Steuerrecht Fallbuch 9783504387167

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Steuerrecht Fallbuch
 9783504387167

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Seer /Marquardsen /Ortwald

Fallbuch Steuerrecht

Fallbuch

Steuer recht von

Prof. Dr. Roman Seer Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, Inhaber des Lehrstuhls für Steuerrecht und Direktor des Instituts für Steuerrecht und Steuervollzug

Jun.-Prof. Dr. Maria Marquardsen Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum

Dr. Dominik Ortwald Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum

2022

ÖKOSTROM mit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-20153-1 © 2022 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: PMGi – Agentur für intelligente Medien GmbH, Hamm Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Seit nunmehr fast 25 Jahren bietet der Lehrstuhl für Steuerrecht der Ruhr-Universität Bochum den „Intensivkurs Steuerrecht“ an, der die wesentlichen Bereiche des allgemeinen und besonderen Steuerrechts einschließlich des Unternehmen-, Bilanz-, Umsatzsteuerrechts sowie des internationalen und europäischen Steuerrechts umfasst. Von den Studierenden werden wir häufig nach einem geeigneten Fallbuch zur Übung anhand von Klausursachverhalten als Ergänzung zu den Lehrbüchern gefragt. Anders als etwa in den USA, wo es eine Fülle von „case books“ auf dem Markt gibt, ist das Angebot dazu für das deutsche Steuerrecht überschaubar. Wir haben uns daher entschlossen, als Ergänzung zum großen Lehrbuch „Tipke/Lang, Steuerrecht“ ein Buch zu verfassen, das 20 Fälle zum allgemeinen Steuerrecht, Einkommen-, Unternehmen-, Bilanzsteuerrecht, internationalen Steuerrecht und Umsatzsteuerrecht mit Lösungen enthält. Die Fälle sind ganz überwiegend im Rahmen des Bochumer Intensivkurses in der Vergangenheit gestellt und bearbeitet worden. Die Fallauswahl haben wir unter didaktischen Gesichtspunkten vorgenommen und die Fälle an die aktuelle Rechtslage angepasst. Das Werk enthält nicht einfach nur den jeweiligen Sachverhalt mit einer Musterlösung. Nach Nennung der Schwerpunkte, Bearbeitungszeit und des Schwierigkeitsgrades führen wir jeweils inhaltlich in die Fallproblematik mit einer Beschreibung des Anforderungsprofils ein und präsentieren daran anknüpfend einen gegliederten Lösungsvorschlag, der weiterführende Hinweise zur tragenden Rechtsprechung und Literatur sowie zu Alternativlösungen enthält. Das Buch richtet sich nicht nur an Studierende der Rechts-, sondern auch der Wirtschaftswissenschaften sowie an Studierende, die sich in dualen Studiengängen mit dem Steuerrecht befassen. Den Studierenden soll die juristische Arbeits- und Denkweise im Steuerrecht anhand von Fällen nähergebracht und ihre juristische Argumentationsfähigkeit geschärft werden. Angesichts der heute breit gefächerten Ausbildungswege der unterschiedlichen Bachelor- und Masterstudiengänge sehen wir ein gesteigertes Bedürfnis, gerade auch die letztgenannten Bereiche des Universitäts- und Hochschulwesens mit dem vorliegenden Buch anzusprechen. Zusammen mit dem großen Lehrbuch „Tipke/Lang, Steuerrecht“, das ohne Weiteres abschnittsweise durchgearbeitet werden kann, soll es zu einer qualitativ-hochwertigen, nachhaltigen Ausbildung im Bereich des Steuerrechts über die Fächergrenzen hinweg beitragen. Wir danken dem Verlag Dr. Otto Schmidt und besonders den Lektorinnen Frau Dr. Sabine Kick und Frau Eva Müller für die umsichtige Betreuung dieses Fallbuchs sowie den studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls für Steuerrecht für ihre engagierte Mitwirkung. Wir hoffen, mit diesem Fallbuch einen weiterführenden Beitrag zur Stärkung der akademischen Ausbildung im Bereich des Steuerrechts zu leisten. Kritik und Anregungen sind willkommen und an [email protected] zu richten. Bochum, im Oktober 2021 Maria Marquardsen

Dominik Ortwald

Roman Seer V

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Inhaltsübersicht Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht Seite Fall 1: Betongold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 (Schwerpunkte: Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, Leistungsfähigkeitsprinzip, Folgerichtigkeitsgebot, Vereinfachungszwecknormen) Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides, Grundsatz der Akzessorietät der Haftung, Drittwirkung der Steuerfestsetzung)

13

Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Abgrenzung allgemeine/besondere Verwaltungsakte und Realakte, Zulässigkeit eines Einspruchs, Auskunftsverweigerungsrechte)

31

Fall 4: Schritt für Schritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Korrektur von Steuerbescheiden und Feststellungsbescheiden, Prüfung von Festsetzungs- und Feststellungsfristen mit An- und Ablaufhemmungen, Gestuftes Verwaltungsverfahren (Feststellungs- und Festsetzungsverfahren))

53

Fall 5: Trautes Heim, „komm’ nicht rein!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Zulässigkeit eines Einspruchs, Änderung besonderer Steuer-VA, Rechtmäßigkeit von Ermittlungsmaßnahmen)

67

Kapitel 2: Einkommensteuerrecht Fall 6: Über den Wolken... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Subjektive Steuerpflicht (Wohnsitz), Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen bei nichtselbständiger Tätigkeit, Ehegattenveranlagung, Anwendung und Auswirkungen eines DBA)

87

Fall 7: Die Rente ist sicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Abgrenzung selbständige und gewerbliche Tätigkeit, Veranlassungszusammenhang bei Erwerbsaufwendungen, Zurechnung von Erwerbsaufwendungen (Drittaufwand))

105

VII

Inhaltsübersicht Fall 8: Fußball ist unser Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Veranlassungszusammenhang bei Erwerbsaufwendungen, Drittleistungen bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit)

Seite 121

Fall 9: Social Networking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Abgrenzung nichtselbständige und selbständige Tätigkeit, Aufgedrängte Einnahmen, Bewirtungsaufwendungen und Erstattungen von Arbeitgeberseite)

131

Fall 10: Das Internet ist Neuland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Abgrenzung selbständige und gewerbliche Tätigkeit, Aufwendungen für häusliches Arbeitszimmer, Arbeitsmittel, Übergang von Sachwertbezügen ins Betriebsvermögen)

143

Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Grundzüge der Besteuerung von Personengesellschaften, Zweistufige Einkünftequantifikation, Zweistufige Einkünftequalifikation, Zebragesellschaft, Vom Gesellschaftsrecht losgelöste Bestimmung der steuerrechtlichen Mitunternehmer bei einer Personengesellschaft)

157

Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Grundzüge der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Gesellschafter, Erkennen und Behandlung von verdeckten Gewinnausschüttungen, Einlage in Einzelunternehmen, Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Betriebsvermögen)

175

Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Besteuerung von Personengesellschaften und ihren Gesellschaftern, Sonderbetriebseinkünfte der Gesellschafter einer Personengesellschaft, Betriebsaufspaltung, Konkurrenz von Sonderbetriebsvermögen und mitunternehmerischer Betriebsaufspaltung)

201

Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Handelsrechtlicher Begriff des Kaufmanns bzw. der Kauffrau/Kaufleute, Gewerbebetrieb i.S.d. Handelsrechts, Buchführungspflicht nach Handels- und Steuerrecht) VIII

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Inhaltsübersicht Fall 15: Wir verkaufen Flügel! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Ansatz von Wirtschaftsgütern in der handels- und steuerrechtlichen Bilanz, Bewertung von Wirtschaftsgütern in der handels- und steuerrechtlichen Bilanz, Bildung von Buchungssätzen zu Geschäftsvorfällen)

Seite 239

Kapitel 5: Internationales Steuerrecht Fall 16: Coffee makes the world go round . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Unbeschränkte und beschränkte Einkommensteuerpflicht, Wegzugsbesteuerung, Verdeckte Gewinnausschüttung, Vermeidung von Doppelbesteuerung)

261

Fall 17: BRD, L-BV und DBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Anwendung und Auswirkungen eines DBA, Vereinbarkeit mit Grundfreiheiten, Anwendungsvorrang des Europarechts)

277

Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht Fall 18: Wortklauberei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Prüfung eines Ausgangsumsatzes auf Steuerbarkeit und Steuerfreiheit, Auslegung von Steuerbefreiungsnormen, Maßgeblichkeit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie für das nationale Recht, Grundzüge des Vorsteuerabzugs)

289

Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Prüfung einer Mehrzahl von Eingangs- und Ausgangsumsätzen, Ortsbestimmung im innergemeinschaftlichen Warenverkehr, Steuerfreiheit bei innergemeinschaftlichen Lieferungen und Ausfuhrlieferungen, Ortsbestimmung bei Transportleistungen, Reihengeschäfte)

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Fall 20: U, der Baumeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Schwerpunkte: Prüfung einer Mehrzahl von Eingangs- und Ausgangsumsätzen, Umsatzsteuerliche Behandlung eines Kommissionsgeschäfts, Einheitlichkeit der Leistung, Leistungen an Arbeitnehmer, Option nach § 9 UStG)

325

IX

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Abkürzungsverzeichnis

a.A. a.a.O. abl. Abs. abw. a.E. AEUV a.F. AfA AG Alt. a.M. Anm. AO ARAP Art. AStG Aufl. ausf. Az. Bay./bay. BB Bdb. Begr. Beschl. betr. BFH BFHE BFH/NV BGB BGBl. BGH BMF BStBl. BT-Drucks. Buchst. BVerfG BVerfGE BVerwG bzgl. bzw.

andere(r) Ansicht am angeführten Ort ablehnend Absatz abweichend am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Absetzung für Abnutzung Aktiengesellschaft; auch „Die Aktiengesellschaft“ (Zeitschrift) Alternative anderer Meinung Anmerkung Abgabenordnung Aktiver Rechnungsabgrenzungsposten Artikel Außensteuergesetz Auflage ausführlich Aktenzeichen Bayern, bayerisch Betriebsberater Brandenburg Begründung Beschluss betreffend Bundesfinanzhof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BFH BFH/NV (Zeitschrift) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I oder II Bundesgerichtshof Bundesministerium der Finanzen Bundessteuerblatt Teil I, II oder III Drucksachen des Bundestages Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht bezüglich beziehungsweise XI

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Abkürzungsverzeichnis

DBA DE-VG d.h. Drucks. DStR EFG e.K. EStB EU EuGH EuZW e.V. f. FA ff. FG FinBeh. Fn. FR GbR gem. Ges. GewStG GG ggf. GmbH GmbHR GmbH-StB grds. GrS Halbs. Hess./hess. h.F. HGB h.M. i.d.F. i.d.R. i.H.v. insb. IRS i.S. i.S.d. i.S.v. i.V.m. JURA XII

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Doppelbesteuerungsabkommen Deutsche Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen das heißt Drucksache Deutsches Steuerrecht Entscheidungen der Finanzgerichte eingetragener Kaufmann Ertrag-Steuerberater Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) eingetragener Verein folgend (eine Seite) Finanzamt folgende (mehrere Seiten) Finanzgericht Finanzbehörde Fußnote Finanz-Rundschau (Zeitschrift) Gesellschaft bürgerlichen Rechts gemäß Gesetz Gewerbesteuergesetz Grundgesetz gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Zeitschrift) GmbH-Steuer-Berater (Zeitschrift) grundsätzlich Großer Senat Halbsatz Hessen/hessisch hiesige Fassung Handelsgesetzbuch herrschende Meinung in der Fassung in der Regel in Höhe von insbesondere Internal Revenue Service im Sinne im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit Juristische Ausbildung

Abkürzungsverzeichnis

JStG Kap. KG KStG Lfg. LG lt. Ltd. MA m.w.N. m.W.v. Nds., nds. n.F. NJW NJW-RR o.a. OECD OHG OLG Rh.-Pf. rkr. RL Rs. Rspr. Rz. S. Sa.-Anh. Saarl. Sachs., sächs. Schl.-Holst. Schr. s.o. sog. StB str. st. Rspr. StuW s.u. Thür., thür. Tz. u. u.a. u.Ä. Urt. USt.

Jahressteuergesetz Kapitel Kommanditgesellschaft Körperschaftsteuergesetz Lieferung Landgericht laut Private Company Limited by Shares, Limited Musterabkommen mit weiteren Nachweisen mit Wirkung vom Niedersachsen, niedersächsisch neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift) oben angegeben (-e, -er, -en) Organisation for Economic Cooperation and Development offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Rheinland-Pfalz rechtskräftig Richtlinie Rechtssache Rechtsprechung Randzahl, Randziffer Seite Sachsen-Anhalt Saarland Sachsen, sächsisch Schleswig-Holstein Schreiben siehe oben so genannt Der Steuerberater (Zeitschrift) streitig ständige Rechtsprechung Steuer und Wirtschaft (Zeitschrift) siehe unten Thüringen, thüringisch Textziffer und unter anderem und Ähnliche(s) Urteil Umsatzsteuer XIII

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Abkürzungsverzeichnis

UStG usw. u.U. v. Vfg. VG (VerwG) vGA VGH vgl. VO VwGO WG Wj. WÜD z.B. z.T. zust. z.Z., zzt.

XIV

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Umsatzsteuergesetz und so weiter unter Umständen vom, von Verfügung Verwaltungsgericht verdeckte Gewinnausschüttung Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Verwaltungsgerichtsordnung Wirtschaftsgut Wirtschaftsjahr Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen zum Beispiel zum Teil zustimmend zurzeit

Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht Fall 1: Betongold Schwerpunkte: – Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes – Leistungsfähigkeitsprinzip, Folgerichtigkeitsgebot – Vereinfachungszwecknormen Bearbeitungszeit: 2 Std. Schwierigkeitsgrad: einfach

A. Sachverhalt Im Zuge laufender Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer neuen Bundesregierung führt ein Vorschlag zur Änderung des Einkommensteuergesetzes zu einer kontrovers geführten Debatte unter den Teilnehmern der Arbeitsgruppe Steuern und Finanzen. Der von Staatssekretär X eingebrachte Vorschlag sieht vor, einen § 21 Abs. 4 EStG mit folgendem Inhalt einzufügen: Bei der Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ist als Werbungskosten ein Betrag von 4.000 Euro pro Objekt abzuziehen; der Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ist ausgeschlossen.

Der Vorschlag soll in Ansehung ständig „klammer Staatskassen“ nicht nur dem rein fiskalischen Zweck dienen, steuerliche Mehreinnahmen zu generieren, sondern zugleich das oftmals streitanfällige Veranlagungsgeschäft rund um die Werbungskosten bei Vermietung und Verpachtung durch eine Typisierung erheblich vereinfachen. Ein Werbungskostenbetrag in Höhe von 4.000 Euro ist nach Ansicht des X geradezu typisch; auch er habe seit Jahren Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, und diese lägen bei seinen ausschließlich mit Eigenkapital finanzierten Objekten immer um die 4.000 Euro. Die Gegner des Vorschlages wenden daraufhin ein, dass einer solchen Regelung der Verfassungsverstoß ja geradezu „auf die Stirn geschrieben stünde“. Man könne schließlich Bezieher von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung nicht pauschal anderes behandeln als Bezieher anderer Einkunftsarten. Der Einkommensteuer liege der fundamentale Grundsatz der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit zugrunde, und diese sei nach dem objektiven und subjektiven Nettoprinzip

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Rz. 1 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

zu bemessen. Bei der Ausgestaltung des Einkommensteuergesetzes müsse diese einmal getroffene Belastungsentscheidung auch folgerichtig umgesetzt werden. Dagegen wird seitens der Befürworter vorgetragen, die Regelung des § 21 Abs. 4 EStG tangiere zwar das objektive Nettoprinzip, hierin könne jedoch nicht zugleich ein Verfassungsverstoß gesehen werden. Vielmehr sei die Regelung aufgrund ihrer auf Einnahmeerzielung und Vereinfachung gerichteten Intention gerechtfertigt. Aufgabe: Prüfen Sie gutachterlich die Verfassungsmäßigkeit des geplanten § 21 Abs. 4 EStG.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Rein verfassungsrechtlich ausgestaltete Fälle – wie der vorliegende – kommen in steuerrechtlichen Klausuren eher selten vor. Die Relevanz des Verfassungsrechts sollte gleichwohl aber nicht unterschätzt werden. Insbesondere die auf Art. 3 Abs. 1 GG beruhenden steuerrechtlichen Prinzipien sind für das Verständnis und die Auslegung einfachgesetzlicher einkommensteuerrechtlicher Regelungen unabdingbar.

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Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist der zentrale verfassungsrechtliche Maßstab für die Ausgestaltung des Steuerrechts. Bereichsspezifische Konkretisierung erfährt er durch das Leistungsfähigkeitsprinzip, das eine steuerliche Belastung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verlangt. An diesem Prinzip sind alle Steuernormen zu messen. Für die grundrechtliche Prüfung bedeutet das, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip der Vergleichsmaßstab für die Prüfung ist. Ist diesbezüglich eine Abweichung festzustellen, liegt eine Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG vor, die einer Rechtfertigung bedarf, um verfassungsgemäß zu sein.

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Ist ein Steuergesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, muss zwischen zwei Situationen grundlegend unterschieden werden, weil sie einen unterschiedlich strengen Prüfungsmaßstab nach sich ziehen. Handelt es sich um eine Entscheidung über den Steuergegenstand, d.h. über das besteuerungswürdige Steuerobjekt als solches, oder um die Höhe des Steuertarifs, wird dem Gesetzgeber ein weitreichender Gestaltungsspielraum zugestanden. Zwar müssen auch diese Entscheidungen sich am Leistungsfähigkeitsprinzip messen lassen, der Gesetzgeber unterliegt dabei aber nur dem allgemeinen Willkürverbot.1 Diese Situation tritt allerdings seltener auf. In der Regel sind Normen zu prüfen, die bereits bestehende Steuern näher ausgestalten. Bei diesen ist das Folgerichtigkeitsgebot zu beachten, das den Vergleichsmaßstab konkretisiert. Das bedeutet, dass die gesetzgeberisch getroffene Grundentscheidung zur Ausgestaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips in einer konkreten Steuerart innerhalb dieser belastungsgleich umzusetzen ist.2 Im Einkommensteuerrecht ist deshalb z.B. danach zu fragen, ob eine Regelung das objektive oder das subjektive Nettoprinzip 1 Vgl. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 102 m.w.N. 2 Vgl. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 103 f. m.w.N.

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Fall 1: Betongold | Rz. 6

konsequent umsetzt. Kommt man hier zu dem Ergebnis, dass solche einfachgesetzlichen Belastungsentscheidungen nicht folgerichtig umgesetzt werden, darf aber dennoch nicht vorschnell eine Ungleichbehandlung angenommen werden. Es bleibt noch zu klären, ob der Gesetzgeber sich grundsätzlich von seiner ursprünglich getroffenen Belastungsentscheidung abkehrt, ob also eine grundlegend neue Belastungsentscheidung getroffen wird. Bei einer einzelnen Regelung wird das regelmäßig nicht der Fall sein. Ernsthaft in Betracht kommt dieser Ausweg nur, wenn größere Gesetzänderungen vorgenommen werden, die einen grundlegenden Paradigmenwechsel (z.B. durch Einführung einer Abgeltungsteuer) beinhalten. Liegt eine Ungleichbehandlung vor, ist die Rechtfertigung zu prüfen. Es stellt sich dabei die Frage des Rechtfertigungsmaßstabs. Ausnahmen von einer belastungsgleichen Ausgestaltung der mit der Wahl des Steuergegenstandes getroffenen gesetzgeberischen Ausgangsentscheidung (folgerichtige Umsetzung des steuerrechtlichen Belastungsgrundes) bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung nach Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag.3 Diese Anforderungen gehen über das bloße Willkürverbot hinaus und haben sich in Gestalt der sog. „neuen Formel“ durch eine bereichsspezifisch gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung in der BVerfG-Rspr. etabliert.4 Ausgangspunkt für die Anwendung des strengeren Maßstabs waren Fallbereiche, in denen die Ungleichbehandlung an Merkmale anknüpfte, auf deren Vorliegen der Einzelne keinen Einfluss nehmen kann (personenbezogene Merkmale) oder die sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern oder mit der Ungleichbehandlung eine Beeinträchtigung von Freiheitsrechten verbunden ist.5 Mittlerweile wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung über die bloße Willkürverbotsformel hinaus allgemein auf nicht folgerichtig, ungleich ausgestaltete steuerrechtliche Regelungen angewendet. Zudem kann die Freiheit des Gesetzgebers im Steuerrecht durch das Ausmaß der mit der Steuerverschonung bewirkten Ungleichbehandlung und durch deren Auswirkung auf die gleichheitsgerechte Erhebung dieser Steuer insgesamt eingeschränkt sein.6 Daher wird es im Regelfall auf die Anwendung der „neuen Formel“ hinauslaufen.

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Als bereichsspezifische Rechtfertigungsgründe werden vom BVerfG insbesondere außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke sowie Vereinfachungszwecke anerkannt.7 Teilweise wird in diesem Zuge auch noch die Bekämpfung von Missbrauch genannt. Wird steuerlicher Missbrauch bekämpft, führt dies aber i.d.R. im Ausgangspunkt nicht zu einer Ungleichbehandlung, sondern gerade zur gleichheitsgerechten Besteuerung. Etwas anderes dürfte sich nur ergeben, wenn durch Typisierungen auch nicht missbräuchliche Fälle erfasst werden, dann unterfällt dies aber wieder dem Rechtfertigungsgrund der Vereinfachungszwecke, die durch Typisierungen verwirklicht werden.8 Soll eine Ungleichbehandlung durch Typisierungen mit dem Verein-

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Vgl. BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 104 m.w.N. Z.B. BVerfG v. 26.1.1993 – 1 BvL 38/92, BVerfGE 88, 87, juris Rz. 36 f. Z.B. BVerfG v. 26.1.1993 – 1 BvL 38/92, BVerfGE 88, 87, juris Rz. 36 f. BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. II 2015, 50, juris Rz. 127. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 58. Siehe auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 3.128.

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Rz. 6 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

fachungszweck gerechtfertigt werden, so müssen die vom BVerfG aufgestellten weiteren Rechtfertigungsmaßstäbe bekannt sein: Die Regelung muss tatsächlich zu einer erkennbaren Verwaltungsvereinfachung führen, andernfalls wäre sie bereits nicht zur Erreichung des Rechtfertigungsgrundes geeignet und somit nicht verhältnismäßig. Zudem verlangt das Angemessenheitskriterium, dass der Gesetzgeber realitätsgerecht die typischen Fälle abbildet. Er muss also alle betroffenen Gruppen in den Blick nehmen und anhand dessen den Regelfall bestimmen. Dieser Regelfall darf dann Besonderheiten generalisierend vernachlässigen. Nur wenn dieser typische Fall richtig bestimmt wurde, kann die Ungleichbehandlung angemessen sein.9 Ist das gewahrt, muss aber noch weitergehend abgewogen werden, ob die Vorteile der Vereinfachung in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Ungleichbehandlung stehen. 7

Nicht als Rechtfertigungsgrund durchgreifen können hingegen rein fiskalische Zwecke der staatlichen Einnahmenerhöhung. Natürlich dürfen (und sollen) Steuern der staatlichen Einnahmenerzielung dienen. Dabei müssen sie aber gleichheitsgerecht wirken.10 Die Einnahmenerhöhung hier zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung heranzuziehen würde das Grundprinzip der gleichheitsgerechten Besteuerung aushebeln und wäre somit geradezu absurd. II. Anforderungsprofil

8

Es handelt sich um einen verfassungsrechtlichen Fall im steuerrechtlichen Kontext. Abgeprüft werden dabei Aspekte des allgemeinen Gleichheitssatzes, die bei steuerrechtlichen Regelungen besondere Bedeutung haben.

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Gefragt ist allgemein nach der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Regelung. Auch wenn der Schwerpunkt der Prüfung hier erkennbar bei der Prüfung des Art. 3 GG liegt, dürfen Bearb. nicht den Fehler machen, direkt zur Grundrechtsprüfung überzugehen. Diese wird erst im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit relevant. Bevor man dazu kommt, müssen kurz die Aspekte der Gesetzgebungskompetenz und des Gesetzgebungsverfahrens abgehandelt werden. Da das Verfahren noch nicht eingeleitet ist, sondern man sich auf der Ebene des Entwurfs befindet, genügt hinsichtlich des Verfahrens ein Hinweis auf die einzuhaltenden Verfahrensvorschriften. Die Gesetzgebungskompetenz kann und sollte aber konkret bestimmt werden. Dieser Schritt sollte bei der allgemeinen Frage nach der Verfassungsmäßigkeit nie versäumt werden, da es durchaus vorkommen kann, dass hier ein Problem versteckt ist. Der Sachverhalt muss darauf nicht unbedingt einen klaren Hinweis geben. Im vorliegenden Fall liegt hier kein Problem, sodass man die Gesetzgebungskompetenz in einem Satz unter Nennung der einschlägigen Normen schlicht feststellen kann.

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Bei der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes können abstrakt gesehen viele Aspekte relevant werden. Diese typischen Aspekte (Grundrechte, Bestimmtheitsgrundsatz, Zitiergebot, kein Einzelfallgesetz) sollten Bearb. bei Erstellung der Lösung gedanklich durchgehen. Es empfiehlt sich aber, in der ausformulierten Lösung nur 9 Vgl. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 60. 10 Z.B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 61 m.w.N.

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Fall 1: Betongold | Rz. 12

die Punkte anzusprechen, bzgl. derer es Anhaltspunkte für einen Verstoß gibt. Für alles andere dürfte die Zeit fehlen. Im vorliegenden Fall fokussiert sich die Prüfung auf eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Daneben könnten Bearb. noch eine Verletzung der Berufsfreiheit, der Eigentumsgarantie und des Bestimmtheitsgrundsatzes prüfen. Da der Sachverhalt hier aber erkennbar auf Art. 3 Abs. 1 GG abzielt, sollte dessen Prüfung den klaren Schwerpunkt bilden. Es bietet sich aus diesem Grund an, die Prüfung der anderen Aspekte ans Ende zu schieben und nur die restlich verbliebene Zeit hierauf zu verwenden. Im Rahmen der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG kommt es darauf an, einen strukturierten Prüfungsaufbau zu wählen und die maßgeblichen, im Sachverhalt angesprochenen Prinzipien (Leistungsfähigkeitsprinzip, Folgerichtigkeitsprinzip) richtig zu verorten. Die diversen im Sachverhalt aufgeworfenen Argumente geben zudem einen klaren Hinweis darauf, dass von Bearb. eine ausführliche Abwägung der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung erwartet wird. Wesentlicher Teil der Leistung ist es dabei, die vom Sachverhalt vorgegebenen Argumente zu verwerten und zu einem argumentativ nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen.

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C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I.

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Gesetzgebungskompetenz 14

II. Gesetzgebungsverfahren 16 III. Materielle Verfassungsmäßigkeit 17 1. Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG 18 a) Ungleichbehandlung 19 b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung 24 aa) Sachlicher Grund 25 bb) Weitere Voraussetzungen 28 (1) Prüfungsmaßstab 29 (2) Geeignet, erforderlich, angemessen 31 c) Ergebnis zu Art. 3 Abs. 1 GG 34 2. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG 35 3. Eigentumsfreiheit, Art. 14 Abs. 1 GG 36 4. Bestimmtheitsgebot 37 IV. Ergebnis 38

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Rz. 13 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

D. Ausformulierte Lösung 13

Das geplante Gesetz ist verfassungsgemäß, wenn dem Bund die Gesetzgebungskompetenz zusteht, das Gesetzgebungsverfahren eingehalten wurde und das Gesetz materiell mit dem Grundgesetz vereinbar ist. I. Gesetzgebungskompetenz

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Der Bund müsste die Gesetzgebungskompetenz für die geplante Ergänzung des EStG haben. Das richtet sich nach den Vorgaben des Art. 105 GG. Die Einkommensteuer zählt zu den in Art. 105 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichneten „übrigen Steuern“, für die der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz hat, wenn ihm das Aufkommen der Steuer zumindest zum Teil zusteht.11 Gem. Art. 106 Abs. 3 GG handelt es sich bei der Einkommensteuer um eine Gemeinschaftsteuer, an deren Aufkommen der Bund zur Hälfte beteiligt wird. Der Bund hat somit die Gesetzgebungskompetenz.

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Hinweis: Da die Gesetzgebungskompetenz bei der Einkommensteuer völlig unproblematisch ist, könnte dieser Punkt auch noch deutlich kürzer gefasst werden, etwa: Gem. Art. 105 Abs. 2; 106 Abs. 3 GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Einkommensteuer, sodass die vorliegend geplante Ergänzung des EStG der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterfällt.

II. Gesetzgebungsverfahren 16

Zum derzeitigen Zeitpunkt handelt es sich erst um einen Vorschlag im Rahmen der Koalitionsverhandlungen. Das Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht eingeleitet, sodass die Verfahrensanforderungen der Art. 76 ff. GG noch eingehalten werden können, um das Gesetz formell verfassungsgemäß zu erlassen. III. Materielle Verfassungsmäßigkeit

17

Der vorgeschlagene § 21 Abs. 4 EStG wäre verfassungsgemäß, wenn er nicht gegen die materiellen Regeln der verfassungsmäßigen Ordnung verstößt. Die Regelung könnte aber Grundrechte verletzen. 1. Allgemeiner Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG

18

Die Neuregelung des § 21 Abs. 4 EStG könnte gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, wenn durch sie eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung entstehen würde.

11 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 2.34.

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Fall 1: Betongold | Rz. 21

a) Ungleichbehandlung Zu prüfen ist somit, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG gegeben ist. Eine solche Ungleichbehandlung ist anzunehmen, wenn wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird.

19

Um eine Ungleichbehandlung festzustellen, bedarf es demnach eines geeigneten Vergleichsmaßstabes, der bereichsspezifisch zu bestimmen ist. Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als rechtlich gleich qualifiziert, wird insbesondere im Bereich des Einkommensteuerrechts aber durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit begrenzt. Danach muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen angemessen sein muss. Bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt werden.12

20

Der vorgeschlagene § 21 Abs. 4 EStG würde also eine Ungleichbehandlung darstellen, wenn er nicht den einkommensteuerlichen Grundprinzipien zur Ausgestaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips folgen würde. Im Einkommensteuerrecht bemisst der Gesetzgeber die maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits. Deshalb sind Aufwendungen für die Erwerbstätigkeit gem. §§ 4 Abs. 4; 9 EStG und existenzsichernde Aufwendungen im Rahmen von Sonderausgaben, Familienleistungsausgleich und außergewöhnlichen Belastungen gem. §§ 10 ff., 31 f., 33 ff. EStG grundsätzlich steuerlich abziehbar. Im Rahmen des objektiven Nettoprinzips hat der Gesetzgeber des Einkommensteuergesetzes die Zuordnung von Aufwendungen zum betrieblichen bzw. beruflichen Bereich, derentwegen diese Aufwendungen von den Einnahmen grundsätzlich abzuziehen sind, danach vorgenommen, ob eine betriebliche bzw. berufliche Veranlassung besteht (vgl. §§ 4 Abs. 4; 9 Abs. 1 Satz 1 EStG). Dagegen mindern Aufwendungen für die Lebensführung außerhalb des Rahmens von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen gem. § 12 Nr. 1 EStG nicht die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage.13

21

12 Siehe bereits vorstehend Rz. 4 m.w.N.; BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 57 (st. Rspr.). 13 Zum gesamten Absatz: St. Rspr. des BVerfG, siehe z.B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 62.

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Rz. 22 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

22

§ 21 Abs. 4 EStG schließt die das objektive Nettoprinzip prägende Berücksichtigung von Erwerbsaufwendungen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zwar nicht vollständig aus, setzt den Abzug aber auf einen pauschalen Betrag i.H.v. 4.000 Euro fest. Die tatsächlichen Aufwendungen des Steuerpflichtigen, die durch die Vermietungs- und Verpachtungstätigkeit veranlasst werden, finden – unabhängig davon, ob sie höher oder geringer als 4.000 Euro waren – dementsprechend keine Berücksichtigung. Die Aufwendungen werden schlicht mit einem Pauschalbetrag abgegolten. Damit wird das objektive Nettoprinzip bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung nicht mehr uneingeschränkt umgesetzt. Bei den meisten anderen Einkunftsarten (mit Ausnahme der Einkünfte aus Kapitalvermögen) wird der Abzug von Erwerbsaufwendungen hingegen weiterhin uneingeschränkt zugelassen, sodass der Gesetzgeber sich mit der Neuregelung erkennbar nicht gänzlich von der Grundentscheidung des objektiven Nettoprinzips abwendet. Die geplante Änderung führt somit zu einer Abweichung von einer maßgeblichen gesetzgeberischen Grundentscheidung und damit zu einer Ungleichbehandlung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 GG.

23

Hinweis: Bei der Prüfung der Vereinbarkeit von Regelungen mit Grundrechten sollte – wie auch sonst immer – auf eine saubere Terminologie geachtet werden. Eine „Verletzung“ oder ein „Verstoß“ gegen ein Grundrecht liegt erst dann vor, wenn die Ungleichbehandlung (bei den Gleichheitsrechten) bzw. der Eingriff in den Schutzbereich (bei den Freiheitsgrundrechten) nicht gerechtfertigt ist.

b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung 24

Die Ungleichbehandlung könnte aber gerechtfertigt sein, sodass der allgemeine Gleichheitssatz dennoch nicht verletzt ist. aa) Sachlicher Grund

25

Zur Rechtfertigung bedürfte es eines sich aus der Natur der Sache ergebenden oder sonst erkennbaren sachlich einleuchtenden Grundes für die Ungleichbehandlung.14 Der Spielraum des Gesetzgebers endet dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt.15 Vorliegend wurde der Vorschlag einerseits mit der Erhöhung der staatlichen Einnahmen, die angesichts der „klammen Staatskassen“ nötig seien, und andererseits mit der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens durch die Typisierung begründet.

26

Der erste Grund ist ein rein fiskalischer. Zwar sind die Steuern grundsätzlich Einnahmequelle des Staates, der Gesetzgeber kann dabei aber nicht willkürlich agieren. Die Grundrechte – insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz – dienen dabei gerade als 14 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 101 m.w.N. 15 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 101 m.w.N.

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Fall 1: Betongold | Rz. 29

Grenze. Fiskalzwecke zur Rechtfertigung heranzuziehen wäre insofern gewissermaßen ein Zirkelschluss. Will der Gesetzgeber Mehreinnahmen durch Steuern generieren, muss er dies gerade gleichheitsgerecht machen. Der Fiskalzweck ist dementsprechend kein tauglicher Rechtfertigungsgrund.16 Der ergänzend angeführte Grund der Verwaltungsvereinfachung dient hingegen der Praktikabilität der Steuerverwaltung als Massenfallverwaltung und ist als sachgerechter Grund anzuerkennen.17 Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Typisierung bedeutet, bestimmte in wesentlichen Elementen gleich geartete Lebenssachverhalte normativ zusammenzufassen. Vorliegend wurden die Situationen aller Steuerpflichtigen, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung beziehen, verallgemeinernd geregelt, sodass ein solcher Fall der Typisierung vorliegt. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung ist somit gegeben.

27

bb) Weitere Voraussetzungen Fraglich ist aber, ob dieser sachliche Grund allein bereits der Rechtfertigung genügt oder ob es einer eingehenderen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne der sog. „neuen Formel“ bedarf.

28

(1) Prüfungsmaßstab Grundsätzlich lässt das BVerfG bei einer Ungleichbehandlung bereits einen sachlichen Grund für die Rechtfertigung genügen. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich jedoch, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind (sog. personenbezogene Merkmale) oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern sowie, wenn die Ungleichbehandlung gleichzeitig eine freiheitsrechtliche Relevanz hat.18 Zudem kann die Freiheit des Gesetzgebers im Steuerrecht durch das Ausmaß der mit der Steuerverschonung bewirkten Ungleichbehandlung und durch deren Auswirkung auf die gleichheitsgerechte Erhebung dieser Steuer insgesamt eingeschränkt sein. Je nach Intensität der Ungleichbehandlung kann dies zu einer strengeren Kontrolle der Förderziele durch das Bundesverfassungsgericht führen.19 Die vorliegend vorgesehene Pauschalierung führt dazu, dass Steuerpflichtige mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung diesbezüglich nicht ihre tatsächlichen Werbungskosten steuerlich ansetzen können, während dies in anderen Einkunftsarten weiterhin voll möglich ist. Die Pauschalierung kann sich – je nach tatsächlichen Ausgaben des Steuerpflichtigen – im Verhältnis zu anderen Steuerpflichtigen signifikant benachteiligend oder privilegierend auswirken und nimmt damit deutlichen Einfluss auf die lastengerechte Steu16 So auch die st. Rspr. des BVerfG, z.B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210248, juris Rz. 61 m.w.N. 17 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 61. 18 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. II 2015, 50, juris Rz. 122 m.w.N. 19 BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BStBl. II 2015, 50, juris Rz. 127.

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Rz. 29 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

ererhebung. Zudem besteht für Steuerpflichtige, die die Vermietungstätigkeit zur Schaffung einer Lebensgrundlage ausüben, jedenfalls eine gewisse Nähe zur Berufsfreiheit sowie insgesamt zur Eigentumsfreiheit, sodass auch eine freiheitsrechtliche Relevanz anzunehmen ist. Vor dem Hintergrund dieser Aspekte ist der verschärfte Rechtfertigungsmaßstab anzusetzen und eine weitergehende Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich. 30

Alternativer Aufbau: Es wäre auch möglich, den Prüfungsmaßstab vor der Prüfung des sachlichen Grundes herzuleiten. Allerdings ist der sachliche Grund in jedem Fall – also auch bei der Willkürkontrolle – erforderlich. Gutachterlich kommt es auf den Prüfungsmaßstab also streng genommen erst danach an. Läge bereits kein sachlicher Grund vor, würde sich die Frage nach der „neuen Formel“ nicht mehr stellen.

(2) Geeignet, erforderlich, angemessen 31

Die Regelung müsste also geeignet, erforderlich und angemessen sein. Geeignet ist eine Regelung, wenn sie den verfolgten Zweck zumindest fördert. Vorliegend verfolgt § 21 Abs. 4 EStG einen Vereinfachungszweck. Die Regelung müsste also auch tatsächlich zumindest zu einer gewissen Vereinfachung der Verwaltungspraxis führen. Durch die Pauschalierung würde es sich erübrigen, die tatsächlich entstandenen Erwerbsaufwendungen für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu ermitteln. Allerdings gilt die Pauschale pro Objekt, sodass die Finanzbehörden dennoch ermitteln müssten, wie viele Objekte ein Steuerpflichtiger hat. Insoweit bliebe also ein gewisser Ermittlungsaufwand bestehen. Nichtsdestotrotz würde der Ermittlungsaufwand dadurch erheblich reduziert, dass keine einzelnen Aufwendungsposten mehr überprüft werden müssten. Der Vereinfachungszweck wird mithin erreicht.

32

Eine im Hinblick auf die Vereinfachung gleich effektive, aber für den Steuerpflichtigen weniger belastende Maßnahme ist nicht ersichtlich, sodass die Regelung erforderlich ist.

33

Die Regelung müsste aber auch angemessen sein, d.h. die Vorteile der Typisierung müssen im rechten Verhältnis zu der mit ihr notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen.20 Das Vereinfachungsinteresse und das Interesse an möglichst hoher Einzelfallgerechtigkeit müssten also in möglichst schonenden Ausgleich gebracht worden sein. Für eine typisierende Regelung setzt das voraus, dass sie auch tatsächlich den typischen Fall erfasst. Um das zu gewährleisten, muss sie auf einer möglichst breiten, alle betreffenden Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung beruhen.21 Ist dies gewährleistet, muss die einzelne typisierende Regelung nicht allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung tragen.22 Vorliegend ist die Grundlage für die Höhe der Pauschalierung allein 20 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082, juris Rz. 108 m.w.N. 21 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 60; Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 3.148. 22 BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210, juris Rz. 60.

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Fall 1: Betongold | Rz. 36

die persönliche Erfahrung des X mit seinen eigenen Immobilien. Eine breitere Informationsgrundlage wurde nicht herangezogen. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Aufwendungen des X für eigenkapitalfinanzierte Immobilien typisch sind, so wurde zumindest die große Gruppe derjenigen Vermieter außer Acht gelassen, deren Immobilien vorrangig fremdkapitalfinanziert sind. Es wurden somit ganz offensichtlich nicht alle betroffenen Gruppen bei der Regelungsfindung berücksichtigt, sodass bereits nicht angenommen werden kann, dass der typische Fall gesetzgeberisch sauber abgebildet wurde. Infolgedessen ist die Regelung nicht angemessen und somit insgesamt unverhältnismäßig. c) Ergebnis zu Art. 3 Abs. 1 GG Eine Rechtfertigung gelingt mithin nicht, sodass § 21 Abs. 4 EStG gegen das Folgerichtigkeitsgebot und somit den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt.

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2. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG

Die Regelung könnte überdies die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzen. Die Vermietung und Verpachtung von Immobilien dürfte bei vielen Steuerpflichtigen eine auf Dauer angelegte Tätigkeit, die der Schaffung bzw. Erhaltung einer Lebensgrundlage dient, also ein Beruf i.S.d. Art. 12 Abs. 1 GG sein. Für einen Eingriff in die Berufsfreiheit ist aber erforderlich, dass die Regelung eine objektiv berufsregelnde Tendenz hat.23 Das ist nur der Fall, wenn sich die Regelung unmittelbar auf die berufliche Tätigkeit auswirkt. Hier wird die Vermietungstätigkeit an sich nicht direkt berührt. Der Abzug von Erwerbsaufwendungen hat keinen unmittelbaren Einfluss auf die Tätigkeit, sondern beeinträchtigt diese nur mittelbar, indem die Vermietung durch die dadurch ggf. erhöhte Steuerbelastung weniger attraktiv werden könnte. Diese Folgen sind aber so mittelbar, dass eine objektiv berufsregelnde Tendenz nicht angenommen werden kann und Art. 12 Abs. 1 GG somit mangels Eingriffs nicht verletzt ist.

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3. Eigentumsfreiheit, Art. 14 Abs. 1 GG Möglich erscheint aber eine Verletzung der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, die grundsätzlich alle vermögenswerten Rechtspositionen schützt. Die Bedeutung für das Steuerrecht und die diesbezügliche Reichweite des Schutzbereichs ist nicht abschließend geklärt. Ein Eingriff in den Schutzbereich durch steuerrechtliche Regelungen ist aber nach überwiegender Auffassung jedenfalls anzunehmen, wenn die resultierenden Steuern erdrosselnde Wirkung entfalten und – nach jüngerer Rechtsprechung des BVerfG – wenn der Steuerzugriff an das Innehaben von vermögenswerten Rechtspositionen anknüpft.24 Letzteres ist bei der Einkommensteuer der Fall, sodass die geplante Regelung als Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG zu werten ist. Dieser könnte als Inhalts- und Schrankenregelung, die vom Gesetzesvorbehalt des Art. 14 GG grundsätzlich zulässig ist, gerechtfertigt sein. Allerdings scheitert die Rechtfertigung hier aus den schon im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG dargelegten 23 Siehe dazu Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 3.188. 24 BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97, juris Rz. 34.

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Rz. 36 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

Gründen an der Verhältnismäßigkeit, sodass auch eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG gegeben ist. 4. Bestimmtheitsgebot 37

Die Regelung könnte auch gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen. Als Grundsatz des Rechtsstaates verlangt das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dass die Ermächtigungen der Exekutive zu Eingriffen in die Rechte der Bürger für Letztere möglichst berechenbar sein müssen. Dies unterstreicht auch die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Rechtschutzgarantie, die nur dann gewährleistet ist, wenn Richter die Normanwendung der Exekutive anhand eines hinreichend bestimmt gefassten Gesetzes überprüfen können.25 Die effektive Grundrechtswahrnehmung verlangt zudem, grundrechtsrelevante Vorschriften in ihren Voraussetzungen und in ihrem Inhalt so klar zu formulieren, dass die Rechtslage für den Betroffenen erkennbar ist und er sein Verhalten danach einrichten kann,26 und ist damit ebenfalls Grundlage des Bestimmtheitsgebotes. Diese Anforderungen könnten bei § 21 Abs. 4 EStG im Hinblick auf die Verwendung des Merkmals „Objekt“ nicht erfüllt sein. Es wird nicht näher bestimmt, was als ein Objekt zu verstehen ist. So könnten sich Steuerpflichtige fragen, ob bei Mehrfamilienhäusern jede Wohnung oder doch nur das gesamte Haus ein Objekt ist. Allerdings sind hier auch die Grenzen des gesetzgeberisch Möglichen zu beachten. Ist eine präzisere Regelung nicht sinnvoll möglich, ist ein gewisses Maß an Unsicherheit, das sich durch Auslegung klären lässt, hinzunehmen. Hier müssen von der Regelung die verschiedensten Arten von Vermietungs- und Verpachtungsobjekten erfasst werden. Sie beschränkt sich nicht auf Ein- oder Mehrfamilienhäuser. Insofern muss ein Oberbegriff gefunden werden, der alle Situationen trifft. Das ist mit dem Begriff „Objekt“ gelungen. Vor diesem Hintergrund dürften die Grenzen der hinreichenden Bestimmtheit noch nicht überschritten sein. IV. Ergebnis

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Infolge der Verletzung des Allgemeinen Gleichheitssatzes und der Eigentumsgarantie ist die geplante Regelung nicht mit der Verfassung vereinbar.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 39

– Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 3.110 ff. – Epping, Grundrechte, 9. Auflage 2021, Rz. 768 ff., insb. Rz. 801 ff. – BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210-248 (Pendlerpauschale) – BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318 (Häusliches Arbeitszimmer) – BVerfG v. 18.1.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97-118 (Halbteilungsgrundsatz) 25 BVerfG v. 10.10.1961 – 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153, juris Rz. 23 f. 26 BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 210/79, BVerfGE 62, 169, juris Rz. 45.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt Schwerpunkte: – Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides – Grundsatz der Akzessorietät der Haftung – Drittwirkung der Steuerfestsetzung Bearbeitungszeit: 2,5 Stunden Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt A war Geschäftsführer der körperschaftsteuerpflichtigen XY-GmbH und unter anderem mit der Erfüllung steuerlicher Verpflichtungen betraut. Für den Veranlagungszeitraum 00 reichte A eine Körperschaftsteuererklärung im Jahr 02 für die XYGmbH ein. Das zuständige Finanzamt B führte daraufhin die Veranlagung erklärungsgemäß durch und gab am 1.6.03 einen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) stehenden Körperschaftsteuerbescheid für 00 mit einer Körperschaftsteuerzahllast von 100.000 Euro ordnungsgemäß bekannt. Körperschaftsteuerzahlungen wurden in der Folgezeit jedoch nicht geleistet, obwohl ausreichende finanzielle Mittel im Vermögen der XY-GmbH bis zum Ende des Jahres 03 vorhanden waren. Auch sonstige Maßnahmen wurden nicht ergriffen. Der A hatte seine Pflichten als Geschäftsführer insgesamt zusehends vernachlässigt. Mit Wirkung zum 1.12.03 wurde die Geschäftsführer-Bestellung des A wirksam widerrufen. Um den Scherbenhaufen, den A als Geschäftsführer hinterlassen hatte, aufzukehren, wurde anschließend die dynamische Z zur neuen Geschäftsführerin bestellt. Trotz aller Bemühungen gelang es aber auch der Z nicht, die Lage der XYGmbH nachhaltig zu verbessern. Weil bis zum 1.6.04 (Mittwoch) nach wie vor noch keinerlei Zahlungen geleistet worden waren und Vollstreckungsmaßnahmen gegenüber der XY-GmbH aussichtslos erschienen, erließ das Finanzamt B am selben Tag per einfachem Brief einen Haftungsbescheid gegen A über den Betrag von 100.000 Euro und forderte ihn auf, diesen Betrag innerhalb von einem Monat zu zahlen. Zur Begründung gibt der Bescheid an, dass A in Anspruch genommen werde, weil er in seiner Zeit als Geschäftsführer in der Lage gewesen wäre, die Steuern aus den Mitteln der Gesellschaft zu begleichen, damit grob fahrlässig gehandelt habe und eine Beitreibung bei der GmbH aussichtlos erscheine. Weitere Erläuterungen enthält der Bescheid nicht. Er ist im Übrigen formell nicht zu beanstanden, ordnungsgemäß bekanntgegeben und enthält folgende Rechtsbehelfsbelehrung:

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Rz. 1 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

„Der Haftungsbescheid und das Leistungsgebot können mit dem Einspruch angefochten werden. Ein Einspruch ist jedoch ausgeschlossen, soweit dieser Bescheid einen Verwaltungsakt ändert oder ersetzt, gegen den ein zulässiger Einspruch oder (nach einem zulässigen Einspruch) eine zulässige Klage, Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde anhängig ist. In diesem Fall wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Rechtsbehelfsverfahrens. Der Einspruch ist bei dem [zutreffend bezeichneten] Finanzamt B, Königsallee 21, Stadt B, schriftlich einzureichen, diesem elektronisch zu übermitteln oder dort zur Niederschrift zu erklären. Die Frist für die Einlegung eines Einspruchs beträgt einen Monat. Sie beginnt mit Ablauf des Tages, an dem Ihnen dieser Bescheid bekannt gegeben worden ist. Bei Zusendung durch einfachen Brief gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, dass der Bescheid zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.“ Am 8.7.04 (Montag) ging beim zuständigen Finanzamt B ein schriftlicher Einspruch des A gegen den Haftungsbescheid und das Leistungsgebot ein. A begründet dort seinen Einspruch damit, dass die Körperschaftsteuerzahllast um 30.000 Euro zu hoch sei. Die zutreffende Körperschaftsteuerzahllast betrage statt 100.000 Euro nur 70.000 Euro. Dementsprechend könne er auch nur in Höhe von 70.000 Euro als Haftungsschuldner in Anspruch genommen werden. Weiterhin macht A geltend, dass die Z als Geschäftsführerin der XY-GmbH als sachnähere Person primär als Haftungsschuldnerin in Anspruch zu nehmen sei. Aufgabe: Beurteilen Sie die Erfolgsaussichten des Einspruchs und prüfen Sie hierbei gutachterlich die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides. Gehen Sie in Ihrem Gutachten auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen ein. Gehen Sie ferner davon aus, dass die von A angeführten Umstände zutreffend sind und die materiell richtige Körperschaftsteuerzahllast 70.000 Euro beträgt. Sollten Sie zu dem Ergebnis kommen, dass der Einspruch unzulässig ist, ist gleichwohl die Begründetheit zu prüfen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Die Klausur behandelt im Schwerpunkt Fragen aus dem Steuerschuldrecht und aus dem Haftungsrecht. Haften bedeutet im Steuerrecht das Einstehen für eine fremde Steuerschuld. Demgegenüber steht der Steuerschuldner für eine eigene Steuerschuld ein. Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind folglich nie identisch.1 Sowohl der Steueranspruch als auch der Haftungsanspruch entstehen gem. § 38 AO, sobald der Tatbestand erfüllt ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Für die Steueransprüche finden sich diese anspruchsbegründenden Tatbestände in den Einzelsteuergesetzen (z.B. § 36 Abs. 1 EStG für die Einkommensteuer, § 30 Nr. 3 KStG für die Körperschaftsteuer, §§ 13, 13b Abs. 1–3 UStG für die Umsatzsteuer), die oftmals zur Bestimmung der konkreten Steuerhöhe die Anwendung einer Vielzahl von Normen 1 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.63, siehe aber auch dort Fn. 48.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 6

zur Bestimmung der Bemessungsgrundlage und des Steuersatzes voraussetzen. Anspruchsgrundlagen für die Entstehung der Haftungsschuld finden sich in der Abgabenordnung (§§ 69–76 AO), aber auch in den Einzelsteuergesetzen (z.B. § 42d EStG) oder im Zivilrecht (z.B. § 25 HGB).2 Beide Ansprüche – der Steueranspruch und der Haftungsanspruch – stehen nebeneinander, sichern aber letztlich wirtschaftlich denselben Geldanspruch: Den Steueranspruch schuldet der Steuerschuldner, den Haftungsanspruch hat der Haftungsschuldner zu zahlen. Der Sinn und Zweck ist kurzgesagt: Der Staat hat mehrere Schuldner, auf die er für ein und denselben Geldanspruch zugreifen kann, sodass die Eintreibung mehrfach gesichert ist.3 Dennoch hat der Staat selbstverständlich insgesamt nur einmal Anspruch auf Zahlung: Steuerschuldner und Haftungsschuldner sind Gesamtschuldner i.S.d. § 44 AO.4

3

Ist ein Haftungstatbestand einschlägig, existieren daher grundsätzlich jeweils zwei Rechtsverhältnisse: Einmal das Verhältnis des Staates zum Steuerschuldner und einmal das Verhältnis des Staates zum Haftungsschuldner. In einer gutachterlichen Prüfung sind daher diese beiden Verhältnisse immer getrennt voneinander zu betrachten und zu beurteilen.

4

In beiden Rechtsverhältnissen ist dabei grundsätzlich die materiell richtige Steuer zu zahlen. Aber: Die Verwirklichung, also die Erhebung dieser gesetzlichen Steueransprüche, wird erst durch Steuerverwaltungsakte möglich; die Festsetzung des Steueranspruchs auf einer ersten Stufe ermöglicht die Geltendmachung dieses Steueranspruchs (§ 218 Abs. 1 AO). Bezogen auf Haftungsfälle ist zu unterscheiden:

5

– Im Verhältnis Staat – Steuerschuldner erfolgt die Festsetzung der Steuer durch Steuerbescheid (§§ 155, 157 AO), – im Verhältnis Staat – Haftungsschuldner erfolgt die Festsetzung der Haftungsschuld durch Haftungsbescheid (§ 191 AO). Nach § 124 Abs. 1 AO ist der Verwaltungsakt gegenüber demjenigen wirksam, für den er bestimmt ist und dem er bekannt gegeben worden ist. Er wirkt folglich nur inter partes. Da der Steuerbescheid nur dem Steuerschuldner, nicht aber dem Haftungsschuldner bekannt gegeben wird, konkretisiert er nur den Steueranspruch im Verhältnis Staat-Steuerschuldner. Ist dieser Anspruch zu hoch festgesetzt (wie im hiesigen Fall), berührt diese von der materiellen Steuerschuld abweichende Steuerfestsetzung folglich nur das Verhältnis zwischen Steuerschuldner und Staat. Für das Verhältnis Staat-Haftungsschuldner bedeutet dies Folgendes: Der Haftungsschuldner haftet grundsätzlich nur in Höhe der materiell zutreffenden Steuer (hier: 70.000 Euro). 2 Siehe zur Übersicht der einzelnen Haftungstatbestände im Steuer- und Zivilrecht Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.66 ff.; Bröder, SteuerStud 2005, Beilage 2, 1, 2 ff. 3 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), Vor § 69 AO Rz. 8. 4 Zur Wirkung der Gesamtschuldnerschaft siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.58 ff.

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Rz. 7 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

7

Dies ist die Akzessorietät der Haftung. Die um 30.000 Euro zu hohe Steuerfestsetzung gilt gegenüber dem Haftungsschuldner nicht; denn – wie bereits gesagt – der Steuerbescheid ist ihm gegenüber nicht bekannt gegeben worden.

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Doch kein Grundsatz ohne Ausnahme: Unter bestimmten Voraussetzungen, die in § 166 AO vorgegeben sind, entfaltet die Steuerfestsetzung entgegen den gerade dargestellten Grundsätzen gegenüber dem Haftungsschuldner eine sog. Drittwirkung. II. Anforderungsprofil

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Die Aufgabenstellung verlangt eine „gutachterliche Prüfung“ der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides, sodass umfassend zu prüfen ist, inwieweit der Bescheid rechtswidrig ist. Es ist also nicht ausreichend, nach dem Feststellen einer Rechtswidrigkeit die Prüfung abzuschließen, sondern darüber hinaus zu prüfen, ob noch andere Sachverhaltsaspekte zur weiteren Rechtswidrigkeit des Bescheides führen. Der Abdruck der Rechtsbehelfsbelehrung in einer Klausur signalisiert, dass eine Auseinandersetzung mit der Rechtmäßigkeit und Vollständigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb der Prüfung der Einspruchsfrist gefordert ist. Die Wiedergabe von Ermessenserwägungen macht deutlich, dass hier ein Problem liegt, das im Gutachten gewürdigt werden soll. Aufbautechnisch sind keine Besonderheiten zu berücksichtigen, sondern es ist wie gewohnt die Zulässigkeit und Begründetheit eines Einspruches zu prüfen.

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Der Schwerpunkt der Bearbeitung des Falles liegt im materiellen Recht, denn hier wird eine seltene – aber interessante – Fallkonstellation im Haftungsbescheid im Zusammenhang mit der Akzessorietät der Haftung abgeprüft: die Drittwirkung der Steuerfestsetzung nach § 166 AO. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Falles, dem sich die ausformulierte Lösung auch entsprechend ausführlich widmet und der in der Klausursituation die meisten Punkte „bringt“. Darüber hinaus wird in der Prüfung der Zulässigkeit des Einspruchs5 in Gestalt der Fristenprüfung ein Standardproblem abgefragt, das in beinahe jede steuerverfahrensrechtliche Klausur „eingebaut“ werden kann und daher sicher beherrscht werden sollte. Die Prüfung der Begründetheit fordert einen stringenten Prüfungsaufbau, in dem die Voraussetzungen des Haftungsbescheides abzuhandeln sind: Haftungstatbestand, die Akzessorietät der Haftung samt Diskussion um die Drittwirkung der Steuerfestsetzung. Ebenfalls gutachterlich zu würdigen ist das Ermessen der Finanzbehörde. Hierbei rückt die neue Geschäftsführerin, die Z, in den Fokus, und es stellt sich die Frage, inwieweit auch sie die Voraussetzungen einer Haftungsinanspruchnahme erfüllt und ggf. allein oder neben dem A durch die Finanzbehörde hätte in Anspruch genommen werden können bzw. müssen.

5 Siehe dazu den Überblick über die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen Seer in Tipke/ Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.12 ff.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 13

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Zulässigkeit des Einspruchs 13 1. Statthaftigkeit (§ 347 AO) 14 2. Form (§ 357 AO) 16 3. Beschwer (§ 350 AO) 17 4. Frist (§ 355 AO) 18 a) Dauer der Einspruchsfrist 19 b) Beginn und Ende der Einspruchsfrist 20 5. Ergebnis 23 II. Begründetheit des Einspruchs bzgl. des Haftungsbescheides 25 1. Ermächtigungsgrundlage 26 2. Formelle Rechtmäßigkeit 27 3. Materielle Rechtmäßigkeit 28 a) Haftungstatbestand 29 b) Übrige Voraussetzungen 31 c) Akzessorietät der Haftung 33 aa) Grundsatz: Maßgeblichkeit der materiell-rechtlich entstandenen Steuer 34 bb) Ausnahme: Drittwirkung der Steuerfestsetzung 35 d) Ermessen 44 4. Ergebnis 48 III. Begründetheit des Einspruchs bzgl. des Leistungsgebotes 49 IV. Ergebnis 52

D. Ausformulierte Lösung Der Einspruch des A gegen den Haftungsbescheid und das Leistungsgebot vom 1.6.04 hat Erfolg, soweit er zulässig und begründet ist.

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I. Zulässigkeit des Einspruchs Ein Einspruch ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind, was die Finanzbehörde gem. § 358 Satz 1 AO zu prüfen hat. Ob die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, bestimmt sich nach den §§ 347 ff. AO. 17

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Rz. 14 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

1. Statthaftigkeit (§ 347 AO) 14

Der Einspruch müsste zunächst statthaft sein. Statthaft ist der Einspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gegen Verwaltungsakte in Abgabenangelegenheiten, auf die die Abgabenordnung Anwendung findet. Abgabenangelegenheiten sind gem. § 347 Abs. 2 AO alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten. Durch den Haftungsbescheid wird der Haftungsanspruch des Staates gegen den Haftungsschuldner konkretisiert. Der Haftungsbescheid ist somit Verwaltungsakt i.S.d. § 118 Satz 1 AO i.V.m. § 191 Abs. 1 Satz 1 AO. Der Einspruch gegen den Haftungsbescheid ist folglich statthaft. Statthaft ist der Einspruch ebenfalls gegen die Zahlungsaufforderung i.S.d. § 219 AO, die als Leistungsgebot i.S.d. § 254 AO einen Verwaltungsakt darstellt.

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Hinweis: Die hier sehr ausführliche Prüfung der Statthaftigkeit des Einspruches kann in der Klausur auch kurz erfolgen, wenn dies unproblematisch ist, etwa weil unzweifelhaft ein Verwaltungsakt vorliegt. Formulierungsbeispiel: „Der Einkommensteuerbescheid ist gem. §§ 118, 155, 157 AO ein Verwaltungsakt in Abgabenangelegenheiten und der Einspruch gegen ihn folglich gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 AO statthafter Rechtsbehelf.“ Sinnvoll ist es, in jedem Fall vorab überschlägig zu prüfen, ob ein wirksamer Verwaltungsakt vorliegt. Liegen im Fall lediglich Realakte vor oder ist eine Zugangs- bzw. Wirksamkeitsproblematik im Sachverhalt angelegt (§§ 122, 124 AO), ist das an dieser Stelle der Einspruchsprüfung zu problematisieren. Die Differenzierung zwischen dem Haftungsbescheid als solchem und dem Leistungsgebot macht deutlich, dass zwei unterschiedliche Verwaltungsakte vorliegen, die auch separat angefochten werden müssen (siehe auch § 256 AO).

2. Form (§ 357 AO) 16

Der Einspruch müsste auch formgerecht eingelegt worden sein. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO sieht vor, dass der Einspruch schriftlich oder elektronisch eingereicht wird. Weiterhin genügt es gem. § 357 Abs. 1 Satz 2 AO, wenn aus dem Einspruch hervorgeht, wer ihn eingelegt hat. A hat den Einspruch schriftlich eingelegt. Es ist mangels ausdrücklicher Angaben davon auszugehen, dass sich aus dem Einspruch auch ergibt, dass A diesen eingelegt hat. Der Einspruch ist somit formgerecht. 3. Beschwer (§ 350 AO)

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Der A müsste gem. § 350 AO auch befugt sein, Einspruch einzulegen. Dazu müsste er geltend machen, durch die Verwaltungsakte beschwert zu sein. Dies ist dann der Fall, wenn es der Vortrag des Steuerpflichtigen möglich erscheinen lässt, dass eine Rechtsverletzung, eine fehlerhafte Anwendung einer Verwaltungsvorschrift oder eine unrechtmäßige Ermessensausübung vorliegt.6 A trägt hier vor, dass die Körperschaft-

6 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.15.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 20

steuer gesetzlich nur in Höhe von 70.000 Euro entstanden sei. Dies macht es möglich, dass die Haftungsinanspruchnahme des A i.H.v. 100.000 Euro gegen den Grundsatz der Akzessorietät der Haftung verstoßen könnte und somit nicht tatbestandsmäßig wäre. Eine Rechtsverletzung erscheint damit möglich. Ferner macht A geltend, dass die Z als aktuelle Geschäftsführerin der XY-GmbH statt des A in Anspruch zu nehmen sei. Insoweit erscheint eine unrechtmäßige Ermessensausübung i.S.d. §§ 5, 44 AO jedenfalls möglich.7 A ist somit befugt, Einspruch einzulegen. 4. Frist (§ 355 AO) Der Einspruch müsste auch fristgerecht eingelegt worden sein.

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a) Dauer der Einspruchsfrist Die Einspruchsfrist beträgt gem. § 355 Abs. 1 Satz 1 AO einen Monat. Sie verlängert sich auf ein Jahr gem. § 356 Abs. 2 Satz 1 AO, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung nicht den in § 356 Abs. 1 AO geforderten Inhalt hat. Dazu ist der Beteiligte über den Einspruch als Rechtsbehelf, die Finanzbehörde, bei der der Einspruch einzulegen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist in der für den Verwaltungsakt verwendeten Form zu belehren. Die Rechtsbehelfsbelehrung erfüllt diese Anforderungen hier: Die Belehrung erfolgte (wie der Haftungsbescheid selbst) schriftlich, und die Finanzbehörde, das Finanzamt B, ist zutreffend mit Adresse bezeichnet. Ferner ist i.S.v. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO bezeichnet, dass der Einspruch schriftlich, elektronisch einzulegen oder zur Niederschrift zu erklären ist. Auf die Einspruchsfrist von einem Monat nebst dessen Berechnung wird ebenfalls inhaltlich zutreffend hingewiesen. Die Rechtsbehelfsbelehrung entspricht somit den gesetzlichen Anforderungen, sodass die Einspruchsfrist einen Monat beträgt.

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b) Beginn und Ende der Einspruchsfrist Die Einspruchsfrist beginnt gem. § 355 Abs. 1 Satz 1 AO mit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu laufen. Hierbei ist bei der Übermittlung eines schriftlichen Verwaltungsaktes durch einfachen Brief die Bekanntgabevermutung8 des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zu beachten. Danach gilt der Verwaltungsakt bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Haftungs-

7 Zur Ermessensausübung bei der Gesamtschuldnerschaft siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.59. 8 Entgegen weitläufiger Behauptungen handelt es sich bei § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO um eine (einseitig widerlegbare) Vermutung und keine Fiktion. Eine Fiktion setzt voraus, dass das fingierte Ereignis denklogisch nicht eintreten kann. Ein Beispiel für eine Fiktion in einem Gesetzestext wäre: „Die Katze gilt als Hund im Sinne des Gesetzes.“ oder § 1923 Abs. 2 BGB. Bei einer Vermutung kann das Ereignis so eintreten, wie das Gesetz es vermutet, hier: Der Zugang des Briefes am dritten Tag nach Aufgabe zur Post. Siehe dazu Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.61 f.; Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 122 AO Rz. 48.

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Rz. 20 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

bescheid ist am 1.6.04 zur Post aufgegeben worden, sodass er danach am 4.6.04 als bekannt gegeben gelten würde. Der 1.6.04 war ein Mittwoch, sodass es sich bei dem 4.6.04 um einen Samstag handelt. Fraglich ist, ob wegen § 108 Abs. 3 AO die Bekanntgabe auf den 6.6.04, den darauffolgenden Montag, hinausgeschoben wird. Dazu müsste es sich bei der Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO um eine Frist handeln. Eine Frist ist jeder abgegrenzte, bestimmte oder jedenfalls bestimmbare Zeitraum.9 § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO und die darin wohnende Bekanntgabevermutung gilt nicht nur für den dritten Tag: Möchte der Steuerpflichtige die Bekanntgabevermutung zu seinen Gunsten erschüttern (vgl. § 122 Abs. 2 Halbs. 1 a.E. AO), muss er die Zugangsvermutung für jeden einzelnen Tag erschüttern, sodass die Regelungswirkung der Vorschrift den gesamten Dreitageszeitraum nach Aufgabe des Verwaltungsaktes zur Post umfasst.10 Somit handelt es sich bei dem Dreitageszeitraum des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO um einen bestimmbaren Zeitraum und damit um eine Frist i.S.d. § 108 Abs. 3 AO.11 21

Alternative Lösung: Eine a.A. ist hier mit entsprechender Argumentation ohne Weiteres gut vertretbar, entbindet aber nicht – siehe Aufgabenvermerk – von der weiteren Prüfung der Begründetheit des Einspruchs. Tatsächlich entspricht die hier wiedergegebene Auffassung zwar derjenigen des Bundesfinanzhofes. Das Bundessozialgericht hat eine entsprechende Auslegung der im Wesentlichen gleichlautenden §§ 37 Abs. 2 Satz 1; 26 Abs. 3 SGB X für das Sozialrecht abgelehnt.12 Und auch in der Literatur finden sich kritische Stimmen.13 Dennoch muss die Auslegung der §§ 122 Abs. 2 Nr. 1; 108 Abs. 3 AO durch den Bundesfinanzhof für die praktische Arbeit beherrscht und angewendet werden können.

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Die Bekanntgabe des Haftungsbescheides erfolgte damit am 6.6.04. Die Einspruchsfrist läuft einen Monat, wobei sie eine Ereignisfrist ist und damit grundsätzlich gem. § 108 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 187 Abs. 1; 188 Abs. 2 BGB am 6.7.04 um 24 Uhr endet. Der 8.7.04 war lt. Sachverhalt ein Montag, mithin handelt es sich bei dem 6.7.04 um einen Samstag, sodass § 108 Abs. 3 AO abermals – diesmal auf die Einspruchsfrist – anzuwenden ist. Die Einspruchsfrist endet damit am 8.7.04 um 24 Uhr, sodass der am 8.7.04 von A eingereichte Einspruch noch fristgemäß ist. 5. Ergebnis

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Der Einspruch des A vom 8.7.04 gegen den Haftungsbescheid und das Leistungsgebot vom 1.6.04 ist somit zulässig.

9 BFH v. 14.10.2003 – IX R 68/98, BStBl. II 2003, 898, juris Rz. 11. 10 BFH v. 14.10.2003 – IX R 68/98, BStBl. II 2003, 898, juris Rz. 16. 11 BFH v. 14.10.2003 – IX R 68/98, BStBl. II 2003, 898, juris Rz. 10 ff.; juris v. 5.5.2014 – III B 85/13 Rz. 11; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.62. 12 BSG v. 6.5.2010 – B 14 AS/12/09 R, juris Rz. 10 ff. 13 Instruktiv Klotz, DStZ 2011, 332 (334 f.); siehe die Nachweise bei Brandis in Tipke/Kruse, § 108 AO Rz. 19.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 29 Hinweis: Die Prüfung des Einspruchs bietet für Lehrende vielfältige Möglichkeiten, um Probleme in eine Klausur „einzubauen“. Die hier dargestellte Lösung beinhaltet die u.E. immer zu prüfenden Essentialia, die in jedem Fall kurz in der Klausurlösung angesprochen werden sollten: Statthaftigkeit – Form – Frist – Beschwer. Darüber hinaus sollten Bearb. die Augen offenhalten, ob der Sachverhalt Hinweise auf andere (seltene!) Zulässigkeitsprobleme enthält: In Betracht kommt etwa ein Einspruchsverzicht i.S.d. § 354 AO oder eine Problematik um die Einspruchsbefugnis (§§ 352, 353 AO). Hierbei sollte zudem immer § 351 AO im Blick behalten werden, der in Abs. 1 eine deklaratorische Anfechtungsbeschränkung bei Änderungsbescheiden beinhaltet, die ihrerseits bereits unanfechtbare Steuerbescheide ändern, und in Abs. 2 eine Anfechtungsbeschränkung für das Verhältnis von Grundlagen- und Folgebescheiden beinhaltet.

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II. Begründetheit des Einspruchs bzgl. des Haftungsbescheides Der Einspruch ist begründet, soweit der Haftungsbescheid rechtswidrig ist und den A in seinen Rechten verletzt.

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1. Ermächtigungsgrundlage Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Haftungsbescheides samt Zahlungsaufforderung sind §§ 191, 219 AO.

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2. Formelle Rechtmäßigkeit Laut dem Sachverhalt ist der Bescheid insgesamt formell nicht zu beanstanden, ist also unter Einhaltung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorgaben ergangen.

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3. Materielle Rechtmäßigkeit Der Haftungsbescheid könnte aber materiell rechtswidrig sein. Das wäre er, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Haftungsbescheid nicht erfüllt sind, bereits Festsetzungsverjährung eingetreten ist oder das Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt wurde.

