews war Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Positionierungsaktivitäten (sowohl von Seiten der Interviewten als auch natürlich von Seiten der Interviewerin). Die von einer Interviewpartnerin geäußerte Frage, ob sie ftir dieses Thema denn überhaupt geeignet sei, sie wisse nicht, ob sie sich mit Gedichten so gut auskenne wie andere, kann einerseits Aufschluss darüber geben, dass im Umgang mit Gedichten die Frage von Kompetenz eine Rolle spielen kann. Zur gleichen Zeit positioniert sich eine zukünftige Interviewpartnerin so als eine Frau, die nicht einfach unreflektiert ein Interview vereinbart, sondern der eine gewissenhafte Herangehensweise an ein Thema wichtig ist. Auch die Gestaltung der Interviewsituation ermöglicht eine Vielzahl an Selbstpositionierungen: die Wahl des Interviewortes in einer viel frequentierten WG-Küche (Herr E.) oder die Bereitstellung von viel ungestörtem Raum und Zeit, um dem Thema nachzugehen (z.B. Herr H.); oder die persönliche Gestaltung des Interviews als Raum der Selbsterfahrung (z.B. Frau A.), zwischen Experteninterview und Prüfungssituation (Frau B.) oder zwischen Selbsterfahrung und Verkündigung (Herr H.). In diesen Orten und Gestaltungen zeichnen sich Themen des Phänomenbereiches ab und des erzählten persönlichen Zugangs zu Gedichten (z.B. Herr E.: Der eigene Zugang zu Gedichten ist stark in ein soziales Umfeld eingebunden; Frau A.: Gedichte als Medium, die eigene Gefühlswelt auszuloten; Herr H.: Gedichte als Medium eines lebensförderlichen Prinzips und damit als Medium der Verkündigung; Frau B.: Gedichte als Medium, die eigene Expettenschaft unter Beweis zu stellen und sie gleichzeitig zu testen). Zugleich sind diese gewählten Orte und Gestaltungen Weisen, in denen die Interviewpartner ihr eigenes Selbst-

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TEIL 111 - EMPIRIE

verständnis zum Ausdruck bringen (z.B. Herr E.: Ich bin ein unkompliziertes und sozial integriertes Gegenüber; Herr. H.: Ich will auf der Basis eigener heilsamer und positiver Lebenserfahrungen auch andere daran teilhaben lassen; Frau A.: Ich ruhe in einer Weise in mir, dass ich über eigene Ängste und Erfahrungen sprechen kann; Frau B.: Ich bin eine angehende Expertin).

(2) Sprachliche Mittel: Wortwahl, Systematik, Stilmittel etc. Die Erzählerinnen konstruieren sprachlich den eigenen Bezug zu Gedichten in ihren biografischen Erzählungen. Im Aufbau der Erzählungen, in der Systematik der Darstellung und in der Wortwahl stellen die Erzählerinnen ihre Sicht des Themas, aber auch ihre eigene Person dar. Mit anderen Worten: Was sagt eine Erzählerirr durch die Wahl der sprachlichen Mittel über ihr eigenes Selbstverständnis aus? Dies soll an zwei kurzen Beispielen erläutert werden. Frau B. verwendet im Sprechen über Gedichte zahlreiche literaturwissenschaftliche Fachausdrücke. Diese Erzählerirr spricht als einzige durchgehend von "Lyrik", um die von der Zuhörerirr absichtlich alltagsnäher eingeführten "Gedichte" zu bezeichnen. Sie positioniert sich auf diese Weise als eine Frau, die besonders im Hinblick auf das Thema des Interviews akademisch gebildet ist (siehe z.B. Beleg 10: "Also da hatte man einfach mehr Spielraume"). Auch im Aufbau, sei es in der Vorstellung eines Gedichtes oder im gesamten Interview, legt die Erzählerirr Wert aufeine systematische Darstellung. Herr E. präsentiert sich als Vertreter einer lebendigen Jugendkultur. Der Erzähler kombiniert spielerisch Elemente der Jugendsprache, des Künstlermilieus ("haun wir das Ding aufs Band" siehe Beleg 24) und der klassischen literarischen Bildung (siehe z.B. Beleg 9: "AufErich Kästner sind wir voll abgefahm"). Er zeigt sich als unterhaltsam und als Profi des Metiers, indem er eine sehr bild- und metaphernreiche Sprache wählt und eine Vielzahl an Stimmen zur Reinszenierung von Episoden verwendet. Er erzählt Anekdoten aus seinem Leben, greift spontane Einfälle auf und zeigt sich auf diese Weise als flexibles, geniales und unkompliziertes Gegenüber, das souverän die Gestaltung der Interviewsituation in die Hand nimmt. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass oft die Selbstpositionierungen auf unterschiedlichen Ebenen komplex miteinander verwoben sind: Beispielsweise erzählt Frau A. von dem düsteren, kulturell und literarisch anregungsarmen Umfeld ihrer Kindheit (siehe auch Kapitel 2.2.4.). Diese Darstellung gestaltet sie in einer sehr bildreichen und poetischen Sprache und rekurriert auf geteiltes Kulturgut (z.B. ein Bild von Van Gogh), um die Szene zu charakterisieren. Mit kurzen und prägnan-

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ten Sätzen schildett sie eine kontrastreiche Atmosphäre. Während sie ihr erzähltes Ich in der Szene also als kulturell und literarisch ausgehungertes Kind positioniert, positioniert sie sich selbst aktuell durch die Art der Darstellung als eine Person, die sehr kompetent und versiert ist im Umgang mit Sprache. Sie zeigt sich als eine, die ihr Leben umgießen kann in eine neue Form, in der Düsteres, Enges und eine kulturelle Leere in einer ästhetischen Form zur Sprache kommen kann. (3) Persönliche Themenschwerpunkte Im Folgenden soll kurz illustriert werden, inwieweit die Erzähler jeweils persönliche Themenschwerpunkte in den Interviews setzen. Während z.B. einzelne Erzähler im Sprechen über den eigenen Umgang mit Gedichten kaum andere Personen erwähnen, spielen bei anderen in den Darstellungen nahezu immer andere Menschen eine Rolle. Diese Menschen können nahe Vertraute sein, es können weitgehend die eigenen "Fans" sein oder Personen aus Bildungsinstitutionen. Auch die von einer Erzählerirr vorwiegend erwähnte Tätigkeit im eigenen Gedichtbezug zeigt mögliche Strategien im Umgang mit Gedichten (analysieren, (re-)zitieren, vorlesen, auswendig lernen, selbst schreiben etc.). Gleichzeitig können diese Tätigkeiten Selbstpositionierungen implizieren (z.B. ich bin jemand, die andere unterhalten kann etc). Die Erzählerinnen charakterisieren außerdem die Art und Weise, wie sie mit Gedichten umgehen. Was sagt eine Erzählerirr mit der eigenen Herangehensweise an Gedichte über ihr eigenes Selbstverständnis aus? Diese Herangehensweise kann als vorsichtig, empfindsam, ängstlich, ungeniert, enthusiastisch, professionell oder (un-)gebildet beschrieben werden bzw. im Interview selbst in dieser Weise aktuell vollzogen werden. Die Erzählerinnen charakterisieren so, wie sie die Gedichte sehen (z.B. als wertvolles, aussagekräftiges, unverbrüchliches, begeisterndes oder analysierbares Objekt etc.) und gleichzeitig wie sie selbst gesehen werden wollen (z.B. ich bin begeisterungsfähig, kompetent, feinsinnig, vorsichtig etc. ). Besonders deutlich nehmen die Erzählerinnen im Sprechen über ihren eigenen Umgang mit Gedichten implizit oder explizit Selbstpositionierungen vor, wenn es um Bewertungen geht. Wenn die Erzählerinnen die Qualität eines Gedichtes oder eines Dichters beurteilen, wenn sie ihren eigenen Geschmack charakterisieren oder veranschaulichen, was sie bei sich oder anderen als eine Kompetenz im Umgang mit Gedichten sehen, entwerfen die Erzählerinnen ein jeweils eigenes Koordinatensystem. Jede entwickelt implizit oder explizit Kriterien für gute oder schlechte bzw. für präferierte oder nichtpräferierte Gedichte. Indem sie die Authentizität im Ausdruck, die Tiefgründigkeit oder eine Wahrhaftigkeit des Dichters, oder aber die Konstruktion, einen 236

TEIL 111 - EMPIRIE

tigkeit des Dichters, oder aber die Konstruktion, einen Clou oder die Ästhetik eines Gedichtes in den Vordergrund stellen, treffen die Erzählerinnen implizit oder explizit Aussagen über die eigenen Werte und ihr eigenes Selbstverständnis. Dieser Aspekt wird im folgenden Abschnitt zur Konstruktion von Klischees im Umgang mit Gedichten noch einmal aufgegriffen. Beleg 32: "schnörkelig" (Frau C. S. I 0 115-311) 1

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E:

hhh ( 1. 0) ich FIND=es , ( . ) äh wie soll te=n gedicht sEin? (2.0) also eben was ich schon SAGTE diese reDUKTION? (-) # also so wie hinter tausend stäben keine WELT, [# #] oder so was:, [#] (.) äh- (-) IST einfach etwas was mich WAHNSINNIG berÜhrt, und was mich also wa- ( .) wo ich einfach ne grOße beWUNDErung für hAbe- # # .hh und etwas was wirklich GANZ LANGE und AUSfÜhrlieh is, und schnÖrke lig is, das spricht mich nich an. # (-) # (-) etwas was wirklich KLA:R mir s o fort irgendnen BILD, (--) wirf t oder mir nich sofort in ein, (.) mich ZIEMLICH schnEll in ein gefÜhl bringt, # (.) das find ich klAsse; () die gedichte find ich absolut spitze und die könn aus jEdem jahrhundert sein [#] a l so, (--) die sind also- (-) aber wenn man, wenn ich so den, (.) (-) wenn ich das beMÜHEN MERke? (.) # so dieses- (.) oh ja wir ham jetzt uns ei=bemüht ein schÖnes gedieht oder so- # dAnn, e h dann interessiErt=s mich schon nicht mehr. (-- )

Die Interviewpartner schaffen also im Erzählen einen bestimmten Kontext, ein bestimmtes Koordinatensystem, in dem sie ihren eigenen Umgang mit Gedichten und sich selbst gesehen haben wollen. Dies geschieht nicht nur dadurch, was erwähnt wird, sondern ebenso sehr durch die Art, wie die Interviewpartner die Themen verhandeln. Als sehr aussagekräftig flir diese jeweils individuellen Kontexte haben sich während der Analyse einerseits die Erzählanfange erwiesen sowie die Art und Weise, wie die Erzähler zum ersten Mal ein Gedicht narrativ einbinden. Diese Stellen konnten am Ende der Gesamtanalysen häufig als ein Kondensat des Gesamtinterviews betrachtet werden, in dem sowohl Themen, die im Verlauf des Interviews eine Rolle spielten erwähnt wurden, als auch später wiederkehrende Selbstpositionierungen konstruiert wurden.

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VOM NUTZEN DER POESIE

(4) Geschichtenmuster, Agentenschaft und biografische Verläufe Die Erzählaufforderung zu Beginn des Interviews stellt die Interviewpartner vor die Aufgabe, die eigene Entwicklung des Bezuges zu Gedichten zu deuten. Sie müssen kleinflächig einzelne Episoden aber auch großflächig die Gesamterzählung erzählerisch entwerfen, um eine Entwicklung in der Zeit darstellen zu können. In den vorangegangenen Kapiteln sind in den Rekonstruktionen, wie die Erzählerinnen Gedichte in unterschiedlichen Bezügen und Funktionen schildern, und in den Belegerzählungen zahlreiche Typen von Geschichten erwähnt worden. Hier sollen einige angeführt werden, um einige Varianten der Selbstpräsentation zu veranschaulichen. In mehreren Erzählungen steht der Erlebnischarakter im Umgang mit Gedichten im Vordergrund: Erzähler schildern, wie sie durch ein Gedicht in eine besondere Stimmung, Atmosphäre oder in eine andere Zeit transportiert wurden, wie das (Re-)Zitieren eines Gedichtes in einem sozialen Rahmen eine Nähe geschaffen oder zu einer besonders schönen, eindrücklichen, witzigen oder kuriosen Situation geführt hat. In Kapitel 2.2.3 wurde gezeigt, dass ftir die Erzähler im Umgang mit Gedichten Kompetenz eine Rolle spielen kann (z.B. Textstelle 11: "Powerman" und Beleg 12: "Das war dann so ne Erwartungshaltung")- sei es nun eine Kompetenz, die sie als angeboren oder als schwer erarbeitet konstruieren. In diesem Zusammenhang erzählen einige Interviewpartner eine Reihe von Erfolgs- oder Heldengeschichten: Sie zeigen, wie sie z.B. durch ihr (Re-)Zitieren oder Dichten bei anderen Anerkennung, Rührung oder Beifall ernteten oder aber wie sie selbst stolz auf sich waren, weil ihnen das Auswendiglernen eines Gedichtes besonders schnell oder das Schreiben einer Zeile besonders gut gelungen war. Wie in Kapitel 2.4.2 dargestellt wurde, erzählen Interviewpartner ihre Erfahrungen mit Gedichten auch dezidiert als Bewältigungsgeschichten. Häufig stellen die Erzähler das Wirken eines Gedichtes in den Mittelpunkt dieser Erzählungen. Das Lesen eines Gedichtes flih11 so zu einer vertieften Erkenntnis der eigenen Person oder einer Situation, das Verfassen eines Gedichtes bringt eine größere Akzeptanz oder eine Einsicht mit sich (z.B. Beleg 28: "Gehörsturz"). Oder ein Gedicht wird im Sinne einer Droge beschrieben, die einen aus einer unerträglichen Stimmung herausreißt und aufhellend wirkt (z.B. Beleg 29: "Wolkenfeger"). Andernmts steht die Befreiung aus bedrückenden Situationen im Mittelpunkt: Gedichte werden hier als ein Licht in der Dunkelheit beschrieben; nicht so sehr die Versöhnung mit einer bedrückenden Situation ist hier zentral, sondern die Hilfe und Stärkung, die die Beschäftigung mit einem Gedicht in dieser Situation bedeuten kann.

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TEIL 111 - EMPIRIE

Wie in der Erwähnung der verschiedenen Typen von Geschichten bereits deutlich wird, spielt hier mit der Perspektive der Selbstpositionierung die Frage der Agentenschaft ebenfalls eine große Rolle. Wie in Kapitel 2.4.1 dargestellt wurde, schreiben die Erzähler nicht nur sich selbst oder ihrem Gegenüber, sondern auch den Gedichten selbst sprachlich-metaphorisch eine Handlungsinitiative zu. Um es etwas überspitzt auszudrücken: Während die eine mit einer "ich kam, sah und siegte"-Positionierung den eigenen Erfolg durch Gedichte in den Mittelpunkt stellt, konstruiert eine andere sich selbst als Medium, durch das eine tiefere Weisheit oder ein Kunstwerk zum Ausdruck kommt und eine dritte positioniert sich so, dass sie die Wucht eines Gedichtes ganz unerwartet trifft und in Verzückung, Verwunderung oder Begeisterung versetzt. In den jeweiligen Konstruktionen zeichnen die Erzählerinnen so in der aktuellen Situation der Zuhörerirr jeweils sehr unterschiedliche Bilder der eigenen Person. In biografischen Erzählungen stehen die Erzähler vor der Aufgabe, einzelne Episoden und Erfahrungen in einen größeren zeitlichen Zusammenhang zu stellen. Hier kann auch durch Unterschiede in den Gesamtkonstruktionen die aktuelle Selbstpositionierung abgelesen werden. In einigen Interviews konstruieren die Erzähler den biografischen Verlauf des eigenen Bezuges zu Gedichten z.B . als eine Zunahme an Kompetenz, Erfahrung, Professionalität oder Souveränität. So beschreibt Herr H. die eigene Entwicklung als Stufen: von einem unhinterfragten Hineingewachsensein in den Umgang mit Gedichten über ein späteres tiefes Berührtwerden von Gedichten und eine wachsende Kompetenz hin zu einer entworfenen Zukunft, in der Hölderlin als Inbegriff für hohe Dichtungsund Lebenskunst noch "auf ihn wartet" . Bei anderen Erzählern ändert sich in verschiedenen Phasen der Schwerpunkt der Auseinandersetzung, aber die Erzähler stellen mehr die Kontinuität in den Vordergrund, dass Gedichte "immer schon" etwas sehr wichtiges ftlr sie gewesen sind und ihnen sozusagen "im Blut liegen". Frau A. erzählt z.B. eine Vielzahl an Erfahrungen mit Gedichten, die sie in den unterschiedlichen Phasen ihres Lebens begleitet, beschäftigt, erfreut und tief berührt haben. Sie positioniert sich als eine Person, die geistige Nahrung schätzt und zum Leben braucht und erzählt in zahlreichen Belegerzählungen, wie sich eine Lebendigkeit äußeren und inneren Widrigkeiten zum Trotz durchsetzt.

3.1.2 Selbstpositionierung durch Stilisierungen von Gedichtlesertypen Im Folgenden soll ein weiterer Weg vorgestellt werden, den die Erzähler im Sprechen über Gedichte gehen, um sich selbst in einem bestimmten Licht zu zeigen bzw. zu positionieren. In den Interviews nutzen sie die

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VOM NUTZEN DER POESIE

Darstellung typisierender, klischeehafter Eigenschaften von Gedichtlesenden, um sich von diesen abzugrenzen und sich selbst als anders zu entwerfen. Dabei nehmen die Erzähler Bezug auf bekannte Typen von Gedichtlesern (Beispiele siehe unten) und charakterisieren diese durch ihre Verhaltensweisen, ihren Geschmack oder ihr Können, z.B. durch wenige Attribute oder wörtliche Zitate. Sie markieren diesen Stil oder diese andere Position als peinlich, negativ oder sozial unangemessen. Die Darstellungen zeichnen sich durch Vereinfachungen, Prägnanz, Übertreibungen aus und werden meist prosodisch oder mimisch besonders hervorgehoben. Gleichzeitig implizieren diese Positionierungen eine deutliche Abgrenzung der eigenen Person von diesem Typ. ln ähnlicher Weise nehmen Erzähler Bezug auf ein konkretes Gegenüber und positionieren diese Person als zu einem bestimmten Typ von Gedichtlesern gehörend. Schließlich stilisieren einige Erzähler sich selbst in einer früheren Phase als einen bestimmten Typ und markieren durch ihre Darstellung, dass sie heute keinesfalls mehr so sind bzw. gesehen werden wollen. Diese Art der Darstellung findet sich in einigen Erzählungen z.B. an Stellen, in denen die Erzähler von dem eigenen Dichten in der Pubertät sprechen, und sich selbst als massiv naiv, dilettantisch, oder völlig romantisch verklärt charakterisieren. In der Übertreibung rahmen sie humorvoll dieses damalige Schreiben als eine Jugendsünde, die sie von heute aus betrachtet schmunzelnd bekennen. Indem sie ihr früheres Verhalten als phasenspezifisches Verhalten in der Pubertät kennzeichnen, normalisieren sie es und rahmen es als ein begrenztes Phänomen, das aus heutiger Sicht als Anekdote genutzt werden kann. In den entsprechenden Passagen suchen die Erzähler nach einer Rückversicherung bei der Zuhörerin, dass sie diese Typen von Gedichtlesern kennt und in der Bewertung mit ihnen übereinstimmt. Häufig findet sich diese Rückversicherung in den Texten durch einen kurzen Kommentar der Zuhörerirr oder ein kurzes Lachen. Dabei nutzen die Erzähler die typisierenden Darstellungen zumeist humorvoll als eine Gesprächsressource. Indem sie auf ein gemeinsames Wissen Bezug nehmen, schaffen sie eine gemeinsame Basis mit der Zuhörerin: Gemeinsam wird über Dritte geschmunzelt, die sich seltsam oder peinlich verhalten. Die Erzähler versichern sich damit gleichzeitig, dass sie selbst so nicht gesehen werden wollen. An einigen Stellen in den Interviews nutzen die Erzähler Stilisierungen von Gedichtlesertypen auch, um eine mögliche Fremdpositionierung durch die Zuhörerin zurückzuweisen. Dies findet sich z.B. an einer Stelle (Beleg 33)direkt im Anschluss an eine Nachfrage der Zuhörerin, die sich als Nahelegung eines bestimmten Stils interpretieren ließe. Hier antwortet die Erzählerin, indem sie bestimmte Attribute

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TEIL 111 - EMPIRIE

und Verhaltensweisen aufzählt, und dieses Szenario als zufallig möglich, aber generell als sehr abwegig und unangemessen ftir die eigene Person kennzeichnet. Beleg 33: "Kuschelsocken" (Frau C. S. 9 118-281)

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E:

also ich nehm mir jetzt nicht en- ( --- ) e:in gedieht das is zuFÄLlig, s=total zuFÄLlig? # ( --) s KANN mal STIMMEN, dass ich dass mal ne kErze brEnnt und ich, (.) und ich mal- hm: nE ES SEI denn ich hab ne Lesung; also des is leide r- # (-) DANN, (.) DANN schOn ja. (1.0) dann sicher.

Schließlich nehmen einige Erzähler in ihren Selbstpositionierungen explizit ein bestimmtes Klischee (z.B. das stille Kämmerlein) fiir sich selbst in Anspruch, binden es kreativ in die eigene Selbstdarstellung ein und nehmen so eine Fremdpositionierung vorweg. Auf diese Weise subsumieren sie sich einerseits unter eine bestimmte Kategorie von Gedichtlesern, brechen aber durch die Rahmung ihre Darstellung. 2 1 Im Folgenden werden einige klischeehafte Eigenschaften und Verhaltensweisen von Gedichtlesern beschrieben, die sich aus den Darstellungen der Erzähler rekonstruieren lassen (,wobei sie nicht imm er trennscharf voneinander zu unterscheiden sind). Den einzelnen Erzählern ist es jeweils ein Anliegen, sich von den Eigenschaften und Verhaltensweisen abzugrenzen und sich so in dem Feld der möglichen "Typen von Gedichtlesern" zu verorten. Dabei setzen sie jeweils individuell in den Charakterisierungen Schwerpunkte und betonen so, von welchen Eigenschaften (z.B. naiv, dilettantisch oder elitär) sie sich dezidiert abgrenzen wollen.

21 Es finden sich in den Interviews Passagen, in denen ein Interviewpartner aus einer Außenperspektive einem Klischee von Gedichtlesern zugeordnet werden könnte, da sie bestimmte Verhaltensweisen für sich in Anspruch nehmen und diese nicht durch Stilisierung brechen. Diese Kategorisierung entspricht jedoch nicht der Analyseperspektive dieser auf Rekonstruktion ausgerichteten Arbeit! Insofern geht es in diesem Kapitel um die Stilisierungen, die die Interviewpartner explizit selbst vornehmen. 241

VOM NUTZEN DER POESIE

Pubertäre Schwärmerei Wie bereits erwähnt charakterisieren einige Erzähler die (eigene) Beschäftigung mit Gedichten in der Jugend durch eine chaotische Geftihlswelt und eine jugendliche Ernsthaftigkeit, Naivität und Selbstüberschätzung. Prosodisch gestalten einige Erzähler diese Darstellungen mit viel Pathos und zeigen durch die stimmliche Übertreibung ihre heutige Distanz zu der damaligen Lebenshaltung. Mit dieser Stilisierung positionieren sich einige Erzähler in Abgrenzung als resolut, nüchtern und mitten im Leben stehend. Beleg 34: "Liebesphase" (Frau C. S. 4 18-151) 1

E:

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und DANN KAM die PHAse wo ich SELBER, (--) aber das war dann die LIEbesPHAse sag ich mal; > wenn ich es so: also da: hab dann erich FRIED geLEsen, und # [#] .h DIESE geDICHte geLEsen und eh- ((schmatzt)) neRUda (.) # und das warn da war ich drEI vierundZWANZIG und da, .hh DA h ab ich dann eh ehm im wahn in meiner liEbes(.) wAhnsinnigen ((lacht laut)) geschrieben,

Romantisches Szenario Besonders auf die Frage nach einem typischen Szenario des eigenen Umgangs mit Gedichten grenzen sich einige Erzähler von einem romantischen Szenario ab. Hier wird entweder auf eine klischeehaft gemütliche Situation bei Kerzenschein (siehe Beleg 33: "Kuschelsocken") oder auf eine "Wald- und Wiesenromantik" angespielt (siehe Beleg 35: "Schönes Fleckchen"). Ähnlich wie bei der pubertären Schwärmerei wird hier der Bezug zu Gedichten durch Naivität ausgezeichnet. Dieser Stil wird als tiefschürfend, romantisierend, verklärt und gleichzeitig unbedarft gutgläubig beschrieben. Durch Abgrenzung von dieser Haltung kennzeichnen sich die Erzähler ebenfalls als mitten im Leben stehend und eher nüchtern und rational. Eine Erzählerirr schilde11 auf die Frage nach einer eigenen typischen Lesesituation ein romantisches Szenario (mit einem persönlichen Gedichtbuch, Kerze, Gemütlichkeit). Sprachlich, prosodisch und mimisch gibt sie zu erkennen, dass ihr Verhalten gerrau einem romantischen Klischee entspricht. Beleg 35: "Schönes Fleckchen" (Herr E. S. 24 [18-21]) 1

E:

a lso was i c h auch ziemlich WEnig mach is irgendwie auf irgendwelche schÖnen wAldwiEsen gehn also, # .hh ne es GIBT=GIBT ja so LEUTE die SUchen sich dann irgendwie s o =n schönes FLECKchen,

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TEIL 111 - EMPIRIE

Dilettant Von einem dilettantischen Umgang grenzen sich einige Erzähler ab, indem sie das Bild von einem Menschen skizzieren, der gut gemeint, aber schlecht gemacht selbst dichtet oder ein Gedicht aufsagt. Hier werden typischerweise die selbst gedichteten Beiträge bei Geburtstagsfeiern als Abgrenzungsfolie erwähnt und die Personen werden als (etwas naive) Amateure konstruiert. Eine Erzählerirr imitiert das typische Leiern beim (Re-)Zitieren eines Gedichtes, um einen Menschen zu charakterisieren, der entweder mit Langeweile oder schlichtweg unbegabt ein klassisches Gedicht aufsagt. Dabei nutzt sie den Gegensatz zwischen dem großen Werk und der Art des Aufsagens dieses Werkes, um das Dilettantische und Unangemessene besonders hervorzuheben. Erzähler nutzen diese Art der Darstellung, um das eigene Niveau, Können oder zumindest differenzierte Urteilsvermögen hervorzuheben. Blender/Oberflächliche Show mit unlauteren Motiven Einige Erzähler unterstellen einzelnen Dichtem, Schriftstellern oder Verlegern unlautere Motive (und unterstellen damit gleichzeitig den Konsumenten entweder ebensolche Motive oder Dummheit). Dieser Umgang mit Gedichten wird als profitorientiert, dem Zeitgeist entsprechend und oberflächlich beschrieben. Ein Erzähler, der damit hadert, dass seine eigenen Gedichte von Verlagen bislang nicht angenommen wurden, zeichnet sich in Abhebung von diesen Eigenschaften als aufrecht, moralisch integer und sozialkritisch. Ein anderer Erzähler, der selbst dichtet, konstruiert das eigene Können in Abhebung von der Erfolgsorientierung und Niveaulosigkeit anderer Dichter. Schließlich entwirft ein Erzähler das Bild von Dichtern und Verlegern, bei denen Gedichte in der Hauptsache kryptisch und unverständlich sein müssen, um als niveauvoll zu gelten. Unverständlichkeit würde mit Niveau gleichgesetzt, obwohl die Gedichte substanzlos wären. Hier spielt er auf das Motiv von "des Kaisers neue Kleider" an. Er unterstellt diesen Personen (und gleichzeitig jenen, die diese Gedichte mögen) implizit Verschleierung und Heuchelei. Der Erzähler nutzt diese Art der Darstellung, um seinen eigenen eher klassischen Geschmack zu rechtfertigen. Dieser erscheint vor dem Hintergrund der unlauteren Motive als ehrlich, rein und natürlich. Beleg 36: "Ach wie gestelzt" (Herr G. S. 20 [23-29]) 1

E: I:

E: 5

wenn ich des hÖre, also; ( .) da DENK ich zunächst- [ACH wie g eSTELZT] [oh je-] und geschrAUbt schon wieder; ne, #da- ( .) will wiEder jemand ne, (.) äh die einfachsten DINge, (-) als KUNSTwerk oder als geDICHT verkaufen; ## jetzt mal n bissel überTRIEben- (.) [g= s agt so; J

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VOM NUTZEN DER POESIE

Therapie I Selbsterfahrung Auch von der Perspektive, den eigenen Umgang mit Gedichten als Therapie zu sehen, grenzen sich einige Erzähler ab. Sie spielen hier auf Personen an, die tief in ihre eigenen Probleme verstrickt sind und ihre Selbsterfahrung mit Kunst verwechseln bzw. Kunst zu diesen Zwecken missbrauchen. In Abhebung von diesem als dilettantisch und gefühlsüberladen gekennzeichneten Umgang mit Gedichten positionieren sich Erzähler als Kunstliebhaber, die nicht aus Bedürftigkeit, sondern aus Kennerschaft mit Gedichten umgehen, bzw. deren eigenes heilsames Schreiben einem natürlichen Prozess folgt, frei vonjeglicher Betulichkeit und Absicht. Beleg 37: "Dieser schlimme Monat August" (Herr E. S.3 (28-37)) 1

E:

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10 I:

es ist auch OFT so dass ich geMERKT hab dass ich(-- ) ah (-) also wenn=s so PHAsen gAb wo - (-) wo man ziemlich orienTIERungslOs war, (- ) dann- (.) SPÄter, ( .) wo man eigen tlich wieder geERdet war, (.) das dann noch mal- ( -) so, (.) auf # AUFgeArbeitet hat, # aber des des des LÄUFT ha l t gAr nicht, ( . ) gAr nicht so beWUSST ab, also- (.) des IS auch gar nicht dass man sich jetzt so HINsEtzt, ( .) und sagt SO , (.) und JETZT wi rd also dieser SCHLIMme mOnat augUST AUfgearbe i tet, [((lacht )) ]

Stilles Kämmerlein und Elfenbeinturm Mit der Anspielung auf das "stille Kämmerlein" grenzen sich Erzähler von einer Beschäftigung mit Gedichten ab, die eine Konnotation von zurückgezogen, ernsthaft, weltfremd und etwas blass und freudlos impliziert. Schließlich ist die Anspielung auf Gedichtlesen- und schreiben als Beschäftigung im Elfenbeinturm zu nennen. Ähnlich wie beim "Stillen Kämmerlein" spielt hier die Abgeschiedenheit eine Rolle. Der Fokus liegt beim Elfenbeinturm aber darin, dass der Umgang mit Gedichten als elitär, abgehoben, überheblich und weltfremd gedeutet wird (siehe Beleg 6: "Polarisiert"). In Abgrenzung zu diesen Eigenschaften positionieren sich die Erzähler damit implizit als sozial eingebunden, z.T. als fröhlich, rational und lebendig. Beleg 38: "So sehr esoterisch" (Herr E. S. 24 11-51)

1

5

E:

so; (.) .hh d=ja dieses- (.) eliTÄre irgendwie so auch# ne- (.) also so bissel wenn man(--) irg e ndwie, (.) n antrophoSOphi schen vort rag oder (.) weiß nicht wie du dich AUSkennst# oder ne, fühlt ma sich ma so so sehr esoTErisch- (.)