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a) Haftungstatbestand Der Haftungsbescheid ist materiell rechtswidrig, soweit die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage nicht vorliegen. § 191 Abs. 1 Satz 1 AO setzt zunächst eine Haftung des in Anspruch Genommenen kraft Gesetzes voraus. Eine Haftung könnte sich hier aus § 69 Satz 1 AO ergeben. Danach haften die in §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen u.a., soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind. § 34 Abs. 1 Satz 1 AO nennt die gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen. A ist als Geschäftsführer der XY-GmbH gem. § 35 Abs. 1 GmbHG Vertreter der Kapitalgesellschaft – einer juristischen Person – und fällt somit unter den in § 34 Abs. 1 Satz 1 AO genannten 21

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Rz. 29 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

Personenkreis. Als Geschäftsführer der XY-GmbH oblag es dem A, dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den von ihm verwalteten Mitteln gezahlt werden, § 34 Abs. 1 Satz 2 AO. Die XY-GmbH hat am 1.6.03 einen Körperschaftsteuerbescheid mit einer Abschlusszahlung i.H.v. 100.000 Euro erhalten und verfügte zu diesem Zeitpunkt und zum Zeitpunkt der Fälligkeit einen Monat später (§ 31 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG) auch noch über die finanziellen Mittel, um die Steuerzahlung begleichen zu können. Insoweit ist der A seiner Verpflichtung als Geschäftsführer der XY-GmbH, die Steuerzahlungen der XY-GmbH aus ihren Mitteln zu begleichen, nicht nachgekommen. A hat sich als Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft bestellen lassen, sodass mangels anderer Angaben im Sachverhalt davon auszugehen ist, dass A seine steuerliche Verpflichtung kannte und diese mindestens grob fahrlässig verletzt hat. Dies hat die Finanzbehörde in der Begründung zum Haftungsbescheid auch zutreffend festgestellt.14 Wegen der Nichterfüllung seiner Pflicht als Geschäftsführer der XY-GmbH wurden die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i.S.d. § 37 Abs. 1 AO zwischen dem Steuergläubiger und der XY-GmbH nicht rechtzeitig erfüllt. Die Voraussetzungen der §§ 69, 34 AO sind somit gegeben, sodass A kraft Gesetzes haftet und der Haftungsbescheid tatbestandsmäßig ist. 30

Hinweis: An dieser Stelle kann gedanklich die Brücke zur obigen Einführung in die Fallproblematik geschlagen werden: Die Anwendung von § 166 AO ist ein Hinweis darauf, das geprüft wird, ob das Verhältnis von Steuerschuld und Haftungsschuld verstanden worden ist. Die Norm dient quasi als Lackmustest. Denn sie kann nur dann zutreffend angewendet werden, wenn der Rechtsanwender die Grundlagen verstanden hat: § 166 AO durchbricht den Grundsatz, dass ein Verwaltungsakt nur gegenüber demjenigen gilt, für den er bestimmt ist und dem er bekanntgegeben wird. Unabhängig von der materiell-rechtlich entstandenen Steuer gilt dann die (zu hoch!) gegen den Steuerschuldner festgesetzte Steuer auch gegen den Haftungsschuldner – eine Durchbrechung der inter partes-Wirkung eines Verwaltungsaktes.

b) Übrige Voraussetzungen 31

Die Körperschaftsteuererklärung wurde im Jahr 02 abgegeben, sodass die Festsetzungsfrist für den Haftungsbescheid gem. § 191 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO am 31.12.02 beginnt und gem. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 108 Abs. 1 AO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 31.12.06 endet. Der angefochtene Haftungsbescheid stammt aus dem Jahr 04 und ist mithin innerhalb der Festsetzungsfrist ergangen, sodass noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.

14 Zu diesem Erfordernis siehe Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 69 AO Rz. 29 f.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 35 Hinweis: Das Erlöschen der Vertretungsmacht des A zum 1.12.03 hat zur Folge, dass A ab diesem Zeitpunkt die ihm auferlegten Verpflichtungen nicht mehr erfüllen kann, da er keine Handlungsbefugnisse gegenüber der XY-GmbH mehr hat. Anknüpfungspunkt für die Haftung bleibt aber die in der Vergangenheit liegende Pflichtverletzung des A. Daran ändert auch § 36 AO nichts: Dieser bestimmt lediglich, inwieweit die Pflichten nach §§ 34, 35 AO auch nach Erlöschen der Vertretungs- oder Verfügungsmacht noch fortbestehen, hebt aber nicht eine in der Vergangenheit bestehende Pflichtverletzung auf und beeinflusst die Haftung im vorliegenden Fall daher nicht.15

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c) Akzessorietät der Haftung Eine Haftung erfolgt für eine fremde Steuerschuld, sodass für die Rechtmäßigkeit der Haftungsinanspruchnahme eine akzessorische Steuerschuld bestehen muss.

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aa) Grundsatz: Maßgeblichkeit der materiell-rechtlich entstandenen Steuer Grundsätzlich erfolgt die Haftung für eine fremde Steuerschuld in Höhe des gesetzlich entstandenen Steueranspruchs, reicht also nicht weiter als die fremde gesetzliche Steuerschuld selbst. Es müsste somit ein Anspruch aus einem Steuerschuldverhältnis zwischen der XY-GmbH und dem Fiskus entstanden sein und noch bestehen, für den A haften soll. Mit Ablauf des Veranlagungszeitraums 00 ist für die XY-GmbH gem. §§ 37 Abs. 1; 38 AO, § 30 Nr. 3 KStG eine Körperschaftsteuer in Höhe von 70.000 Euro entstanden. Mangels Erfüllung und mangels Verjährung ist diese auch noch nicht i.S.v. § 47 AO erloschen. Somit liegt grundsätzlich eine gesetzlich entstandene Steuerschuld i.H.v. 70.000 Euro vor, über die ein Haftungsbescheid ergehen kann. Der Haftungsbescheid des A lautet allerdings auf eine Summe von 100.000 Euro, die der Festsetzung gegenüber der XY-GmbH entspricht, und ist damit höher als die eigentliche Steuerschuld.

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bb) Ausnahme: Drittwirkung der Steuerfestsetzung Allerdings könnte hier die der XY-GmbH bekanntgegebene Steuerfestsetzung vom 1.6.03 gem. § 166 AO Drittwirkung gegenüber A entfalten, sodass abweichend vom Grundsatz der Akzessorietät der Haftung nicht die materiell-rechtlich entstandene Steuerschuld, sondern die im Körperschaftsteuerbescheid 00 am 1.6.03 festgesetzte Steuer i.H.v. 100.000 Euro maßgeblich wäre. Dann würde der Steuerbescheid, der die Körperschaftsteuer mit 100.000 Euro um 30.000 Euro zu hoch festsetzt, zulasten des A den Steueranspruch durch einen Einwendungsausschluss modifizieren, sodass für die Haftung nicht mehr der gesetzliche Steueranspruch maßgebend ist, sondern der gegenüber der XY-GmbH festgesetzte Steuerbetrag.16 Diese Ausnahme vom Grundsatz der Akzessorietät der Haftung ist gem. § 166 AO dann einschlägig, wenn die Steuer dem Steuerpflichtigen – hier der XY-GmbH – gegenüber unanfechtbar fest15 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 36 AO Rz. 1 ff. 16 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.83.

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Rz. 35 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

gesetzt ist und der Haftungsschuldner – hier der A – in der Lage gewesen wäre, den gegen den Steuerpflichtigen erlassenen Bescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten. 36

Fraglich ist, ob gegenüber der XY-GmbH als gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG i.V.m. §§ 33 Abs. 1; 37 Abs. 1 AO Steuerpflichtige die Körperschaftsteuer unanfechtbar festgesetzt worden ist. Unanfechtbar ist eine Steuerfestsetzung dann, wenn formelle Bestandskraft eingetreten ist, also nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist i.S.d. § 355 Abs. 1 AO. Die Einspruchsfrist des am 1.6.03 bekannt gegebenen Steuerbescheides war gem. § 355 Abs. 1 AO am 1.6.04 bereits unzweifelhaft abgelaufen, sodass der Körperschaftsteuerbescheid formell bestandskräftig ist. Der A war auch während der gesamten Dauer der Einspruchsfrist Geschäftsführer der XY-GmbH und somit gem. § 35 Abs. 1 GmbHG als deren Vertreter rechtlich befugt, Einspruch gegen Verwaltungsakte einzulegen, die der XY-GmbH gegenüber ergangen sind. Die Voraussetzungen von § 166 AO würden mithin vorliegen.

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Allerdings steht die Steuerfestsetzung gegenüber der XY-GmbH unter einem weiterhin wirksamen Vorbehalt der Nachprüfung und ist dementsprechend gem. § 164 Abs. 2 AO auf Antrag des Steuerpflichtigen, hier also der XY-GmbH, jederzeit änderbar, soweit der Vorbehalt der Nachprüfung nicht gem. § 164 Abs. 4 AO entfallen oder gem. § 164 Abs. 3 Satz 1 AO aufgehoben worden ist. Diese Wirkung des § 164 AO muss bei der Auslegung des § 166 AO berücksichtigt werden. Es ist fraglich, ob § 166 AO auch in dieser Situation durchgreifen soll oder ob sein Anwendungsbereich damit überschießend wirken würde und somit teleologisch zu reduzieren ist. Wegen der weiterhin vollen Nachprüfbarkeit und Änderbarkeit der Steuerfestsetzung (auch auf Antrag) trifft der Gedanke des § 166 Alt. 2 AO, ein Dritter habe die Situation durch die rechtzeitige Einlegung eines Rechtsbehelfs verhindern können und müsse sich deshalb nun an der eingetretenen Bestandskraft festhalten lassen, in der hiesigen Fallkonstellation nicht zu.17 Es ist ja gerade Sinn und Zweck des § 164 AO, den Sachverhalt noch über die formelle Bestandskraft hinaus offenzuhalten und keine materielle Bestandskraft eintreten zu lassen. Es kann daher dem Steuerpflichtigen, der auf die Änderungsmöglichkeit vertraut, die ihm der Vorbehalt der Nachprüfung eröffnet, nicht entgegengehalten werden, dass er keinen Einspruch eingelegt hat.18 Denn aus seiner Sicht bestand dazu wegen des Vorbehalts der Nachprüfung keine Notwendigkeit. Wenn es zudem um steuermindernde Änderungen geht, kann es aus Sicht der XY-GmbH sogar günstiger sein, die Rechtsbehelfsfrist verstreichen zu lassen und die Änderung wegen der Verzinsung des Erstattungsanspruches nach §§ 233a, 238 Abs. 1 AO erst möglichst spät zu beantragen. Somit wäre es widersprüchlich, wenn man in diesen Fällen die negative Folge des § 166 AO eintreten lassen wollte, wenn weiterhin die Möglichkeit eines Antrags nach § 164 Abs. 2 AO gegeben ist.

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Zwar wird durch diese Auslegung der Zweck des § 166 AO, das Verfahren zu effektuieren,19 nicht erreicht. Dies liegt aber nicht an dem Steuerpflichtigen, sondern an der 17 Oellerich in Gosch (Stand: August 2021), § 166 AO Rz. 19. 18 So aber FG Köln v. 13.10.2011 – 13 K 4121/07, juris Rz. 72; wie hier Krumm, StuW 2012, 329 (346). 19 Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 166 AO Rz. 2 f.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 42

Finanzbehörde selbst. Sie hat es nämlich in der Hand, den Steuerfall (materiell) bestandskräftig werden zu lassen, indem sie den Vorbehalt der Nachprüfung aufhebt; solange der Fall aber auf Steuerfestsetzungsebene noch bewusst durch die Finanzbehörde offengehalten wird, überzeugt es nicht, diese Wertung nicht auch auf Ebene des Haftungsbescheides fortwirken zu lassen, wenn der aktuelle Vertreter und der Haftungsschuldner zufällig auseinanderfallen.20 Hinweis: Deutlicher wird diese Notwendigkeit der Auslegung noch, wenn man sich vor Augen führt, dass Steueranmeldungen i.S.d. §§ 150 Abs. 1 Satz 3; 168 Satz 1 AO stets unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen und – da kein Verwaltungsakt schriftlich oder mündlich ergeht – sich für den Steuerpflichtigen ohne Rechtsbehelfsbelehrung darstellen (vgl. § 355 Abs. 1 Satz 2 AO). Hier steht die für die Verfahrensbeteiligten wichtige Änderbarkeit der Steuerfestsetzung im Mittelpunkt, die nicht auf Haftungsebene konterkariert werden kann.21

39

Im vorliegenden Fall reicht es somit für die Anwendung des § 166 AO nicht aus, dass A die Möglichkeit hatte, von der Bekanntgabe des Körperschaftsteuerbescheides im März 06 bis zu seiner Abberufung als Geschäftsführer zum 1.12.06 gegen diesen Einspruch einzulegen oder einen Antrag auf Änderung nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO zu stellen. Erforderlich wäre, dass A für den gesamten Zeitraum, in dem der Vorbehalt der Nachprüfung gilt, diese Möglichkeit zustand. Der Vorbehalt der Nachprüfung war allerdings auch nach der Abberufung des A als Geschäftsführer zum 1.12.03 noch gültig, sodass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist.

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Hinweis: Zur Verdeutlichung: Der A befindet sich lediglich deswegen in seiner verfahrensrechtlichen Position, weil er zwar Geschäftsführer bei Bekanntgabe des Steuerbescheides war, zum Zeitpunkt der Haftungsinanspruchnahme aber nicht mehr Geschäftsführer der XY-GmbH ist. Wäre er noch Geschäftsführer, könnte er ohne Weiteres den Antrag auf Änderung des Körperschaftsteuerbescheides nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO stellen und somit eine eventuelle Drittwirkung der Steuerfestsetzung faktisch beseitigen und damit auch die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides geltend machen. So aber ist er davon abhängig, dass die Geschäftsführerin Z einen entsprechenden Änderungsantrag gegenüber der Finanzbehörde stellt. Dieser Zustand ist vor allem mit Blick auf den Zeitpunkt der Abbestellung als Geschäftsführer zufällig.

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Die Zusammenschau der §§ 164, 166 AO spricht dafür, dass eine Drittwirkung der Steuerfestsetzung nur dann in Betracht kommt, wenn der Haftungsschuldner als Vertreter für den gesamten Zeitraum der Einspruchsfrist und einer evtl. Vorbehaltsfestsetzung die Möglichkeit hatte, einen entsprechenden Einspruch oder Änderungsantrag zu stellen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Körperschaftsteuerfestsetzung vom 1.6.03 entfaltet A gegenüber daher keine Drittwirkung gem. § 166 AO, sodass A in Bezug auf die Haftungsinanspruchnahme wirksam einwenden kann,

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20 Krumm, StuW 2012, 329 (346). 21 Siehe insgesamt Krumm, StuW 2012, 329 (346).

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Rz. 42 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

dass die Steuerfestsetzung um 30.000 Euro zu hoch und damit rechtswidrig ist. Der Haftungsbescheid ist somit materiell rechtswidrig. 43

Alternative Lösung: Eine andere Entscheidung ist an dieser Stelle freilich möglich, etwa durch Argumentation mit dem „eindeutigen“ Wortlaut. Die Anwendung des § 166 AO bei Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung ist in der Literatur umstritten. Es wird nicht erwartet, dass dieser Streitstand in all seinen Facetten bekannt ist bzw. hier erarbeitet wird. Vielmehr geht es vorliegend darum, die steuerliche Gesamtsituation zu erfassen und dabei die Wirkung eines Vorbehalts der Nachprüfung zu erkennen (hier insbesondere: Möglichkeit eines Änderungsantrags auch nach formeller Bestandskraft). Bearb., denen dies und der Sinn und Zweck des § 166 AO präsent sind, müssten bei der Anwendung des § 166 AO ein Störgefühl entwickeln, das es zu thematisieren gilt.22 Das Ergebnis der diesbezüglich anzustellenden Erwägungen und der gewählte dogmatische Anknüpfungspunkt (Auslegung des Begriffs „anzufechten“ oder teleologische Reduktion) sind zweitrangig.

d) Ermessen 44

Fraglich ist allerdings, ob die Finanzbehörde darüber hinaus ihr Ermessen i.S.d. § 5 AO pflichtwidrig ausgeübt hat, indem sie A zur Zahlung in Anspruch genommen hat. Dazu müsste sie bei der Ermessensausübung den Zweck der Ermächtigung oder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens missachtet haben.23 Zu differenzieren ist zwischen dem Entschließungsermessen und dem Auswahlermessen.24

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Das Entschließungsermessen umfasst die Frage danach, ob die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit, einen Haftungsbescheid zu erlassen, überhaupt umgesetzt werden soll. Diese Frage wäre zu verneinen, wenn die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners unbillig oder aussichtslos wäre.25 A trägt nicht vor, über die 100.000 Euro bzw. 70.000 Euro nicht zu verfügen, sodass seine Inanspruchnahme nicht aussichtslos scheint. Es ist auch keine Unbilligkeit der Inanspruchnahme aus dem Sachverhalt ersichtlich. Für eine ermessensgerechte Inanspruchnahme des Haftungsschuldners spricht es zudem, wenn der Steueranspruch beim Steuerschuldner nicht zu realisieren ist.26 Die Eintreibung der Körperschaftsteuerschuld ist auf Ebene der XY-GmbH hier aussichtslos, was die Finanzbehörde in der Begründung zum Haftungsbescheid auch gewürdigt hat, sodass insgesamt keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Ausübung des Entschließungsermessens sprechen.

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Das Auswahlermessen könnte aber fehlerhaft ausgeübt worden und A unzutreffend als Haftungsschuldner ausgewählt worden sein. Seit dem 1.12.03 ist die Z Geschäfts22 Argumentationsmöglichkeiten etwa bei Oellerich in Gosch (Stand: August 2021), § 166 AO Rz. 18 ff., insb. 21 und Krumm in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 166 AO Rz. 18. 23 Siehe Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 5.146 ff. 24 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 5.149. 25 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 191 AO Rz. 38. 26 Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 191 AO Rz. 94.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 46

führerin der XY-GmbH, die zu diesem Zeitpunkt auch noch über liquide Mittel zur Begleichung der Körperschaftsteuerschuld verfügte. Analog zu A erfüllt die Z die objektiven Voraussetzungen des Haftungstatbestandes (§§ 69, 34 AO) und ist zum Entscheidungszeitpunkt auch noch Geschäftsführerin, sodass fraglich ist, ob die Z im Rahmen des Auswahlermessens vorrangig oder jedenfalls gemeinsam mit A als Gesamtschuldner i.S.d. § 44 AO in Anspruch zu nehmen ist. Hiergegen könnte allerdings eingewendet werden, dass die Z nicht mindestens grob fahrlässig i.S.d. § 69 Satz 1 AO gehandelt hat. Zur Geschäftsführerin wurde die Z erst Anfang Dezember 03 bestellt, die XY-GmbH war nur bis zum Ende des Jahres 03 solvent. Insoweit blieb der Z nur ein Monat, um sich über die wirtschaftlichen Verhältnisse und Schulden der XY-GmbH einen Überblick verschaffen und sich einzuarbeiten. Allerdings handelt es sich bei den noch offenen Steuerzahlungen um keinen wirtschaftlich komplexen, schwierig zu durchschauenden Sachverhalt. Vielmehr sind die Steuerschulden einer Kapitalgesellschaft im Regelfall ohne Weiteres aus der Buchführung erkennbar, zu der die XY-GmbH gem. § 13 Abs. 3 GmbHG i.V.m. §§ 6 Abs. 1; 238 ff. HGB verpflichtet war. Selbst wenn die Buchführung der XY-GmbH nicht sorgfältig genug geführt worden war, um die ausstehenden Steuerzahlungen zu erkennen, hätte die Z durch Anfrage bei der Finanzbehörde, z.B. durch Beantragung einer sog. Bescheinigung in Steuersachen, erfahren können, welche Steuerzahlungen der XY-GmbH noch offen sind. Diese Sachverhaltsermittlung und darauf folgende Steuerzahlungen waren auch in Anbetracht der kurzen Zeit von einem Monat möglich und erwartbar. Daher kann auch die Nichtzahlung der ausstehenden Körperschaftsteuer durch die Z als mindestens grob fahrlässig betrachtet werden.27 Anhaltspunkte für die Beurteilung des Auswahlermessens in den Fällen, in denen mehrere Personen die Voraussetzungen der §§ 69, 34 AO erfüllen, können etwa die Schwere des Verschuldens, eine Aufgabenverteilung oder die tatsächliche Beherrschung der Gesellschaft sein. Von mehreren Haftungsschuldnern kann die Finanzbehörde nicht ohne Weiteres einen herausgreifen, sondern muss dies im Einzelnen begründen.28 Eine derartige Begründung ist hier durch die Finanzbehörde nicht erfolgt. Denkbar wäre insoweit, die Z anteilig neben dem A in Anspruch zu nehmen. Hierbei wäre zugunsten der Z zu berücksichtigen, dass sie lediglich einen Monat Geschäftsführerin der XY-GmbH war, während A diese Position über einen längeren Zeitraum, vor allem nach Fälligkeit der Steuerschuld, innehatte und damit die „Grundlage“ für die Pflichtverletzung der Nichtsteuerzahlung gelegt hatte. Im Ergebnis spiegelte eine untergeordnete Haftung der Z ihren Verschuldensgrad eher wider als eine Inanspruchnahme von Z und A zu gleichen Teilen oder gar von Z allein. Das Auswahlermessen wurde durch die Finanzbehörde somit fehlerhaft ausgeübt, sodass die Inanspruchnahme des A durch Haftungsbescheid ebenfalls dahingehend rechtswidrig ist.29 27 Eine a.A. ist an dieser Stelle mit entsprechender Begründung vertretbar. 28 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 191 AO Rz. 42; Boeker in Hübschmann/ Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 191 AO Rz. 100, 124, 128. 29 Ein Nachholen der Ermessensentscheidung gem. § 126 Abs. 1 Nr. 2 AO ist nicht möglich, wenn zuvor – wie im hiesigen Fall – durch die Finanzbehörde gar keine Überlegungen zum Auswahlermessen angestellt worden sind; möglich ist ledig ein Vertiefen, Verbreitern oder Verdeutlichen bereits getätigter Ermessenserwägungen, siehe Seer in Tipke/Kruse, § 126 AO Rz. 6.

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Rz. 47 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

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Alternative Lösung: Sofern eine Drittwirkung der Steuerfestsetzung gegenüber dem A bejaht wird, muss im Rahmen des Ermessens zusätzlich berücksichtigt werden, dass der A von den Handlungen der Z abhängig ist, die jederzeit eine Änderung der (immer noch) unter Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Steuerfestsetzung beantragen und somit die Haftungsschuld für den A reduzieren kann.

4. Ergebnis 48

Der Haftungsbescheid vom 1.6.04 ist damit materiell rechtswidrig und der Einspruch des A insoweit begründet. III. Begründetheit des Einspruchs bzgl. des Leistungsgebotes

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Der Einspruch ist in Bezug auf das Leistungsgebot begründet, wenn dieses rechtswidrig ist. Als Ermächtigungsgrundlage kommt insoweit § 254 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht. Formelle Mängel sind nicht ersichtlich, sodass lediglich fraglich ist, ob das Leistungsgebot materiell rechtmäßig ist. Dabei kann die Rechtswidrigkeit des Leistungsbescheides, hier also die des soeben geprüften Haftungsbescheides, nicht als alleiniges Argument angeführt werden.30 Das Leistungsgebot hängt aber insoweit mit dem Leistungsbescheid zusammen, als es zwingend eines vollstreckbaren Leistungsbescheides gem. § 249 Abs. 1 AO bedarf31 und das Leistungsgebot keinen höheren Betrag zur Zahlung anfordert, als im Leistungsbescheid festgesetzt worden ist. Wie festgestellt, ist der Haftungsbescheid dem Grunde und der Höhe nach rechtswidrig. Mit einer Änderung bzw. Aufhebung des Haftungsbescheides wird damit gleichzeitig nach dem gerade Gesagten das Leistungsgebot rechtswidrig.

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Eine weitere Rechtswidrigkeit des Leistungsgebotes ergibt sich jedenfalls nicht aus der Subsidiaritätsklausel aus § 219 Satz 1 AO. A war hier nämlich gem. § 34 Abs. 1 Satz 2 AO verpflichtet, die Steuern aus den Mitteln der GmbH zu begleichen, sodass gem. § 219 Satz 2 AO der Grundsatz der Subsidiarität der Inanspruchnahme i.S.d. § 219 Satz 1 AO vorliegend nicht greift.32

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Der Einspruch des A gegen das Leistungsgebot ist insgesamt begründet. IV. Ergebnis

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Der Einspruch des A gegen den Haftungsbescheid und das Leistungsgebot vom 1.6.04 ist zulässig und begründet und hat somit Erfolg.

30 Jatzke in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 254 AO Rz. 51. 31 Jatzke in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 254 AO Rz. 52. 32 Siehe auch Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 6.85.

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Fall 2: Wer zu spät kommt, den bestraft das Finanzamt | Rz. 53

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung Grundlagenwissen:

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– Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 6.6 ff., 6.62 ff., 21.135 ff. – Hannig, SteuerStud 2016, 338 – Bröder, SteuerStud 2005, Beilage 2, 1 Vertiefung: – Krumm, StuW 2012, 329 – BFH v. 28.3.2001 – VII B 213/00, juris Rz. 16 ff. – Sehr lesenswert sind die gegenläufigen Argumentationen bei FG Köln v. 13.10.2011 – 13 K 4121/07, juris Rz. 55 ff., 68 ff., und in der dazugehörigen Revisionsentscheidung des BFH v. 22.4.2015 – XI R 43/11, BStBl. II 2015, 755, juris Rz. 22.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... Schwerpunkte: – Abgrenzung allgemeine/besondere Verwaltungsakte und Realakte – Zulässigkeit eines Einspruchs – Auskunftsverweigerungsrechte Bearbeitungszeit: 3,5 Std. Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Die als angestellte Rechtsanwältin tätige A wird zusammen mit ihrer Ehefrau B zur Einkommensteuer veranlagt. B ist selbständige Unternehmensberaterin und kümmert sich um die finanziellen Belange des Paares. Für das Jahr 01 erstellte B daher im April des Jahres 02 die gemeinsame Einkommensteuererklärung im Elster-Portal der Finanzverwaltung. Die Steuererklärung nebst der Anlage EÜR (= Gewinnermittlung) für ihre Tätigkeit als Unternehmensberaterin übermittelte B im selben Monat formgerecht elektronisch an die Finanzbehörde. Im zuständigen Finanzamt bearbeitete die Sachbearbeiterin C den Fall der Ehegatten. Bei der Bearbeitung warnte das Veranlagungsprogramm vor unplausiblen Angaben im Bereich der Lohnsteuerabzugsbeträge. Tatsächlich waren dort für die A bei einem Bruttoarbeitslohn von 120.000 € Lohnsteuerabzugsbeträge von 70.000 € erklärt. Da allerdings keine elektronische Lohnsteuerbescheinigung zur Verifikation verfügbar war und die C den Fall „vom Tisch“ haben wollte, versah sie den Steuerbescheid mit dem Hinweis: „Die Anrechnung der Lohnsteuer ergeht gem. § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.“ Zudem fügte sie folgenden Hinweis in den Erläuterungsteil des Steuerbescheides: „Bitte reichen Sie mir innerhalb von vier Wochen nach Erhalt des Bescheides Nachweise zu den Lohnsteuerabzugsbeträgen der A ein.“ Der an beide Eheleute adressierte Bescheid ging am 6.5.02 zur Post und wurde einen Tag später in den Briefkasten des gemeinsam bewohnten Hauses der Eheleute eingeworfen. Die B nahm den Bescheid an sich, um diesen – wie jedes Jahr – inhaltlich zu prüfen. A hat den Bescheid indes nie zu Gesicht bekommen. B war aufgrund der Betreuung des Insolvenzverfahrens eines Unternehmens beruflich allerdings so eingespannt, dass sie den Steuerbescheid und dessen Prüfung vergaß. Mitte Juni hatte die C immer noch keine Antwort von den Eheleuten erhalten und änderte den Steuerbescheid wie folgt: Sie berücksichtigte statt der Lohnsteuerabzugsbeträge von 70.000 € lediglich einen Betrag von 28.000 € (entspricht dem Lohnsteuerabzug bei der Steuerklasse III). Im Bescheid wurde vermerkt: „Dieser Bescheid ist gem. § 164 Abs. 2 Satz 1 AO geändert. Der Vorbehalt der Nachprüfung wird auf31

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Rz. 1 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

gehoben.“ Der Bescheid mit einem Nachforderungsbetrag von 42.000 € wurde am 27.6.02 zur Post gegeben und am darauffolgenden Tag in den Briefkasten der Eheleute eingeworfen. Er blieb dabei jedoch an einer Kante im Inneren des Briefkastens hängen, sodass die Ehegatten ihn nicht mit der übrigen Post herausnahmen. Erst am 15.8.02 bemerkten sie den Brief, nachdem sie eine Mahnung des Finanzamts über 42.000 € zzgl. eines Säumniszuschlags von einem Prozent erhalten hatten. Es war bereits öfters vorgekommen, dass Briefe im Briefkasten hängenblieben, jedoch hatten A und B nichts dagegen unternommen, obwohl es ohne Weiteres möglich gewesen wäre. A und B fertigten daraufhin folgendes, von beiden eigenhändig unterzeichnetes Schreiben an: „[...] Hiermit legen wir Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid des Jahres 01 und die Mahnung ein. Die Lohnsteuerbescheinigung des Arbeitgebers der A, die in der Steuerklasse IV eine einbehaltene Lohnsteuer in Höhe von 36.000 Euro aufweist, ist beigefügt. In der Anlage EÜR sind noch Aufwendungen für die Berufshaftpflichtversicherung der B i.H.v. 2.000 Euro zu berücksichtigen. Bei der Erstellung der Steuererklärung hatte der Beleg zwar vorgelegen, B hat allerdings vergessen, den Betrag in das Steuererklärungsformular einzutragen. Dazu hat unseres Erachtens auch beigetragen, dass die Formulare am PC so unübersichtlich sind. Auf Papier war das alles nach unserem Empfinden viel übersichtlicher. Die Risiken der elektronischen Steuerveranlagung dürfen nicht auf den einfachen Bürger zurückfallen!!! Einen gesonderten Bescheid über Säumniszuschläge haben wir indes nie erhalten und sehen daher auch nicht ein, diese zu zahlen. Die Mahnung ist damit insgesamt gegenstandslos und zurückzunehmen! [...]“

Auf dem Weg zum Wocheneinkauf gibt A das Einspruchsschreiben persönlich am 20.8.02 bei der C im Finanzamt ab. Dabei teilt die A der C mit, dass sie den ersten Steuerbescheid nie zu Gesicht bekommen habe und sich daher frage, wie dieser und die nachfolgenden Bescheide ihr gegenüber wirksam sein könnten. C zieht kurzerhand im Beisein der A die Fallakte der Eheleute hinzu und behauptet, dass die fehlende Kenntnisnahme einer Wirksamkeit nicht im Weg stünde. Das habe sie so in ihrer Ausbildung in Nordkirchen (= Hochschule für Finanzen der Finanzverwaltung NRW) gelernt. Beim Durchblättern der Akte fallen C die geringen Betriebseinnahmen von lediglich 20.000 € bei der selbständigen Tätigkeit der B ins Auge. Um die „Gunst der Stunde“ zu nutzen und das Verfahren abzukürzen, fragt C die A ohne weitere Umschweife, ob sie wisse, wie viele Einnahmen die B im Jahr 01 erzielt hat. A antwortete daraufhin, dass sie ziemlich sicher wisse, dass die B im Jahr 01 nur einen Auftraggeber hatte, von dem sie insgesamt 240.000 € im Jahr 01 erhalten habe. Daraufhin verlässt A das Büro der C. C möchte die Festsetzung der Eheleute nunmehr an die neue Sachlage anpassen, damit die Steuern auch gesetz- und gleichmäßig festgesetzt werden. Aufgabe: Sie sind als Referendar während der Verwaltungsstation im Finanzamt dem Veranlagungsbezirk der C zugeteilt. Diese bittet Sie um Erstellung eines rechtlichen Gutach-

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 3

tens, wie die Rechtslage in dem Fall ist und was sie ggf. zu veranlassen hat. Sie haben dabei Kenntnis von allen tatsächlichen Umständen des Falles. Bearbeitungsstichtag ist der 20.8.02. Bearbeitungshinweis: Alle Verwaltungsakte sind mit einer § 356 AO entsprechenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen und formell rechtmäßig, soweit sich aus dem Sachverhalt nichts anderes ergibt. Die tatsächlichen Angaben der Eheleute A und B in ihrem Schreiben entsprechen der Wahrheit. Alle für den Fall maßgeblichen Daten fallen weder auf ein Wochenende noch auf einen Feiertag.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung Der vielschichtig gelagerte Fall verlangt von Bearbeitern neben der häufig relevanten Kenntnis der Korrekturvorschriften vor allem eine präzise rechtliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Verwaltungsmaßnahmen. Das ist erforderlich, um zu wissen, wie weit eine etwaige Rechtswidrigkeit reicht, wogegen sich ein Steuerpflichtiger wendet und welcher Rechtsbehelf bzgl. einer Maßnahme in Betracht kommt.

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Realitätsnah wird den Eheleuten im Fall ein Bescheid zugeschickt, der die Steuerfestsetzung und die Feststellung der Lohnsteueranrechnung enthält. Hier muss erkannt werden, dass der Bescheid mehrere einzelne Maßnahmen enthält und diese Maßnahmen jeweils Verwaltungsakte sind. Bzgl. der Steuerfestsetzung ist dies eindeutig, diese stellt einen Steuerbescheid i.S.d. § 155 Abs. 1 AO dar (Steuerbescheid im Rechtssinne). Die Feststellung der Anrechnung bedarf hingegen einer etwas genaueren Betrachtung. Sie wird aus Praktikabilitätsgründen in der Regel mit der Steuerfestsetzung in einem Bescheid verbunden. Dies ist sinnvoll, denn will man die ausstehende Forderung gegen Steuerpflichtigen ermitteln, so muss neben der festgesetzten Steuer auch beachtet werden, in welcher Höhe bereits Steuern gezahlt wurden. Aus der Differenz ergibt sich der Nachzahlungs- bzw. Erstattungsbetrag. Diese sachliche Verbindung bedeutet aber nicht, dass die Anrechnungsfeststellung Teil der Steuerfestsetzung ist. Dass dies nicht der Fall sein kann, ergibt sich schon daraus, dass die Inhalte und Wirkungen beider Feststellungen unterschiedlichen Verfahrensabschnitten des Besteuerungsverfahrens zuzuordnen sind. Die Steuerfestsetzung ist – wie schon der Name sagt – Teil des Festsetzungsverfahrens. Bei der Anrechnung handelt es sich hingegen um einen Aspekt des Erhebungsverfahrens.1 Elemente des Erhebungsverfahrens können schon denklogisch nicht Teil des vorgelagerten Festsetzungsbescheids sein. Die Anrechnungsfeststellung ist also als eigenständige Maßnahme zu betrachten. Da sie alle von § 118 AO geforderten Elemente enthält, ist auch sie ein Verwaltungsakt. Zweifel könnten diesbezüglich lediglich an der Regelungswirkung bestehen. Gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG wird die bereits durch Steuerabzug erhobene Einkom-

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1 Vgl. dazu z.B. BFH v. 24.3.1992 – VII R 39/91, BStBl. II 1992, 956, juris Rz. 17 ff.

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Rz. 3 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

mensteuer auf die Einkommensteuer angerechnet. Diese Tilgungswirkung der bereits abgeführten Lohnsteuer tritt auch ohne die schriftliche Fixierung im Bescheid ein. Die Feststellung wirkt insoweit nur deklaratorisch. Allerdings führt sie dazu, dass der Steuerpflichtige auf die dort festgestellte Höhe der Anrechnung vertrauen darf. Diese ist für alle Seiten bindend, solange sie nicht angegriffen wird – das gilt selbst dann, wenn der angerechnete Betrag die tatsächlich abgeführte Steuer übersteigt. Die Feststellung hat somit eine Regelungswirkung, sodass es sich um einen eigenständigen Verwaltungsakt handelt.2 4

Insbesondere die Regelungswirkung sollte bei behördlichen Maßnahmen jedoch nicht vorschnell angenommen werden.3 Das zeigt sich auch in diesem Fall. Die Mahnung und die Mitteilung über den Säumniszuschlag ziehen jeweils für sich genommen keinerlei Rechtsfolgen nach sich und haben somit keine Regelungswirkung. Sie sind bloße Realakte. Damit ist das von den Steuerpflichtigen angedachte Angreifen dieser im Wege des Einspruchs, der sich gem. § 347 Abs. 1 AO nur gegen Verwaltungsakte richten kann, offensichtlich nicht statthaft.

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Soweit Verwaltungsakte vorliegen, muss in steuerrechtlichen Fällen noch weiter unterschieden werden, um die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bzw. etwaiger Nebenbestimmungen oder Änderungen dieser zutreffend beurteilen zu können. Die AO stellt in den §§ 155 ff. AO Sonderregelungen für die Steuerfestsetzung auf. Es finden sich dort unter anderem besondere Nebenbestimmungen für Steuerfestsetzungen (§§ 164, 165 AO) sowie besondere Änderungsvorschriften (§§ 172 ff. AO). Diese sind originär nur auf Steuerfestsetzungen anwendbar, allerdings erklärt die AO die §§ 155 ff. AO auch für einige andere Verwaltungsakte anwendbar (z.B. Feststellungsbescheide gem. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO, Steuermessbescheide gem. § 184 Abs. 1 Satz 3 AO). Die Gruppe dieser Verwaltungsakte sind besondere Steuer-Verwaltungsakte. Die übrigen Steuerverwaltungsakte – auf die die §§ 155 ff. AO keine Anwendung finden – sind demgegenüber allgemeine Steuer-Verwaltungsakte. Wegen der Regelungsunterschiede ist die Zuordnung eines Verwaltungsaktes zu einer der beiden Gruppen für die Rechtmäßigkeitsprüfung elementar. Wendet die Behörde eine auf die jeweilige Verwaltungsakt-Gruppe nicht anwendbare Rechtsgrundlage an, so führt dies – soweit die Rechtsgrundlage nicht über § 126 AO ausgetauscht werden kann – zur Rechtswidrigkeit. Zudem kann nur bei richtiger Zuordnung verlässlich beurteilt werden, ob (nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen) ein Änderungsantrag Aussicht auf Erfolg hat.4 II. Anforderungsprofil

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Der vorliegende Fall enthält viele verschiedene Vorkommnisse und mehrere Bescheide, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben bzw. erlassen worden sind und ausweislich der Aufgabenstellung – laut der eine allgemeine Prüfung der Rechtslage gefordert wird – allesamt geprüft werden sollen. Um keinen Aspekt zu übersehen, empfiehlt es sich, bei einer auf den ersten Blick so unübersichtlichen Fall2 Siehe dazu BFH v. 16.10.1986 – VII R 159/83, BStBl. II 1987, 405, juris Rz. 12 ff. 3 Abgrenzungsbeispiele z.B. bei Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, 21.52. 4 Siehe näher zu den Korrekturunterschieden Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, 21.381 ff.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 11

gestaltung einen Zeitstrahl anzulegen. Anhand dessen kann dann überblickt werden, ob alle Aspekte angesprochen wurden. Die offene Aufgabenstellung lässt viel Spielraum bzgl. des Aufbaus des Gutachtens. Hierbei gibt es kaum richtig oder falsch. In der Musterlösung wurde ein chronologischer Aufbau gewählt, bei dem alle Vorkommnisse nacheinander abgehandelt werden. Das hat den Vorteil, dass nichts übersehen wird und komplizierte Inzidentprüfungen vermieden werden. Es wäre aber beispielsweise ebenso denkbar, mit der Prüfung der Zulässigkeit des Einspruchs zu beginnen und von dessen Ergebnis ausgehend die zugehörigen Aspekte zu prüfen.

7

Da insgesamt viele einzelne Maßnahmen zu prüfen sind, ist eine gute Schwerpunktsetzung das „A und O“ dieses Falls. Unproblematische Aspekte sollten sehr knapp schlicht festgestellt werden, damit für die Schwerpunktprobleme ausreichend Zeit verbleibt.

8

Der Fall hat dabei nicht ein oder zwei große Schwerpunktprobleme, sondern viele kleinere Problemstellungen, die jeweils erkannt und sauber bearbeitet werden müssen. Das stellt Bearb. vor die Herausforderung, ein ausgewogenes Maß zwischen vertiefter Diskussion und zeiteffizienter Prüfung zu finden. Fälle mit vielen Problemstellungen müssen sehr zielgerichtet gelöst werden. Es muss verhindert werden, dass auf ein einzelnes Problem am Anfang der Lösung so viel Zeit und Raum verwendet wird, dass für die anderen Aspekte am Ende keine Zeit mehr verbleibt. Die richtige Zeiteinteilung ist hier ein wesentlicher Teil der zu erbringenden Leistung. Eine herausragende Lösung eines einzelnen Problems wird nicht für eine befriedigende Leistung reichen, wenn andere Probleme unbearbeitet bleiben. Bei dieser Fallgestaltung sollen gerade die umfassenden Kenntnisse der Bearb. abgeprüft werden, wofür die Bearbeitung möglichst aller Aspekte erforderlich ist.

9

Bearb. dürfen bei der Aufgabenstellung zudem nicht übersehen, dass neben der Prüfung der Rechtslage auch danach gefragt wird, was die Behörde zu veranlassen hat. Es wird also eine Handlungsanweisung gefordert. Dieser Teil der Aufgabenstellung ist durchaus anspruchsvoll, weil Bearb. sich mit den Handlungsmöglichkeiten der Behörde auskennen müssen. Von jeder ausreichenden Bearbeitung ist dabei zu erwarten, dass die Änderungsmöglichkeiten nach den Korrekturvorschriften – sowohl hinsichtlich des unzulässigen Einspruchs als auch hinsichtlich der durch das Gespräch mit der A gewonnenen Erkenntnisse – thematisiert werden.

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Die Auslegung des „Einspruchs“ gegen den Säumniszuschlag als Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides i.S.d. § 218 Abs. 2 AO kann von durchschnittlichen Bearb. nicht erwartet werden. Ebenfalls anspruchsvoll sind die abschließenden Ausführungen zu weiteren Maßnahmen, die infolge des Verwertungsverbots bzgl. der Aussage der A getroffen werden können.

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Rz. 12 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

C. Gliederung 12

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Rechtmäßigkeit der bereits erfolgten Verwaltungsmaßnahmen 1. Bescheid vom 6.5.02 13 a) Wirksamkeit der Verwaltungsakte 14 b) Ermächtigungsgrundlage 15 c) Formelle Rechtmäßigkeit 16 d) Materielle Rechtmäßigkeit aa) Einkommensteuerfestsetzung 17 bb) Lohnsteueranrechnung 18 e) Ergebnis zum Bescheid vom 6.5.02 21 2. Bescheid von Mitte Juni 22 a) Wirksamkeit des Änderungsbescheids 23 b) Ermächtigungsgrundlage 24 c) Formelle Rechtmäßigkeit 27 d) Materielle Rechtmäßigkeit 28 3. Mahnung 30 4. Säumniszuschlag 31 II. Auswirkungen des Schreibens der Eheleute 1. Auslegung des Begehrens der Eheleute 33 2. Einspruch 34 a) Statthaftigkeit 35 b) Form 37 c) Beschwer 38 d) Frist 40 e) Ergebnis zum Einspruch 42 3. Antrag auf Änderung der Verwaltungsakte a) Einkommensteuerfestsetzung 44 aa) Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 45 bb) Antrag auf Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 46 (1) Nachträgliche, rechtserhebliche Tatsache 47 36

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 14

(2) Kein grobes Verschulden 48 (3) Ergebnis zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 50 cc) Antrag auf Änderung nach § 173a AO 51 b) Anrechnungsverfügung 53 4. Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides 55 III. Folgen des Gesprächs im FA 56 1. Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 57 2. Sonstige Maßnahmen 64 a) Weitere Ermittlungsmaßnahmen 65 b) Späterer Änderungsbescheid 66 c) Meldung an die Steuerfahndung 69

D. Ausformulierte Lösung I. Rechtmäßigkeit der bereits erfolgten Verwaltungsmaßnahmen 1. Bescheid vom 6.5.02 Zu prüfen ist die Rechtslage bzgl. des am 6.5. erstellten und zur Post aufgegebenen Bescheids. Der Bescheid enthält die Steuerfestsetzung für das Jahr 01 unter Anrechnung eines erklärten Lohnsteuerabzugsbetrages von 70.000 Euro auf der Grundlage von § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung dieser beiden Aspekte ist deren Rechtsnatur. Bei der Steuerfestsetzung selbst handelt es sich um einen Steuerbescheid i.S.d. § 155 Abs. 1 AO. Die Anrechnung der Lohnsteuer stellt zwar nur die ohnehin eintretende Tilgungswirkung bereits abgeführter Steuern fest und wirkt insoweit nicht konstitutiv, sodass Zweifel an der Verwaltungsakteigenschaft bestehen könnten. Allerdings wird die Anrechnung und ihre Wirkung damit erstmals verbindlich und der Bestandskraft zugänglich mit Außenwirkung festgestellt. Dadurch ist eine eigene Regelungswirkung gegeben.5 Diese Feststellung wird zwar regelmäßig mit der Steuerfestsetzung in einem Bescheid verbunden. Sie ist aber Teil des Erhebungs- und nicht des Festsetzungsverfahrens und kann schon aus diesem Grund nicht als Teil des Steuerbescheids i.S.d. § 155 Abs. 1 AO angesehen werden, sondern ist als eigenständiger Verwaltungsakt i.S.d. § 118 AO zu qualifizieren.6

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a) Wirksamkeit der Verwaltungsakte Verwaltungsakte werden nur relevant, wenn sie überhaupt wirksam geworden sind. Hieran könnten bzgl. der A Zweifel bestehen. Sie macht geltend, dass sie das Schrei5 Siehe dazu BFH v. 16.10.1986 – VII R 159/83, BStBl. II 1987, 405, juris Rz. 12 ff. 6 Siehe z.B. BFH v. 24.3.1992 – VII R 39/91, BStBl. II 1992, 956, juris Rz. 17 ff.

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Rz. 14 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

ben nie zu Gesicht bekommen hätte. Gem. § 124 Abs. 1 AO wird ein Verwaltungsakt dem einzelnen Betroffenen gegenüber erst dann wirksam, wenn er ihm bekannt gegeben wurde. Die Festsetzungen des Bescheids betreffen beide Eheleute jeweils als Steuerschuldner i.S.d. § 43 Satz 1 AO, sodass grundsätzlich gem. § 122 Abs. 1 AO eine Bekanntgabe gegenüber beiden einzeln erforderlich ist. Hier wurde jedoch nur ein Bescheid an beide Ehegatten geschickt, den die B an sich genommen hat, weshalb es an der einzelnen Bekanntgabe gegenüber A schon formal fehlen könnte. § 122 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 AO sieht aber vor, dass es bei einem Bescheid, der Ehegatten betrifft, ausreichend ist, wenn dieser in einfacher Ausfertigung an die gemeinsame Anschrift der Ehegatten übermittelt wird. Infolge der Zusammenveranlagung gem. §§ 26, 26b EStG sind A und B Gesamtschuldner der Einkommensteuer (§ 44 Abs. 1 Satz 1 AO), sodass gegen sie gem. § 155 Abs. 3 Satz 1 AO ein zusammengefasster Bescheid ergehen kann und die Festsetzungen beide Eheleute betreffen.7 Da die Rückausnahme des § 122 Abs. 7 Satz 2 AO nicht greift, reicht die Übermittlung einer Ausfertigung an die gemeinsame Adresse von A und B formal aus. Der Bescheid ist mit dem Einwerfen in den Briefkasten auch in den Machtbereich der A gelangt, sodass der für die Bekanntgabe nötige Zugang vorlag und es auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch A hier nicht ankommt. b) Ermächtigungsgrundlage 15

Die Festsetzung der Einkommensteuer beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 AO, § 25 Abs. 1 EStG, die Lohnsteueranrechnung auf § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a EStG. c) Formelle Rechtmäßigkeit

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An der formellen Rechtmäßigkeit der beiden Verwaltungsakte bestehen keine Zweifel. d) Materielle Rechtmäßigkeit aa) Einkommensteuerfestsetzung

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Die Festsetzung der Einkommensteuer des Ehepaares könnte hinsichtlich der berücksichtigten Betriebseinnahmen der B rechtswidrig sein. Die B erhielt im Jahr 01 von ihrem einzigen Auftraggeber in diesem Veranlagungszeitraum 240.000 EUR, die als Betriebseinnahmen aus selbständiger Arbeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1, 18 Abs. 1 EStG in den Gewinn und somit die einkommensteuerliche Bemessungsgrundlage eingehen müssten. Einbezogen wurden allerdings nur Betriebseinnahmen i.H.v. 20.000 EUR, sodass die Bemessungsgrundlage unrichtig ermittelt und die Steuerfestsetzung infolgedessen materiell rechtswidrig war.

7 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.70 f.; Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 122 AO Rz. 72 ff.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 23

bb) Lohnsteueranrechnung Die Lohnsteueranrechnungsverfügung könnte ebenso materiell rechtswidrig sein. Gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 EStG ist die durch Steuerabzug erhobene Einkommensteuer auf die festgesetzte Einkommensteuer anzurechnen. Vorliegend wurde für A eine Anrechnung in Höhe von 70.000 EUR vorgenommen, obwohl der Lohnsteuerabzug tatsächlich nur in Höhe von 36.000 EUR erfolgt ist. Insofern war der Anrechnungsbetrag zu hoch und die Anrechnungsverfügung insoweit rechtswidrig.

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Die Anrechnungsverfügung könnte zudem hinsichtlich des in Bezug auf die Anrechnung der Lohnsteuer erlassenen Vorbehalts der Nachprüfung rechtswidrig sein. § 164 Abs. 1 AO erlaubt den Vorbehalt der Nachprüfung als unselbständige Nebenbestimmung für die Steuerfestsetzung. Bei der Anrechnungsverfügung handelt es sich allerdings gerade nicht um die Festsetzung der Steuer selbst nach § 155 AO oder einen der Steuerfestsetzung gleichgestellten Verwaltungsakt, sondern um einen sog. allgemeinen Verwaltungsakt, auf den die Vorschriften der §§ 155 ff. AO keine Anwendung finden.8 Insofern ist auch die Anordnung des Vorbehalts der Nachprüfung rechtswidrig.9

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Hinsichtlich der als Auskunftsersuchen gem. § 93 AO in Bezug auf die Anrechnungsverfügung zu qualifizierenden Aufforderung, Lohnsteuernachweise einzureichen, bestehen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit.

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e) Ergebnis zum Bescheid vom 6.5.02 Die am 6.5.02 erlassene Steuerfestsetzung und die Anrechnungsverfügung sind mithin zwar wirksam gegenüber A und B bekannt gegeben worden, allerdings jeweils materiell rechtswidrig.

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2. Bescheid von Mitte Juni Die Mitte Juni des Jahres 02 erlassene Änderung der Anrechnungsverfügung könnte ebenfalls fehlerbehaftet und infolgedessen unwirksam oder rechtswidrig sein.

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a) Wirksamkeit des Änderungsbescheids Der Wirksamkeit könnte ein Bekanntgabemangel entgegenstehen. Dieser könnte darin liegen, dass der Bescheid im Briefkasten hängengeblieben ist und deshalb erst viel später von den Eheleuten wahrgenommen wurde. Ein Verwaltungsakt ist in dem Zeitpunkt bekannt gegeben, in dem er dem Empfänger zugeht. Dieser Zugang ist gegeben, wenn der Verwaltungsakt derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass die Kenntnisnahme normalerweise möglich und nach der Verkehrsanschauung

8 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.97; Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 164 AO Rz. 8. 9 Von einer Nichtigkeit des Vorbehalts der Nachprüfung ist bei diesem Fehler hingegen noch nicht auszugehen, vgl. Oellerich in Gosch (Stand: Juli 2021), § 164 AO Rz. 16.

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Rz. 23 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

zu erwarten ist.10 Der private Briefkasten der Eheleute ist zu ihrem Machtbereich zu zählen. Es war für Dritte nicht erkennbar, dass es aufgrund der Eigenarten des Briefkastens zu Problemen bei der Kenntnisnahme kommen könnte. Vielmehr haben die Eheleute ihn – trotz des Wissens um die Probleme – weiterhin für ihre Post genutzt. Nach dem objektiven Empfängerhorizont war somit mit einer direkten Kenntnisnahmemöglichkeit nach dem Einwerfen zu rechnen, sodass der Bescheid nach den Regeln des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO drei Tage nach der Aufgabe zur Prost als bekanntgegeben gilt. Die erst spätere tatsächliche Kenntnisnahme ändert daran nichts. Der Änderungsbescheid ist somit wirksam. b) Ermächtigungsgrundlage 24

Der Änderungsbescheid müsste auf einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage beruhen. Im Bescheid selbst ist § 164 Abs. 2 Satz 1 AO als Rechtsgrundlage angegeben. Der auf die Anrechnungsverfügung bezogene Vorbehalt der Nachprüfung ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig, sodass eine Änderung grundsätzlich darauf gestützt werden könnte. Allerdings erlaubt § 164 Abs. 2 Satz 1 AO nur eine Änderung der Steuerfestsetzung. Hier wurde aber die Anrechnung der Lohnsteuer geändert, die Steuerfestsetzung selbst blieb unberührt. Aus diesem Grund war § 164 Abs. 2 Satz 1 AO keine taugliche Rechtsgrundlage für die Änderung.

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Eine taugliche Ermächtigungsgrundlage zur Änderung der Anrechnungsverfügung als allgemeinem Steuerverwaltungsakt wäre aber § 130 AO, der unter den genannten Voraussetzungen eine Rücknahme auch bestandskräftiger Verwaltungsakte erlaubt und daran anschließend den Neuerlass ermöglicht. Liegen dessen Voraussetzungen vor, ist die Nennung der unzutreffenden Ermächtigungsgrundlage als unbeachtlicher Begründungsfehler (§ 126 Abs. 1 Nr. 2 AO) zu werten und würde somit nicht zu Rechtswidrigkeit führen.11

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Hinweis: Es wäre auch möglich, sich bereits hier auf die konkrete Ermächtigungsgrundlage innerhalb des § 130 AO festzulegen, also Abs. 1 bzw. Abs. 2 mitzuzitieren. Dann wäre es aber erforderlich, schon an dieser Stelle zu klären, ob es sich um einen belastenden oder einen begünstigenden Verwaltungsakt handelt. Die Prüfung wird dadurch etwas „kopflastiger“. Wie man vorgeht, ist letztlich Geschmackssache. Wichtig ist nur, dass es überhaupt geprüft wird.

c) Formelle Rechtmäßigkeit 27

An der formellen Rechtmäßigkeit bestehen keine Zweifel.

10 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.61. 11 Vgl. BFH v. 24.8.2004 – VII R 50/02, BFHE 206, 488, juris Rz. 18.

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d) Materielle Rechtmäßigkeit Der Änderungsbescheid ist materiell rechtmäßig, wenn die Rücknahme-Voraussetzungen vorlagen. Welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen, richtet sich danach, ob es sich bei dem zurückzunehmenden Verwaltungsakt um einen belastenden oder begünstigenden handelt. Der Änderungsbescheid beinhaltet die Anrechnung einer gegenüber der ursprünglichen Verfügung geringeren Lohnsteuer (28.000 Euro statt zuvor 70.000 Euro), sodass die ursprüngliche Festsetzung in diesem Vergleich als begünstigender Verwaltungsakt zu bewerten ist. Die Rücknahme richtet sich folglich nach § 130 Abs. 2 AO und es müsste einer der dort genannten Rücknahmegründe vorliegen. Die Eheleute haben den erfolgten Lohnsteuerabzug für A in der gemeinsamen Steuererklärung falsch angegeben. Auf dieser Grundlage wurde die begünstigende Anrechnung vorgenommen, sodass ein Fall des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO gegeben ist und somit ein Rücknahmegrund vorliegt. Überdies war den Eheleuten, wie aus ihrem Schreiben hervorgeht, bewusst, dass die tatsächliche abgeführte Lohnsteuer deutlich niedriger war, als in der Anrechnungsverfügung zugrunde gelegt. Ihnen hätte also bei einem Blick auf die genutzten Werte auffallen müssen, dass die Anrechnung unzutreffend und somit rechtswidrig war. Sollte ihnen dies nicht bekannt gewesen sein, so war dies jedenfalls grob fahrlässig. Demnach liegt auch der Rücknahmegrund des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO vor. Die Jahresfrist nach § 130 Abs. 3 AO ist offensichtlich noch eingehalten.

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Allerdings ist zu beachten, dass § 130 Abs. 2 AO die Rücknahme in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde stellt. Das Finanzamt stützte die Änderung explizit auf § 164 Abs. 2 AO als Rechtsgrundlage. Zwar impliziert dessen Wortlaut auf den ersten Blick ein Ermessen („kann“), allerdings wird damit hier nur die Ermächtigung verdeutlicht, nicht aber ein Entscheidungsermessen im Falle der erkannten Rechtswidrigkeit.12 Dementsprechend ging das Finanzamt davon aus, kein Ermessen zu haben, sodass davon auszugehen ist, dass keine Ermessenserwägungen angestellt wurden. Diese Erwägungen wurden auch bisher nicht nachgeholt, sodass dahingehend bisher keinesfalls eine Heilung nach § 126 Abs. 1 Nr. 1 AO eingetreten sein kann. Hinzu kommt, dass es sich beim Nachschieben von Ermessenserwägungen nicht lediglich um eine Ausbesserung der Gründe handelt, sondern um eine inhaltliche Änderung des Verwaltungsaktes. Ein Ermessens-Verwaltungsakt ist qualitativ nicht mit einer gebundenen Entscheidung gleichzusetzen. Insofern kommt eine Heilung diesbezüglich generell nicht in Betracht.13 Die geänderte Anrechnungsverfügung ist somit rechtswidrig.

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3. Mahnung Die Mahnung zur Zahlung der Steuerschulden ist gem. § 259 Satz 1 AO lediglich Soll-Handlung für die Vollstreckung und zieht keine weitere Rechtsfolge nach sich. 12 BFH v. 11.11.2008 – IX R 53/07, juris Rz. 11; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 164 AO Rz. 60 f. 13 Vgl. FG Sa.-Anh. v. 4.8.2009 – 4 K 691/05, juris Rz. 37 ff.; BVerwG v. 18.5.1990 – 8 C 48/ 88, BVerwGE 85, 163, juris Rz. 19.

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Sie ist somit mangels Regelungswirkung kein Verwaltungsakt i.S.d. § 118 AO, sondern ein Realakt.14 Es bestehen keine Hinweise darauf, dass dieser Realakt die Eheleute in ihren Rechten verletzt haben könnte. 4. Säumniszuschlag 31

Fraglich ist, wie die Rechtslage bzgl. des im Schreiben vom 15.8. angegebenen Säumniszuschlags i.H.v. 1 % ist. Säumniszuschläge entstehen gem. § 240 Abs. 1 AO kraft Gesetzes, sodass die Forderung im Schreiben nicht als Verwaltungsakt, sondern als bloße Information über die Entstehung zu verstehen ist. Lagen die Voraussetzung des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO vor, so ist der angegebene Säumniszuschlag tatsächlich entstanden, eine gesonderte Festsetzung erfolgt aufgrund der Entstehung kraft Gesetzes nicht, sodass dieser Einwand der Eheleute gegenstandslos ist.

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Säumniszuschläge entstehen, sobald festgesetzte Steuern trotz Fälligkeit nicht entrichtet werden.15 Die Festsetzung der Steuer und des darauf beruhenden Nachzahlungsbetrages erfolgte im Schreiben vom 27.6. Gemäß § 220 Abs. 1 AO i.V.m. § 36 Abs. 4 EStG wird dieser Anspruch einen Monat nach Bekanntgabe fällig. Die tatsächlich erst spätere Kenntnisnahme des Bescheids ist, wie bereits erläutert, für die Bekanntgabe irrelevant, sodass der Bescheid nach den Regeln des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO drei Tage nach der Aufgabe zur Post, also am 30.6. bekannt gegeben wurde. Die Zahlung ist mithin gem. § 108 Abs. 1 AO, §§ 187 f. BGB am 30.7. fällig gewesen. Dementsprechend lagen die Voraussetzungen für das Entstehen des Säumniszuschlags i.H.v. 1 % des rückständigen Steuerbetrages vor. II. Auswirkungen des Schreibens der Eheleute 1. Auslegung des Begehrens der Eheleute

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Der Umgang mit dem Schreiben der Eheleute richtet sich im ersten Schritt danach, wie dieses zu werten ist. Es könnte sich dabei einerseits um einen Einspruch gegen eine oder mehrere Verwaltungsmaßnahmen handeln oder aber um einen Antrag auf Änderung dieser Verwaltungsmaßnahmen. Das im Schreiben deutlich werdende Begehren ist dahingehend auszulegen. Die Eheleute bezeichnen ihr Begehren selbst als Einspruch. Allerdings handelt es sich bei ihnen um rechtliche Laien, sodass auch eine abweichende Auslegung zulässig wäre, wenn diese eher ihren ansonsten deutlich werdenden Interessen entspricht. Die Eheleute sprechen gleich mehrere Punkte bzgl. der Steuerfestsetzung und der Anrechnung der Lohnsteuer an, die zu einer Änderung der Bescheide führen sollen. Bei einem zulässigen Einspruch wird eine vollständige Überprüfung des jeweiligen Verwaltungsaktes ermöglicht, und ein Nachschieben von Gründen ist zulässig. Ferner ermöglicht nur ein Einspruch die Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 AO. Ein Änderungsantrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO wirkt hingegen nur punktuell. Eine spätere Erweiterung ist nicht mög14 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.372; Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 259 AO Rz. 3. 15 Zu Säumniszuschlägen insgesamt siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.363 f.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 37

lich, und auch eine Aussetzung der Vollziehung kann nicht begehrt werden. Es ist hier nicht ersichtlich, dass es für die Eheleute besser sein könnte, den Prüfungsgegenstand zu beschränken. Insofern ist aufgrund der Bezeichnung durch sie und dem darin liegenden umfassenden Rechtsschutz davon auszugehen, dass ein Einspruch ihrem Begehren entspricht und das Schreiben als Einspruch zu werten ist. Sie richten sich in ihrem Schreiben gegen die Einkommensteuerfestsetzung, die Anrechnungsverfügung, die Mahnung und den Säumniszuschlag. 2. Einspruch Die weiteren Maßnahmen der Behörde richten sich danach, ob ein Einspruch der Eheleute zulässig und begründet ist. Ein Einspruch ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind, was die Finanzbehörde gem. § 358 Satz 1 AO zu prüfen hat. Ob die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, bestimmt sich nach den §§ 347 ff. AO.

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a) Statthaftigkeit Der Einspruch müsste zunächst statthaft sein. Statthaft ist der Einspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gegen Verwaltungsakte in Abgabenangelegenheiten, auf die die Abgabenordnung Anwendung findet. Abgabenangelegenheiten sind gem. § 347 Abs. 2 AO alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten. Hinsichtlich der Mahnung und dem Säumniszuschlag fehlt es, wie bereits vorstehend erläutert, mangels Regelungswirkung am Merkmal des Verwaltungsaktes. Infolgedessen ist der Einspruch diesbezüglich bereits nichts statthaft. Bei der Einkommensteuerfestsetzung vom 6.5.02 und der geänderten Anrechnungsverfügung vom 27.6.02 handelt es sich hingegen um Verwaltungsakte, die die Verwaltung von Abgaben zum Gegenstand haben, sodass der Einspruch diesbezüglich statthaft ist.

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Hinweis: Die hier sehr ausführliche Prüfung der Statthaftigkeit des Einspruches kann in der Klausur auch verkürzt werden, wenn diese unproblematisch ist. Formulierungsbeispiel: „Der Einkommensteuerbescheid ist gem. §§ 118, 155, 157 AO Verwaltungsakt in Abgabenangelegenheiten und der Einspruch gegen ihn folglich gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 AO statthafter Rechtsbehelf“. Da hier aber bei der Mahnung und des Säumniszuschlages bereits der Knackpunkt der Zulässigkeit liegt, sollte bei der Bearbeitung dieses Falls ein ausführlicherer Ansatz gewählt werden.

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b) Form Der Einspruch müsste auch formgerecht eingelegt worden sein. Der Einspruch wurde von A und B durch einen von beiden namentlich unterzeichneten Brief eingelegt, sodass die Anforderungen des § 357 Abs. 1 AO erfüllt und der Einspruch somit formgerecht ist. 43

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Rz. 38 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

c) Beschwer 38

Hinweis: Bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts ist anzunehmen, dass sich in dem Bescheid vom 27.6.02, aus dem sich die geänderte Anrechnungsverfügung ergibt, auch eine erneute Wiedergabe der Einkommensteuerfestsetzung findet. Da die Einkommensteuerfestsetzung aber gegenüber der dem Bescheid vom 6.5.02 keine Änderungen aufweist und diesbezüglich auch keine neue Sachverhaltsaufklärung vorgenommen wurde, handelt es sich hierbei um eine sog. wiederholende Verfügung, die keine Verwaltungsaktqualität hat.16 Dementsprechend kann sich der Einspruch hinsichtlich der Einkommensteuerfestsetzung nur gegen den Bescheid vom 6.5.02 richten.

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A und B müssten gem. § 350 AO geltend machen, durch die Verwaltungsakte beschwert zu sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Vortrag des Steuerpflichtigen es möglich erscheinen lässt, dass eine Rechtsverletzung, eine fehlerhafte Anwendung einer Verwaltungsvorschrift oder eine unrechtmäßige Ermessensausübung vorliegt.17 Die Eheleute machen geltend, dass die bei der Anrechnungsverfügung berücksichtigte Lohnsteuer zu niedrig war und bei der Steuerfestsetzung Kosten für die Berufshaftpflicht im Rahmen der Bemessungsgrundlage mindernd hätten einbezogen werden müssen. Beides ist nicht von vornherein auszuschließen und würde sich auf die Rechtmäßigkeit der Verfügungen auswirken. Insofern erscheint eine Rechtsverletzung der Eheleute bzgl. beider Einspruchsgegenstände möglich und die Einspruchsbefugnis ist jeweils anzunehmen. d) Frist

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Der Einspruch müsste zudem innerhalb der Frist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO, also innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe, eingelegt worden sein. Die Jahresfrist des § 356 Abs. 2 Satz 1 AO kann infolge der ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung keine Anwendung finden. Der geänderte Anrechnungsbescheid gilt wie erläutert als am 30.6.02 bekanntgegeben; die Einkommensteuerfestsetzung, die nicht geändert wurde, nach den Vorgaben des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO sogar bereits am 9.5.02. Dementsprechend ist zum Zeitpunkt des Einspruchsschreibens (20.8.02) bei beiden Verwaltungsakten die Monatsfrist offensichtlich abgelaufen. Der Einspruch ist somit bzgl. beider Verwaltungsakte verfristet.

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Möglich könnte einzig eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO sein. Unabhängig davon, dass der hierfür erforderliche Antrag von den Eheleuten bisher nicht gestellt wurde, wäre dieser nur erfolgreich, wenn sie kein Verschulden daran trifft, dass die Frist nicht eingehalten wurde. Ihnen dürfte diesbezüglich also weder Vorsatz noch jede Form der Fahrlässigkeit vorzuwerfen sein. Die Eheleute haben den Änderungsbescheid erst am 15.8.02 im Briefkasten bemerkt und somit nach Ablauf der Monatsfrist, weil er im Briefkasten verhakt war. Insofern war es ihnen diesbezüglich nicht möglich fristgerecht Einspruch einzulegen. Allerdings könnte ih16 Siehe dazu z.B. Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 118 AO Rz. 17. 17 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.15.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 45

nen dennoch die Missachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt und damit Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Den Eheleuten war bekannt, dass im Briefkasten manchmal Briefe hängen bleiben. Vor diesem Hintergrund ist ihnen abzuverlangen, dass sie besonders gründlich hineinschauen, ob noch ein Brief im Briefkasten ist. Hätten sie dies getan, wäre ihnen der Bescheid vorher aufgefallen und sie hätten die Monatsfrist einhalten können. Das Versäumen der Frist erfolgte somit bzgl. der geänderten Anrechnungsverfügung schuldhaft. Bzgl. der Festsetzung der Einkommensteuer sind keinerlei Gründe für das Versäumen der Frist ersichtlich, sodass vom Verschulden auszugehen ist. Die Wiedereinsetzungsvoraussetzungen liegen mithin nicht vor. e) Ergebnis zum Einspruch Der Einspruch ist somit gem. § 358 Satz 2 AO bzgl. aller von den Eheleuten angeführten Gegenstände als unzulässig zu verwerfen.

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Alternativer Aufbau: Es ist ebenso möglich, die Zulässigkeit des Einspruchs für jeden angegriffenen Gegenstand einzeln zu prüfen. Bei einer separaten Prüfung ist die Gefahr geringer, die Prüfungsgegenstände zu vermischen oder einen der Gegenstände bei einer Voraussetzung zu vergessen. Allerdings führt eine separate Prüfung auch zu einem insgesamt längeren Gutachten, da bestimmte Punkte immer wieder wiederholt werden müssen. Strategisch erscheint es deshalb sinnvoller, eine gemeinsame Zulässigkeitsprüfung vorzunehmen. Dabei muss dann aber innerhalb der Prüfungspunkte bei den Subsumtionen sauber differenziert werden.

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3. Antrag auf Änderung der Verwaltungsakte a) Einkommensteuerfestsetzung Der unzulässige Einspruch der Eheleute gegen die Steuerfestsetzung kann allerdings in einen Antrag auf Änderung umgedeutet werden, der ihrem Begehren neben dem Einspruch am nächsten kommt. Inhaltlich begehren die Eheleute die Berücksichtigung von Beiträgen zur Berufshaftpflichtversicherung bei der B i.H.v. 2.000 Euro. Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Änderungsvorschrift würde jedenfalls ein Anspruch der Eheleute auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bestehen, dem das Finanzamt entsprechen müsste.

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aa) Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO Es könnte die Änderungsvorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO einschlägig sein. Der dort vorgesehene Antrag auf punktuelle Änderung der Steuerfestsetzung setzt jedoch – wenn er zugunsten der Steuerpflichtigen wirkt – voraus, dass der Antrag vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gestellt wurde. Wie im Rahmen der Einspruchsprüfung gezeigt, ist diese Frist bereits abgelaufen, sodass eine Änderung auch auf dieser Grundlage nicht zulässig ist.

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Rz. 46 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

bb) Antrag auf Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 46

Eine Änderung könnte aber auf Grundlage von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich sein, der die Änderung von bestandskräftigen Steuerfestsetzungen zugunsten der Steuerpflichtigen erlaubt, wenn steuermindernde, also dahingehend rechtserhebliche, Tatsachen dem Finanzamt ohne Verschulden der Steuerpflichtigen erst nachträglich bekannt werden. (1) Nachträgliche, rechtserhebliche Tatsache

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Tatsache in diesem Sinne ist alles, was Merkmal eines Steuertatbestandes sein kann.18 Als nachträglich bekannt gelten diese, wenn sie bei Erlass des Verwaltungsaktes zwar bereits vorlagen, dem Finanzamt jedoch nicht bekannt waren.19 Die Information, dass die B im Jahr 01 2.000 EUR in eine Berufshaftpflichtversicherung investiert hat, ist für die Steuerfestsetzung insofern relevant, als diese Aufwendung eine Betriebsausgabe i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG darstellt und somit Merkmal des Steuertatbestandes der Einkommensermittlung ist. Als Betriebsausgabe wäre sie gewinnmindernd zu berücksichtigen, sodass die Aufwendung für die Berufshaftpflichtversicherung auch eine rechtserhebliche Tatsache ist. Dies wurde dem Finanzamt erst mit dem Schreiben der Eheleute aus August 02, mithin deutlich nach der Festsetzung der Steuer im April 02 und somit nachträglich i.S.d. Norm bekannt. (2) Kein grobes Verschulden

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Zudem wäre für eine Änderungsmöglichkeit erforderlich, dass B als Steuerpflichtige am nachträglichen Bekanntwerden kein grobes Verschulden trifft. Sie dürfte die Information dem Finanzamt also nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig vorenthalten haben. Der B war die Ausgabe, die sie selbst getätigt hat, zur Zeit der Erstellung der Steuererklärung durchaus bekannt, und ihr lag auch ein entsprechender Nachweis vor. Sie hat allerdings vergessen, die Aufwendungen in der Steuererklärung einzutragen. Vorsatz ist insofern nicht anzunehmen. Ihr könnte aber grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen sein, die anzunehmen ist, wenn Steuerpflichtige die Sorgfalt, zu der sie nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen verpflichtet und imstande sind, in ungewöhnlich hohem Maße verletzen.20 A und B bringen dahingehend vor, das elektronische Formular sei sehr unübersichtlich und habe dazu geführt, dass sie die Angabe vergessen hätten. Sie konkretisieren diese Angabe allerdings in keiner Weise. Es ist nicht ersichtlich, dass B durch das elektronische Formular in irgendeiner Weise hinsichtlich der Relevanz der Angabe fehlgeleitet worden ist. Im Formular werden Betriebsausgaben in Fallgruppen abgefragt, was Steuerpflichtige dazu veranlassen muss, sich über diese Gedanken zu machen. Dies ist Teil der in der Steuererklärungspflicht liegenden generellen Mitwirkungspflicht der Steuerpflichtigen. Hierbei ist von Steuerpflichtigen zu erwarten, dass sie sorgsam vorgehen und die Informationen in den Steuererklärungsformularen sowie die Anleitungen zu den 18 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.408. 19 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.410. 20 BFH v. 10.2.2015 – IX R 18/14, BStBl. II 2017, 7, juris Rz. 14.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 52

Steuererklärungen aufmerksam lesen. Das sorgsame Ausfüllen der Steuererklärung hinsichtlich aller Aspekte ist dabei die elementare Pflicht der Steuerpflichtigen und Grundlage des auf Deklaration und Verifikation basierenden Steuervollzugs im Bereich der Einkommensteuer. Die B hat die Angabe schlicht vergessen. Es ist nicht ersichtlich, dass besondere Umstände vorgelegen hätten, die auf eine besondere Situation schließen lassen, die ein Vergessen erklären und entschuldigen würden. Wenn das elektronische Formular ihnen Schwierigkeiten bereitet, ist ihnen abzuverlangen, sich Hilfe z.B. durch Inanspruchnahme der Beratung des Finanzamtes zu holen. Andernfalls verletzten sie ihre Mitwirkungspflicht. Die B hat dies versäumt und damit die ihr abzuverlangende Sorgfalt in besonderem Maße verletzt, sodass ihr grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Alternative Lösung: Mit entsprechender Argumentation wäre es ebenso vertretbar anzunehmen, der B zwar Fahrlässigkeit, aber keine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. In diesem Fall wäre noch das Ermessen zu prüfen bzgl. dessen hier unter dem Blickwinkel der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung eine Reduzierung auf null zugunsten der Änderung angenommen werden kann.

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Wichtig ist, dass die Frage des Verschuldens als Problemschwerpunkt erkannt und diskutiert wird. Bei der Abwägung sollten Bearb. immer im Hinterkopf haben, was Grund dieses einschränkenden Merkmals ist: Mit der Änderung wird die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes zugunsten einer gesetzmäßigen Festsetzung durchbrochen. Das soll der Ausnahmefall bleiben, weil die Bestandskraft der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden dient. Daher sind Änderungen eben nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglich. Wirkt sich eine Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen aus, ist das Interesse der Allgemeinheit an der Änderung weniger hoch als bei einer Änderung zulasten des Steuerpflichtigen. Insofern ist es dem Steuerpflichtigen zumutbar, dass sein Interesse zurücktritt, wenn er die Situation selbst maßgeblich zu verantworten hat.

(3) Ergebnis zu § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist aufgrund des groben Verschuldens der B am nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache ausgeschlossen.

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cc) Antrag auf Änderung nach § 173a AO Eine Änderung auf Grundlage von § 173a AO wäre nur möglich, wenn die unzutreffende Festsetzung auf einen Schreib- oder Rechenfehler zurückzuführen ist. Die Eheleute haben hier allerdings eine Angabe gänzlich vergessen, sodass kein solches mechanisches Versehen vorlag. Eine Änderung hiernach ist demnach ebenfalls nicht möglich.

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Hinweis: Anders als § 129 AO nennt § 173a AO neben den Schreib- und Rechenfehler nicht zusätzlich „ähnliche offenbare Unrichtigkeiten“. Insofern sind hier auch die sog. Übertragungsfehler nicht erfasst, die nach h.M. für eine Änderung nach § 129 AO ausreichen. Da in diesem Fall aber auch kein solcher Übertragungsfehler vorliegt, wären Ausführungen hierzu in der Falllösung deplatziert.

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Rz. 53 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

b) Anrechnungsverfügung 53

Der unzulässige Einspruch gegen die Anrechnungsverfügung aus Juni kann ebenfalls als Antrag auf Änderung umgedeutet werden. Für die Anrechnungsverfügung als allgemeiner Steuerverwaltungsakt könnte sich diese in Form von Rücknahme und Neuerlass aus § 130 Abs. 1 AO ergeben. Dieser erlaubt die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsaktes auch nach Eintritt der Bestandskraft. Wie bereits festgestellt ist die Anrechnungsverfügung aus Juni rechtswidrig. Dass ein zu geringer Lohnsteuerabzugsbetrag zugrunde gelegt wurde, wirkt sich für die Eheleute auch belastend aus. Die Rücknahmeentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Die Anrechnung der abgeführten Lohnsteuer ist in § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 EStG verpflichtend vorgesehen. Wird sie nicht zutreffend vorgenommen, sondern wie hier ein geringerer Betrag angesetzt, so kommt es zu einer doppelten Besteuerung dieser Einkünfte – einmal im Lohnsteuerabzugsverfahren und einmal im Veranlagungsverfahren – und damit zu einer nicht leistungsfähigkeitsgerechten Belastung des Steuerpflichtigen. Insofern spricht der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung für eine Änderung. Allerdings ist die unzutreffende Anrechnung darauf zurückzuführen, dass die Eheleute den angeforderten Nachweis nicht erbracht haben und damit ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sind. Zudem wäre es den Eheleuten grundsätzlich möglich gewesen, die unzutreffende Anrechnung mit einem Einspruch anzugreifen. Dass ihnen das nicht möglich war, weil ihnen die neue Festsetzung erst nach Ablauf der Einspruchsfrist bekannt wurde, ist – wie erläutert – ihrem eigenen Versäumnis zuzurechnen. Die Bestandskraft soll gerade zu einer Rechtssicherheit führen, die dem Rechtsfrieden zuträglich ist. Das Versäumen von Fristen sollte nicht über den alternativen Weg der Änderung nach § 130 Abs. 1 AO umgangen werden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Rechtswidrigkeit hier besonders schwer wiegen würde.21 Insofern ist es ermessensgerecht, die Änderung nicht vorzunehmen.

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Alternative Lösung: Hinsichtlich des Ermessens wäre es ebenso vertretbar, zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Wichtig ist hier, dass eine Abwägung der widerstreitenden Interessen (Gesetzmäßigkeit der Besteuerung vs. Rechtssicherheit) erfolgt und dabei die konkrete Situation der Eheleute in die Abwägung eingestellt wird.

4. Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides 55

Der unstatthafte Einspruch der Eheleute gegen den Säumniszuschlag könnte als Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheides nach § 218 Abs. 2 AO ausgelegt werden. Dieser Abrechnungsbescheid wäre ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch angegriffen werden könnte, sodass auf diese Weise der Säumniszuschlag materiell überprüft werden könnte. Das würde dem Begehren der Eheleute, denen es erkennbar vor allem darauf ankommt, nicht durch den Säumniszuschlag belastet zu werden, entsprechen. Diesem Antrag wäre stattzugeben. Die Eheleute müssten auf dessen Erlass dann mit einem Einspruch reagieren. Allerdings wäre der Einspruch wegen des bereits erläuterten Vorliegens der Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 AO voraussichtlich unbegründet. 21 BFH v. 26.3.1991 – VII R 15/89, BStBl. II 1991, 552, juris Rz. 16 f.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 60

III. Folgen des Gesprächs im FA Fraglich ist, welche Maßnahmen aufgrund des Gesprächs zwischen A und C im Finanzamt zu ergreifen sind.

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1. Änderung der Einkommensteuerfestsetzung Die durch das Gespräch zwischen A und C erlangten Informationen zu den Betriebseinnahmen der B könnten eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 01 möglich machen. Eine Änderungsbefugnis könnte sich für das Finanzamt aus § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben. Die Information, dass die B im Jahr 01 eine Zahlung in Höhe von 240.000 EUR von einem Auftraggeber erhalten hat, ist eine Tatsache, die infolge ihrer Auswirkungen auf die Höhe der Betriebseinnahmen auch rechtserheblich und dem Finanzamt erst Monate nach der Steuerfestsetzung, also nachträglich, bekannt geworden ist. Ein Ermittlungsfehler des Finanzamtes ist nicht ersichtlich. Mithin lägen die Änderungsvoraussetzungen grundsätzlich vor.

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Fraglich ist aber, ob das Finanzamt die in dem Gespräch mit der A erlangten Informationen überhaupt für eine Änderung verwerten darf. Dem könnten Verfahrensfehler bei der Informationsbeschaffung und ein daraus resultierendes Verwertungsverbot entgegenstehen.

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Die der A von der C gestellte Frage nach den Betriebseinnahmen der B im Jahr 01 ist ein Auskunftsersuchen i.S.d. § 93 AO und somit eine gem. § 92 Satz 2 Nr. 1 AO grundsätzlich zulässige Ermittlungsmaßnahme. Allerdings bestimmt § 93 Abs. 1 Satz 3 AO, dass die Beteiligten vor allen anderen Personen zur Aufklärung eines Sachverhalts herangezogen werden sollen. Hiergegen könnte verstoßen werden, indem die A statt der B selbst nach den Betriebseinnahmen gefragt wurde. Allerdings werden A und B zusammenveranlagt, sodass auch die A selbst Adressatin der Steuerfestsetzung, die die Einkünfte der B enthält, ist. Sie ist dementsprechend selbst Beteiligte i.S.d. § 78 AO, und es liegt kein Verstoß gegen die Subsidiaritätsklausel vor.

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Alternative Lösung: Es wäre denkbar, aufgrund des besonderen familiären Vertrauensverhältnisses hier – wie später zu § 101 Abs. 1 AO – anzunehmen, dass die A nicht Beteiligte i.S.d. § 93 Abs. 1 Satz 3 AO ist. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass die Subsidiaritätsklausel hier einen anderen Zweck verfolgt als das Auskunftsverweigerungsrecht des § 101 AO, sodass die Auslegung hier weniger zwingend erscheint. Die Subsidiaritätsklausel des § 93 Abs. 1 Satz 3 AO dient dazu, Dritte davor zu schützen, in das Besteuerungsverfahren hineingezogen zu werden, und die Steuerpflichtigen davor zu schützen, dass Dritte Informationen über ihre steuerlichen Verhältnisse erlangen.22

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Hier könnte man unter Verweis auf die gemeinsame Steuererklärung zusammenveranlagter Ehegatten und den infolgedessen ergehenden zusammengefassten Steuerbescheid argumentieren, dass beide ohnehin gewissermaßen in den Sachverhalt des anderen einbezogen sind. Andererseits ist zu bedenken, dass es sich bei der Zusammenveranlagung nur um ein technisches Mittel handelt; die Ehegatten bleiben grundsätzlich zwei individuelle Steuersubjekte. 22 Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 93 AO Rz. 17.

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Rz. 61 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

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Es könnte sich aber ein Beweisverwertungsverbot daraus ergeben, dass die A als Ehefrau der B ein Auskunftsverweigerungsrecht gehabt hätte. § 101 Abs. 1 AO bestimmt, dass die Angehörigen eines Beteiligten die Auskunft verweigern können. Als Ehefrau der B ist die A deren Angehörige i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 AO. Ein Auskunftsverweigerungsrecht stand ihr aber nur zu, wenn sie nicht selbst Beteiligte im Sinne der Norm war. Zwar ist sie – wie erläutert – als Adressatin des Verwaltungsaktes grundsätzlich Beteiligte nach § 78 AO. Allerdings muss hier der besondere Zweck des § 101 AO, das familiäre Vertrauensverhältnis zu schützen, beachtet werden. Dieser Schutz kann nur gewährleistet werden, wenn Ehegatten nicht infolge der besondere Veranlagungsform zu einer Aussage gezwungen werden können. Deshalb können sie im Rahmen von § 101 AO nur bzgl. ihrer eigenen Einkünfte und der gemeinsamen Besteuerungsgrundlagen, nicht aber hinsichtlich der Einkünfte des Ehepartners, Beteiligte sein.23 Vorliegend wird A zu den Betriebseinnahmen der B befragt und somit zu einem Aspekt, bzgl. dessen sie nicht Beteiligte war. Ihr stand somit ein Auskunftsverweigerungsrecht zu.

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Über dieses Auskunftsverweigerungsrecht hätte die A gem. § 101 Abs. 1 Satz 2 AO belehrt werden müssen. Eine entsprechende Belehrung seitens der C ist allerdings unterblieben, sodass ein Verfahrensfehler vorliegt. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Verweigerungsrecht das zwischen Angehörigen bestehende Vertrauensverhältnis besonders schützen soll, muss ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht zu einem Verwertungsverbot führen. Andernfalls wäre der Schutzzweck der Norm gänzlich ausgehöhlt.24 Dementsprechend kann die Aussage der A aufgrund des Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht nach § 101 Abs. 1 Satz 2 AO nicht verwertet werden.

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Infolgedessen kann das Finanzamt die gewonnene Information nicht verwerten und auf dieser Erkenntnisgrundlage keine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vornehmen. 2. Sonstige Maßnahmen

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Fraglich ist, ob aufgrund der faktisch nun bekannten Informationen dennoch weitere Maßnahmen getroffen werden können. a) Weitere Ermittlungsmaßnahmen

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Es könnte möglich sein, dass die C weitere Aufklärungsmaßnahmen durchführt, z.B. ein Auskunftsersuchen i.S.d. § 93 AO an die B selbst oder eine Meldung an die Außenprüfung stellt. Erkenntnisse, die bei solchen – für sich genommen rechtmäßigen – Ermittlungsmaßnahmen erlangt werden, sind nach Ansicht des BFH jedenfalls verwertbar, wenn der ursprüngliche Verfahrensverstoß den Kernbereich grundrechtlich geschützter Güter betrifft.25 Vorliegend berührt die fehlende Belehrung zwar Art. 6 23 Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 101 AO Rz. 9 m.w.N.; Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 101 AO Rz. 13. 24 Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 101 AO Rz. 14. 25 BFH v. 4.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227; Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 88 AO Rz. 30.

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Fall 3: Drum prüfe, wer den Bescheid findet... | Rz. 68

Abs. 1 GG, allerdings ist dieser nicht in seinem Kernbereich betroffen, sodass Ergebnisse weiterer Ermittlungsmaßnahmen verwertbar wären. b) Späterer Änderungsbescheid Sollten sich die Informationen über die Betriebseinnahmen der B durch weitere Ermittlungsmaßnahmen bestätigen, könnte im Nachgang eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO möglich sein. Wie bereits zuvor erläutert, liegen dessen tatbestandliche Voraussetzungen (nachträgliche, rechtserhebliche, steuererhöhende Tatsache) grundsätzlich vor. Einer Änderung steht derzeit lediglich die fehlende Beweisbarkeit aufgrund des Verwertungsverbots der Aussage der A entgegen. Liegen infolge weiterer Ermittlungsmaßnahmen später verwertbare Beweise vor, ist eine Änderung prinzipiell möglich, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Tatsache auch zu diesem späteren Zeitpunkt noch als nachträgliche zu bewerten ist. Nachträglich ist die Tatsache nur, solange keine neue Steuerfestsetzung für den betroffenen Veranlagungszeitraum ergeht. Es würde daran also fehlen, wenn zwischenzeitlich eine neue Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 01 ergehen würde, die – entgegen des vorstehend gefundenen Ergebnisses – die weiteren Betriebsausgaben der B im Jahr 01 berücksichtigt.

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Sollte die Änderung bzgl. der Betriebsausgaben vorgenommen werden, ist dieser Aspekt zu bedenken und es sollten Vorkehrungen zur weiteren Änderungsmöglichkeit bzgl. der Betriebseinnahmen getroffen werden. In Betracht käme hierfür ein Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 Abs. 1 AO. Die dort tatbestandlich vorausgesetzte Ungewissheit bzgl. der Entstehung der Steuer ist bzgl. der unklaren Höhe der Betriebseinnahmen der B gegeben. Wird der Vorläufigkeitsvermerk gesetzt, muss dabei gem. § 165 Abs. 1 Satz 3 AO angegeben werden, dass er sich (nur) auf die Höhe der Betriebseinnahmen der B bezieht, und der Grund der Ungewissheit – laufende Ermittlungen – angegeben werden.

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Alternativ könnte ein Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 Abs. 1 AO erwogen werden, der die materielle Rechtskraft der Festsetzung nicht nur punktuell bzgl. der Betriebseinnahmen der B, sondern umfassend suspendiert. Die tatbestandlichen Voraussetzungen wären hier ebenfalls gegeben, allerdings ist fraglich, ob dessen Vornahme verhältnismäßig und damit ermessensfehlerfrei wäre. Hier könnte der Vorläufigkeitsvermerk eine ebenso wirksame, aber weniger einschneidende Möglichkeit darstellen und es somit an der Erforderlichkeit des Vorbehalts der Nachprüfung fehlen. Der Vorläufigkeitsvermerk wirkt nur punktuell im Rahmen seines angegebenen Umfangs, sodass für den Steuerpflichtigen bereits eine höhere Rechtssicherheit entsteht. Insofern ist er weniger belastend. Gleichzeitig hält er den Sachverhalt aber im hier nötigen Umfang offen und ist dementsprechend ebenso wirksam. Ein Vorbehalt der Nachprüfung wäre dementsprechend mangels Erforderlichkeit ermessensfehlerhaft und somit rechtswidrig.

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Rz. 69 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

c) Meldung an die Steuerfahndung 69

Die C könnte die Situation bereits zu diesem Zeitpunkt an die Steuerfahndung melden, die dann dem Anfangsverdacht einer Steuerhinterziehung oder jedenfalls leichtfertigen Steuerverkürzung nachgehen würde, §§ 208 Abs. 1, 404 AO. Steuerverfahren und Steuerstrafverfahren würden dabei gem. § 393 Abs. 1 Satz 1 AO nebeneinander durchgeführt werden und sich gegenseitig grundsätzlich nicht bedingen. Dabei ist aber zu beachten, dass das Verwertungsverbot auch im Steuerstrafverfahren durchschlägt. Die Aussage der A wäre also nicht verwertbar. Es müssten eigene Ermittlungen angestellt werden.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 70

– Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 21.61 ff.; 21.195 ff.; 21.381 ff.; 22.12 ff. – Seer in Tipke/Kruse, §§ 101 AO ff. – Bröder, SteuerStud 2004, 251 ff.

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Fall 4: Schritt für Schritt Schwerpunkte: – Korrektur von Steuerbescheiden und Feststellungsbescheiden – Prüfung von Festsetzungs- und Feststellungsfristen mit An- und Ablaufhemmungen – Gestuftes Verwaltungsverfahren (Feststellungs- und Festsetzungsverfahren) Bearbeitungszeit: 2,5 Stunden Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich bis gehoben

A. Sachverhalt A ist zu 10 % an der gewerblich tätigen, einen Baustoffhandel betreibenden B-OHG beteiligt. Für den Veranlagungszeitraum 05 reichte A seine persönliche Einkommensteuererklärung am 30.4.06 ein. Die Einkünfte aus der Beteiligung an der B-OHG hatte A zunächst mit 5.000 Euro geschätzt, da die Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der gemeinsam erzielten Einkünfte i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG für das Jahr 05 noch ausstand. Das Finanzamt führte daraufhin die Veranlagung erklärungsgemäß durch und erließ am 1.7.06 einen endgültigen Einkommensteuerbescheid 05, der ordnungsgemäß bekanntgegeben wurde.

Am 31.1.09 wurde endlich die Erklärung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung der Einkünfte i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG (Beteiligung an der B-OHG) für das Jahr 05 eingereicht. Im März 09 erließ das für die B-OHG zuständige Finanzamt erklärungsgemäß einen endgültigen Feststellungsbescheid für 05, der einen Gewinnanteil des A in Höhe von 6.000 Euro auswies, und gab diesen ordnungsgemäß bekannt. Aufgrund eines Versehens wurde der Einkommensteuerbescheid 05 des A jedoch nicht geändert. Im Jahr 12 wurde dem zuständigen Feststellungs-Finanzamt bekannt, dass die BOHG einen den Gewinn erhöhenden Sachverhalt im Jahr 05 nicht erfasst hatte. Daraufhin erließ das Feststellungs-Finanzamt am 1.12.12 einen geänderten Feststellungsbescheid 05, der einen Gewinnanteil des A i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG in Höhe von 8.000 Euro auswies. Infolgedessen erließ auch das für die persönliche Einkommensteuer des A zuständige Finanzamt am 1.4.13 einen formell nicht zu beanstandenden geänderten Einkommensteuerbescheid 05 unter Ansatz eines Gewinnanteils i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG in Höhe von 8.000 Euro.

A ist über das Vorgehen des Finanzamtes empört; es könne doch nicht angehen, dass nach so langer Zeit der Einkommensteuerbescheid noch geändert werde. Der Einkommensteueranspruch sei doch wohl längst erloschen. Im Übrigen habe es das Finanzamt bereits einmal versäumt, eine Anpassung vorzunehmen. Dieser nicht in seinem Verantwortungsbereich liegende Fehler dürfe jetzt nicht zu seinen Lasten ausfallen. 53

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Rz. 1 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

Aufgaben: 1. Wie ist die Rechtslage in Bezug auf den geänderten Einkommensteuerbescheid 05 vom 1.4.13? 2. Soweit noch nicht in Aufgabe 1 behandelt, prüfen Sie bitte, ob der Feststellungsbescheid 05 vom 1.12.12 rechtmäßig ist. Gehen Sie davon aus, dass Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit nicht bestehen. 3. Erläutern Sie anhand des gestellten Falles auch das Verhältnis zwischen dem Erlöschen eines Steueranspruchs sowie der Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist.

Gehen Sie davon aus, dass die §§ 369 ff. AO im vorliegenden Fall nicht einschlägig sind.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Die Besteuerungsgrundlagen sind gem. § 199 Abs. 1 AO die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer maßgebend sind. Sie umfassen bei der Einkommensteuer etwa die Höhe der erwirtschafteten Einkünfte, aber auch die Aufwendungen für Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen. Grundsätzlich werden diese Besteuerungsgrundlagen gem. § 157 Abs. 2 Halbs. 1 AO gemeinsam mit der Steuerfestsetzung in einem mit Rechtsbehelfen nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuerbescheides festgestellt. In einem Einkommensteuerbescheid ist die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen (bis zur Summe der Einkünfte) z.B. wie folgt dargestellt:

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 7 Hinweis: Die Rechtsnatur und Fähigkeit zur Bestandskraft der Besteuerungsgrundlagen ist umstritten. Der Bundesfinanzhof ist in seinem Urteil v. 9.12.19871 davon ausgegangen, dass die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen eine „qualifizierte“ Form der Begründung des Verwaltungsaktes ist, die der Bestandskraft grundsätzlich nicht fähig ist. Hiergegen wendet sich Krumm2, der Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässt, die auf die Verbindlichkeit der rechtlichen Entscheidung des Sachverhaltes durch die Behörde abzielen – jedenfalls soweit keine gesonderte Feststellung verpflichtend vorgeschrieben ist.

3

Die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen ist aber nur Teil des Steuerbescheides, soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht gesondert festgestellt werden (§ 157 Abs. 2 Halbs. 2 AO). Eine solche gesonderte Feststellung der Besteuerungsgrundlagen findet gem. § 179 Abs. 1 AO nur dann statt, wenn dies im Gesetz vorgeschrieben ist. Der Einfachheit halber erfolgt die Darstellung hier mit Blick auf die Einkommensteuer.

4

Verfahrenstechnisch werden bei der gesonderten Feststellung einzelne Besteuerungsgrundlagen außerhalb des Veranlagungsverfahrens zur Einkommensteuer ermittelt und durch Feststellungsbescheid festgestellt. Diese Feststellung wird dann von dem Finanzamt, das für die Festsetzung der Einkommensteuer zuständig ist, bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt, d.h. die gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen fließen im Ergebnis nicht anders in die Steuerberechnung ein als die übrigen, nicht gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen. Für das Ertragsteuerrecht und die steuerjuristische Ausbildung sind dabei insbesondere die Fälle des § 180 Abs. 1 Nr. 2 AO zu kennen und sicher zu beherrschen.

5

§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AO sieht eine gesonderte Feststellung von Einkünften vor, wenn in den Fällen der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit i.S.d. §§ 13, 15, 18 EStG zum Schluss des Gewinnermittlungszeitraums das für die gesonderte Feststellung zuständige Finanzamt i.S.d. § 18 Abs. 1 AO von dem für die Steuern vom Einkommen zuständigen Finanzamt i.S.d. §§ 19–20a AO abweicht. Diese Aufspaltung der Tätigkeit zwischen den Finanzbehörden findet seinen Grund darin, dass das Finanzamt, welches räumlich näher an dem Fall ist, mit den betrieblichen bzw. beruflichen Verhältnissen besser vertraut ist und daher eher die Gewähr für eine richtige Entscheidung geben kann.3 Ferner kann die Durchführung von Außenprüfungen und andere Amtsermittlungen ökonomischer erfolgen, da etwa Fahrtkosten reduziert werden.4

6

§ 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO sieht eine gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen in den Fällen vor, in denen an einkommen- oder körperschaftsteuerpflichtigen Einkünften und mit ihnen im Zusammenhang stehenden anderen Besteuerungsgrundlagen mehrere Personen beteiligt sind und die Einkünfte diesen Personen auch steuerlich zuzurechnen sind. Hier liegt der Zweck darin, dass

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1 2 3 4

BFH v. 9.12.1987 – I R 1/85, BStBl. II 1988, 463, juris Rz. 16. Krumm, DStR 2005, 631 (632 ff.). Brandis in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 180 AO Rz. 70. Brandis in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 180 AO Rz. 70.

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Rz. 7 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

die einzelnen Einkünfte von Beteiligten aus derselben Einkunftsquelle nicht verschieden behandelt werden und letztlich auch ein ökonomischer Spareffekt eintritt, da sich nur ein Finanzamt mit der Beurteilung dieser Besteuerungsgrundlage auseinandersetzen muss.5 8

Verfahrensrechtlich sind beide Ebenen, die der Feststellung und die der Festsetzung, getrennt voneinander zu betrachten und dürfen bei der Bearbeitung in Klausurfällen und in der Praxis nicht durcheinandergeworfen werden. Für das Feststellungsverfahren gelten dabei gem. § 181 Abs. 1 AO (lesen!) die wesentlichen Regelungen, die auch im Festsetzungsverfahren gelten.

9

Bestandskraft und Verjährungsfrist – Feststellungs- bzw. Festsetzungsfrist – sind auf beiden Verfahrensebenen separat zu beurteilen. „Verbunden“ werden Feststellungsund Festsetzungsbescheid durch § 182 Abs. 1 Satz 1 AO, der vorschreibt, dass die Feststellungsbescheide für andere Steuerbescheide rechtlich bindend sind, soweit sie für diese Bescheide von Bedeutung sind. Im Festsetzungsverfahren können daher solche Einwände nicht berücksichtigt werden, die die gesondert festgestellten Sachverhalte im Feststellungsverfahren betreffen (vgl. § 351 Abs. 2 AO). § 182 Abs. 1 Satz 1 AO definiert die Bescheide, für die die gesonderten Feststellungen bindend sind, als Folgebescheide. Die gesonderten Feststellungen werden hingegen durch § 171 Abs. 10 AO als Grundlagenbescheide definiert.

10

Ist ein Folgebescheid bereits bestandskräftig oder bzw. und dessen Festsetzungsfrist i.S.d. § 169 AO bereits abgelaufen, ermöglicht § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO die Durchbrechung der materiellen Bestandskraft des Folgebescheides, und § 171 Abs. 10 AO setzt eine punktuelle Ablaufhemmung („soweit“) von zwei Jahren auf Ebene des Folgebescheides nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheides in Gang. Voraussetzung ist, dass ein Grundlagenbescheid wirksam bekanntgegeben worden ist. Verfahrensrechtlich ist so sichergestellt, dass ein wirksam bekanntgegebener Grundlagenbescheid die notwendige Wirksamkeit für die Steuerfestsetzung entfalten kann. II. Anforderungsprofil

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Die erste Aufgabe im Fall knüpft an diese Fragestellung an und bereitet den Studierenden erfahrungsgemäß Schwierigkeiten bei der Bearbeitung. Dies mag daran liegen, dass das gestufte Verwaltungsverfahren, die soeben dargestellte Trennung zwischen Feststellungs- und Festsetzungsverfahren, ohne praktischen Bezug sehr abstrakt wirkt und nur schwer nachzuvollziehen ist. Arbeitet man aber konsequent und trennt beide Ebenen voneinander, ist der Fall letztlich gut zu bewältigen. Wichtig ist, dass die Trennung der verschiedenen Verfahren auch begrifflich in der Bearbeitung zu Tage tritt: Auf der Ebene des Einkommensteuerbescheides ist folglich von der Steuererklärung, der Festsetzungsfrist/Festsetzungsverjährung und der Steuerfestsetzung zu sprechen, auf der Ebene der gesonderten und einheitlichen Feststellung von der Feststellungserklärung (oder der Erklärung zur gesonderten und einheitlichen

5 Brandis in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 180 AO Rz. 10.

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 14

Feststellung), von der Feststellungsfrist/Feststellungsverjährung und der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen. Gutachterlich besteht wegen der Fallfrage, die auf die Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheides abstellt, die Notwendigkeit, die gesonderte Feststellung inzident zu prüfen. Dazu bieten sich mehrere Anknüpfungspunkte an. Namentlich die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 10 AO oder der Korrekturtatbestand des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO, denn beide setzen einen Grundlagenbescheid voraus. In der ausformulierten Lösung erfolgt die Anknüpfung an § 171 Abs. 10 AO, ohne dabei jedoch den Gang über § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschließen zu wollen. Die zweite Aufgabe weist für die Bearbeitung aber bereits darauf hin, dass die Rechtmäßigkeit der gesonderten Feststellung für die Frage nach der Korrektur des Folgebescheides nicht ausschlaggebend ist, sondern es für die Wirkung des Grundlagenbescheides nur auf die Wirksamkeit desselben ankommt.

12

Die Bearbeitung der Aufgabe 1 sollte im Verhältnis zu den Aufgaben 2 und 3, die gleichgewichtet sind, etwa die Hälfte einnehmen.

13

C. Gliederung Die Lösung des Falles kann wie folgt gegliedert werden:

14

I. Aufgabe 1 15 1. Ermächtigungsgrundlage 16 2. Formelle Rechtmäßigkeit 17 3. Materielle Rechtmäßigkeit 18 a) Festsetzungsfrist 19 aa) Reguläre Festsetzungsfrist 20 bb) Ablaufhemmung 22 (1) Grundlagenbescheid 23 (2) Wirksamkeit des Feststellungsbescheides 28 (3) Ergebnis und Folge für die Einkommensteuerfestsetzung des A 30 b) Korrekturnorm für den Einkommensteuerbescheid 05 31 c) Ergebnis 32 4. Verwirkung der Steuer- und Zinsansprüche 33 II. Aufgabe 2 1. Bestimmung des Prüfungsumfangs 38 2. Ermächtigungsgrundlage 39 57

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Rz. 14 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

3. Formelle Rechtmäßigkeit 40 4. Materielle Rechtmäßigkeit 41 a) Feststellungsfrist 42 b) Korrekturnorm/Ermächtigungsgrundlage 45 c) Materiell-rechtlich zutreffender Gewinnanteil 46 5. Ergebnis 47 III. Aufgabe 3 48

D. Ausformulierte Lösung I. Aufgabe 1 15

Fraglich ist, wie die Rechtslage in Bezug auf den Einkommensteuerbescheid 05 vom 1.4.13 zu beurteilen ist. Der Steuerbescheid über die Einkommensteuer 05 vom 1.4.13 ist rechtmäßig, wenn er aufgrund einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage ergangen ist und formell sowie materiell rechtmäßig ist. 1. Ermächtigungsgrundlage

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Als Ermächtigungsgrundlage für die Änderung des Einkommensteuerbescheides 05 kommen die §§ 155, 157, 175 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht, die die Änderung eines Folgebescheides nach Erlass eines Grundlagenbescheides erlauben. 2. Formelle Rechtmäßigkeit

17

Laut dem Sachverhalt ist der Bescheid vom 1.4.13 insgesamt formell nicht zu beanstanden, ist also unter Einhaltung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorgaben ergangen. 3. Materielle Rechtmäßigkeit

18

Der Steuerbescheid vom 1.4.13 ist materiell rechtmäßig, wenn der Steuerbescheid innerhalb der Festsetzungsfrist ergangen ist und die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorliegen. a) Festsetzungsfrist

19

Der Steuerbescheid müsste innerhalb der Festsetzungsfrist i.S.d. §§ 169 ff. AO ergangen sein. aa) Reguläre Festsetzungsfrist

20

A ist gem. § 149 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 25 Abs. 3 Satz 1 EStG zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet, sodass die Festsetzungsfrist gem. § 170 58

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 25

Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Jahres beginnt, in dem die Steuererklärung abgegeben wird. A hat die Steuererklärung für das Jahr 05 am 30.4.06 beim Finanzamt eingereicht. Die Festsetzungsfrist beginnt also mit Ablauf des 31.12.06. Gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO beträgt die Dauer der Festsetzungsfrist vier Jahre und endet gem. § 108 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 187 Abs. 1; 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 31.12.10. Am 1.4.13 wäre die reguläre Festsetzungsfrist daher abgelaufen und eine Änderung des Einkommensteuerbescheides grundsätzlich nicht mehr möglich.

21

bb) Ablaufhemmung Im vorliegenden Fall könnte allerdings eine Ablaufhemmung einschlägig sein, die den rechtmäßigen Erlass des Einkommensteuerbescheides am 1.4.13 ermöglicht. In Betracht kommt hier eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO. Dazu müsste ein wirksam bekanntgegebener Grundlagenbescheid vorliegen.

22

(1) Grundlagenbescheid Der Feststellungsbescheid für das Jahr 05 für die Einkünfte aus der B-OHG könnte einen solchen Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerfestsetzung 05 des A darstellen. Ein Grundlagenbescheid ist gem. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO u.a. ein Feststellungsbescheid, der für die Festsetzung einer Steuer bindend ist.

23

Die Besteuerungsgrundlagen der B-OHG werden gem. § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO i.V.m. § 179 Abs. 1 AO gesondert und einheitlich durch Feststellungsbescheid festgestellt. Das Merkmal des Feststellungsbescheides ist somit erfüllt.

24

Der Feststellungsbescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der OHG müsste auch für die Einkommensteuerfestsetzung bindend sein. Ein Feststellungsbescheid ist gem. § 182 Abs. 1 Satz 1 AO dann für die Einkommensteuerfestsetzung bindend, wenn die im Feststellungsbescheid getroffenen Feststellungen für den Folgebescheid von Bedeutung sind. Dies ist dann der Fall, wenn das Finanzamt, das den Folgebescheid erlässt, bei einem hypothetischen Wegfallen der gesonderten Feststellung die Besteuerungsgrundlagen des Folgebescheides selbst ermitteln müsste.6 A erzielt hier Einkünfte aus der Beteiligung als Gesellschafter an einer OHG. Aufgrund des bei Personengesellschaften anzuwendenden Transparenzprinzips erzielt A aus der Beteiligung Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, die bei der Ermittlung seines zu versteuernden Einkommens i.S.d. § 2 Abs. 5 EStG zu berücksichtigen sind und die Höhe der Einkommensteuerschuld beeinflussen. Würde keine gesonderte und einheitliche Feststellung für die Einkünfte aus der OHG ergehen, müsste daher das Festsetzungsfinanzamt insoweit die Besteuerungsgrundlagen (ebenfalls) ermitteln. Damit ist der Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der OHG bindend für Festsetzung der Einkommensteuer des A.

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6 Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 182 AO Rz. 21.

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Rz. 26 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

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Insgesamt stellt der Feststellungsbescheid über die Einkünfte aus der OHG für die Einkommensteuer 05 des A einen Grundlagenbescheid i.S.v. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO dar.

27

Hinweis: Die Fragestellung, ob die in dem Feststellungsbescheid getroffenen Feststellungen für den Einkommensteuerbescheid von Bedeutung sind, kann nur unter Beachtung des materiellen Rechts getroffen werden. Eine knappe Darstellung, unter welchem Aspekt die im Grundlagenbescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen für den Folgebescheid von Bedeutung sind, sollte daher unter Rekurs auf das materielle Recht erfolgen.

(2) Wirksamkeit des Feststellungsbescheides 28

Mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt kann davon ausgegangen werden, dass der Feststellungsbescheid vom 1.12.12 dem Empfangsbevollmächtigten i.S.d. § 183 AO gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 4.12.12 zugegangen und damit bekanntgegeben und mithin wirksam i.S.d. § 124 Abs. 1 AO ist.

29

Hinweis: Für die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides für den Folgebescheid ist es unerheblich, ob der Grundlagenbescheid so ergehen durfte. Fragen der Rechtmäßigkeit des Grundlagenbescheides, insbesondere danach, ob die Feststellungsfrist eingehalten worden ist und ob der Bescheid von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist, sind an dieser Stelle nicht zu prüfen7 (siehe insoweit auch Fragestellung 2 in dieser Klausur). Ist der Grundlagenbescheid materiell rechtswidrig, weil die festgestellten Besteuerungsgrundlagen materiell unrichtig sind, führt das gleichzeitig auch zur materiellen Rechtswidrigkeit des Folgebescheides, soweit dadurch die Steuer abweichend von der gem. § 38 AO i.V.m. dem Einzelsteuergesetz entstandenen Steuer festgesetzt wird. Eine Anfechtung des Folgebescheides ist nach den eingangs genannten Grundsätzen gleichwohl nicht möglich, d.h. der betroffene Steuerpflichtige muss gegen den Grundlagenbescheid vorgehen. Im Fall sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der geänderte Grundlagenbescheid materiell rechtswidrig ist, sodass Aussagen zur materiellen Rechtmäßigkeit des Folgebescheides insoweit entbehrlich sind bzw. nicht getroffen werden können.

(3) Ergebnis und Folge für die Einkommensteuerfestsetzung des A 30

Bei dem Feststellungsbescheid handelt es sich um einen wirksam bekanntgegebenen Grundlagenbescheid i.S.v. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO. Die Festsetzungsfrist endet mithin gem. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheides. Der Grundlagenbescheid ist am 4.12.12 bekanntgegeben (siehe oben), die Festsetzungsfrist endet gem. § 108 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 187 f. BGB mit Ablauf des 4.12.14. Am 1.4.13 ist also noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, und der Steuerbescheid durfte grundsätzlich noch geändert werden.

7 BFH v. 16.6.2011 – IV R 11/08, BStBl. II 2011, 903, juris Rz. 16; Brandis in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 182 AO Rz. 2 m.w.N.

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 33

b) Korrekturnorm für den Einkommensteuerbescheid 05 Die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung erfolgt durch Steuerbescheid gem. §§ 155 Abs. 1; 157 Abs. 1 AO. Zur Durchbrechung der materiellen Bestandskraft, die mit der Änderung des Steuerbescheides einhergeht, müssten zudem die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt sein. Dazu müsste ein Grundlagenbescheid vorliegen, der Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid entfaltet. Grundlagenbescheid i.S.v. § 171 Abs. 10 AO ist hier der Gewinnfeststellungsbescheid für A von der B-OHG. Wie festgestellt, entfaltet dieser gem. § 182 Abs. 1 Satz 1 AO für die Einkünfte aus gewerblicher Beteiligung (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) Bindungswirkung. Der Einkommensteuerbescheid des A „ist“ damit gem. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern. Ein Ermessen gem. § 5 AO besteht insoweit nicht.

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c) Ergebnis Damit ist der Einkommensteuerbescheid 05 des A vom 1.4.13 rechtmäßig.

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4. Verwirkung der Steuer- und Zinsansprüche Die Steuer- und bzw. oder die Zinsansprüche könnten allerdings verwirkt und eine geänderte Steuer- bzw. Zinsfestsetzung damit unzulässig sein. Die Verwirkung ist eine Ausprägung der Grundsätze von Treu und Glauben, die aus dem Zivilrecht (§ 242 BGB) stammen, aber wegen ihrer Verankerung im Rechtsstaatsprinzip auch im Öffentlichen Recht und im Steuerrecht anerkannt sind.8 Die Grundsätze von Treu und Glauben sind im Kern vom Sittlichen her beeinflusste Gebote mitmenschlichen Verhaltens in den mitmenschlichen Beziehungen und fordern mit zunehmend gesteigerter Ausprägung der Rechtsbeziehungen zwischen den beteiligten Subjekten – wie sie auch im Steuerverfahren bestehen – zu gesteigerter gegenseitiger Rücksichtnahme auf.9 Bestandteil der Grundsätze von Treu und Glauben ist das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium). Dieses beinhaltet, dass ein früheres, isoliert betrachtet nicht zu missbilligendes Verhalten die spätere Rechtsausübung dennoch unzulässig machen kann, wenn das Verhalten einer Partei nach dem Gesamtbild als objektiv widersprüchlich zu bewerten ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick darauf vorrangig schutzwürdig erscheinen. Formuliert für die Verwirkung, die eine Fallgruppe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ist, bedeutet dies, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann, wenn der Berechtigte es längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment) und der Verpflichtete sich mit Rücksicht auf das gesamte Verhalten des Berechtigten darauf eingerichtet hat

8 BFH v. 5.3.1964, IV 133/63 S, BStBl. III 1964, 311, juris Rz. 12; v. 9.8.1989 – I R 181/85, BStBl. II 1989, 990, juris Rz. 16; v. 7.10.2010 – V R 17/09, juris Rz. 20; Drüen in Tipke/ Kruse (Stand: August 2021), § 4 AO Rz. 125. 9 BFH v. 5.3.1964 – IV 133/63 S, BStBl. III 1964, 311, juris Rz. 12; v. 9.8.1989 – I R 181/85, BStBl. II 1989, 990, juris Rz. 15 f.; v. 7.10.2010 – V R 17/09, juris Rz. 20; Drüen in Tipke/ Kruse (Stand: August 2021), § 4 AO Rz. 132, 135; Grüneberg in Palandt80, § 242 BGB Rz. 5.

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Rz. 33 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

und sich auch darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht mehr geltend machen werde (Umstandsmoment).10 Zeitmoment und Umstandsmoment stehen wiederum in einem Wechselverhältnis zueinander: Je länger die Zeitspanne ist, desto geringere Anforderungen sind an das Umstandsmoment zu stellen.11 Hierbei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu beachten.12 34

Vorliegend könnte sich eine Verwirkung daraus ergeben, dass das Finanzamt den Feststellungsbescheid für das Jahr 05 aus März 09 nicht vor Ablauf der zweijährigen Frist i.S.d. § 171 Abs. 10 AO in einem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 05 ausgewertet hat. Ein Zeitmoment bis zur Auswertung im Jahr 12 von drei Jahren ist damit gegeben. Allerdings tritt grundsätzlich allein durch Zeitablauf noch keine Verwirkung ein, sodass es für die Geltendmachung einer Verwirkung ebenso eines gewissen Umstandsmomentes bedarf.13 Über das bloße Nicht-Auswerten des Grundlagenbescheides hat das Finanzamt im vorliegenden Fall keine Äußerungen oder Handlungen getätigt, die darauf schließen lassen, dass der mit den gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen zusammenhängende Steueranspruch nicht (mehr) realisiert werden soll. Somit ist mangels entsprechenden Verhaltens der Finanzbehörde ein Umstandsmoment und damit auch eine Verwirkung zu verneinen.14 Die Auswertung des gesamten Grundlagenbescheides aus dem Jahr 12 im Einkommensteuerbescheid 05 ist damit zulässig.

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Für die Zinsfestsetzung greifen identische Überlegungen. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass Verzinsung von Geldbeträgen – jedenfalls dem Grundgedanken nach – deswegen erfolgt, weil derjenige, der Zinsen zahlt, mit dem Geld für den Zeitraum der Zurverfügungstellung wirtschaften kann und diesen Nutzungsvorteil gegenüber dem Geldgeber „abgilt“. Zinsen bilden somit den wirtschaftlichen Vorteil ab, der sich dadurch ergibt, dass ein Geldbetrag zur Erwirtschaftung für einen Zeitraum zur Verfügung gestellt wird.15 Dieser Gedanke liegt auch der Verzinsung i.S.d. §§ 233 ff. AO im Steuerrecht zugrunde.16 Unabhängig von der Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes i.S.d. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO i.H.v. 6 % jährlich ab dem Veranlagungszeitraum 201417 teilt die Zinsfestsetzung für die Beurteilung der Verwirkung somit das Schicksal der Steuerfestsetzung.

10 BFH v. 31.8.1993 – VII R 69/91, BStBl. II 1995, 846, juris Rz. 30; BGH v. 12.3.2008 – XII ZR 147/05, juris Rz. 22; v. 12.7.2016 – XI ZR 564/15, juris Rz. 37. 11 BGH v. 19.10.2005 – XII ZR 224/03, juris Rz. 23. 12 BFH v. 14.9.1977 – II R 74/76, BStBl. II 1978, 168, juris Rz. 17. 13 BFH v. 31.8.1993 – VII R 68/91, BStBl. II 1995, 846, juris Rz. 30; v. 14.10.2003 – VIII R 56/ 01, BStBl. II 2004, juris 123 Rz. 18; hiervon sind Ausnahmen anerkannt, siehe Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 4 AO Rz. 173 m.w.N. 14 Siehe dazu auch Claßen, EFG 2007, 979 – Anmerkung zu FG Rh.-Pf. v. 26.2.2007 – 5 K 2354/06. 15 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 233 AO Rz. 1. 16 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 233 AO Rz. 1. 17 Hierzu BVerfG v. 8.7.2021 – 1 BvR 2237/14 u.a., juris Rz. 37.

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 40

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Alternative Lösung: Eine andere Auffassung, die hier in Bezug auf den Gewinnanteil i.H.v. 6.000 Euro zu einer Verwirkung durch Zeitablauf kommt, ist mit entsprechender Argumentation vertretbar. Denkbar wäre es, die Zwei-Jahres-Frist in § 171 Abs. 10 AO als Anhaltspunkt für eine zeitliche Höchstgrenze anzuführen. Gegen ein starres Festhalten an der Zwei-Jahres-Frist spricht aber, dass die Möglichkeit der „Gesamtkorrektur“ durch einen späteren weiteren Feststellungsbescheid bei Nichtauswertung des ersten Grundlagenbescheides vom Gesetzgeber nicht eingeschränkt worden ist. Denkbar wäre es auch, den Verstoß gegen die Grundsätze aus Treu und Glauben als Teil der sachlichen Unbilligkeit i.S.d. § 163 AO (ggf. i.V.m. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO) zu prüfen und über § 163 AO zu einer Billigkeitsfestsetzung zu kommen, die vom materiell-rechtlich entstandenen Steueranspruch abweicht.18 Hinweis: Zugegeben: Dieser Teil der Lösung wird von einer durchschnittlichen Bearbeitung nicht verlangt. Dennoch sind im Sachverhalt Anhaltspunkte dafür vorhanden, eine Verwirkung jedenfalls anzusprechen, denn A wirft der Finanzbehörde hier Versäumnisse vor, da diese den ersten Feststellungsbescheid nicht ausgewertet habe. Ausführungen zu dieser Thematik werden – auch wenn sie den Problemkreis nur anschneiden – entsprechend positiv bei der Korrektur berücksichtigt.

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II. Aufgabe 2 1. Bestimmung des Prüfungsumfangs Fraglich ist, ob der Feststellungsbescheid 05 v. 1.12.12 rechtmäßig ist. Bisher wurden im Gutachten nur die Rechtsqualität des Bescheides und seine wirksame Bekanntgabe geprüft. Somit sind noch die formelle Rechtmäßigkeit und die materielle Rechtmäßigkeit zu prüfen.

38

2. Ermächtigungsgrundlage Mangels Vorläufigkeit oder Vorbehalt der Nachprüfung kommt hier nur eine Korrektur gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht, der gem. § 181 Abs. 1 AO auf Grundlagenbescheide entsprechend anwendbar ist.

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3. Formelle Rechtmäßigkeit Laut Aufgabenstellung ist der Bescheid insgesamt formell nicht zu beanstanden, ist also unter Einhaltung von Zuständigkeits-, Verfahrens- und Formvorgaben ergangen.

18 So etwa von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 227 AO Rz. 170 und Schindler in Gosch (Stand: August 2021), § 163 AO Rz. 57.

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Rz. 41 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

4. Materielle Rechtmäßigkeit 41

Der Feststellungsbescheid ist materiell rechtmäßig, wenn er innerhalb der Feststellungsfrist und auch unter den Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage ergangen ist. Ferner müssten die festgestellten Besteuerungsgrundlagen auch materiellrechtlich zutreffend sein. a) Feststellungsfrist

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Die Regelungen zur Durchführung der Besteuerung gelten gem. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO auch für die gesonderte Feststellung. Obwohl es sich bei der Gewinnfeststellung um eine gesonderte und einheitliche Feststellung gem. § 179 Abs. 2 Satz 2 AO handelt, ist aus dem Wortlaut des § 180 Abs. 1 AO erkennbar, dass mit der gesonderten Feststellung auch gesonderte und einheitliche Feststellungen gemeint sind. Damit sind hier auch die Regelungen über die Festsetzungsfrist, hier begrifflich in Form der Feststellungsfrist, anwendbar. Zur Abgabe einer Feststellungserklärung ist A als Feststellungsbeteiligter der B-OHG gem. § 181 Abs. 2 Nr. 1 AO verpflichtet. Gem. § 181 Abs. 1 Satz 2 AO ist die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch für die gesonderte Feststellung anwendbar.

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Hinweis: Die Regelung des § 181 Abs. 3 AO findet hier keine Anwendung, da sich diese nur auf die gesonderte Feststellung von Einheitswerten bezieht.

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Gem. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 2 AO beginnt die Feststellungsfrist mit Ablauf des Jahres, in dem die Feststellungserklärung abgegeben worden ist, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten auf das Feststellungsjahr folgenden Kalenderjahres. Die Feststellungserklärung 05 wurde erst am 31.1.09 abgegeben; somit ist die maximale Anlaufhemmung von drei Jahren maßgeblich, d.h. die Feststellungsfrist beginnt hier mit Ablauf des Jahres 08, also mit Ablauf des 31.12.08. Die Feststellungsfrist beträgt in entsprechender Anwendung von § 181 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre und endet regulär gem. § 108 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 187 Abs. 1; 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 31.12.12. Maßgebend ist gem. § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO das Absendedatum des Steuerbescheides, hier also der 1.12.12, der vor dem 31.12.12 liegt. Der Bescheid erging also innerhalb der Feststellungsfrist. b) Korrekturnorm/Ermächtigungsgrundlage

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Der Feststellungsbescheid ist nur dann rechtmäßig, wenn er auch geändert werden durfte, die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO also vorlagen. Hierfür müsste der Finanzbehörde nachträglich, d.h. nach abschließender Zeichnung des ursprünglichen Bescheides, eine die festgestellten Besteuerungsgrundlagen erhöhende Tatsache bekanntgeworden sein, die auch rechtserheblich war. Hier erhielt das Feststellungsfinanzamt im Jahr 12 Kenntnis davon, dass die OHG einen gewinnerhöhenden und damit auch einen die festgestellten Besteuerungsgrundlagen erhöhenden Sachverhalt für das Jahr 05 nicht erfasst hatte. Eine Gewinnerhöhung ist Bestandteil des Einkünftebegriffs i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 EStG und damit Tatsache i.S.v. § 173 Abs. 1 64

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Fall 4: Schritt für Schritt | Rz. 50

Nr. 1 AO. Das Feststellungsfinanzamt erfuhr erst im Jahr 12, also nach abschließender Zeichnung des Bescheides im Jahr 09, von dieser Tatsache, sodass diese auch nachträglich bekanntgeworden ist. Die Rechtserheblichkeit ist ebenfalls zu bejahen. Bei dem bisher nicht berücksichtigten Sachverhalt handelt es sich folglich um eine nachträgliche, neue Tatsache i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Der Gewinnfeststellungsbescheid durfte bzw. musste folglich gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden. c) Materiell-rechtlich zutreffender Gewinnanteil Inwieweit der festgestellte Gewinnanteil materiell-rechtlich zutreffend ist, wird aus dem Sachverhalt nicht deutlich, sodass von der materiellen Rechtmäßigkeit ausgegangen werden kann.

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5. Ergebnis Der Feststellungsbescheid 05 vom 1.12.12 ist rechtmäßig.

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III. Aufgabe 3 Fraglich ist, wie sich das Erlöschen des Steueranspruchs und die Festsetzungs- bzw. Feststellungsfrist zueinander verhalten.

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Gem. § 47 AO erlischt die Steuer u.a. durch Verjährung. Dabei ist zwischen der Festsetzungs- bzw. Feststellungsverjährung i.S.d. §§ 169 ff. AO und der Zahlungsverjährung i.S.d. §§ 228 ff. AO zu unterscheiden.19 Festsetzungs- bzw. Feststellungsverjährung bedeutet, dass der abstrakt gem. § 38 AO i.V.m. den Einzelsteuergesetzen entstandene Steueranspruch nicht mehr durch Steuerbescheid festgesetzt werden darf bzw. die Besteuerungsgrundlagen nicht mehr durch Feststellungsbescheid festgestellt werden dürfen, wohingegen die Zahlungsverjährung den bereits durch Steuerfestsetzung konkretisierten Steueranspruch umfasst.20 Zweck der Verjährung ist, dass die Steuerpflichtigen darauf vertrauen dürfen, dass die Steuerforderung nicht mehr geltend gemacht wird, sodass den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Geltung verschafft wird.21

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Ein Steueranspruch darf folglich, auch wenn er materiell-rechtlich besteht, nicht mehr durch Steuerbescheid festgesetzt werden, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Ein dennoch ergehender Steuerbescheid ist mangels Offenkundigkeit des Fehlers zwar nicht nichtig i.S.d. § 125 Abs. 1 AO, aber rechtswidrig, und kann entsprechend durch Einspruch i.S.d. §§ 347 ff. AO angefochten werden.22 Ein Steuerbescheid, der nach Ablauf der Festsetzungsfrist rechtswidrig ergeht und bestandskräftig wird, durchbricht hingegen die Erlöschenswirkung des § 47 AO. Diese Grundsätze gelten auch für die gesonderte (und einheitliche) Feststellung von Besteuerungsgrundlagen

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19 Zur Festsetzungs- bzw. Feststellungsverjährung siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.296 ff.; zur Zahlungsverjährung siehe Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.343 ff. 20 Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 47 AO Rz. 1. 21 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.296. 22 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.296.

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Rz. 50 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

in Bezug auf die Feststellungsfrist, da Grundlagenbescheide stets wegen §§ 171 Abs. 10; 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eine Korrektur der Folgebescheide, also hin bis zur Steuerfestsetzung, ermöglichen. 51

Im hiesigen Fall wird die Festsetzungsfrist durch § 171 Abs. 10 Satz 1 AO in ihrem Ablauf gehemmt und der Steueranspruch erlischt gem. § 47 AO nicht, „soweit“ er auf Besteuerungsgrundlagen zurückgeht, die in dem Grundlagenbescheid v. 1.12.12 festgesetzt werden. Die Feststellungsfrist war am 1.12.12 insoweit noch nicht abgelaufen, sodass der Grundlagenbescheid auch ergehen durfte.

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Problematisch ist lediglich, dass von März 11 (Ablauf der verlängerten Festsetzungsfrist i.S.d. § 171 Abs. 10 AO nach dem ersten Grundlagenbescheid) bis zum 4.12.12 (Bekanntgabe des zweiten Grundlagenbescheides) ein objektiver Beobachter nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Aussage darüber treffen kann, ob die Festsetzungsfrist abgelaufen ist, und damit auch nicht darüber, ob der Steueranspruch gem. § 47 AO erloschen ist. Dies hängt damit zusammen, dass die Feststellungsfrist bis zum 31.12.12 läuft und somit, jedenfalls hypothetisch, bis zu diesem Zeitpunkt ein Feststellungsbescheid noch ergehen kann, der seinerseits die Rechtsfolgen des § 171 Abs. 10 AO auslöst. Streng genommen würde dies bedeuten, dass die Festsetzungsfrist im März 11 abläuft – und mit dem Ablauf das Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis gem. § 47 AO eintritt – und am 4.12.12 für zwei Jahre samt Steueranspruch teilweise wieder auflebt. Seinen Grund findet dies darin, dass der Wortlaut des § 171 Abs. 10 AO die Ablaufhemmung an das tatsächliche Ergehen eines Grundlagenbescheides knüpft.

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Dogmatisch lässt sich diese Problemstellung auf zwei Arten lösen: Entweder man argumentiert, dass der einmal erloschene Steueranspruch ab dem Zeitpunkt partiell wieder auflebt,23 an dem der Grundlagenbescheid wirksam wird. Oder man argumentiert, dass § 171 Abs. 10 AO über den konkreten Einzelfall hinaus abstrakt eine Festsetzungsverjährung und damit ein Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis hemmt, soweit und solange ein Grundlagenbescheid hypothetisch noch erlassen oder geändert werden kann.24

54

Unabhängig davon, wie man sich entscheidet, ist der Steueranspruch, der sich aus den Beteiligungsgewinnen ergibt, – im Gegensatz zur Auffassung des A – bei Ergehen des Einkommensteuerbescheides 05 in 13 nicht i.S.d. § 47 AO erloschen.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 55

– Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 21.43, 21.121 ff., 21.150 ff., 21.301; 21.329 ff. – Melchior, SteuerStud 2007, 377 – Krumm, DStR 2005, 631 23 Dies soll grundsätzlich unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein, vgl. Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 47 AO Rz. 23. 24 BFH v. 30.11.1999 – IX R 41/97, BStBl. II 2000, 173, juris Orientierungssatz 2.

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Fall 5: Trautes Heim, „komm’ nicht rein!“ Schwerpunkte: – Zulässigkeit eines Einspruchs – Änderung besonderer Steuer-VA – Rechtmäßigkeit von Ermittlungsmaßnahmen Bearbeitungszeit: 3,5 Std. Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Der in Bochum wohnhafte IT-Fachmann I ist Angestellter bei dem Bochumer Software-Unternehmen Supersoft. Dort kann er sich zwar in einem stark frequentierten Großraumbüro aufhalten. Jedoch vermag I sich dort kaum zu konzentrieren, um in Ruhe EDV-Programme entwickeln zu können. Daher verrichtet er seine Tätigkeit ganz überwiegend von seiner Wohnung aus, die er sich in einem früheren Industriegebäude als „Loft“ hergerichtet hat. Auf einer nicht räumlich abgeschlossenen Galerie nutzt er dazu vier Computerbildschirme und einen ultraschnellen PC, der seinerseits mit einem leistungsstarken Server verbunden ist. Dieser befindet sich in einem separaten lichtgeschützten (abgeschlossenen) Raum. Der Server ist über eine VPNSchnittstelle – dabei handelt es sich um eine geschützte Internetverbindung – mit einem Zentralserver der Firma Supersoft verbunden. Die Bildschirme, den PC und den Server hat I Anfang des Jahres 01 selbst angeschafft (Anschaffungskosten insgesamt = 10.000 Euro). Für die Herrichtung des „Loft“ hat I im selben Jahr Renovierungskosten von insgesamt 30.000 Euro aufgewendet; zudem zahlt er seit dem 1.1. des Jahres 01 einen Mietzins von 500 Euro (inkl. Nebenkosten) jeweils am Anfang des Monats. I hat sich auf dem sog. ELSTER (Elektronisches Steuererklärungs)-Portal der Finanzverwaltung angemeldet und registrieren lassen. Unter Verwendung seines persönlichen Authentifizierungsschlüssels hat er die Einkommensteuererklärung 01 dem zuständigen Finanzamt Bochum-Mitte fristgerecht elektronisch übermittelt und unter Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in der Rubrik „Arbeitsmittel“ einen Betrag in Höhe v. 10.000 Euro eingegeben. Für die Galerie und den separaten Serverraum, die jeweils 10 % der Fläche der Wohnung ausmachen, hat er auf einem Schmierzettel die aus seiner Sicht anzusetzenden Kosten berechnet und ist dabei auf insgesamt 7.200 Euro (20 % von 36.000 Euro) gekommen. Diese wollte er unter der Rubrik „Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer“ eingeben; aus Unachtsamkeit tippte er jedoch die Summe 2.700 Euro ein. Das automatisierte sog. Risikomanagementsystem der Finanzverwaltung hat die Steuererklärung des I als „risikobehaftet“ ausgesteuert und der zuständigen Sachbear67

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Rz. 1 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

beiterin F einen internen sog. Prüfhinweis „Werbungskosten – Einkünfte nichtselbständiger Arbeit“ ausgegeben. F ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für den Abzug der Kosten des häuslichen Arbeitszimmers nicht gegeben sind, und hat die abzugsfähigen Werbungskosten dementsprechend um 2.700 € gekürzt. In dem elektronischen ELSTER-Postfach des I wurde daraufhin am 31.8. des Jahres 02 eine „Einkommensteuer-Berechnung“ (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) eingestellt. Gleichzeitig wurde I eine E-Mail mit dem Hinweis zugeschickt, dass die Einkommensteuerberechnung 01 in seinem persönlichen ELSTER-Postfach zum Abruf bereitstehe. Der formell ordnungsgemäße Einkommensteuerbescheid 01 wurde ebenfalls am 31.8.02 zur Post gegeben und hat den I am 2.9.02 auf dem analogen Postweg (versehen mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung) erreicht. Einen Vorbehalt der Nachprüfung enthielt der Bescheid nicht. Aufgrund einer „heißen Arbeitsphase“ hatte sich I zunächst um seine Einkommensteuer-Angelegenheit nicht gekümmert. Bei Durchsicht seines elektronischen Bankkontos Ende Oktober 02 erkannte er, dass die sich nach Abzug der einbehaltenen Lohnsteuer ergebende Einkommensteuer-Erstattung 01 wegen der Kürzung der Werbungskosten um 2.700 € niedriger als erwartet ausgefallen ist. I schickte wiederum unter Authentifizierung über das ELSTER-Portal an das Finanzamt Bochum-Mitte eine elektronische Nachricht, in der er erklärte, „Einspruch gegen die Steuerberechnung“ einzulegen, und anführte, es müssten 7.200 € zusätzliche Werbungskosten berücksichtigt werden. Daraufhin überprüfte F den Einkommensteuerbescheid 01 v. 31.8.02 an Amtsstelle, hatte aber Zweifel an dem von I in der Steuererklärung erklärten Sachverhalt. Um sich ein hinreichendes Bild zu machen, suchte sie an einem Werktagvormittag die Wohnung des I zum Zweck einer Ortsbesichtigung auf. Zwei Wochen vor der Ortsbesichtigung hatte sie dies dem I postalisch angekündigt. In seinem Arbeitsstress hatte I den Brief jedoch nur beiläufig gelesen und direkt wieder vergessen, sodass er vom Erscheinen der F völlig überrascht war und sich überrumpelt fühlte. Nach einem kurzen Gespräch mit F „zwischen Tür und Angel“, in dem sie ihm den Anlass ihres Besuchs erläuterte, ließ I die F herein, erklärte aber, sich seine Rechte vorbehalten zu wollen. F besichtigte daraufhin die Galerie und den Serverraum. Außerdem fragte sie den I nach den in der Erklärung angegebenen Arbeitsmitteln. I erläuterte ihr daraufhin die Posten und legte Kopien der Rechnungen über den Schreibtisch und die EDV-Geräte vor, die die F daraufhin mitgenommen hat. Dabei zeigt sich, dass die Anschaffungskosten von Bildschirmen, PC und Server jeweils deutlich über 1.000 € lagen, sodass im Jahr 01 insgesamt nur eine AfA i.H.v. 2.000 € hätte berücksichtigt werden dürfen.1 Aufgabe: Prüfen Sie gutachterlich, ob und in welchem Umfang der Einkommensteuerbescheid 01 v. 31.8.02 zu ändern ist. Es gilt die aktuelle Rechtslage. 1 Für Zwecke dieses Falls findet das BMF-Schreiben v. 26.2.2021, BStBl. I 2021, 298, laut dem die Nutzungsdauer von Computerhardware und Software zur Dateneingabe und -verarbeitung ein Jahr betragen soll, keine Anwendung.

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Gehen Sie auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen gutachterlich ein. Bzgl. des separaten Serverraums ist davon auszugehen, dass die Kosten hierfür anteilig als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit materiell abzugsfähig sind. Sämtliche technische Gerätschaften haben nach den amtlichen AfA-Tabellen eine Nutzungsdauer von mehr als einem Jahr. Zusatzaufgabe: Bei der Ortsbesichtigung der Wohnung des I hat die F mit ihrem privaten Smartphone Fotos vom Serverraum und der Galerie des F gemacht und diese direkt in ihrer persönlichen Cloud gespeichert. Auf den Bildern vom Galerie-Arbeitsplatz sind dabei unter anderem die Monitore zu sehen, auf denen der Name des I erkennbar ist. F fragt sich, ob diese Fotos in einem finanzgerichtlichen Verfahren als Beweismittel genutzt werden könnten.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung Eine Besonderheit dieses Falls sind die vorgenommenen behördlichen Ermittlungsmaßnahmen und deren Relevanz für die Falllösung. Sie werden hier in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen bzgl. ihrer Rechtmäßigkeit, zum anderen hinsichtlich des Umfangs der Ermittlungspflicht.

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Beides kann Auswirkungen darauf haben, ob bestimmte Informationen zu Lasten des Steuerpflichtigen verwendet werden dürfen. Im vorliegenden Fall treten diese Fragen jeweils im Zusammenhang mit einer Änderung bestandskräftiger Festsetzungen auf. Sie können aber ebenso bereits bei der Rechtmäßigkeit eines Ausgangsverwaltungsaktes Bedeutung erlangen.

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Hintergrund der Ermittlung des Sachverhalts seitens der Finanzbehörden ist der in § 88 Abs. 1 Satz 1 AO normierte Amtsermittlungsgrundsatz. Die Finanzbehörden sind also verpflichtet, den jeweiligen Steuersachverhalt ihrerseits grundsätzlich umfassend aufzuklären. Wenn sie dieser Pflicht nicht hinreichend nachkommen und dementsprechend auf einer nicht hinreichenden Tatsachenbasis die Steuer festgesetzt haben, dann kann dieser Ermittlungsmangel eine Änderung aufgrund nachträglich bekanntgewordener Tatsachen zu Lasten des Steuerpflichtigen (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) sperren.2 Die Korrekturvorschriften ermöglichen ausnahmsweise eine Änderung von Festsetzungen auch noch nach bereits eingetretener formeller Bestandskraft, lassen also in diesen Ausnahmefällen den Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen gegenüber dem Interesse an der gesetzmäßigen Steuerfestsetzung zurücktreten. Werden die Tatsachen nur deswegen erst nachträglich bekannt, weil die Behörde vorher ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen ist, so wäre eine Änderung der Festsetzung nicht mit Treu und Glauben vereinbar. Es muss insofern bestimmt werden, wie weit

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2 BFH v. 3.7.2002 – XI R 27/01, juris Rz. 11; v. 28.6.2006 – XI R 58/05, BStBl. II 2006, 835, juris Rz. 15; v. 29.11.2017 – II R 52/15, BStBl. II 2018, 419, juris Rz. 26 f.

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die Ermittlungspflichten im Einzelfall reichen. Dabei ist die Wechselwirkung mit den Mitwirkungspflichten der Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Der Grundsatz der Mitwirkungspflicht der Steuerpflichtigen ist in § 90 Abs. 1 AO niedergelegt. Da die für den Steuersachverhalt relevanten Informationen regelmäßig persönliche Umstände betreffen, die der Finanzbehörde ohne dahingehende Informationen des Steuerpflichtigen kaum zugänglich wären, ist die Mitwirkung der Steuerpflichtigen für eine gesetzmäßige Besteuerung unabdingbar.3 Kommt der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht hinreichend nach, so sinkt auch die Ermittlungspflicht der Behörde.4 Das kann z.B. für die bereits angesprochene Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bedeuten, dass die mangelnde Mitwirkung des Steuerpflichtigen (die im Zusammenhang mit der dort fraglichen Tatsache steht) den Ermittlungsfehler der Behörde sozusagen aufwiegt und eine Änderung dennoch möglich ist. 5

Neben der Reichweite der Ermittlungspflichten wird in diesem Fall auch die Rechtmäßigkeit einzelner Ermittlungsmaßnahmen relevant. Die Ermittlungsmaßnahmen berühren den Steuerpflichtigen i.d.R. in seinen Grundrechten. Diese Grundrechtsrelevanz lässt den Vorbehalt des Gesetzes eingreifen, d.h. es bedarf einer expliziten gesetzlichen Ermächtigung zur Vornahme der Ermittlungshandlung. Die allgemeine Mitwirkungspflicht i.S.d. § 90 Abs. 1 AO begründet weder eine konkrete Ermittlungspflicht noch erlaubt sie, auch nicht in Zusammenschau mit dem Amtsermittlungsgrundsatz in § 88 AO, konkrete Ermittlungsmaßnahmen. Beide Normen sind vielmehr nur Programmnormen. Die AO gibt den Finanzbehörden daher gesondert verschiedene Handlungsmöglichkeiten zur Sachverhaltsermittlung an die Hand (insbes. in §§ 93 ff.; 149 ff. AO), die für die jeweiligen Maßnahmen konkrete Voraussetzungen vorsehen.5 Werden die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten, ist die Ermittlungsmaßnahme rechtswidrig. Zusätzlich zu den Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Ermittlungsmaßnahmen müssen die Finanzbehörden mögliche Mitwirkungsverweigerungsrechte der Beteiligten (§§ 101 ff. AO) im Blick behalten und Betroffene darüber aufklären. Unterbleibt eine solche Aufklärung, wird die Maßnahme auch hierdurch rechtswidrig.

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Bei Informationen, die durch eine rechtswidrige Ermittlungsmaßnahme erlangt werden, stellt sich die Frage, ob diese von den Finanzbehörden überhaupt verwendet werden dürfen oder ob ein Verwertungsverbot eingreift.6 Um das zu beantworten, ist das Interesse an der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung mit der Bedeutung des Rechtsverstoßes abzuwägen. Insbesondere, wenn Grundrechte des Steuerpflichtigen verletzt werden, dürfte regelmäßig das Gewicht des Rechtsverstoßes überwiegen und ein Verwertungsverbot nach sich ziehen. Andernfalls wäre kein effektiver Grundrechtsschutz gewährleistet. Handelt es sich bei der Rechtsverletzung hingegen lediglich um verletzte Verfahrens- oder Formvorschriften, führt das regelmäßig zu keinem Verwertungsverbot. 3 4 5 6

Zu den Mitwirkungspflichten ausführlich Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.171 ff. BFH v. 15.2.1989 – X R 16/86, BStBl. II 1989, 462. Zu den Ermittlungsmaßnahmen Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.170. Ausführlich zum Verwertungsverbot Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 88 AO Rz. 26 ff.

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Fall 5: Trautes Heim, „komm‘ nicht rein!“ | Rz. 10

Von der Verwertung der unmittelbar durch die rechtswidrige Ermittlungsmaßnahme erlangten Information zu unterscheiden ist, ob ein dahingehendes Verwertungsverbot auch Fernwirkung entfaltet.7 Gemeint ist damit, ob solche Informationen oder Beweise verwertet werden dürfen, die mittelbar durch die rechtswidrige Maßnahme erlangt wurden, deren Ermittlung isoliert betrachtet aber rechtmäßig war. Das betrifft z.B. eine Situation, in der die Finanzbehörde mittels eines rechtswidrigen Auskunftsersuchens auf einen bestimmten Aspekt aufmerksam geworden ist und diesen mittels einer rechtmäßigen Ortsbegehung verifiziert. In solchen Fällen ist von einer Unverwertbarkeit der mittelbar erlangten Information nur auszugehen, wenn es bei der rechtswidrigen Ermittlungsmaßnahme zu einem qualifizierten Grundrechtseingriff gekommen ist, d.h. in den Kernbereich der grundrechtlich geschützten Intimsphäre des Bürgers eingegriffen wurde (z.B. Kernbereich von Art. 13 Abs. 1 GG, Verletzung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG). Eine generelle Fernwirkung des Verwertungsverbots ist in Deutschland hingegen nicht anzuerkennen.

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II. Anforderungsprofil Der Ausgangsfall hat eine klare Fallfrage, die es zu beantworten gilt. Bearb. sollen hier nicht allgemein die Rechtslage prüfen, sondern die dezidierte Frage beantworten, ob die Einkommensteuerfestsetzung 01 zu ändern ist. Im ersten (gedanklichen) Schritt der Falllösung ist dementsprechend zu überlegen, unter welchen Voraussetzungen Änderungen grundsätzlich in Betracht kommen, um diese allgemeinen Überlegungen dann auf den Fall zu übertragen.

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Es ist dabei zu erkennen, dass die weitgehendsten (und gleichzeitig einfachsten) Änderungsmöglichkeiten in einem Einspruchsverfahren bestehen. Das Vorgehen des I (elektronische Nachricht mit dem Wunsch, Einspruch einlegen zu wollen) gibt Bearb. den nötigen Hinweis, dass ein Einspruchsverfahren zu prüfen ist. Erst zweitrangig sollten andere punktuelle Änderungsmöglichkeiten angesprochen werden.

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Die Einspruchsprüfung sollte mit der Zulässigkeit beginnen, denn wenn diese nicht gegeben ist, hilft auch die etwaige Begründetheit nicht weiter. Im Rahmen der Zulässigkeitsvoraussetzungen finden sich mehrere kleinere Problemstellungen, die erkannt und abgearbeitet werden müssen, auf die aber nicht zu viel Zeit und Raum verwendet werden sollte. Hier ist Augenmaß und ein gutes Gefühl für die richtige Schwerpunktsetzung gefragt. Die Gestaltung des Sachverhalts ist dabei ein guter Anhaltspunkt: Der Sachverhalt nennt im Zusammenhang mit der Steuerfestsetzung und dem nachfolgenden Verhalten des I diverse Zeitpunkte bzw. Daten. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass ein Fristproblem bestehen könnte. Dementsprechend sollte auf das Merkmal der Frist ein genaueres Augenmerk gelegt werden, während andere Aspekte – wie die Beschwer – knappgehalten werden können. Insgesamt handelt es sich bei den Problemstellungen im Rahmen der Zulässigkeit weitgehend um Standardprobleme, die keine großen Schwierigkeiten bereiten sollten.