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Besonders Frau C. und Herr E. nutzen zahlreiche unterschiedliche Stilisierungen und das Einbinden von Stimmen zur Illustration und Verlebendigung ihrer Aussagen. Sie skizzieren und karikieren unterschiedliche Personen im Umgang mit Gedichten. Damit unterhalten sie die Zuhörerin und verorten sich selbst in Abgrenzung von diesen Typen in ihrer Originalität. Bei beiden ist der eigene Bezug zu Gedichten sehr stark sozial eingebunden. Besonders bei Herrn E. kann dieser humorvolle und souveräne Umgang mit Klischees als Strategie gesehen werden, die auf die Notwendigkeit verweist, als junger Mann den eigenen starken Bezug zu Gedichten erklären und sozial verträglich als niveauvolles und erfrischendes Hobby und nicht als Makel darzustellen. Immer wieder schildert er seinen eigenen Stil mit Gedichten umzugehen, spielt jeweils auf passende Klischees an und grenzt sich so auf humorvolle Weise von diesen Bildern ab (siehe Beleg 37: "Dieser schlimme Monat August").

3.1.3 Gedichte im Dienste der Selbstpositionierung Im Folgenden geht es um die Frage, wie sich die Interviewpartnerinnen selbst positionieren, indem sie im Sprechen über Gedichte auf einzelne Gedichte Bezug nehmen und die eigene Person mit diesen Gedichten in Verbindung bringen (1). Anhand zweier sehr unterschiedlicher Interviewausschnitte wird dieses Phänomen illustriert (2). Diese Frage wird auch in den folgenden Unterkapiteln immer wieder aufgegriffen werden. (1) Selbstpositionierung im Bezugnehmen auf einzelne Gedichte In Abschnitt 2.3.1 wurde dargestellt, wie Interviewpartner auf Dichter Bezug nehmen und Dichternamen im Sinne einer "Produktbezeichnung" oder eines Verweises auf eine bestimmte Stilrichtung verwenden. Die Dichternamen können zum Teil für eine ganze Erfahrungswelt und eine bestimmte Deutung der Wirklichkeit stehen. Es wurde an einem Textausschnitt gezeigt, dass ftir die Interviewpartner diese jeweilige Erfahrungswelt sehr deutlich identifizierbar zu sein scheint und sogar als ein gemeinsames Wissen mit der Interviewerin verstanden wird. Mit der jeweiligen individuellen Auswahl der erwähnten Dichter geben sich die lnterviewpartner ein persönliches Profil. In den vorangegangenen Kapiteln wurde außerdem illustriert, dass Interviewpartner in Erzählungen Gedichte als Medium der Selbstaussage und Selbstpositionierung auffassen. Mal implizit, mal explizit gehen Interviewpartner davon aus, dass ein Gedicht die Erfahrungen und Deutungen der Wirklichkeit des jeweiligen Dichters widerspiegelt, dass das jeweilige Lieblingsgedicht einer Person Aufschluss gibt über diese Person,

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VOM NUTZEN DER POESIE

oder dass jemand durch ein Gedicht die eigenen Gefuhle, Sichtweisen und Erfahrungen einer anderen Person vermitteln kann. Ein Gedicht wird also von den Interviewpartnern als Aussage über die Gefühle und Sichtweisen einer Person (des Autors oder einer Person, fUr die dieses Gedicht eine Rolle spielt) interpretiert. Zum Beispiel nutzt Frau I. dies sehr ausgeprägt in der in Abschnitt 2.1.3 vorgestellten Beziehungsreflexion mit ihrem Mann (Herrn G.) Sie interpretiert sowohl ihre eigene Vorliebe fUr Rilkegedichte als auch die ihres Mannes für Hessegedichte (und die jeweilige Abneigung gegen die Gedichte des anderen) als Folge von unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften und den jeweiligen Lebensauffassungen. Herr G. wählt in der vorgestellten Textstelle "Polarisiert" (Beleg 6) eine vollständig werk- bzw. in diesem Fall autorenbezogene Darstellung. Im Charakterisieren der unterschiedlichen Persönlichkeiten von Hesse und Rilke kontrastiert er verschiedene Lebensentwürfe und macht durch seine klare Präferenz von Hesse seine eigene Position deutlich. Er spielt mit der Übertreibung und der Polarisierung und vermeidet auf diese Weise direkte Charakterisierungen von sich und seiner Frau. Die Zusammenhänge bleiben durch die stellvertretende Verhandlung auf Medienseite in der Schwebe. Für beide impliziert das jeweilige Vorgehen, dass sich im persönlichen Geschmack und der jeweiligen Art der Beschäftigung mit Gedichten die eigene Sicht auf die Welt, das Leben und die eigene Person zeigt. Vermittelt über Gedichte können so Auffassungen und Sichtweisen verhandelt und kommuniziert werden. Hier geht es nun um die Frage, ob und wie die Interviewpartner in der aktuellen Interviewsituation Bezug nehmen auf Gedichte und sich damit gleichzeitig selbst charakterisieren und positionieren. Was sagen sie in diesem Bezugnehmen auf einzelne Werke über die eigene Person aus und darüber, wie sie von der Zuhörerin verstanden werden wollen? Die Erzählerinnen nennen einzelne Gedichte, beschreiben oder (re-) zitieren sie und weisen ihnen dabei einen bestimmten Stellenwert ftir die eigene Person zu. Sie setzen also in der aktuellen Situation ihre eigene Person mit bestimmten Gedichten in Verbindung und charakterisieren die Art und Weise des Bezuges zu diesen Gedichten: Sie bezeichnen ein Gedicht als ihr derzeitiges oder ehemaliges Lieblingsgedicht, sie (re-) zitieren ein Gedicht und zeigen damit bereits indirekt, dass sie sich mit diesem Gedicht intensiv beschäftigt haben oder charakterisieren ein Gedicht als ganz furchtbar und niveaulos und grenzen sich so von einer bestimmten Position ab. In der jeweiligen A11 der Erwähnung eines Gedichtes konstruieren die Erzähler also einen bestimmten Bezug zwischen dem erwähnten Gedicht und der eigenen Person.

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TEIL 111 - EMPIRIE

(2) Zwei Beispiele der Selbstpositionierung durch die Bezugnahme auf Gedichte An zwei Interviewausschnitten soll nun illustriert und diskutiert werden, wie sich die Interviewpartner selbst darstellen, indem sie einzelne Gedichte erwähnen und ihnen eine Bedeutung für die eigene Person zuschreiben. An den Beispielen kann die Komplexität und Deutungsoffenheit dieser Selbstpositionierungen im Bezugnehmen auf ein Gedicht gezeigt werden. Im folgenden Interviewausschnitt erwähnt Frau A. im biografischen Erzählen über ihre Jugend zwei Gedichte, die damals für sie wichtig waren. Sie beschreibt der Zuhörerin die Handlung des einen Gedichtes und nennt charakteristische Qualitäten des anderen Gedichtes. Sie zeichnet einen direkten Bezug zwischen den Gedichten und der eigenen Person und deutet die Erfahrungen der Protagonistin des einen Gedichtes und die Qualitäten des anderen Gedichtes als Aussagen über die eigene (damalige) Verfassung und Lebensperspektive. Die Erzählerin liest aus den damals wichtigen Gedichten ab, wie es ihr zur damaligen Zeit ging, und kommentiert dies aus heutiger Perspektive. Dabei konstruiert sie durch die Reihenfolge, in der sie die Gedichte nennt, eine persönliche Entwicklungsgeschichte, die sie ftlr ihr Leben in Anspruch nimmt: von der Verzweiflung hin zu einer Gelassenheit und Kraft. Beleg 39: "Das war mein Lieblingsgedicht" (Frau A. S. 6 [11-281) 1

E:

5

I:

10 E: I:

E: 15

20

[ja.] (-) also, sehr viel religiöse, aber auch solch also LEBENsthemen oder auch, auch (.) in einem gedieht, da war das war mein lieblingsgedieht das erschreckt mich im nachhinein, weil (.) das war eine frAU, die IN der nacht herausgegangen ist und sich das leben nehmen wollte. [das war mein lieblingsgedicht. also, das (.) sagt schon] [h=hm (-) h=hm (-) h=hm] etwas AUS über diese jugend, über diese EINsamkeit [auch] und (--) [h=hm] ja und dann wieder andere, die hat =dieses- (-) was ich dann ausgesucht habe für meine p rüfung, das war ein ein STARkes gedieht, ein seh :r starkes gedieht, das eigentlich schon (- ) wie eine (.) gelassenheit- # (vorher), also, #das war MEHR glaub ich zukunftsweisend, (-) wo eine kraft eh dann zur gelassenheit wird; zur HEiteren Gelassenheit # sogar würde ich sag en (-) oder zu einer sanfte gelassenheit. aber glEichzeitig stArk und sAnft. (-)

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VOM NUTZEN DER POESIE

Feinanalyse: Die Er::ählerin führt im Sprechen über ihre Jugend ein Gedicht als ihr Lieblingsgedicht ein und zeigt aus heutiger Perspektive ihr Erschrecken über diesen damaligen besonderen Bezug zu dem Gedicht. Zur Begründung nennt sie die Verfassung und das Handeln der Protagonistirr und liest dann - da es als Lieblingsgedicht eng mit ihrer Person verwoben ist - daraus ab, wie es ihr damals gegangen ist bzw. dehnt es allgemein auf die damalige Situation aus. Indem die Erzählerirr ihre damalige Wahl des ersten Gedichtes aus heutiger Sicht kommentiert (Zeile 4), schafft sie eine Distanz zu ihrem damaligen Geschmack und ihrer Lebenssituation. Sie positioniert sich als jemand, die die eigene Entwicklung reflektieren kann . Als Kontrast und Gegenteil führt die Erzählerin dann ein zweites Gedicht ein, dem sie durch das Erwähnen ihrer eigenen Wahl des Gedichtes als Prüfungsgedicht wiederum eine besondere Bedeutung für die eigene Person zuweist. Zur genauen Beschreibung des zweiten Gedichtes leistet die Erzählerirr aufwendige Formulierungsarbeit (Zeile 15-22). Bei diesem zweiten Gedicht erwähnt die Erzählerirr nun kein Thema und keine Handlung, sondem elaboriert die Qualitäten und Nuancen dieses Gedichtes. Auffällig ist hier die mehrdeutige Formulierung "das war mehr glaub ich zukunftsweisend" (Zeile 17-18): Hier kann zum Einen das Gedicht ihr die Zukunft weisen, sie kann später entwickelte Eigenschaften in ihrer damaligen Gedichtwahl bereits angelegt sehen oder die damalige Wahl des Gedichtes kann aus heutiger Sicht mehr ihrem jetzigen Geschmack, ihrer jetzigen Lebenserfahrung entsprechen. Da im ersten Gedicht die Protagonistirr gerade keine Zukunft für sich gesehen hat, ist der so konstruierte Gegensatz besonders treffend. Mit dieser Formulierung verknüpft die Erzählerin die eigene Person aufs engste mit dem Gedicht. Die aufwändige Elaborierung der Qualitäten bezieht sich nun nicht mehr explizit auf das Gedicht, sondern lässt sich auch als Charakterisierung von Qualitäten und Eigenschaften lesen, mit denen die Erzählerin ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung andeutet. Eine passende und ausgewogene Charakterisierung ist für die Erzählerirr an dieser Stelle sehr wichtig.

Auf ähnliche Art explizieren auch andere Erzähler eine direkte Entsprechung zwischen sich oder zumindest der eigenen Sichtweise und der im Gedicht zum Ausdruck gebrachten Haltung, Erfahrung und Perspektive und positionieren sich auf diese Weise der Zuhörerin gegenüber. Sie sprechen auf der einen Seite von der eigenen Erfahrung und dem eigenen Standpunkt und stellen auf der anderen Seite ein Gedicht bzw. eine Stilrichtung vor, die dem zu entsprechen scheint. Herr H. nutzt beispielsweise in vielen Erzählungen und auch aktuell im Interview Gedichte, um seinen Glauben, seine Deutung der Welt und des Lebens zu veranschaulichen und auf den Punkt zu bringen. In den Interviews verwenden die Erzählerinnen die Gedichte zur Illustration ihrer persönlichen Sichtweise. Sie verhandeln aktuell im Sprechen über Gedichte ihre Selbst-, Fremdund Weitsicht, indem sie Gedichte explizit oder implizit als Deutungsmuster nutzen, also als Aussage einflechten, die einen Ausschnitt der

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TEIL 111 - EMPIRIE

Wirklichkeit oder diese als Gesamtheit deutet. Sie setzen sich selbst durch die Erwähnung und Heraushebung der Bedeutung des Werkes in Verbindung mit diesen Deutungen von sich und der Welt. Allerdings führen die meisten Erzählerinnen weder die persönliche Auffassung der in den Gedichten zum Ausdruck gebrachten Erfahrungen und Deutungen noch die Qualität des persönlichen Bezuges zu den Gedichten in so expliziter Weise aus, wie in dem oben vorgestellten Textbeispiel 39 ("Das war mein Lieblingsgedicht"). Im Gegenteil. Zumeist zeichnen sich die Passagen, in denen die Erzähler auf ein Gedicht Bezug nehmen durch eine große Deutungsoffenheit aus. Sowohl die Aussage des Gedichtes als auch der jeweils konstruierte Bezug zwischen der eigenen Person und jener Deutung und Erfahrung, die für die Erzähler in dem Gedicht zum Ausdruck kommt, bleiben meist sehr vage und schillernd. Sehr oft bleibt aufgrund der Deutungsoffenheit des Gedichtes gerade die Position, die mit dem Gedicht auf den Punkt gebracht werden soll, vollständig in der Schwebe. Selten nehmen die Erzählerinnen wie in der Textstelle 39 (" Das war mein Lieblingsgedicht") auf Protagonisten im Gedicht Bezug. Vielmehr schlüpfen die Erzähler in die Rolle dessen, der im Gedicht seine eigenen Gefühle oder Erlebnisse zum Ausdruck bringt. Die Deutungsleistung und Interpretation, was die Person mit dieser Aussage über eine Situation sagt, oder welche Lebensauffassung sie mit diesem Gedicht verbinden könnte, wird dem Gegenüber gelassen, wobei eine geteilte Sichtweise unterstellt wird. In der folgenden Interviewpassagen (re-)zitiert Frau B. ein Gedicht, das ihr offenbar wichtig ist. Die Bedeutung, die Frau B. dem Gedicht für die eigene Person zuschreibt, bleibt hier weitgehend unausgesprochen und unverbindlich. Die Textstelle soll veranschaulichen, wie auf diese Weise in einer eher indirekten Form der Selbstpositionierung zugleich ein Zeigen und ein Verhüllen stattfindet. Beleg 40: "Herbsttagebuch" (Frau B. S. 6 (11-28]) 1

E:

5 I: E:

10

15

« f > jaODER, ( . ) danngibts g edi c htedi e=e die=einem sehr sehr gut geFALLN, > irgend wie=die einen son LEben lAng beglEiten, em ( - ) WOBEI da kann=s dann manchmal auch- (-) die sprac hmeloDIE sein o der so das find i c h auch sehr fa sz iniErnd; hast du da gradeins vor AUGEN? JA das is aus=m herbsttagebuchvon (un v erständlich ) heißt das, (. ) em- (-- ) das g eht i rgendwie s o der aktober ist em- ( .) HIER , e r gehö rt IHR und s o geb i c h ihr diEsen monat und den nÄc hsten und weiß doch dass mein jahr Ihr gehört .. ~ em- (-) (-) GLÜCKklich durch sie = . hh em- (---)

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20

em- (6. 0 ) MH=deren SCHATTEN auf- (.) ALL meinen wänden (.) haftet; und tanzt, (-) findet. (.)