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7 Zur Fernwirkung siehe Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 88 AO Rz. 30.

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Rz. 11 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

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Die umfassenden Schilderungen im Sachverhalt zu den genauen Angaben, die der I in seiner Erklärung gemacht hat, geben darüber hinaus bereits einen klaren Hinweis darauf, dass es auf diese in irgendeiner Form ankommen muss. Wäre der Einspruch zulässig, wären die materiell-rechtlichen Fehler im Steuerbescheid im Rahmen des Einspruchsverfahrens zu korrigieren. Warum es zu den Fehlern gekommen ist, wäre im Einspruchsverfahren irrelevant, denn in diesem wird die Rechtmäßigkeit insgesamt auf Grundlage der dann bekannten Sachverhaltslage überprüft (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Warum bestimmte Tatsachen erst zwischenzeitlich bekannt geworden sind, spielt dabei keine Rolle. Den ausführlichen Sachverhaltsschilderungen zu den Hintergründen lässt sich dementsprechend entnehmen, dass eine Änderung im Einspruchsverfahren nicht möglich sein dürfte, dieser also unzulässig sein müsste.

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Die Unzulässigkeit des Einspruchs macht nachfolgend die Prüfung weiterer Änderungsmöglichkeiten erforderlich. Allen Bearb. sollte es jedoch gelingen, die §§ 173, 173a und 177 AO als zu prüfende Normen zu finden und grundsätzlich tatbestandsmäßig sauber durchzuprüfen. Insbesondere § 173 AO gehört zum Standardrepertoire der Fälle im allgemeinen Steuerrecht, sodass hier verlangt werden kann, dass auch die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale bekannt sind (Rechtserheblichkeit, die Anwendbarkeit und die Ausprägung der Grundsätze von Treu und Glauben).

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Bei der Prüfung von § 173 AO kommt es in diesem Fall ganz besonders auf eine saubere Subsumtion an. Gehen Bearb. die Tatbestandsmerkmale strukturiert gutachterlich durch, gelangen sie automatisch zu den Problemstellungen.

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Anspruchsvoll ist der Umgang mit den Informationen zu den Ermittlungsmaßnahmen der F. Diese lassen sich nicht ohne Weiteres in das „normale“ Prüfungsschema der Änderungsvorschriften einordnen, werden aber erkennbar in diesem Zusammenhang relevant. Hier müssen Bearb. beweisen, dass sie die verfahrensrechtlichen Zusammenhänge verstanden haben und den Mut haben, das Prüfungsschema um die Frage der Verwertbarkeit der neuen Informationen zu ergänzen. Der in der ausformulierten Lösung gewählte Aufbau ist ein Vorschlag, aber nicht die einzige Möglichkeit. Es wäre bspw. ebenso vertretbar, die Frage direkt beim Prüfungspunkt „nachträgliche Tatsache“ unterzubringen. In jedem Fall müssen die Ermittlungsmaßnahmen strukturiert gutachterlich geprüft werden. Der Fall ist dabei so angelegt, dass es letztlich nicht auf umstrittene Detailfragen ankommt, sondern man mit sorgfältiger Gesetzesanwendung darüber hinwegkommt. Hier zeigt sich ganz besonders, wie wichtig die aufmerksame Lektüre des Sachverhaltes ist.

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Die Zusatzaufgabe richtet sich ebenso auf ein mögliches Beweisverwertungsverbot. Hier wird eine neuartige Problemstellung thematisiert, die erst durch die jüngeren Entwicklungen der modernen Technik entstanden ist. Soweit ersichtlich, gibt es hierzu noch keine einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung. Bearb. sollen hier zeigen, dass sie es verstehen, die allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätze auch auf ganz neue Situationen anzuwenden, die sich so in den Lehrmaterialien nicht finden. Dementsprechend wird kein fachliches Detailwissen gefordert, sondern lediglich erwartet, dass die relevanten Tatbestandsmerkmale erkannt und nachvollziehbar geprüft werden. 72

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Fall 5: Trautes Heim, „komm‘ nicht rein!“ | Rz. 16

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Ausgangsfall 1. Änderung im Einspruchsverfahren 17 a) Statthaftigkeit 19 b) Form 21 c) Befugnis 23 d) Frist 24 e) Ergebnis zum Einspruch 27 2. Andere Änderungsmöglichkeiten 28 a) Berücksichtigung weiterer Werbungskosten aa) § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 29 (1) Nachträgliche Tatsache 30 (2) Rechtserheblichkeit der Tatsachen 32 (3) Kein grobes Verschulden des I 34 (4) Rechtsfolge 37 bb) § 173a AO 39 b) Falsche Berücksichtigung der Arbeitsmittel 41 aa) Nachträgliche, rechtserhebliche Tatsache 42 bb) Kein Verstoß gegen Treu und Glauben 44 cc) Änderungshindernis: Verwertungsverbot wegen rechtswidriger Ermittlungsmaßnahme? 48 (1) Ortsbesichtigung, § 99 Abs. 1 AO 49 (2) Auskunfts- und Vorlageersuchen, §§ 93 Abs. 1, 97 AO 53 dd) Rechtsfolge 54 c) Korrektur nach § 177 Abs. 1 AO 55 3. Ergebnis 59 II. Zusatzaufgabe 60

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Rz. 17 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

D. Ausformulierte Lösung I. Ausgangsfall 1. Änderung im Einspruchsverfahren 17

Es könnte eine Änderung im Rahmen eines Einspruchsverfahrens möglich sein. Dazu müsste der Einspruch des I aber überhaupt zulässig sein. Ein Einspruch ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen gegeben sind, was die Finanzbehörde gem. § 358 Satz 1 AO zu prüfen hat. Ob die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, bestimmt sich nach den §§ 347 ff. AO.

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Hinweis: Vor der Prüfung des Einspruchs könnte erwogen werden, ob die E-Mail des I tatsächlich als Einspruch oder nicht vielmehr als Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO (sog. Antrag auf schlichte Änderung) zu werten ist. Bei Letzterem beschränkt sich die Prüfung der Behörde auf den konkret angegriffenen Aspekt. Anders als beim Einspruch kann also nicht der gesamte Bescheid überprüft werden. I wäre so vor einer ggf. im Einspruchsverfahren möglichen Verböserung (reformatio in peius) geschützt. Das könnte für die Annahme eines solchen Antrags sprechen. Allerdings ist auch im Einspruchsverfahren eine Verböserung gem. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO nur nach vorherigem Hinweis des Finanzamts und Möglichkeit der Stellungnahme durch I zulässig, sodass I in diesem Fall den Einspruch zurücknehmen kann. Weiterer Nachteil des Antrags auf schlichte Änderung ist zudem, dass er die formelle Bestandskraft des VA nicht hindert. Außerdem ist eine Aussetzung der Vollziehung gem. § 361 Abs. 1 AO nur bei einem Einspruch, nicht aber bei einem Antrag auf schlichte Änderung möglich. Der Einspruch ist für den Steuerpflichtigen deshalb rechtschutzintensiver. Da aber in beiden Fällen innerhalb der Einspruchsfrist gehandelt worden sein müsste, kommt es hier letztlich kaum auf die Frage der Auslegung an. Um nicht zu viel Zeit und Raum durch die dargestellten Auslegungserwägungen zu verlieren, bietet es sich hier eher an, sich an die von I selbst vorgenommene Einordnung als Einspruch zu halten und direkt in die Prüfung des Einspruchs zu springen.

a) Statthaftigkeit 19

Der Einspruch müsste zunächst statthaft sein. Statthaft ist der Einspruch gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gegen Verwaltungsakte in Abgabenangelegenheiten, auf die die Abgabenordnung Anwendung findet. Abgabenangelegenheiten sind gem. § 347 Abs. 2 Satz 1 AO alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten. I richtet seinen Einspruch „gegen die Steuerberechnung“ und damit auf den ersten Blick gegen die Informationen, die ihm online zur Verfügung gestellt werden. Allerdings müsste es sich hierbei dann um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 118 AO handeln, gegen den der Einspruch statthaft ist. Fraglich ist diesbezüglich, ob der Steuerberechnung Regelungswirkung zukommt, sie also eine verbindliche Rechtsfolge setzt. Die Berechnung selbst setzt die Einkommensteuer, zu deren Leistung der Steuerpflichtige verpflichtet wird, jedoch noch nicht fest. Sie gibt lediglich Auskunft darüber, welche Daten der späteren 74

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Fall 5: Trautes Heim, „komm‘ nicht rein!“ | Rz. 22

Steuerfestsetzung zugrunde gelegt wurden. Sie ermöglicht so einen Abgleich und ist damit rein informatorisch. Eine Rechtsfolge zieht sie aber nicht nach sich, sodass es an diesem Merkmal fehlt und somit die Steuerberechnung keinen Verwaltungsakt darstellt.8 Der Einspruch wäre also unstatthaft. Allerdings könnte die E-Mail des I so zu verstehen sein, dass er sich mit dem Einspruch nicht gegen die Steuerberechnung, sondern eigentlich gegen die Steuerfestsetzung im postalisch übermittelten Steuerbescheid wenden will. Diese ist ein Verwaltungsakt in Abgabenangelegenheiten, gegen die der Einspruch statthaft ist. Zwar bezieht I sich ausdrücklich auf die Steuerberechnung, er ist allerdings ein fachlicher Laie, sodass seine Aussage im Kontext ausgelegt werden muss, um sein Begehren zu ermitteln.9 Ihm ist erkennbar daran gelegen, dass weitere Werbungskosten berücksichtigt werden, damit ihn letztlich eine geringere Steuer trifft. Diesem Ziel entspricht ein Vorgehen gegen die Steuerfestsetzung. Mithin ist ein Einspruch gegen die Steuerfestsetzung anzunehmen, der statthaft ist. Hinweis: Die hier sehr ausführliche Prüfung der Statthaftigkeit des Einspruches kann in der Klausur ggf. auch verkürzt werden, wenn diese unproblematisch ist. Formulierungsbeispiel: „Der Einkommensteuerbescheid ist gem. §§ 118, 155, 157 AO Verwaltungsakt in Abgabenangelegenheiten und der Einspruch gegen ihn folglich gem. § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 AO statthafter Rechtsbehelf.“ Da der I sich hier aber ausdrücklich auf die Steuerberechnung bezieht, die kein VA ist, liegt hier bereits ein Problem des Falls, und es sollte bei der Bearbeitung ein ausführlicherer Ansatz gewählt werden.

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b) Form Der Einspruch müsste auch formgerecht, also gem. § 357 Abs. 1 Satz 1 AO schriftlich oder elektronisch, eingelegt worden sein. § 87a Abs. 1 Satz 1 AO ergänzt die Regelung dahingehend, dass bei entsprechender Zugangseröffnung durch die Finanzbehörde auch eine elektronische Nachricht diesem Erfordernis genügt. I hat den Einspruch per E-Mail mit Authentifizierung i.S.d. § 87a Abs. 6 AO über das ELSTERPortal eingereicht. Das Finanzamt hat diesen Kommunikationsweg durch das ELSTER-Portal eröffnet, sodass I einen insoweit formgerechten Weg gewählt hat.

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Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 AO soll zudem der Verwaltungsakt angegeben werden, gegen den Einspruch eingelegt wird. I benennt hier nicht die Festsetzung, sondern die Steuerberechnung, allerdings wird aus dem Gesamtzusammenhang deutlich, dass die Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 01 gemeint ist, sodass auch diesem Erfordernis genügt ist.

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8 Siehe zur Einspruchsmöglichkeit bei einem Nichtakt aufgrund Rechtsscheins Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 347 AO Rz. 15 f. 9 Näher zum Auslegungserfordernis z.B. Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 357 AO Rz. 5.

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Rz. 23 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

c) Befugnis 23

I müsste zudem befugt sein, Einspruch einzulegen, § 350 AO. Dazu müsste er geltend machen, durch den Verwaltungsakt beschwert zu sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Vortrag des Steuerpflichtigen es möglich erscheinen lässt, dass eine Rechtsverletzung, eine fehlerhafte Anwendung einer Verwaltungsvorschrift oder eine unrechtmäßige Ermessensausübung vorliegt.10 I macht geltend, dass bei der Steuerfestsetzung weitere Werbungskosten hätten berücksichtigt werden müssen. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass sein Vorbringen zutreffend ist und sich auf die Rechtmäßigkeit der Verfügung auswirkt. Insofern erscheint eine Rechtsverletzung des I möglich und die Einspruchsbefugnis ist anzunehmen. d) Frist

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Der Einspruch müsste überdies fristgerecht eingelegt worden sein. Die Einspruchsfrist beträgt gem. § 355 Abs. 1 Satz 1 AO grundsätzlich einen Monat. Zwar war der online abrufbaren Steuerberechnung keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt, allerdings handelt es sich bei dieser – wie erläutert – nicht um den Gegenstand des Einspruchs, sodass dieser Umstand hier nicht zur Anwendung der Jahresfrist nach § 356 Abs. 2 Satz 1 AO führt.

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Die Einkommensteuerfestsetzung wurde dem I auf dem Postweg übermittelt, sodass für den Zeitpunkt der Bekanntgabe die Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO maßgeblich ist und der Bescheid drei Tage nach der Aufgabe zur Post (31.8.02), also am 3.9.02 als bekanntgegeben gilt. Dass I den Brief bereits am 2.9.02 erhalten hat, ändert hieran nichts. Gem. § 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB begann die Einspruchsfrist somit am 4.9.02 um 00:00 Uhr zu laufen. Gemäß § 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB würde die Frist eigentlich am 3.10.02 um 24 Uhr enden. Hierbei handelt es sich allerdings um einen staatlichen Feiertag (Tag der deutschen Einheit), sodass die Regelung des § 108 Abs. 3 AO eingreift und die Frist dementsprechend erst am 4.10.02 um 24 Uhr endete. I legte den Einspruch allerdings erst Ende Oktober 02 und somit deutlich nach Ablauf der Monatsfrist ein.

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Möglich könnte aber eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO sein. Unabhängig davon, dass der hierfür erforderliche Antrag durch I bisher nicht gestellt wurde, wäre dieser nur erfolgreich, wenn ihn kein Verschulden daran trifft, dass die Frist nicht eingehalten wurde. I dürfte diesbezüglich also weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen sein. I hat die Festsetzung erhalten und zumindest kurz wahrgenommen, als sie mit der Post ankam. Er hat sich jedoch infolge einer „heißen Arbeitsphase“ im Job nicht pünktlich darum gekümmert. Auch in stressigen Phasen ist den Steuerpflichtigen aber abzuverlangen, sich um ihre Belange zu kümmern. Es ist nicht ersichtlich, dass sich I in einer absoluten Ausnahmesituation befunden hätte, in der ihm die kontrollierende Sichtung des Steuerbescheides völlig unmöglich gewesen wäre. Insofern ist ihm jedenfalls das Außerachtlassen der gebotenen und ihm subjektiv zumutbaren Sorgfalt und damit Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Das Versäumen der Frist erfolgte somit schuldhaft und die Wiedereinsetzungsvoraussetzungen liegen nicht vor. 10 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 22.15.

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Fall 5: Trautes Heim, „komm‘ nicht rein!“ | Rz. 31

e) Ergebnis zum Einspruch Der Einspruch ist infolge der Verfristung als unzulässig zu verwerfen und eine Änderung der Festsetzung auf diesem Wege nicht möglich, § 358 Satz 2 AO.

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2. Andere Änderungsmöglichkeiten Eine Änderung der bestandskräftigen Festsetzung wäre aber möglich, wenn hierfür eine gesetzliche Ermächtigung besteht. Zur Korrektur von Steuerfestsetzungen ermächtigen die §§ 129 und 173 ff. AO.

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a) Berücksichtigung weiterer Werbungskosten aa) § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO Eine Änderungsmöglichkeit hinsichtlich der von I in seiner E-Mail angeführten weiteren Werbungskosten i.H.v. 7.200 Euro könnte sich nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ergeben. Hiernach ist die Änderung von bestandskräftigen Steuerfestsetzungen zugunsten der Steuerpflichtigen zulässig, wenn steuermindernde, also dahingehend rechtserhebliche, Tatsachen dem Finanzamt ohne Verschulden der Steuerpflichtigen erst nachträglich bekannt werden.

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(1) Nachträgliche Tatsache Tatsache in diesem Sinne ist alles, was Merkmal eines Steuertatbestandes sein kann. Als nachträglich bekannt gelten Tatsachen, wenn sie bei Erlass des Verwaltungsaktes zwar bereits vorlagen, dem Finanzamt jedoch nicht bekannt waren.11

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Nachträgliche Tatsachen könnten in diesem Zusammenhang die Höhe der auf die Galerie und den Serverraum entfallenden anteiligen Wohnungskosten des I (7.200 Euro) und die genauen Begebenheiten in der Wohnung sein. Beide Aspekte sind maßgeblich für die Einordnung als berücksichtigungsfähige Werbungskosten und somit Tatsachen im Sinne der Norm. Infolge des Tippfehlers des I war die Höhe der Wohnungskosten dem Finanzamt bis zur Nachricht des I Ende Oktober nicht bekannt, sodass diese Tatsache eine nachträglich bekanntgewordene ist. Hinsichtlich der örtlichen Umstände war bereits durch die Steuererklärung des I vor der Festsetzung bekannt, dass ein von I als Arbeitszimmer qualifizierter Raum gegeben ist. Es fehlte allerdings an der Information, dass von der Angabe neben dem Galeriearbeitsplatz auch ein Serverraum erfasst wurde, der kein Arbeitszimmer i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG darstellt, sondern einen betriebsstättenähnlichen Raum, für den der Werbungskostenabzug uneingeschränkt zugelassen ist.12 Die Tatsache, dass es sich um zwei Bereiche der Wohnung handelt, und deren genaue Lage und Ausstattung sind somit ebenfalls neu.

31

11 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.408 ff. 12 Das ergibt sich hier aus dem Bearbeitungsvermerk. Siehe zu der Abgrenzung ausführlich Fall 7 zum Einkommensteuerrecht.

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Rz. 32 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

(2) Rechtserheblichkeit der Tatsachen 32

Die Tatsachen müssten zudem rechtserheblich sein, d.h. das Finanzamt müsste also bei vorheriger Kenntnis der Tatsachen (hypothetisch) eine andere Festsetzung vorgenommen haben. Wäre die Information über die Ausstattung der Arbeitsplätze bereits bei der ersten Steuerfestsetzung bekannt gewesen, wäre der Werbungskostenabzug für den Serverraum zugelassen worden. Für den Galerie-Arbeitsplatz ist hingegen festzustellen, dass sich nach der Ortsbesichtigung mangels eines abgeschlossenen Raumes ergibt, dass bereits kein Arbeitszimmer i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG vorliegt und ein Abzug der Kosten deshalb von vornherein ausscheidet. Allerdings wurde der Abzug diesbezüglich bereits bei der Festsetzung abgelehnt, weil der I einen anderweitigen Arbeitsplatz hatte, der die Berücksichtigung ebenfalls ausschließt. Somit ergibt sich diesbezüglich kein anderes Ergebnis und die Feststellungen bzgl. der Galerie sind nicht rechtserheblich.

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Bzgl. der tatsächlichen Höhe der Aufwendungen für die Arbeitsplätze könnten ebenfalls Zweifel an der Rechtserheblichkeit bestehen. Hätte I in seiner Erklärung Aufwendungen i.H.v. 7.200 Euro angegeben, hätte das nichts an der Beurteilung der F zum damaligen Zeitpunkt geändert, dass die Voraussetzungen der Berücksichtigung eines häuslichen Arbeitszimmers nicht vorliegen. Sie hätte also auch bei richtiger Höhe den Werbungskostenabzug versagt. Etwas anderes hätte sich möglicherweise ergeben, wenn die Information über den Serverraum damals vorgelegen hätte. Diese war aber nicht bekannt und kann deshalb die Bewertung hier nicht ändern. Somit ist die Angabe der unzutreffenden Höhe nicht rechtserheblich und eine Änderung dessen dementsprechend über § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht möglich. (3) Kein grobes Verschulden des I

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Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, die zugunsten des I wirkt, setzt zudem voraus, dass den I kein grobes Verschulden am erst nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache trifft. Er dürfte die Information dem Finanzamt also nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig vorenthalten haben. Dem I waren die örtlichen Gegebenheiten in seiner Wohnung zur Zeit der Erklärung bewusst. Er ging aber davon aus, dass es sich in beiden Fällen um ein häusliches Arbeitszimmer handelte und erklärte es deshalb einheitlich. Das Verschweigen der richtigen bzw. zusätzlichen Informationen erfolgte somit nicht vorsätzlich, könnte aber grob fahrlässig gewesen sein. Dies wäre anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Im Bereich der Steuererklärungspflichten sind in die Abwägung auch die Ausgestaltung und Übersichtlichkeit der Steuererklärungsvordrucke miteinzubeziehen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige nach dem Grundgedanken des § 90 Abs. 1 Satz 1 AO lediglich dazu verpflichtet ist, der Finanzbehörde den Sachverhalt mitzuteilen, die Steuererklärungsformulare aber stets bereits die Subsumtion unter einen rechtlichen Begriff – hier etwa das Arbeitszimmer – erfordern, der ggf. in den Einleitungen zur Einkommensteuererklärung näher umschrieben ist. Dadurch wird der Steuerpflichtige im Deklarationsprozess zusätzlich in Anspruch genommen. Die Annahme, dass es sich auch beim Serverraum um ein häusliches Arbeitszimmer 78

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handelt, ist aus Sicht eines rechtlichen Laien, wie I es ist, durchaus nachvollziehbar und keineswegs fernliegend. Auch wird im Erklärungsprogramm nicht gesondert nach einem betriebsstättenähnlichen Raum gefragt, sodass für I keine unmittelbaren Anhaltspunkte bestanden anzunehmen, dass der Serverraum anders zu beurteilen sein könnte. Man kann I insoweit vorwerfen, den Sachverhalt nicht offenbart zu haben. Außerdem dürfte es auch für juristische Laien ersichtlich sein, dass es grundsätzlich relevant sein könnte, dass Serverraum und Galeriearbeitsplatz nicht einen, sondern zwei Arbeitsplätze in der Wohnung darstellen. Auch dies hat I nicht offengelegt. Zudem hätte I bei lebensnahem Verständnis des Begriffs „Zimmer“ klar sein können, dass eine Galerie kein eigenes Zimmer ist und es schon deshalb einer differenzierteren Erläuterung bedarf, die im qualifizierten Freitextfeld hätte vorgenommen werden können. Fahrlässigkeit ist insofern anzunehmen. Insbesondere weil I steuerrechtlicher Laie ist, sind die unzutreffenden und undifferenzierten Angaben aber nicht als Pflichtverletzung in ungewöhnlich hohem Maße und mithin nicht als grobe Fahrlässigkeit zu bewerten. I ist diesbezüglich also kein grobes Verschulden vorzuwerfen. Alternative Lösung: Es wäre hier ebenso möglich, grobe Fahrlässigkeit anzunehmen. Die Entscheidung hängt letztlich davon ab, für wie offensichtlich man es aus Laiensicht hält, dass die Informationen in der Erklärung des I unvollständig waren.

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Wie so oft ist das Ergebnis hier absolut zweitrangig. Wichtig ist, dass sich Bearb. mit dem Für und Wider auseinandersetzen und zu einem nachvollziehbaren Ergebnis gelangen. Alternative Lösung: Würde man hinsichtlich der Rechtserheblichkeit der falschen Angabe zur Höhe der Werbungskosten zu dem Ergebnis kommen, dass diese vorliegt, wäre auch diesbezüglich das Verschulden des I zu prüfen (das wäre bspw. möglich, wenn man nicht – wie oben dargestellt – annimmt, dass maßgeblich ist, wie der Sachbearbeiter hypothetisch entschieden hätte, sondern darauf abstellt, wie er hätte entscheiden müssen).

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Dabei könnte folgendermaßen argumentiert werden: Jeder steuerpflichtigen Person ist beim Ausfüllen einer Steuererklärung abzuverlangen, dass die Angaben sorgsam eingetragen und ggf. vor dem Abschicken noch einmal überprüft werden. Dem ist I beim Eintragen der Höhe der Aufwendungen nicht gerecht geworden. Zwar ist es ein menschlicher (nicht per se grob fahrlässiger) Fehler, dass man sich vertippt. Der Wert lag aber dadurch so deutlich unter dem eigentlichen Betrag, dass es I zumindest bei einer abschließenden Durchsicht hätte auffallen müssen. Diesbezüglich ist ihm also grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen.

(4) Rechtsfolge § 173 Abs. 1 AO gewährt der Finanzverwaltung hinsichtlich der Änderung kein Ermessen, sondern statuiert eine gebundene Entscheidung, sodass die Änderung – soweit die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind – vorzunehmen ist.

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Die Änderungsvoraussetzungen liegen hinsichtlich der Berücksichtigung der Aufwendungen für den Serverraum als Werbungskosten des I vor. Allerdings ist zu be-

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achten, dass I die Höhe der Aufwendungen an sich bereits erklärt hatte. Dass er sich dabei vertippt hat, war wie gezeigt nicht rechtserheblich, sodass eine Korrektur der Höhe der Aufwendungen über § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht in Betracht kommt. Die Änderung beschränkt sich damit auf die Anerkennung von Aufwendungen für den Serverraum i.H.v. 2.700 Euro. bb) § 173a AO 39

Eine Änderungsmöglichkeit bzgl. der Höhe der Aufwendungen könnte sich aber aus § 173a AO ergeben. Hierfür müsste I ein Schreib- oder Rechenfehler bei der Erstellung der Steuererklärung unterlaufen sein, der dazu geführt hat, dass der Finanzbehörde rechtserhebliche Tatsachen unzutreffend mitgeteilt wurden.

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Wie erläutert, handelt es sich bei der Höhe der Aufwendungen um eine Tatsache, die I dem Finanzamt in seiner Erklärung unzutreffend mitgeteilt hat. Dieser Fehler beruhte auf einem Tippfehler des I, der als Schreibfehler im Sinne der Norm zu werten ist. Allerdings fehlt es – wie bereits im Rahmen von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erläutert – an der Rechtserheblichkeit des Fehlers. Dementsprechend ist eine Korrektur der Höhe der Aufwendungen auch nicht über § 173a AO möglich. b) Falsche Berücksichtigung der Arbeitsmittel

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Hinsichtlich der für die Arbeitsmittel berücksichtigten Werbungskosten könnte sich eine Änderungsmöglichkeit aus § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergeben. aa) Nachträgliche, rechtserhebliche Tatsache

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Hierfür müsste eine steuererhöhende, rechtserhebliche Tatsache nachträglich bekannt geworden sein.

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Die Information, dass die einzelnen Arbeitsmittel, die I im Jahr 01 angeschafft hat, jeweils mehr als 1000 Euro gekostet haben, wirkt sich auf die Modalitäten der Berücksichtigung als Werbungskosten aus. Die Anschaffungskosten von Arbeitsmitteln sind maßgeblich dafür, ob ein Sofortabzug möglich ist oder die Aufwendungen gem. § 7 Abs. 1 EStG über die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer abgeschrieben werden müssen. Insofern handelt es sich um eine Tatsache, die zu einer Erhöhung der Einkommensteuer durch Verminderung der Abschreibung für die Arbeitsmittel und damit zur Erhöhung der steuerlichen Bemessungsgrundlage führen. Diese ist dem Finanzamt auch erst infolge der Ortsbesichtigung der F, also nach Festsetzung der Steuer und damit nachträglich i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden. Hätte das Finanzamt hierüber schon vor der Festsetzung Kenntnis gehabt, ist davon auszugehen, dass nur die AfA i.H.v. 2.000 Euro berücksichtigt worden wäre und nicht die vollen 10.000 Euro, die I in der Erklärung angegeben hat. Rechtserheblichkeit der Tatsache ist also ebenfalls anzunehmen. bb) Kein Verstoß gegen Treu und Glauben

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Fraglich ist aber, ob sich eine Änderung aufgrund eines Pflichtverstoßes der Finanzbehörde verbietet. Hätte die Finanzverwaltung bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer 80

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Ermittlungspflichten nach § 88 AO die Tatsachen schon vor der Festsetzung feststellen können, so würde eine nachträgliche Änderung einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben bedeuten.13 Dieser ist auch im Steuerverfahren anwendbar, in dem sich Steuerpflichtige und Finanzbehörde gegenüberstehen. Voraussetzung ist, dass die Finanzbehörde ihrer Ermittlungspflicht in vorwerfbarer Weise nicht nachgekommen ist, was dann der Fall ist, wenn sie sich ihr aufdrängenden Sachverhaltsermittlungen nicht nachgekommen ist. Ein solcher Pflichtenverstoß der Finanzbehörde könnte sich vorliegend daraus ergeben, dass das Risikomanagementsystem den Punkt „Werbungskosten – Einkünfte nichtselbständiger Arbeit“ als risikobehaftet ausgegeben hat. Zwar ermittelt die Finanzbehörde gem. § 88 Abs. 1 Satz 1 AO den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt gem. § 88 Abs. 2 Satz 1 AO auch Art und Umfang der Ermittlungen. Durch § 88 Abs. 5 AO i.V.m. § 155 Abs. 4 Satz 1 AO darf sich die Finanzbehörde bei der Einschätzung der Ermittlungsbedürftigkeit eines Sachverhaltes Risikomanagementsystemen bedienen. Gelangt das Risikomanagementsystem zu einer Prüfungsbedürftigkeit, hat die Finanzbehörde das grundsätzlich bestehende Ermittlungsermessen für sich dahingehend konkretisiert, dass sie entsprechende den Hinweisen des Risikomanagementsystems nachkommende Ermittlungen anzustellen hat.

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F hat trotz des Risikohinweises keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen angestellt, sondern einzig das häusliche Arbeitszimmer nicht anerkannt. Die Arbeitsmittel, die auch Teil der Werbungskosten sind, sodass auch zu diesem Punkt eine weitere Prüfung der F erforderlich gewesen wäre, hat F überhaupt nicht erkennbar gewürdigt. Dabei war der maschinelle Prüfhinweis insoweit plausibel: Der Prüfungsbedarf war für F insbesondere daraus erkennbar, dass die Arbeitsmittel nicht einzeln ausgewiesen, sondern nur ein Gesamtwert angegeben war. Um dem Hinweis des Risikomanagementsystems sachgerecht nachzukommen, wäre es erforderlich gewesen, dass F den I zumindest zu einer Aufstellung der Einzelposten auffordert. Hätte F dies getan, wären die relevanten Informationen bereits vor der Festsetzung bekannt gewesen. Insofern liegt ein Fehler seitens der F vor, der die Änderung sperren könnte.

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Allerdings greift dieser Hinderungsgrund dann nicht ein, wenn der Steuerpflichtige seinerseits seine Mitwirkungspflichten in Form seiner Sachverhaltsaufklärungspflicht verletzt hat. In diesem Fall ist er nicht schutzwürdig und die Änderung kein Verstoß gegen Treu und Glauben. Eine Pflichtverletzung des I könnte sich daraus ergeben, dass er die Arbeitsmittel in der Erklärung nicht einzeln ausgewiesen, sondern nur eine Gesamtsumme angegeben hat. Um dem Finanzamt zu ermöglichen, den Sachverhalt steuerlich richtig zu beurteilen, wäre dies erforderlich gewesen und somit Teil seiner Steuererklärungspflicht. Dieser Fehler kann ihm jedoch nur vorgeworfen werden, wenn es für ihn als rechtlichen Laien erkennbar war, dass er die Arbeitsmittel hätte einzeln angeben müssen. Den Steuerpflichtigen selbst kann keine zutreffende steuerrechtliche Subsumtion von Einzeltatbeständen abverlangt werden. Positionen an der falschen Stelle einer Erklärung einzutragen, kann ihnen also nicht per se vorgeworfen werden. Gerade vor dem Hintergrund der fachlichen Unsicherheit ist von Steuerpflichtigen aber zu erwarten, dass sie Informationen so angeben, dass das Fi-

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13 Loose in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 173 AO Rz. 62.

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nanzamt etwaige Beurteilungsfehler erkennen und korrigieren kann. Es ist insofern üblicher, dass Positionen einzeln bezeichnet werden und so eine Prüfung ermöglicht wird. Ein eigenständiges Zusammenfassen der Posten deutet auf eine bewusste Entscheidung des Steuerpflichtigen hin, Details nicht preisgeben zu wollen. Hinzu kommt, dass in den Vordrucken zur Steuererklärung ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass Arbeitsmittel einzeln anzugeben sind. Dass I dem nicht gefolgt ist, muss als bewusste Entscheidung und damit vorwerfbare Pflichtverletzung eingeordnet werden. Infolgedessen verstößt eine Korrektur trotz des Ermittlungsfehlers der F nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. cc) Änderungshindernis: Verwertungsverbot wegen rechtswidriger Ermittlungsmaßnahme? 48

Fraglich ist aber, ob das Finanzamt die bei der Ortsbesichtigung erlangten Informationen und Unterlagen überhaupt für eine Änderung verwerten darf. Dem könnten Verfahrensfehler bei der Informationsbeschaffung und ein daraus resultierendes Verwertungsverbot entgegenstehen. (1) Ortsbesichtigung, § 99 Abs. 1 AO

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Die F hat die Wohnung des I aufgesucht, um sich ein näheres Bild von den Sachverhaltsangaben des I zu machen, und somit eine Ortsbesichtigung i.S.d. § 99 Abs. 1 AO durchgeführt. Eine solche ist grundsätzlich zulässig, um im Besteuerungsinteresse Feststellungen zu treffen. F wollte feststellen, ob die Örtlichkeiten eine Berücksichtigung der Aufwendungen des I zulassen und handelte somit im grundsätzlich zulässigen Rahmen. Die F hat den I auch zwei Wochen vorher postalisch über den Ortstermin informiert und somit den Vorgaben des § 99 Abs. 1 Satz 2 AO Genüge getan.

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Hinweis: Beim Ankündigungserfordernis handelt es sich um eine Vorgabe mit sog. intendiertem Ermessen („soll“), d.h. in allen typischen Fällen ist die Vorgabe als zwingend zu verstehen, nur in atypischen Situationen kann hiervon abgesehen werden. Im Fall der Ortsbesichtigung wird gemeinhin davon ausgegangen, dass auf die Ankündigung nur verzichtet werden kann, wenn zu befürchten ist, dass der Betroffene den Anschauungsgegenstand andernfalls verändern und damit das Ziel der Maßnahme vereiteln könnte. Bei der Besichtigung von häuslichen Arbeitszimmern ist in der Literatur umstritten, ob eine solche Situation vorliegt. Zum Teil wird dies unter dem Hinweis darauf angenommen, dass der Betroffene bei einer Ankündigung seine Wohnung rechtzeitig so herrichten kann, dass den Anforderungen an ein häusliches Arbeitszimmer genügt wird. Dem wird von anderer Seite entgegengehalten, dass gerade hier eine Ankündigung nötig ist, weil die Privatsphäre des Betroffenen berührt wird.14 Sollte in einem Klausurfall die Ankündigung nicht erfolgt sein, müsste dies diskutiert werden. Beide Ansichten sind dann gut vertretbar. Es kommt vor allem darauf an, die im Sachverhalt angegebenen Informationen bei der Argumentation zu verwerten und argumentativ zu einer überzeugenden Lösung zu kommen. 14 Ausführlicher erläutert z.B. bei Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 99 AO Rz. 30.

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F könnte aber gegen § 99 Abs. 1 Satz 3 AO verstoßen haben, wonach Wohnräume gegen den Willen des Inhabers nur zur Verhütung dringender Gefahren betreten werden dürfen. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob es sich bei Arbeitsräumen überhaupt um Wohnräume im Sinne dieser Vorschrift handelt, hat I sich nach einer Erklärung der F bereit erklärt, sie einzulassen. Sein zusätzlicher Hinweis, sich seine Rechte vorbehalten zu wollen, kann angesichts seines sonstigen Verhaltens nicht als Verweigerung der Zustimmung eingeordnet werden. Wollte er die Zustimmung verweigern, so hätte er das tun können, indem er keinen Einlass gewährt. Die F hat ihm hier in keiner Weise vermittelt, er hätte keine Wahl, und hat sich auch nicht gewaltsam oder trickreich Zugang verschafft. Das Betreten erfolgte dementsprechend nicht gegen seinen Willen, sondern mit seiner Zustimmung, sodass die Einschränkung hier nicht durchgreift. Die Ortsbesichtigung an sich war somit rechtmäßig.

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Hinweis: Es ist unklar, ob die Besichtigung eines häuslichen Arbeitszimmers unter § 99 Abs. 1 Satz 3 AO zu subsumieren ist. Dies wird zum Teil mit der Begründung abgelehnt, dass es sich hierbei um beruflich genutzte Räume handelt, deren Kontrolle nicht dadurch verhindert werden darf, dass sie von Wohnraum umgeben sind.15 Dem kann allerdings entgegengehalten werden, dass für ihre Besichtigung der private Wohnraum betreten werden muss, der dem Schutz des Art 13 Abs. 1 GG unterliegt, dessen Wahrung § 99 Abs. 1 Satz 3 AO gerade dient.16

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Sollte diese Frage in einem Klausurfall relevant werden, so kann mit entsprechender Argumentation beiden Ansichten gefolgt werden. Geht man davon aus, dass es sich um Wohnraum im Sinne der Norm handelt, wäre die Prüfung damit aber noch nicht beendet. Es müsste dann thematisiert werden, ob das Betreten im konkreten Fall der Verhütung einer dringenden Gefahr dient. In diesem Fall wäre es zulässig. Da die Anforderungen an eine dringende Gefahr recht hoch sind, wird dies aber selten der Fall sein.17

(2) Auskunfts- und Vorlageersuchen, §§ 93 Abs. 1, 97 AO Es müssten aber auch die weiteren vor Ort vorgenommenen Maßnahmen zur Informationsgewinnung rechtmäßig gewesen sein. F erhielt die Informationen zu den Arbeitsmitteln durch eine Erläuterung des I und die Vorlage entsprechender Unterlagen, nachdem sie den I im Rahmen der Ortsbesichtigung nach den Arbeitsmitteln gefragt hatte. Diese Frage der F ist als kombiniertes Auskunfts- und Vorlageersuchen i.S.d. §§ 93 Abs. 1; 97 AO zu qualifizieren18. Es besteht hierfür kein generelles Schriftlichkeitserfordernis und der I hatte aufgrund der Gesamtsituation erkennbar Gelegenheit zur Stellungnahme, sodass in formeller Hinsicht keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen. Das Ersuchen erfolgt materiell zur Feststellung der als Werbungskosten angesetzten Posten, die wie bereits gezeigt für die Bemessungsgrundlage der Steuer für 01 maßgeblich sind. Es wurde in Übereinstimmung mit den Vorgaben des § 93 Abs. 1 AO an den I als Beteiligten i.S.d. § 78 Nr. 1 AO gestellt. Eine Rechts15 16 17 18

Z.B. Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 99 AO Rz. 6. Z.B. Rätke in Klein15, § 99 AO Rz. 10. Siehe dazu näher Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 99 AO Rz. 4. Seer in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 93 AO Rz. 6.

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widrigkeit könnte sich somit allenfalls ergeben, wenn die F ermessensfehlerhaft gehandelt hätte. Vorliegend sind aber keine Ermessensfehler ersichtlich. Insbesondere war das Ersuchen geeignet, die relevanten Informationen zu erlangen sowie erforderlich und angemessen. Die Ermittlungsmaßnahme war somit insgesamt rechtmäßig und hindert eine Änderung nicht. dd) Rechtsfolge 54

§ 173 Abs. 1 AO gewährt der Finanzverwaltung kein Ermessen, sodass infolge der vorliegenden Tatbestandsvoraussetzungen eine Änderung vorzunehmen ist. Die Steuerfestsetzung für 01 ist also dahingehend zu ändern, dass für die Arbeitsmittel statt 10.000 Euro nur eine AfA i.H.v. 2.000 Euro zu berücksichtigen ist. c) Korrektur nach § 177 Abs. 1 AO

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Infolge der Änderung der Festsetzung für 01 nach § 173 Abs. 1 AO zuungunsten des I könnte sich die Möglichkeit ergeben, die tatsächliche Höhe der Aufwendungen für den Serverraum über § 177 Abs. 1 AO zu ändern.

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§ 177 Abs. 1 AO bestimmt, dass im Rahmen der Änderung zuungunsten der Steuerpflichtigen auch solche gegenläufigen materiellen Fehler zu korrigieren sind, für die die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift nicht vorliegen. Die tatsächlich einkommensteuerlich für das Jahr 01 zu berücksichtigenden Aufwendungen für den Serverraum betragen 3.600 Euro, sodass auch nach der Korrektur gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO durch die Aufwendungen i.H.v. 2.700 Euro anerkannt werden, noch ein Betrag von 900 Euro verbleibt, der materiell-rechtlich einzubeziehen wäre und somit zu einer abweichenden Festsetzung der Steuer führen würde. Ein materieller Fehler i.S.d. § 177 Abs. 1, 3 AO liegt somit vor.

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Hinweis: Für die Korrektur nach § 177 AO ist es sinnvoll, sich zunächst den Korrekturrahmen skizzenhaft zu verdeutlichen: Hier kommt eine Korrektur zulasten des Steuerpflichtigen gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO i.H.v. 8.000 Euro in Betracht (Differenz der 10.000 Euro abzgl. der 2.000 Euro). Korrekturrahmen: Steuerliche Bemessungsgrundlage § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (wenn § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO einbezogen)

x + 8.000 Euro ./. 2.700 Euro

Der Korrekturrahmen für gegenläufige Korrekturen beträgt somit 8.000 Euro zugunsten des Steuerpflichtigen und 2.700 Euro zu seinen Ungunsten.

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§ 177 Abs. 1 AO erlaubt diese Korrektur zugunsten des I nur, soweit die Korrektur zu seinen Lasten nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 reicht.19 Die Auswirkungen der Änderung zu 19 Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.448.

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seinen Ungunsten auf die festgesetzte Steuer bestimmt damit die obere Grenze der Fehlerberichtigung zu seinen Gunsten. Eine Saldierung mit der Korrektur zu seinen Gunsten nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfolgt nicht. Maßgeblich sind insofern nur die Auswirkungen der Erhöhung der Bemessungsgrundlage um 8.000 Euro wegen der Korrektur bzgl. der Arbeitsmittel. Unabhängig von der genauen Auswirkung auf die festzusetzende Steuer ist offensichtlich, dass die Reduzierung der Bemessungsgrundlage um 900 Euro unterhalb der Grenze liegen wird und eine diesbezügliche Änderung nach § 177 Abs. 1 AO vorzunehmen ist. 3. Ergebnis Die Steuerfestsetzung 01 ist mithin gem. §§ 173 Abs. 1 Nr. 1, 2; 177 Abs. 1 AO dahingehend zu ändern, dass bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage zusätzliche Werbungskosten für den Serverraum i.H.v. 3.600 Euro zum Abzug gebracht, demgegenüber aber bei den Arbeitsmitteln statt 10.000 Euro nur 2.000 Euro berücksichtigt werden. Insgesamt erhöht sich die Bemessungsgrundlage somit um 4.400 Euro.

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II. Zusatzaufgabe Die im gerichtlichen Verfahren zugelassenen Beweismittel ergeben sich aus § 81 Abs. 1 FGO. Hiernach sind unter anderem Augenscheinsobjekte, zu denen auch Fotos zählen, als Beweismittel zugelassen.

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Der Nutzung als Beweismittel könnte jedoch ein Beweisverwertungsverbot entgegenstehen, das sich ergeben kann, wenn Beweismittel auf rechtswidrige Weise erlangt wurden.

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Vorliegend könnte F das Steuergeheimnis gem. § 30 AO20 verletzt haben. Das könnte sich dadurch ergeben, dass die F mit ihrem privaten Handy Fotos von den Räumlichkeiten des I gemacht und diese in ihre private Cloud hochgeladen hat. Amtsträger verletzen u.a. dann das Steuergeheimnis, wenn sie personenbezogene Daten eines anderen, die ihnen in einem Verwaltungsverfahren bekannt geworden sind, unbefugt offenbaren, § 30 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO. Personenbezogene Daten sind gem. Art. 4 Nr. 1 DSGVO alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden „betroffene Person“) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann. Auf den von der F angefertigten Fotos ist der Name des I zu erkennen, sodass sich die abgebildeten Räume dem I zuordnen lassen und es sich somit um personenbezogene Daten handelt. Diese sind der F als Amtsträgerin i.S.d. § 7 AO im Rahmen des einkommensteuerlichen Ermittlungsverfahrens, also in einem Verwaltungsverfahren, bekannt geworden.

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20 Siehe zum Steuergeheimnis Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 21.19 ff.

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Rz. 63 | Kapitel 1: Allgemeines Steuerrecht

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Offenbart werden Daten, wenn sich der Amtsträger so verhält, dass die Daten einem Dritten bekannt werden oder bekannt werden können. F speichert die Bilder in ihrer privaten Cloud. Es ist nicht ersichtlich, dass die F eine besonders gesicherte Cloud nutzt. Bei den gängigen Cloudsystemen haben zumindest die Cloudanbieter – selbst bei verschlüsselten Daten – eine Zugriffsmöglichkeit. F hat mithin dem Cloudanbieter Kenntnisnahmemöglichkeit verschafft und die personenbezogenen Daten des I somit offenbart. Diese Offenbarung ist auch nicht ausnahmsweise nach § 30 Abs. 4 AO zulässig, sodass F mit diesem Vorgehen das Steuergeheimnis verletzt hat.

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Fraglich ist, ob sich hieraus auch ein Verwertungsverbot der Fotos im gerichtlichen Verfahren ergibt. Das Steuergeheimnis schützt das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Verletzung ist somit grundrechtsrelevant, was für ein Verwertungsverbot spricht. Allerdings ist hier zu beachten, dass das Anfertigen der Fotos an sich nicht rechtswidrig war und die Fotos dem Gericht auch nicht durch die Verletzung des Steuergeheimnisses bekannt werden. Hätte die F die Fotos lokal auf einem Behördenserver gespeichert, würden sie dem Gericht auf dieselbe Weise zukommen. Die Verletzung des Steuergeheimnisses steht somit in keinem direkten Zusammenhang mit der Kenntnisnahme des Beweismittels durch das Gericht. Aus diesem Grund ist ein Verwertungsverbot nicht anzunehmen und die Fotos könnten als Beweismittel in einem finanzgerichtlichen Verfahren verwendet werden.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 65

– Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 21.51 ff.; 21.61 ff.; 21.170 ff.; 21.394 ff.; 21.403 ff.; 21.447 ff.; 22.12 ff. – Seer in Tipke/Kruse, Vorbem. zu §§ 101–106 AO Rz. 1 ff.

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Kapitel 2: Einkommensteuerrecht Fall 6: Über den Wolken... Schwerpunkte: – Subjektive Steuerpflicht (Wohnsitz) – Erwerbseinnahmen und Erwerbsaufwendungen bei nichtselbständiger Tätigkeit – Ehegattenveranlagung – Anwendung und Auswirkungen eines DBA Bearbeitungszeit: 2 Std. Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Die deutsche Staatsangehörige P ist seit dem Jahr 01 bei der L-AG, die ihren Sitz und den Ort der Geschäftsleitung in München hat, als Pilotin angestellt. Ihr Heimatflughafen ist Düsseldorf. Der Lebensmittelpunkt der P und ihrer Familie war in den vergangenen Jahren der gemeinsame Familienwohnsitz in München. Da sie jedoch regelmäßig erst spät abends wieder in Düsseldorf landet bzw. früh morgens von dort losfliegen muss, hat sie zusätzlich zum Haus in München ein vollmöbliertes sog. „Standby-Zimmer“ in Düsseldorf zu einem monatlichen Mietzins von 500 Euro angemietet und dieses auch entsprechend als Zweitwohnsitz bei den Ordnungsbehörden angemeldet. Bei diesem Zimmer handelt es sich um ein separates Zimmer in einem ausgebauten Dachgeschoss. Das Dachgeschoss umfasst insgesamt 50 qm, die sich auf zwei separate Zimmer von jeweils 15 qm sowie Küche und Bad aufteilen. Eines der beiden Zimmer hat P gemietet, das zweite Zimmer ist ebenfalls als ein „Standby-Zimmer“ an den Piloten Z überlassen. Küche und Bad sind im Mietvertrag als „Gemeinschaftsräume“ ausgewiesen. P und Z besitzen jeweils einen eigenen Schlüssel zu den Räumlichkeiten. Nach der langen Zeit in München wurde die Familie der Stadt und der deutschen Bürokratie überdrüssig und beschloss umzuziehen. P und ihr Mann waren schon lange Liebhaber österreichischer Schmankerl und bewunderten den Wiener Lebensstil, sodass sie München vollständig den Rücken zukehrten und zum 1.1.06 einen neuen Familienwohnsitz in Wien begründeten. Da die Entfernung zwischen Heimatflughafen und Familienwohnsitz nun noch weiter war, behielt P das Zimmer in Düsseldorf unter den gleichen Umständen wie in 87

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Rz. 1 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

den Vorjahren bei. So nutzte sie es auch im Jahr 06 durchschnittlich zweimal monatlich, um die Zeit zwischen ihren Flügen zu überbrücken. Dazu hat sich P jeweils gegen 20 Uhr in den Räumlichkeiten im Dachgeschoss eingefunden, dort übernachtet und sie morgens gegen 8 Uhr wieder in Richtung Flughafen verlassen. Pünktlich zum Umzug nach Wien meldete die P ihren Hauptwohnsitz in München ab. Nach dem Zweitwohnsitz in Düsseldorf gefragt, gab sie an, dort ebenfalls nicht mehr zu wohnen und veranlasste somit auch die Abmeldung dessen. Die Übernachtungen in Düsseldorf könnten ihrer Meinung nach schließlich kaum als „wohnen“ bezeichnet werden, mehr als eine Übernachtungsmöglichkeit sei darin nicht zu sehen. Um die Zeit in Österreich richtig genießen zu können, nahm der Ehemann der P dort keine berufliche Tätigkeit auf und erzielte somit im Jahr 06 keine Einkünfte. Die Familie kam zu dem Ergebnis, dass weitere Einnahmen neben dem Pilotengehalt der P von jährlich 100.000 Euro für den Familienunterhalt nicht erforderlich seien. Das Jahr 06 lief so für die P persönlich und beruflich ausgesprochen zufriedenstellend, bis sie im Sommer des Jahres 06 aufgrund eines Vogelschlages auf einem Flug nach Mallorca eine Notwasserung vornehmen musste. Hierbei wurde ihr erst Anfang des Jahres 06 für 1.000 € neu erworbener Uniform-Blazer zerstört. P ärgerte sich darüber sehr, war aber erleichtert, als sich die L-AG bereiterklärte, ihr einen neuen Blazer mit deutlich sichtbarem, eingestickten Airline-Logo im Wert von 500 Euro aufgrund der besonderen Umstände ausnahmsweise unentgeltlich zu überlassen. Aufgabe: 1. Wie ist der Sachverhalt für P im Jahr 06 einkommensteuerlich zu würdigen? 2. Welche Veranlagungswahlrechte bestehen? DBA und AStG sind nicht zu prüfen. Sämtliche Anträge gelten als gestellt, sämtliche Nachweise als erbracht. Berechnungen sind entbehrlich. Zusatzaufgabe: Welche Folgen ergeben sich für das deutsche Besteuerungsrecht, wenn zwischen Deutschland und Österreich ein dem OECD-MA (2017) entsprechendes DBA besteht?

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Im Zusammenhang mit recht gängigen Problemstellungen zur Anerkennung von Erwerbsaufwendungen fordert der Fall von den Bearb. die Anwendung einer Steuerbefreiung nach § 3 EStG. Es kommt dabei nicht nur darauf an, den Befreiungstatbestand überhaupt zu erkennen, sondern vor allem darauf, ihn systematisch richtig einzuordnen und zu prüfen.

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 5

Steuerbefreiungen kommen prinzipiell nur zur Anwendung, wenn überhaupt steuerbare Einnahmen vorliegen. Bevor man sich also Gedanken über einen Befreiungstatbestand macht, muss geprüft werden, ob die fraglichen Bezüge überhaupt steuerbar sind. Das ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige erwerbswirtschaftlich tätig geworden ist und dabei die Merkmale einer der sieben Einkunftsarten (§ 2 Abs. 1 EStG) verwirklicht sowie subjektiv mit Einkünfteerzielungsabsicht gehandelt hat.1 Es empfiehlt sich in der Regel, das allgemeine Merkmal der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit und die Einkünfteerzielungsabsicht direkt in Bezug auf die konkret in Betracht kommende Einkunftsart zu prüfen – insbesondere, weil für die Einkunftsarten teilweise gesetzlich vorgesehene oder durch die Rechtsprechung entwickelte Vermutungsregeln bzgl. der Einkünfteerzielungsabsicht bestehen.

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Es sollte also zuerst eingegrenzt werden, welche Einkunftsart verwirklicht sein könnte. Da Einnahmen nur dann steuerbar sind, wenn sie im Rahmen einer dieser Einkunftsarten erwirtschaftet wurden,2 scheiden alle Zuwendungen aus, die in keinem konkreten Zusammenhang zu einer Erwerbstätigkeit stehen (z.B. Erbschaften, Schenkungen oder nicht zweckgebundene Stipendien), aber auch Wertmehrungen durch Eigenleistungen, solange die „stillen Reserven“ nicht am Markt realisiert werden.3 Hierbei ist der neu hinzugekommene Wert jeweils nicht die Folge einer Beteiligung am wirtschaftlichen Verkehr. Erfüllen bestimmte Wertmehrungen bereits diese Voraussetzungen nicht, stellt sich die Frage der Steuerbefreiung nicht mehr – auch wenn § 3 EStG einige solcher ohnehin nicht steuerbaren Zuwendungen ausdrücklich (klarstellend) von der Besteuerung ausnimmt (z.B. § 3 Nr. 44 EStG).4

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Neben diesem objektiven Merkmal ist das subjektive Merkmal der Einkünfteerzielungsabsicht zu prüfen. Für die Gewinneinkunftsarten ergibt sich das Erfordernis der Gewinnerzielungsabsicht explizit aus der Gewerbe-Definition des § 15 Abs. 2 EStG.5 Dass auch für die Überschusseinkünfte eine Überschusserzielungsabsicht gegeben sein muss, lässt sich im Gesetz mittelbar § 9 EStG entnehmen, der das Streben nach einem Überschuss impliziert.6 Maßgebend ist dabei die Absicht, über die Totalperiode der Tätigkeit einen Totalgewinn/-überschuss zu erzielen. Die Einkünfteerzielungsabsicht ist also nicht auf den einzelnen Veranlagungszeitraum beschränkt zu beurteilen – gerade zu Beginn einer wirtschaftenden Tätigkeit ist es durchaus möglich und üblich, dass ein Verlust hingenommen wird, um langfristig einen Gewinn zu erzielen (sog. Anlaufverluste). Es handelt sich um ein subjektives Merkmal, das sich nur schwer überprüfen lässt. Deshalb ist zur Feststellung der Absicht an die objektiven Umstände anzuknüpfen, also danach zu fragen, ob die Umstände der Tätigkeit dafürsprechen, dass der Steuerpflichtige durch sie dauerhaft einen Gewinn erzielen

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Siehe dazu ausführlicher Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.120 ff. Vgl. BFH v. 25.10.1994 – VIII R 79/91, BFHE 175, 439 = BStBl. II 1995, 121, juris Rz. 31. Weitere Beispiele bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.124. Weitere Beispiele bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.138. Da im letzten Teil der Definition die selbständige Tätigkeit sowie Land- und Forstwirtschaft explizit ausgenommen werden, lässt sich ableiten, dass alle anderen Merkmale der Definition auch auf diese Einkunftsarten zutreffen müssen. 6 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.125.

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Rz. 5 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

möchte. Hierbei sind alle Umstände in eine Gesamtbetrachtung einzustellen.7 Für bestimmte erwerbswirtschaftliche Tätigkeiten haben sich diesbezüglich in der Rechtsprechung Vermutungsregeln entwickelt. So ist bspw. bei einer dauerhaften Vermietung zu Wohnzwecken grundsätzlich von einer Einkünfteerzielungsabsicht auszugehen.8 Auch hier können die besonderen Umstände des Einzelfalls aber zu einer anderen Bewertung führen. Es erübrigt sich also selbst bei bestehenden Vermutungsregeln nicht, den gesamten Sachverhalt genau zu betrachten und zu bewerten. Ausführlich zu prüfen ist dieser Aspekt aber nur, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es an der Absicht fehlen könnte. Sobald im fraglichen Veranlagungszeitraum ein Gewinn/ Überschuss für die einzelne Tätigkeit zu verzeichnen ist, kann i.d.R. von einer Einkünfteerzielungsabsicht ausgegangen werden. 6

Wenn nach diesen Prüfungsschritten steuerbare Einnahmen bestehen, sind Steuerbefreiungen zu erwägen. Der Katalog des § 3 EStG ist recht unübersichtlich und systematisch wenig nachvollziehbar gefasst.9 Es empfiehlt sich, den Katalog einmal in Ruhe zu lesen, um einen Eindruck davon zu bekommen, welche Befreiungen vorgesehen sind. Gängige Befreiungstatbestände wie die Freistellung von Trinkgeldern (Nr. 51), der sog Übungsleiterfreibetrag (Nr. 26), das Teileinkünfteverfahren (Nr. 40) etc. können als bekannt vorausgesetzt werden. Neben den in § 3 EStG aufgezählten Befreiungen sehen die §§ 3a und 3b EStG weitere Befreiungen vor. Greift einer der Befreiungstatbestände ein, muss bzgl. der Erwerbsaufwendungen § 3c EStG beachtet werden. Dieser ergänzt die Steuerbefreiungen der Einnahmen hinsichtlich der abzugsfähigen Aufwendungen konsequent im Sinne des Leistungsfähigkeitsprinzips.10 Werden eigentlich steuerbare Einnahmen über §§ 3 ff. EStG von der Besteuerung befreit, so ist es folgerichtig, die durch diese veranlassten Ausgaben nicht als Erwerbsaufwendungen zu berücksichtigen. Auch bei den Erwerbsaufwendungen ist aber die systematisch zutreffende Prüfungsreihenfolge zu beachten. Es muss zuerst festgestellt werden, dass es sich überhaupt um Erwerbsaufwendungen i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG bzw. § 9 EStG handelt. Nur wenn das der Fall ist, greift § 3c EStG ein. II. Anforderungsprofil

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Es handelt sich um einen eher einfach gelagerten einkommensteuerlichen Fall, der gängige einkommensteuerliche Fragestellungen behandelt.

8

Aufgabe 1 ist offen gestellt. Gefragt wird nach der einkommensteuerlichen Würdigung des geschilderten Sachverhalts für das Jahr 06. Bearb. sollten sich in ihrem Gutachten dementsprechend auf die Behandlung der im Sachverhalt angegeben Aspekte beschränken und – wie immer – keine weiteren zusätzlichen Informationen erfinden und bewerten. Die Prüfung kann anhand der hier im Lösungsvorschlag angewandten Prüfungsstruktur für einkommensteuerliche Fälle erfolgen, alternativ aber auch „vor7 Ausführlich dazu Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.125 ff. 8 BFH v. 28.11.2007 – IX R 9/06, BStBl. II 2008, 515, juris Rz. 15 m.w.N. 9 Eine grobe Systematisierung der Befreiungen findet sich bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.137 ff. 10 Näheres z.B. bei von Beckerath in Kirchhof/Seer20, § 3c EStG Rz. 7.

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fallsbezogen“. Die Einhaltung der Prüfungsstruktur hat den Vorteil, dass so erfahrungsgemäß weniger relevante Aspekte übersehen werden. Die Schwerpunkte des Falls sind durch die ausführlichen Schilderungen im Sachverhalt zu den Wohnumständen der P und der Anschaffung der Uniform eindeutig angelegt und sollten dementsprechend von allen Bearb. erkannt werden.

9

Die subjektive Steuerpflicht des P ist der erste Schwerpunkt des Falls. Hier kommt es darauf an, nicht lapidar auf einen vermeintlichen Wohnsitz in Düsseldorf zu verweisen, sondern den Tatbestand des § 8 AO Schritt für Schritt zu prüfen. Erfahrungsgemäß setzen sich Studierende hierbei zwar hinreichend mit dem Merkmal der Wohnung auseinander, übersehen aber, dass § 8 AO noch weitere Tatbestandsmerkmale hat, die zu prüfen und im vorliegenden Fall durchaus diskussionswürdig sind.

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Der zweite inhaltliche Schwerpunkt liegt bei der Behandlung der kostenlos überlassenen Uniform. Wichtig ist es dabei, nicht direkt auf den Befreiungstatbestand des § 3 Nr. 31 EStG zu springen, sondern vorher festzustellen, dass es sich überhaupt um eine grundsätzlich steuerpflichtige Einnahme gem. § 8 EStG handelt. Hinsichtlich der Befreiung ist von Bearb. nicht zu erwarten, dass sie die exakte Definition für berufstypische Kleidung kennen. Dennoch darf an solchen Stellen nicht im luftleeren Raum subsumiert werden, sondern man muss sich einer Definition durch eigene Überlegungen nähern und anhand dessen prüfen.

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Aufgabe 2 zielt vermeintlich auf die Erläuterung der Veranlagungswahlrechte für Verheiratete nach § 26 EStG ab. Diese gilt es auch tatsächlich zu erläutern, das eigentliche Kernproblem liegt aber in der subjektiven Steuerpflicht des Ehemanns der P. Auf diese Problemstellung stößt man automatisch, wenn man die Tatbestandsvoraussetzung des Wahlrechts sauber durchgeht. Hier zeigt sich, dass eine gutachterliche Denkweise bei der Lösung auch dann empfehlenswert ist, wenn die Fallfrage nicht direkt danach verlangt. Wer hier nur allgemein auf § 26 EStG verweist, verkennt den Schwerpunkt der Fragestellung.

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In der Zusatzaufgabe gilt es, die Auswirkungen eines zwischen Deutschland und Österreich abgeschlossenen DBA zu prüfen. Es ist somit ein kurzer Ausflug ins internationale Steuerrecht gefordert. Annahmegemäß entspricht dieses Abkommen dem OECD-MA (2017). Kern der Prüfung ist hierbei zu erkennen, dass ein Fall der doppelten Ansässigkeit gegeben ist und somit die sog. Tie-Breaker-Regelung eingreift.11 Zudem müssen Bearb. das OECD-MA aufmerksam lesen, um nicht zu übersehen, dass für die Besatzung von im internationalen Verkehr betriebenen Luftfahrzeugen eine eigene Verteilungsregelung besteht. Die Subsumtion darunter sollte dann keine größeren Schwierigkeiten bereiten. Bearb. dürfen dann nicht vergessen, den Rückbezug zu den konkreten Auswirkungen bei der deutschen Besteuerung herzustellen.

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11 Die sog. Tie-Breaker-Regelung klärt, welcher Vertragsstaat für die Anwendung des Abkommens als Ansässigkeitsstaat gilt, wenn ein Steuerpflichtiger in beiden Staaten die Kriterien einer steuerlichen Ansässigkeit des Art. 4 Abs. 1 OECD-MA erfüllt. Art. 4 Abs. 2 OECD-MA stellt für diesen Fall eine Rangfolge auf, welches Merkmal in diesen Fällen gegenüber dem anderen überwiegt.

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Rz. 14 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Die Sonderregelung des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG (sog. Progressionsvorbehalt) sollte den Bearb. bekannt sein, die hier relevanten Detailfragen gehören jedoch nicht zum Standardrepertoire einkommensteuerlicher Prüfungen, sodass ihre Erläuterung von durchschnittlichen Bearbeitungen nicht zu erwarten ist.

C. Gliederung 15

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I.

Aufgabe 1 1. Subjektive Steuerpflicht 16 a) Wohnsitz im Inland 17 aa) Wohnung 18 bb) Innehaben 20 cc) Beibehalten und Nutzen 23 b) Zwischenergebnis 25 2. Objektive Steuerpflicht 27 a) Einkünftequalifikation 28 b) Einkünftequantifikation 30 aa) Einkünfteermittlungsart 31 bb) Erwerbseinnahmen 32 cc) Erwerbsaufwendungen 37 c) Weitere Aufwendungen und Abzüge 42

II. Aufgabe 2 43 III. Zusatzaufgabe 44 1. Persönlicher Anwendungsbereich 45 2. Sachlicher Anwendungsbereich 47 3. Einkommensteuerliche Auswirkungen in Deutschland 52

D. Ausformulierte Lösung I. Aufgabe 1 1. Subjektive Steuerpflicht 16

Maßgeblich für die einkommensteuerliche Würdigung des Sachverhaltes der P ist, ob und inwieweit sie im Jahr 06 subjektiv steuerpflichtig in Deutschland war. Abzugrenzen ist dabei zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht. Ist P im fragli92

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 19

chen Veranlagungszeitraum unbeschränkt steuerpflichtig, so besteht grundsätzlich für sämtliche einkommensteuerlich relevanten Einkünfte eine Steuerpflicht in Deutschland. Für die unbeschränkte Steuerpflicht gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG müsste P als natürliche Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. a) Wohnsitz im Inland Sie könnte zudem im Veranlagungszeitraum 06 einen Wohnsitz in Deutschland gehabt haben. Gem. § 8 AO müsste sie hierfür in Deutschland eine Wohnung unter Umständen innehaben, die darauf schließen lassen, dass sie diese beibehalten und benutzen wird.

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aa) Wohnung

Als Wohnung zu qualifizieren sind solche Räumlichkeiten, die objektiv zum dauerhaften Wohnen geeignet sind, d.h. sie müssen eine selbständige Lebensführung ermöglichen, also so ausgestattet sein, dass sie ihren Bewohnern eine dauerhafte Bleibe bieten. Dies setzt eine feste Abgrenzung zur Umwelt durch Wände und eine Decke sowie eine örtliche Fixierung voraus. Da das Wohnen durch eine private Atmosphäre gekennzeichnet ist, sind neben einer gewissen Mindestausstattung eine Mindestgröße bzw. ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit und eine Rückzugsmöglichkeit erforderlich.12

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P hat in Deutschland im Jahr 06 nur noch ein kleines Standby-Zimmer zur Alleinnutzung mit Gemeinschaftsräumen, sodass nur dieses als inländische Wohnung der P in Betracht kommt. Dieses ist aber als Übernachtungsort typisch zum Wohnen eingerichtet und bietet ihr eine Rückzugsmöglichkeit. Zwar wird von Teilen der Rechtsprechung und Literatur gefordert, die Bleibe müsse den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des einzelnen Steuerpflichtigen entsprechen,13 was hier Zweifel aufkommen lassen könnte. Allerdings wäre eine so subjektive Auslegung der Rechtssicherheit unzuträglich. Zudem entspricht es nicht der Lebenswirklichkeit, dass alle Wohnungen einer Person nach dem gleichen (hohen) Standard ausgewählt und eingerichtet sind, sodass dieses Kriterium auch aus diesem Blickwinkel untauglich ist.14 Es muss allein auf die objektive Eignung zum Wohnen abgestellt werden. Dementsprechend genügt auch das kleine Zimmer der P dem Wohnungsbegriff.15

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12 Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 18 ff. 13 Z.B. RFH v. 18.7.1924 – VI B 241/24, RFHE 14, 125 (126); BFH v. 4.6.1964 – IV 29/64 U, BStBl. III 1964, 535; v. 19.3.1997 – I R 69/96, BStBl. II 1997, 447 (448); FG Köln v. 27.6.2002 – 10 K 6348/97, EFG 2002, 1198 (1199); Birkholz, DStZ 1979, 247. 14 Ebenso Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 25 ff.; Avvento in Gosch (Stand: Juli 2021), § 8 AO Rz. 16; Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 8 Rz. 5; Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Stand: Juni 2021), § 1 EStG Rz. B 114 ff.; Tiede in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 EStG Rz. 63. 15 Wer § 181 Abs. 9 BewG kennt, kann diesen ebenfalls zur Argumentation heranziehen, auch wenn dieser Wohnungsbegriff enger ist als derjenige des § 8 AO (Drüen in Tipke/ Kruse (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 5). Ein Kennen des § 181 Abs. 9 BewG ersetzt daher nicht die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wohnung i.S.d. § 8 AO.

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Rz. 20 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

bb) Innehaben 20

Das Zimmer müsste sie als Wohnung zudem innehaben. Das bedeutet, dass sie über es verfügen kann und es in einer gewissen Regelmäßigkeit zu Wohnzwecken aufsuchen muss.16 Die nötige Verfügungsmacht ist dann anzunehmen, wenn der P die Wohnung zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung steht, sie also frei entscheiden kann, wann sie sie nutzen möchte. P hat das Zimmer zur alleinigen Nutzung gemietet und einen eigenen Schlüssel. Zwar nutzt sie die Gemeinschaftsräume zusammen mit Z, das Zimmer selbst steht aber nur der P zur Verfügung. Sie kann über dieses insofern tatsächlich frei verfügen, was über den Mietvertrag zudem rechtlich abgesichert ist.17

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Eine regelmäßige Nutzung liegt bereits vor, wenn nach objektiven Umständen (Größe, Einrichtung etc.) der Schluss gezogen werden kann, dass die Wohnung als dauerhafte Bleibe dient. Der Steuerpflichtige muss sich nicht während einer Mindestanzahl von Tagen oder Wochen im Jahr tatsächlich in der Wohnung aufhalten. Entscheidend ist, dass die Umstände eine jederzeitige Rückkehr und Nutzungsmöglichkeit eröffnen.18 P hat das Zimmer durchschnittlich zweimal im Monat zur Übernachtung genutzt, sodass die nötige Regelmäßigkeit zu bejahen ist.

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Hinweis: Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn P und Z dasselbe Zimmer im Wechsel nutzen würden. Dann hätte P nur eingeschränkte Verfügungsmacht, da sie das Zimmer immer nur dann nutzen könnte, wenn Z es nicht nutzt. Es kommt hier immer auf die Umstände des Einzelfalls an. In der Fallbearbeitung muss deshalb immer genau subsumiert werden. Schon kleine Änderungen des Sachverhalts können zu anderen Ergebnissen führen.

Diese Nutzung muss zudem zu Wohnzwecken, die von beruflichen oder geschäftlichen Zwecken abzugrenzen sind, erfolgen.19 P nutzt die Wohnung nur zur Übernachtung. Veranlasst ist die Übernachtung jeweils durch ihre berufliche Tätigkeit. Die Nutzung der Räumlichkeiten selbst gehört aber nicht mehr zu ihrer beruflichen Tätigkeit. Fraglich ist insoweit, ob die bloße Nutzung zur Übernachtung als Wohnen in diesem Sinne qualifiziert werden kann oder ein bloßes Aufenthaltnehmen darstellt. Es handelt sich bei den Aufenthalten der P um Zeitspannen zwischen zwei Arbeitsschichten. Diese Zeit nutzen Arbeitnehmer typischer Weise, um sich von der Arbeit zu entspannen. Es ist anzunehmen, dass P sie nach ihren privaten Neigungen gestaltet. Dass ein Großteil der Zeit dem Schlafen zukommt, dürfte dabei nicht schaden, denn das ist letztlich eine private Entscheidung der Zeiteinteilung. Eine Nutzung zu beruflichen Zwecken ist damit abzulehnen und Wohnzwecke sind zu bejahen.20 16 Tiede in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 EStG Rz. 64; Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 6. 17 Wobei die rechtliche Lage grds. unerheblich ist, es kommt einzig auf die tatsächlichen Verhältnisse an: Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 28. 18 Subjektive Momente sind hingegen unbeachtlich. Insoweit unterscheidet sich der steuerrechtliche vom zivilrechtlichen Wohnungsbegriff (§§ 7, 8 BGB). 19 BFH v. 8.5.2014 – III R 21/12, BStBl. II 2015, 135, juris Rz. 15. 20 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar.

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 26

cc) Beibehalten und Nutzen Die Umstände müssen überdies darauf schließen lassen, dass P die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Erforderlich ist insofern eine Prognose auf Grundlage objektiver Umstände. Ändert sich an der Nutzungsweise, die bisher zur Annahme des Innehabens einer Wohnung geführt haben, nichts, ist dies regelmäßig zu bejahen.21 Zweifel könnten bzgl. P nur infolge des Umzugs nach Wien und der Abmeldung des Wohnsitzes in Düsseldorf entstehen. Der Umzug nach Wien wirkte sich allerdings nur auf den Familienwohnsitz in München aus, die Nutzung des Zimmers in Düsseldorf sollte nicht verändert werden. Die Abmeldung des Wohnsitzes könnte zwar grundsätzlich ein Indiz dafür sein, dass sich die Nutzungsweise ändert. Allerdings bleibt P weiterhin für die L-AG tätig, und ihr Heimatflughafen ist auch in Zukunft Düsseldorf. Insofern sind die Übernachtungen dort auch zukünftig erforderlich. Auch wird der Mietvertrag unverändert beibehalten. Die tatsächlichen Umstände sprechen insofern gegen eine Nutzungsänderung. Insofern ist anzunehmen, dass P die Wohnung als solche beibehält und benutzt.

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Hinweis: Steuerpflichtige können zwar nur einen gewöhnlichen Aufenthalt, aber durchaus mehrere Wohnsitze haben. Im Fall hätte P einen weiteren Wohnsitz in Wien. Damit könnte die Situation eintreten, dass sie auch in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig ist. Das ändert aber im Ausgangspunkt nichts an der deutschen Beurteilung, sondern ist eine Frage, die über die Anwendung eines DBA oder (sollte zwischen zwei Staaten kein einschlägiges DBA bestehen) von unilateralen Normen zur Verhinderung von Doppelbesteuerungen (z.B. § 34c EStG) gelöst werden muss.

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b) Zwischenergebnis P hatte somit im Veranlagungszeitraum 06 einen Wohnsitz in Düsseldorf und ist als natürliche Person dementsprechend gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt steuerpflichtig in Deutschland.

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Alternative Lösung: Lehnt man die Begründung eines Wohnsitzes z.B. wegen der fehlenden Nutzung zu Wohnzwecken ab, müsste man noch prüfen, ob P seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat (§ 9 AO). Unter Heranziehung der Wertung des § 9 Satz 2 AO wäre dies zu verneinen. Dies führt bei konsequenter Prüfung zur beschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 4 EStG. Zu erkennen wären dann § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. e EStG und § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG als Grundmodell sowie die abweichende Regelung des § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 EStG. Hinsichtlich der Antragsmöglichkeiten wäre die Option des § 1 Abs. 3 EStG zu erläutern, womit sich ein Gleichlauf zur (nachfolgenden) Prüfung unter Zugrundelegung des § 8 AO ergibt.

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21 FG Hamburg v. 5.4.2005 – I 94/02.

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Rz. 27 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

2. Objektive Steuerpflicht 27

Zu prüfen ist des Weiteren, inwieweit die geschilderten Aspekte die objektive Steuerpflicht der P im Veranlagungszeitraum 06 beeinflussen. a) Einkünftequalifikation

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Dafür muss zuerst festgestellt werden, ob und welcher der Einkunftsarten die Tätigkeit der P zuzuordnen ist. Als Pilotin ist sie unzweifelhaft als Arbeitnehmerin in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt, sodass alle damit zusammenhängenden Einnahmen und Aufwendungen als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gem. §§ 2 Abs. 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG zu qualifizieren sind.

29

Hinweis: Die Lage ist hier so eindeutig, dass die Einkünftequalifikation knapp zu halten ist. Eine ausführliche Darstellung des Arbeitnehmertypusbegriffs und eine entsprechende Subsumtion würden zu einer falschen Schwerpunktsetzung führen und zudem zu viel Zeit kosten, die dann an anderen Stellen fehlt.

b) Einkünftequantifikation 30

Hinweis: An dieser Stelle kann nur auf die Tätigkeit der P abgestellt werden, nicht aber auf die Bezeichnung ihrer Bezahlung als „Arbeitslohn“. § 19 Abs. 1 EStG ist insoweit missverständlich formuliert. Anders als bei den anderen Einkunftsarten wird dort nicht die relevante Tätigkeit näher umschrieben, sondern es werden verschiedene Ausprägungen von Einnahmen i.S.d. § 8 EStG benannt, die in einem Angestelltenverhältnis gezahlt werden. Das wird erst im Rahmen der Einkünftequantifikation relevant. Für die Einkünftequalifikation ist erheblich, dass P insbesondere nichtselbständig tätig ist (Ausprägungen u.a.: fester Lohn, Urlaubsanspruch, keine Delegationsbefugnis, Eingliederung in den Betrieb des Arbeitgebers).

aa) Einkünfteermittlungsart 31

Bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die die P erzielt, sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist. bb) Erwerbseinnahmen

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Die 100.000 Euro jährliches Gehalt und die kostenfrei überlassene Pilotenuniform, die die P von der L-AG erhält, könnten jeweils steuerpflichtige Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit sein. Gem. § 8 Abs. 1 EStG sind Einnahmen alle Güter in Geld oder Geldeswert, die dem Steuerpflichtigen im Rahmen der Überschusseinkunfts-

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 34

arten zufließen. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nennt als eine Ausprägung dessen den Arbeitslohn. Bei den 100.000 Euro handelt es sich demnach um eine Einnahme. Die Stellung des Uniform-Blazers könnte als Einnahme in Geldeswert zu qualifizieren sein. Dafür müsste sie durch die Tätigkeit der P als Pilotin veranlasst sein und für die P einen Vorteil i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG darstellen. P bekommt den Blazer, weil sie bei der L-AG als Pilotin angestellt ist, sodass ein Veranlassungszusammenhang vorliegt. Indem die P den neuen Blazer nicht durch eigene Mittel erwerben muss, kommt ihr auch ein Vorteil zu. Dieser wäre nur dann zu vernachlässigen, wenn die kostenfreie Überlassung in überwiegend eigenbetrieblichem Interesse erfolgte. Zur Beurteilung dessen sind die Begleitumstände zu betrachten und die Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber abzuwägen. Ergibt sie für den jeweils verfolgten betrieblichen Zweck, dass dessen Zielsetzung ganz im Vordergrund steht und ein damit einhergehendes eigenes Interesse der Arbeitnehmerin, den betreffenden Vorteil zu erlangen, vernachlässigt werden kann, liegt keine Einnahme vor.22 Die L-AG hat ersichtlich ein Interesse daran, dass ihre Piloten einheitlich mit derselben Uniform, die sie als Piloten der L-AG kennzeichnet, auftreten. Insofern ist ein betriebliches Interesse an der Überlassung, die eben dies sicherstellt, gegeben. Allerdings ist dafür nicht unbedingt eine kostenfreie Überlassung erforderlich. Der Ersatzblazer wurde der P nur ausnahmsweise unter Hinweis auf die besonderen Umstände unentgeltlich überlassen. Dies und die Anschaffung der P Anfang des Jahres 06 aus eigenen Mitteln zeigen, dass eine kostenfreie Überlassung zumindest nicht die Regel ist, sodass es daran kein allgemein durchdringendes betriebliches Interesse zu geben scheint. Es ist mithin zwischen dem Interesse am Tragen der Uniform und am kostenfreien Zurverfügungstellen zu differenzieren. Letzteres wirkt primär zum Vorteil der P, die die Ersparnis auch subjektiv als Vorteil empfinden dürfte. Dieses Interesse der P kann auch nicht als vernachlässigenswert eingestuft werden, sodass die hohen Anforderungen eines überwiegend eigenbetrieblichen Interesses abzulehnen sind und grundsätzlich eine Einnahme in Geldeswert anzunehmen ist.23 Der Wert der Einnahme ist infolge der Vorgaben des § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG mit 500 Euro anzusetzen.

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Die Überlassung könnte aber nach § 3 EStG ausnahmsweise steuerfrei sein. Gem. § 3 Nr. 31 EStG ist die verbilligte Überlassung typischer Berufskleidung durch den Arbeitgeber an den Arbeitnehmer von der Einkommensteuer befreit. Unter typischer Berufskleidung versteht man Kleidungsstücke, die nach ihrer Beschaffenheit objektiv nahezu ausschließlich für die berufliche Verwendung bestimmt und wegen der Eigenart des Berufs notwendig sind.24 Freigestellt werden soll damit Kleidung, bei der der Bezug zur allgemeinen Lebensführung gegenüber der beruflichen Zweckbestimmung deutlich in den Hintergrund tritt.25 Vorliegend handelt es sich um einen Uniform-Blazer mit Airline-Logo. Es ist bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes zu-

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22 Z.B. BFH v. 14.11.2013 – VI R 36/12, BStBl. II 2014, 278, juris Rz. 10; v. 10.3.2016 – VI R 58/14, BStBl. II 2016, 62, juris Rz. 17. 23 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 24 Von Beckerath in Kirchhof/Seer20, § 3 Nr. 31 EStG Rz. 60. 25 Von Beckerath in Kirchhof/Seer20, § 3 Nr. 31 EStG Rz. 60

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Rz. 34 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

dem davon auszugehen, dass der Blazer die typischen goldenen Streifen am Ärmel beinhaltet, die den Rang als Kapitänin oder Erste Offizierin symbolisieren. Solche Blazer werden insgesamt üblicherweise nicht im Alltag getragen, sondern ausschließlich im beruflichen Zusammenhang. Gegen eine private Verwendungsmöglichkeit z.B. zu feierlichen Anlässen, bei denen formale Kleidung getragen wird, spricht vor allem das deutlich sichtbare Airline-Logo. Mithin handelt es sich um Berufskleidung, deren Überlassung der Steuerbefreiung des § 3 Nr. 31 EStG unterfällt. 35

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Hinweis: Die Existenz der Befreiung nach § 3 Nr. 31 EStG könnte auch als Indiz dafür gewertet werden, dass der Gesetzgeber die Überlassung von Berufskleidung nicht dem überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers zuordnet. Allerdings ist zu beachten, dass allein die Nennung einer Zuwendungsform im Rahmen von § 3 EStG noch nichts über die Steuerbarkeit aussagt. § 3 EStG ist an mehreren Stellen rein deklaratorisch. Ein Umkehrschluss empfiehlt sich schon deshalb nicht. Außerdem ist zu beachten, dass es bei der Bewertung einer Zuwendung als Einnahme aus nichtselbständiger Arbeit immer auf den konkreten Einzelfall ankommt. Es ist also denkbar, dass die Überlassung von Arbeitskleidung in einigen Situationen steuerrechtlich Arbeitslohn, in anderen hingegen kein Arbeitslohn ist.

Somit handelt es sich nur bei den 100.000 € um steuerpflichtige Einnahmen. cc) Erwerbsaufwendungen

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Die Aufwendungen, die P Anfang des Jahres 06 für die Anschaffung eines neuen Uniform-Blazers tätigt, könnten als Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG zu berücksichtigen sein. Werbungskosten definieren sich gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG als Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Entgegen dem eine Finalität implizierenden Wortlaut ist aus gleichheitsrechtlichen Gründen ein Gleichlauf mit dem Betriebsausgabenbegriff des § 4 Abs. 4 EStG anzunehmen, sodass die bloße Kausalität in Form der Veranlassung durch die erwirtschaftende Tätigkeit ausreicht.26 Dafür muss ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf bestehen und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung des Berufs getätigt worden sein.27

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Die Anschaffung des Uniform-Blazers müsste also durch ihre Tätigkeit als Pilotin veranlasst worden sein. Es handelt sich um dezidiert als Uniform-Blazer beschriebene Kleidung, die sie ersichtlich auch bei der Arbeit getragen hat, sodass jedenfalls eine gewisse berufliche Veranlassung nicht zu bestreiten ist. Kleidung benötigen Personen jedoch typischerweise auch außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit, weshalb Aufwendungen hierfür in der Regel der privaten Lebensführung zuzuordnen sind, die einem Abzug gem. § 12 Nr. 1 EStG nicht zugänglich sind.28 Eine rein bzw. so überwiegend berufliche Veranlassung, dass der privat veranlasste Teil vernachlässigt werden kann, ist nur anzunehmen, wenn die Uniform als typische Berufskleidung 26 Vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.358. 27 Z.B. BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75. 28 BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75.

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 41

einzuordnen ist, die eine private Nutzung unwahrscheinlich werden lässt. Dies regelt § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 EStG explizit. Der später von der L-AG überlassene neue Blazer wurde obenstehend insbesondere wegen des Airline-Logos als solche Berufskleidung qualifiziert. Hinsichtlich des zuvor von P angeschafften Uniform-Blazers ist nicht bekannt, ob dieser ebenfalls mit einem entsprechenden Logo versehen war. Auch wenn dies nicht der Fall ist, kann aber festgestellt werden, dass die Blazer der Pilotenuniformen i.d.R. optisch nicht dem klassischen Mode-Blazern entsprechen und somit weniger zu privaten Anlässen getragen werden. Ihr Einsatz wird sich bei lebensnaher Betrachtung auf das berufliche Umfeld beschränken. Dementsprechend ist eine so überwiegend berufliche Veranlassung anzunehmen, dass die Kosten grundsätzlich in voller Höhe als Werbungskosten zu berücksichtigen sind.29 Gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1 EStG erfolgt die Berücksichtigung bei Wirtschaftsgütern, die üblicherweise über einen längeren Zeitraum als ein Jahr verwendet werden, was bei einer Uniform anzunehmen ist, grundsätzlich im Wege der AfA zu gleichen Jahresbeträgen gestreckt über den Zeitraum der üblichen Nutzung. Die Uniform lag mit Anschaffungskosten von 1.000 Euro über der Grenze des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG i.V.m. § 6 Abs. 2 Satz 1 EStG, sodass eine Sofortabschreibung auf dieser Grundlage nicht in Betracht kommt.30 Allerdings wurde sie bei der Notwasserung vollkommen zerstört. Infolgedessen liegt ein außerplanmäßiger sofortiger Substanzverbrauch vor, sodass gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 7 EStG eine volle Abschreibung ermöglicht wird.

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Alternative Lösung: Lehnt man die Einordnung der Uniform als Berufskleidung ab, wäre eine gemischte Veranlassung anzunehmen, bei der sich die Veranlassungsbeiträge nicht aufteilen lassen, sodass in der Anschaffung keine Werbungskosten lägen. Dann müsste aber erkannt werden, dass die Uniform im beruflichen Zusammenhang zerstört wurde, der Wertverlust also beruflich veranlasst ist. Mit dem Wertverlust liegen dann berücksichtigungsfähige Werbungskosten vor. Zu diskutieren wäre dann allerdings noch, wie der Wertverlust anzusetzen ist (Neuwert oder Zeitwert).

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Als weitere Werbungskosten könnten hinsichtlich des Standby-Zimmers in Düsseldorf Kosten einer doppelten Haushaltsführung erwogen werden. Kosten der Haushaltsführung sind grundsätzlich privat veranlasst und dementsprechend gem. § 12 Nr. 1 EStG nicht zu berücksichtigen. P führt ihren zweiten Haushalt in Düsseldorf jedoch nur, um dort ihrem Beruf nachgehen zu können, sodass eine berufliche Veranlassung besteht; gleichzeitig ist die Beibehaltung eines anderen Hauptwohnsitzes rein privat bedingt. Insofern könnte hier eine gemischte Veranlassung der Kosten angenommen werden,31 deren Behandlung zu prüfen wäre. Allerdings bestimmt § 9

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29 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 30 Siehe zur Möglichkeit der Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.314. 31 In der Literatur ist insoweit str., ob es sich bei Kosten einer doppelten Haushaltsführung um gemischt veranlasste Aufwendungen handelt. Dies bejahend z.B. Oertel in Kirchhof/ Seer20, § 9 EStG Rz. 100; a.A. demgegenüber Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 9 EStG Rz. 490 jeweils m.w.N.

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Rz. 41 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 EStG als lex specialis32 explizit, dass bestimmte notwendige Mehraufwendungen einer doppelten Haushaltsführung zu berücksichtigen sind, wenn der Arbeitnehmer am Ort der ersten Tätigkeitsstätte wohnt und außerhalb dessen einen eigenen Hausstand unterhält. Letzteres ist bei P aufgrund des Familienwohnsitzes in Wien zu bejahen. Ihr zwischenzeitliches Verweilen in Düsseldorf müsste zudem als „Wohnen am Ort der ersten Tätigkeitsstätte“ zu qualifizieren sein. Düsseldorf ist ihr Heimatflughafen, von dem sie startet und an dem sie zu Dienstende wieder ankommt. Insofern ist der Flughafen Düsseldorf der Ort ihrer ersten Tätigkeitsstätte. Wie im Rahmen der subjektiven Steuerpflicht erläutert, ist das Zimmer in Düsseldorf eine ihr jederzeit zur Verfügung stehende Unterkunft, die sie zu Wohnzwecken nutzt. Sie unterhält das Zimmer einzig wegen ihrer beruflichen Tätigkeit in Düsseldorf, sodass die berufliche Veranlassung unzweifelhaft vorliegt. Dementsprechend liegen die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 EStG dem Grunde nach vor. Der Höhe nach liegen die monatlichen Mietaufwendungen der P unter der Grenze von 1.000 Euro, sodass die Mietkosten für das Zimmer ins Düsseldorf i.H.v. insgesamt 6.000 Euro im Jahr 06 gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Satz 4 EStG abzuziehen sind. Überdies kann P die Kosten ihrer Heimfahrten nach Wien im Umfang von max. einer Familienheimfahrt wöchentlich gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Satz 5 EStG als Werbungskosten ansetzen. c) Weitere Aufwendungen und Abzüge 42

Für die Kinder der P ist der jeweilige Kinderfreibetrag gem. § 32 Abs. 6 EStG zu berücksichtigen. II. Aufgabe 2

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P ist verheiratet, sodass für sie gem. § 26 EStG grundsätzlich die Möglichkeit der Wahl zwischen Einzelveranlagung (§ 26a EStG) und Zusammenveranlagung mit ihrem Ehemann (§ 26b EStG) bestehen könnte. Gem. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ist Voraussetzung des Wahlrechts u.a., dass beide Ehegatten in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig sind. Der Ehemann der P hatte allerdings im Veranlagungszeitraum 06 weder Wohnsitz gem. § 8 AO noch gewöhnlichen Aufenthalt gem. § 9 AO in Deutschland und war somit in Deutschland nicht unbeschränkt steuerpflichtig. Allerdings bestimmt § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG, dass der Ehegatte eines Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaates, der selbst unbeschränkt steuerpflichtig ist, für die Anwendung des § 26 Abs. 1 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird. P ist deutsche Staatsangehörige und – wie erläutert – in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig, sodass die Voraussetzungen des § 1a Abs. 1 Nr. 2 EStG vorliegen. Das Wahlrecht besteht somit auch in ihrem Fall.

32 BFH v. 16.11.2017 – VI R 31/16, BStBl. II 2018, 404, juris Rz. 22.

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 49

III. Zusatzaufgabe Das zwischen Deutschland und Österreich bestehende DBA könnte Einfluss auf das deutsche Besteuerungsrecht bzgl. des Einkommens der P haben.

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1. Persönlicher Anwendungsbereich Dafür müsste der Anwendungsbereich des DBA für P eröffnet, P also abkommensberechtigt sein. Gemäß Art. 1 Abs. 1 OECD-MA finden die Regelungen des Abkommens auf Personen Anwendung, die in einem oder beiden Vertragsstaaten ansässig sind. Als natürliche Person ist P eine Person i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a OECD-MA, die infolge ihres Wohnsitzes in Deutschland jedenfalls dort gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt steuerpflichtig und somit abkommensrechtlich ansässig i.S.d. Art. 4 Abs. 1 OECD-MA ist. P ist somit eine abkommensberechtigte Person.

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Hinweis: Da die Abkommensberechtigung nur die Ansässigkeit in einem der Vertragsstaaten fordert, ist es an dieser Stelle noch nicht erforderlich, auf die unbeschränkte Steuerpflicht in Österreich einzugehen. Nachdem die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland bereits festgestellt wurde, bietet es sich an, an dieser Stelle schlicht hierauf Bezug zu nehmen.

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2. Sachlicher Anwendungsbereich Der Sachverhalt hinsichtlich der Besteuerung der aus der Tätigkeit der P als Pilotin erzielten Einkünfte müsste auch sachlich dem Abkommen unterfallen. Diese Einkünfte unterliegen – wie gezeigt – grundsätzlich der deutschen Einkommensteuer, also einer Steuer, für die gem. Art. 2 Abs. 1 OECD-MA das Abkommen gilt.

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Es müsste sich zudem bei den fraglichen Einkünften um einen Abkommensfall handeln, d.h. es müsste ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sein, infolgedessen eine doppelte Belastung der Einkünfte droht. Aus deutscher Sicht handelt es sich um die Besteuerung einer in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtigen Person, die Einkünfte aus deutschen Quellen – Fluggesellschaft mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung in Deutschland – bezieht. Allerdings könnte aufgrund des Familienwohnsitzes in Wien auch Österreich unilateral ein Besteuerungsrecht beanspruchen. Wie in Deutschland sind in Österreich gem. § 1 Abs. 1, 2 EStG-Österreich natürliche Personen mit Wohnsitz in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig. Dementsprechend beansprucht auch Österreich grundsätzlich ein Besteuerungsrecht über das Welteinkommen der P, sodass ein grenzüberschreitend relevanter Sachverhalt gegeben ist.

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Hinweis: Natürlich kann nicht erwartet werden, dass die konkreten Normen zu unbeschränkten Einkommensteuerpflicht in anderen Staaten bekannt sind. Grundsätzlich folgen aber die meisten Staaten demselben Konzept wie Deutschland, sodass von dieser Annahme ausgehend die unbeschränkte Steuerpflicht auch ohne Normnennung bestimmt werden kann. Eine (wichtige) Ausnahme, die man sich merken sollte, sind dabei die USA. Dort knüpft die unbeschränkte Steuerpflicht an die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an.

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Rz. 50 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Der Umgang mit Einkünften aus unselbständiger Arbeit richtet sich nach den Regelungen der Art. 15 ff. OECD-MA. Für die Besatzung eines Luftfahrzeugs, das im internationalen Verkehr betrieben wird, bestimmt Art. 15 Abs. 3 OECD-MA, dass nur der Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen zur Besteuerung berechtigt ist. Deutschland dürfte bzgl. der Einkünfte des P aus ihrer nichtselbständigen Tätigkeit also nur dann das Besteuerungsrecht ausüben, wenn es auch abkommensrechtlich als Ansässigkeitsstaat gilt. Wie erläutert, sind die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 1 OECDMA für P in Deutschland erfüllt. Wegen des ebenfalls bestehenden Wohnsitzes in Wien ist P gem. Art. 4 Abs.1 OECD-MA aber auch in Österreich ansässig. Für solche Fälle doppelter Ansässigkeit bestimmt Art. 4 Abs. 2 Buchst. a Halbs. 2 OECD-MA als sog. Tie-Breaker-Regelung, dass Personen, die in beiden Staaten eine Wohnstätte haben, abkommensrechtlich nur in dem Staat als ansässig gelten, in dem der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen liegt. P verbringt in der Wohnung in Düsseldorf nur die Zeiten zwischen den Schichten; engere freundschaftliche und familiäre Beziehungen bestehen erkennbar nicht. Den Rest der Zeit verbringt sie mit ihrer Familie in Wien, sodass dort der Mittelpunkt der Lebensinteressen zu verorten ist. Für die Anwendung des Abkommens ist somit Österreich der Ansässigkeitsstaat, dem Art. 15 Abs. 3 OECD-MA hier das alleinige Besteuerungsrecht zuweist. Deutschland muss folglich von der Besteuerung der Einkünfte der P aus ihrer nichtselbständigen Tätigkeit absehen.

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Hinweis: Die deutsche Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen (DE-VG) beinhaltet in Art. 14 Abs. 3 DE-VG ebenfalls eine gesonderte Verteilungsregelung für die Besatzung eines im internationalen Verkehr betriebenen Luftfahrzeugs. Diese weist aber – anders als das OECD-MA – das Besteuerungsrecht dem Staat zu, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung des Luftfahrtunternehmens befindet, also dem abkommensrechtlichen Quellenstaat.

3. Einkommensteuerliche Auswirkungen in Deutschland 52

Die Einkünfte der P aus nichtselbständiger Arbeit sind dementsprechend in Deutschland von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage der P im Jahr 06 auszunehmen. Sollte die P noch andere in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte erzielt haben, könnte die durch die abkommensrechtlich steuerbefreiten Einkünfte dennoch eintretende erhöhte Leistungsfähigkeit der P aber durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts gem. § 32b EStG im Rahmen des Tarifs Niederschlag finden. § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG ordnet die Anwendung des Progressionsvorbehalts für die Einkünfte eines in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen an, die nach einem Einkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfrei sind. P ist in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Die abkommensrechtliche Tie-BreakerRegelung des Art. 4 Abs. 2 OECD-MA ändert an dieser innerstaatlichen Wertung nichts und dient einzig als Vorrangregelung zur Abkommensanwendung.33 Die Nichtbesteuerung der Einkünfte in Deutschland folgt zwar nicht aus der Freistellung 33 Siehe dazu auch BFH v. 23.10.2018 – I R 74/16, juris Rz. 19.

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Fall 6: Über den Wolken... | Rz. 53

als Ansässigkeitsstaat, die der Regelfall des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG ist,34 sondern aus dem ausschließlich Österreich als abkommensrechtlichem Ansässigkeitsstaat zugewiesenen Besteuerungsrecht. Beachtet man den Sinn und Zweck des Progressionsvorbehalts, kann das aber keinen Unterschied machen, und auch in diesen Situationen ist § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG anzuwenden.35 Sofern P also im Jahr 06 noch weitere in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte erzielt, ist bei der Bestimmung des für das zu versteuernde Einkommen maßgeblichen Tarifs der Progressionsvorbehalt anzuwenden.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.25 ff.; 8.205 ff.; 8.258 ff. – Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Auflage 2017, Rz. 6.12 ff. – FG Hamburg v. 31.1.2013 – 6 K 224/12 – FG Hessen v. 12.4.2012 – 3 K 1061/09, EFG 2012, 1718

34 Vgl. Wagner in Brandis/Heuermann (Stand: August 2021), § 32b EStG Rz. 60. 35 Ebenso Kuhn/Hagena in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32b EStG Rz. 120.

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Fall 7: Die Rente ist sicher Schwerpunkte: – Abgrenzung selbständige und gewerbliche Tätigkeit – Veranlassungszusammenhang bei Erwerbsaufwendungen – Zurechnung von Erwerbsaufwendungen (Drittaufwand) Bearbeitungszeit: 3 Std. Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Die in Bochum wohnhafte gelernte Bürokauffrau A hat als Angestellte einer Krankenkasse Zusatzqualifikationen im Bereich der Altersversorgung erworben. Wegen dieser besonderen Kenntnisse wurde sie seit dem Jahr 01 von der Krankenkasse als Spezialistin für Angelegenheiten der „gesetzlichen Rentenversicherung“ eingesetzt. Inhaltlich hat sie diese Tätigkeit immer begeistert, allerdings verschlechterte sich das Arbeitsklima für sie zusehends. Immer wieder empfand sie die ständigen Direktionen ihres Abteilungsleiters als wenig nachvollziehbar und geradezu schikanierend. Nachdem diese Situation die Gemütslage der A auch im privaten Bereich mehr und mehr belastete, ermunterte ihr Ehemann B sie, dieses ganze Kapitel hinter sich zu lassen und sich als „Rentenberaterin“ selbständig zu machen. Das Risiko könne sie durchaus eingehen, denn die Kinder seien ja mittlerweile flügge und finanziell unabhängig. Außerdem seien A und er über sein sicheres Einkommen als Kommunalbeamter abgesichert. A reizte die Aussicht einer selbstbestimmten Tätigkeit. Wegen des damit einhergehenden finanziellen Risikos war sie dennoch erst einmal zurückhaltend. Um seiner Frau seine volle Unterstützung zu verdeutlichen, sie weiter zu ermutigen und ihr den Schritt in die Selbständigkeit zu erleichtern, ergriff B die Initiative und mietete ab dem 1.7.10 für A einen zentral gelegenen Büroraum an, den er auf eigene Kosten mit Büromöbeln, Computer-/Peripheriegeräten, Telefon- und Internetanschluss samt Jahresvertrag ausstattete. Diese Unterstützung ihres Ehemannes gab B die nötige geschäftliche Motivation. Ohne den Arbeitgeber vorab zu informieren, ließ sie sich einen professionellen Internet-Auftritt gestalten und beauftragte einen Webdesigner und eine Fotografin. Die Kosten hierfür trug sie aus ihrem laufenden Arbeitseinkommen. Zum 1.1.11 eröffnete sie eine „Rentenberatungskanzlei“ mit einem Internet-Auftritt und schaltete entsprechende Anzeigen in der örtlichen Tageszeitung. Nachdem sie als Rentenberaterin auf dem Gebiet des gesetzlichen Rentenversicherungsrechts registriert worden war, warb sie auch mit Prozessvertretungen vor den Sozialgerichten nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG). Um die Büroeröffnung standesgemäß mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, aber auch Kollegen von der 105

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Rz. 1 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

Krankenkasse begehen zu können, beauftragte sie zu diesem Anlass ein Catering-Unternehmen. Die Bewirtungskosten zahlte sie aus eigener Tasche. Die Krankenkasse, bei der sie weiterhin angestellt war, war mit der Neuausrichtung ihrer Mitarbeiterin „wegen bestehender Interessenkonflikte“ nicht einverstanden, forderte A zur Aufgabe ihrer „Rentenberatungskanzlei“ auf und drohte mit einer außerordentlichen Kündigung. Es kam daraufhin zum Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht, der mit einem Vergleich endete. Danach wurde das Arbeitsverhältnis einvernehmlich gegen Zahlung einer Abfindung an die A in Höhe eines Jahresgehalts zum 1.7.11 aufgelöst. Die Kosten des Gerichtsverfahrens übernahm die Arbeitgeberin. Allerdings musste A ihre eigenen Anwaltskosten selbst tragen. Die vereinbarte Abfindung zahlt ihre Arbeitgeberin in einer Summe am 20.12.11. Aufgabe: Wie sind die Sachverhalte in den Jahren 10 und 11 für A einkommensteuerrechtlich zu würdigen? Bearbeitungshinweis: 1. Es ist zu unterstellen, dass A im Laufe des Jahres 11 eine wachsende Anzahl von Mandaten akquiriert, aber noch keinen Gewinn erzielt hat. 2. Berechnungen sind nicht durchzuführen. Die rechtliche Beurteilung ist ausreichend. 3. Auf lohnsteuerrechtliche Fragen ist nicht einzugehen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Neben der gängigen Frage der Abgrenzung der Einkunftsarten bildet die Prüfung des Veranlassungszusammenhangs von Erwerbsaufwendungen den inhaltlichen Schwerpunkt dieses Falls. Sowohl für Betriebsausgaben als auch für Werbungskosten gilt das Veranlassungsprinzip.1 Für die Betriebsausgaben ergibt sich das unmittelbar aus dem Wortlaut von § 4 Abs. 4 EStG, der fordert, dass die Aufwendungen durch den Betrieb veranlasst sein müssen. Die Definition der Werbungskosten in § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG lautet anders und scheint einen Finalzusammenhang zwischen Aufwendungen und Einnahmeerzielung zu fordern. Schon aus gleichheitsrechtlichen Gründen ist allerdings für alle Erwerbsaufwendungen grundsätzlich derselbe Maßstab anzulegen.2 Ausgehend von der Definition des § 4 Abs. 4 EStG wird deshalb nicht gefordert, dass die jeweiligen Aufwendungen unmittelbar zur Einnahmeerzielung führen, sondern nur, dass die Aufwendungen kausal auf der final zu Erwerbszwecken vorgenommenen Tätigkeit beruhen. Der BFH fasst diese Anforderungen folgendermaßen zusam1 Das Veranlassungsprinzip wirkt sich auch auf die Bestimmung von Erwerbsbezügen aus, siehe z.B. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.209. 2 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.230 m.w.N.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 5

men: Die Aufwendungen müssen objektiv mit der Erwerbstätigkeit zusammenhängen und subjektiv dem Betrieb/Beruf zu dienen bestimmt sein.3 Das subjektive Element verdeutlicht dabei, dass nicht maßgeblich ist, was objektiv sinnvoll oder zweckmäßig erscheint, sondern dem Steuerpflichtigen überlassen ist, was er für seine Erwerbstätigkeit aufwenden will. Nichtsdestotrotz bedarf es (ergänzend) des objektiven Korrektivs. Einerseits wird dadurch verhindert, dass Aufwendungen, die tatsächlich aus rein privater Motivation getätigt werden, steuerlich in Abzug gebracht werden. Andererseits entstehen Steuerpflichtigen unter Umständen auch unfreiwillig Aufwendungen, die objektiv durch die Erwerbstätigkeit verursacht wurden und dementsprechend abzugsfähig sein müssen, damit die Leistungsfähigkeit zutreffend abgebildet wird. In diesen Fällen kann das subjektive Element vernachlässigt werden.4 Für die Prüfung bedeutet das, dass zur Bestimmung der Veranlassung immer das Gesamtbild in den Blick genommen werden muss. Handelt es sich um bewusst getätigte Aufwendungen, ist im ersten Schritt die subjektive Zuordnung des Steuerpflichtigen maßgeblich. Diese muss dann durch einen objektiv erkennbaren Zusammenhang zur Erwerbstätigkeit ergänzt werden. Erfolgten die Aufwendungen unfreiwillig, sind hingegen (nur) die objektiven Zusammenhänge maßgeblich.

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Eine besondere Situation – die im vorliegenden Fall relevant wird – ergibt sich dabei, wenn die Aufwendungen nicht vom Steuerpflichtigen selbst, sondern von einer anderen Person getätigt wurden. Da das Veranlassungsprinzip fordert, dass ein Zusammenhang zwischen Aufwendungen und der Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen bestehen muss, ist eine Berücksichtigung beim Dritten selbst ausgeschlossen, denn die Aufwendungen beziehen sich gerade nicht auf eine seiner Erwerbstätigkeiten. In Betracht kommt insofern höchstens eine Berücksichtigung beim Steuerpflichtigen, mit dessen Erwerbstätigkeit die Aufwendungen im Zusammenhang stehen. Trägt diese die Aufwendungen nicht selbst, ist er durch sie in seiner Leistungsfähigkeit nicht belastet. Deshalb ergibt sich der Grundsatz, dass sog. Drittaufwand nicht absetzbar ist.5

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Allerdings muss in Falllösungen präzise abgegrenzt werden, ob überhaupt ein solcher nicht abzugsfähiger Drittaufwand vorliegt. Das ist nicht der Fall, wenn der Steuerpflichtige die Aufwendungen wirtschaftlich selbst getragen hat (Kostentragungsprinzip). Dafür kommt es nicht unbedingt darauf an, wer die Zahlung formal vorgenommen hat. Das verdeutlicht sich in der Situation des sog. abgekürzten Zahlungsweges: Hier schließt der Steuerpflichtige selbst einen Vertrag, aufgrund dessen ihm eine Zahlungspflicht entsteht. Diese begleicht ein Dritter mit dem Ziel, die Schuld des Steuerpflichtigen zu tilgen. Wirtschaftlich gesehen schenkt der Dritte dem Steuerpflichtigen das Geld, der damit seine Schuld begleicht; dadurch ist eigentlich der Steuerpflichtige selbst wirtschaftlich belastet, da er die ihm zugewendeten Mittel wieder verliert.6 Das gleiche gilt im Grunde beim abgekürzten Vertragsweg. In diesen Fällen leistet der Dritte nicht nur die Zahlungen, sondern schließt auch im eigenen

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Z.B. BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75, juris Rz. 8. Siehe dazu ausführlicher Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.211 ff. Siehe z.B. BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782, juris Rz. 51 f. BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782, juris Rz. 54 m.w.N.

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Rz. 5 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

Namen den Vertrag zugunsten des Steuerpflichtigen ab. Aus rein wirtschaftlicher Perspektive ist es irrelevant, wer den Vertrag schließt, solange klar ist, dass es sich um eine Zuwendung des Dritten an den Steuerpflichtigen handelt.7 Das erkennt auch die Rechtsprechung an, sodass bei einem abgekürzten Zahlungsweg/Vertragsweg der Abzug der Ausgaben des Dritten als Erwerbsaufwendungen beim Steuerpflichtigen grundsätzlich möglich ist. Bei einer Falllösung kommt es dementsprechend immer darauf an, nicht nur oberflächlich die Zahlungswege zu betrachten, sondern die wirtschaftlichen Zusammenhänge herauszustellen. 6

Ihre Grenzen findet diese wirtschaftliche Betrachtungsweise derzeit nach Ansicht der Rechtsprechung bei Dauerschuldverhältnissen. Schließt der Dritte also für den Steuerpflichtigen einen Vertrag über ein Dauerschuldverhältnis (z.B. Mietvertrag) ab, nimmt die Zahlungen vor und überlässt dem Steuerpflichtigen dann die Nutzung, so geht der BFH davon aus, dass dem Steuerpflichtigen nicht die aufgewendeten Mittel, sondern nur das Nutzungsrecht zugewendet wird.8 Infolgedessen könnte keine wirtschaftliche Belastung des Steuerpflichtigen angenommen und ein steuerlicher Abzug nicht geltend gemacht werden. Begründen lässt sich das damit, dass dem Steuerpflichtigen hier das Nutzungsrecht jederzeit vom Dritten entzogen werden kann, anders als bei einmaligen Leistungen. Hinzu kommt, dass solche Nutzungen in einer Bilanz nicht einlagefähig sind und es bei bilanzierenden Steuerpflichtigen so zu Konflikten kommen könnte.9 Vollkommen zwingend erscheint das jedoch nicht. Für Falllösungen sollte diese Ansicht des BFH dennoch bekannt sein. Ob ihr gefolgt wird, ist zweitrangig, wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Problemstellung. II. Anforderungsprofil

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Die Aufgabenstellung fordert eine Prüfung der einkommensteuerlichen Behandlung des Sachverhalts für A. Da also nur die Würdigung der Sachverhaltsinformationen erwartet wird, ist keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens für die angesprochenen Veranlagungszeiträume gefordert, sondern lediglich eine Begutachtung der geschilderten Vorkommnisse. Mithin sind nur die Prüfungspunkte anzusprechen, auf die die Angaben im Sachverhalt Auswirkungen haben. Damit erübrigen sich vorliegend Ausführungen zu Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen.

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Der Sachverhalt erstreckt sich über zwei Veranlagungszeiträume. Um bei der Formulierung des Gutachtens nicht unnötig Zeit zu verlieren, bietet es sich an, Prüfungspunkte, bei denen sich in den Jahren keine (wesentlichen) Unterschiede ergeben, für alle Zeiträume zusammen zu prüfen. Das betrifft hier die subjektive Steuerpflicht, die Einkünftequalifikation, die Einkünfteermittlungsart und den Tarif.

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Die Schwerpunkte des Falls liegen bei der Qualifikation der Rentenberatungstätigkeit sowie der Anerkennung der von A und ihrem Ehemann getätigten Aufwendungen 7 BFH v. 15.11.2005 – IX R 25/03, BStBl. II 2006, 623, juris Rz. 11 8 BFH v. 24.2.2000 – IV R 75/98, BStBl. II 2000, 314, juris Rz. 13. 9 Siehe dazu und zu weiteren Erklärungsansätzen auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.226.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 13

als Erwerbsaufwendungen der A. Die ausführlichen Sachverhaltsinformationen zur Tätigkeit der A und den Anschaffungen und sonstigen Ausgaben in den Jahren 10 und 11 weisen hierauf sehr deutlich hin, sodass allen Bearb. klar sein dürfte, dass diese Aspekte zu prüfen sind. Die in der Einkünftequalifikation erforderliche Abgrenzung zwischen gewerblicher und selbständiger Tätigkeit ist ein gängiges Klausurproblem, das eine saubere Prüfung und Argumentation erfordert, grundsätzlich aber keine größeren Schwierigkeiten bereits sollte.

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Im Rahmen der Erwerbsaufwendungen finden sich gleich mehrere zu diskutierende Aspekte. Wichtig und von jedem Bearb. zu erwarten ist, dass der Veranlassungszusammenhang bei allen Aufwendungen präzise hergeleitet wird. In diesem Zuge gilt es, auch die gemischte Veranlassung der Bewirtungskosten zu erkennen und die Folgen dessen zu erläutern. Gemischte Aufwendungen sind ein typisches Klausurproblem; Kenntnisse zum Umgang mit diesen können vorausgesetzt werden und sind für eine hinreichende Bearbeitung des Falls notwendig. Ähnliches gilt für die vorweggenommenen Betriebsausgaben. Die Behandlung von Drittaufwand ist dagegen eine nicht ganz einfache Frage, deren Herleitung und Lösung nur von überdurchschnittlichen Bearbeitungen zu erwarten ist.

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Auf die tarifliche Besonderheit für die Abfindungszahlung (Fünftelregelung) gibt der Sachverhalt keinen gesonderten Hinweis. Bei Stichwörtern wie „Abfindung“ oder „Gewinn aus einer Betriebsveräußerung“ sollten die Bearb. aber aufmerksam werden und an die Regelung des § 34 EStG denken.

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C. Gliederung Die Lösung des Falles kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Subjektive Steuerpflicht 14 II. Objektive Steuerpflicht 15 1. Einkünftequalifikation 16 a) Tätigkeit bei der Krankenkasse 18 b) Tätigkeit als Rentenberaterin 19 2. Einkünftequantifikation 31 a) Einkünfteermittlungsart 32 b) Veranlagungszeitraum 10 aa) Nichtselbständige Tätigkeit 34 bb) Gewerbliche Tätigkeit 35 cc) Verlustausgleich 43 c) Veranlagungszeitraum 11 109

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Rz. 13 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

aa) Nichtselbständige Tätigkeit 44 bb) Gewerbliche Tätigkeit 48 cc) Verlustausgleich 54 3. Weitere Aufwendungen und Abzüge 55 III. Tarif und Steuerermäßigungen 56

D. Ausformulierte Lösung I. Subjektive Steuerpflicht 14

A hat ihren Wohnsitz in Bochum, sodass sie gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 AO in beiden fraglichen Veranlagungszeiträumen unbeschränkt in Deutschland steuerpflichtig ist. II. Objektive Steuerpflicht

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Zu prüfen ist, inwieweit die geschilderten Vorkommnisse die objektive Steuerpflicht der A in den Veranlagungszeiträumen 10 und 11 beeinflussen. 1. Einkünftequalifikation

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Dafür muss zuerst festgestellt werden, ob und welcher der Einkunftsarten die Tätigkeiten der A zuzuordnen sind.

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Alterantiver Aufbau: An dieser Stelle ist es noch nicht erforderlich, zwischen den beiden Veranlagungszeiträumen zu unterscheiden. Eine Differenzierung wäre zwar nicht falsch, bringt aber auch keinen Mehrwert. Vielmehr bestünde bzgl. der Tätigkeit als Rentenberaterin die Gefahr, dass bereits hier Aspekte zu den vorweggenommenen Betriebsausgaben diskutiert werden, die systematisch erst bei der Quantifikation tatsächlich relevant sind.

a) Tätigkeit bei der Krankenkasse 18

A ist bei der Krankenkasse als Arbeitnehmerin angestellt und erzielt als solche Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 EStG. b) Tätigkeit als Rentenberaterin

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Fraglich ist aber die Einordnung ihrer Tätigkeit als Rentenberaterin. Diese könnte grundsätzlich als selbständige oder als gewerbliche Tätigkeit i.S.d. §§ 15 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2; 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG qualifiziert werden. Beiden Einkunftsarten ist gem. § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG gemein, dass sie eine selbständige, nachhaltige Betätigung fordern, mit der der Steuerpflichtige am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt, die keine reine Vermögensverwaltung i.S.v. § 14 Satz 3 AO ist und die mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben wird. 110

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 23

Während die Merkmale der Selbständigkeit, Nachhaltigkeit und der Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr vorliegen und die Tätigkeit auch unzweifelhaft über eine Vermögensverwaltung i.S.d. § 14 Satz 3 AO hinausgeht, könnten hinsichtlich der Gewinnerzielungsabsicht Zweifel bestehen. Diese ist anzunehmen, wenn A danach strebt, mit der Tätigkeit von deren Beginn bis deren Beendigung einen Totalgewinn zu erzielen. Diese Absicht ist als innere Tatsache anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Die A hat mit der Tätigkeit bisher zwar keinen Gewinn erzielt, sondern nur Aufwendungen getätigt. Solche Verluste zu Beginn einer gewerblichen bzw. selbständigen Tätigkeit sind jedoch nicht ungewöhnlich. Vielmehr ist es normal, dass der Steuerpflichtige mit Investitionen in Vorleistung geht, die sich erst mit der Zeit finanziell rentieren. Gerade bei beratenden Berufen dauert es eine gewisse Zeit, bis ein Mandantenstamm aufgebaut ist, der zu Gewinnen führt. Bei A ist festzustellen, dass die Mandantenzahl zusehends anwächst. Hinzu kommt, dass die gesamte Ausgestaltung (eigenes Büro, passende Einrichtung des Büros etc.) den Eindruck der Ernsthaftigkeit vermittelt. Zwar ging sie nebenbei noch ihrer Angestelltentätigkeit nach. Das allein führt aber nicht dazu, dass davon auszugehen ist, dass die Tätigkeit als Rentenberaterin lediglich als Hobby ohne Gewinnerzielungsabsicht betrieben wird. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass sie sich durch den zweiten Job eine finanzielle Sicherheit in der Anfangsphase verschaffen wollte. Für die Ernsthaftigkeit der Tätigkeit spricht auch, dass A einen eigenen Internetauftritt hat und Zeitungsanzeigen zu Werbezwecken schaltet. Der Gesamteindruck spricht insofern für das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht, sodass die allgemeinen Merkmale einer Gewinneinkunftsart insgesamt gegeben sind.

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Hinweis: Typische Anlaufverluste bleiben auch dann abzugsfähig, wenn die Tätigkeit eingestellt wird und tatsächlich nicht zu einem positiven Totalgewinn geführt hat. Der Betrachtungszeitraum für den Totalgewinn ist – grob gesagt – die Zeitperiode, in der ein vernünftig denkender Geschäftsmann den Betrieb des Unternehmens aufrechterhalten hätte.

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Abzugrenzen ist nun, ob die Tätigkeit der A den selbständigen Einkünften i.S.d. § 18 EStG zugehörig ist oder als gewerbliche Tätigkeit zu qualifizieren ist. Der Beruf der Rentenberaterin ist nicht explizit im Rahmen des Katalogs des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG genannt. Es könnte sich aber um einen ähnlichen Beruf handeln (siehe § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 a.E. EStG). Maßgeblich ist hierbei die Ähnlichkeit zu einem der explizit genannten Berufe.

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Hinweis: Es sollte vermieden werden, bei der Prüfung des ähnlichen Berufes in Floskeln zu verfallen, die suggerieren, dass sich der freie Beruf als Typusbegriff über Merkmale wie „Arbeit mit dem Kopf“ gegenüber der „Arbeit mit dem Kapital“ definieren ließe. Das ist nicht der Fall. Es gibt keinen allgemeinen Typus des Freiberuflers. Ein ähnlicher Beruf muss sich daher stets auf einen der in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG genannten Katalogberufe beziehen und umfasst die Prüfung der Vergleichbarkeit der Berufsausbildung und der Berufsausübung.10

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10 BFH v. 25.4.1978 – VIII R 149/74, BStBl. II 1978, 565-567.

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Rz. 24 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Erforderlich ist, dass eine Ähnlichkeit hinsichtlich aller typischen Merkmale eines Katalogberufs besteht. Insbesondere müssen die Berufsausbildung und die Berufsausübung bzw. das Tätigkeitsfeld vergleichbar sein.11 Hinsichtlich der Ähnlichkeit in der Ausbildung ist jedoch nicht zwingend ein bestimmter (identischer) Abschluss zu fordern, vielmehr muss nachgewiesen sein, dass sich der Steuerpflichtige Kenntnisse in vergleichbarer Breite und Tiefe (ggf. auch autodidaktisch) angeeignet hat.12 Für die A als Rentenberaterin kommen als vergleichbare Berufe daher diejenigen des Rechtsanwalts, Steuerberaters und Steuerbevollmächtigte in Betracht. Die Tätigkeit als Rentenberaterin ähnelt allen dreien zumindest dahingehend, dass es sich um einen beratenden Beruf auf dem Gebiet mindestens eines Rechtsgebietes handelt.

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Anders als beim Rechtsanwalt ist hierfür jedoch keine umfassende Ausbildung und eine (staatliche) Abschlussprüfung erforderlich, sondern die A hat eine Zusatzqualifikation zu ihrer Ausbildung als Bürokauffrau absolviert. Die Ausbildungen können insofern nicht gleichgesetzt werden und ihre Zusatzqualifikationen auch nicht als Nachweis vergleichbar tiefgehender Kenntnisse qualifiziert werden. Auch im konkreten Tätigkeitsbereich finden sich Unterschiede. Zwar kann auch die A als Vertreterin ihrer Mandanten vor Gericht auftreten, das beschränkt sich jedoch – anders als beim Rechtsanwalt – auf die Sozialgerichte und dabei ganz konkret auf den Bereich des Rentenrechts. Damit ist die Befugnis deutlich eingeschränkt. Ähnliches gilt auch für den fachlichen Umfang der Beratungsleistung der A. Sie beschränkt sich auf die Rentenberatung, während Rechtsanwälte in einem deutlich umfassenderen Themengebiet beraten. Insofern ist die Ähnlichkeit zum Rechtsanwalt weder im Bereich der zugrunde liegenden Ausbildung noch hinsichtlich der tatsächlichen Tätigkeit hinreichend.

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Für die Tätigkeit als Steuerberater ist grundsätzlich ebenfalls eine berufsqualifizierende Prüfung abzulegen – nur in Ausnahmefällen, die in § 38 StBerG genannt sind, wird aufgrund langjähriger einschlägiger Berufserfahrung hiervon abgesehen. Die Beratungstätigkeit des Steuerberaters beschränkt sich auf das Steuerrecht, ist hier aber umfassend und nicht von vornherein auf einen Teilbereich des Rechtsgebiets beschränkt. Das Berufsbild des Steuerberaters ähnelt der Tätigkeit der A infolge der fachlichen Beschränkungen insofern deutlich mehr. Dennoch reicht das Tätigkeitsfeld letztlich sowohl hinsichtlich des Beratungsumfangs als auch der Befugnis zur gerichtlichen Vertretung, die bei Steuerberatern vor den Finanzgerichten uneingeschränkt besteht, noch weiter. Zudem bestehen durch das Erfordernis der Zulassung durch die Steuerberaterkammern formale Berufszugangshürden, die für den Beruf der Rentenberaterin nicht in vergleichbarer Weise eingreifen. Insofern ist auch hier nach dem Gesamtbild der Tätigkeiten keine ausreichende Ähnlichkeit anzunehmen.

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Möglich erscheint somit lediglich noch die Einordnung als zum Steuerbevollmächtigten ähnlicher Beruf. Hierbei handelt es sich im einen mittlerweile quasi ausgestorbenen Beruf (letzte Prüfung zum Steuerbevollmächtigten 1980), der eine Ausbildung in einem kaufmännischen oder steuer-/wirtschaftsberatenden Beruf voraussetzt. Steuer11 St. Rspr., siehe z.B. BFH v. 12.10.1989 – IV R 118-119/87, BStBl. II 1990, 64, juris Rz. 36 ff.; v. 22.9.2009 – VIII R 79/06, BStBl. II 2010, 404, juris Rz. 10. 12 BFH v. 16.12.2008 – VIII R 27/07, juris Rz. 22 ff.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 33

bevollmächtigte werden beratend beschränkt auf den Bereich der Steuern tätig. Der fachliche Hintergrund ähnelt somit dem der A, die gelernte Bürokauffrau ist. Zu beachten ist aber auch hier, dass das Tätigkeitsfeld der A inhaltlich mit der Begrenzung auf Renten deutlich eingeschränkter ist und anders als beim Steuerbevollmächtigten keine formale Abschlussprüfung gefordert wird. Die Tätigkeitsanforderungen sind somit geringere, sodass die Ähnlichkeit auch hier nicht hinreichend ist. Hinweis: Die Kenntnisse zum Beruf des Steuerbevollmächtigen können nicht vorausgesetzt werden. In einer Klausurbearbeitung würde es deshalb ausreichen, wenn sich Bearbeiter mit dem Rechtsanwalt und dem Steuerberater befassen. Hier würde aber eine intensive Auseinandersetzung, insbesondere mit dem Steuerberater, erwartet.

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Die Tätigkeit als Rentenberaterin kann auch nicht unter eines der die selbständige Tätigkeit allgemein beschreibenden Adjektive subsumiert werden, sodass sie keine selbständige Tätigkeit darstellt. Die Rentenberatungstätigkeit ist somit als gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG zu qualifizieren.

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Alternative Lösung: Mit entsprechender Argumentation ist es auch vertretbar, eine hinreichende Ähnlichkeit zum Steuerbevollmächtigten oder Steuerberater anzunehmen. Dann wäre die Tätigkeit der A als selbständige i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG einzustufen und das nachfolgend zugrunde zu legen. Da A nicht bilanzierungspflichtig ist, ergibt sich dadurch einkommensteuerlich erst einmal kein Unterschied (das Entfallen der Gewerbesteuerpflicht hat einkommensteuerlich nur im Rahmen des Tarifs bzgl. § 35 EStG Relevanz).

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2. Einkünftequantifikation Davon ausgehend ist zu ermitteln, wie sich die geschilderten Vorkommnisse auf die Einkünftequantifikation auswirken.

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a) Einkünfteermittlungsart Bzgl. der nichtselbständigen Tätigkeit der A bei der Krankenkasse sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist.

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Bei der gewerblichen Tätigkeit als Rentenberaterin sind gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 EStG die Einkünfte der Gewinn. Es ist nicht ersichtlich, dass für A eine Buchführungspflicht besteht (§§ 14013, 141 AO) oder sie freiwillig bilanziert. Somit erfolgt die Ge-

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13 Gem. § 140 AO würde eine nach § 238 HGB bestehende handelsrechtliche Buchführungspflicht auch auf das Steuerrecht durchschlagen. Handelsrechtlich bestünde diese Pflicht nur, wenn A eine Kauffrau i.S.d. HGB wäre. Mangels Eintragung oder entsprechender Rechtsform könnte sich das nur über § 1 HGB ergeben. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass ihre gewerbliche Tätigkeit nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erforderte.

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Rz. 33 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

winnermittlung hier gem. § 4 Abs. 3 EStG durch Ermittlung des Überschusses der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben (sog. Einnahmenüberschussrechnung). b) Veranlagungszeitraum 10 aa) Nichtselbständige Tätigkeit 34

Im Jahr 10 erhielt die A von der Krankenkasse einen Arbeitslohn, der gem. §§ 8 Abs. 1, 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG als steuerpflichtige Einnahme aus ihrer nichtselbständigen Tätigkeit einkommensteuerlich zu berücksichtigen ist. Konkrete durch die nichtselbständige Tätigkeit veranlasste Erwerbsaufwendungen sind nicht ersichtlich, sodass diesbezüglich lediglich die Werbungskostenpauschale des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG zum Abzug gebracht wird. bb) Gewerbliche Tätigkeit

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A eröffnete ihr Rentenberatungsbüro erst im Jahr 11. Laut Bearbeitungshinweis hat sie im Jahr 10 noch keine Betriebseinnahmen erwirtschaftet.

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Ihr könnten aber mit den im Jahr 10 angefallenen Kosten für die Büromiete, die Büroausstattung sowie Webdesigner, Fotografin und Zeitungsanzeigen bereits Aufwendungen entstanden sein, die als vorweggenommene Betriebsausgaben einkommensteuerlich berücksichtigt werden. Betriebsausgaben sind gem. § 4 Abs. 4 EStG Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind, also objektiv mit dem Betrieb zusammenhängen und subjektiv diesem zu dienen bestimmt sind.14 Diese Veranlassung kann auch schon vor konkreter Ausübung der Tätigkeit bestehen und somit vorab entstandene Kosten als Betriebsausgaben anzuerkennen sein. Voraussetzung ist, dass die Aufwendungen in einem hinreichend konkreten, objektiv erkennbaren Zusammenhang zu der späteren betrieblichen Tätigkeit stehen.15 Mitte des Jahres 10 wurden die Räume, in denen die A seit 1.1.11 ihre Beratungstätigkeit anbietet und ausführt, angemietet. Im Anschluss wurden die Räume mit Büromöbeln, Computer-/Peripheriegeräten, Telefon- und Internetanschluss ausgestattet. Es handelt sich um die typischerweise für eine Beratungstätigkeit erforderliche Ausstattung, die später von A auch für ihre gewerbliche Tätigkeit genutzt wurde. Zwar liegt zwischen erster Anschaffung und der Aufnahme der Tätigkeit etwa ein halbes Jahr. Bedenkt man, dass die A währenddessen aber noch in Vollzeit bei der Krankenkasse tätig war, die Vorbereitungen zur Eröffnung also nebenbei erfolgen mussten, schadet das der Annahme eines hinreichenden Zusammenhangs nicht per se. Zweifel könnten aber dadurch entstehen, dass die A im Zeitpunkt der Aufwendungen noch nicht entschieden hatte, die selbständige Tätigkeit aufzunehmen. Die Investitionen sollten sie gerade ermutigen, dies zu tun. Allerdings ist aus den Gesamtumständen erkennbar, dass die Auf14 BFH v. 4.7.1990 – GrS 2-3/88, BStBl. II 1990, 817. 15 St. Rspr., siehe z.B. BFH v. 15.4.1992 – III R 96/88, BStBl. II 1992, 819, juris Rz. 15 ff. m.w.N. Siehe zu vorab entstandenen Erwerbsaufwendungen auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.233.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 40

wendungen konkret auf die spätere Eröffnung eines Beratungs-Büros gerichtet waren und zu keinem anderen Zweck verwendet werden sollten; es bestand mithin eine objektive Veranlassung durch die später auch tatsächlich ausgeübte Tätigkeit, sodass der Veranlassungszusammenhang dennoch zu bejahen ist. Webdesigner und Fotograf beauftragte die A für die Erstellung eines Internetauftritts ihrer Rentenberatungskanzlei. Dies dient dem effektiven Marketing, sodass auch hier ein objektiver Veranlassungszusammenhang vorliegt. Auch müssen diese Aufwendungen üblicherweise im Vorhinein getätigt werden, um die spätere Eröffnung ausreichend publik machen zu können. Selbiges gilt für die Kosten der Zeitungsanzeigen. Ein hinreichender Veranlassungszusammenhang ist somit bzgl. aller Posten anzunehmen.

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Jedenfalls die unmittelbar von A getragenen Kosten für Webdesigner, Fotograf und Zeitungsanzeigen sind mithin als vorweggenommene Werbungskosten zu berücksichtigen.

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Fraglich ist aber, ob der A auch die anderen Aufwendungen als eigene zugerechnet werden können. Das Büro wurde von ihrem Ehemann B auf seine Kosten angemietet und ausgestattet. Aufwendungen sind dem Leistungsfähigkeitsprinzip folgend bei dem zu berücksichtigten, der durch sie wirtschaftlich belastet wird.16 Ausschlaggebend ist dabei aber nicht zwingend, wer die Zahlung vorgenommen hat, solange die letztliche Belastung erkennbar beim Steuerpflichtigen liegt.17

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Vorliegend schließt B sämtliche Verträge selbst ab und nimmt auch die Zahlungen vor. Wie durch die Überlassung der Räume an A erkennbar ist, will er die gezahlten Beträge aber der A zukommen lassen. Insofern handelt es sich um Fälle des sog. abgekürzten Vertragsweges. Schließt ein Dritter für den Steuerpflichtigen Verträge ab und leistet auf die dadurch entstehende Schuld, so wendet der Dritte damit wirtschaftlich betrachtet dem Steuerpflichtigen das Geld zu und bewirkt sogleich durch die Erfüllung der Schuld dessen Entreicherung. Wirtschaftlich belastet ist damit auch hier der Steuerpflichtige.18 Dieses Ergebnis wird aber nicht erreicht, wenn dem Steuerpflichtigen die Vertragsleistung nicht uneingeschränkt selbst zukommt. Insbesondere bei Dauerschuldverhältnissen wie einem Mietvertrag überlässt der Dritte dem Steuerpflichtigen nur ein ungesichertes Nutzungsrecht, die mietvertragliche Nutzungsüberlassung erfolgt aber weiter an den Dritten als Vertragspartner. Dementsprechend können die Mietzinszahlungen nicht als Erwerbsaufwendungen der A berücksichtigt werden.19 Gleiches gilt für die laufenden Telefonkosten, die ebenfalls aus einem Dauerschuldverhältnis resultieren. Über den Gedanken des abgekürzten Vertragswegs der A zuzurechnen sind der A aber die Aufwendungen für die Büromöbel sowie die Computer- und Telefonanlage.

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16 BFH v. 23.8.1999 – GrS 2/97, BStBl. II 1999, 782, juris Rz. 51. 17 Siehe zum Drittaufwand und den anerkannten Fallgruppen eigener Erwerbsaufwendungen Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.223 ff. 18 Siehe dazu BFH v. 15.11.2005 – IX R 25/03, BStBl. II 2006, 623, juris Rz. 11. 19 Siehe dazu z.B. BFH v. 24.2.2000 – IV R 75/98, BStBl. II 2000, 314, juris Rz. 13.

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Rz. 41 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Alternative Lösung: Diese Lösung folgt der derzeitigen Rechtsprechung des BFH. Mit entsprechender Begründung – bei der z.B. hervorgehoben werden könnte, dass das Ergebnis auch hier kaum von anderen Fällen des sog. abgekürzten Vertragswegs zu unterscheiden ist – wäre auch das gegenteilige Ergebnis vertretbar. Wichtig ist vor allem, dass die Bearbeiter/innen sich mit dem Problem zielgerichtet auseinandersetzen und die maßgeblichen wirtschaftlichen Zusammenhänge herausarbeiten.

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Als Betriebsausgaben der A anzuerkennen sind somit die Aufwendungen der A selbst für Webdesigner Fotograf und Zeitungsanzeigen sowie die ihr zuzurechnenden Aufwendungen für die Büroausstattung. cc) Verlustausgleich

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Die aus den für A abzugsfähigen vorweggenommenen Betriebsausgaben resultierenden negativen Einkünfte aus Gewerbebetrieb werden im Wege des vertikalen Verlustausgleichs mit den positiven Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit verrechnet, § 2 Abs. 2, 3 EStG. Ein eventuell verbleibender Verlust wird mit den positiven Einkünften des Ehemannes bei der Zusammenveranlagung nach § 26b EStG verrechnet. c) Veranlagungszeitraum 11 aa) Nichtselbständige Tätigkeit

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Auch im Veranlagungszeitraum 11 ist der bis zur Kündigung durch die Krankenkasse gezahlte Arbeitslohn eine steuerpflichtige Einnahme. Zudem könnte die Abfindungszahlung als Einnahme zu werten sein. Die Abfindung dient als Ersatz für der A infolge der Auflösung des Arbeitsverhältnisses entgehende Einnahmen und unterfällt somit § 24 Nr. 1 Buchst. b EStG. Sie wird für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gezahlt und steht somit in unmittelbarem Zusammenhang mit der nichtselbständigen Tätigkeit i.S.d. § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG, sodass sie dieser Einkunftsart zuzuordnen ist.

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Hinweis: § 24 EStG ist keine neue Einkunftsart, sondern verlängert nur den zeitlichen Anwendungsbereich der Einkunftsarten.

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Als Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG könnten die Anwaltskosten der A zu berücksichtigen sein. Werbungskosten definieren sich als Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Zwar impliziert der Wortlaut, dass eine Finalität im Hinblick auf die Einnahmenerzielung bestehen müsste. Aus gleichheitsrechtlichen Gründen ist aber ein Gleichlauf mit dem Betriebsausgabenbegriff des § 4 Abs. 4 EStG zu fordern, sodass die Kausalität in Form der Veranlassung durch die erwirtschaftende Tätigkeit ausreicht.20 Dafür muss ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf bestehen und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung des Berufs – nicht 20 Vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.358.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 51

jedoch gerade der Einnahmenerzielung – getätigt worden sein.21 Die Anwaltskosten sind der A im Rahmen des Rechtsstreits bzgl. der durch ihren alten Arbeitgeber angedrohten Kündigung entstanden. Ursache für die Androhung der Kündigung war ihre gewerbliche Tätigkeit. Insofern besteht ein Zusammenhang zu beiden Tätigkeiten. Entscheidend ist, durch welche Tätigkeit die Aufwendungen vorrangig veranlasst wurden. Kern des Rechtsstreits war das Angestelltenverhältnis der A bzw. dessen Beendigung. Die gewerbliche Tätigkeit war hierbei nur mittelbar Thema, sodass ein engerer Zusammenhang zur nichtselbständigen Tätigkeit besteht und die Aufwendungen als dieser Tätigkeit zugehörige Werbungskosten zu bewerten sind. Alternative Lösung: Mit entsprechender Begründung ist es auch vertretbar, eine überwiegende Veranlassung durch die gewerbliche Tätigkeit anzunehmen. Dann müssten die Werbungskosten hier abgelehnt und wiederum auf den Werbungskostenpauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG) verwiesen werden. Die Anwaltskosten wären noch einmal im Rahmen der Erwerbsaufwendungen der gewerblichen Tätigkeit zu thematisieren.

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Sollte man die berufliche Veranlassung der Anwaltskosten hier insgesamt ablehnen (schwer vertretbar), müsste geprüft werden, ob es sich um außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 Abs. 1 EStG handelt. Das dürfte im Hinblick auf die Regelung des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG abzulehnen sein.

bb) Gewerbliche Tätigkeit Zu den Betriebseinnahmen der A aus ihrer Tätigkeit als Rentenberaterin ist nichts bekannt.

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Die Cateringkosten für die Feier zur Büroeröffnung könnten jedoch Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG im Rahmen der gewerblichen Tätigkeit darstellen. Die Aufwendungen sind im Rahmen der Einweihung ihrer Rentenberatungskanzlei entstanden, sodass ein gewisser Zusammenhang zu dieser Tätigkeit besteht. A hat darüber hinaus auch alte Kollegen zu der Feier eingeladen. Diese haben eine fachliche Verbindung zu ihrer neuen Tätigkeit.

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Allerdings ist zu beachten, dass A zu der Feier Familie und Freunde eingeladen hat, weshalb eine private Veranlassung der Veranstaltung, die den Beruf nebenbei auch fördert, angenommen werden könnte. In diesem Fall wäre der Abzug ausgeschlossen (siehe § 12 Nr. 1 EStG).

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Bei Gesamtbetrachtung der Ausrichtung der Feier ist daher anzunehmen, dass A einerseits den Neubeginn mit ihren Nächsten feiern, gleichzeitig aber auch die Eröffnung in Fachkreisen publik machen wollte. Insofern liegt eine gemischte Veranlassung vor, bei der keiner der beiden Veranlassungsgründe als unbedeutend zurücktritt. Dementsprechend könnte sich eine nach Veranlassungsteilen ermittelte nur anteilige Berücksichtigung der Kosten ergeben. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ist diesbezüglich nicht so zu verstehen, dass er einer Aufteilung nach objektiven Maßstäben entgegenstehen

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21 Z.B. BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75.

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Rz. 51 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

würde.22 Er bezieht sich nach seinem Wortlaut („dazu gehören“) erkennbar nur auf Aufwendungen nach Satz 1, also solche, die ihrer Natur nach privat veranlasst sind und (zufällig bzw. nebenbei) auch den Beruf fördern. Gemeint sind also gerade nicht Aufwendungen, die zu wesentlichen Teilen originär betrieblich veranlasst sind. Indem eine Aufteilung vorgenommen wird, wird auch der Gefahr begegnet, dass Steuerpflichtige Aufwendungen der privaten Lebensführung in den einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern könnten, sodass die Steuergerechtigkeit der Aufteilung nicht nur nicht entgegensteht, sondern sie sogar gebietet.23 Ein anteiliger Abzug ist vor diesem Hintergrund also nur ausgeschlossen, wenn die Veranlassungsbeiträge so eng ineinandergreifen, dass eine Trennung anhand eines sachgerechten, objektiven Aufteilungsmaßstabs nicht möglich ist. Vorliegend wäre Aufteilung nach Köpfen möglich, sodass ein objektiver Aufteilungsmaßstab besteht. Als Betriebsausgabe anzuerkennen ist demnach nur der Anteil, der auf die Kollegen der A entfällt. 52

Allerdings könnte auch dieser Anteil infolge der typisierenden Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 EStG nur anteilig abzugsfähig sein. Gem. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 EStG dürfen als Kosten für die Bewirtung von Personen aus geschäftlichem Anlass nur 70 % der nach allgemeiner Verkehrsauffassung angemessenen Aufwendungen berücksichtigt werden. Die Eröffnung ihres Büros, die Hintergrund der Bewirtung durch A ist, ist ein geschäftlicher Anlass. Insofern greift die Abzugsbeschränkung hier ein. Um die anteiligen Kosten tatsächlich geltend machen zu können, muss die A zudem gem. der Vorgaben des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG Angaben zum Ort, zum Tag, zu den Teilnehmern und dem Anlass der Bewirtung machen.

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Hinweis: Es ist systematisch erforderlich, zuerst die gemischte Veranlassung zu thematisieren und erst danach die Abzugsverbote des § 4 Abs. 5 Satz 1 EStG zu prüfen. Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 1 EStG, der voraussetzt, dass überhaupt Betriebsausgaben vorliegen. Die Abzugsverbote und -beschränkungen finden also nur Anwendung, wenn zuvor festgestellt wurde, dass die fraglichen Aufwendungen betrieblich veranlasst sind.

cc) Verlustausgleich 54

Die aus den für A abzugsfähigen vorweggenommenen Betriebsausgaben resultierenden negativen Einkünfte aus Gewerbebetrieb werden wiederum im Wege des vertikalen Verlustausgleichs mit den positiven Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit verrechnet, § 2 Abs. 2, 3 EStG. Ein eventuell verbleibender Verlust wird mit den positiven Einkünften des Ehemannes bei der Zusammenveranlagung nach § 26b EStG verrechnet.

22 So ursprünglich BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17, juris Rz. 18 ff. 23 Siehe dazu grundlegend BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672, juris Rz. 100 ff.

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Fall 7: Die Rente ist sicher | Rz. 60

3. Weitere Aufwendungen und Abzüge Die A hat eigene Kinder. Diese wohnen jedoch nicht mehr zu Hause und sind finanziell unabhängig, sodass davon auszugehen ist, dass für sie der Kinderfreibetrag gem. § 32 Abs. 6 EStG nicht mehr zu gewähren ist.

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III. Tarif und Steuerermäßigungen Bei der Ermittlung des anzuwendenden Tarifs ist für den Veranlagungszeitraum 11 hinsichtlich der Abfindungszahlung die Sonderregelung des § 34 Abs. 1 EStG zu beachten, wonach die sog. Fünftelregelung auf außerordentliche Einkünfte, worunter die Abfindung als einmalige, zusammengeballte Zahlung i.S.d. § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG i.V.m. § 24 Nr. 1 Buchst. b EStG fällt, Anwendung findet.

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Zudem besteht für A in beiden Veranlagungszeiträumen die Möglichkeit, sich gem. §§ 26 Abs. 1 EStG, 26b EStG mit ihrem Ehemann B zusammenveranlagen zu lassen.

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Zuletzt ist die Steuerermäßigung des § 35 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Anrechnung der Gewerbesteuer auf den auf die gewerblichen Einkünfte entfallende Einkommensteuer zu bedenken. Mangels positiver gewerblicher Einkünfte der A wird sich diese Regelung allerdings in den Jahren 10 und 11 nicht auswirken.

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Alternative Lösung: Sollte man oben zu dem Ergebnis gekommen sein, dass es sich bei der Tätigkeit als Rentenberaterin um eine selbständige i.S.d. § 18 Abs. 1 EStG handelt, ist § 35 EStG mangels Gewerbesteuerpflicht nicht anzusprechen.