(2.0) oder em- (--)dann, ( .) war [#] auch ne begegnung mit lyrik. # da sin ja auch ganz tOlle gedichte=is KLAR,

Feinanalyse: ln der AufZählung unterschiedlicher Sorten von Gedichten eröffuet die Erzählerin in diesem Ausschnitt die allgemeine Kategorie von Gedichten, "die einem sehr gut gefallen, irgendwie die einen son Leben lang begleiten". In dem einschränkenden Zusatz, dass in diesem Zusammenhang auch die Sprachmelodie eines Gedichtes für dessen Bedeutung verantwortlieb sein kann, führt die Erzählerin einen unpersönlichen Stil weiter, und es wird durch die direkte Antwort nach der Frage der Interviewerin deutlich, dass die Erzählerin gar nicht von allgemeinen Erfahrungen mit Gedichten spricht, sondern ihre eigene Erfahrung in einer unpersönlichen, verallgemeinerten Form darstellt. Die lnterviewerin unterstellt dies mit ihrer Nachfrage und lädt darin die Erzählerin ein, ihre Aussage zu konkretisieren bzw. von ihrer persönlichen Erfahrung zu sprechen. Die Erzählerin nennt nun Titel und Autor des Gedichtes und beginnt dann mit der wörtlichen Wiedergabe des Gedichtes. Diese ist durch Stockungen, Pausen und eingeschobene Metakommentaren unterbrochen, in denen die Erzählerin ihre aktuellen Rekonstruktionsbemühungen verbalisiert. Sie beendet die Gedichtwiedergabe, indem sie noch einmal die Unsicherheit der genauen Textreproduktion markiert. Die Erzählerin liefert keine Deutung des Gedichtes. Nach einer sehr allgemein gehaltenen Bewertung des Gedichtes ("genau das ganz schön", Zeile, 20-21) geht die Erzählerin direkt weiter in ihrer Aufzählung. Ein eher zartes Liebesgedicht wird hier dezidiert unemotional gerahmt. Trotz der eingangs eröfti:J.eten Kategorie der persönlich über lange Zeit hin relevanten Gedichte bleibt die Bedeutung des Gedichtes für die Erzählerin deutungsoffen und unverbindlich. Auf diese Textstelle wird auch im folgenden Kapitel ::um (Re-) Zitieren ausführlich ::urückgegri.ffen und Form und Funktion der prosodischen Gestaltung und Rahmung der Gedichtwiedergabe analysiert.

Das vollständige (Re-)Zitieren hat in der vorgestellten Textpassage die Funktion, das Werk selbst sprechen zu lassen. Anstatt die persönliche Resonanz auf das Gedicht auszuführen, rahmt die Erzählerin das Gedicht als in sich geschlossenes Werk. Der Fokus bleibt nahezu vollständig werkbezogen. Sowohl die Darstellung des Gedichts selbst als auch des eigenen Bezugs dazu bleiben offen. ln Kapitel 2.4.3 wurde die Frage aufgeworfen nach dem Ziel des Weitergehens von Gedichten, die als persönlich relevant erachtet werden. Es wurde gefragt, was vermittelt werden soll, wenn ein eigenes Gedicht öffentlich gemacht wird oder ein rezipiertes Gedicht weitergegeben wird. Soll die eigene Erfahrung, Erkenntnis oder Stimmung mitgeteilt werden? 250

TEIL 111 - EMPIRIE

Oder soll beispielsweise im wörtlichen Wiedergeben eines Gedichtes dem Gegenüber die eigene Erfahrung "im Original" zugänglich gemacht werden? Die Passagen, in denen die Erzähler auf ein Gedicht Bezug nehmen, tragen alle - selbst wenn der persönliche Bezug so unverbindlich und unausgesprochen bleibt wie in der Textstelle 40 "Herbsttagebuch" - den Charakter einer Selbstoffenbanmg und Selbstpräsentation. Sei es das stolze und bildungsbewusste Verweisen auf eine Ballade oder das eher verhüllende Aufsagen eines Liebesgedichtes: Fast immer konstruieren die Erzähler das Vorstellen und Erwähnen von Lieblingsgedichten als das Zeigen eines persönlichen Schatzes, als das möglicherweise heikle Anvertrauen eines persönlichen Erlebnisses, als das Enthüllen der eigenen Meinung und Deutung der Welt. Diese Beobachtung ließe sich zum einen mit der Befürchtung erklären, für den eigenen Geschmack kritisch beurteilt zu werden: dass der eigene Geschmack vom Gegenüber nicht geteilt oder gar kritisch beurteilt wird. Allerdings greift diese Erklärung alleine vermutlich zu kurz. Das Erwähnen und Mitteilen von persönlich bedeutsamen Gedichten wird in den Interviews immer wieder als das Mitteilen persönlicher Erfahrungen verstanden: Lebenserfahrungen, die eigene Welt- und Selbstsicht haben in einem Gedicht einen besonders prägnanten Ausdruck gefunden und können über das Gedicht dem Gegenüber mitgeteilt werden. Sprachlich zeichnet sich diese Vermittlung jedoch durch eine große Deutungsoffenheit aus - obwohl es paradoxerweise um die Mitteilung eines treffenden sprachlichen Ausdrucks des eigenen Erlebens geht. Oft verbinden die Erzähler auch mit dem Lesen und Hören eines Gedichtes besondere Erfahrungen, nehmen Bezug auf die damalige Situation und vergegenwärtigen sie im Erwähnen oder (Re-)Zitieren des Gedichtes. In den beiden folgenden Unterkapiteln soll eine weitere Annäherung an mögliche Antworten verfolgt werden.

3.1.4 Zusammenfassung In diesem Unterkapitel standen die aktuellen Selbstpositionierungen der Interviewpartnerinnen im Mittelpunkt. Es wurden drei Wege herausgegriffen und vorgestellt, die die Interviewpartnerinnen im Sprechen über ihren Bezug zu Gedichten nutzen, um ein Bild von der eigenen Person zu zeichnen: wie sie aktuell von ihrem Gegenüber als Mensch gesehen und verstanden werden möchten. In der Gestaltung der narrativen Interviews steht den Interviewpartnerinnen ein großer und komplexer Erzähl-Raum zur Verfügung, den eigenen Umgang mit Gedichten zu beschreiben und in Erzählungen zu veranschaulichen. In der Wahl des Interviewortes und der persönlichen Auffassung und Gestaltung der Interviewsituation kann sich nicht nur das

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Verständnis von Gedichten zeigen, sondern auch das Selbstverständnis der Interviewpartnerinnen. In der jeweiligen Wortwahl, der Nutzung von Stilmitteln, den persönlichen Themenschwerpunkten, sowie der Wahl der Geschichtenmuster und Gesamtverläufe zur Darstellung des eigenen biografischen Bezuges zu Gedichten stehen den Erzählerinnen eine Vielzahl an Registern zur Darstellung ihrer eigenen Person zur Verfügung. Sie schaffen so einen bestimmten Hintergrund, ein persönliches Koordinatensystem, in dem sie ihren Bezug zu Gedichten und gleichzeitig die eigene Person verorten. Die Erzählerinnen spielen in ihren Darstellungen außerdem auf eine Vielzahl von Klischees an. Die Erzählerinnen skizzieren konkrete Personen, sich selbst in der Vergangenheit oder allgemeine Typen von Gedichtlesenden und entwerfen sich selbst und die eigenen Handlungen und Eigenschaften in Abgrenzung von diesen Typen oder Personen. Folgende Klischees finden sich in den Interviews: Der Umgang mit Gedichten wird als pubertäre Schwärmerei oder als Wald- und Wiesenromantik beschrieben; Personen werden als Dilettanten oder als Blender mit unlauteren Motiven dargestellt; oder Erzählerinnen spielen auf das Klischee des Umgangs mit Gedichten als kunstmissbrauchende Therapie und auf die Abgeschiedenheit im Stillen Kämmerlein oder im elitären Elfenbeinturm an. Die Erzählerinnen nutzen die stilisierenden Anspielungen zumeist humorvoll als Gesprächsressource. Sie dienen der Unterhaltung, als soziale Kategorisierung der Schaffung einer gemeinsamen Basis mit der Zuhörerin und der Vergewisserung, das eigene Selbstverständnis in pointierter und verschärfter Weise deutlich gemacht zu haben. Abschließend wurde dargestellt, wie die Erzählerinnen im Bezugnehmen auf einzelne Gedichte sich selbst aktuell positionieren. Die Erzählerinnen nennen, beschreiben oder (re-)zitieren ein Gedicht und schreiben ihm eine bestimmte Bedeutung fiir die eigene Person oder die eigene Lebensgeschichte zu. Sie setzen sich dabei in Verbindung mit einer bestimmten Erfahrung bzw. einer bestimmten Deutung der Wirklichkeit, die sie als in dem Gedicht zum Ausdruck gebracht betrachten. Das Ausmaß, in dem diese Zusammenhänge explizit gemacht werden, ist sehr unterschiedlich. Häufig ist die Bezugnahme auf die Gedichte durch zahlreiche Brechungen und Ebenenwechsel gekennzeichnet. Zumeist bleiben diese Textpassagen vieldeutig, obwohl die Gedichte von den Erzählern gerade als pointierter Ausdruck ihrer Erfahrung oder Deutung eingesetzt oder als eine Enthüllung von etwas Persönlichem gerahmt werden. Dieses Phänomen- die sprachliche Form und die damit verbundene kommunikative Funktion des Bezugnehmens auf Gedichte - wird im folgenden Unterkapitel in einer vertiefenden Betrachtung des Sprechens über das Gedicht von Jimenez im Interview weiter herausgearbeitet.

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3. 2 Das Sprechen über Gedichte im Spannungsfeld zwischen Subjektivierung und Verallgemeinerung Im Folgenden geht es noch einmal speziell um das Sprechen über das vorgelegte Gedicht von Jimenez. An verschiedenen Stellen in dieser Arbeit wurde bereits auf die Komplexität der Textsorte in diesem Interviewteil hingewiesen. Die Interviewpartner bearbeiten hier vielfältige Perspektiven, verweben diese miteinander, es finden sich Sprünge, Erklärungslücken etc. Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, diesen Phänomenen ein Stück auf die Spur zu kommen - und zu weiterer Forschung zu motivieren. Zunächst wird die Vielfalt der von den Interviewpartnerinnen entwickelten Lesarten und Deutungen zum Gedicht aufgezeigt und die jeweils sehr individuellen Bilderwelten und Formulierungen der Interviewpartnerinnen werden vorgestellt (3 .2.1 ). In einem zweiten Schritt soll gezeigt werden, wie die Interviewpartnerinnen den jeweiligen Geltungsanspruch für ihre Deutungen rahmen und wie in das Sprechen über das Gedicht unterschiedliche implizite Vorannahmen mit einfließen (3.2.2). Abschließend werden zwei besondere sprachlich-kommunikative Phänomene näher betrachtet (3.2.3). Zur richtigen Einordnung des Folgenden soll noch einmal kurz der Rahmen der folgenden Interviewpassagen betont werden . Es handelte sich dabei nicht um eine Prüfungs- oder Schulsituation, sondern eine Gesprächssituation, in der das Gegenüber empathisch und interessie1t die Entfaltung der eigenen Relevanzsetzungen begleitete. Die Sprechaufforderung war die Frage nach der persönlichen Resonanz auf das vorgelegte Gedicht. Es wurde also nicht eine Sicht von außen oder eine distanzierte, nüchterne Interpretation erfragt22 , sondern die eigenen Bilder, Assoziationen und Gedanken zum Gedicht.

3.2.1 Ein Gedicht- elf Bilderwelten In Kapitel 1.2 wurde dargestellt, welche Aufgaben sich die Interviewpartner im Sprechen über das Gedicht stellen, d.h. mit welchen Fragestellungen sie sich dem Gedicht nähern . Hier wurde u.a. die Fragestellung 22 Dass Tnterviewpmtner dies z.T. trotzdem versuchen lässt sich dagegen als Beleg sehen, dass die Interviewpartner nicht nur einer für sie möglicherweise seltsam erscheinenden Frage gefolgt sind und etwas für sie völlig Fremdes gemacht haben, sondern dass die Interviewführung es ihnen ermöglichte, im jeweils eigenen Stil ein Gedicht zu lesen und darüber zu sprechen.