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.223 ff.; 8.230 ff.; 8.423 ff.; 8.820 ff. – BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672, juris Rz. 100 ff. – Leisner-Egensperger, FR 2006, 705

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Fall 8: Fußball ist unser Leben Schwerpunkte: – Veranlassungszusammenhang bei Erwerbsaufwendungen – Drittleistungen bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Bearbeitungszeit: 2 Std. Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Der in Nordrhein-Westfalen wohnhafte A betreibt als e.K. erfolgreich ein Einzelunternehmen im Bereich der Automobilzulieferindustrie. Im Jahr 01 betrug der Bilanzgewinn des Unternehmens 4.000.000 Euro. A fühlt sich seinem deutschen Standort regional sehr verbunden und unterstützt örtliche Kultur- und Sportvereine auf unterschiedliche Art und Weise. Besonders am Herzen liegt ihm der hiesige Fußballverein (FC), der in der Regionalliga spielt. Umso mehr frustriert ihn der seit Jahren anhaltende Negativtrend des Vereins. Um den wenigen guten Spielern einen Anreiz zu verschaffen, dem FC treu zu bleiben, ermöglicht er im Rahmen eines „Sponsoring“ zwei besonders wertvollen Spielern, B und C, eine „duale Aus- und Fortbildung“. A zahlte an beide im Jahr 01 jeweils 50.000 Euro brutto (jeweils gebucht als „Personalaufwand“). B und C werden von A zu allen Trainings- und Spieleinheiten nach den Bedürfnissen des FC und dessen sportlicher Leitung freigestellt. B, der bereits zuvor eine Ausbildung als Industriekaufmann abgeschlossen hat, bringt sich im Übrigen in die betrieblichen Abläufe mit großem Engagement ein und wird von A mittel- und langfristig als eine potenzielle Führungskraft seines Unternehmens eingestuft. Dagegen erscheint C, der über keine verwertbare Berufsausbildung verfügt, nur sporadisch und verrichtet – wenn überhaupt – einfache Tätigkeiten. A nimmt dies mit Rücksicht auf dessen fußballerische Fähigkeiten hin. B und C erhielten im Jahr 01 außerdem vom FC ein Grundgehalt von jeweils 30.000 Euro p.a. zzgl. erfolgsabhängiger Einsatz- und Punkteprämien (in 01 für B 10.000 Euro und für C 12.000 Euro). Aufgabe: Wie sind die vorgenannten steuerlichen Sachverhalte einkommensteuerrechtlich bei A, B und C zu behandeln? Bearbeitungshinweis: Auf lohnsteuerrechtliche Fragen ist nicht einzugehen.

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Rz. 2 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Eine Besonderheit dieses Falls liegt darin, dass Leistungsbeziehungen auf beiden Seiten – beim Leistenden und beim Leistungsempfänger – einkommensteuerlich zu würdigen sind. Hierdurch zeigt sich in der Falllösung, ob die Bearb. sich der Wechselwirkung von Einordnungen auf beiden Seiten bewusst sind.

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Der A zahlt B und C im Jahr 01 einen Betrag von jeweils 50.000 Euro. B und C werden in diesem Zeitraum jeweils in gewissem Maße im Unternehmen des A tätig. Insofern stellt sich bei A die Frage, ob er die Zahlungen im Rahmen seiner unternehmerischen Einkünfte als Betriebsausgaben geltend machen kann, während es bei B und C zu beurteilen gilt, ob die Zahlungen steuerpflichtige Einkünfte darstellen.

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Die Qualifikation der Zahlungen beim A als Lohnzahlungen führt zu einer korrespondierenden Beurteilung auf der Seite des betroffenen Empfängers. D.h. werden die Zahlungen an B und C übereinstimmend bei A als Personalkosten und mithin Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG beurteilt, geht damit einher, dass die Zahlungen des A bei B und C als Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit für das Unternehmen des A zu beurteilen sind. Dieser Zusammenhang ergibt sich daraus, dass für beide Aspekte maßgeblich ist, ob der Leistungsempfänger Arbeitnehmer des Leistenden und die Zahlung durch dieses Arbeitsverhältnis veranlasst ist.1

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Man darf aber andererseits nicht dem Trugschluss unterliegen, die Ablehnung von Personalaufwand des A bedeutete automatisch, dass bei den Empfängern keine einkommensteuerpflichtigen Einnahmen vorliegen. Ausgeschlossen ist damit lediglich eine Einordnung als Lohn aus einer nichtselbständigen Tätigkeit für den Leistenden selbst. Die Zahlungen könnten weiterhin einer Einkunftsart oder sogar einer anderen nichtselbständigen Tätigkeit zuzuordnen sein. Als andere Einkunftsart dürfen die sonstigen Einkünfte i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG nicht vergessen werden. Da diese aber ausweislich des Normwortlautes subsidiär gegenüber allen anderen Einkunftsarten sind,2 müssen vorher alle anderen Möglichkeiten geprüft werden.3 Insbesondere sollte bedacht werden, dass die Zahlungen auch als sog. Drittlohn einer nichtselbständigen Tätigkeit für einen anderen Arbeitgeber zuzuordnen sein können, wenn sie durch diese Tätigkeit veranlasst waren. Eine solche Veranlassung durch das individuelle Dienstverhältnis ist laut der Rechtsprechung des BFH zu bejahen, wenn die Einnahmen dem Empfänger mit Rücksicht auf dieses zufließen und sich als Ertrag der nichtselbständigen Arbeit darstellen, sich die Leistung des Arbeitgebers also im weitesten Sinne als Gegenleistung für das Zurverfügungstellen der individuellen Arbeits-

1 Zum Veranlassungszusammenhang beim Arbeitslohn z.B. Eisgruber in Kirchhof/Seer20, § 19 EStG Rz. 62 ff. 2 Zum Konkurrenzverhältnis der Einkunftsarten insgesamt siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.588 ff. 3 Zu den weiteren Voraussetzungen näher z.B. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.542 ff.

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Fall 8: Fußball ist unser Leben | Rz. 7

kraft des Arbeitnehmers erweist.4 Es ist dafür nicht erforderlich, dass der eigentliche Arbeitgeber in irgendeiner Weise an der Leistung beteiligt ist. Sie muss sich für den Arbeitnehmer aber als Frucht seiner Arbeitsleistung darstellen. Für diesen muss also der Zusammenhang zu der nichtselbständigen Tätigkeit erkennbar sein.5 Ein anschauliches Beispiel für Drittlohn sind Trinkgelder. Diese sind als Arbeitslohn einzuordnen, werden aber infolge der Freistellung gem. § 3 Nr. 51 EStG letztlich nicht besteuert. Kommt in einem Fall das Vorliegen von Drittlohn in Betracht, ist es wichtig, den Veranlassungszusammenhang der Zahlung anhand der Sachverhaltsinformationen sorgfältig zu bestimmen. II. Anforderungsprofil Die Aufgabenstellung fordert eine Prüfung der einkommensteuerlichen Behandlung der für A, B und C geschilderten Sachverhalte. Da also nur die Würdigung der Sachverhaltsinformationen erwartet wird, ist keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens gefordert, sondern lediglich eine Begutachtung der geschilderten Vorkommnisse. Mithin sind nur die Prüfungspunkte anzusprechen, auf die die Angaben im Sachverhalt Auswirkungen haben. Einzugehen ist demzufolge bzgl. aller drei Personen auf die subjektive Steuerpflicht, die Ausgangspunkt der weiteren steuerlichen Behandlung in Deutschland ist, die einkommensteuerliche Qualifikation der beschriebenen Zahlungen bzw. Tätigkeiten sowie die Auswirkungen der Sachverhalte auf die Einkünftequantifikation. Zu sonstigen Aufwendungen der Personen, die einkommensteuerlich berücksichtigt werden könnten, trifft der Fall keine Aussage, insofern sind Ausführungen hierzu in der Lösung entbehrlich. Gleiches gilt auch für den Tarif und – infolge des Ausschlusses lohnsteuerlicher Fragen – die Erhebungsform der Steuer.

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Die Problemschwerpunkte des Falls liegen bzgl. A bei der Beurteilung der Zahlungen im Zusammenhang mit der Beschäftigung von B und C und bzgl. B und C jeweils bei der Qualifikation der Zahlungen des A als steuerbare Einkünfte. An diesen Stellen muss der Sachverhalt intensiv ausgewertet werden. Es gilt zu erkennen, dass die unterschiedliche Einbindung von B und C in das Unternehmen des A die Qualifikation als Betriebsausgaben auf Seiten des A und gleichzeitig als Einkünfte auf Seiten von B und C beeinflusst. Die Wechselwirkungen zwischen den Einordnungen sind hier unbedingt zu beachten. Kommt man bei A zu dem Ergebnis, dass eine private Veranlassung der Zahlung und somit keine Betriebsausgabe vorliegt, ist eine Einordnung der Zahlung beim Empfänger als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Unternehmen des A ausgeschlossen. Eine widersprüchliche Lösung in dieser Hinsicht wiegt schwer, weil es den Anschein erweckt, dass die bearbeitende Person den Kausalzusammenhang nicht verstanden hat. Gleichzeitig darf aber auch nicht vorschnell angenommen werden, dass infolge einer Einordnung der Zahlung als Entnahme bei A beim Zahlungsempfänger keine steuerbaren Einkünfte vorliegen. Denkbar ist weiterhin eine einkommensteuerlich relevante Veranlassung.

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4 St. Rspr. des BFH, vgl. BFH v. 10.4.2014 – VI R 62/11, BStBl. II 2015, 191 m.w.N. 5 Ausführlicher dazu mit weiteren Beispielen Eisgruber in Kirchhof/Seer20, § 19 EStG Rz. 68 ff.

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Rz. 8 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

C. Gliederung 8

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Subjektive Steuerpflicht 10 II. Objektive Steuerpflicht 1. Objektive Steuerpflicht des A 12 a) Einkünftequalifikation 13 b) Einkünftequantifikation 14 2. Objektive Steuerpflicht des B 20 a) Einkünftequalifikation 21 aa) Zahlung des A 22 bb) Zahlungen des FC 23 b) Einkünftequantifikation 25 3. Objektive Steuerpflicht des C 26 a) Einkünftequalifikation aa) Zahlungen des FC 27 bb) Zahlungen des A 29 b) Einkünftequantifikation 33

D. Ausformulierte Lösung 9

Zu prüfen ist die einkommensteuerliche Behandlung der Vorkommnisse bei A, B und C. I. Subjektive Steuerpflicht

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Hierfür ist maßgeblich, ob A, B und C im Jahr 01 in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig waren. A hat seinen Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen, sodass er gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 AO unbeschränkt in Deutschland steuerpflichtig ist. Mangels näherer Angaben ist für B und C aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem Fußballverein in Nordrhein-Westfalen und der Tätigkeit im Unternehmen des A davon auszugehen, dass sie ihren Wohnsitz ebenfalls dort haben und somit gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 AO unbeschränkt in Deutschland steuerpflichtig sind.6

6 Zur subjektiven Steuerpflicht insgesamt Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.25 ff.

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Fall 8: Fußball ist unser Leben | Rz. 16 Alternativer Aufbau: Alternativ ist es auch möglich, die Einkommensteuerpflicht für A, B und C komplett getrennt zu prüfen. Da es bei der subjektiven Steuerpflicht zwischen den drei Personen hier aber keinen Unterschied und keine Problemstellungen gibt, bietet es sich an, diesen Punkt für alle zusammen abzuhaken. Das spart Zeit und trägt zu einer gelungenen Schwerpunktsetzung bei.

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II. Objektive Steuerpflicht 1. Objektive Steuerpflicht des A Zu prüfen ist, inwieweit die geschilderten Sachverhalte die objektive Steuerpflicht des A beeinflussen.

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a) Einkünftequalifikation Bei dem Betrieb eines Einzelunternehmens im Bereich Automobilzulieferindustrie handelt es sich um eine gewerbliche Tätigkeit, sodass dieser Tätigkeit zuzuordnende Leistungen als Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG zu qualifizieren sind.

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b) Einkünftequantifikation Davon ausgehend ist zu ermitteln, wie sich die geschilderten Vorkommnisse auf die Einkünftequantifikation auswirken.

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Bei gewerblichen Tätigkeiten entsprechen die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG dem Gewinn. Bei A als bilanzierendem Unternehmer, der als eingetragener Kaufmann gem. §§ 238 ff. HGB, § 140 AO zur Buchführung verpflichtet ist, ermittelt sich der Gewinn gem. §§ 5 Abs. 1; 4 Abs. 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich.

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Fraglich ist insoweit, ob die an B und C geleisteten Zahlungen von je 50.000 Euro, die A als Personalaufwand gebucht hat, tatsächlich berücksichtigungsfähige Betriebsausgaben darstellen oder als Entnahme zu betriebsfremden Zwecken gewertet werden müssen. In letzterem Fall wären sie dem Gewinn gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG (außerbilanziell) hinzuzurechnen. Betriebsausgaben sind gem. § 4 Abs. 4 EStG Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. B und C werden beide im Betrieb des A tätig, sodass man die Zahlung als Gegenleistung für Ihre Tätigkeit und somit betrieblich veranlasste Personalkosten qualifizieren könnte. Allerdings gestaltet sich ihre Arbeit sehr unterschiedlich. Obwohl der B sich deutlich stärker einbringt und der A für ihn eine Zukunft im Unternehmen sieht, während der C nur wenige simple Aufgaben übernimmt, erhalten beide denselben Geldbetrag. Insofern ist die Veranlassung der Zahlung durch ihre Arbeit für das Unternehmen zweifelhaft. Hinzu kommt, dass A selbst die Zahlungen als „Sponsoring“ bezeichnet, ohne dass ein damit verbundener Werbezweck für sein Unternehmen erkennbar ist, und sein Hauptansinnen hinter der Maßnahme war, die beiden Spieler dauerhaft beim FC zu halten. Daraus könnte zu schließen sein, dass die Zahlungen privat veranlasst sind. Bzgl. B ist aber zu be-

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Rz. 16 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

achten, dass dessen Arbeit für das Unternehmen einen echten Mehrwert bedeutet und der A ihn gern dauerhaft beschäftigen und zukünftig sogar befördern möchte. Es ist also anzunehmen, dass mittlerweile ein signifikantes betriebliches Interesse daran besteht, B durch die Zahlung an den Betrieb zu binden. Dieses dürfte aufgrund der wertvollen Arbeitsleistung die ursprünglich privaten Motive deutlich überlagern. Dass er für Spiele und Trainingseinheiten freigestellt wird und damit anders als andere Arbeitnehmer behandelt wird, schließt dieses betriebliche Interesse nicht aus. Individuelle Vereinbarungen mit einzelnen Arbeitnehmern, bei denen besondere Umstände berücksichtigt werden, sind nicht unüblich. Das Interesse an der Arbeitskraft des B bleibt bestehen und ist wesentlich für seine Bezahlung. Insofern sind jedenfalls die Zahlungen an B zutreffend als Personalaufwand verbucht worden und keine Entnahme. 17

Alternative Lösung: Es wäre hier ebenso vertretbar, unter Hinweis auf die Freistellung für Trainingseinheiten und Spiele während der Arbeitszeit einen Anteil des Gehalts des B als Entnahme zu qualifizieren. Die Höhe der Entnahme wäre dann gem. § 162 AO zu schätzen. Dafür könnte ermittelt werden, welches Gehalt einem ausgebildeten Industriekaufmann für die von B tatsächlich erbrachte Arbeitszeit nach fremdüblichen Maßstäben zu zahlen wäre. Liegt diese Summe unter den dem B gezahlten 50.000 Euro, so könnte die Differenz als Wert der Entnahme zugrunde gelegt werden.

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Bzgl. C könnte dies anders zu bewerten sein. Er bringt sich im Unternehmen kaum ein und verrichtet nur einfache Arbeiten. Insofern ist er für den Betriebsablauf wenig bedeutend. Auch ist nicht ersichtlich, dass er eine Zukunft im Unternehmen haben könnte. Vor diesem Hintergrund scheint die private Motivation des A deutlich zu überwiegen und eine betriebliche Veranlassung vernachlässigenswert, sodass die Zahlung an C keine Betriebsausgabe darstellt. Die 50.000 Euro für C sind somit zu betriebsfremden Zwecken entnommen worden und müssen dem bilanziellen Gewinn als Entnahme hinzugerechnet werden, § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 EStG.

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Alternative Lösung: Spiegelbildlich zur Situation bei B könnte man für C auch zu dem Ergebnis kommen, dass für die geringen Arbeitsleitungen anteilig eine Betriebsausgabe anzunehmen ist. Die Höhe wäre auch hier gem. § 162 AO zu schätzen. Hierfür kann für die tatsächliche Arbeitszeit des C der gesetzliche Mindestlohn angesetzt werden.

2. Objektive Steuerpflicht des B 20

Zu prüfen ist weitergehend, inwieweit die geschilderten Vorkommnisse die objektive Steuerpflicht des B beeinflussen. a) Einkünftequalifikation

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Für ihn könnte es sich bei den Zahlungen, die er vom FC sowie von A erhält, um steuerbare Einnahmen handelt. Dafür müsste seine Tätigkeit bei A zunächst den Tatbestand einer Einkunftsart erfüllen. 126

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Fall 8: Fußball ist unser Leben | Rz. 23

aa) Zahlung des A Bei der Zahlung des A könnte es sich um Einnahmen bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Unternehmen des A handeln, also gem. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG um Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Ein solches Dienstverhältnis liegt vor, wenn der Beschäftigte dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet. Dies ist der Fall, wenn die Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist.7 Wer Arbeitnehmer ist, ist – in Abgrenzung zum Unternehmer – unter Beachtung dieser Vorgaben nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen.8 B ist im Unternehmen des A als Industriekaufmann tätig. Er unterliegt dabei den Weisungen des A und ist in die Abläufe des Unternehmens fest eingegliedert, was für eine Einordnung als Arbeitnehmer spricht. Zudem könnte die Zahlung als arbeitnehmertypisches festes Gehalt einzuordnen sein. Dafür wäre erforderlich, dass sie durch die Tätigkeit des B für das Unternehmen veranlasst ist. Zwar war ursprünglicher Anlass der Zahlung nicht vorrangig die Arbeitsleistung des B, sondern das Ziel, ihn örtlich zu binden. Allerdings ist die Zahlung Teil eines Ausbildungs- und Fortbildungsangebots und steht somit in einem gewissen Zusammenhang mit dem Unternehmen des A und seiner dortigen Tätigkeit. Wie bereits zuvor bzgl. A erläutert, wird der private Zweck der Förderung des FC zudem inzwischen durch das Ziel überlagert, den B im Unternehmen zu halten. Damit liegt ein hinreichender Zusammenhang zur Tätigkeit des B im Unternehmen vor. Das Gesamtbild seiner Tätigkeit spricht für eine nichtselbständige Tätigkeit im Unternehmen des A, der die Zahlung durch A zuzuordnen ist, sodass hierin Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG zu sehen sind.

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bb) Zahlungen des FC Das vom FC gezahlte Grundgehalt sowie die erfolgsabhängigen Prämien könnten einer nichtselbständigen Tätigkeit des B beim FC zuzuordnen und so als Bestandteil der Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG zu qualifizieren sein. Beim FC erhält er ein erfolgsunabhängiges Gehalt und ist hinsichtlich seiner Verpflichtung zur Teilnahme an Training, Spielen etc. weisungsabhängig. Durch die erfolgsabhängige Prämie, die mehr als 30 % seines Grundgehalts beträgt, wird ihm zwar ein gewisses finanzielles Risiko auferlegt. Solche Leistungsanreize sind aber auch bei Arbeitnehmern nicht unüblich. Die Gesamtumstände entsprechen vielmehr dem Bild des typischen Arbeitnehmers, sodass auch diese Tätigkeit als nichtselbständig i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG zu qualifizieren ist. Das vom FC gezahlte Grundgehalt und die Prämien sind unmittelbar durch seine Arbeitsleistung als Fußballer veranlasst und somit den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit beim FC zuzuordnen.

7 § 1 Abs. 2 LStDV in Übereinstimmung mit der st. Rspr. des BFH, z.B. BFH v. 22.2.2012 – X R 14/10, BStBl. II 2012, 511, juris Rz. 30 f. 8 Vgl. BFH v. 20.4.1988 – X R 40/81, BStBl. II 1988, 804 m.w.N.

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Rz. 24 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Hinweis: Der Hinweis im Sachverhalt auf die erfolgsabhängige Prämie verlangt danach, diese im Rahmen der Einkünftequalifikation anzusprechen. Da die Gesamtumstände aber ansonsten eine deutliche Sprache sprechen, sollten diese Erwägungen, auch aus Zeitgründen, nicht ausarten. Hier ist eine geschickte Schwerpunktsetzung gefragt.

b) Einkünftequantifikation 25

Bei nichtselbständigen Tätigkeiten wie denen des B sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist.9 Diesbezüglich könnten für B die Zahlungen durch das Unternehmen des A und den FC als Einnahmen i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG zu berücksichtigen sein. Wie bereits bei der Einkünftequalifikation erläutert, sind die Zahlungen jeweils durch die nichtselbständige Tätigkeit des B beim FC bzw. im Unternehmen des A veranlasst und ihm somit im Rahmen einer Einkunftsart zugeflossen. Als Zufluss in Geld sind sie mit ihrem Nominalwert10 zu berücksichtigen. Der B hat somit aus seiner nichtselbständigen Tätigkeit beim FC Einnahmen i.H.v. 40.000 Euro und aus seiner nichtselbständigen Tätigkeit im Unternehmen des A Einnahmen i.H.v. 50.000 Euro. Über konkrete Aufwendungen, die B in Bezug auf eine der Tätigkeiten getätigt hat, ist nichts bekannt, sodass im Hinblick auf Erwerbsaufwendungen lediglich einmalig der Arbeitnehmerpauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG i.H.v. 1.000 Euro zu berücksichtigen ist. 3. Objektive Steuerpflicht des C

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Zu prüfen ist, inwieweit die geschilderten Vorkommnisse die objektive Steuerpflicht des C beeinflussen. a) Einkünftequalifikation aa) Zahlungen des FC

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Wie schon bei B ist für C beim FC eine weisungsabhängige Tätigkeit in einem Angestelltenverhältnis anzunehmen, sodass eine nichtselbständige Tätigkeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG vorliegt, der jedenfalls das vom FC gezahlte Grundgehalt und die Einsatz- und Punkteprämien zuzuordnen sind.

9 Siehe zur Ermittlung der Überschusseinkünfte näher Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.350 ff. 10 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.56.

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Fall 8: Fußball ist unser Leben | Rz. 31 Hinweis: Die Tätigkeit des C beim FC ist identisch mit der des B. Dass die erfolgsabhängige Prämie eine andere Höhe hat, spielt dabei keine Rolle. Bearb. sollten es hier deshalb bei einem Verweis auf bereits angestellte Erwägungen belassen. Erneute breite Erwägungen würden zu einer falschen Schwerpunktsetzung und Zeitproblemen führen.

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bb) Zahlungen des A Fraglich ist, ob es sich auch bei der Zahlung der 50.000 Euro durch A um steuerbare Einkünfte des C handelt. Hierfür müssten sie den Tatbestand einer Einkunftsart erfüllen. Die Zahlung könnte dabei dem Tätigwerden im Unternehmen des A entstammen und den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zuzuordnen sein. Anders als der B ist C in die Abläufe des Unternehmens allerdings nicht fest eingegliedert. Er erscheint nur sporadisch im Unternehmen und verrichtet dann nur einfache Tätigkeiten. Der A nimmt das hin und macht ihm keinerlei nähere Vorgaben zu seinen Arbeitszeiten und der Ausgestaltung der Arbeit. Die jährliche Zahlung von 50.000 Euro erfolgt völlig unabhängig von einer Arbeitsleistung im Unternehmen und ist nur durch private Motive des A veranlasst. Anders als beim typischen Arbeitnehmer ist sie somit nicht nur erfolgsunabhängig, sondern auch unabhängig vom Erbringen einer Arbeitsleistung. Damit fehlt es gleich an mehreren für Arbeitnehmer typischen Merkmalen, sodass eine nichtselbständige Tätigkeit diesbezüglich nicht angenommen werden kann.

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Alternative Lösung: Wer im Rahmen der Betriebsausgaben des A zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein Teil der Zahlungen an C als Arbeitslohn zu qualifizieren ist, muss diesen Anteil hier konsequent auch als Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit des C für das Unternehmen des A einordnen.

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Die Zahlung könnte aber der nichtselbständigen Tätigkeit des C beim FC zuzuordnen sein. Maßgeblich für die Einordnung einer Zahlung als Arbeitslohn für eine bestimmte nicht selbständige Tätigkeit ist – auch ausweislich des Wortlauts des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG sowie des § 8 Abs. 1 Satz 1 EStG – die Veranlassung durch die jeweilige nichtselbständige Tätigkeit. Daraus folgt, dass unter der Bedingung eines hinreichenden Veranlassungszusammenhanges auch Leistungen von Dritter Seite einem Arbeitsverhältnis zuzurechnen und als Einnahmen aus dieser Tätigkeit einzuordnen sein können. Eine Veranlassung durch das individuelle Dienstverhältnis ist zu bejahen, wenn die Einnahmen dem Empfänger mit Rücksicht auf dieses zufließen und sich als Ertrag der nichtselbständigen Arbeit darstellen, sich die Leistung des Arbeitgebers also im weitesten Sinne als Gegenleistung für das Zurverfügungstellen der individuellen Arbeitskraft des Arbeitnehmers erweist.11 Die Zahlung des A müsste sich demnach als Frucht der Arbeitsleistung für den FC darstellen.12 Der A zahlt dem

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11 St. Rspr. des BFH, vgl. BFH v. 10.4.2014 – VI R 62/11, BStBl. II 2015, 191 m.w.N. 12 Siehe zu Drittleistungen bei nichtselbständiger Arbeit näher Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.474; Eisgruber in Kirchhof/Seer20, § 19 EStG Rz. 68 ff.

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Rz. 31 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

C die 50.000 Euro im Rahmen eines Aus- und Fortbildungsangebots und will damit erreichen, dass der C dem FC infolge der örtlichen Bindung erhalten bleibt. Insofern besteht ein gewisser Zusammenhang zur fußballerischen Tätigkeit des C. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass A die Zahlungen einstellen würde, sobald der C den FC verlässt, denn in diesem Moment wäre die Motivation des A für das Arrangement entfallen. Die fußballerische Tätigkeit des C für den FC bedingt somit die Zahlung des A. Die Zahlungen des A sind dementsprechend als Frucht dieser Arbeitsleistung zu werten und seinen Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit beim FC zuzuordnen. 32

Alternative Lösung: Versteht man den Sachverhalt hinsichtlich der Abhängigkeit der Zahlung des A von der Tätigkeit beim FC anders, ist es mit entsprechenden Ausführungen hierzu auch vertretbar, eine Zurechnung zum Arbeitsverhältnis abzulehnen. Dann wäre es erforderlich zu prüfen, ob es sich um sonstige Einkünfte i.S.d. § 22 Nr. 3 EStG handelt. Dies wäre dann unter Hinweis auf das – nach diesem Sachverhaltsverständnis – fehlende Gegenleistungsverhältnis abzulehnen, sodass es sich nicht um nach dem EStG steuerbare Einkünfte handeln würde. (Dieses Ergebnis bedeutete jedoch keine generelle Steuerfreiheit. Als von einer Gegenleistung unabhängige Zuwendung würden sie als freigebige Zuwendung i.S.d. § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG schenkungsteuerliche Relevanz entfalten. Da sich die Fallfrage aber nur auf die einkommensteuerliche Bewertung richtet, wäre dies im Rahmen des Fallgutachtens nicht zu thematisieren.)

b) Einkünftequantifikation 33

Davon ausgehend ist zu ermitteln, wie sich die geschilderten Vorkommnisse auf die Einkünftequantifikation auswirken.

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Bei nichtselbständigen Tätigkeiten wie der des C sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist. Wie schon bei B, sind die jährlichen Zahlungen des FC auch für C als durch seine Tätigkeit als Fußballer veranlasste Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen, §§ 8 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Mangels anderweitiger Erwerbsaufwendungen ist zudem der Arbeitnehmerpauschbetrag i.H.v. 1.000 Euro gem. § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in Abzug zu bringen.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 35

– Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.25 ff.; 8.206 ff.; 8.470 ff. – Eisgruber in Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl. 2021, § 19 EStG Rz. 68 ff. – Albert, FR 2009, 857

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Fall 9: Social Networking Schwerpunkte: – Abgrenzung nichtselbständige und selbständige Tätigkeit – Aufgedrängte Einnahmen – Bewirtungsaufwendungen und Erstattungen von Arbeitgeberseite Bearbeitungszeit: 2 Std. Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Der in Bochum wohnhafte, kinderlose und unverheiratete A ist studierter Betriebswirt und war bis zum Ende des Jahres 01 im Investmentbanking der B-Bank AG beschäftigt. Seit Dezember 02 ist A für den unabhängigen Vermögensverwalter V in Bochum tätig. Auszug aus dem zwischen V und A geschlossenen Vertrag: § 3 Tätigkeit Der Arbeitnehmer verwaltet und strukturiert das Anlagevermögen („Assets“) der Klienten eigenverantwortlich. § 4 Arbeitszeit Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Stunden. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit richten sich nach der betrieblichen Einteilung. § 5 Arbeitsvergütung Der Arbeitnehmer erhält eine Bruttovergütung von 120.000 Euro pro Kalenderjahr. Soweit zusätzliche Leistungen vom Arbeitgeber gewährt werden, handelt es sich um freiwillige Leistungen. § 6 Krankheit Ist der Arbeitnehmer infolge unverschuldeter Krankheit arbeitsunfähig, so besteht Anspruch auf Fortzahlung der Arbeitsvergütung bis zur Dauer von sechs Wochen.

Noch in der ersten Arbeitswoche teilte V ihm mit, dass das Jahr 02 geschäftlich derart gut verlaufen sei, dass er ausgewählte Mitarbeiter mit einem Skiausflug in die Alpen „belohnen“ wolle. Ihm (V) sei zwar bewusst, dass der A erst vor wenigen Tagen seine Tätigkeit aufgenommen habe, gleichwohl möchte er auch den A herzlich einladen, an diesem Ausflug teilzunehmen, um sich besser kennenzulernen. Die Kosten i.H.v. 1.000 Euro trage selbstverständlich er (V). Obwohl A nicht Skifahren kann und auch nichts von derartigen „Risikosportarten“ hält, willigte er aus Angst vor etwaigen be-

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Rz. 1 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

ruflichen Nachteilen in die Reise ein. Der Ausflug fand wie geplant noch im Jahr 02 statt und wurde von V bezahlt. Entgegen seiner Bedenken überstand A den Ausflug heil und konnte die Reise tatsächlich nutzen, um V persönlich besser kennenlernen zu können. Dieser war es auch, der den A darauf hinwies, dass viele der von A zu betreuenden Klienten im örtlichen Golfclub aktiv seien und es hilfreich wäre, sich dort persönlich bekannt zu machen. Dem folgend entschloss sich A bereits im Januar des Jahres 03 zur Anmeldung beim örtlichen Golfclub. Die Monatsbeiträge i.H.v. 250 Euro wurden von A jeweils zum Monatsende bezahlt. In der Tat sollte sich das Engagement im Golfclub für A auch beruflich auszahlen. A pflegte dort nicht nur den persönlichen Kontakt zu etwaigen Klienten, er lernte darüber hinaus auch den vermögenden Golfprofi B kennen. Um den B als neuen Klienten zu gewinnen, lud A diesen und dessen Ehefrau im Dezember des Jahres 03 zum Essen in ein hochpreisiges italienisches Restaurant ein. Die Rechnung über 300 Euro beglich A im Anschluss an das Essen in bar. V, der von diesem Vorgang erst im Nachhinein erfuhr, erstattete A den Betrag von 300 Euro Anfang Januar des Jahres 04. Aufgabe: Wie ist der Sachverhalt für A einkommensteuerrechtlich zu würdigen?

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Der Fall verlangt von den Bearb. unter anderem die Auseinandersetzung mit der Frage, in welchen Grenzen ein Sachwert, der einem Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber zukommt, noch als Einnahme zu bewerten ist, wenn der Arbeitnehmer sie selbst kaum als Bereicherung empfindet. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 EStG sind als steuerpflichtige Einnahmen auch Zugänge in Geldeswert zu berücksichtigen, wenn diese im Rahmen einer Einkunftsart zugeflossen, also durch diese veranlasst sind. Solche Zugänge in Geldeswert liegen nach der Rechtsprechung vor, wenn es sich um Vorteile handelt, die nach objektiven Merkmalen in Geld ausgedrückt werden können, einen wirtschaftlichen – nicht nur ideellen – Wert besitzen und damit eine objektive Bereicherung für den Empfänger darstellen.1 In Konstellationen wie der des hier geschilderten Sachverhaltes, bei denen der Empfänger den Zugang nicht als Bereicherung empfindet, ist genauer zu prüfen, ob das Merkmal der objektiven Bereicherung möglicherweise fehlt und ob ein hinreichender Veranlassungszusammenhang vorliegt. Hier sind bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit insbesondere zwei Fallgruppen zu beachten: Die aufgedrängte Bereicherung und die Zuwendung im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers.

1 BFH v. 6.10.2004 – X R 36/03, juris Rz. 23 m.w.N.

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Fall 9: Social Networking | Rz. 5

Von einer aufgedrängten Bereicherung in diesem Sinne ist auszugehen, wenn der Vorteil dem Empfänger derart aufgedrängt wird, dass er sich dem nicht entziehen kann, sofern er keine Nachteile in Kauf nehmen will.2 Umgekehrt bedeutet das, es liegt keine aufgedrängte Bereicherung vor, wenn es dem Steuerpflichtigen freisteht, die Zuwendung abzulehnen. Ob diese Möglichkeit bestand, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Es muss also ersichtlich sein, dass dem Arbeitnehmer in seinem Arbeitsverhältnis konkrete Nachteile entstehen würden, wenn er die Zuwendung nicht annehmen würde. Ist eine aufgedrängte Bereicherung zu bejahen, so fehlt es an einer objektiven Bereicherung, der es für die Annahme eines Zugangs in Geldeswert bedarf. Eine steuerpflichtige Einnahme des Arbeitnehmers liegt dann nicht vor.

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Ein überwiegend eigenbetriebliches Interesse des Arbeitgebers ist demgegenüber anzunehmen, wenn der Vorteil sich bei objektiver Würdigung aller Umstände nicht als Entlohnung, sondern lediglich als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen erweist.3 Gleichzeitig darf kein erhebliches Interesse des Arbeitnehmers selbst an der Leistung bestehen; das Interesse des Arbeitgebers muss so stark überwiegen, dass es ein eigenes Interesse des Arbeitnehmers an der Leistung völlig in den Hintergrund treten lässt.4 Es reicht für ein überwiegend eigenbetriebliches Interesse aber nicht schon eine einfache betriebliche Veranlassung der Leistung, es ist vielmehr maßgeblich, dass sie nicht auf dem individuellen Dienstverhältnis zum einzelnen Arbeitnehmer, sondern auf übergeordneten betrieblichen Erwägungen beruht.5 Die Zuwendung darf sich also nicht als Gegenleistung für die individuelle Arbeitsleistung darstellen.6 Dementsprechend sind die Umstände des Einzelfalls sorgfältig daraufhin zu betrachten, welche Interessen auf beiden Seiten an der Zuwendung bestanden und was die ausschlaggebenden Gründe für die Zuwendung an den Steuerpflichtigen sind. Kommt man nach einer Gesamtwürdigung zu dem Ergebnis, dass ein überwiegend betriebliches Interesse anzunehmen ist, dann ist beim Arbeitnehmer keine steuerbare Einnahme gegeben, weil es am nötigen Veranlassungszusammenhang fehlt. Die Zuwendung ist dann eben gerade nicht kausal auf das eigene Arbeitsverhältnis zurückzuführen.

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II. Anforderungsprofil Die Aufgabenstellung fordert eine Prüfung der einkommensteuerlichen Behandlung des Sachverhalts für A. Da also nur die Würdigung der Sachverhaltsinformationen erwartet wird, ist keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens für die angesprochenen Veranlagungszeiträume gefordert, sondern lediglich eine Begutachtung der geschilderten Vorkommnisse. Mithin sind nur die Prüfungspunkte anzu-

2 BFH v. 15.5.1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840, juris Rz. 20. 3 BFH v. 21.11.2018 – VI R 10/17, BStBl. II 2019, 404, juris Rz. 13 f. 4 Z.B. BFH v. 14.11.2013 – VI R 36/12, BStBl. II 2014, 278, juris Rz. 10; v. 10.3.2016 – VI R 58/14, BStBl. II 2016, 621, juris Rz. 17. 5 BFH v. 18.3.1986 – VI R 49/84, BFHE 146, 262 – BStBl. II 1986, 575, juris Rz. 12; Kister in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 EStG Rz. 32. 6 BFH v. 6.10.2004 – X R 36/03, juris Rz. 25 m.w.N.

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Rz. 5 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

sprechen, auf die die Angaben im Sachverhalt Auswirkungen haben. Einzugehen ist demzufolge auf die subjektive Steuerpflicht, die Ausgangspunkt der weiteren steuerlichen Behandlung in Deutschland ist, die einkommensteuerliche Qualifikation der Tätigkeit des A für das Unternehmen des V sowie die Auswirkungen der Sachverhalte auf die Einkünftequantifikation in den einzelnen Jahren. Zu sonstigen Aufwendungen des A, die einkommensteuerlich berücksichtigt werden könnten, trifft der Fall keine Aussage. Insofern sind Ausführungen hierzu in der Lösung entbehrlich. Infolge der Angaben zu den Lebensumständen des A (unverheiratet) können zudem kurze Ausführungen zum Tarif gemacht werden. 6

Der Sachverhalt erstreckt sich über mehrere Veranlagungszeiträume. Um bei der Formulierung des Gutachtens nicht unnötig Zeit zu verlieren, bietet es sich an, Prüfungspunkte, bei denen sich in den Jahren keine Unterschiede ergeben, für alle Zeiträume zusammen zu prüfen. Das betrifft hier die subjektive Steuerpflicht, die Einkünftequalifikation und die Einkünfteermittlungsart.

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Der Fall hat zwei Schwerpunkte, mit denen sich Bearb. jeweils eingehend auseinandersetzen sollten: Zum einen die Qualifikation der Tätigkeit und der damit zusammenhängenden Einkünfte, zum anderen die Einnahmen und Erwerbsaufwendungen des A in den Jahren 02 bis 04.

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Die Frage nach der zutreffenden Einkünftequalifikation ist im Sachverhalt eindeutig angelegt. Insbesondere der Abdruck eines Auszuges aus dem Arbeitsvertrag, der konkrete Hinweise zu den Rechten und Pflichten des A enthält, ist ein klarer Hinweis darauf, dass diesbezüglich eine tiefergehende Auseinandersetzung erwartet wird. Hier ist eine dezidierte Auswertung der Vertragsbestandteile gefragt; eine knappe Abhandlung kann nicht genügen.

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Im Rahmen der Einkünftequantifikation gibt der Sachverhalt drei konkrete Problemstellungen vor, die jeweils im Detail geprüft werden sollen: Die Einordnung der Skireise als steuerpflichtige Einnahme, die Qualifikation der Aufwendungen für die Mitgliedschaft im Golfclub als Werbungskosten sowie die Berücksichtigung der Kosten für das Abendessen als Werbungskosten. Alle drei Aspekte sind im Sachverhalt eindeutig angelegt, sodass von jedem Bearb. erwartet werden kann, sie als Schwerpunkte zu erkennen. In der Prüfung selbst kommt es dann darauf an, dass die Aspekte jeweils strukturiert geprüft werden. Bei den ersten beiden Punkten (Skiurlaub und Golfclub) müssen die Veranlassungszusammenhänge und die jeweiligen Rechtsfolgen klar herausgearbeitet werden. Insbesondere bei der Frage der gemischt veranlassten Aufwendungen handelt es sich um einen „Prüfungsklassiker“, der von Bearb. beherrscht werden muss. Hinsichtlich der Kosten für das Abendessen kann erwartet werden, dass die Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 EStG erkannt wird. Die Erwägungen zu den Auswirkungen und der Steuerpflichtigkeit der Erstattung können hingegen von durchschnittlichen Bearbeitungen nicht erwartet werden.

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Fall 9: Social Networking | Rz. 13

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I.

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Subjektive Steuerpflicht 12

II. Objektive Steuerpflicht 1. Einkünftequalifikation 13 2. Einkünftequantifikation 15 a) Jahr 02 17 b) Jahr 03 24 c) Jahr 04 31 III. Tarif 33

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist die einkommensteuerliche Behandlung der Vorkommnisse bei A.

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I. Subjektive Steuerpflicht Für die einkommensteuerliche Behandlung der Sachverhalte ist maßgeblich, ob A in den fraglichen Zeiträumen in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war. A hat seinen Wohnsitz in Bochum, sodass er gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 AO unbeschränkt in Deutschland steuerpflichtig ist.

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II. Objektive Steuerpflicht 1. Einkünftequalifikation

Fraglich ist, welche Art von Einkünften A aus seiner Tätigkeit für V erzielt. In Betracht kommt hier zum einen eine selbständige Tätigkeit als Vermögensverwalter i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 18 Abs. 1 Nr. 4 EStG, zum anderen eine nichtselbständige Arbeitnehmertätigkeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen diesen Einkunftsarten ist das Merkmal der Selbständigkeit i.S.v. § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG. Ist die Tätigkeit des A als Arbeitnehmertätigkeit für den V einzuordnen, so schließt dies eine selbständige Tätigkeit aus. Als Arbeitnehmer sind Personen anzusehen, die im öffentlichen oder privaten Dienst angestellt oder beschäftigt sind oder waren und die aus diesem oder einem früheren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen. Dies ist der Fall, wenn die Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist.7 Wer Ar7 § 1 Abs. 2 LStDV in Übereinstimmung mit der st. Rspr. des BFH, z.B. BFH v. 22.2.2012 – X R 14/10, BStBl. II 2012, 511, juris Rz. 30 f.

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Rz. 13 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

beitnehmer ist, ist – in Abgrenzung zum Unternehmer – unter Beachtung dieser Vorgaben nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen.8 A verwaltet das Vermögen seiner Kunden eigenverantwortlich und agiert insoweit weisungsunabhängig, was weniger arbeitnehmertypisch ist. Allerdings ist in § 4 des Arbeitsvertrages für den A eine feste wöchentliche Arbeitszeit festgelegt, über deren Einteilung er nicht selbst disponieren kann, sondern die von den Unternehmensabläufen abhängt. Er ist insoweit organisatorisch in den Betrieb des V eingegliedert. Die feste Entgeltvereinbarung in § 5 und die Fortzahlung des Gehalts im Krankheitsfall in § 6 des Vertrages lassen zudem darauf schließen, dass die Bezahlung des A erfolgsunabhängig erfolgt, er dem V also nur seine Arbeitsleistung und keinen konkreten Erfolg bei der Betreuung der Klienten schuldet. All diese Aspekte sind typisch für eine Arbeitnehmertätigkeit.9 Der dem A selbst zukommenden Entscheidungsgewalt sind somit durch die vertraglichen Vorgaben enge Grenzen gesetzt, sodass letztlich kaum von unabhängigen Entscheidungen des A gesprochen werden kann. Infolge der festen Entgeltvereinbarung und der Fortzahlung im Krankheitsfall trägt A auch wirtschaftlich kein nennenswertes unternehmertypisches Risiko. In der Gesamtschau der Tätigkeit des A ist demnach festzustellen, dass A dem geschäftlichen Willen des V untersteht und in dessen Betrieb eingegliederter Arbeitnehmer ist. Im Ergebnis erzielt A Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. 14

Hinweis: Es wäre auch möglich, die Subsumtion vom Unternehmerbegriff statt vom Arbeitnehmerbegriff ausgehend vorzunehmen. Die beiden Typusbegriffe werden spiegelbildlich verstanden, sodass in diesem Fall dieselben Erwägungen anzustellen wären. Die Herangehensweise ist im Wesentlichen Geschmackssache – vor allem, wenn im Ergebnis eine nichtselbständige Tätigkeit vorliegt. Denn in diesem Fall lässt sich vom Merkmal direkt auf die Einkunftsart schließen. Wird hingegen im Ergebnis eine Selbständigkeit bejaht, müssen noch weitere Merkmale geprüft werden. Für alle drei Gewinneinkunftsarten müssen zusätzlich die weiteren in § 15 Abs. 2 EStG aufgeführten Merkmale erfüllt sein (Nachhaltigkeit, Gewinnerzielungsabsicht, Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr). Darüber hinaus muss die Tätigkeit auch über eine bloße Vermögensverwaltung i.S.d. § 14 Satz 3 AO hinausgehen. Liegen diese vor, ist weitergehend zwischen den drei Gewinneinkunftsarten abzugrenzen, wobei die Einkünfte aus Gewerbebetrieb ausweislich des Wortlauts des § 15 Abs. 2 EStG gegenüber Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft und selbständiger Arbeit subsidiär sind.

2. Einkünftequantifikation 15

Davon ausgehend ist zu ermitteln, wie sich die geschilderten Vorkommnisse auf die Einkünftequantifikation in den verschiedenen Veranlagungszeiträumen auswirken.

16

Bei nichtselbständigen Tätigkeiten wie denen des A sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist. 8 Vgl. BFH v. 20.4.1988 – X R 40/81, BStBl. II 1988, 804 m.w.N. 9 Vgl. z.B. BFH v. 22.2.2012 – X R 14/10, BStBl. II 2012, 511, juris Rz. 31.

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Fall 9: Social Networking | Rz. 19

a) Jahr 02 Als Einnahmen sind gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 EStG alle Güter in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen, die dem Steuerpflichtigen im Rahmen einer Überschusseinkunftsart zufließen. Im Jahr 02 gehört dazu in jedem Fall der auf den Monat Dezember entfallende Anteil an der vertraglich vereinbarten und annahmegemäß ausgezahlten Vergütung des A durch V (§§ 11 Abs. 1 Satz 4; 38a Abs. 1 Satz 2 EStG).

17

Überdies könnte dem A durch den Skiurlaub auf Kosten des V eine Einnahme zugeflossen sein. Dafür wäre erforderlich, dass diese Zuwendung des V durch das Arbeitsverhältnis veranlasst war, § 8 Abs. 1 EStG. Der V lädt einige Mitarbeiter zu dem Ausflug ein, um sie für ihre Arbeit zu belohnen. Den A selbst, der zu diesem Zeitpunkt noch nahezu keine Arbeitsleistung erbracht hat, nimmt er mit, um ihn näher kennenzulernen. A wurde nur aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit für den V eingeladen, sodass ein Zusammenhang zu seiner Tätigkeit für den V besteht. Allerdings ist fraglich, ob der V die Zuwendung tatsächlich im Hinblick auf das individuelle Arbeitsverhältnis des A hin vornimmt. Es könnte sich vielmehr auch um eine Zuwendung handeln, die nicht konkret den A als Arbeitnehmer belohnen, sondern dem Betrieb allgemein dienen soll.

18

Erfolgt eine Zuwendung im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers, fehlt es am hinreichenden Veranlassungszusammenhang zum individuellen Dienstverhältnis. Das überwiegende betriebliche Interesse ist anzunehmen, wenn sich die Zuwendung bei objektiver Würdigung aller Umstände als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen darstellt. Gleichzeitig darf kein erhebliches Interesse des Arbeitnehmers selbst an der Leistung bestehen.10 Für ein überwiegend eigenbetriebliches Interesse des V könnte hier sprechen, dass der V die Zuwendung gewährt, um den A besser kennenzulernen, was vor dem Hintergrund seiner Arbeitnehmereigenschaft als betrieblicher Grund einzuordnen ist. Der V hat als Unternehmer ein Interesse daran, seine Arbeitnehmer zu kennen und auch unter den Arbeitnehmern ein gutes Klima zu schaffen. Ein gewisses betriebliches Interesse ist somit gegeben. Hinzu kommt, dass der A dem Skiurlaub selbst eigentlich nichts abgewinnen kann, weil er nicht Skifahren kann und es auch nicht möchte, er empfindet die Reise also im Ausgangspunkt subjektiv nicht als Bereicherung. Allerdings bietet V die Fahrt nur ausgewählten Arbeitnehmern an, um diese zu belohnen. Die Zuwendung knüpft insofern deutlich an die individuellen Dienstverhältnisse an. Zudem besteht für jeden Teilnehmer ein gewisser privater Wert der Reise, der nicht nur im Skifahren, sondern auch in Aspekten wie dem Genuss der landschaftlichen Attraktivität der Alpen und dem geselligen Zusammensein besteht. Dem hat A auch beigewohnt und aus den Gesprächen für sich wertvolle Informationen mitgenommen. Die Gesamtumstände sprechen mithin für eine Veranlassung, die bedeutend durch das individuelle Arbeitsverhältnis geprägt ist, und somit gegen ein überwiegend eigenbetriebliches Interesse.

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10 Z.B. BFH v. 14.11.2013 – VI R 36/12, BStBl. II 2014, 278, juris Rz. 10; v. 10.3.2016 – VI R 58/14, BStBl. II 2016, 621, juris Rz. 17.

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Rz. 20 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Der Urlaub könnte demnach als Einnahme in Geldeswert zu berücksichtigen sein. Eine solche setzt voraus, dass es sich bei der Zuwendung um Vorteile handelt, die nach objektiven Merkmalen in Geld ausgedrückt werden können, einen wirtschaftlichen – nicht nur ideellen – Wert besitzen und damit eine objektive Bereicherung für den Empfänger darstellen.11 Eine Urlaubsreise hat einen wirtschaftlichen Wert, der dem A zukommt. Allerdings könnte es an der objektiven Bereicherung fehlen. Das ist unter anderem der Fall, wenn es sich um eine sog. aufgedrängte Bereicherung handelt, der Vorteil dem Empfänger also derart aufgedrängt wird, dass er sich dem nicht entziehen kann, sofern er keine Nachteile in Kauf nehmen will (sog. aufgedrängte Bereicherung).12 A gibt an, der Fahrt nur aus Angst vor beruflichen Nachteilen zugestimmt zu haben. Allerdings ist zu beachten, dass es dem A objektiv freistand, an der Fahrt (nicht) teilzunehmen. Es handelte sich also nicht um einen betrieblichen Zwang, und die Befürchtungen des A, berufliche Nachteile zu erleiden, finden keinen objektiven Anknüpfungspunkt, sondern sind rein subjektiv. Mithin handelt es sich nicht um eine aufgedrängte Bereicherung, und eine Einnahme in Geldeswert ist anzunehmen.

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Alternative Lösung: Mit entsprechender Begründung wäre es hier auch noch vertretbar, das überwiegend betriebliche Interesse des Arbeitgebers oder eine aufgedrängte Bereicherung anzunehmen und somit eine steuerpflichtige Einnahme des A abzulehnen. Für Ersteres müsste man argumentativ herausstellen, dass es keinen erheblichen Mehrwert für A gab und wie überragend wichtig die Fahrt für allgemeine betriebliche Zwecke war. Für die Annahme einer aufgedrängten Bereicherung bedürfte es einer Identifizierung drohender betrieblicher Nachteile für A, hätte er die Reise abgelehnt – das ist aufgrund der fehlenden Hinweise im Sachverhalt jedoch nur schwer möglich. Die in der Musterlösung für das gegenteilige Ergebnis angeführten Aspekte dürfen jedenfalls nicht einfach ignoriert, sondern müssen entkräftet werden.

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Der für die Quantifikation maßgebliche Wert dieser Einnahme ist gem. § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG zu bestimmen und richtet sich dementsprechend nach dem Marktpreis am Abgabeort. Die Kosten der Reise wurden vom V mit 1.000 Euro beziffert, sodass dieser Wert hier zugrunde zu legen ist. Insgesamt hatte der A im Jahr 02 Einnahmen i.H.v. 11.000 Euro (1/12 von 120.000 Euro + 1.000 Euro).

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Über konkrete Aufwendungen, die A in Bezug auf die Arbeitnehmertätigkeit getätigt hat, ist nichts bekannt, sodass im Hinblick auf Erwerbsaufwendungen lediglich einmalig der Arbeitnehmerpauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG i.H.v. 1.000 Euro zu berücksichtigen ist. b) Jahr 03

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Im Jahr 03 sind als Einnahmen des A aus nichtselbständiger Arbeit i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG lediglich die 120.000 Euro Vergütung durch V zu berücksichtigen. 11 BFH v. 6.10.2004 – X R 36/03, juris Rz. 23 m.w.N. 12 BFH v. 15.5.1992 – VI R 106/88, BStBl. II 1993, 840, juris Rz. 20.

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Fall 9: Social Networking | Rz. 26

Davon könnten die Aufwendungen für die Mitgliedschaft im Golfclub sowie das Geschäftsessen im Dezember 03 als Werbungskosten in Abzug zu bringen sein. Werbungskosten definieren sich gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG als Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Zwar impliziert der Wortlaut, dass eine Finalität im Hinblick auf die Einnahmenerzielung bestehen müsste. Aus gleichheitsrechtlichen Gründen ist aber ein Gleichlauf mit dem Betriebsausgabenbegriff des § 4 Abs. 4 EStG zu fordern, sodass die Kausalität in Form der Veranlassung durch die erwirtschaftende Tätigkeit ausreicht.13 Dafür muss ein objektiver Zusammenhang mit dem Beruf bestehen und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung des Berufs – nicht jedoch gerade der Einnahmenerzielung – getätigt worden sein.14

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Hinsichtlich der Mitgliedsbeiträge für den Golfclub erscheint fraglich, ob die erforderliche berufliche Veranlassung der Aufwendungen gegeben ist. Sie könnten vielmehr als Aufwendungen der privaten Lebensführung des A einzuordnen sein und als solche dem Abzugsverbot des § 12 Nr. 1 EStG unterfallen. Letzteres Abzugsverbot gilt gem. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG auch dann, wenn die Aufwendungen auch den Beruf fördern. Maßgeblich ist allein die eigentliche Veranlassung der Aufwendungen.15 Die sportliche Betätigung, der A im Golfclub nachgeht, ist grundsätzlich als privates Vergnügen zu qualifizieren. In der Freizeit einer Sportart nachzugehen und für diese Aufwendungen zu tätigen, ist insofern regelmäßig dem privaten Lebensbereich zuzuordnen. Allerdings will A die Mitgliedschaft im Club vor allem nutzen, um dort Kontakte zu neuen Klienten zu knüpfen, was ihm im Jahr 03 auch bereits gelungen ist. Hierzu wurde ihm explizit von seinem weisungsbefugten Arbeitgeber geraten. Insofern liegt neben dem weiterhin bestehenden Grund der privaten Ertüchtigung auch eine berufliche Veranlassung vor, sodass die Mitgliedsbeiträge als gemischt veranlasste Aufwendungen zu qualifizieren sind, für die keiner der Veranlassungsbeiträge von völlig untergeordneter Bedeutung ist. Dementsprechend könnte sich eine nach Veranlassungsteilen ermittelte nur anteilige Berücksichtigung der Kosten ergeben. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG ist diesbezüglich nicht so zu verstehen, dass er einer Aufteilung nach objektiven Maßstäben entgegenstehen würde.16 Er bezieht sich nach seinem Wortlaut („dazu gehören“) erkennbar nur auf Aufwendungen nach Satz 1, also solche, die ihrer Natur nach privat veranlasst sind und (zufällig bzw. nebenbei) auch den Beruf fördern. Gemeint sind also gerade nicht Aufwendungen, die zu wesentlichen Teilen originär betrieblich veranlasst sind. Indem eine Aufteilung vorgenommen wird, wird auch der Gefahr begegnet, dass Steuerpflichtige Aufwendungen der privaten Lebensführung in den einkommensteuerlich relevanten Bereich verlagern könnten, sodass die Steuergerechtigkeit der Aufteilung nicht nur nicht entgegensteht, sondern sie sogar gebietet.17 Ein anteiliger Abzug ist vor diesem Hintergrund also nur ausgeschlossen, wenn die Veranlassungsbeiträge so eng ineinandergreifen, dass eine Trennung anhand eines sachgerechten, objektiven Aufteilungsmaßstabs nicht möglich ist. Bei der Mitgliedschaft des A im Golfclub lässt sich jedoch nicht objektiv

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13 14 15 16 17

Vgl. Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.358. Z.B. BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75. Seiler in Kirchhof/Seer20, § 12 EStG Rz. 1. So ursprünglich BFH v. 19.10.1970 – GrS 2/70, BStBl. II 1971, 17, juris Rz. 18 ff. Siehe dazu grundlegend BFH v. 21.9.2009 – GrS 1/06, BStBl. II 2010, 672, juris Rz. 100 ff.

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Rz. 26 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

ermitteln, zu welchen Anteilen diese dem privaten Vergnügen und zu welchen der beruflichen Tätigkeit dient. Die Veranlassungsbeiträge greifen untrennbar ineinander. Insofern fehlt es an einem objektiven Aufteilungsmaßstab, sodass das Aufteilungsgebot keine Anwendung finden und die gemischten Aufwendungen infolge ihrer Unteilbarkeit nicht als Werbungskosten berücksichtigt werden können.18 27

Hinsichtlich der Kosten für das Geschäftsessen könnte sich aber etwas anderes ergeben. A lud den B mit seiner Ehefrau hier zum Essen ein, damit diese neue Klienten seines Arbeitgebers V werden und ihr Vermögen durch den bei V angestellten A verwalten lassen. Damit sind das Essen und die damit zusammenhängenden Aufwendungen i.H.v. 300 Euro objektiv durch die Tätigkeit des A veranlasst und sollen nach dem Willen des A dieser auch dienen. Folglich handelt es sich grds. um Werbungskosten i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG. Es könnte allerdings die Abzugsbeschränkung des § 9 Abs. 5 EStG i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG eingreifen. Diese Regelung bestimmt, dass bei einer Bewirtung von Personen aus geschäftlichem Anlass nur 70 % der nach der allgemeinen Verkehrsauffassung angemessenen Aufwendungen berücksichtigt werden dürfen. Eine Bewirtung aus geschäftlichem Anlass ist jedes Bewirten von betriebsfremden Personen zur Anbahnung eines geschäftlichen Kontaktes.19 Hier bewirtet der A mögliche spätere Kunden und damit betriebsfremde Personen, um diese als Kunden zu gewinnen. Die Regelung findet insofern Anwendung. Es sind aber nur dann 70 % der aufgewendeten 300 Euro abzugsfähig, wenn die 300 Euro als angemessene Aufwendungen zu beurteilen wären. Welche Aufwendungen angemessen sind, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach der allgemeinen Verkehrsauffassung zu beurteilen, einzubeziehen sind dabei u.a. die Art des Unternehmens sowie die Stellung des potentiellen Geschäftskunden.20 Der Betrag von 300 Euro erscheint für ein Abendessen für drei Personen durchaus hoch. Allerdings ist der Zweck des Abendessens zu bedenken. Bei den Eheleuten handelt es sich um vermögende Personen, bei denen anzunehmen ist, dass sie einen gewissen Lebensstil unterhalten. A will sie gerade als neue Klienten für die Vermögensverwaltung gewinnen. Hierfür ist es notwendig, für die Eheleute auch durch die Wahl des Lokals eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen und so Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen. Für die vorliegenden Umstände scheint der Gesamtpreis insofern durchaus angemessen. Dementsprechend ergibt sich eine Berücksichtigungsfähigkeit für 210 Euro (70 % von 300 Euro). Für die Berücksichtigung müssen aber die nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 2, 3 EStG geforderten Nachweise vorliegen.

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Es könnte sich aber die nachträgliche Erstattung der Aufwendungen durch den V auf die Berücksichtigung auswirken. Infolge des Zufluss-Abflussprinzips, das sich aus § 11 Abs. 1, 2 EStG ergibt,21 ist die Erstattung im Jahr 03 nicht als Einnahme zu be18 So bzgl. einer Mitgliedschaft im Golfclub auch FG Köln v. 16.6.2011 – 10 K 3761/08, juris Rz. 24 f. 19 Bode in Kirchhof/Seer20, § 4 EStG Rz. 202; Stapperfend in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 4 EStG Rz. 1190. 20 Drüen in Brandis/Heuermann (Stand: August 2021), § 4 EStG Rz. 733; Bode in Kirchhof/ Seer20, § 4 EStG Rz. 203. 21 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.58; Seiler in Kirchhof/Seer20, § 11 EStG Rz. 9 ff.

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Fall 9: Social Networking | Rz. 30

rücksichtigen. Dennoch könnte sie sich hier auswirken, wenn sie zur Anwendung des § 3c EStG führt. Gemäß § 3c Abs. 1 EStG dürfen Ausgaben, die mit steuerfreien Einnahmen im unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, nicht als Werbungskosten abgezogen werden. Die Regelung fordert keinen zeitlichen Zusammenhang, sodass Aufwendungen und Einnahmen auch in verschiedenen Veranlagungszeiträumen anfallen können.22 Ist die spätere Erstattung also als steuerfreie Einnahme zu qualifizieren und ein unmittelbarer Zusammenhang gegeben, wären die Kosten nicht als Werbungskosten zu berücksichtigen. Eine Steuerfreiheit der Erstattung als Einnahme im Jahr 04 könnte sich aus § 3 Nr. 50 Alt. 2 EStG ergeben, der den Auslagenersatz des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer steuerfrei stellt. Dazu müsste es sich bei den Kosten für das Abendessen um Aufwendungen handeln, die der A im ganz überwiegenden Interesse seines Arbeitgebers tätigt, die also nicht zu seiner Bereicherung führen, und die ihm später vom Arbeitgeber ersetzt werden.23 A hat die Aufwendungen für das Essen getätigt, um dadurch neue Klienten für das Unternehmen des V zu gewinnen. Er handelte insofern klar im Interesse des V, der ihn vorher bereits animiert hatte, Kundenakquise zu betreiben. Direkte eigene Vorteile des A sind nicht ersichtlich. Dementsprechend ist die Erstattung als steuerfreier Auslagenersatz einzuordnen. Indem es sich um eine zielgerichtete Erstattung handelt, ist auch der unmittelbare Zusammenhang der Aufwendungen mit den steuerfreien Einnahmen gegeben, sodass die Voraussetzungen des § 3c Abs. 1 EStG vorliegen. Ein Abzug als Werbungskosten ist folglich ausgeschlossen. Hinweis: Indem sich die Erstattung, die erst im Jahr 04 erfolgt, über § 3c Abs. 1 EStG bereits auf die Besteuerung im VZ 03 auswirkt, wird das Prinzip der Abschnittsbesteuerung durchbrochen. Würde man diesem Prinzip folgend die Leistungsfähigkeit immer streng veranlagungszeitraumbezogen ermitteln, wären die Aufwendungen als Werbungskosten im Jahr 03 zu berücksichtigen, denn in diesem Jahr haben sie die Leistungsfähigkeit gemindert; sie wurde erst im nächsten Veranlagungszeitraum durch die Erstattung wieder erhöht. Das Prinzip der Abschnittsbesteuerung wird im Rahmen von § 3c Abs. 1 EStG nach Rspr. des BFH in zulässiger Weise durch das Belastungsprinzip verdrängt, das die Gesamtbelastung in den Vordergrund stellt.24

29

Hinweis: Streng genommen ist die Regelung des § 3 Nr. 50 EStG lediglich deklaratorischer Natur. Auch ohne die explizite Regelung der Steuerfreiheit würde es sich bei der Erstattung nicht um eine steuerpflichtige Einnahme handeln. Zwar besteht ein Veranlassungszusammenhang zu der nichtselbständigen Tätigkeit des A. Allerdings erfolgte die Zuwendung – wie erläutert – im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse des Arbeitgebers. Das schließt die Qualifikation als Arbeitslohn bei A aus.25

30

22 Desens in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 3c EStG Rz. 41. 23 Vgl. BFH v. 28.3.2006 – VI R 24/03, BStBl. II 2006, 473, juris Rz. 15; Valta in Brandis/ Heuermann (Stand: August 2021), § 3 Nr. 50 EStG Rz. 2; von Beckerath in Kirchhof/Seer20, § 3 Nr. 50 EStG Rz. 131. 24 Vgl. BFH v. 20.9.2006 – I R 59/05, BFHE 215, 130, juris Rz. 28. 25 Vgl. Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 3 Nr. 50 EStG Rz. 1.

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Rz. 31 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

c) Jahr 04 31

Wie im Zusammenhang mit den Werbungskosten im Jahr 03 erläutert, stellt die Erstattung durch den V keine steuerpflichtige Einnahme des A dar, sodass im Jahr 04 lediglich die Arbeitsvergütung i.H.v. 120.000 EUR als Einnahme zu beachten ist.

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Über konkrete Aufwendungen, die A in Bezug auf seine Arbeitnehmertätigkeit getätigt hat, ist nichts bekannt, sodass im Hinblick auf die Erwerbsaufwendungen lediglich einmalig der Arbeitnehmerpauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG i.H.v. 1.000 Euro zu berücksichtigen ist. III. Tarif

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A ist unverheiratet und bezieht nur Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sodass er gem. § 25 Abs. 1 EStG einzeln zum Tarif des § 32a Abs. 1 EStG veranlagt wird.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 34

– Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.242 ff.; 8.290 ff.; 8.423 ff.; 8.470 ff. – Albert, FR 2003, 1153

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Fall 10: Das Internet ist Neuland Schwerpunkte: – Abgrenzung selbständige und gewerbliche Tätigkeit – Aufwendungen für häusliches Arbeitszimmer, Arbeitsmittel – Übergang von Sachwertbezügen ins Betriebsvermögen Bearbeitungszeit: 2 Std. Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Der in Berlin wohnhafte P betreibt unter dem Namen „PewPewPew“ seit mehreren Jahren einen Webchannel, auf dem er Videos veröffentlicht, in denen er neueste Videospiele vorstellt. Die Darstellung dabei erfolgt im sog. Bild-im-Bild-Modus d.h., die Zuschauer sehen auf dem Hauptbild den Spielablauf und in einem zweiten kleineren Fenster P selbst, wie er spielt, reagiert und über sein Headset die Spielszenen kommentiert. Sein Channel hat inzwischen mehrere Millionen Abonnenten, die regelmäßig seine Videos ansehen. Aufgrund des großen Erfolges seiner Videos hat P das Aufnehmen dieser im vergangenen Jahr professionalisiert. In seiner 3-Zimmer-Wohnung richtete er sich im Januar des Jahres 01 ein ca. 14 m² großes Zimmer als „Videospielraum“ ein (Anteil der monatlichen Wohnungsmiete: 200 Euro). Hierfür kaufte er einen neuen Computer (Preis: 1.200 Euro brutto). Die Spiele, die er in seinen Beiträgen spielte und damit vorstellte, wurden ihm von den Herstellern kostenfrei zugesendet. Im Jahr 01 waren es insgesamt 40 Spiele, die im Handel jeweils 60 Euro gekostet hätten. 15 dieser Spiele verkaufte er, nachdem er sie getestet und besprochen hatte, noch im selben Jahr zu einem Preis von jeweils 20 Euro weiter. Bzgl. der übrigen Spiele plant er in den nächsten Jahren ebenso vorzugehen. Außerdem begann er, neben den Gaming-Videos regelmäßig Video-Blogs von sich zu veröffentlichen. Diese mehrminütigen Videos nahm er ebenfalls in seinem Videospielraum auf und ließ seine Abonnenten dadurch an seinem Leben teilhaben. Um qualitativ hochwertige Bildaufnahmen zu gewährleisten, investierte er in die Verbesserung der Ausleuchtung des Raumes (300 Euro brutto), eine Kamera (801 Euro brutto) und ein Stativ (90 Euro brutto). Für die Video-Blogs wollte er in dem Raum eine möglichst private Atmosphäre schaffen, damit seine Follower das Gefühl bekommen, wirklich an seinem Privatleben teilzuhaben. Zu diesem Zweck stattete er das Zimmer mit einem Sofa und Regalen aus, die er mit Videospielen, DVDs und Comics sowie Dekorationsgegenständen füllte. Während er das Sofa bereits seit einem Jahr besaß (Neupreis 800 Euro, Zeitwert 600 Euro), schaffte er alle anderen Gegenstände (Regale und Dekoration) neu an. Das Regal kostete 150 Euro brutto, die 143

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Videospiele, DVDs, Comics und sonstige Dekorationsgegenstände insgesamt 600 Euro brutto. Bei der Auswahl orientierte er sich daran, was seiner Einschätzung nach für möglichst große Authentizität sorgen würde. Um das zu gewährleisten, entschied er sich ausschließlich für Dinge, die ihm auch privat gefallen. An die im Videoausschnitt sichtbaren Wände hängte er neben einigen Postern zwei E-Gitarren, die er sich eigens für diesen Zweck zulegte (Kaufpreis je Gitarre 200 Euro brutto). Durch seine große Reichweite wurden diverse Unternehmen auf ihn aufmerksam, die ihm für Werbeeinblendungen in seinen Videos im Jahr 01 insgesamt 200.000 Euro zahlten. Aufgabe: Ermitteln Sie gutachterlich die Summe der Einkünfte des P. Bearbeitungshinweis: Gehen Sie davon aus, dass P nicht bilanziert und hierzu auch nicht verpflichtet ist.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Der Fall verlangt unter anderem, sich mit der Absetzbarkeit von Kosten für einen Arbeitsplatz im privaten Wohnumfeld als Erwerbsaufwendungen auseinanderzusetzen. Kern dessen ist die Prüfung der Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG. Das hier aufgegriffene noch recht junge Berufsbild des Influencers und dessen Besonderheit, dass es wesentlicher Teil der Tätigkeit ist, Follower am (vermeintlich) privaten Leben teilhaben zu lassen, führen dazu, dass kein typischer Schreibtischarbeitsplatz gegeben ist. Ob bzw. inwieweit die Kosten für einen privat eingerichteten Wohnraum, der beruflich genutzt wird, als Erwerbsaufwendungen berücksichtigt werden können, muss unter Einbeziehung der Vorgaben für häusliche Arbeitszimmer sowie deren Regelungshintergründe ermittelt werden.

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Dem objektiven Nettoprinzip entsprechend müssten die Kosten für einen rein beruflich genutzten Raum grundsätzlich vollständig als Erwerbsaufwendungen in Abzug zu bringen sein. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG sieht dennoch ein prinzipielles Abzugsverbot der Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer vor, für das die Sätze 2-4 dann gewisse Rückausnahmen vorsehen. Das Abzugsverbot durchbricht somit das objektive Nettoprinzip und führt zu einer Ungleichbehandlung dieser Erwerbsaufwendungen gegenüber anderen uneingeschränkt abzugsfähigen Erwerbsaufwendungen.1 Es liegt in der geltenden Regelung dennoch keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, weil diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Die Rechtfertigung gelingt über Vereinfachungszwecke, die durch die typisierende Regelung erreicht werden. Wesentlicher Grund für eine Typisierung ist, dass eine effektive Kontrolle der tatsächlichen Nutzung eines häuslichen Arbeitszimmers kaum 1 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318, juris Rz. 42.

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möglich ist, weil die Finanzverwaltung hierbei in den privaten Raum eindringen müsste, der durch Art. 13 GG grundrechtlich geschützt ist.2 Art. 13 GG garantiert die Privatheit des Wohnraums. Behörden dürfen nur in besonderen, auf der Grundlage der engen Vorgaben des Art. 13 GG gesetzlich näher bestimmten Situationen gegen den Willen des Bürgers, dessen Wohnräume betreten. Das spiegelt sich für das steuerliche Ermittlungsverfahren z.B. in § 99 Abs. 1 Satz 3 AO wider, der das Betreten von Wohnräumen des Steuerpflichtigen gegen dessen Willen nur zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erlaubt. Die Finanzbehörden können dementsprechend kaum kontrollieren, ob ein Raum tatsächlich zu beruflichen/betrieblichen Zwecken oder (auch) zu privaten Zwecken genutzt wird.3 Gerade weil der Raum im privaten Umfeld liegt, ist eine (anteilige) private Nutzung durchaus wahrscheinlich. Der volle Abzug der Kosten wäre aber nur zutreffend, wenn der Raum nahezu ausschließlich betrieblich/beruflich genutzt wird. Dem trägt die Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG in realitätsgerecht typisierender Weise Rechnung:4 Grundsätzlich gilt ein Abzugsverbot. Das greift aber gem. Satz 2 nicht mehr, wenn dem Steuerpflichtigen kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Denn in dieser Situation nutzt der Steuerpflichtige den privaten Raum mangels Alternative unzweifelhaft zu betrieblichen/beruflichen Zwecken. Für diese Situationen sollen die typischerweise entstehenden Kosten abzugsfähig sein, die der Gesetzgeber mit 1250 Euro bemisst. Damit sollen die üblichen Kosten für ein Zimmer in der Größe von 12 bis 14 qm abgedeckt werden.5 Wenn der Steuerpflichtige allerdings eine Tätigkeit ausübt, die hauptsächlich am Schreibtisch vorzunehmen ist, und er keinen anderen Arbeitsplatz hat, fällt auch diese Begrenzung weg. Dann ist ein vollständiger Abzug möglich. Die Gedanken der Rückausnahmen, die einen Abzug ermöglichen, tragen allerdings nur, wenn es sich um einen Raum handelt, der die Annahmen der (überwiegend) betrieblichen/beruflichen Nutzung zulässt. Das ist z.B. bei einem kombinierten Wohn- und Arbeitsraum eindeutig nicht der Fall. Auf solche Räume finden die Rückausnahmen des Abzugsverbot deshalb keine Anwendung, sie fallen nach der Rechtsprechung des BFH nicht unter den Begriff des „häuslichen Arbeitszimmers“. Damit also nur solche Räume erfasst werden, auf die der typisierende Gedanke passt, versteht der BFH unter einem häuslichen Arbeitszimmer einen Raum, der seiner Ausstattung nach der Erzielung von Einnahmen dient und ausschließlich oder nahezu ausschließlich zur Erzielung von Einkünften genutzt wird. Er ist seiner Lage, Funktion und Ausstattung nach in die häusliche Sphäre des Steuerpflichtigen eingebunden 2 Ausführlicher dazu z.B. Spilker in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Stand: Juni 2021), § 4 EStG Rz. Lb 7. 3 Wobei die Nichterweislichkeit der rein beruflichen Nutzung infolge der Beweislastverteilung bei steuermindernden Tatsachen effektiv zu Lasten des Bürgers geht. 4 Siehe dazu BVerfG v. 7.12.1999 – 2 BvR 301/98, BStBl. II 2000, 162 und v. 6.6.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318. 5 BT-Drucks. 17/3549, S. 15. Ob der auf der Datenlage vom Jahr 2008 angenommene Betrag einer bundeseinheitlichen Durchschnittsmiete von 6,50 Euro pro qm auch heute noch passt, kann durchaus bezweifelt werden. Eine Überprüfung und entsprechende Anpassung des Betrages erscheint angebracht.

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und dient vorwiegend der Erledigung gedanklicher, schriftlicher, verwaltungstechnischer oder -organisatorischer Arbeiten.6 5

Fällt ein häuslicher Arbeitsplatz nicht unter diese Definition, muss man sich fragen, wie mit ihm zu verfahren ist. Man könnte davon ausgehen, dass § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG insgesamt keine Anwendung findet, weil gerade kein häusliches Arbeitszimmer vorliegt. Das würde dann bedeuten, dass bei einem Arbeitsplatz in einem Wohnraum ein vollständiger Abzug möglich wäre. Bedenkt man die geschilderten Gründe für das Abzugsverbot und dessen Rückausnahmen, wäre das aber widersinnig, denn in solchen Situationen liegt die auch private Nutzung auf der Hand. Dementsprechend nimmt der BFH hierfür ein uneingeschränktes Abzugsverbot an.7

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Für Räume, die dem Arbeitszimmerbegriff aber z.B. nur nicht entsprechen, weil sie nicht für Schreibtischtätigkeiten eingerichtet sind, muss die Bewertung jedoch ggf. anders ausfallen; so z.B. für ein Tonstudio bei einem Musiker oder ein Fotostudio bei einem Fotografen. In diesen Situationen schließt schon die klar auf den Beruf ausgerichtete Einrichtung eine private Nutzung nahezu vollständig aus. Folgerichtig bedarf es keiner Einschränkung des Abzugs. Auf solche betriebsstättenähnlichen Räume kann § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG also keine Anwendung finden, ein Abzug ist vielmehr uneingeschränkt zu gewähren.8

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Die Abzugsbeschränkung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG lässt sich nur zutreffend anwenden, wenn man diesen Regelungshintergrund verstanden hat. In dieses Gefüge muss im vorliegenden Fall das Zimmer des P eingeordnet werden – eine absolut richtige oder falsche Antwort gibt es hier nicht. Die Leistung liegt darin, zu beurteilen, ob die hinter dem Abzugsverbot stehenden Erwägungen hier ebenfalls greifen. II. Anforderungsprofil

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Die Aufgabenstellung fordert die Ermittlung der Summe der Einkünfte des P. Es ist dementsprechend keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens vorzunehmen. Ausführungen zu möglichen Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen, sonstigen Abzügen sowie dem Tarif erübrigen sich folglich. Die Prüfung dieser Aspekte wäre angesichts der klaren Aufgabenstellung nicht nur überflüssig, sondern sogar falsch.

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Die Problemstellungen des Falles sind so gestaltet, dass in nahezu allen Punkten mit entsprechender Argumentation verschiedene Lösungen gut vertretbar sind. Bearb. sollen im Rahmen der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten zeigen, dass sie die zugrundeliegenden Prinzipien verstanden haben und argumentativ umsetzen kön6 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408 = BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 62 f. m.w.N. 7 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408 = BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 61 ff. 8 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BFHE 251, 408 = BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 65; von der Rspr. z.B. angenommen bei Warenlager (BFH v. 22.11.2006 – X R 1/05, BFHE 216, 110 = BStBl. II 2007, 304), Notarztpraxis (BFH v. 5.12.2002 – IV R 7/01, BFHE 201 = 166, BStBl. II 2003, 463), Tonstudio (BFH v. 16.10.2002 – XI R 89/00, BFHE 201, 27 = BStBl. II 2003, 185).

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nen. Herausfordernd ist, dass die Prüfungsschwerpunkte nicht auf den ersten Blick im Sachverhalt erkennbar sind; bei systematischer gutachterlicher Prüfung sind sie im Rahmen der Subsumtion aber nicht zu verfehlen. Der erste Klausurschwerpunkt liegt bei der Einkünftequalifikation. Hier müssen Bearb. sich mit zwei Aspekten auseinandersetzen. Zu klären ist, ob die verschiedenen Tätigkeiten, denen der P nachgeht (Videospielbesprechungen, Video-Blogs, Schalten von Werbung), einkommensteuerlich als eine einheitliche Tätigkeit oder jeder Teil für sich zu beurteilen ist. Hiervon ausgehend muss die Zuordnung zur Einkunftsart erfolgen. Dabei kommt es vor allem darauf an, präzise zu prüfen, ob eine der Varianten des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG zur Einordnung als freiberufliche Tätigkeit einschlägig ist.

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Im Rahmen der Einkünftequantifikation ist es wichtig, die zahlreichen im Sachverhalt beschriebenen Aspekte strukturiert abzuarbeiten und dabei richtige Schwerpunkte zu setzen. Mangels besonderer Problemstellungen kann und sollte die Prüfung der Betriebseinnahmen dabei knappgehalten werden, damit ausreichend Zeit für die problematischeren Aspekte bei den Betriebsausgaben verbleibt. Einer ausführlichen Prüfung bedarf dabei vor allem die Absetzbarkeit der auf das Videospielzimmer entfallenden Mietkosten und der Raumausstattung. Hier wird von Bearb. eine systematische Prüfung der Voraussetzungen der Abzugsbeschränkung für häusliche Arbeitszimmer (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG) gefordert.

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Hinsichtlich der weiteren Betriebsausgaben sollen Bearb. zeigen, dass sie die Bewertungs- und AfA-Regelungen der §§ 6 und 7 EStG kennen und zielgerichtet anwenden können. Die vielen Einzelwerte zu den Anschaffungskosten im Sachverhalt verdeutlichen, dass eine einzelne Betrachtung jedes Postens erforderlich ist.

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Die Behandlung des Übergangs von Sachwertbezügen ins Betriebsvermögen, die hinsichtlich der Videospiele relevant wird, ist ein Sonderproblem, bzgl. dessen keine Detailkenntnisse von Bearb. gefordert werden können. Das im Lösungsvorschlag geschilderte Vorgehen entspricht der – nicht unumstrittenen – Rechtsprechung des BFH. Die richtige Einordnung dieses Aspekts kann nur von überdurchschnittlichen Bearb. erwartet werden. Diesen sollte auffallen, dass der Sachwert der Videospiele bei den Betriebseinnahmen doppelt (zum einen als geldwerter Vorteil durch die kostenfreie Überlassung und zum anderen durch den Veräußerungserlös) berücksichtigt wird und es dementsprechend einer Korrektur bedarf. Hiermit sollten Bearb. sich zumindest kurz auseinandersetzen und eine sachlich begründete Lösung finden, die die doppelte Berücksichtigung verhindert.

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C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Subjektive Steuerpflicht 16 II. Objektive Steuerpflicht 147

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1. Einkünftequalifikation 17 2. Einkünftequantifikation 22 a) Betriebseinnahmen 24 aa) Werbegelder 25 bb) Kostenlose Videospiele 26 cc) Veräußerungserlös Videospiele 27 dd) Ergebnis zu den Betriebseinnahmen 28 b) Betriebsausgaben 29 aa) Miete für Videospielraum 30 bb) Einrichtungsgegenstände für den Videospielraum 32 cc) Arbeitsplatz-Pauschale 34 dd) Aufnahme-Equipment 36 ee) Anschaffungskosten der Videospiele 40 ff)Ergebnis zu den Betriebsausgaben 42 c) Ergebnis zur Einkünftequantifikation 43

D. Ausformulierte Lösung 15

Zu prüfen ist die Summe der Einkünfte des P. I. Subjektive Steuerpflicht

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Hierfür ist maßgeblich, ob P im fraglichen Zeitraum in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war. P hat seinen Wohnsitz in Berlin, sodass er gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 8 AO unbeschränkt in Deutschland steuerpflichtig ist. II. Objektive Steuerpflicht 1. Einkünftequalifikation

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Fraglich ist, welcher Einkunftsart seine beschriebenen Tätigkeiten zuzuordnen sind. P betreibt vorliegend einen Webchannel und einen Video-Blog und stellt im Zusammenhang mit beiden Tätigkeiten Werbeflächen zur Verfügung. Ob diese Elemente und die jeweils aus ihnen resultierenden Einkünfte einzeln zu qualifizieren sind oder ob sie als eine Tätigkeit zu werten sind, hängt von der Nähe der Tätigkeiten zueinander ab. Sind sie sachlich so eng miteinander verknüpft, dass eine objektive Aufteilung und Zuteilung der Einkünfte zu einer der Tätigkeiten nicht möglich ist, sind sie zusammen zu betrachten und insgesamt einer Einkunftsart zuzuordnen. Auf seinem Webchannel stellt P Videospiele vor, in seinen Video-Blogs berichtet er seinen Abonnenten von seinem Leben, und in beiden Zusammenhängen schaltet er Werbung, für 148

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die er bezahlt wird. Sein Video-Blog beruht auf dem Erfolg und der Beliebtheit seines Webchannels. Er nutzt das dabei entstehende Interesse an seiner Person. Gleichzeitig generiert er über diese privaten Videos auch wieder neue Abonnenten für seinen Webchannel. Dieser Zusammenhang wird von ihm auch dadurch hergestellt, dass er beide Videoformen in demselben Raum dreht. Aufgrund der Reichweite der beiden Plattformen, die sich gegenseitig bedingen, wird er für Werbepartner interessant und kann Werbeflächen im Rahmen der Videos verkaufen. Die Tätigkeiten hängen also unmittelbar miteinander zusammen und lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen, sodass eine einheitliche Betrachtung vorzunehmen ist. Alternative Lösung: Es ist mit entsprechender Begründung ebenso vertretbar, von einer Trennbarkeit der Tätigkeiten auszugehen. Dann wäre im Folgenden für jede Tätigkeit einzeln zu bestimmen, welcher Einkunftsart sie zuzuordnen ist. Bei der Einkünftequantifikation stellt diese Herangehensweise Bearb. dann aber vor die Herausforderung, dass die Aufwendungen einer der Tätigkeiten zugeordnet werden müssen. Die hierbei entstehenden Abgrenzungsschwierigkeiten sind ein weiteres Indiz dafür, dass eine einheitliche Tätigkeit vorliegt.

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In Betracht kommt hier eine Einordnung als gewerbliche Tätigkeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Nr. 2, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG oder als selbständige Tätigkeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Nr. 3, 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Für beide Einkunftsarten müssen zunächst die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt sein, d.h. P müsste einer selbständigen, nachhaltigen Betätigung, mit der Absicht, Gewinn zu erzielen, nachgehen, die sich als Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr darstellt und über die bloße Vermögensverwaltung (§ 14 Satz 3 AO) hinausgeht. P trägt das wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit allein und trifft alle unternehmerischen Entscheidungen selbst, sodass er Unternehmerrisiko und -initiative aufweist und somit selbständig ist. Er betreibt seinen Webchannel bereits seit mehreren Jahren und will dies offenkundig auch fortsetzen, agiert somit nachhaltig. Die Aufzeichnung der Videos und die damit zusammenhängende (Selbst-)Vermarktung hat er professionalisiert, was darauf schließen lässt, dass er mit Gewinnerzielungsabsicht handelt. Er bietet seine Leistungen am offenen Markt an und beteiligt sich so am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr. Die Tätigkeit ist insgesamt nicht durch den bloßen Einsatz von bestehendem Vermögen, sondern von seinem persönlichen Einsatz und Auftreten geprägt, sodass auch keine reine private Vermögensverwaltung vorliegt. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 1 EStG sind somit erfüllt.

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Eine gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG wäre aber nur dann anzunehmen, wenn P nicht freiberuflich tätig wird (§ 15 Abs. 2 Satz 1 EStG a.E.). Freiberuflichkeit wäre jedenfalls gegeben, wenn seine Tätigkeit einem der Katalogberufe des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zugeordnet werden könnte. Erwägenswert scheint hier eine Zuordnung zum Beruf des Journalisten. Dieser Beruf setzt keine spezielle Ausbildung oder einen bestimmten Hochschul- oder Ausbildungsabschluss voraus, sodass dies einer Einordnung nicht entgegensteht. Für die Tätigkeit von Journalisten ist charakteristisch, dass sie Informationen zu einem bestimmten Themenbereich sammeln, sie für ein Publikum aufbereiten und diesem zugänglich machen.

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Letzteres kann sowohl schriftlich als auch über Bild- oder Tonpräsentationen erfolgen.9 P stellt auf seinem Webchannel Videospiele vor, sammelt also Informationen in diesem Bereich, bereitet sie in den Kommentaren in seinen Videos auf und übermittelt sie seinen Abonnenten. Allerdings ist die Präsentation seiner Person auch wesentlicher Teil seiner Gesamttätigkeit. P will durch die private Atmosphäre seiner Videos und die Berichte aus seinem Leben eine Nähe zu seinem Publikum erzeugen und vermarktet so vor allem seine eigene Person. In der Gesamtschau ist die Spielbesprechung nur ein Baustein. Diese Selbstvermarktung passt nicht zu dem auf Informationsvermittlung gerichteten Beruf des Journalisten, sodass P dieser Berufsgruppe nicht zugeordnet werden kann. Infolge der damit fehlenden inhaltlichen Ähnlichkeit ist seine Betätigung auch kein dem Journalisten „ähnlicher Beruf“ i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. Möglich erscheint einzig noch eine Zuordnung zu den allgemein benannten Tätigkeitsfeldern des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. P könnte mit seinen Videos einer künstlerischen Tätigkeit nachgehen. Nach der Definition der Rechtsprechung erfordert eine künstlerische Tätigkeit eine eigenschöpferische Leistung, in der die individuelle Anschauungsweise und Gestaltungskraft des Steuerpflichtigen zum Ausdruck kommt, und die über eine hinreichende Beherrschung der Technik hinaus eine künstlerische Gestaltungshöhe erreicht.10 P zeichnet selbst Videos auf und schneidet diese, sodass eine eigenschöpferische Tätigkeit vorliegt. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass eine besondere Gestaltungshöhe vorliegt. Vielmehr handelt es sich um schlichte Berichte aus seinem Leben sowie einfache Kommentierungen von Videospielen, deren Gestaltung von Dritten vorgenommen wurde. Der künstlerische Aspekt scheint insgesamt wenig ausgeprägt, sodass auch auf dieser Grundlage eine Freiberuflichkeit abgelehnt werden muss. P erzielt somit gewerbliche Einkünfte nach §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. 21

Alternative Lösung: Es ist mit entsprechender Begründung auch vertretbar, von einer künstlerischen Tätigkeit des P auszugehen und demzufolge eine selbständige Tätigkeit des P zu bejahen. Für die weitere Lösung des Falls ergeben sich aus einer abweichenden Einordnung vorliegend keine Unterschiede. Insbesondere ist eine Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer infolge der engen Aufgabenstellung nicht anzusprechen.

2. Einkünftequantifikation 22

Davon ausgehend ist zu ermitteln, wie sich die geschilderten Vorkommnisse auf die Einkünftequantifikation auswirken.

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Bei gewerblichen Tätigkeiten sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der mangels Buchführungspflicht und freiwilliger Bilanzierung des P gem. § 4 Abs. 3 EStG durch Ermittlung des Überschusses der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben (sog. Einnahmenüberschussrechnung) zu ermitteln ist.

9 Vgl. z.B. BFH v. 16.9.2014 – VIII R 5/12, BStBl. II 2015, 217, juris Rz. 25. 10 BFH v. 2.12.1980 – VIII R 32/75, BStBl. II 1981, 170 m.w.N.

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a) Betriebseinnahmen Als Betriebseinnahmen des P könnten im Jahr 01 die Zahlungen für Werbeeinblendungen, die kostenlos überlassenen Videospiele, sowie der Erlös aus dem Verkauf der Videos zu berücksichtigen sein. Dabei ist in analoger Anwendung von § 8 Abs. 1 EStG bzw. aus dem Umkehrschluss zu § 4 Abs. 4 EStG maßgebend, ob die Einnahmen durch die Tätigkeit veranlasst sind.

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aa) Werbegelder

Für Werbeeinblendungen in seinen Videos hat P von den werbenden Unternehmen im Jahr 01 Zahlungen i.H.v. insgesamt 200.000 Euro erhalten. Die Unternehmen sind bereit, für die von ihm angebotene Werbefläche zu zahlen, weil seine Videos eine große Reichweite haben, also eine große Anzahl von (werberelevanten) Personen erreichen. Diese Reichweite ergibt sich aus der fortlaufenden Bereitstellung neuer Videos, die seine Abonnenten interessieren, auf beiden Plattformen. Die Zahlungen sind mithin durch seine Gesamttätigkeit veranlasst und somit als Betriebseinnahmen des P zu qualifizieren.

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bb) Kostenlose Videospiele Überdies könnten die kostenlos zugesandten Videospiele als Betriebseinnahme einzubeziehen sein. Die Videospiele erhält P von den Herstellern, damit er sie in seinem Channel vorstellt und so einem breiteren Publikum bekannt macht. Die Spiele werden ihm also aufgrund seiner Webchannel-Videos bzw. seiner Gesamtpräsenz und Reichweite überlassen. Eine private Bereicherung des P durch die Hersteller ist nicht angestrebt, sodass die Übersendung von dem Präsentationsgedanken getrieben und dementsprechend ebenfalls betrieblich veranlasst ist. Hierbei handelt es sich zwar nicht um einen Zufluss von Geld, der Steuerpflichtige wird aber durch betrieblich veranlasste Sachwertzugänge in gleicher Weise bereichert. Diese können also nicht anders behandelt werden als Zuflüsse in Geld und müssen entsprechend gleichermaßen als Betriebseinnahme im Zeitpunkt des Zuflusses berücksichtigt werden.11 Die Einnahmen betragen 40 Spiele x 60 Euro/Spiel = 2.400 Euro.

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cc) Veräußerungserlös Videospiele P hat die Spiele vor der Veräußerung in seinen Videos vorgestellt und somit ausschließlich für betriebliche Zwecke verwendet. Es handelte sich bei den Spielen mithin um betriebliches Anlagevermögen. P veräußerte damit Betriebsvermögen, sodass die Erlöse aus der Veräußerung steuerpflichtige Betriebseinnahmen darstellen. Hieraus ergeben sich zu berücksichtigende Betriebseinnahmen i.H.v. 15 Spiele x 20 Euro/Spiel = 300 Euro.12 11 Siehe dazu näher Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 4 EStG Rz. 560. 12 Die veräußerten Videospiele werden also als doppelte Einnahmen erfasst. Dies wird über die Berücksichtigung entsprechender fiktiver Anschaffungskoten als Betriebsausgaben korrigiert. Siehe dazu unten Rz. 40 f.

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Rz. 28 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

dd) Ergebnis zu den Betriebseinnahmen 28

P hat im Jahr 01 Betriebseinnahmen i.H.v. insgesamt 202.700 Euro. b) Betriebsausgaben

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Als Betriebsausgaben kommen der auf den Videospielraum entfallende Anteil des Mietzinses seiner Wohnung, die Aufwendungen für die Einrichtung des Videospielraums, das Equipment zur Aufnahme der Videos sowie Anschaffungskosten für die veräußerten Videospiele in Frage. Gem. § 4 Abs. 4 EStG sind Betriebsausgaben solche Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Es muss ein objektiver Zusammenhang mit dem Betrieb bestehen und subjektiv müssen die Aufwendungen zur Förderung des Betriebs getätigt worden sein.13 aa) Miete für Videospielraum

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Den Videospielraum nutzt P nur für die Aufnahme seiner Videos und somit unmittelbar für seine betriebliche Tätigkeit. Insofern ist eine betriebliche Veranlassung der auf diesen Raum entfallenden Mietkosten gegeben, und diese stellen grundsätzlich Betriebsausgaben dar. Allerdings normiert § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG ein grundsätzliches Abzugsverbot für Aufwendungen für Arbeitsräume in der eigenen Wohnung. Ein (eingeschränkter) Abzug der Kosten ist nur ausnahmsweise unter den strengen Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2-4 EStG möglich. Die Beschränkung findet Anwendung, wenn es sich bei dem Raum des P überhaupt um ein Arbeitszimmer im Sinne der Norm handelt. Unter einem häuslichen Arbeitszimmer versteht man einen Raum, der seiner Ausstattung nach der Erzielung von Einnahmen dient und ausschließlich oder nahezu ausschließlich zur Erzielung von Einkünften genutzt wird. Er ist seiner Lage, Funktion und Ausstattung nach in die häusliche Sphäre des Steuerpflichtigen eingebunden und dient vorwiegend der Erledigung gedanklicher, schriftlicher, verwaltungstechnischer oder -organisatorischer Arbeiten.14 P nutzt seinen Raum, um seine Videos zu produzieren. Es handelt sich damit nicht um eine Schreibtischtätigkeit. Vielmehr ist der Raum selbst Mittelpunkt seiner Videos und als solcher eher mit einem Freizeitraum als mit einem typischen Büroraum vergleichbar. Er unterfällt somit nicht der hergebrachten Definition eines Arbeitszimmers. Fraglich ist, wie sich dies auf die Berücksichtigung der Kosten auswirkt. Das Abzugsverbot bei häuslichen Arbeitszimmern ist auf die infolge von Art. 13 GG beschränkten Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzbehörden in der privaten Sphäre zurückzuführen und in diesem Lichte auszulegen.15 Dementsprechend ist bei in Privaträumen befindlichen Arbeitsplätzen aller Art die steuerliche Berücksichtigung der Aufwendungen ausgeschlossen, wenn sich eine private Mitnutzung

13 Z.B. BFH v. 20.11.1979 – VI R 25/78, BStBl. II 1980, 75; ausführlich Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.206 ff. 14 BFH v. 27.7.2015, GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 62 f. m.w.N. 15 Vgl. BVerfG v. 6.6.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318, juris Rz. 47.

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Fall 10: Das Internet ist Neuland | Rz. 32

nicht ausschließen lässt.16 Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass ein uneingeschränkter Betriebsausgabenabzug möglich sein muss, wenn die private Nutzung aufgrund der Eigenart des Raumes typischerweise nicht anzunehmen ist.17 Der Raum des P ist im Hinblick auf die Möbel wie ein normaler Wohnraum ausgestattet. Das Sofa, die Videospielausstattung und die Dekoration lassen eine private Nutzung des Raumes zu. P hat allerdings auch für eine spezielle videotaugliche Ausleuchtung des Raumes gesorgt und eine Kamera mit Stativ aufgestellt. Der Raum ist insgesamt so eingerichtet, dass er in den Videos gut aussieht. Die Dekorationsgegenstände sind strategisch platziert. Seine Tätigkeit, die davon lebt, dass er ein authentisches Bild zeichnet, ist auf diese Atmosphäre gerade angewiesen. Dennoch ist aufgrund der Ausstattung des Raumes nicht auszuschließen, dass auch eine private Mitbenutzung z.B. zum privaten Spielen der Videospiele erfolgt; dass P den Raum privat tatsächlich nicht nutzt, ist dabei unerheblich, es kommt nur auf die abstrakte Beurteilung an. Demzufolge erfasst das Abzugsverbot auch den Raum des P. Da es sich aber nicht um ein Arbeitszimmer i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG handelt, finden dessen Rückausnahmen keine Anwendung, und die Miete kann nicht als Betriebsausgabe berücksichtigt werden. Alternative Lösung: Hier ist auch ein anderes Ergebnis mit entsprechender Begründung vertretbar. Werten die Bearb. den Sachverhalt so, dass der Videospielraum die alleinige Funktion eines Aufnahmestudios besitzt und die Wohnaccessoires nur dekorativen Charakter besitzen, kommt ein unbeschränkter Abzug der Aufwendungen als Betriebsausgaben in Betracht. Letztlich ist auch nicht zu fordern, dass die Bearb. die von der Rechtsprechung entwickelte detaillierte Definition des häuslichen Arbeitszimmers genau kennen. Es kommt an dieser Stelle vor allem darauf an, dass man sich mit dem Abzugsverbot des häuslichen Arbeitszimmers intensiv auseinandersetzt. Die Bearb. sollten sich der Gründe für das Abzugsverbot bewusst sein und deren Auswirkungen auf die vorliegende Fallsituation übertragen.

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bb) Einrichtungsgegenstände für den Videospielraum Bei dem Sofa, den Dekorationsgegenständen, den Regalen und den Gitarren handelt es sich um Ausstattung des Raumes. P nutzt die Gegenstände, um seinen Videos Authentizität zu verleihen. Eine auch private Nutzung ist nicht ersichtlich, sodass die Anschaffungskosten grundsätzlich Betriebsausgaben darstellen. Auch hier könnte sich aber das Abzugsverbot des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG auswirken. Dieses bezieht sich ausweislich des Wortlauts auch auf die Ausstattung des Raumes. Mithin ist auch die Berücksichtigung dieser Aufwendungen ausgeschlossen.

16 Dazu ausführlich BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 61 ff. 17 BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265, juris Rz. 65; von der Rspr. z.B. angenommen bei Warenlager (BFH v. 22.11.2006 – X R 1/05, BStBl. II 2007, 304), Notarztpraxis (BFH v. 5.12.2002 – IV R 7/01, BStBl. II 2003, 463), Tonstudio (BFH v. 28.8.2003 – IV R 53/01, BStBl. II 2004, 55).

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Rz. 33 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

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Alternative Lösung: Kommt man oben bei Prüfung des Abzugsverbotes zu dem Ergebnis, dass dieses nicht greift, gilt das natürlich auch für die Raumausstattung. Bearb. müssen dann erkennen, dass das Sofa aus dem privaten Bereich gem. § 4 Abs. 1 Satz 8 EStG in den Betrieb eingelegt wird und dabei gem. §§ 6 Abs. 7, 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG mit dem Teilwert anzusetzen ist. Mangels anderer Angaben entspricht der Teilwert hier dem Zeitwert i.H.v. 600 Euro, der gem. § 6 Abs. 2 EStG sofort abgeschrieben werden kann. Alternativ könnte P diesen gem. § 6 Abs. 2a EStG in einen Sammelposten einstellen und insgesamt über fünf Jahre abschreiben. Die übrigen Anschaffungen können jeweils gem. § 6 Abs. 2 EStG sofort abgeschrieben werden. Eine Poolabschreibung gem. § 6 Abs. 2a EStG kommt nicht in Betracht, da die Einzelwerte jeweils unter 250 Euro netto liegen.

cc) Arbeitsplatz-Pauschale 34

Es könnte für P aber die Möglichkeit bestehen, von der in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 4 EStG vorgesehenen Pauschale für den Heimarbeitsplatz Gebrauch zu machen. Hiernach kann er für jeden Tag, an dem er seine betriebliche Tätigkeit ausschließlich von zu Hause aus ausübt, 5 Euro, maximal aber 600 Euro im Jahr geltend machen. Es ist nicht ersichtlich, dass P einen anderen Arbeitsplatz hat, sodass angenommen werden kann, dass er immer zu Hause arbeitet. P kann diese Pauschale also für sich in Abzug bringen.

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Alternative Lösung: Kommt man oben bei Prüfung des Abzugsverbotes zu dem Ergebnis, dass dieses nicht greift und somit die tatsächlichen Kosten berücksichtigt werden, kann die Pauschale nur noch Anwendung finden, falls P auf die Geltendmachung der tatsächlichen Kosten verzichtet. Da die tatsächlichen Kosten 600 Euro jedoch deutlich übersteigen und auch keine Nachweisschwierigkeiten seitens des P ersichtlich sind, ist davon nicht auszugehen.

dd) Aufnahme-Equipment 36

Den PC, die Kamera, nebst Stativ sowie die Beleuchtung nutzt P unmittelbar dafür, seine Tätigkeit ausüben zu können. Sie sind unabhängig von dem Videospielzimmer und stellen daher keine Ausstattung desselben dar. Vielmehr sind sie unmittelbares Werkzeug des P zum Ausüben seiner Tätigkeit und damit Arbeitsmittel.

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Als Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens sind die Anschaffungen gem. § 7 Abs. 1 EStG bei einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer, die ein Jahr überschreitet, grundsätzlich linear über die betriebsgewöhnliche Nutzungszeit abzuschreiben. Bei Computern ist nach allgemeiner Lebenserfahrung von einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von drei Jahren auszugehen. Infolge der linearen Abschreibung über diesen Zeitraum sind für den PC im Jahr 01 nur 1/3 der Anschaffungskosten in Höhe von 1.200 Euro, also 400 Euro, anzusetzen.

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Fall 10: Das Internet ist Neuland | Rz. 41 Hinweis: Das BMF geht inzwischen von einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer von nur einem Jahr aus.18 Solche Verlautbarungen des BMF entfalten als Verwaltungsvorschriften jedoch keinerlei Bindungswirkung für die Finanzgerichte, sodass ihnen nicht blind zu folgen ist. Die Beurteilung des BMF bzgl. der Nutzungsdauer von PCs widerspricht u.E. der Realität, weshalb sich die hier formulierte Musterlösung dem nicht anschließt, sondern realitätsgerecht von einer Nutzungsdauer von drei Jahren ausgeht.

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Bzgl. der anderen Anschaffungen ist eine betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer von über einem Jahr anzunehmen. Allerdings könnte über die Sonderregel des § 6 Abs. 2 EStG dennoch eine Sofortabschreibung erfolgen. Dies ist möglich, wenn die jeweiligen Anschaffungskosten 800 Euro nicht überschreiten, wobei hier ausweislich der Vorgaben des § 6 Abs. 2 Satz 1 EStG der Nettowert maßgeblich ist (§ 9b EStG). Dementsprechend sind die Voraussetzungen nicht nur bzgl. Stativ und Beleuchtung gegeben, sondern auch bei der Kamera, deren Anschaffungskosten brutto zwar 800 Euro überschreiten, netto jedoch darunter liegen. Alternativ könnte P die Kosten für Kamera und Raumbeleuchtung gem. § 6 Abs. 2a EStG in einen Sammelposten einstellen und diesen insgesamt über fünf Jahre abschreiben. Bzgl. des Stativs kommt eine Poolabschreibung gem. § 6 Abs. 2a EStG nicht in Betracht, da die Anschaffungskosten unter 250 Euro netto liegen.

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ee) Anschaffungskosten der Videospiele Fraglich ist, ob auch bzgl. der dem P unentgeltlich überlassenen Videospiele eine Betriebsausgabe anzunehmen ist. Wie erläutert ist deren Überlassung an P bereits als Betriebseinnahme zu bewerten. Hinzu kommt die Berücksichtigung des Veräußerungserlöses, den P aus der späteren Veräußerung der Spiele erzielt. Der Wert der Spiele würde auf diese Weise doppelt als Einnahme berücksichtigt, obwohl sie P nur einmal als Wert zugegangen sind. Insofern bedarf es einer Korrektur. Diese wird erreicht, indem dem zugegangenen Sachwert, der für betriebliche Zwecke verbraucht oder veräußert werden soll, eine gleich hohe (fiktive) Betriebsausgabe entgegengesetzt wird.19 P plant, die zu Betriebsvermögen gewordenen Videospiele nach der betrieblichen Nutzung zu veräußern bzw. hat dies bereits getan. Dementsprechend sind der Betriebseinnahme in Höhe von 60 Euro pro Spiel (fiktive) Betriebsausgaben in gleicher Höhe, also insgesamt 2.400 Euro entgegenzusetzen, die den Sachwertzugang neutralisieren.

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Alternative Lösung: Das geschilderte Vorgehen entspricht der Lösung des BFH. Ebenso vertretbar dürfte es aber sein, die fiktiven Betriebsausgaben nicht im Zeitpunkt des Sachwertzugangs, sondern erst bei der Veräußerung zu berücksichtigen. Das würde hier dazu führen, dass fiktive Betriebsausgaben nur im Hinblick auf die bereits veräußerten Spiele anzunehmen sind, also in Höhe von 900 EUR (15 x 60 EUR).

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18 BMF v. 26.2.2021, BStBl. I 2021, 298. 19 Z.B. BFH v. 12.3.1992 – IV R 29/91, BStBl. II 1993, 36, juris Rz. 12.

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Rz. 42 | Kapitel 2: Einkommensteuerrecht

ff) Ergebnis zu den Betriebsausgaben 42

Als Betriebsausgaben sind für P mithin die tatsächlich angefallenen Kosten für die Ausleuchtung des Raums, die neue Kamera und das Stativ zu berücksichtigen. Hinzu kommen zudem die Home-Office-Pauschale i.H.v. 600 Euro sowie die fiktiven Betriebsausgaben für die Video-Spiele. Es ergibt sich ein Gesamtbetrag von 4.191 Euro. c) Ergebnis zur Einkünftequantifikation

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Insgesamt sind für P mithin Betriebseinnahmen in Höhe von 202.700 Euro anzusetzen, denen Betriebsausgaben in Höhe von 4.191 Euro gegenüberstehen. Die Summe der Einkünfte des P liegt somit bei 198.509 Euro.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 44

– Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.250 ff.; 8.423 ff. – BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318 – BFH v. 27.7.2015 – GrS 1/14, BStBl. II 2016, 265 – Schmidt/Kollmann/Karl, DStR 2021, 765

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Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen Schwerpunkte: – Grundzüge der Besteuerung von Personengesellschaften – Zweistufige Einkünftequantifikation – Zweistufige Einkünftequalifikation – Zebragesellschaft – Vom Gesellschaftsrecht losgelöste Bestimmung der steuerrechtlichen Mitunternehmer bei einer Personengesellschaft Bearbeitungszeit: 2 Stunden Schwierigkeitsgrad: einfach

A. Sachverhalt Die ABCDE-GbR betreibt in Bochum eine nicht über den Umfang einer bloßen Vermögensverwaltung hinausgehende Vermietungstätigkeit von unbebauten Grundstücken. Im Jahr 01 sind bei ihr Erwerbseinnahmen von 100.000 Euro und Erwerbsaufwendungen von 10.000 Euro angefallen. An der ABCDE-GbR sind die gewerblich tätige ABC-KG sowie der Privatier D und die Einzelgewerbetreibende E zu jeweils 1/3 beteiligt. Die ABC-KG wie auch die E halten den Anteil an der GbR zulässigerweise und zutreffend in ihrem Betriebsvermögen und haben die Beteiligung jeweils in ihren Bilanzen aktiviert. An der ABC-KG sind die A als Komplementärin zu 74 %, der Kommanditist B zu 25 % und die Kommanditistin C zu 1 % beteiligt. B und C haben ihre Haftungseinlage geleistet. Im Gesellschaftsvertrag der ABC-KG wurde vereinbart, dass C im Falle eines Ausscheidens bzw. einer Auflösung lediglich ihre Einlage zurückerhält. Gleichwohl ist C aus einem außerhalb des Gesellschaftsvertrags geschlossenen wirksamen Dienstvertrag befugt, neben A die Gesamtgeschäftsführung in der ABC-KG auszuüben. Ferner sieht der Gesellschaftsvertrag vor, dass C bei Vorliegen einer 2/3Mehrheit jederzeit aus der Gesellschaft herausgekündigt werden kann. Ansonsten gelten nach dem Gesellschaftsvertrag der ABC-KG „die gesetzlichen Bestimmungen über die KG uneingeschränkt“. A erhält für die Geschäftsführertätigkeit in 01 einen gesellschaftsvertraglichen und steuerrechtlich wirksamen Gewinnvorab in Höhe von insgesamt 50.000 Euro. C er157

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Rz. 1 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

hält für die Geschäftsführertätigkeit in 01 eine schuldrechtliche Vergütung von insgesamt 10.000 Euro. Darüber hinaus erhält B aufgrund eines wirksamen Mietvertrags einen Mietzins von insgesamt 30.000 € für ein an die ABC-KG in 01 vermietetes Verwaltungsgebäude, das im Alleineigentum der B steht. Die KG hat in 01 nach ihrer eigenen Buchführung einen Gewinn von 250.000 € erzielt, wobei bisher weder die Beteiligung an der GbR noch die Geschäftsführertätigkeiten und das angemietete Verwaltungsgebäude berücksichtigt wurden. Gesellschaftsvertraglich ist sowohl für die ABCDE-GbR als auch für die ABC-KG vereinbart, dass sich die Gewinnanteile der Gesellschafter nach ihrem Beteiligungsumfang an der jeweiligen Gesellschaft richten. Aufgabe: Beurteilen Sie den Sachverhalt für A, B, C, D und E für den Veranlagungszeitraum 01 einkommensteuerrechtlich. Aussagen zur Veranlagungsart, den Sonderausgaben, den außergewöhnlichen Belastungen sowie zum Tarif sind nicht erforderlich. Auf die Lohnsteuer ist nicht einzugehen. Bearbeitungshinweis: Gehen Sie davon aus, dass sämtliche Abreden gesellschaftsrechtlich zulässig sind. Gehen Sie ferner davon aus, dass für das von der ABC-KG gemietete Verwaltungsgebäude Abschreibungen in Höhe von 20.000 Euro zu berücksichtigen sind. Alle Personen haben ihren Wohnsitz im Inland.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Aufgrund des Transparenzprinzips ist nur der Gesellschafter Subjekt der Einkommen- oder Körperschaftsteuer, nicht aber die Personengesellschaft.1 Die Personengesellschaft ist hingegen partielles Steuersubjekt in Bezug auf die Gewinnerzielung, die Gewinnermittlung und die Einkünftequalifikation.2 Die Zurechnung der Einkünfte für die Besteuerung erfolgt aber letztlich erst auf der Ebene des Gesellschafters.3

3

Dies macht es notwendig, die Einkünfte zweistufig zu qualifizieren: Zunächst sind auf der Stufe der Personengesellschaft die Einkünfte zu qualifizieren. Auf zweiter Stufe, der Gesellschafterebene, ist ggf. eine Korrektur vorzunehmen, wenn die Einkünfte bei dem Gesellschafter zu einer anderen Einkunftsart gehören.4 Denkbar ist eine Um1 2 3 4

Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.10. Siehe zur Entwicklung Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 164. Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.14. Siehe zur Umqualifizierung auf Gesellschafterebene BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679, juris 1. Orientierungssatz, Rz. 33 ff. Bei der Qualifikation der Einkünfte auf Gesellschafterebene können Sachverhalte auf Gesellschaftsebene berücksichtigt werden, siehe hierzu die Entscheidung BFH v. 3.7.1995 – GrS 1/93, BStBl. II 1995, 617, insb. Rz. 46 ff. zur sog. Drei-Objekt-Grenze; Einzelheiten hierzu bei Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.517.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 5

qualifizierung insbesondere dann, wenn es sich bei der Personengesellschaft um eine solche handelt, die lediglich vermögensverwaltend tätig ist. In diesen Fällen sehen §§ 20 Abs. 8; 21 Abs. 3 EStG entsprechende Subsidiaritätsklauseln vor, und es kann dazu kommen, dass die Einkünfte aus einer Personengesellschaft bei einem Gesellschafter etwa als Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu qualifizieren sind, bei einem anderen Gesellschafter hingegen als Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Man spricht insoweit von Zebragesellschaften.5 Soweit eine gewerbliche Mitunternehmerschaft vorliegt, wird eine Umqualifizierung auf Gesellschafterebene im Regelfall nicht mehr in Betracht kommen. Neben der zweistufigen Einkünftequalifikation ist auch eine zweistufige Quantifikation vorzunehmen. Diese ergibt sich bereits aus der Formulierung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG: So setzen sich die Einkünfte nach der additiven Gewinnermittlung6 aus gewerblicher Beteiligung aus dem Gewinnanteil der Gesellschafter an der Gesellschaft – der Gesamthand – (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG) und den Vergütungen der Gesellschafter für Dienste für die Gesellschaft, für die Überlassung von Wirtschaftsgütern oder die Hingabe von Darlehen zusammen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG). Man spricht bei Letzteren von Sondervergütungen.7 Darüber hinaus ist auf der Ebene des Gesellschafters das Ergebnis seines Sonderbetriebsvermögens zu berücksichtigen.8 Darunter fallen diejenigen Wirtschaftsgüter, die sich in der Vermögenssphäre des Gesellschafters befinden, aber an die Personengesellschaft überlassen werden oder der Beteiligung an der Personengesellschaft dienen oder förderlich sind.9 Die Einkunftsermittlung erfolgt im Gesamthandsbereich und Sonderbereich stets einheitlich nach §§ 4 Abs. 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG oder § 4 Abs. 3 EStG (sog. korrespondierende Bilanzierung).10

4

Der Gewinnanteil aus der Gesamthand und das Ergebnis im Sonderbetriebsvermögen ergeben addiert die Summe der Einkünfte des Gesellschafters aus der Beteiligung i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG.

5

5 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.47. 6 Die additive Gewinnermittlung wird von der ganz h.M. einer Gewinnermittlung mithilfe der Theorie einer konsolidierten Gesamtbilanz vorgezogen, siehe dazu Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.107 f., und insbesondere die Nachweise dort in Fn. 183. 7 Siehe dazu im Einzelnen Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.103. 8 Ausführlich Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.131 ff. 9 Aus der Unterscheidung zwischen Sonderbetriebsvermögen I (Wirtschaftsgüter, die der Gesellschaft entgeltlich oder unentgeltlich überlassen werden) und Sonderbetriebsvermögen II (Wirtschaftsgüter, die nicht Sonderbetriebsvermögen I sind, aber dem Gesellschafter der Erzielung seines Gewinnanteils dienen oder sonst dafür förderlich sind), die regelmäßig vorgenommen wird, folgen keine rechtlich unterschiedlichen Beurteilungen, sodass diese u.E. unterbleiben kann, zutreffend Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 327. 10 BFH v. 12.12.1995 – VIII R 59/92, BStBl. II 1996, 219, juris Rz. 75; v. 2.12.1997 – VIII R 15/96, BStBl. II 2008, 174 juris Rz. 18; Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 228a; siehe auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.108 m.w.N.

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Rz. 6 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

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Bei Zebragesellschaften werden die Einkünfte auf Gesellschaftsebene als Überschusseinkünfte ermittelt und erst im Anschluss daran auf Ebene des Gesellschafters umqualifiziert.11 Die Einkunftsermittlungsart auf Gesellschaftsebene ist somit für alle Gesellschafter identisch, unabhängig davon, ob die Einkünfte auf Gesellschafterebene umqualifiziert werden.

7

Wichtig: Ein Schaubild über die Zweistufige Gewinnermittlung findet sich bei Hennrichs in Tipke/ Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.109.

II. Steuerrechtliche Mitunternehmerschaft vs. zivilrechtliche Gesellschafterstellung 1. Relevanz und Erkennen der Fragestellung 8

Die gesellschaftsrechtliche Stellung von Personen ist mit der steuerrechtlichen Einordnung als Mitunternehmer nicht deckungsgleich. So kann zwar eine Person zivilrechtlich Gesellschafter einer gewerblich tätigen Personengesellschaft sein. Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass die Person Mitunternehmer ist und eine steuerliche Mitunternehmerschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG mit ihren Rechtsfolgen vorliegt. Umgekehrt hat der Bundesfinanzhof auch bereits solche Personen als steuerliche Mitunternehmer angesehen, die nicht ausdrücklich in ein zivilrechtliches Gesellschaftsverhältnis eingebunden waren, indem er ein „verdecktes“ Gesellschaftsverhältnis ausgemacht hat.12

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In einer Klausur oder Fallbearbeitung ist die Problematik im Regelfall offenkundig, denn es sind weitere Sachverhaltsinformationen notwendig, etwa um das „verdeckte“ Gesellschaftsverhältnis zu umschreiben oder um der zu prüfenden Person Diskussionsmaterial für das Nichtvorliegen einer mitunternehmerschaftlichen Stellung an die Hand zu geben. Die Herausforderung besteht somit weniger im Erkennen der Problematik, sondern in der Bearbeitung. Hierbei kann zwischen der Fallkonstellation unterschieden werden, in der zwar zivilrechtlich ein Gesellschafter vorliegt, steuerrechtlich aber der Mitunternehmerbegriff nicht erfüllt ist, und der Fallkonstellation, dass zwar der Mitunternehmerbegriff für eine Person erfüllt, diese aber nicht „offen“ Gesellschafter ist. 2. Prüfungsaufbau: Gesellschafter, aber kein Mitunternehmer

10

In dem Fall, in dem ein Gesellschafter vorliegt, dessen Mitunternehmerschaft aber in Frage steht, erfolgt die Abgrenzung durch Prüfung des Mitunternehmertypusbegriffs. Dieser beinhaltet die Merkmale der Mitunternehmerinitiative und des Mitunternehmerrisikos – vgl. insoweit auch die Parallelität zur Prüfung der Selbständigkeit i.S.d. 11 BFH v. 11.4.2005 – GrS 2/02, BStBl. II 2005, 679, juris Rz. 33 ff. Dies war lange Zeit allerdings umstritten; siehe zur Rechtsentwicklung Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.102. 12 BFH v. 21.9.1995 – IV R 65/94, BStBl. II 1996, 66, juris Rz. 14; Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.32.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 15

§ 15 Abs. 2 Satz 1 EStG. Beide Merkmale müssen bei einem Mitunternehmer vorhanden sein.13 Da es sich um einen Typusbegriff handelt, ist es jedoch nicht erforderlich, dass beide Merkmale gleichermaßen intensiv ausgeprägt sind, d.h. ein geringeres mitunternehmerisches Risiko kann durch eine besonders starke Ausprägung des Initiativrechts ausgeglichen werden und umgekehrt.14 Die Würdigung erfolgt stets unter Berücksichtigung aller die rechtliche und wirtschaftliche Stellung einer Person insgesamt bestimmenden Umstände.15

Mitunternehmerrisiko ist dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige unmittelbar am Erfolg und Misserfolg des Unternehmens beteiligt ist.16 Dies umfasst neben der laufenden Beteiligung am Gewinn und Verlust des Unternehmens die Beteiligung an den (realisierten) stillen Reserven des Anlagevermögens, auch im Falle des Ausscheidens oder der Liquidation, sowie die persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten.17

11

Mitunternehmerinitiative umschreibt die Teilhabe an den bzw. die Einflussnahme auf die Unternehmensentscheidungen.18 Als Mindestmaß werden dabei grundsätzlich die Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechte eines Kommanditisten angesehen, wobei nach der Auffassung des Bundesfinanzhofs ein Fehlen des Widerspruchsrechts – isoliert betrachtet – unschädlich ist.19

12

Ist nach dieser Prüfung eines der beiden Merkmale nicht erfüllt, ist der Steuerpflichtige nicht als Mitunternehmer anzusehen und erzielt folglich keine Einkünfte i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG. In Betracht kommen dann für die Beteiligung nur noch Einkünfte aus stiller Gesellschaft oder partiarischem Darlehen gem. § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG, wobei regelmäßig wegen der gemeinsamen Zweckverfolgung eine (typisch) stille Gesellschaft vorliegen wird.

13

Ist eines der beiden Merkmale nur gering ausgeprägt, ist abzuwägen, ob die Ausprägung des anderen Merkmals in der Gesamtschau dafür ausreicht, dass der Typusbegriff des Mitunternehmers noch erfüllt ist oder nicht. Hier kann man in der Klausur im Regelfall nichts falsch machen; es geht nur darum, eine entsprechende Wertung vorzunehmen.

14

Wichtig: Wird bei einer zweigliedrigen Personengesellschaft einer der beiden Gesellschafter nicht als Mitunternehmer eingestuft, liegt zwar zivilrechtlich weiterhin eine Personengesellschaft vor. Steuerrechtlich betreibt der letzte verbleibende (Mit-)Unternehmer nur noch ein Einzelunternehmen i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.20

15

13 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 5.53; BFH v. 13.7.2017 – IV R 41/14, BStBl. II 2017, 1133, juris Rz. 20. 14 BFH v. 13.7.2017 – IV R 41/14, BStBl. II 2017, 1133, juris Rz. 20. 15 BFH v. 13.7.2017 – IV R 41/14, BStBl. II 2017, 1133, juris Rz. 20. 16 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.36. 17 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.36. 18 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.37. 19 BFH v. 10.11.1987 – VIII R 166/84, BStBl. II 1989, 758, juris Rz. 30. 20 Bodden in Korn (Stand: Oktober 2021), § 15 EStG Rz. 164.2.

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Rz. 16 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

3. Prüfungsaufbau: Mitunternehmer und nur „verdecktes“ Gesellschaftsverhältnis 16

In den Fällen, in denen kein offensichtliches Gesellschaftsverhältnis vorliegt, aber ein Steuerpflichtiger nach dem Sachverhalt Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative haben könnte, ist es u.E. sinnvoll, sich zunächst mit diesen beiden Merkmalen auseinanderzusetzen. Werden diese bejaht bzw. liegen nach dieser Prüfung die Voraussetzungen des Mitunternehmers vor, ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen, ob im Sachverhalt ein verdecktes Gesellschaftsverhältnis vorliegt.21 III. Anforderungsprofil

17

Bei Fallkonstellationen mit mehreren Gesellschaften ist es immer sinnvoll, sich eine Sachverhaltsskizze zu machen, die die wesentlichen Beteiligungsstrukturen enthält. Für den hiesigen Fall kann eine Beteiligungsskizze wie folgt aussehen:

18

Ein Schwerpunkt der Klausur liegt in der Frage, ob die C als Mitunternehmerin der ABC-KG anzusehen ist. Dementsprechend beinhaltet der Sachverhalt hierzu einige Informationen, die bei der Subsumtion unter den Typusbegriff des Mitunternehmers heranzuziehen sind und als Argumentationsmaterial dienen. Im Übrigen fragt die Klausur Grundlagen der Einkünfteerzielung der Gesellschafter von Personengesellschaftern ab. Das Transparenzprinzip und die zweistufige Gewinnermittlung sollten in diesem Zuge sicher beherrscht, können an diesem Fall aber auch gut trainiert werden.

C. Gliederung 19

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Subjektive Steuerpflicht 21 II. Objektive Steuerpflicht

21 Näher m.w.N. bei Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.32 ff.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 19

1. Beurteilung für D 23 a) Gesellschaftsebene aa) Einkünftequalifikation 24 bb) Einkünftequantifikation 26 b) Gesellschafterebene 27 c) Ergebnis 29 2. Beurteilung für E 30 a) Gesellschaftsebene 31 b) Gesellschafterebene aa) Einkünftequalifikation 32 bb) Einkünftequantifikation 34 c) Ergebnis 35 3. Beurteilung für C 36 a) Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG 37 aa) Vorliegen einer Gesellschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG 38 bb) Mitunternehmereigenschaft der C 39 cc) Ergebnis 43 b) Überschusseinkünfte 45 aa) Einkünftequalifikation 46 bb) Einkünftequantifikation (1) Einkunftsermittlungsart 48 (2) Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit 49 (3) Einkünfte aus Kapitalvermögen 50 c) Ergebnis 53 4. Beurteilung für A 55 a) Gesellschaftsebene 56 b) Gesellschafterebene 58 c) Ergebnis 61 5. Beurteilung für B 62 a) Gesellschaftsebene 63 b) Gesellschafterebene 64 c) Ergebnis 68 163

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Rz. 20 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

D. Ausformulierte Lösung 20

Fraglich ist, wie der Sachverhalt für A, B, C, D und E einkommensteuerrechtlich für den Veranlagungszeitraum 01 zu würdigen ist. I. Subjektive Steuerpflicht

21

Bei Personengesellschaften sind aufgrund des Transparenzprinzips nicht die Gesellschaften einkommensteuerpflichtig, sondern die Gesellschafter.22 Die Personengesellschaft ist aber Subjekt der Einkünfteermittlung und der Einkünfteerzielung.23 Der von ihr erwirtschaftete Gewinn wird für einkommensteuerliche Zwecke auf die Mitunternehmer verteilt.

22

Die natürlichen Personen A, B, C, D und E haben jeweils ihren Wohnsitz (§ 8 AO) im Inland und sind damit gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG mit ihrem Welteinkommen in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. II. Objektive Steuerpflicht 1. Beurteilung für D

23

D ist als natürliche Person an der ADCDE-GbR beteiligt und hält diese Beteiligung als Privatier im Privatvermögen. Fraglich ist, inwieweit D hieraus Einkünfte erwirtschaftet. a) Gesellschaftsebene aa) Einkünftequalifikation

24

D könnte aus der Beteiligung an der GbR Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aus Vermietung und Verpachtung erzielen. Dazu müsste zunächst die Gesellschaft Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielen. Vermietung i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ist die Überlassung von unbeweglichem Vermögen in Form einer Nutzungsüberlassung,24 die den Umfang einer Vermögensverwaltung i.S.v. § 14 Satz 3 AO nicht überschreitet. Die GbR vermietet hier nicht näher bezeichnete Grundstücke, sodass eine Überlassung von unbeweglichem Vermögen vorliegt. Ferner geht die Tätigkeit der GbR nicht über den Umfang einer bloßen Vermögensverwaltung i.S.v. § 14 Satz 3 AO hinaus, sodass Einkünfte i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG vorliegen.

25

Fraglich ist, ob die GbR gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG gewerbliche Einkünfte erzielt, weil die an der GbR beteiligte ABC-KG gewerblich i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG tätig ist, und deswegen die Einkünfte aus § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 22 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.10 ff. 23 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.14. 24 Mellinghoff in Kirchhof/Seer20, § 21 EStG Rz. 3.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 30

gem. § 21 Abs. 3 EStG zu solchen aus gewerblicher Tätigkeit umzuqualifizieren sind. Dazu wäre aber gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG Voraussetzung, dass die Gesellschaft, also die GbR, auch eine Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt und damit jedenfalls partiell originär gewerblich tätig ist.25 Hier ist aber nur die KG gewerblich tätig, die im Verhältnis zur GbR nur eine Gesellschafterin darstellt und nicht die originäre Tätigkeit der GbR beeinflusst. Eine Abfärbewirkung i.S.d. § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ist daher zu verneinen. Es bleibt somit bei dem gefundenen Ergebnis, dass die GbR Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt. bb) Einkünftequantifikation Die Einkünfte aus der Vermietungstätigkeit ermitteln sich gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Den durch die Vermietung i.S.v. § 8 Abs. 1 Satz 1 EStG zugeflossenen Mieteinnahmen i.H.v. 100.000 Euro stehen mit diesen Einnahmen im Zusammenhang stehende Erwerbsaufwendungen i.H.v. 10.000 Euro gegenüber, die gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG als Werbungskosten zu berücksichtigten sind. Es ergeben sich mithin für die GbR Einkünfte i.H.v. 90.000 Euro.

26

b) Gesellschafterebene D hält die Anteile an der GbR im Privatvermögen und es ist kein Zusammenhang mit einer anderen Einkunftsart erkennbar, sodass sich auf Gesellschafterebene keine abweichende Beurteilung ergibt. D erzielt aus der Beteiligung folglich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.

27

Von den Einkünften der GbR i.H.v. 90.000 Euro entfällt gem. der gesellschaftsvertraglichen Vereinbarung, die auch steuerlich Wirkung entfaltet, 1/3 auf den D.

28

c) Ergebnis D erzielt folglich aus seiner Beteiligung an der GbR Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.H.v. 30.000 Euro.

29

2. Beurteilung für E E könnte ebenfalls Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aus der Beteiligung an der ADCDE-GbR erzielen. E ist wie D an der GbR beteiligt, sie hält ihre Beteiligung allerdings zulässigerweise im Betriebsvermögen ihres Einzelunternehmens.

25 Siehe hierzu Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.61 ff.

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Rz. 31 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

a) Gesellschaftsebene 31

Für die Beurteilung auf der Gesellschaftsebene kann auf die Ausführungen oben bei der Prüfung des D verwiesen werden. b) Gesellschafterebene aa) Einkünftequalifikation

32

Fraglich ist, ob die Beteiligungseinkünfte aus der GbR auf Gesellschafterebene bei der E zu Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG umzuqualifizieren sind. Dabei ist als wesentliche Folge des Transparenzprinzips zu berücksichtigen, dass die endgültige Qualifizierung der Einkünfte erst auf der Ebene der Gesellschafter vorzunehmen ist.26 Gemäß § 21 Abs. 3 EStG sind Einkünfte i.S.v. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG anderen Einkunftsarten zuzurechnen, soweit sie zu diesen gehören. Aufgrund der wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist auch das „gehören“ wirtschaftlich zu interpretieren. Notwendig ist aber zunächst, dass der Tatbestand einer anderen Einkunftsart erfüllt ist. Hier hat die E die Beteiligung zulässigerweise dem Betriebsvermögen ihres Einzelunternehmens zugeordnet, sodass die Einkünfte hieraus im Gewinn aus dem Einzelunternehmen zu berücksichtigen und damit gewerblich i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG sind.27 Das „gehören“ i.S.d. § 21 Abs. 3 EStG beurteilt sich bei der Konkurrenz von Einkünften aus § 21 EStG und aus § 15 EStG danach, ob das Wirtschaftsgut im Betriebsvermögen ist.28 Dies ist hier in Bezug auf die GbR-Beteiligung der Fall, sodass die Einkünfte aus der GbR bei der E zu solchen aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gehören.

33

Wichtig: Auch wenn die GbR aufgrund der unterschiedlichen steuerlichen Beurteilungen auf Ebene der Gesellschafter – hier: D erzielt aus der Beteiligung Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, die E erzielt Einkünfte aus Gewerbebetrieb – als Zebragesellschaft anzusehen ist, beeinflusst dies nicht die Art oder Höhe der Einkünfteermittlung auf Ebene der GbR.

bb) Einkünftequantifikation 34

E ist ebenfalls zu 1/3 an der GbR beteiligt, sodass ihr von den Einkünften der GbR – 90.000 Euro, siehe oben – ebenfalls 1/3 und mithin 30.000 Euro zustehen.29 c) Ergebnis

35

E erzielt damit aus der Beteiligung an der GbR Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.H.v. 30.000 Euro. 26 27 28 29

Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.47. Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 7. Kulosa in Schmidt40, § 21 EStG Rz. 163. Zur Einkünfteermittlung siehe oben Rz. 26 a.E.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 40

3. Beurteilung für C Fraglich ist, welche Einkünfte die C aus ihrer Beteiligung an der KG erwirtschaftet.

36

a) Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG C könnte aus ihrer Beteiligung an der KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG erzielen. Dazu müsste eine Gesellschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG vorliegen, und die C müsste als Gesellschafterin Mitunternehmerin sein.30

37

aa) Vorliegen einer Gesellschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG Mit der ABC-KG liegt eine Kommanditgesellschaft i.S.d. §§ 161 ff. HGB vor, die explizit in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG als Gesellschaftsform aufgeführt ist. Die KG ist auch gewerblich tätig ist und erzielt folglich Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Die C ist auch Kommanditistin der Kommanditgesellschaft und insoweit zivilrechtlich Gesellschafterin der KG, § 161 Abs. 1 HGB.

38

bb) Mitunternehmereigenschaft der C Fraglich ist allerdings, ob C als Mitunternehmerin dieser Gesellschaft i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG anzusehen ist. Der Begriff des Mitunternehmers ist ein sog. Typusbegriff.31 Inhaltlich fordert der Mitunternehmerbegriff das Vorliegen von Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative. Die einzelnen Merkmale des Mitunternehmerbegriffs müssen zwar beide vorliegen, aber nicht gleichermaßen intensiv gleichmäßig ausgeprägt sein; so kann z.B. ein geringeres mitunternehmerisches Risiko durch eine besonders starke Ausprägung des Initiativrechts ausgeglichen werden und umgekehrt; entscheidend ist eine wertende Betrachtungsweise – im Steuerrecht insbesondere auch immer unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

39

Mitunternehmerrisiko ist gegeben, wenn der Steuerpflichtige unmittelbar an dem Erfolg und dem Misserfolg des Unternehmens beteiligt ist.32 Dies bedeutet nicht nur eine Beteiligung am laufenden Gewinn und Verlust, sondern auch an den stillen Reserven des Anlagevermögens im Falle der Realisierung oder bei Liquidation bzw. Ausscheiden aus der Gesellschaft.33 Ferner beinhaltet das Mitunternehmerrisiko eine persönliche Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten.34 Die C partizipiert hier zwar an den laufenden Gewinnen der Gesellschaft mit ihrer Beteiligung von einem

40

30 Zur grammatikalischen Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG in Bezug auf die Mitunternehmerschaft als Erfordernis für die Einkünftequalifikation siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.35. 31 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.38. 32 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.36. 33 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.36. 34 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.36.

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Rz. 40 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

Prozent. Im Falle des Ausscheidens aus der Gesellschaft erhält sie allerdings „lediglich“ und in jedem Fall ihre Einlage zurück. Das bedeutet, dass die C wirtschaftlich mit ihrem eigenen Vermögen weder die Verluste, die auf ihren Anteil entfallen, zu tragen hat noch stille Reserven des Anlagevermögens bei ihrem Ausscheiden vergütet bekommt. Weiter spricht die Tatsache, dass die C bei Ausscheiden aus der KG oder Auflösung der KG ihre Einlage zurückerhält, dafür, dass sie wirtschaftlich nicht für Verbindlichkeiten der Gesellschaft einsteht. Im Außenverhältnis ist eine Haftung mit Leistung der Einlage der Kommanditisten nämlich gem. § 171 Abs. 1 Halbs. 2 HGB ausgeschlossen, und die C hat ihre Einlage in voller Höhe geleistet. Letztlich erschöpft sich das wirtschaftliche Risiko in einem Insolvenzrisiko der Gesellschaft und der persönlich haftenden Gesellschafter sowie in einer im Verlustfall nicht erfolgten Verzinsung der Haftungseinlage. Das Mitunternehmerrisiko ist somit sehr gering ausgeprägt und unterschreitet sogar die Anforderung eines belastenden Gesellschafterbeitrags durch den Anspruch auf vollständige Rückzahlung.35 41

Mitunternehmerinitiative hat derjenige, der Teilhabe oder Einfluss auf Unternehmensentscheidungen hat.36 Dabei dienen die gesetzlich dem Kommanditisten zustehenden Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechte i.S.d. §§ 164, 166 HGB als untere Annäherungsgrenze bei der Beurteilung der Mitunternehmerinitiative.37 Vorliegend ist die C zunächst als Kommanditistin mit einer Beteiligung von nur 1 % an der KG beteiligt. Die ihr nach dem HGB zustehenden Stimm-, Kontroll- und Widerspruchsrechte werden gesellschaftsvertraglich auch nicht eingeschränkt. Vielmehr hat die C sogar noch aus einem schuldrechtlichen Vertrag mit der KG eine Befugnis zur Geschäftsführung neben der A. Somit steht ihr eine Möglichkeit zu, die Geschäfte der Gesellschaft zu gestalten oder auf deren konkrete Ausgestaltung auszuwirken. Damit wäre das Merkmal der Mitunternehmerinitiative deutlich ausgeprägt. Andererseits besteht ein gesellschaftsvertragliches Recht, dass die C zu jedem Zeitpunkt mit einer Gesellschafterstimmenmehrheit von 2/3 aus der Gesellschaft herausgekündigt werden kann. Diese Anforderungen erfüllt im vorliegenden Fall die A mit ihrer Beteiligung von 74 % bereits allein. Daraus resultiert eine gewisse Abhängigkeit der C von der A. So ist C doch dem Risiko ausgesetzt, bei Entscheidungen, die nicht derjenigen der A entsprechen, aus der Gesellschaft herausgekündigt zu werden. Diese wirtschaftliche Unwägbarkeit wird, gepaart mit der Tatsache, dass auch die A geschäftsführungsbefugt ist, C bei der Geschäftsführung in gewisser Weise beeinflussen und hemmen. Damit ist die Mitunternehmerinitiative wiederum nicht vollständig ausgeprägt.

42

In der wertenden Gesamtschau liegen für die C ein sehr gering ausgeprägtes Mitunternehmerrisiko und eine mittelmäßig ausgeprägte Mitunternehmerinitiative vor. Wägt man diese beiden Merkmale miteinander ab, spricht insbesondere das kaum ausgeprägte Mitunternehmerrisiko dafür, der C die Mitunternehmerschaft abzusprechen. Die faktisch eingeschränkte Geschäftsführungsbefugnis der C im Bereich der Mitunternehmerinitiative vermag dieses Manko nicht auszugleichen. Somit ist die C nicht als Mitunternehmerin der KG anzusehen. 35 Siehe BFH v. 13.7.2017 – IV R 41/14, BStBl. II 2017, 1133, juris Rz. 32. 36 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.37. 37 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.37.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 48

cc) Ergebnis Die C ist zwar Gesellschafterin, aber nicht Mitunternehmerin der KG und erzielt somit aus ihrer Beteiligung keine Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG.

43

Alternative Lösung: Eine andere Auffassung in Bezug auf die Mitunternehmerstellung der C ist an dieser Stelle mit entsprechender Begründung vertretbar. Wichtig ist lediglich, dass die verschiedenen Aspekte zur Mitunternehmerinitiative und zum Mitunternehmerrisiko aus dem Sachverhalt herausgearbeitet, dargestellt und gegeneinander abgewogen werden.

44

b) Überschusseinkünfte Mangels Einkünften aus Gewerbebetrieb kommen aus der Beteiligung an der Gesellschaft nur noch Überschusseinkünfte in Betracht.

45

aa) Einkünftequalifikation Die Beteiligung der C an der KG mit einer Einlage, die in Gewinnzeiten mit 1 % des Gewinns der KG vergütet wird, ist steuerrechtlich als Kapitalüberlassung zu qualifizieren. Ob es sich hierbei um ein partiarisches Darlehen oder einen Ertrag aus einer stillen Gesellschaft i.S.d. §§ 230 ff. HGB handelt, kann für steuerrechtliche Zwecke der C dahinstehen, denn in beiden Fällen liegen Einkünfte i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG vor.38 Charakteristisch ist jeweils, dass der Geldgeber – hier die C – für die Kapitalüberlassung einen Gewinnanteil erhält,39 was hier durch die 1 %-Beteiligung gegeben ist. C erzielt somit mit ihrer Beteiligung an der KG Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG.

46

Aus dem Dienstvertrag ist die C neben der A zur Geschäftsführung der KG berechtigt. Aufgrund ihrer geringen Beteiligung von 1 % ist ihr Einfluss auf Gesellschaftsebene zu gering, um von einer selbständigen Tätigkeit sprechen zu können, sodass C weisungsabhängig ist und insoweit Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit i.S.v. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt.

47

bb) Einkünftequantifikation (1) Einkunftsermittlungsart Sowohl bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, als auch bei den Einkünften aus Kapitalvermögen handelt es sich um Überschusseinkünfte, bei denen die Einkünfte der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten sind, § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG. 38 Durch die gemeinsame Zweckverfolgung von A, B und C durch die KG ist allerdings das Vorliegen einer stillen Gesellschaft anzunehmen, siehe auch Bleschick in Kirchhof/Seer20, § 20 EStG Rz. 75. 39 Bleschick in Kirchhof/Seer20, § 20 EStG Rz. 75, 95.

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Rz. 49 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

(2) Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit 49

C erhält für die Geschäftsführung der KG 10.000 Euro, die gem. § 8 Abs. 1 EStG als Einnahmen zu berücksichtigen sind. Mangels ersichtlicher Werbungskosten i.S.d. § 9 EStG ist die Werbungskostenpauschale des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG i.H.v. 1.000 Euro zu gewähren, sodass C Einkünfte aus der Tätigkeit für die KG aus §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.H.v. 9.000 Euro erwirtschaftet. (3) Einkünfte aus Kapitalvermögen

50

Um zu bestimmen, in welcher Höhe die C Einnahmen aus der Überlassung der Gesellschaftereinlage erzielt, ist der hierfür maßgebliche Gewinn der KG zu ermitteln. Hier hatte die Gesellschaft einen vorläufigen Gewinn i.H.v. 250.000 Euro erwirtschaftet. Dabei wurde allerdings noch nicht der Aufwand für das gemietete Grundstück berücksichtigt. Auch die schuldvertragliche Geschäftsführervergütung an C wurde von der KG noch nicht gewinnmindernd verbucht. In beiden Fällen handelt es sich um Ausgaben, die durch den Betrieb der KG veranlasst waren und die als Aufwand zu berücksichtigen sind. Als weiterer Ertrag sind die Einkünfte aus der Beteiligung an der GbR – 1/3 von 90.000 Euro, siehe Einkunftsermittlung bei der GbR oben – i.H.v. 30.000 Euro zu erfassen, sodass sich zunächst für die Einkünfteermittlung bei der C folgendes Bild der Gewinnermittlung ergibt: Gewinnermittlung: Gewinn vor Korrekturen ./. Mietaufwand + Anteil GbR ./. Geschäftsführergehalt

250.000 Euro 30.000 Euro 30.000 Euro 10.000 Euro

Gewinn

240.000 Euro

51

Von diesem Betrag – vermindert um den gesellschaftsvertraglich vereinbarten und steuerrechtlich wirksamen Gewinnvorab für die A i.H.v. 50.000 Euro, mithin 190.000 Euro – stehen der C 1 % aufgrund des Gesellschaftsvertrages, also 1.900 Euro zu.

52

Die Einnahmen sind um die Werbungskosten zu kürzen, jedoch wird statt der tatsächlichen Werbungskosten gem. §§ 2 Abs. 2 Satz 2; 20 Abs. 9 EStG „als Werbungskosten“ der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro abgezogen. Vermindert um den Sparerpauschbetrag i.H.v. 801 Euro verbleiben somit Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.H.v. 1.099 Euro. c) Ergebnis

53

C erzielt aus ihrer Beteiligung an der KG Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.H.v. 1.099 Euro. Aus der Tätigkeit als

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 59

Geschäftsführerin der KG erzielt C Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.H.v. 9.000 Euro. Alternative Lösung: Wer sich oben für eine Mitunternehmerstellung der C entschieden hat, muss sich damit auseinandersetzen, dass die Einnahmen aus der Geschäftsführertätigkeit Sonderbetriebseinnahmen der C i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG darstellen und dementsprechend ebenfalls zu den gewerblichen Einkünften aus der Mitunternehmerschaft gehören.40

54

4. Beurteilung für A A könnte hier Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG aus der Beteiligung an der KG erzielen.

55

a) Gesellschaftsebene Hier liegt mit der KG eine Kommanditgesellschaft vor, die ausdrücklich in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG genannt ist und die auch Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.v. § 15 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt.

56

Die Einkünfte der KG sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn. Die KG ist eine Handelsgesellschaft und damit Formkaufmann i.S.v. § 6 HGB i.V.m. § 161 HGB, sodass der Gewinn gem. §§ 238 ff. HGB i.V.m. § 140 AO gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln ist. Anzuknüpfen ist an die Gewinnermittlung, die bereits für die Beurteilung der C vorgenommen worden ist. Der handelsrechtliche Gewinn ist steuerrechtlich allerdings noch anzupassen. Denn der Gewinnanteil der C aus ihrer stillen Beteiligung stellt für die Gesellschaft steuerrechtlich eine Betriebsausgabe i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG dar. Im Ergebnis ist der bisher ermittelte Gewinn auf Ebene der KG, die 240.000 Euro, mithin um 1.900 Euro zu mindern.41 Es ergibt sich also ein steuerlicher Gewinn von 238.100 Euro.

57

b) Gesellschafterebene A trägt als persönlich haftende Komplementärin unzweifelhaft Mitunternehmerrisiko und übt durch ihre Geschäftsführungsbefugnis Mitunternehmerinitiative aus und ist damit als Mitunternehmerin anzusehen. Eine abweichende Qualifizierung der Einkünfte auf Ebene der A kommt nicht in Betracht.

58

Bei der Einkünftequantifizierung ist zunächst der Gewinnanteil der A i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG zu ermitteln. Von den 238.100 Euro stehen

59

40 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.103, 10.140. 41 Siehe zur Behandlung des auf den stillen Gesellschafter entfallenden Gewinns Levedag in Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft9, Rz. 22.188 ff.; im Falle eines partiarischen Darlehens läge entsprechend Zinsaufwand vor.

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Rz. 59 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

A 50.000 Euro als Gewinnvorab zu. Von den verbleibenden 188.100 Euro entfallen 140.600 Euro – entspricht 74 % von 240.000 Euro abzgl. 50.000 Euro – auf A. 60

Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG sind für die A nicht ersichtlich. Mithin erzielt A 50.000 Euro zzgl. 140.600 Euro und damit insgesamt 190.600 Euro Einkünfte aus ihrer Beteiligung an der KG. c) Ergebnis

61

A erzielt aus ihrer Beteiligung an der KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG i.H.v. 190.600 Euro. 5. Beurteilung für B

62

B könnte hier ebenfalls aus seiner Beteiligung an der KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG erzielen. a) Gesellschaftsebene

63

Für die Beurteilung auf der Ebene der KG kann auf die Ausführungen oben bei A verwiesen werden. b) Gesellschafterebene

64

B erfüllt als Kommanditist, ohne dass seine Rechte durch Gesellschaftsvertrag eingeschränkt sind, sowohl Mitunternehmerinitiative als auch Mitunternehmerrisiko – siehe oben bei C – und ist damit als Mitunternehmer der KG anzusehen. Mangels Umqualifizierung der Einkünfte auf der Ebene des B erzielt er aus seiner Beteiligung Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG.