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erwähnt, das Thema des Gedichtes zu formulieren ("worum geht es?"; vgl. 1.2.1 ). Es wurde auch gezeigt, dass die Interviewpartner das Gedicht und die Aufgabe über das Gedicht zu sprechen vor ihrem je sehr eigenen Horizont wahrnehmen (das Gedicht als Rätsel, als Objekt der Kritik etc. vgl. 1.2.1). An dieser Stelle geht es nun um die Vielfalt der Themen, Assoziationen, Bilder und Deutungen, die die Interviewpartner zu dem Gedicht erwähnen. Zunächst sollen unterschiedliche Deutungen panoramaartig dargestellt werden (I). Es werden dann Variationen in der Darstellung dieser Deutungen aufgezeigt (2). Daraufhin werden exemplarisch an zwei Interviewausschnitten Aspekte der besonderen Formulierungsarbeit der Interviewpartner bei der Formulierung des Gedichtthemas angeschnitten (3). (1) "Worum geht es in dem Gedicht?" Wie in Kapitel 1.2.1 erwähnt wurde, nehmen alle Interviewpartnerinnen Stellung zum Thema des Gedichtes. Sie stellen sich selbst also die Frage "worum geht es in dem Gedicht?". Bei der Beantwortung dieser Frage gehen sie auf das allgemeine Thema des Gedichtes ein, auf Erfahrungen, die sie im Gedicht thematisiert sehen oder auf eine konkrete Szene, die sie als Plot des Gedichtes beschreiben. Häufig beantworten die Interviewpartnerinnen auch implizit durch die Schilderung biografischer Erfahrungen oder durch Stimmungen, Bilder, Assoziationen die Frage nach dem Thema des Gedichtes. Wie in diesen Formulierungen bereits deutlich wird, ist in den Darstellungen der Erzählerinnen der Übergang zwischen einer Beschreibung des Gedichtes und den eigenen Assoziationen und Deutungen zu dem Gedicht fließend. Wie sich diese z.T. sehr schillernden Übergänge gestalten, ist Thema von Kapitel 3.2.2. Hier sollen zunächst aus den Interviews kurze Momentaufnahmen herausgeschnitten werden, in denen die Erzähler Aussagen zum Thema und einem möglichen Plot des Gedichtes treffen. Trotz des Wissens um die Deutungsoffenheit des ausgewählten Gedichtes überraschte im Zuge der Interviewfiihrung und Auswertung die Vielfalt der Deutungen der Erzähler. Ein Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass häufig die konkreten Bilder der Erzähler erst auf Nachfrage hin nachvollziehbar waren, sie von den Erzählern jedoch als geteilte Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wurden (vgl. 3.2.2). So bildeten die Nachfragen der Interviewerirr in Anschluss an die spontanen Ausführungen der Interviewpartner eine Aufforderung, die eigenen Bilder und Deutungen zu konkretisieren. Als besonders aufschlussreich erwies sich die Frage nach den zweimal im Gedicht thematisierten Händen. Im Beantworten dieser Frage wurde oft deutlich, 254

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den. Im Beantworten dieser Frage wurde oft deutlich, wie die Erzähler den im Gedicht thematisierten Abschied auffassten. An der Frage nach den Händen entfalteten sich die Aspekte, ob jemand weggeht und wenn dann warum; ob der Abschied in Einverständnis geschieht oder von jemandem/etwas erzwungen wird, aus wessen Perspektive geblickt wird, wessen Hände beschrieben werden, was die Qualität und Tätigkeit dieser Hände ist, ob die Hände des ersten Verses dieselben sind wie die des 1etzten Verses etc. 23 Im Folgenden werden einige Szenen und Deutungen der Interviewpartner zum Gedicht (zu einzelnen Formulierungen, Versen oder dem gesamten Gedicht) rekonstruiert. Die folgenden Szenen sind zum Zwecke der Anschaulichkeit aus ihrem jeweiligen kommunikativen Kontext gelöst und liefern so weniger ein Bild der Hauptlesarten der Interviewpartner (und werden diesen in der starken Verkürzung auch nicht gerecht) als vielmehr ein Panorama unterschiedlicher zu irgendeinem Zeitpunkt und Zweck in den Interviews genannten Szenen. Ebenso zum Zwecke der Anschaulichkeit werden hier nur kurze Zusammenfassungen präsentiert. Die unterschiedlichen Wege, in denen die Interviewpartner die oben genannten Aspekte beantworten (Wer geht? Warum? Wessen Hände sind beschrieben? etc. ), wird der Darstellung schematisch zu Grunde gelegt. Dabei wird keineswegs unterstellt, dass die Beantwortung dieser Fragen eine notwendige Bedingung zur Interpretation des vorgelegten Gedichtes darstellt. Sie werden hier lediglich zur Veranschaulichung der Vielfaltigkeit der Interpretationen als konkrete Vergleichsdimensionen genutzt. Vor dem Hintergrund dieser konkreten Szenen interpretieren viele Interviewpartner das Gedicht ohnehin - erstaunlicherweise ohne jedoch immer wieder diese Szenen direkt zu explizieren und somit den Kontext auch der allgemeineren Ausführungen mitzuteilen (vgl. 3.2.2) Folgende Szenen finden sich (verkürzt dargestellt) in den Darstellungen: • Herr E. bringt angeregt durch das geschlossene Gittertor im Gedicht das Bild von einer " belagerten Stadt", das er selbst einmal in einem eigenen Gedicht verwendet habe. Er zeichnet das Bild, dass man belagert werde, man sich von der "wirklichen Welt" distanziere, die Stadttore schließe, man allerdings die Erinnerung und die verpassten Gelegenheiten mit sich herumtrage und diese nicht fließen lassen könne. Er spricht von einem "Selbstschutzmechanismus" und kennzeichnet das, was er sagt, als eine all23 Tm Gedicht bleiben diese Fragen weitgehend offen. Die Subjekte des Gedichtes bleiben deutungsoffen ("Hände", "Man", "das Herz und das Feld") und bis auf den mittleren Vers ("hat geschlossen", "kreuzen") gibt es keine Verben. Zu einer "objektiven Hermeneutik" des Gedichtes siehe Charlton und Sutter (2007).

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• •



gemeinmenschliche Erfahrung. Außerdem malt er kurz ironisch eine stilisierte, etwas pathetische Abschiedsszene aus, in der sich der "holde Jüngling und die traute Maid" umarmen. Hier inszeniert er einen kurzen Dialog zwischen den beiden. Der Jüngling reitet dann davon und herzblutend über die Felder. Schließlich nennt er die Situation, dass man von einer Person zu sehr vereinnahmt wurde, diese Person geklammert habe und man dann weggegangen sei, weil es einem zuviel wurde. Man könne sich von der Person zwar abgrenzen, die Erinnerungen und Bilder kämen aber dennoch wieder. Frau A. findet in dem Gedicht eine eigene Abschiedserfahrung ausgedrückt. Es ist ftir sie der endgültige, schmerzliche Abschied in einer passionierten Partnerbeziehung. Die Hände im ersten Vers versteht sie als die Hände ihres Gegenübers, der sie sanft wegschickt. Die Hände im letzten Vers sind ihre eigenen liebenden Hände. Da dieser Abschied für sie schmerzlich ist und so nicht gewollt, sie ihn aber hinnehmen muss, verortet sie in sich selbst die Gewalt, mit der sie sich losreißen muss. Dennoch sieht sie gleichzeitig "ein Akzeptieren und ein Nichtakzeptieren" dieses Abschieds im Gedicht ausgedrückt. Herr F. nennt keine Bilder und Deutungen zu dem Gedicht und kritisiert lediglich den mittleren Vers. Herr G. beschreibt das Bild einer weiten hügeligen Landschaft, das Tor sei geschlossen und er gehe in der Abenddämmerung ins Feld hinein, "in die Zukunft". Diese Situation habe einerseits etwas reizvolles, andererseits schließe man damit auch etwas ab. Man habe entschlossen einen Schlussstrich gezogen, die Hände hätten etwas wie gewaltsam zugestoßen, wie Kaugummifaden würde man jedoch nun Erinnerungsfaden in den Händen mit sich ziehen und diese auch gar nicht loslassen. Er nennt beispielsweise den Abschied vom Elternhaus und von Phasen. die man zwar hinter sich lasse, die man jedoch nie ganz hinter sich lassen könne. Dies sei durch ambivalente Getlihle gekennzeichnet, und man sei zwar frei und selbständig, träume sich aber auch ab und zu wehmütig zurück, selbst wenn man die Vergangenheit gar nicht mehr wiederherstellen könne und wolle. Frau D. sagt, dass sie - nachdem sie zunächst gedacht habe, es ginge um einen realen Abschied - den Abschied nicht als einen Abschied von Person zu Person verstehe, eher als den Abschied von einem inneren Gefühl. Es könne um das Loslassen von etwas gehen, das man loslassen möchte, es aber gar nicht loslassen könne. Der Abschied sei zwar äußerlich abgeschlossen aber innerlich sei er es aufgrundder Einsamkeit und Beharrlichkeit nicht. Dies könnte Abschied von einem selbst sein, oder auch von Phasen, in denen die eigenen Kinder im Laufe des Lebens sind. Das Ende einer Phase, das Gittertor, werde dabei von außen gesetzt.

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Frau C. fühlt sich zunächst an eine Szene aus einem Theaterstück erinnert, in der sie Becketts Vinny gespielt habe und bis zum Hals im Sand eingegraben gewesen sei und geredet habe, um nicht zu sterben. Anschließend imaginiert sie zum ersten Vers z.B. die Szene, in der ein Gefangener bevor er in die Todeszelle geht mit den Händen an den Gitterstäben rüttelt und rausbrüllt Während sie mit den Händen im ersten Vers noch physische Gewalt verbindet, versteht sie die Beharrlichkeit der Hände im letzten Vers als mentale Gewalt. Diese Hände sieht sie symbolisch. Sie stehen ftir ein nicht Weggehenkönnen, ein nicht Loslassenkönnen, ein nicht Akzeptierenkönnen. Man könne einen Menschen, ein Erlebnis, eine Tat nicht gehen lassen. Es seien Gedanken, mit denen man sich verrückt mache und mit denen man gedanklich festkralle. Herr H. spricht allgemein von Abschieden und nennt zahlreiche kurze Assoziationen, wobei er sich im Laufe des Interpretierens von anfangs gewaltsamen Assoziationen hin zu Assoziationen bewegt, in der Trauer, Bewältigung, gar Dankbarkeit im Vordergrund stehen. So nennt er zunächst die Vorstellung, gewürgt oder gestoßen zu werden. Die Hände im ersten Vers versteht er körperlich, er spricht von einem Ringen und stellt sich ein Liebespaar vor, das aus Verzweiflung aufeinander eingedrungen ist. Dies inszeniert der Erzähler auch verbal. Er überlegt, ob er beim Gittertor in einem Gefängnis eingeschlossen sei oder ob der andere sich eingeschlossen habe. Er beschreibt die Ambivalenz zwischen diesem Gefängnis und dem freien Feld. Zudem spricht er vom Kreuz und vom Lebenskreuz. Frau I. beschreibt das Bild, dass sich in der Feme das Herz und das Feld in einem Schmerzpunkt kreuzten und sich die Einsamkeit endlos in die Ferne dehne. Später nennt sie konkretere Assoziationen, beschreibt schmerzliche Momente des Abschiednehmens, wenn sie für ein paar Tage wegfuhr und sie sich von ihrem Mann schmerzlich losreißen musste. Die Hände im letzten Vers beschreibt sie als Hände, die sie beharrlich am ganzen Körper anfassen, und die sie selbst wenn sie wollte gar nicht abschütteln könne. Herr J. nennt zunächst Assoziationen zum Gedicht und erwähnt kurz das Bild von einem Abschied bevor jemand in den "Knast " gehen muss und dann das Bild, dass jemand gestorben sei und die gefalteten, betenden Hände könnten die Hände des Erinnems aus dem letzten Vers sein. Ein weiterer Erzähler, Herr K. beschreibt den Moment, in dem man erst beim Händedruck während des Abschiednehmens realisiert, was einem der andere Mensch bedeutet. Frau B. beschreibt das Bild einer Abschiedsszene aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Sie stellt sich eine sehr schöne, zarte, weiße Hand vor, die zum Abschied beim Gittertor geküsst wird. Die Geliebte und der Mann, der Autor, gehen beide hinaus, der Mann macht einen Spaziergang und kehrt dann zum Gittertor zurück. Dies Gittertor beschreibt die Erzählerirr als

257

VOM NUTZEN DER POESIE

Dreh- und Angelpunkt des Gedichtes (auch in der Konstruktion des Gedichtes). Der Mann erinnert sich immer wieder an die Hände der Geliebten, wobei dieses Erinnern etwas bedrängendes und schweres hat und sie die Atmosphäre eher als kühl und negativ beschreibt.. Sie versetzt sich dann kurz in die Rolle der Frau. Zu einem späteren Zeitpunkt überlegt sie, die Hände auch metaphorisch für die Berührung in der Begegnung zu verstehen. Diese Erzählerin greift zusätzlich das Bild des Feldes auf und spricht von der angenehmen Vorstellung (die sie schon im ersten Interviewteil hiervon unabhängig erwähnt hatte) über ein Feld zu rennen und etwas rauszuschreien. Abschließend erprobt die Erzählerin noch weitere Lesarten, es könne beispielsweise auch der Händedruck in einer politischen Begegnung sein. •

[ ... ] 24

Dieser Überblick veranschaulicht die überraschende Vielfalt der unterschiedlichen Auslegungen zu einem Gedicht, bei denen es doch auch wiederkehrende Motive und Deutungen gibt. Dabei mögen jedoch einzelne Lesarten - in dieser Weise verkürzt dargestellt und soweit dies überhaupt möglich war aus dem jeweiligen kommunikativen Aneignungsprozess herausgelöst - zunächst befremdlich bis abstrus erscheinen vor dem Hintergrund einer möglicherweise sehr anderen eigenen Lesart. In ihrem jeweiligen Kontext ergeben diese Szenen fllr die Interviewpartner aber durchaus einen Sinn. So spricht dieser Überblick für die Notwendigkeit, bei der Analyse solcher Rezeptionsprozesse die kommunikative Einbettung einer Deutung zu einem Werk und den jeweiligen Kornmunikationsprozess mitzubetrachten! Außerdem ist eine weitere Beobachtung erwähnenswert: In dem ausgewählten Gedicht gibtes-im Vergleich beispielsweise zu Romanenkeine konkreten Subjekte, keine klaren Protagonisten. Dennoch sprechen fast alle Interviewpartner von handelnden Subjekten und schildern mehr oder minder stringente Abschiedsszenen als Thema des Gedichtes. In diesen Abschiedsszenen füllen die Interviewpartner-in ihrer jeweiligen Weise - immer wieder die offenen Stellen des Gedichtes (wer hat das Gittertor geschlossen? Wer geht? etc.) und konstruieren klare Antworten auf diese Fragen. In gewisser Weise erschaffen sich die Erzähler ihre Protagonisten selbst und positionieren sich darüber hinaus diesen gegenüber. Sie identifizieren sich mit diesen Protagonisten oder grenzen sich beispielsweise sehr von ihnen ab.

24 Diese Darsteilung ließe sich sicher noch durch weitere eigene Szenen und Deutungen zum Gedicht ergänzen: sei es von Seiten der Autorin dieser Arbeit oder durch die Leserinnen und Leser. 258

TEIL 111 - EMPIRIE

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nahezu alle Interviewpartner dem Gedicht einen Sinn unterstellen. Sie sprechen so über das Gedicht, dass die geschriebenen Worte potentiell einen Sinn machen können. So wird in beiläufigen Bemerkungen deutlich, dass sie zumindest dem Autor unterstellen, dass das Schreiben dieser Zeilen für ihn einen Sinn gemacht haben wird (besonders dann, wenn sie selbst diesen Sinn nicht erschließen können); ebenso behandeln sie die Anfrage der Interviewerin, über das Gedicht zu sprechen als potentiell sinnvolle Aufgabe (nur gelegentlich ließe sich die mehr oder minder direkte Kritik des Gedichtes als eine Kritik an der Auswahl des Gedichtes und am Sinn dieses Werkes und der Aufgabe selbst verstehen). In ihren je eigenen Herangehensweisen an das Gedicht (sei es als das Lösen eines Rätsels, als das Einschätzen der Aussage des Gedichtes, als das Kritisieren des Werkes etc.) nähern sich die Interviewpartner den Zeilen mit einer potentiellen Sinnunterstellung bzw. sie ziehen nicht die Sinnhaftigkeit der Fragestellung des Interviewteils in Zweifel. Sprachlich-metaphorisch zeigt sich diese Sinnunterstellung wiederholt in der Formulierung, dass in dem Gedicht etwas "drin" sei, bzw. Nachdenken darüber, was es nun gerrau sei, was in dem Gedicht "drin" sei.

(2) Variationen in der Darstellung der Deutungen Die Darstellungen der eben beschriebenen Szenen und Deutungen variieren sehr in der Art der jeweiligen Einbettung. Folgende Unterscheidungsdimensionen lassen sich heranziehen: • Die Anzahl der genannten Szenen unterscheidet sich: Während einige Tnterviewpartnerinnen mehrere verschiedene Bilder und Deutungen entwickeln, die entweder als gleichwettige Perspektiven nebeneinander stehen oder nacheinander aufeinander aufbauend entfaltet werden, bleiben die Bilder anderer Interviewpartnerinnen weitgehend gleich und werden nur in Nuancen abgewandelt. • Die Deutungen der Tnterviewpmtnerinnen unterscheiden sich im Aujlösungsgrad: Zum Teil werden Szenen über mehrere Seiten immer weiter ausdifferenziert, während andere in 2 Sätzen kurz als Möglichkeit formuliert werden. • ln die jeweiligen Szenen und Deutungen sind die Interviewpartner in unterschiedlichem Ausmaß selbst involviert: Während sich ein Interviewpartner beispielsweise durch das Gedicht zu einem Bild inspirieren lässt, in dem er selbst der Protagonist ist und durch eine Landschaft läuft, ist bei einer anderen Interviewpmtnerin das Gedicht Ausdruck einer ganz konkreten biografischen Erfahrung und drückt ihre eigene Gefühlslage in dieser Situation aus. Eine dritte Interviewpartnerin spricht in eher globaler Weise von einer allgemeinmenschlichen Erfahrung, die sie selbst auch macht und die sie im

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Gedicht zum Ausdruck gebracht sieht. Eine weitere Interviewpartnerin beschreibt aus einem großen Abstand eine eher historische Szene als Plot des Gedichtes und versetzt sich im Konjunktiv an einer Stelle im Interview kurz in die Situation einer Protagonistirr dieser Szene (siehe auch (4)). 25 Die Darstellungen unterscheiden sich außerdem sehr in ihrem Gültigkeitsanspruch: Werden die Szenen und Deutungen als Vorschläge gemacht, als persönliche Assoziationen zum Gedicht, als eine objektive Auslegung des Gedichtes etc.? Dieser Aspekt, der in den Darstellungen selten als ein Entweder/Oder vorliegt, sondern vielmehr immer wieder changiert, steht unter 3.2.2 im Mittelpunkt.

(3) Prozesse der sprachlichen Scharfstellung/Ausdifferenzierung Im Folgenden sollen zwei Textausschnitte vorgestellt werden. Zunächst sollen diese Interviewausschnitte die Komplexität der Textsorte im zweiten Interviewteil und die Verwobenheit unterschiedlicher Perspektiven auf das Gedicht veranschaulichen. Außerdem soll an den Textbeispielen ein Phänomen aufgezeigt werden, das hier als Prozess der sprachlichen Scharfstellung bezeichnet werden soll. Zu einem späteren Zeitpunkt (in Kapitel 3.2.2) wird anhand der hier vorgestellten Textbeispiele außerdem herausgearbeitet, dass und wie die Interviewpartner im Sprechen über das Gedicht den Gültigkeitsanspruch markieren, den sie ftir das Gesagte erheben, und wie sie in schillernder Weise das Verhältnis zwischen der eigenen Aussage und einer wie auch immer aufgefassten Realität des Gedichtes (z.B. eine "objektive" Gedichtinterpretation, das vom Autor "Gemeinte" etc.) modalisieren. Einige Passagen, in denen die Interviewpartner über das vorgelegte Gedicht sprechen und das Thema des Gedichtes bzw. Bilder zu dem Gedicht ausfUhren, zeichnen sich durch sprachliche "Suchbewegungen" aus: Die Interviewpartner sprechen häufig sehr vage ("irgendwie" etc.) und deutungsoffen, es finden sich vermehrt Pausen und Konstruktionswechsel, der Sprechfluss stockt etc. Häufig fehlen die Subjektive, die Bezüge bleiben ftir die Zuhörerirr unbestimmt. Daneben bzw. oft im Anschluss an diese eher diffusen Passagen verwenden die Interviewpartner präzise Formulierungen und zeigen einen sehr differenzierten Sprachgebrauch. Bei der Verwendung bestimmter sprachlicher Formulierungen markieren die Erzähler deutlich, dass diese Formulierungen exakt ihre eigenen inneren Bilder und Vorstellun-

25 Diese unterschiedlichen Darstellungen lassen sich auch als unterschiedliche Formen der Identifikation mit einem Protagonisten interpretieren. Dies kann im Rahmen dieser Arbeit nicht vertieft werden. 260

TEIL 111 - EMPIRIE

gen treffen und präzise abbilden. Indem sie diese einmal gefundenen Formulierungen und Sprachbilder im weiteren Verlauf selbst immer wieder aufgreifen und z.T. noch weiter ausdifferenzieren zeigen sie, dass sie diese als angemessen und adäquat ansehen. In den beiden folgenden Interviewausschnitten spezifizieren Herr G. und Frau A. aufNachfrage der Interviewerirr hin, wie sie die im Gedicht erwähnten Hände in ihrer eigenen Lesart auffassen. Zunächst wird eine Passage aus dem Interview von Herrn G. vorgestellt. An dieser Stelle soll zunächst nur darauf hingewiesen werden, wie Herr G. in mehreren Etappen ein bestimmtes Bild zu dem Gedicht sprachlich ausdifferenziert und immer konkreter werden lässt. Unter 3.2.2 und 3.2.3 wird die Textstelle noch einmal aufgegriffen, um die Modalisierung der eigenen Lesart und die implizite Annahme zu veranschaulichen, dass die Interviewerin Aspekte der eigenen Lesart des Gedichtes bereits kennt. Beleg 41: "Kaugummif:iden" (Herr G.: S. 19 [8-35]) 1

E:

5

10

I: E: 15 I:

E: 20

I:

25 E: I:

E:

30

man hat da entSCHLOSSn- (.) auch mal n SCHLUSSstrich gezogen vielleicht dA un und MERKT aber trotzdem wie es einen wieder EINho lt ne , # wie diese glEichn, .h (-) HÄNde die des auch so gewAltig Zustoßen eben aber auch so ganz . hh diese FÄden aber doch so- (. ) MITziehn durch die GITtertore dUrch- # dass dazu aber diese eriNnerungsfÄden die ziehn s i e DOCH ganz ## beHARRlich mit sich, und werden s ie auch gar nicht LOS, ne# WAS äh was- ( .) wie siehst du die HÄNde ? (.) wenn du so- (3.1) .hh ja des des hab ich so geDACHT, (-) des ist sc des BILD, (.) also we il Ich so konkrEt , (.) also das GITtertor mach ich Einfach- (.) mit der hAnd ZU und=mAchst du mit [der hand zu, mhm-) [mit der hand) ZU## und- (.) ebn- (.) was ich MITnehme dass ne=k=nehm ich ja auch wenn i ch grad auf dem (RÜCK) nehm ich= s mit der HAND# also, (.) so ganz BILDlich k onnt i ch mir tatsÄchich wie so KAUgummiFÄden zum beispiel [oder so was, (.) oder ode r) [((lacht )) mhm, mhm,) sOnst so [geWEBtes; ( . ) aber,) [mhm , so ( ... ) mhm,) GERne KAUgummi, (.) der sich da so# da ZIEHT, (.) und diehÄnde lassen das behArrlich auch gar nicht LOS, ne- #und de swe - dawar die HAND, ( . ) die des mitZIEHT, (.) für mich gAnz- (--) PASsend # eigentlich bei der- ( --) sAche da auch , also(-) KEine Ahnung wie es nun WIRKlich gemeint ist, (.) aber-

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VOM NUTZEN DER POESIE

Hier entwickelt der Erzähler also ein sehr plastisches, individuelles Bild, was an dem Aspekt der Spezifizierung der von ihm erwähnten "Fäden" sehr anschaulich wird: Er spricht zunächst davon, dass die Hände "diese Fäden[ ... ] mitziehen", dann spricht er von "Erinnerungsfaden", die dann zu "Kaugummifaden" werden. Hier wägt er noch die Beschaffenheit der Fäden ab und kommt über "Gewebtes" wieder zum "Kaugummi", den er nun noch einmal näher bestimmt durch die Qualität "der sich da so da zieht". Der Erzähler zeigt sich selbst etwas verblüfft und amüsiert über das Ausmass der Konkretheit und Originalität seines Bildes. Der folgende Interviewausschnitt steht an einer bereits fortgeschrittenen Stelle des Sprechens über das vorgelegte Gedicht. Frau A. hat hier bereits eine mehrphasige Auseinandersetzung mit dem Gedicht hinter sich: die erste Phase, in der sie sich stark berührt zeigt von dem ihr bereits vorher bekannten Gedicht, die folgende Phase, in der sie zunächst auf einem abstrakten Niveau das Thema des Gedichtes zu formulieren versucht und schließlich den biografischen Hintergrund ihres Bezuges zu dem Gedicht darstellt. Nachdem die Erzählerirr daraufhin ihre aktuelle weiterführende Resonanz auf das Gedicht exploriert hat, stellt die Interviewerin an dieser Stelle die Frage nach den im Gedicht erwähnten Händen. In dem folgenden Interviewausschnitt soll hier der Prozess der sprachlichen Ausdifferenzierung aufgezeigt werden, in dem Frau A. erläutert, von wessen Händen in ihrer Lesart des Gedichtes die Rede ist, und in dem sie- sprachlich um große Exaktheit bemüht- die emotionale Qualität beschreibt, die die Aktionen dieser Hände für sie haben. Auch dieser Ausschnitt wird unter 3.2.2 noch einmal aufgegriffen im Hinblick auf den Geltungsanspruch, den die Erzählerirr für ihr Bild erhebt. Beleg 42: "Wegschickende Hände" (Frau A.: S. 33 [14-42)) 1

I: E:

5 I: E: 10 I: E:

15 I: E:

wie liEst du denn in bezugdarauf die h ände hier? (4.0) im gedicht?>(4.0) ja vie=vielleicht schOn (---) hände die ich Eigentlich liebe, aber die mir jetzt wegschicken nicht wegSTOßEN ( -) a=also der gewalt ist nur in MIR, weil ich muß mich gewAltsam LOSrei ßen; ja aber die WIRKlichenhände die (.) die sind hier schOn DIE (1.8) die WEG ( ---) ja wegschickende händehier # # also (2 . 0) h=hm ( ---) ja das das war meine frage . ja (1.5) OBWOHL das NATÜRlich ( --) also rein (.) objektiv gesehen es nicht so sein müßte, in dies em gedieht. aber= =NE ist auch die [frage was das für dich für] [für mich] (--) JA für mich sind es e he r wegschickende hände; zwar SANFTwegschickende aber (-) also (-) unter ((klei n e s La-

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TEIL 111 - EMPIRIE

20 I:

E:

25 I:

E:

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chen)) das ist (---) wirklich so sanftwegschickend, aber für mich is t es (--) ja ist es ( --) also (---) sind die gefühle sehr schmerzlich; oder? # also (--) die GEWALT ist in MIR, und nicht in den hÄnden; # obwohl das hier jA (---) zu Hände gehört; h=hm h=hm (---) und die zwEiten? (3.0) das sind vielleicht mEine Eigenen hände denn (-) dann (-) die=die sich erinnern. (1.5 ) und die sind ja eher (3.5) ja die sind dann eher sanfte hände.

Die Erzählerirr unterscheidet hier sehr differenzie1i die emotionalen Qualitäten der Hände, wie sie sie auffasst. Sie charakterisiert die "wirklichen Hände" als Hände, die sie wegschicken. Dieses "Wegschicken" greift sie im weiteren Verlauf wiederholt auf, signalisiert damit, dass sie diese Bezeichnung für angemessen und treffend hält, und bestimmt es näher ("nicht wegstoßen"; "sanftwegschickende"; "die Gewalt ist in mir und nicht in den Händen"). ln ähnlicher wie in der hier dargestellten Weise finden sich in allen Interviews ein sprachliches Herantasten, das in z.T. sehr spezifische Formulierungen, Bilder etc. mündet. Diese Prozesse lassen sich als sprachliche Aneignungsprozesse verstehen. Von einem stillen Lesen und Assoziieren zu einem Gedicht kommt es hier in der Kommunikation mit einem Gegenüber zu sprachlichen Suchbewegungen, um die eigene Lesart zu explizieren. 26 ln dieser Weise sind - mal kleintlächiger, mal über etwas längere Passagen - Prozesse einer sprachlichen Scharfstellung, sozusagen einer Feinabstimmung zu finden. Bei bestimmten Formulierungen markieren die Interviewpartner dabei die Adäquatheit der eigenen Formulierungen. Hier zeichnen sich einzelne Formulierungen und Begrifflichkeiten oft durch eine sprachliche Innovation und Spezifität (z.B. Kaugummifäden) aus. Die Interviewpa1iner zeigen durch Betonungen, Wiederholungen etc. die eigene Gewissheit an, dass bestimmte Formulierungen angemessen sind, um die eigenen Assoziationen und inneren Bilder zu dem Gedicht auszudrücken. Auf sprachlicher Ebene lässt sich inmitten von vieldeutigen, vagen und schwer zu verstehenden Passagen diese Klarheit und

26 Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, in wieweit die Bilder der Tnterviewpartner schon beim Lesen oder zumindest vor dem Sprechen exakt vorliegen. Anhand der Textbeispiele ist eher eine allmähliche Ausdifferenzierung der Bilder und der daflir angemessenen Formulierungen beim Sprechen zu vermuten. Dies sind allerdings Überlegungen und eher Spekulationen, die in dieser Studie nicht geprüft werden köru1en und sollen. 263

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Sicherheit ausmachen, mit der die Interviewpartner einzelne Formulierungen und Sprachbilder als adäquat empfinden. Bemerkenswert ist hier also der Kontrast zwischen einer Vagheit einerseits und sehr spezifischen Formulierungen andererseits. Dieses Phänomen sollte an anderer Stelle vertiefend untersucht werden. Der Bezug dieser Bilder und damit der eigenen Lesart des Gedichtes zur Realität (bzw. einer wie auch immer "objektiven" Aussage) des Gedichtes wird dagegen vielfach modalisiert (siehe Kapitel 3.2.2).

3.1.2 Subjektiv- Objektiv- Intersubjektiv Im vorangegangenen Abschnitt standen die Vielfältigkeit und Differenziertheit der Bilder, Assoziationen und Deutungen der Interviewpartner zum Gedicht im Vordergrund. Außerdem wurde die ausgeprägte Sprecharbeit bei der Formulierung dieser Bilder hervorgehoben. Dabei wurde bereits angedeutet, dass die Interviewpartner die eigenen Bilder sehr vielschichtig rahmen und damit einen unterschiedlichen Geltungsanspruch für diese eigenen Bilder einfordern. Zunächst wird nun dargestellt, wie die Interviewpartner den Geltungsbereich für die eigenen Bilder, Deutungen und Assoziationen zum Gedicht markieren und dabei die persönliche Lesart als eigenen Horizont reflektieren (1 ). Anschließend soll veranschaulicht werden, wie immer wieder in den Darstellungen nicht nur diese Rahmurrgen fehlen, sondern auch weitere implizite Vorannahmen in das Sprechen über das Gedicht mit einfließen (2).

(1) Die eigene Lesart im Verhältnis zur Deutungsoffenheit des Gedichtes Wie bereits in den dargestellten Interviewausschnitten zu sehen war, schildern die Interviewpartner sehr differenziert eigene Bilder und Assoziationen zum Gedicht und finden individuelle Beschreibungen des Gedichtthemas. Hierbei zeigen sie wiederholt mit vielfältigen Rahmurrgen (Modalisierungen, Subjektivierungen etc.) den begrenzten Geltungsanspruch für diese Deutungen an: Sie kennzeichnen das eigene Verständnis des Gedichtes als subjektive Sicht bzw. als eine mögliche Interpretation. Die Interviewpartner lassen so eine Distanz zu den eigenen Bildern und Lesarten erkennen und reflektieren diese als eigene Konstruktionen und als persönlichen Horizont, vor dem sie über das Gedicht sprechen. Mit dieser Distanzierung und Gültigkeitsbeschränkung der eigenen Aussagen machen sie auch deutlich, dass sie die Textoffenheit des Gedichtes erkennen. Die Interviewpartnerinnen setzen ihre eigene Lesart des Gedichtes in Verhältnis:

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-7 zu unspezifischen anderen möglichen Interpretationen Die Interviewpartnerinnen kennzeichnen die genannten eigenen Bilder, Deutungen und Assoziationen verschiedentlich als ihre subjektiven Lesarten, indem sie auf mögliche andere Interpretationen und Deutungen verweisen. Außerdem formulieren sie manchmal die eigenen Lesarten in hypothetischer Form ("es könnte um .... gehen"). Sie implizieren hiermit, dass sie weitere Lesarten ftlr möglich und denkbar halten und beschränken auf diese Weise den Geltungsanspruch der eigenen Äußerungen zum Gedicht. Diese Perspektive äußern Interviewpartner gelegentlich in Metakommentaren zum Gedicht, wenn z.B. ein Erzähler anmerkt, dass das Gedicht ein sehr offenes Gedicht sei: "man kann vieles reinsehen". Außerdem verwenden einige Interviewpartner Formulierungen, mit denen sie verdeutlichen, dass sie um die Konstruiertheit der eigenen Gedanken zu dem Gedicht wissen ("Hab ich also die Vorstellung...." ; "ich habe es ins 19. Jhdt. Versetzt."; "Ich sehe da ...." ; "Ich habe mir vorgestellt.. .. "). Auch die abschließende Rahmung in der Belegstelle 43 "das ist jetzt mein Gedanke zum Gedicht" hat die Funktion, das Gesagte als persönliche Lesart zu rahmen und damit den Geltungsanspruch einzuschränken. -7 zu einer "objektiven" Lesart (z.B. Intention des Autors, Urteil von Fachleuten) Des weiteren setzen einige Interviewpartner das eigene Verständnis des Gedichtes in Relation zu einer möglichen "objektiven" Lesart. Die lnterviewpartner nehmen hier Bezug auf eine Betrachtungsebene, der sie zumeist eine größere Wahrheit, Kompetenz und Qualität zuweisen. Sie rekurrieren z.B. auf eine mögliche Bedeutung, die der Autor beim Schreiben im Sinn hatte, und die es im Lesen zu erkennen gilt. Diese Art der Konstruktion findet sich z.B. am Ende von Beleg 41: ,,Kaugummifaden" in der Formulierung "Keine Ahnung wie es nun wirklich gemeint ist, aber. ..". Sie dient an dieser Stelle als Relativierung und wiederum als Abschluss der Schilderung einer sehr detaillierten, sehr individuellen Lesart des Gedichtes. In ähnlicher Weise deuten einzelne Interviewpartner an, dass sie davon ausgehen, dass es eine fachlich fundierte Interpretation des Gedichtes gebe, vor deren Hintergrund die eigene Lesart betrachtet und beurteilt werden sollte oder könnte. Diese beiden Konstruktionen einer "objektiven" Lesart verwenden die Interviewpartner nicht nur als Relativierung, sondern auch als Einklammerung oder gar Abwertung der eigenen Lesart. Das "wirklich Gemeinte" wird zum Qualitätsmaßstab, angesichts dessen die eigene Lesart unvollkommen und minderwertig dargestellt wird. In dieser Sichtweise kann man sich der "objektiven" Wahrheit jeweils nur im Rahmen der eigenen Möglichkeiten ansatzweise nähern. Gelegentlich spielen Interviewpartner halb scher-

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zend auf diese Sichtweise an, beispielsweise indem sie am Schluss des Interviews kokett nach einer "Auflösung" fragen. 27

-7 zu einer objektiven Textaussage Den Text selbst und die aus dem Text selbst zu lesende "objektive" Lesart sehen einige Interviewpartner als einen weiteren externen Bezugspunkt, an dem sie eigene Lesart messen. Hier steht nicht die Intention des Autors oder eine Expertenmeinung zur Debatte, sondern der Text selbst wird als etwas konstruiert, das ein bestimmtes Verständnis einfordert. Einzelne Interviewpartner (z.B. Herr H.) setzen es sich phasenweise zum Ziel, diese Aussage des Textes zu entschlüsseln. ln der Belegstelle 42 "Wegschickende Hände" setzt die Erzählerirr die eigene Lesart in bemerkenswerter Weise in Verhältnis zu einer "objektiven" Textaussage. Sie signalisiert ein klares Wissen um die Subjektivität des eigenen Verständnisses und macht deutlich, dass sie sich bewusst ist, dass ihre eigene Lesart nicht notwendigerweise von dem Text eingefordert wird (,ja (1.5) obwohl das natürlich, also rein objektiv gesehen es nicht so sein müßte, in diesem Gedicht. Aber... "). Dennoch führt das bei dieser Erzählerirr nicht zur Abwertung der eigenen Auffassung des Gedichtes. Vielmehr markiert sie deutlich den Geltungsbereich ihrer eigenen Lesart: Für sie selbst sind die Formulierungen des Textes unumstößlich mit diesen Gefühlen verbunden und stellen einen adäquaten Ausdruck ihrer Gefühlssituation dar. Eine objektive Lesart des Gedichtes steht für die Erzählerirr hier auf einem anderen Blatt. -7 zur angenommenen Lesart der Zuhörerin Schließlich verweisen die Interviewpartner im Sprechen auf die Annahme, dass die Zuhörerirr ein eigenes Verständnis des Gedichtes haben werde. Sie relativieren hiermit den Gültigkeitsanspruch für die eigenen Deutungen und stellen mit dem Verweis auf eine mögliche eigene Lesart der Zuhörerirr eine Wende in der bisherigen Rollenverteilung im Interview und damit das Ende des Interviews in Aussicht. Nur sehr selten positionieren die Interviewpartner die Zuhörerirr in der Weise, dass sie ihr das Wissen um die "objektive" Wahrheit des Gedichtes zuschreiben. Dieses vielfaltige Bezugnehmen auf andere, mögliche, z.T. "objektive" Lesarten und Deutungen findet sich in den Darstellungen der Inter27 Herr E. nutzt den Verweis auf das, was der Autor gemeint haben könnte sogar in der Weise, dass er ihn als Kritik an dem Gedicht ve1wendet. Da das Gedicht ftir ihn selbst nicht richtig verständlich würde, das, was der Autor gemeint haben könnte also nicht erkennbar sei, sei das Gedicht zu nahe an der biografischen Erfahrung des Autors und insofern kein gutes Gedicht.

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viewpartner sehr häufig als eine Art "Schlussformel" . Die Interviewpartner relativieren und subjektivieren ihre eigenen Aussagen zum Gedicht und räumen diesen einen eigenen Geltungsbereich ein. Sie signalisieren damit auch die Möglichkeit der Distanz zu der eigenen Aussage und beugen gleichzeitig der Kritik vor, vermessen die Deutung eines Kunstwerkes gewagt zu haben. Insofern können diese Bezugnahmen aufweitere Lesarten eine sozial-regulierende Funktion haben. Als Schlussformel zeigt es auch das Ende einer Sequenz an und signalisiert die Bereitschaft zur Redeübergabe oder die Notwendigkeit eines Sprecherwechsels. Auffallend ist jedoch, dass bis auf wenige Formulierungen, mit denen die Interviewpartner die Subjektivität der eigenen Bilder rahmen, im Verlauf der Ausführungen diese Rahmurrgen vollständig fehlen. In der Analyse dieser Subjektivierungen und Bezugnahmen auf andere mögliche Lesarten des Gedichtes zeigte sich außerdem, dass die Interviewpartner die Einschränkung des Geltungsbereiches der eigenen Aussagen nur auf bestimmte Aspekte der eigenen Lesart beziehen, während sie andere als selbstverständlich bekannt voraussetzen. (2) Implizite Vorannahmen Im Folgenden geht es nun darum, dass die eben dargestellten Rahmungen, in denen die Interviewpartnerinnen den Geltungsanspruch fiir ihre Ausführungen zum Gedicht einschränken, im Zuge der Ausführungen immer wieder fehlen. Außerdem rahmen die Interviewpartnerinnen zwar das Gesagte zum Gedicht wiederholt als subjektive Lesart, als persönliche Assoziation oder Konstruktion, im gleichen Atemzug führen sie jedoch andere Aspekte des Gedichtes als objektiv gegeben und vor allem als intersubjektiv geteilt mit. Wie bereits an einigen Stellen erwähnt wurde, sind mit den Darstellungen der Interviewpartnerinnen häufig interaktive Vorannahmen verbunden, die im Sprechen über das Gedicht wirksam werden. Die Interviewpartnerinnen setzen immer wieder in unterschiedlichem Ausmaß und hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte (s.u.) ihre eigene Perspektive auf das Gedicht als selbstverständlich bekannt und geteilt voraus. Es gab während des Interviews und während der Interpretation von Interviewpassagen wiederholt die Situation, dass ftlr die Interviewerin/die Interpretierenden die Ausführungen der Interviewpartnerinnen zunächst weitgehend rätselhaft und unverständlich blieben und häufig erst auf Nachfrage die angenommenen Sichtweisen und Interpretationen zum Gedicht von den Interviewpartnerinnen nachgeliefert wurden - häufig ganz beiläufig als selbstverständlich geteiltes Wissen gerahmt. Implizit haben die Interviewpartnerinnen der Zuhörerirr unterstellt: "Das, was ich jetzt zum Gedicht sage, ist Ihnen ja zum Teil bekannt, da Sie das Gedicht auch kennen und hier vor sich

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und hier vor sich liegen haben." Besonders diese Verständnislücken, die nachträglichen Erklärungen, die Verwendung von bestimmten Bezügen, obwohl diese Bezüge ftir die Zuhörerin nicht bestimmt sein können, weisen darauf hin, dass der Verzicht auf Rahmungen, die den Geltungsbereich der eigenen Deutungen anzeigen, nicht nur aus sprachökonomischen Gründen erfolgt. Vielmehr liegt es offenbar in der besonderen Kommunikationssituation begründet, dass die Interviewpartner immer wieder eine gemeinsame Lesart voraussetzen bzw. auf eine gemeinsame Erfahrungswelt rekurrieren, obwohl diese mit dem gemeinsam gelesenen Gedicht nicht vorliegt. Dieses Phänomen zeigte sich hinsichtlich folgender Aspekte: Theorien und eigener Leseprozess Die meisten Interviewpartner legen ihren Ausführungen implizite Theorien (z.B. zur Entstehung eines Gedichtes) zugrunde. In Nebensätzen wird deutlich, welches Verständnis die Interviewpartner von der Entstehung und vom Lesen eines Gedichtes haben. Häufig vermitteln sie dieses Verständnis eher beiläufig, als unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Einige kleine Beispiele können dies veranschaulichen: So erwähnt Herr G., dass jeder sein eigenes Bild zu dem Gedicht habe. Er spricht zwischendurch von dem Gedicht als einem Rätsel, zu dem es letztlich eine Lösung gebe; die EntschlüsseJung der Metaphern könne den Leser mehr oder minder exakt zur vom Autor intendierten Lesart fuhren . Auch kleinflächig lassen sich solche subjektiven Theorien finden, beispielsweise wenn Frau B. überlegt, dass die Hände, die der Autor beschreibt, besonders schöne Hände gewesen sein müssten, weil er ja sonst das Gesicht o.Ä. der Protagonistin ausgewählt hätte. Hier verfolgt sie den Ansatz, dass der Autor eine konkrete biografische Situation beschreibt und konkrete Hände beim Schreiben vor Augen hatte. Ebenso schildern viele Interviewpartner Aspekte des eigenen Leseprozesses in verallgemeinernder Form und rahmen damit die eigenen Gedanken und das eigene Vorgehen als unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Eigene Bilder, Szenen und Lesarten Es lässt sich aus den Interviewpassagen rekonstruieren, dass Interviewpartner Bilder und Szenen (bzw. Ausschnitte dieser Bilder und Szenen) immer wieder als selbstverständlich bekannt rahmen und als Wissen bei der Zuhörerin voraussetzen. Ein einfaches Beispiel findet sich in Beleg 43 (" ... das ist jetzt mein Gedanke zum Gedicht"): Die Erzählerin spricht ganz selbstverständlich von einem Händedruck, obwohl in dem Gedicht diese Aktion der Hände nicht notwendigerweise vorgegeben ist. Ebenso werden viele der unter 3.2.1. beschriebenen Bilder und Szenen von den

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Interviewteilnehmern meist erst aufNachfrage dargestellt. Die Nachfrage der Zuhörerio stellt in diesen Interviewpassagen einen Anlass zur Konkretisierung der Bilder und Deutungen der Interviewpartner dar. Oft erklärten erst die Antworten auf die Nachfragen der Zuhörerirr im Nachhinein die eigenen Verständnislücken, die aufgetreten waren, weil die Interviewten bestimmte Aspekte als bekannt vorausgesetzt hatten. So erwähnt Frau B. nur in einem Nebensatz den von ihr aufgefassten Plot des Gedichtes ("Ja es is Ua) klar es geht irgendwie um zwei Personen die voneinander Abschied nehmen" S. 21 [7-8]), den sie mittels Faktizitätsmarkierungen als unumstößliche Selbstverständlichkeit rahmt und führt Details dieser vorgestellten Szene erst auf Nachfrage hin aus. Gelegentlich finden sich in dem Zusammenhang mit verständnissichernden Nachfragen der Zuhörerirr Momente, die fLir die Interviewpartner eine kurze Irritation darstellen, in denen sie die Subjektivität der eigenen Lesarten erkennen bzw. dies mit kurzen Einschüben wie "ach ja, das hatte ich mir so vorgestellt, dass .... " kommentieren. Dies zeigt sich z.B. auch in der Interaktion zwischen Herrn G. und der Zuhörerio (Beleg 41: "Kaugummifäden"). Die verständnissichernde Nachfrage der Zuhörerirr spricht das bisher Gesagte als persönliches Bild des Interviewpartners an ("Was äh was-(.) wie siehst du die Hände?(.) wenn du so-"; Zeile 8). 28 Daraufhin rahmt der Erzähler das Folgende als persönliche Konstruktion, als eigene Vorstellung. ("hh ja des des hab ich so gedacht, (-) des ist so des Bild, also ... " Zeile 9).). Die Tatsache, dass der Erzähler hier das Bild vor Augen hatte, selbst das Tor zu schließen wird erst an dieser Stelle für die Zuhörerirr deutlich (siehe auch 3.2.3(1)). Dieser Aspekt zeigt sich auch in Passagen, in denen Interviewpartner das Gedicht kritisieren aufgrund der Bilder, die sie selbst mit dem Gedicht verbunden haben oder aufgrund der Gefühle und Erfahrungen, die ihrer Meinung nach in dem Gedicht thematisiert werden. Dass die Interviewpartner sich im Sprechen über das Gedicht von selbstentworfenen Protagonisten abgrenzen oder sich mit Erfahrungen auseinandersetzen, die sie selbst als das Thema des Gedichtes konstruieren, markieren die Interviewpartner im Verlauf des Sprechens nur bedingt. An kurzen Beispielen aus den Interviews soll das nicht immer von den Interviewpartnern reflektierte Verhältnis zwischen eigener Lesart und dem vom Gedicht Vorgegebenen verdeutlicht werden. Frau B. und Herr E. geben im Sprechen über das Gedicht zu erkennen, dass sie sich eher nicht von dem 28 Insgesamt hatte die Interviewerio abgesehen von der konkretisierenden Nachfrage nach den im Gedicht thematisierten Händen und gelegentlichen Verständnisfi"agen nicht als Ziel, die Interviewpartner mit der Subjektivität und Perspektivität ihrer Lesarten zu konfrontieren, sondern die jeweiligen persönlichen Lesarten zu explorieren.

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Gedicht angesprochen fühlen, dass es ihnen nicht gefällt und sie sich mit dem Gedicht auch nicht aus eigenem Antrieb ausführlicher beschäftigen würden. Beide entwerfen zu dem Gedicht eher historische Szenen und grenzen sich aufgrund dieser Szenen vom Gedicht ab. So argumentiert Herr E., warum er z.B. das Wort "beharrlich" als schlecht gewählt empfindet und sagt, er selbst habe da ein "viel zärtlicheres Bild". Er schreibt also indirekt das Gedicht um, damit es sein eigenes Bild angemessener zum Ausdruck bringen würde. Frau B. ist die einzige lnterviewpartnerin, die zunächst in ihrer Analyse des Gedichtes keine konkrete Abschiedsszene entwirft. Mit dem Anspruch der Systematik entwirft sie in objektivierender Weise die Wortfelder zu den Schlüsselworten des Gedichtes. Erst auf Nachfrage, ob ihr das Gedicht gefalle, schildert sie eine Abschiedsszene und rahmt diese selbstverständlich als dem Gedicht zugrundeliegenden Plot: Sie spricht von einem Gittertor und einem Handkuss zwischen einem Mann und seiner Geliebten. Diese Szene kritisiert sie als für ihren Geschmack zu historisch. Dass diese sehr konkrete Szene ihre persönliche Lesart des Gedichtes darstellt, reflektiert die Erzählerin bei ihrer Kritik nur bedingt. Die Interviewpartner kritisieren hier also Aspekte des Gedichtes, die aus der eigenen Lesart des Gedichtes entspringen: Zu dem Gedicht entwerfen die Interviewpartner Bilder. Aufgrund dieser persönlichen Bilder kritisieren sie das Gedicht. Dieses Vorgehen findet sich auch bei Herrn H .. Dieser Erzähler eignet sich im Sprechen über sein Verständnis des Gedichtes dieses so an, dass sich in diesem Prozess die Aussage des Gedichtes fundamental ändeti. Zunächst charakterisiert der Erzähler das Gedicht als vorrangig gewaltsam und möglicherweise eher depressiv und lebenshinderlich. Im Laufe des Sprechens über das Gedicht, im Abwägen von Theorien etc. kommt der Erzähler zu einem eher positiven Verständnis des Gedichtes. In diesem Prozess rahmt der Erzähler diese unterschiedlichen Interpretationen des Gedichtes jedoch weitgehend als Aussagen des Gedichtes und nicht als eigene Lesarten. Unter (1) wurde erwähnt, dass die Interviewpartner sich auf einen objektiven Textgehalt beziehen zur Relativierung ihrer eigenen Lesart. Hier findet sich jedoch die Konstruktion eines "objektiven" Textgehaltes an Stellen, an denen die Interviewpartner ihre eigene Lesart verobjektivieren, diese also als Aussage des Textes und eben nicht als persönliche Deutung rahmen. Anstatt zu sagen "ich lese in dem Gedicht ..." oder "ich verstehe das Gedicht so, dass ... " verwenden die Interviewpartner Formulierungen wie "das Gedicht sagt ...." bzw. "das Gedicht handelt von .... ". Sie rahmen also hiermit die eigene Lesart gerade nicht als eigene Deutung, sondern als allgemeingültige (und damit oft auch als potentiell allgemeinbekannte!) Aussage.

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Eigene Erfahrungen Darüber hinaus sprechen die Interviewpartner häufig in verallgemeinernder Form von ihren Erfahrungen mit dem Gedicht bzw. von den ihrer Auffassung nach in dem Gedicht thematisierten Erfahrungen. Hierbei unterstellen sie zwar nicht immer, dass die Zuhörerirr direkt weiß, welche Erfahrung die Erzähler in dem Gedicht angesprochen sehen; sie unterstellen in ihren Ausftlhrungen jedoch, dass die Zuhörerirr diese Erfahrung auch potentiell kennen kann, weil es um eine allgemein menschliche Erfahrung geht. In den eben erwähnten Passagen aus den Interviews mit Frau B. und Herrn E. wird auch deutlich, dass sich die Interviewpartner aufgrund des Gedichtes mit eigenen Erfahrungen und Stimmungen beschäftigen und das Gedicht u.a. daran messen, in wieweit es eine gute und angemessene Formulierung ftlr die eigene Situation oder eigene Geftlhle (bzw. sogar ftlr die durch das Gedicht subjektiv evozierten Bilder) findet. Sehr ausgeprägt findet sich dieser Aspekt wie an anderer Stelle dargestellt bei Frau A., ftlr die das Gedicht eine exakte Beschreibung ihrer eigenen Geftlhle und Erfahrungen darstellt, und bei Herrn H., der das Gedicht gerade daraufhin prüft, inwieweit es ftlr ihn und andere eine lebensförderliche Haltung und Botschaft vermittle. Bei diesem Prüfen lesen die Interviewpartner das Gedicht vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungswelt Obgleich die Interviewpartner dieses Prüfen gelegentlich metakommunikativ erläutern, fließen dabei Vorannahmen und Kriterien in die Ausftlhrungen ein, die die Zuhörerirr zunächst nicht kennen kann. Bereits in die Beschreibung des Themas und dann in die Bewertung des Gedichtes fließt untrennbar die eigene Deutung mit ein und eine Identifikation und Abgrenzung von Protagonisten oder Erfahrungen geschieht häufig vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit eigenen Themen. Dies wird jedoch häufig nicht als solches kommuniziert und führt zu einer großen Deutungsoffenheit und z.T. Hermetik der Ausftlhrungen der Interviewpartner. In welcher Weise und mit welcher Funktion die Interviewpartnerauf eigene und (unterstellt) geteilte Erfahrungswelten Bezug nehmen, und wie hierbei ein voraussetzungsreiches Verweben dieser Erfahrungswelten geschieht, soll in einer Analyse der sprachlichkommunikativen Mittel unter 3.2.3 vertieft werden.

3.2.3 Zwei besondere sprachlich-kommunikative Aspekte Abschließend sollen zu dem Interviewteil über das Gedicht von Jimenez zwei besondere sprachlich-kommunikative Phänomene vorgestellt werden. Zunächst wird das wörtliche Bezugnehmen auf Passagen des Ge-

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dichtes und dessen kommunikative Funktion betrachtet (1). Daraufhin wird das sprachliche Verweben von der Darstellung eigener Erfahrung und von der Darstellung einer allgemeinen Erfahrung beim Sprechen über das Gedicht näher beleuchtet (2). (1) Das wörtliche Bezugnehmen auf das Gedicht An dieser Stelle soll ein kommunikatives Phänomen geschildert werden, das in dem Interviewteil zum Gedicht von Jimenez deutlich wurde. Im Sprechen über das vorgelegte Gedicht nutzen einige Interviewpartnerinnen einzelne Worte des Gedichtes zur Erläuterung ihrer Ausführungen. Sie nehmen wörtlich Bezug auf das Gedicht und verwenden die Worte des Gedichtes als gemeinsame Ausgangsbasis. Zunächst ist das wörtliche Bezugnehmen zu erwähnen, bei dem lnterviewpartner erläutern, wie sie ein Wort des Gedichtes verstehen. Hier ist beispielsweise das "Wort-für-Wort-Voranschreiten" in der Interpretation von Frau B. zu nennen, die versucht, ftir die Schlüsselworte des Gedichtes Assoziationen und Bedeutungshorizonte zu entfalten. Oder die Auslegung der Metaphern durch Herrn G. ("und jetzt eben geh ich aufs Feld hinein, ich nehm an also in ne Zukunft odersollshier heißen", S. 18 [6-7]), bei denen er eine mögliche übertragene Bedeutung einzelner Worte des Gedichtes vorschlägt. Die Interviewpartner zeigen hiermit an, dass sie die Worte des Gedichtes oder aber ihre eigene Lesart dieser Worte ftir erklärungsbedürftig halten. Es findet sich jedoch auch häufig die umgekehrte Erklärungsrichtung: Hier nutzen die Interviewpartner die Worte des Gedichtes, um ihre eigene Lesart zu erklären. Dass mit den Worten des Gedichtes in dem Moment jedoch eine große Deutungsvielfalt verbunden ist und diese Worte insofern keine nähere Bestimmung, sondern immer noch etwas zu Erklärendes darstellen, reflektieren die Interviewpartner dabei nicht. Auf diese Weise bleibt die persönliche Deutung zu Versen oder Worten, bzw. das je eigene Verständnis dieser Verse häufig unexpliziert. Beispielsweise finden sich in den Ausführungen von Frau D. wörtliche Bezugnahmen auf das Gedicht als wiederkehrender fester Bestandteil. Die Erzählerin bindet immer wieder Worte des Gedichtes ein. Damit bringt sie die große Deutungsoffenheit des Gedichtes in ihre Ausführungen mit hinein und hält ihre Interpretation in einem sehr offenen Raum. Während dieses wörtliche Bezugnehmen der Erzählerin auf das Gedicht offensichtlich einen Weg darstellt, die Deutungsoffenheit des Gedichtes zu bewahren, finden sich bei anderen Erzählern wiederholt Stellen, in denen sie die Worte des Gedichtes als direkte Erläuterung heranziehen. Gerade in den Momenten, in denen eine Erläuterung und Zuspitzung der eigenen Lesart zu erwarten ist, nutzen die Erzähler die Worte des Gedichtes, die sie of-

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fenbar als angemessene und selbsterklärende Pointierung der eigenen Lesart verstehen. Sie nutzen also die Worte des Gedichtes innerhalb ihres eigenen Deutungshorizontes. Für die Zuhörerin stellen die Passagen insofern nicht eine- wohl intendierte- erhellende Erläuterung dar, sondern bleiben schwer verständlich und deutungsoffen. Mit diesem Phänomen ist gelegentlich auch eine Geste verbunden, in denen die Erzählerinnen auf das Gedicht deuten. Sie zeigen auf das "schwarz-auf-weiß" vorliegende Gedicht als etwas Konkretes, das beide Gesprächsteilnehmerinnen kennen und über das man sich verständigen kann. In diesem wörtlichen oder gestischen Bezugnehmen auf die konkrete sprachliche bzw. materielle Form des Gedichtes rekurrieren die Interviewpartnerinnen auf ein (vermeintlich) gemeinsames Wissen. Dass sie hierbei häufig die mit dieser konkreten sprachlichen Form verbundene eigene Erfahrungswelt als geteilt voraussetzen, wird in diesen lnterviewpassagen selten thematisiert.

(2) Die Darstellung einer persönlichen bzw. einer allgemein menschlichen Erfahrung In den vergangenen Abschnitten wurde gezeigt, dass und wie die lnterviewpartnerinnen im Darstellen ihrer Lesarten einerseits deren Gültigkeitshereich einschränken, sie aber andererseits diese Lesarten auf impliziten Vorannahmen fußen lassen, Verobjektivierungen vornehmen und damit den Gültigkeitsbereich der subjektiven Lesart ausweiten. Im Zusammenhang mit den impliziten Vorannahmen, die die Interviewpartner als selbstverständlich geteiltes Wissen bei der Zuhörerin voraussetzen, wurde außerdem erwähnt, dass die Interviewpartner beim Sprechen über die (ihrer Auffassung nach) im Gedicht thematisierten Erfahrungen auf eine gemeinsame Erfahrungswelt mit der Zuhörerin zurückgreifen. Dieser Aspekt soll nun vertiefend dargestellt werden. Das zu untersuchende Phänomen lässt sich an einer sprachlichen Wendung veranschaulichen, die einige Interviewpartner in den Interviews allgemein und in dem zweiten Interviewteil im Besonderen sehr häufig verwenden: Es geht um den Wechsel in der Vetwendung der Personalpronomina. So schildern die Interviewpartnerinnen häufig ihre Lesarten, die eigenen Erfahrungen mit dem Gedicht und die im Gedicht thematisierten Erfahrungen in der "ich"-Form. 29 Sehr häufig nutzen die lnterviewpartnerinnen in diesem Zusammenhang aber auch entindividuali29 Es finden sich sogar Passagen, in denen die Interviewpartnerinnen in ihren Darstellungen ein die Zuhörerin einschließendes "ich" verwenden. Sie schildern hier in "ich"-Form eine Erfahrung in eher typisierender und verallgemeinernder Weise. Dieses Phänomen sollte an anderer Stelle untersucht werden! 273

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sierende Personalpronomina wie "man" oder das die Sprecherirr einschließende "du". Im Folgenden soll dieses Phänomen an einigen lnterviewpassagen rekonstruiert werden: In dem Beleg 41 "Kaugummifäden" schildert Herr G. in "man"-Form die Erfahrung, zwar einerseits entschlossen einen Schlussstrich gezogen zu haben, andererseits würden die Hände "Erinnerungsfäden" mit sich ziehen und so einen klaren Schnitt und Abschluss verhindern. AufNachfrage der Zuhörerirr erwähnt der Erzähler wie beiläufig, dass er sich selbst sieht, wie er entschlossen das Gittertor schließt. Diese Aussage war ftlr die Zuhörerirr nach der allgemeingehaltenen Beschreibung der Erfahrung des Weggehens zunächst eine Überraschung. Der Erzähler schildert hier offensichtlich in verallgemeinernder Form eine Erfahrung, die er sich gleichzeitig als sehr konkrete Szene ausgemalt hat, in der er selbst der Handelnde ist. Bis zur Nachfrage war es hier nicht klar gewesen, inwieweit er diese allgemein beschriebene Erfahrung auf sich selbst bezieht. An einem weiteren Interviewausschnitt soll der Wechsel in der Verwendung der Personalpronomina illustriert werden. Frau D. setzt hier sowohl die eigenen Gedanken beim Lesen des Gedichtes als auch die im Gedicht thematisierte Erfahrung in die unpersönliche "man"-Form und wechselt dann mitten in der Ausflihrung in die "ich"-Forrn, so dass sie letztlich von einer eigenen Erfahrung spricht. Mit den folgenden Zeilen beginnt Frau D. nach einer stillen Phase des Lesens das Sprechen über das vorgelegte Gedicht. Beleg 43: " ...das ist jetzt mein Gedanke zum Gedicht" (Frau 0.: S.11 13-171) 1

E:

h zunÄchst ist es also, m'm im ersten (. )a m'm irr ersten teil denkt man; es ist wirklich ein rEAler abSCHIED, durch den HÄNdedruck # und es ist aber ä' schOn ein endgültige r abSCHIED und doch auch wieder nicht. # er=ischt nämlich nicht wiederHOLbar, (-) sOndern (.)und blEibt in der Erinnerung. # des ist jetzt; MEIN gedAnke zu dem gedieht,

I:

mhm;

E:

.hh was=ich (9.2) .hh ich ä:hm; ich würde mit derr (--) mehr