65

Bei der Gewinnverteilung stehen ihm auf Gesellschaftsebene 47.500 Euro – dies entspricht 25 % von 190.000 Euro – zu.

66

Zusätzlich erzielt B im Sonderbereich durch Überlassung des Mietgrundstückes an die KG Einkünfte i.S.v. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG. Das Grundstück befindet sich dabei im Sonderbetriebsvermögen42 des B bei der KG. Die grundsätzlich ebenfalls vorliegenden Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG sind insoweit gem. § 21 Abs. 3 EStG subsidiär, sodass die Einkünfte aus dem Grundstück zu den Einkünften aus der gewerblichen Beteiligung gehören.

67

Die Einkünfte ermitteln sich nach der Gewinnermittlungsart auf Gesellschaftsebene, also durch Betriebsvermögensvergleich §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, und betragen hier bei Einnahmen aus der Vermietung i.H.v. 30.000 Euro und einer gem.

42 Siehe dazu Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.130 ff.

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Fall 11: Ein Zebra auf Abwegen | Rz. 69

§§ 4 Abs. 4; 7 Abs. 1 EStG zu berücksichtigenden Gebäudeabschreibung i.H.v. 20.000 Euro insgesamt 10.000 Euro. c) Ergebnis B erzielt aus seiner Beteiligung an der KG Einkünfte i.S.v. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG i.H.v. 57.500 Euro.

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 10 (siehe Einzelnachweise im Dokument) – Weiss, Abfärbung bei Personengesellschaften (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG), EStB 2015, 179

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten Schwerpunkte: – Grundzüge der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Gesellschafter – Erkennen und Behandlung von verdeckten Gewinnausschüttungen – Einlage in Einzelunternehmen – Übertragung von Wirtschaftsgütern zwischen Betriebsvermögen Bearbeitungszeit: 4 Stunden Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Die BA-GmbH ist ein weltweit agierender Kekshersteller mit Sitz in Deutschland. A, der in München in einer Villa residiert, ist seit seinem 20. Lebensjahr zu 25 % an der BA-GmbH beteiligt und hält die Beteiligung im Privatvermögen. Die übrigen 75 % der Anteile befinden sich in der Hand des B. Die BA-GmbH ist ihrerseits zu 13 % an der Kobayashi K.K., einer nach japanischem Recht gegründeten Gesellschaft mit Sitz in Tokio, beteiligt, die auf den Vertrieb von Keksen im asiatischen Raum spezialisiert ist. Es handelt sich bei der K.K. um eine Gesellschaft, deren Anteile an einer Börse gehandelt werden können, die mindestens aus einem Gesellschafter besteht und selbständiges Rechtssubjekt ist. Die Gesellschafter einer K.K. haften für die Geschäfte der Gesellschaft grundsätzlich nicht. Die Gründung erfolgt bei einer Registrierungsstelle mit einer Mindesteinlage. Im Jahr 01 schüttet die BA-GmbH an den A eine Dividende i.H.v. 2.500.000 Euro aus. Aus diesen Mitteln erwirbt der A eine in ein Schiffsregister eingetragene Yacht zum Preis von 1.000.000 Euro, die er an die BA-GmbH für 20.000 Euro monatlich vermietet. Andere Anbieter vermieten eine vergleichbare Yacht für monatlich 15.000 Euro. Bei der BA-GmbH dient die Yacht der Repräsentation des B. Dieser lässt sich gerne auf dem Schiff vor exotisch anmutenden Küsten ablichten und nutzt die Yacht für Urlaubsfahrten. Da L, der Lebensgefährte von A, schnelle Autos liebt, beschließt die BA-GmbH auf Anraten des A, dem L einen Sportwagen aus dem Fuhrpark (Buchwert 50.000 Euro) zu einem „symbolischen Kaufpreis“ von 10.000 Euro zu veräußern. Der PKW hat einen Wert von 238.000 Euro brutto; die BA-GmbH müsste zum Zeitpunkt der Veräußerung durch Mengen- und andere Rabatte für ein vergleichbares Modell nur 100.000 Euro (netto) am Markt aufwenden. Der Veräußerungsvorgang wird in der Buchführung wie folgt erfasst:

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1

Rz. 1 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht Bank Aufwand

10.000 50.000

an an

sonst. betrieblicher Ertrag Fuhrpark

10.000 50.000

Zum Jahresende zahlt die Kobayashi K.K. an die BA-GmbH eine „Gewinnbeteiligung“ i.H.v. 400.000 Euro aus, die die BA-GmbH voll erfolgswirksam erfasst hat. Im Januar 02 gründet A ein Einzelunternehmen, das die Essgewohnheiten der Bevölkerung erforschen und aufgrund der gewonnenen Informationen neue innovative Lebensmittelprodukte entwickeln soll. Aufgrund der sachlich engen Verknüpfung zur BA-GmbH legt A seine Beteiligung an dieser in voller Höhe in das Einzelunternehmen ein (gemeiner Wert zum Zeitpunkt der Einlage: 100.000.000 Euro, Teilwert: 80.000.000 Euro, Anschaffungskosten 20.000.000 Euro). Die an A ausgeschüttete Dividende der BA-GmbH beträgt im Mai 02 aufgrund mangelnder Keks-Nachfrage nur noch 1.000.000 Euro. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelingt A mit seinem Einzelunternehmen Ende 03 endlich der Durchbruch in der Produktentwicklung: Ein quasi kalorienfreier Keks mit wahlweise Schokoladen-, Vanille-, oder Erdbeergeschmack geht in die Massenproduktion, die jedoch wiederum von der BA-GmbH durchgeführt werden soll. Dazu erwirbt die BA-GmbH aus dem Einzelunternehmen des A die Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen zum (angemessenen) Preis von 2.000.000 Euro und stellt fortan unter eigenem Label die Kekse her. Der Kaufpreis für die neuen Verfahren wird jedoch von der BA-GmbH nicht ausgezahlt, da A auf die Auszahlung im Nachhinein trotz Zahlungswilligkeit der BA-GmbH verzichtet. Nach diesem Erfolg möchte sich A in 04 aus dem Keks-Business zurückziehen: Er gründet dazu die Z-GmbH & Co. KG, an der die Z-GmbH als alleinige Komplementärin zu 20 % und der A als Kommanditist zu 80 % beteiligt ist. A ist gleichzeitig alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Z-GmbH, die keinen eigenen Geschäftsbetrieb unterhält. Im Übrigen wurden keine von den handelsrechtlichen Vorschriften abweichenden Vereinbarungen getroffen. Die Beteiligung an der BA-GmbH überträgt A aus dem Betriebsvermögen seines Einzelunternehmens in das Gesamthandvermögen der KG. Das Einzelunternehmen veräußert A daraufhin an seinem 60. Geburtstag im Jahr 04 an den M zum Preis von 100.000 Euro. Außer einigen Anlagegütern (Buchwert 30.000 Euro, gemeiner Wert 50.000 Euro) befand sich kein nennenswertes materielles Vermögen mehr in dem Einzelunternehmen. Um die Gesamtrechtsnachfolge zu regeln, nimmt A noch im Jahr 04 seine Tochter T in die Z-GmbH & Co. KG auf und überträgt ihr unentgeltlich die Hälfte seines Kommanditanteils. Einen Anteil an der Z-GmbH erhält T nicht. Aufgabe: Beurteilen Sie den Sachverhalt aus einkommensteuerlicher Sicht für den A und gehen Sie auf die körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche Rechtslage bei der BAGmbH ein. Soweit Wahlrechte für A bestehen, stellen Sie diese bitte auch in den Rechtsfolgen dar. Eine Berechnung der Steuer ist nicht erforderlich. Ausführungen zur steuerlichen Bemessungsgrundlage sind entbehrlich, sofern es im Sachverhalt an entsprechenden Angaben mangelt. Auf die Kapitalertragsteuer ist nicht einzugehen. 176

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 5

Bearbeitungshinweis: Die Gewinnermittlung erfolgt stets durch Betriebsvermögensvergleich. Es ist nur die deutsche Rechtslage zu prüfen. Umwandlungssteuerrecht, Doppelbesteuerungsabkommen und andere bi- und multilaterale zwischenstaatliche Vereinbarungen sind nicht zu prüfen und bleiben unbeachtet. Auf § 10 Abs. 5 Nr. 1; Abs. 4 Nr. 1 UStG wird hingewiesen. Auf die umsatzsteuerliche Behandlung der Vermietung der Yacht ist nicht einzugehen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 1. Verdeckte Gewinnausschüttung Die in § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG genannte, aber nicht näher definierte verdeckte Gewinnausschüttung gehört zu den Basics in körperschaftsteuerrechtlichen Klausuren. Die einzelnen, sicher zu beherrschenden Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung sind:1

2

– Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung – durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst – Auswirkung auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG – kein Zusammenhang mit offener Gewinnausschüttung – Vorteilsgeneigtheit bei dem Gesellschafter. Schwieriger kann es sein, die Höhe der verdeckten Gewinnausschüttung zu bewerten, insbesondere dann, wenn ein Fall der umsatzsteuerlichen Mindestbemessungsgrundlage i.S.d. § 10 Abs. 4, 5 UStG vorliegt, die von dem gemeinen (Netto-)Wert der verdeckt ausgeschütteten Ware oder Dienstleistung abweicht. Der Hintergrund ist folgender:

3

Grundsätzlich ist, soweit keine besonderen Vorschriften vorliegen, die etwas anderes vorschreiben, gem. § 9 Abs. 1 BewG der gemeine Wert bei der Bewertung einer verdeckten Gewinnausschüttung zugrunde zu legen. Dabei ist gem. § 9 Abs. 2 BewG der Preis, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr erzielt wird, heranzuziehen. Dieser Preis ist ein Bruttopreis, enthält also die bei einem Verkauf entstehende Umsatzsteuer.2 Der Nettowert des gemeinen Wertes multipliziert mit 1,07 bzw. 1,19 ergibt somit den gemeinen Bruttowert.

4

Um verbilligte Abgaben an nahestehende Personen umsatzsteuerrechtlich zu verhindern, sieht § 10 Abs. 4, 5 UStG in diesen Fällen eine Mindestbemessungsgrundlage

5

1 Siehe zu den Voraussetzungen und Einzelheiten der verdeckten Gewinnausschüttung Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.70 ff. 2 Grootens in Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 9 BewG Rz. 12.

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Rz. 5 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

vor, die die Bemessung der Umsatzsteuer anhand einer Mindestbemessungsgrundlage festlegt, die nicht zwingend dem Nettowert des gemeinen Wertes entspricht, sondern durchaus deutlich unter diesem Wert liegen kann. 6

Liegt, wie im vorliegenden Sachverhalt, ein solcher Fall der umsatzsteuerlichen Mindestbemessungsgrundlage vor, stellt sich die Frage, wie die verdeckte Gewinnausschüttung auf Ebene des Gesellschafters und der Gesellschaft zu bewerten ist. Da es um die Vermögensminderung bzw. die verhinderte Vermögensmehrung geht, ist zwingend der Nettowert des gemeinen Wertes für die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung heranzuziehen. Fraglich und problematisch ist aber, ob dieser um die Umsatzsteuer zu erhöhen ist, die in dem gemeinen (Brutto-)Wert enthalten ist, oder um die Umsatzsteuer, die sich nach Anwendung der umsatzsteuerlichen Mindestbemessungsgrundlage ergibt. Insoweit werden unterschiedliche Auffassungen vertreten, die in der Falllösung gegeneinander abgewogen werden sollen.3 Wie immer gilt: Klausurtechnisch ist mit dem Erkennen der Problematik bereits viel gewonnen, und es hängt mehr von der methodischen Auseinandersetzung als vom Endergebnis ab, ob die Bearbeitung als gelungen zu bezeichnen ist. 2. Gewerbesteuer in der unternehmensteuerrechtlichen Klausur

7

In unternehmensteuerrechtlichen Klausuren wird häufig zusätzlich zur einkommenund körperschaftsteuerlicher Rechtslage nach der gewerbesteuerlichen Beurteilung des Falles gefragt. Das Aufgabenspektrum reicht dabei von speziellen Einzelfragen bis hin zur Berechnung der Gewerbesteuer und Verfahrensfragen. Die rechnerische Ermittlung der Gewerbesteuer ist ohne Weiteres aus dem Gesetzestext ableitbar: Der Gewerbesteuermessbetrag wird – ggf. nach Berücksichtigung eines Freibetrages – durch Multiplikation des auf volle 100 Euro abgerundeten Gewerbeertrages mit der Steuermesszahl von 3,5 % errechnet (§ 11 Abs. 1, 2 GewStG). Die Gewerbesteuer ergibt sich sodann durch Multiplikation des Steuermessbetrages mit dem Hebesatz der hebeberechtigten Gemeinde (§ 16 Abs. 1 GewStG). Da sich der Hebesatz der Gemeinde nicht aus dem Gesetz ergibt, ist seine Wiedergabe im Aufgabentext stets Hinweis darauf, dass die Gewerbesteuer zu berechnen ist.

8

Rechtlich anspruchsvoller kann dagegen die Ermittlung des Gewerbeertrages sein. Dieser knüpft gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 GewStG grundsätzlich an die Gewinnermittlung aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer an, wird jedoch durch einen Katalog von Hinzurechnungen und Kürzungen in den §§ 8, 9 GewStG modifiziert.4 Bei der Anwendung der §§ 8 Nr. 5; 9 Nr. 2a, 7 GewStG, die die Berücksichtigung von Gewinnen aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften im Gewerbeertrag regeln, ist zu beachten, dass das körperschaftsteuerliche Schachtelprivileg in § 8b Abs. 4 Satz 1 KStG nicht identisch mit dem gewerbesteuerlichen ist. Während § 8b Abs. 4 Satz 1 KStG eine Beteiligung von mindestens 10 % zu Beginn des Kalenderjahres fordert, ist gem. § 9 Nr. 2a, 7 GewStG eine Beteiligung von mindestens 15 % zu Beginn des Erhe-

3 Siehe die Nachweise zu den einzelnen Auffassungen in der Falllösung unten Rz. 78. 4 Im Einzelnen siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 12.40 ff.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 13

bungszeitraum erforderlich.5 Es kommt somit bei Beteiligungen zwischen 10 % und 15 % zu abweichenden Ergebnissen im Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuerrecht.6 Der Hinweis auf die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei Einzelunternehmern und Gesellschaftern von Personengesellschaften gem. § 35 Abs. 1, 2 EStG rundet gelungene Arbeiten im Bereich der Gewerbesteuer ab.

9

II. Anforderungsprofil Die Klausur umfasst im ersten Teil (Jahr 01) grundlegende Probleme im Bereich der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und ihrer Gesellschafter, die allerdings – bis auf eine Ausnahme, siehe dazu die Erläuterungen zur verdeckten Gewinnausschüttung Rz. 2 ff. – keine speziellen Problematiken vertieft aufgreift. Verlangt sind somit vor allem breites Basiswissen und der sichere Umgang mit dem Gesetzestext. Soweit Wahlrechte für den A dargestellt werden sollen, sind Aspekte der Gestaltungsberatung in diesem Teil ebenfalls enthalten. Hier ist insbesondere auf Ausnahmen von der Abgeltungsteuer7 i.S.d. § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG einzugehen,8 die, soweit § 3 Nr. 40 Satz 2 EStG durch § 32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 EStG suspendiert wird, in die Anwendung des bereits vor der Abgeltungsteuer existierenden Teileinkünfteverfahrens – damals noch Halbeinkünfteverfahren – münden.9

10

Im zweiten Teil (Jahre 02-04) stehen eine Unternehmensgründung, ein Unternehmensverkauf sowie die Regelung der Rechtsnachfolge mittels einer Personengesellschaft und damit §§ 6 Abs. 3, 5, 6; 16 EStG im Mittelpunkt. Auch hier sind keine vertieften Sonderkenntnisse verlangt, sondern es zählen das ertragsteuerliche Systemverständnis und die sorgfältige Arbeit mit dem Gesetzestext.

11

Bereits die Tatsache, dass die BA-GmbH an einer anderen Gesellschaft mit einer Quote von 13 % beteiligt ist, sollte aufmerksame Bearb. auf die oben erläuterte Diskrepanz zwischen körperschaftsteuerlichem und gewerbesteuerlichem Schachtelprivileg stoßen. Im Übrigen beinhaltet die Aufgabe zur Gewerbesteuer keine Schwierigkeiten und ist daher gut zu bewältigen. Insbesondere ist mangels eines angegebenen Hebesatzes der Gemeinde eine Berechnung der Gewerbesteuer nicht gefordert, sondern die Ausführungen sind auf die Berichtigung des Gewerbeertrages zu beschränken.

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Der Fokus der Bearbeitung sollte auf der körperschaftsteuerlichen Beurteilung der BA-GmbH und einkommensteuerlichen Beurteilung des A liegen und mindestens 85 % der Klausurlösung ausmachen.

13

5 Siehe zu Einzelheiten, insbesondere zum Verhältnis von §§ 9 Nr. 2a, 7; 8 Nr. 5 GewStG unten in der Falllösung Rz. 94 ff. 6 Siehe auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 12.49. 7 Zur Abgeltungsteuer insgesamt siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.492 ff. 8 Zu den Ausnahmen von der Abgeltungsteuer siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.501 f. 9 Zum Teileinkünfteverfahren siehe Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.12 ff.

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Rz. 14 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

C. Gliederung 14

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Einkommensteuerliche Beurteilung für A 1. Subjektive Steuerpflicht 16 2. Objektive Steuerpflicht 17 a) Jahr 01 aa) Dividende 18 bb) Vermietung der Yacht (1) Einkünftequalifikation 20 (2) Einkünftequantifikation 26 cc) Veräußerung des PKW durch die BA-GmbH an L (1) Einkünftequalifikation 30 (2) Einkünftequantifikation 38 b) Jahr 02 aa) Gründung des Einzelunternehmens und Einlage der Beteiligung 39 bb) Dividende 45 c) Jahr 03 47 d) Jahr 04 aa) Gründung der Z-GmbH & Co. KG und Übertragung der Beteiligung 50 bb) Veräußerung des Einzelunternehmens 53 cc) Aufnahme der Tochter in die Z-GmbH & Co. KG 59 II. Körperschaftsteuerliche Beurteilung für die BA-GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht 63 2. Objektive Steuerpflicht a) Einkünftequalifikation 64 b) Einkunftsermittlungsart und Gewinnermittlung 65 c) Jahr 01 aa) Auszahlung der Dividende 66 bb) Zahlungen für die Yacht (1) Zu hohe Mietzahlung an den A 67 (2) Überlassung der Yacht an den B 68 180

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 18

cc) Veräußerung des PKW an L (1) Innerbilanzielle Korrekturen 75 (2) Außerbilanzielle Korrekturen 77 dd) Ausschüttung der Kobayashi K.K. 82 d) Jahr 02 87 e) Jahr 03 88 III. Gewerbesteuerliche Beurteilung für die BA-GmbH 1. Steuergegenstand und Steuerschuldner 91 2. Ermittlung des Gewerbeertrages 93

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, wie der Sachverhalt aus ertragsteuerlicher Sicht für den A und die BAGmbH zu beurteilen ist.

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I. Einkommensteuerliche Beurteilung für A 1. Subjektive Steuerpflicht Als natürliche Person mit Wohnsitz (§ 8 AO) im Inland ist A gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG in Deutschland unbeschränkt mit seinem Welteinkommen einkommensteuerpflichtig.

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2. Objektive Steuerpflicht Fraglich ist, welche Einkünfte A in den Jahren 01 bis 04 erzielt hat, wie diese zu ermitteln sind und in welcher Höhe sie angefallen sind.

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a) Jahr 01 aa) Dividende A hält die Beteiligung an der BA-GmbH im Jahr 01 im Privatvermögen und erzielt daher mit den Dividendenzahlungen Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Die Einkünfte sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, wobei statt der tatsächlichen Werbungskosten gem. §§ 2 Abs. 2 Satz 2; 20 Abs. 9 Satz 1 EStG der Sparer-Pauschbetrag i.H.v. 801 Euro anzusetzen ist. Danach ergeben sich Einkünfte aus Kapitalvermögen i.H.v. 2.500.000 Euro abzgl. 801 Euro = 2.499.199 Euro, die gem. § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG mit dem Steuersatz von 25 % besteuert werden. Mit dem Steuerabzug ist die Einkommensteuer gem. § 43 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 EStG grds. abgegolten.

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Rz. 19 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

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A könnte hier allerdings das Wahlrecht i.S.d. § 32d Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a EStG in Anspruch nehmen und von der Anwendung der Abgeltungsteuer hin zur Anwendung des Regelsteuersatzes optieren. Dazu ist eine Beteiligung des A an der BAGmbH i.H.v. 25 % erforderlich, die hier vorliegt. Übt A dieses Wahlrecht aus, finden gem. § 32 Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 EStG die § 3 Nr. 40 Satz 2 EStG sowie § 20 Abs. 6, 9 EStG keine Anwendung. Damit kann A statt des Sparer-Pauschbetrages die (hier nicht ersichtlichen) tatsächlichen Werbungskosten geltend machen. Außerdem sind gem. § 3 Nr. 40 Buchst. d EStG 40 % der Einnahmen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG steuerfrei, sodass hier von den 2.500.000 Euro letztlich noch 1.500.000 Euro steuerpflichtige Einnahmen und somit auch Einkünfte verbleiben. Anzuwenden ist im Fall der Antragsausübung der tarifliche Steuersatz i.S.d. § 32a Abs. 1 EStG. bb) Vermietung der Yacht (1) Einkünftequalifikation

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Mit der Vermietung der in ein Schiffsregister eingetragenen Yacht erzielt A grundsätzlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Soweit ein unangemessenes Mietentgelt gezahlt wird, könnten auch Einkünfte aus §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG gegeben sein, wenn die Voraussetzungen einer verdeckten Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zugunsten des A vorliegen.

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Eine verdeckte Gewinnausschüttung setzt bei der Gesellschaft eine Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung voraus, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG bei der Gesellschaft auswirkt, in keinem Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung steht und objektiv geeignet ist, beim Gesellschafter einen Bezug i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG auszulösen.10

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Hinweis: In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs wurde zunächst darauf abgestellt, dass sich die verdeckte Gewinnausschüttung auf das Einkommen der Kapitalgesellschaft ausgewirkt haben muss.11 Dies führte aber zu Wertungsproblemen, da das Einkommen der Gesellschaft gem. § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. §§ 4 ff. EStG bereits die außerbilanziellen Korrekturen beinhaltet und insoweit eine tatsächlich erfolgte Vermögensmehrung beim Gesellschafter unversteuert blieb. Seit BFH v. 5.6.200212 stellt die Rechtsprechung daher zu Recht auf eine Auswirkung auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG ab.13

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Durch die monatlichen Mietzahlungen für die Yacht an A wird das Vermögen der BA-GmbH gemindert. Soweit die Mietzahlung unangemessen ist, müsste auch eine Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis vorliegen. Hier kann indiziell der 10 11 12 13

Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.71 f. Siehe etwa BFH v. 19.3.1997 – I R 75/96, BStBl. II 1997, 577, juris Rz. 9. BFH v. 5.6.2002 – I R 69/01, BStBl. II 2003, 329, juris Rz. 9. Siehe aktuell BFH v. 16.12.2020 – I B 1/20, juris Rz. 9. Siehe insgesamt dazu Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8 KStG Rz. 165.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 27

Fremdvergleich herangezogen werden, der jedoch eine Gesamtwürdigung der Umstände nicht ersetzt. Einem fremden Dritten hätte ein gewissenhafter und ordentlicher Geschäftsleiter lediglich eine angemessene monatliche Miete gezahlt, und es sind auch keine Umstände erkennbar, die hier für eine Fremdüblichkeit der Mietzahlungen sprechen, und dass diese nicht durch das Gesellschaftsverhältnis beeinflusst ist,14 sodass die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis zu bejahen ist. Durch die monatliche Zahlung wird auch das Konto „Bank“ vermindert und ein „betrieblicher (Miet-)Aufwand“ gebucht, sodass eine Auswirkung auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG vorliegt. Ein Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung ist hier nicht erkennbar, und die Vorteilsgeneigtheit der Zahlung ergibt sich aus dem Geldzufluss bei A. Es liegt somit – soweit die Mietzahlung unangemessen ist, nicht also auch am freien Markt für die identische Leistung bezahlt werden würde – eine verdeckte Gewinnausschüttung an den A durch die BA-GmbH vor. Damit erzielt A insoweit – auch – Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG. Ein Konkurrenzverhältnis der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und Kapitalvermögen besteht insoweit nicht. Die Mehrzahlung in Höhe der unangemessenen Zahlung resultiert vorliegend nicht aus der Tatsache, dass der A der BA-GmbH die Yacht überlässt, sondern lässt sich allein darauf zurückführen, dass A Gesellschafter der BA-GmbH ist. Die Zahlung ist insoweit durch das Gesellschaftsverhältnis und nicht durch die Überlassung der Yacht veranlasst, sodass bereits deswegen nur Einkünfte aus Kapitalvermögen vorliegen.

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Für den angemessenen Teil der Miete erzielt A somit Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. § 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG und, soweit die Mietzahlungen unangemessen sind, Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG.

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(2) Einkünftequantifikation Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ermitteln sich gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG als der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten.

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Die Einnahmen i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG, die im Rahmen der Vermietung zufließen beschränken sich auf den Betrag, der im Fremdvergleich für das Mieten einer Yacht aufgewendet werden würde, folglich auf einen Betrag i.H.v. monatlich 15.000 Euro. Im Bereich der Werbungskosten sind die Anschaffungskosten der Yacht gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 EStG i.V.m. § 7 Abs. 1 EStG über die gewöhnliche Nutzungsdauer der Yacht abzuschreiben und als Werbungskosten anzusetzen. Die laufenden Betriebskosten stellen ebenfalls Werbungskosten i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG dar.

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14 Vgl. zur Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis als Voraussetzung für die verdeckte Gewinnausschüttung Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.73 f.; siehe zu den Fremdvergleichskriterien ausführlich auch Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 132 ff.

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Rz. 28 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

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Bei den Einkünften aus Kapitalvermögen sind monatliche Einnahmen durch die verdeckte Gewinnausschüttung in Höhe des Betrages, der im Fremdvergleich über die Zahlung für die Miete einer Yacht hinausgeht, hier also i.H.v. 5.000 Euro, zu verzeichnen. Für die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG kann – auch in Bezug auf das Besteuerungswahlrecht, welches einheitlich auszuüben ist – auf das oben Gesagte verwiesen werden.

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Hinweis: Man kann an dieser Stelle darüber nachdenken, ob die Kosten, die für die Überlassung der Yacht an die BA-GmbH anfallen, nicht auch im Verhältnis der Einnahmen auf die Einkünfte aus Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung aufzuteilen sind. Dagegen spricht aber, dass die Qualifikation der unangemessenen Zahlung i.H.v. monatlich 5.000 Euro als verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG und damit bei A als Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG deutlich macht, dass hier keine Zahlung wegen der Überlassung der Yacht erfolgt, sondern weil A Gesellschafter ist. Die Aufwendungen für die Yacht stehen damit nicht im Zusammenhang mit den Einnahmen aus der Beteiligung, sondern lediglich mit den Vermietungseinkünften.

cc) Veräußerung des PKW durch die BA-GmbH an L (1) Einkünftequalifikation 30

Überdies könnte die Veräußerung des PKW durch die BA-GmbH an den L bei A zu steuerbaren Einkünften führen. In Betracht kommt wiederum nur eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG, die bei A zu Einkünften i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG führt.

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Die BA-GmbH hat statt des regulären Kaufpreises i.H.v. 238.000 Euro lediglich einen Kaufpreis i.H.v. 10.000 Euro von L verlangt und es insoweit unterlassen, ihr Vermögen zu erhöhen, sodass eine verhinderte Vermögensmehrung gegeben ist. Dies wirkt sich auch auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG aus, der bei einer Veräußerung zum Marktpreis höher wäre, und steht nicht im Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung.

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Fraglich ist allerdings, ob die Vermögensmehrung durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Dies setzt voraus, dass der Begünstigte der verdeckten Gewinnausschüttung ein Gesellschafter ist.15 Daran könnte man hier durchaus zweifeln, denn letztlich hat mit L der Lebensgefährte des A den PKW vergünstigt von der BAGmbH erhalten. Allerdings soll es insoweit ausreichen, dass dem Gesellschafter ein mittelbarer wirtschaftlicher Vorteil verschafft wird.16 Voraussetzung für eine solche Zurechnung beim Gesellschafter im Dreieck Gesellschafter-Dritter-Gesellschaft ist, dass es sich bei dem Dritten um eine nahestehende Person des Gesellschafters handelt und eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung der Zuwendung an den Dritten im Verhältnis zwischen Gesellschaft und dem Gesellschafter besteht.17 15 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.75. 16 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.75. 17 Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 125.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 38

Ob eine nahestehende Person vorliegt, ist nach den familien-, gesellschafts-, schuldrechtlichen oder tatsächlichen Umständen herzuleiten, wobei keine Beschränkung auf die Angehörigen i.S.d. § 15 AO erfolgt.18 Ausreichend sind etwa eheähnliche Lebensgemeinschaften oder auch enge persönliche Freundschaften.19 Für A und seinen Lebensgefährten kann aufgrund dieser engen persönlichen Verbindung ein solches Verhältnis von nahestehenden Personen angenommen werden.

33

Für die Beantwortung der Frage, ob eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung der Zuwendung an den Dritten im Verhältnis zwischen Gesellschaft und dem Gesellschafter besteht, ist wiederum indiziell der Fremdvergleich heranzuziehen. Im vorliegenden Fall liebt der Lebenspartner des A schnelle Autos und A wirkt auf die BA-GmbH in diesem Zusammenhang ein, seinem Lebensgefährten den PKW vergünstigt zu überlassen. Dass die BA-GmbH in vergleichbaren Fällen auch fremden Personen, die den Gesellschaftern nicht nahestehen, ähnliche Preisnachlässe gewährt, ist nicht ersichtlich. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem PKW nicht um Umlauf-, sondern Anlagevermögen der BA-GmbH handelt, das üblicherweise nicht an Endverbraucher verkauft wird. Aspekte, die dafür streiten, dass die vergünstigte Veräußerung an L nicht durch das Gesellschaftsverhältnis zwischen der BA-GmbH und dem A veranlasst ist, sind nicht erkennbar.

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Damit liegt ein mittelbarer wirtschaftlicher Vorteil bei dem A vor, mit dem auch eine Vorteilsgeneigtheit in seiner Sphäre zu bejahen ist, sodass die Voraussetzungen einer verdeckten Gewinnausschüttung insgesamt erfüllt sind.

35

A erzielt durch die verbilligte Veräußerung des PKW von der BA-GmbH an L Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG.

36

Hinweis: Es ist an dieser Stelle sinnvoll, sich den Vorgang wirtschaftlich zu verdeutlichen, der den Zufluss bei dem Gesellschafter begründet: Dazu ist der Vorgang in eine Zuwendung der Gesellschaft an den Gesellschafter und eine Zuwendung des Gesellschafters an seine nahe stehende Person gedanklich aufzuteilen.20 Während die Zuwendung der Gesellschaft an den Gesellschafter zum gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG steuerbaren Zufluss führt, findet die Weitergabe dieses Vorteils an die nahestehende Person im zweiten Schritt auf privater Ebene des Gesellschafters statt. Ob bzgl. dieser privaten (unentgeltlichen) Zuwendung eine weitere Besteuerung erfolgt, richtet sich nach den Regeln des ErbStG.21

37

(2) Einkünftequantifikation Zur Einkünftequantifikation gilt im Grundsatz das bereits oben zu den Einkünften aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG Gesagte. Bei der verdeckten Gewinnausschüttung 18 BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301, juris Rz. 10. 19 BFH v. 18.12.1996 – I R 139/94, BStBl. II 1997, 301, juris Rz. 10. 20 Vgl. auch BFH v. 13.9.2017 – II R 54/15, BStBl. II 2018, 292, juris Rz. 23: Zahlung im abgekürzten Zahlungsweg. 21 Siehe hierzu BFH v. 7.11.2007 – II R 28/06, BStBl. II 2008, 258 und v. 13.9.2017 – II R 54/ 15, BStBl. II 2018, 292.

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Rz. 38 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

handelt es sich um eine Einnahme aus einer Überschusseinkunftsart. Ihre Bewertung auf Gesellschafterebene erfolgt daher gem. § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG mit dem um übliche Preisnachlässe geminderten üblichen Endpreis am Abgabeort.22 Dies wären hier 238.000 Euro. Dabei ist allerdings dem A die Zahlung des L an die BA-GmbH i.H.v. 10.000 Euro zuzurechnen, sodass letztlich nur noch eine Bereicherung des A i.H.v. 228.000 Euro verbleibt. Diese Bewertung entspricht auch dem Leistungsfähigkeitsgedanken, dass A den wirtschaftlichen Vorteil zu versteuern hat, der „durch ihn“ dem L zukommt. Somit hat A aus diesem Vorgang Einnahmen aus Kapitalvermögen i.H.v. 228.000 Euro. b) Jahr 02 aa) Gründung des Einzelunternehmens und Einlage der Beteiligung 39

Die Gründung des Einzelunternehmens durch den A hat für sich betrachtet keine direkten ertragsteuerlichen Folgen. A erzielt aus der Tätigkeit des Unternehmens gewerbliche Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG. Die Einkünfte aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der hier durch Betriebsvermögenvergleich gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG ermittelt wird.

40

Fraglich ist allerdings, wie die Einlage der Beteiligung des A an der BA-GmbH in das Betriebsvermögen zu beurteilen ist.

41

Einer Einlage fähig ist gem. § 4 Abs. 1 Satz 8 EStG jedes Wirtschaftsgut, das der Steuerpflichtige dem Betrieb im Laufe eines Wirtschaftsjahres zuführt und damit auch die Beteiligung.

42

Allerdings ist die Einordnung der Beteiligung an der BA-GmbH als Betriebsvermögen, also die Zulässigkeit der Einlage, fraglich. Hier könnte gewillkürtes Betriebsvermögen vorliegen. Gewillkürtes Betriebsvermögen steht in einem gewissen objektiven Zusammenhang mit dem Betrieb und ist geeignet und bestimmt, diesen zu fördern.23 Das Einzelunternehmen dient der Erforschung von Essgewohnheiten und der Produktentwicklung von Keksen und steht mit der Beteiligung des A an der BAGmbH in einem engen sachlichen Zusammenhang, sodass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Auch ein für die Annahme von gewillkürtem Betriebsvermögen erforderlicher Widmungsakt liegt durch die Einlagehandlung vor.24 Die Beteiligung ist somit Betriebsvermögen geworden. Ob die Beteiligung darüber hinaus sogar notwendiges Betriebsvermögen ist, kann dahinstehen, da hieran keine besonderen steuerlichen Folgen geknüpft sind, die von denjenigen des gewillkürten Betriebsvermögens abweichen.

43

Fraglich ist noch, mit welchem Wert die Einlage der Beteiligung in das Einzelunternehmen zu bewerten ist. Gem. § 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 EStG erfolgt die Bewertung 22 Levedag in Schmidt40, § 20 EStG Rz. 50. 23 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.213. 24 Vgl. Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.213.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 47

einer Einlage grundsätzlich mit dem Teilwert, der hier 80.000.000 Euro beträgt. Von diesem Grundsatz sieht § 6 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 Buchst. b EStG jedoch eine Ausnahme vor, wenn ein Anteil an einer Kapitalgesellschaft Gegenstand der Einlage ist und der Steuerpflichtige an der Gesellschaft i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, also zu mindestens 1 % zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb der letzten fünf Jahre, beteiligt war. Dann erfolgt die Bewertung (höchstens) mit den Anschaffungskosten, die hier 20.000.000 Euro betragen haben. A ist an der BA-GmbH zu 25 % beteiligt, sodass die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG25 vorliegen und die Bewertung der Einlage der Beteiligung an der BA-GmbH in das Einzelunternehmen mit den Anschaffungskosten von 20.000.000 Euro erfolgt. Die Einlage selbst ist gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG ein erfolgsneutraler Vorgang, der die Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht berührt.26

44

bb) Dividende Die Dividende i.H.v. 1.000.000 Euro fließt dem A sodann nach Einlage der Beteiligung im Betriebsvermögen zu, sodass die grundsätzlich vorliegenden Einkünfte aus §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG (siehe oben Rz. 18) gem. § 20 Abs. 8 EStG zu solchen aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG umqualifiziert werden.27

45

Der Dividendenanspruch stellt eine Betriebseinnahme bei den gewerblichen Einkünften dar. Es gilt gem. § 3 Nr. 40 Buchst. d, Satz 2 EStG wiederum das Teileinkünfteverfahren, sodass von den 1.000.000 Euro 40 %, also 400.000 Euro, steuerfrei sind. Es verbleiben damit steuerpflichtige Betriebseinnahmen von 600.000 Euro.

46

c) Jahr 03 Mit der Veräußerung der Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen aus dem Einzelunternehmen an die BA-GmbH erzielt A Betriebseinnahmen und damit Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Die Betriebseinnahmen betragen 2.000.000 Euro. Unerheblich ist gem. § 252 Abs. 1 Nr. 5 HGB i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, dass der Erlös nicht zugeflossen ist. Es kommt lediglich darauf an, wann der Ertrag wirtschaftlich entstanden ist. Im Betriebsvermögen entsteht insoweit eine Forderung gegen die BA-GmbH i.H.v. 2.000.000 Euro. Soweit Ausgaben im Zusammenhang mit der Veräußerung angefallen sind, sind diese als Betriebsausgaben gem. § 4 Abs. 4 EStG zu berücksichtigen. Für die Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen selbst erfolgt keine Minderung des Veräußerungsgewinnes durch die Berücksichtigung von (fortgeführten) Anschaffungskosten, da es sich insoweit um selbst geschaffene immaterielle Wirt25 Auf die Dauer der Beteiligung kommt es nicht an; ausreichend ist, dass die 1 %-Grenze innerhalb des fünfjährigen Zeitraums zu irgendeinem Zeitpunkt „gerissen“ worden ist, siehe Gosch in Kirchhof/Seer20, § 17 EStG Rz. 30. 26 Siehe auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.360. 27 Vgl. hierzu Bleschick in Kirchhof/Seer20, § 20 EStG Rz. 181.

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Rz. 47 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

schaftsgüter des Anlagevermögens handelt, die gem. § 5 Abs. 2 EStG in der Steuerbilanz nicht aktiviert werden dürfen.28 Die betrieblichen Aufwendungen, die im Zusammenhang mit den Entwicklungsergebnissen und den Verfahrensweisen stehen, waren bzw. sind als laufende Betriebsausgaben gem. § 4 Abs. 4 EStG bereits gewinnmindernd zu berücksichtigen gewesen. 48

Mit dem nachgelagerten Verzicht auf die werthaltige Forderung gegenüber der BAGmbH – dort als Verbindlichkeit passiviert – wendet der A als Gesellschafter der Gesellschaft einen Vermögensvorteil zu, der nach der Lage des Sachverhaltes durch nichts anderes als das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sodass insoweit eine verdeckte Einlage i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG vorliegt.29 Auf Gesellschafterebene erhöht die verdeckte Einlage gem. § 6 Abs. 6 Satz 2 EStG die Anschaffungskosten der Beteiligung,30 sodass diese nunmehr nicht mehr 20.000.000 Euro, sondern 22.000.000 Euro betragen. Korrespondierend dazu ist im Einzelunternehmen die Forderung erfolgsneutral aufzulösen.31

49

Hinweis: Eine weitere Gewinnerhöhung durch den Verzicht auf die Forderung gegenüber der BAGmbH ergibt sich für A in der vorliegenden Konstellation nicht und ist auch nicht geboten. Denn der Erlös aus der Veräußerung der Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen hat bereits zu einer Erhöhung des Gewinns geführt und würde ansonsten doppelt besteuert. Zu den Auswirkungen auf den Gesellschafter im Bereich der Gesellschaft siehe noch unten Rz. 89 f.

d) Jahr 04 aa) Gründung der Z-GmbH & Co. KG und Übertragung der Beteiligung 50

Die Gründung der Z-GmbH & Co. KG führt für sich betrachtet noch zu keiner konkreten ertragsteuerlichen Folge für den A. Mit der Z-GmbH ist lediglich eine Kapitalgesellschaft als Komplementärin die einzige persönlich haftende Gesellschafterin, die auch gem. §§ 161 Abs. 2; 114 Abs. 1; 164 Satz 1 HGB allein zur Geschäftsführung befugt ist. Die Z-GmbH & Co. KG erzielt daher, obwohl sie keine originäre gewerbliche Tätigkeit i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG ausübt, als gewerblich geprägte Personengesellschaft Einkünfte aus Gewerbebetrieb gem. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG. Auf Gesellschaftsebene sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt wird.

51

Fraglich ist, wie die Übertragung der Beteiligung an der BA-GmbH aus dem Betriebsvermögen des Einzelunternehmens in das Gesamthandsvermögen der Z28 In der Handelsbilanz besteht demgegenüber gem. § 248 Abs. 2 Satz 1 HGB ein Wahlrecht, ob eine Aktivierung des immateriellen Vermögensgegenstandes erfolgt oder nicht. 29 Zur verdeckten Einlage Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.92. 30 Einzelheiten siehe Isler in Hermann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 468, 471. 31 Buchungssatz: Beteiligung 2.000.000 an Forderung 2.000.000.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 55

GmbH & Co. KG zu beurteilen ist. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Entnahme aus dem Einzelunternehmen und eine Einlage in die Z-GmbH & Co. KG, die mit einer entsprechenden Aufdeckung der stillen Reserven durch Ansatz des Teilwertes bei Entnahme gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG einhergeht. Hier könnte allerdings eine Übertragung zum Buchwert der Beteiligung gem. § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG in Betracht kommen. Dies setzt voraus, dass ein Wirtschaftsgut unentgeltlich oder gegen Gewährung oder Minderung von Gesellschaftsrechten aus einem Betriebsvermögen des Mitunternehmers in das Gesamthandsvermögen einer Mitunternehmerschaft übertragen wird. A hat als einziger Kommanditist der Z-GmbH & Co. KG und Geschäftsführer der Komplementär GmbH der Kommanditgesellschaft unzweifelhaft sowohl Mitunternehmerrisiko als auch Mitunternehmerinitiative und ist daher als Mitunternehmer der Z-GmbH & Co. KG anzusehen. Die Beteiligung an der BA-GmbH gelangt auch aus dem Betriebsvermögen seines Einzelunternehmens in das Gesamthandsvermögen der Z-GmbH & Co. KG, sodass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG vorliegen. Die Bewertung des übertragenen Wirtschaftsgutes ist mit dem Buchwert von 22.000.000 Euro vorzunehmen.

52

bb) Veräußerung des Einzelunternehmens Die Veräußerung des Einzelunternehmens stellt eine Veräußerung von Betriebsvermögen als Sachgesamtheit dar, sodass A dadurch grundsätzlich Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt.32 Hier könnten allerdings zusätzlich die Voraussetzungen der Betriebsveräußerung i.S.d. § 16 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 EStG oder der Betriebsaufgabe i.S.d. § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG vorliegen, die zu einer vergünstigten Besteuerung gem. § 16 Abs. 4 EStG und § 34 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1, 3 EStG führen können.

53

Hinweis: Die Bedeutung des § 16 EStG wird bei der Klausurbearbeitung häufig verkannt. Sie dient gerade nicht als Qualifikationsform für die Veräußerung oder Entnahme von Betriebsvermögen, denn dies ergibt sich bereits aus § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. den Grundsätzen zum Betriebsvermögen.33

54

Voraussetzung für eine Betriebsveräußerung i.S.d. § 16 Abs. 1 Nr. 1 EStG ist die Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebs oder eines Teilbetriebs. Rechtfertigungsgrund für den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG oder die Tarifermäßigung nach § 34 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1, 3 EStG ist, dass hierbei eine geballte Aufdeckung der stillen Reserven erfolgt.34 Die Veräußerung eines ganzen Gewerbebetriebs setzt daher die Übertragung der wesentlichen Betriebsgrundlagen voraus, wobei eine funktional-quantitative

55

32 Seer in Kirchhof/Seer20, § 16 EStG Rz. 7 f. 33 Siehe im Einzelnen zur konstitutiven Bedeutung der Norm Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.196, 8.421. 34 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.463.

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Rz. 55 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

Betrachtung maßgeblich ist.35 D.h. es müssen im Rahmen der Betriebsveräußerung alle Wirtschaftsgüter übertragen werden, die funktional unmittelbar der betrieblichen Leistungserstellung dienen, also für den Betriebsablauf ein erhebliches Gewicht haben,36 und/oder erhebliche stille Reserven enthalten.37 Der maßgebende Betrachtungszeitraum für die Frage, ob alle wesentlichen Betriebsgrundlagen veräußert worden sind, ist nicht zu eng zu verstehen und kann im Einzelfall bei gegebenem sachlichen Zusammenhang bis zu 18 Monate umfassen.38 56

Hier hatte der A, bevor er das Einzelunternehmen veräußert hat, den Anteil an der BA-GmbH zu Buchwerten gem. § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG (siehe oben Rz. 51 f.) in das Gesamthandsvermögen der Z-GmbH & Co. KG übertragen, ohne dabei die stillen Reserven i.H.v. 58.000.000 Euro aufzudecken. Zwar steht eine Buchwertübertragung nach § 6 Abs. 5 EStG der Wertung als steuerbegünstigtem Vorgang grundsätzlich nicht entgegen.39 Die stillen Reserven der Beteiligung dürften jedoch in Ansehung der restlichen im Unternehmen befindlichen Wirtschaftsgüter den weit überwiegenden Teil der gesamten stillen Reserven des Einzelunternehmens ausgemacht haben. Damit wurden nicht sämtliche wesentlichen Betriebsgrundlagen bei der Unternehmensveräußerung mit veräußert, sodass keine geballte Aufdeckung von stillen Reserven vorliegt und keine begünstigte Veräußerung des gesamten Betriebs i.S.d. § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gegeben ist.40

57

Dass hier „ein mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter organisatorisch geschlossener Teil des Gesamtbetriebs, der für sich allein lebensfähig ist“41 und damit ein Teilbetrieb veräußert wird, ist nicht erkennbar. Vielmehr befand sich kaum noch materielles Vermögen in dem Einzelunternehmen, das als bloßes Rumpfunternehmen ohne eigenen Tätigkeitsbereich, der für einen Teilbetrieb nötig wäre, zu bewerten ist. Insgesamt ist die Veräußerung des Einzelunternehmens nicht nach §§ 16 Abs. 4, 34 Abs. 1, 3 EStG begünstigt.

58

Der nicht steuerbegünstigte, laufende Gewinn beträgt gem. bei einem Veräußerungserlös von 100.000 Euro und einem Buchwert von 30.000 Euro insgesamt 70.000 Euro. cc) Aufnahme der Tochter in die Z-GmbH & Co. KG

59

Die Übertragung von Unternehmensteilen auf andere Personen führt grundsätzlich zu einer Entnahme zum Teilwert gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG und einer damit einhergehenden Besteuerung der stillen Reserven. Allerdings könnte im vorliegenden Fall eine Übertragung gem. § 6 Abs. 3 Satz 1, 2 EStG zu Buchwerten in Betracht kommen.

Seer in Kirchhof/Seer20, § 16 EStG Rz. 37. Seer in Kirchhof/Seer20, § 16 EStG Rz. 39. Seer in Kirchhof/Seer20, § 16 EStG Rz. 40. Kulosa in Hermann/Heuer/Raupach, § 16 EStG Rz. 521: „18 Monate“ bei § 16 Abs. 3 EStG; großzügiger Wacker in Schmidt40, § 16 EStG Rz. 102: “ca. zwei Jahre“. 39 Geissler in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 16 EStG Rz. 128. 40 Vgl. Seer in Kirchhof/Seer20, § 16 EStG Rz. 37. 41 St. Rspr., aktuell BFH v. 17.5.2018 – VI R 66/15, BFHE 262, 33, juris Rz. 28. 35 36 37 38

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 63

A hat hier 50 % seines Mitunternehmeranteils (entspricht nominell 40 % an der KG) unentgeltlich auf seine Tochter übertragen, sodass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG prima facie erfüllt sind. Fraglich ist allerdings, wie es sich auswirkt, dass A kurz zuvor seine Beteiligung an der BA-GmbH zu Buchwerten in das Gesamthandvermögen der Z-GmbH & Co. KG eingelegt hat (siehe oben Rz. 51 f.) und ob die Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG dadurch ausgeschlossen ist, weil die T keinen Anteil an der Komplementär-GmbH der KG erhält, sondern dieser vielmehr zu 100 % in der Hand des A verbleibt.

60

§ 6 Abs. 5 EStG und § 6 Abs. 3 EStG schließen sich in ihrer Anwendung grundsätzlich nicht aus, sodass sie auch in einem kurzen Zeitraum hintereinander Anwendung finden.42 Insbesondere im vorliegenden Fall ist es unerheblich, zu welchem Zeitpunkt A seine Beteiligung an der BA-GmbH in das Gesamthandsvermögen der KG einlegt hat. Ob die Einlage – wie hier – vor Aufnahme der T in die KG erfolgte oder erst, nachdem er die T in die KG aufgenommen hat, führt, da § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 EStG hierbei nicht differenziert, zu einem identischen Ergebnis.

61

Wird das Sonderbetriebsvermögen nicht im Umfang des übrigen Vermögens mitübertragen, liegt eine unterquotale Übertragung des Sonderbetriebsvermögens vor, die eine Anwendung des § 6 Abs. 3 Satz 1 EStG mangels Übertragung des gesamten Mitunternehmerteils, zu dem auch das Sonderbetriebsvermögen gehört, grundsätzlich ausschließt.43 Über seinen Anteil an der Z-GmbH wird es A ermöglicht, Einfluss auf die Geschäftsführung der Z-GmbH & Co. KG auszuüben, sodass sich dieser in seinem Sonderbetriebsvermögen bei der KG befindet.44 Die GmbH-Beteiligung wäre somit grundsätzlich anteilig an die Tochter mitzuübertragen, was allerdings nicht erfolgt. Allerdings ermöglicht § 6 Abs. 3 Satz 2 EStG in den Fällen, in denen der Mitunternehmer Wirtschaftsgüter zurückbehält, die weiterhin zum Betriebsvermögen derselben Mitunternehmerschaft gehören, dennoch eine begünstigte Übertragung des Vermögens zu Buchwerten, sofern der Rechtsnachfolger den übernommenen Mitunternehmeranteil über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren nicht veräußert oder aufgibt. Hier gehört der Anteil an der Z-GmbH weiterhin zu dem auch das Sonderbetriebsvermögen umfassenden Betriebsvermögen45 der Z-GmbH & Co. KG. Auch hat die Tochter des A, soweit der Sachverhalt dies erkennen lässt, den übernommenen Anteil an der Mitunternehmerschaft bisher nicht veräußert. Eine Übertragung zu Buchwerten ohne Aufdeckung der stillen Reserven ist anzunehmen.

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II. Körperschaftsteuerliche Beurteilung für die BA-GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht Die BA-GmbH ist eine Kapitalgesellschaft mit Geschäftsleitung (§ 10 AO) und Sitz (§ 11 AO) im Inland und damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig. 42 43 44 45

Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 203. Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 204. Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.75. Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 205.

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Rz. 64 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

2. Objektive Steuerpflicht a) Einkünftequalifikation 64

Die Einkünfte der BA-GmbH sind gem. § 8 Abs. 2 KStG solche aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG. b) Einkunftsermittlungsart und Gewinnermittlung

65

Die Einkünfte sind gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz Nr. 1 EStG der Gewinn, der gem. § 13 Abs. 3 GmbHG, §§ 6 Abs. 1; 238 ff. HGB, § 140 AO, §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt wird. c) Jahr 01 aa) Auszahlung der Dividende

66

Eine offene Gewinnausschüttung in Form der Dividendenzahlung hat gem. § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG keine Auswirkung auf den Gewinn der Gesellschaft und ist außerbilanziell zu korrigieren.46 bb) Zahlungen für die Yacht (1) Zu hohe Mietzahlung an den A

67

Soweit die Mietzahlung an A für die Überlassung der Yacht in der obigen Prüfung als verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG an diesen qualifiziert worden ist, hat auch eine außerbilanzielle Korrektur auf Ebene der BA-GmbH zu erfolgen, die zu einer monatlichen Einkommenserhöhung von 5.000 Euro führt. (2) Überlassung der Yacht an den B

68

Im Zurverfügungstellen der Yacht an den B könnte wiederum eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG liegen. Die BA-GmbH hat es insoweit unterlassen, eine angemessene Mietzahlung von B für die Überlassung der Yacht einzufordern, sodass auf ihrer Seite eine verhinderte Vermögensmehrung gegeben ist.

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Fraglich ist wiederum, ob dies durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Dies ist wiederum nach einer Gesamtschau der Verhältnisse zu bestimmen, wobei der Frage, ob die Überlassung fremdüblich war, wiederum Indizcharakter zukommt. B nutzt die Yacht, um sich auf dem Schiff vor exotisch anmutenden Küsten ablichten zu lassen und im Übrigen für Urlaubsfahrten und somit hauptsächlich für private Repräsentationszwecke. Ein Zusammenhang mit dem operativen Geschäft der BA-GmbH oder zu anderen Zwecken, insbesondere zum Marketing, ist wegen der Repräsentation des B und nicht der BA-GmbH nicht zu erkennen. Die Yacht dient dem B zu pri-

46 Einzelheiten zur Einkommensverteilung nachzulesen bei Pfirrmann in Herrmann/Heuer/ Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 90 ff.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 73

vaten Zwecken und einem fremden Dritten hätte die BA-GmbH die Yacht nicht zur Verfügung gestellt, ohne dafür entsprechende Mietzahlungen zu verlangen. Somit ist in der Gesamtschau davon auszugehen, dass die Überlassung der Yacht ohne Gegenleistung an den B durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist. Die Überlassung der Yacht steht auch in keinem Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung, und die verhinderte Vermögensmehrung wirkt sich auch auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG aus. Die Vorteilsgeneigtheit bei B ist durch dessen Nutzung der Yacht zu Urlaubs- und Repräsentationszwecken offensichtlich.

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Damit liegt mit der Überlassung der Yacht an den B eine verdeckte Gewinnausschüttung vor, die mit dem Wert der üblichen Mietzahlung im Fremdvergleich zu bewerten ist. Somit sind monatlich 15.000 Euro gem. § 8 Abs. 3 Satz 2 EStG als außerbilanzielle Korrektur einkommenserhöhend bei der BA-GmbH zu berücksichtigen.

71

Hinweis: Die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung bei der Vornahme von unentgeltlichen oder verbilligten Nutzungsleistungen erfolgt im Regelfall durch Vergleich mit der Vergütung, die ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter von einem Nichtgesellschafter unter sonst gleichen Umständen gefordert und erhalten hätte.47 Der Wert der verdeckten Gewinnausschüttung wird damit grundsätzlich durch die erzielbare Vergütung bestimmt.48 Diese enthält in der Regel bereits einen angemessenen Gewinnaufschlag.49 Vor diesem Hintergrund könnte man vertreten, dass die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung wegen der Weiterüberlassung der Yacht an B ebenfalls um einen Gewinnaufschlag auf die Selbstkosten von 15.000. Euro – von im Regelfall 10 bis 15 % – erhöht werden müsste. Eine pauschale Erhöhung bei der Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung ohne realen Marktbezug führt allerdings potentiell zur Versteuerung von fiktiven Betriebseinnahmen und damit letztlich zu einer Strafbesteuerung.50 Eine um einen Gewinnaufschlag erhöhte Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung für die Überlassung der Yacht mit mehr als 15.000 Euro begegnet aber Bedenken, da die 15.000 Euro bereits eine marktübliche Vergütung darstellen und die Realisierung eines höheren Preises am Markt, der eine entsprechende Besteuerung der GmbH rechtfertigen könnte, daher fraglich ist.

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Gleichzeitig unterliegen die fremdüblichen Zahlungen, die die BA-GmbH an A für die Überlassung der Yacht gezahlt hat, als Aufwendung für Yachten dem Abzugsverbot i.S.d. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG, sodass alternativ auch insoweit eine außerbilanzielle Korrektur in gleicher Höhe vorzunehmen wäre, ohne dass dadurch die verdeckte Gewinnausschüttung auf Ebene des B entfallen würde.

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47 48 49 50

BFH v. 6.4.1977 – I R 86/75, BStBl. II 1977, 569, juris Rz. 22. BFH v. 6.4.1977 – I R 86/75, BStBl. II 1977, 569, juris Rz. 22. BFH v. 23.2.2005 – I R 70/04, BStBl. II 2005, 882, juris Rz. 15. Briese, DStR 2004, 249 (253); Neumann in Rödder/Herlinghaus/Neumann, § 8 KStG Rz. 398.

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Rz. 74 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

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Hinweis: Vorliegend besteht eine Konkurrenz von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 EStG zu § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG, die auf der Ebene der BA-GmbH für sich betrachtet jeweils zu einer außerbilanziellen Korrektur in Höhe der gezahlten Miete für die Yacht führt. Welche von beiden Vorschriften angewendet wird, ist im Ergebnis, ob der gleichen steuerlichen Auswirkung, unerheblich. Sichergestellt sein muss jedoch, dass in jedem Fall die verdeckte Gewinnausschüttung gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG auf Ebene der Gesellschafter versteuert wird.51

cc) Veräußerung des PKW an L (1) Innerbilanzielle Korrekturen 75

Die BA-GmbH hat bisher die Umsatzsteuer bei der Veräußerung des PKW an den L unbeachtet gelassen. Umsatzsteuerlich findet die Mindestbemessungsgrundlage i.S.d. § 10 Abs. 4 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UStG Anwendung, sodass sich die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer nicht an den 10.000 Euro, sondern an dem Einkaufspreis i.H.v. 100.000 Euro orientiert. Bei einem Steuersatz von 19 % gem. § 12 Abs. 1 UStG ergibt sich eine Umsatzsteuer i.H.v. 19.000 Euro. Die Kapitalgesellschaft verfügt ausschließlich über ein Betriebsvermögen und keinen privaten Bereich, sodass die zu zahlende Umsatzsteuer innerbilanziell erfolgsmindernd zu berücksichtigen ist.52 Innerbilanziell ist folglich eine Gewinnminderung i.H.v. 19.000 Euro vorzunehmen.

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Hinweis: Eine umsatzsteuerliche Prüfung im engeren Sinne ist hier nicht erforderlich. Durch den Hinweis im Bearbeitungsvermerk sollten dennoch die Normen für die Ersatzbemessungsgrundlage und – da ansonsten rechnerisch keine Umsatzsteuer ermittelt werden kann – der Steuersatz inkl. der einschlägigen Norm genannt werden.

(2) Außerbilanzielle Korrekturen 77

Durch die Veräußerung des PKW an L liegt – dies wurde bereits oben (Rz 30 ff.) erläutert – eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG an A vor. Fraglich ist, wie diese Gewinnausschüttung auf Ebene der Gesellschaft zu bewerten ist.

78

Korrespondierend zu der Bewertung bei A könnte hier ein Ansatz des gemeinen Wertes gem. § 9 Abs. 1 BewG zugrunde zu legen sein, der sich nach dem Verkaufspreis des PKW i.H.v. 238.000 Euro abzgl. der von L geleisteten Zuzahlung i.H.v. 10.000 Euro bemisst und folglich 228.000 Euro beträgt.53 Legte man diese Bewertung zugrunde, würde allerdings nicht die tatsächlich entstandene Umsatzsteuer i.H.v.

51 Siehe die Erläuterungen bei Pfirrmann in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 24. 52 Buchungssatz: Steueraufwand 19.000 an Umsatzsteuerverbindlichkeit 19.000. 53 So etwa die Finanzverwaltung, H 8.6 KStH „Hingabe von Wirtschaftsgütern“.

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19.000 Euro berücksichtigt werden, sondern die höhere Umsatzsteuer auf den Nettowert des gemeinen Wertes i.H.v. 38.000 Euro. Allerdings soll die verdeckte Gewinnausschüttung auf Ebene der Kapitalgesellschaft lediglich ein Korrektiv darstellen: Diejenigen Gewinnminderungen, die bisher durch die verdeckte Gewinnausschüttung innerbilanziell bewirkt worden sind, sollen durch den Ansatz der verdeckten Gewinnausschüttung außerbilanziell wieder korrigiert werden.54 Nach dem Telos des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG als Korrekturnorm wäre daher ein Ansatz geboten, der die bisherige Gewinnminderung bzw. verhinderte Gewinnerhöhung außerbilanziell ausgleicht: 79

Berechnung der verdeckten Gewinnausschüttung: Netto-Wert des PKW: zzgl. tatsächliche Umsatzsteuer: abzgl. geleisteter Zuzahlung

200.000 19.000 10.000

Wert der verdeckten Gewinnausschüttung

209.000

Die verdeckte Gewinnausschüttung ist folglich mit 209.000 Euro zu bewerten. Es kommt somit zu einer wertgleichen außerbilanziellen Gewinnerhöhung bei der BAGmbH.55

80

Hinweis: Die Bewertung der verdeckten Gewinnausschüttung auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene kann unterschiedlich ausfallen, weil auf Ebene der Kapitalgesellschaft durch die verdeckte Gewinnausschüttung eine Gewinnkorrektur erreicht werden soll, während auf Ebene des Gesellschafters ein vermögenswerter Vorteil, der ihm zufließt, besteuert wird. Dass sich Differenzen ergeben, zeigt etwa der vorliegende Fall.56

81

dd) Ausschüttung der Kobayashi K.K. Die Auszahlung der „Gewinnbeteiligung“ i.H.v. 400.000 Euro durch die Kobayashi K. K. an die BA-GmbH könnte als Gewinnausschüttung i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG gem. § 8b Abs. 1 KStG steuerfrei bleiben, sodass eine außerbilanzielle Korrektur vorzunehmen ist. Fraglich ist, ob die Kobayashi K.K. als Kapitalgesellschaft i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG anzusehen ist. Dass die Kobayashi K.K. ihren Sitz in Tokio und damit nicht im Inland hat, ist für die Anwendung des § 8b Abs. 1 KStG unerheblich.57 In einem Rechtstypenvergleich ist festzustellen, ob die Kabayashi K.K. mate-

54 Lang/Bott in Bott/Walter (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 855 f. 55 Denkbar wäre es auch, die Umsatzsteuer i.H.v. 19.000 Euro nach § 10 Nr. 2 KStG hinzuzurechnen und den Nettowert i.H.v. 190.000 Euro nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zu korrigieren. Im Endeffekt ändert sich dadurch aber nichts am Ergebnis. 56 Siehe dazu auch Lang/Bott in Bott/Walter (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 855 f., 864 f. 57 Watermeyer in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8b KStG Rz. 10.

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riell dem Typus einer deutschen Kapitalgesellschaft entspricht.58 Dies ist dann der Fall, „wenn eine Gesamtwürdigung der maßgebenden ausländischen Bestimmungen über die Organisation und Struktur der Gesellschaft ergibt, dass diese rechtlich und wirtschaftlich einer inländischen Kapitalgesellschaft oder einer juristischen Person des privaten Rechts gleicht.“59 Die Beurteilung erfolgt anhand der Kriterien des inländischen Körperschaft- und Einkommensteuerrechts. Eine Körperschaft ist in Anlehnung daran im Gegensatz zur Personengesellschaft durch Organisation und Struktur gegenüber ihren Mitgliedern in wesentlich größerem Maß verselbständigt und ihrer Existenz vom Mitgliederbestand unabhängig.60 Eine Körperschaft verfügt über eigene Organe und eigenes Vermögen, das von dem Vermögen der Mitglieder weitgehend getrennt ist.61 83

Hinweis: Der Bundesfinanzhof stellt folgende Beurteilungsmerkmale in den Fokus für die Frage, ob eine Kapitalgesellschaft vorliegt:62 1. Zentralisierte Geschäftsführung und Vertretung 2. Beschränkte Haftung für die Gesellschafter 3. Freie Übertragbarkeit der Anteile 4. Gewinnzuteilung (durch Gesellschafterbeschluss) 5. Kapitalaufbringung verpflichtend durch Gesellschafter 6. Unbegrenzte Lebensdauer der Gesellschaft 7. Gewinnverteilung nach Kapitalanteilen, nicht nach (Arbeits-)Einsatz 8. Formale Gründungsvoraussetzungen (neben Gründung durch Gesellschaftsvertrag ist eine Bestätigung durch eine neutrale Instanz, z.B. durch eine Eintragung in ein Register erforderlich)

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Vorliegend handelt sich bei der K.K. um eine Gesellschaft, die – wie z.B. die deutsche GmbH – mindestens aus einem Gesellschafter besteht und selbständiges Rechtssubjekt ist. Die Gesellschafter einer K.K. haften für die Geschäfte der Gesellschaft grundsätzlich nicht, was ebenfalls identisch bei deutschen Kapitalgesellschaften der Fall ist. Die Gründung erfolgt bei einer Registrierungsstelle mit einer Mindesteinlage und ist damit ebenfalls mit der Gründung einer GmbH vergleichbar. Dass die Anteile der K. K. an der Börse gehandelt werden können, spricht für eine freie Übertragbarkeit der Anteile und findet sich im inländischen Recht bei der Aktiengesellschaft wieder, die eine Kapitalgesellschaft ist. Nach alledem ist die Kobayashi K.K. als Körperschaft einzuordnen.

58 Vgl. Watermeyer in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8b KStG Rz. 10. 59 Grundlegend die „Venezuela-Entscheidung“ des RFH v. 12.2.1930 – VI A 899/27, RStBl. 1930, 444; BFH v. 20.8.2008 – I R 34/08, BStBl. II 2009, 263, juris Rz. 19; siehe auch Klein in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 KStG Rz. 27; Schaumburg/von Freeden in Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, Rz. 7.7. 60 Klein in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 KStG Rz. 27. 61 Klein in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 KStG Rz. 27. 62 BGH v. 20.8.2008 – I R 34/08, BStBl. II 2009, 263, juris Rz. 20 ff.

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Fall 12: Von Keksen, Autos und Yachten | Rz. 89 Hinweis: Falls bereits bekannt ist, dass die Kabushiki-gaisha (K.K.) eine bzw. „die“ japanische Aktiengesellschaft ist, kommt der- bzw. diejenige trotzdem nicht um den Rechtstypenvergleich herum, denn die Rechtsform im Drittland ist – soweit kein entsprechendes Abkommen besteht – nicht maßgebend, sondern es kommt auf die rechtliche Ausgestaltung der Gesellschaft an. Der Sachverhalt wird in solchen Situationen aber immer Informationen bereithalten, die Gelegenheit zur Argumentation und Auseinandersetzung geben. Keinesfalls wird in der Klausursituation erwartet, dass Bearb. die Eigenschaften von ausländischen ggf. exotischen Personen- oder Kapitalgesellschaften kennt.

85

Die BA-GmbH ist auch zu 13 % und damit zu mehr als 10 % an der Kobayashi K.K. beteiligt, sodass die Ausnahme von der Steuerbefreiung des § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG gem. § 8b Abs. 4 Satz 1 KStG nicht einschlägig ist. Somit stellt die Gewinnbeteiligung, die die Kobayashi K.K. an die BA-GmbH auszahlt, einen Bezug i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG dar, der das Einkommen nicht erhöht. Folglich ist, da die Gewinnbeteiligung innerbilanziell als Ertrag zu berücksichtigen ist, das Einkommen der BA-GmbH außerbilanziell um 400.000 Euro zu vermindern. Gem. § 8b Abs. 5 Satz 1 KStG gelten von den Bezügen i.S.d. § 8b Abs. 1 KStG 5 % als nicht abzugsfähige Betriebsausgaben, sodass eine einkommenserhöhende außerbilanzielle Korrektur um (400.000 Euro x 0,05 =) 20.000 Euro durchzuführen ist.

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d) Jahr 02 Wie auch im Jahr 01 hat die offene Gewinnausschüttung in Form der Dividendenzahlung gem. § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG keine Auswirkung auf den Gewinn der Gesellschaft und ist außerbilanziell zu korrigieren.

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e) Jahr 03 Durch den Erwerb der Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen hat die BAGmbH ein immaterielles Wirtschaftsgut entgeltlich erworben, das gem. §§ 246 Abs. 1 Satz 1; 247 Abs. 1; 253 Abs. 1 Satz 1 HGB i.V.m. §§ 5 Abs. 2; 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG mit den Anschaffungskosten von 2.000.000 Euro zu aktivieren ist. Die Zahlungsverpflichtung aus dem Erwerb ist als Verbindlichkeit zu passivieren.63 Eine Auswirkung auf den steuerlichen Gewinn ergibt sich an dieser Stelle nicht.

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Der Verzicht des A auf seine Forderung aus der Veräußerung der Entwicklungsergebnisse und Verfahrensweisen gegenüber der BA-GmbH führt bei dieser innerbilanziell zu einer Auflösung der Verbindlichkeit und einem außerordentlichen Ertrag, der den Gewinn i.H.v. 2.000.000 Euro erhöht.64 In dem Verzicht des A auf die Forderung ist – wie bereits auf Gesellschafterebene festgestellt – eine verdeckte Einlage i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG zu sehen, sodass der Gewinn außerbilanziell um 2.000.000 Euro zu vermindern ist. Gleichzeitig ist die (verdeckte) Einlage nicht in das Nennkapital erfolgt, sodass das steuerliche Einlagekonto i.S.d. § 27 Abs. 1 KStG bei der BA-

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63 Buchungssatz: Immaterielle Wirtschaftsgüter 2.000.000 an Verbindlichkeit 2.000.000. 64 Buchungssatz: Verbindlichkeit 2.000.000 an außerordentlicher Ertrag 2.000.000.

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GmbH um 2.000.000 Euro zu erhöhen ist. Der Bestand des steuerlichen Einlagekontos ist gem. § 27 Abs. 2 Satz 1 KStG auf den 31.12.03 gesondert festzustellen. 90

Hinweis: Das steuerliche Einlagekonto i.S.d. § 27 Abs. 1 KStG soll als „Merkposten“ sicherstellen, dass die Rückzahlungen von Einlagen der Gesellschafter in die Kapitalgesellschaft nicht zu steuerbaren Einnahmen bei diesen führen. Ausschüttungen, die der Gesellschafter aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S.d. § 27 Abs. 1 KStG erhält, gehören daher auch gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG nicht zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen.65

III. Gewerbesteuerliche Beurteilung für die BA-GmbH 1. Steuergegenstand und Steuerschuldner 91

Fraglich ist, ob die BA-GmbH mit ihrer Tätigkeit der Gewerbesteuer unterliegt. Der Gewerbesteuer unterliegt gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 GewStG jeder stehende Gewerbebetrieb, soweit er im Inland betrieben wird. Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 GewStG gilt die Tätigkeit der Kapitalgesellschaften, worunter auch die GmbH fällt, in vollem Umfang als Gewerbebetrieb. Somit unterfällt die BA-GmbH mit ihrer gesamten Tätigkeit der Gewerbesteuer.

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Steuerschuldner ist gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 GewStG der Unternehmer, für dessen Rechnung das Gewerbe betrieben wird, hier also die BA-GmbH. 2. Ermittlung des Gewerbeertrages

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Für gewerbesteuerliche Zwecke ist der Gewerbeertrag zu ermitteln. Der Gewerbeertrag ermittelt sich gem. § 7 Satz 1 GewStG nach den Vorschriften des Einkommenund Körperschaftsteuergesetzes, vermehrt und vermindert um die Hinzurechnungen und Kürzungen der §§ 8, 9 GewStG. Für die körperschaftsteuerliche Gewinnermittlung kann uneingeschränkt nach oben (Rz. 65 ff.) verwiesen werden, sodass nur noch fraglich ist, ob gewerbesteuerliche Korrekturen i.S.d. §§ 8, 9 GewStG vorgenommen werden müssen.

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In Bezug auf die Mietzahlungen für die Yacht (§ 8 Nr. 1 Buchst. d GewStG) wurde bereits eine Korrektur auf Ebene der Körperschaftsteuer aufgrund der verdeckten Gewinnausschüttungen an A und B nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG durchgeführt, die sich gem. § 7 Satz 1 GewStG in den Gewerbeertrag „fortschreibt“. Hier kommt deshalb nur noch eine gewerbesteuerliche Korrektur wegen der Ausschüttung der Kobayashi K.K. an die BA-GmbH gem. §§ 8 Nr. 5; 9 Nr. 2 a, 7 GewStG in Betracht.

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§ 8 Nr. 5 GewStG ist seinem Wortlaut nach nur anwendbar, soweit nicht die abstrakten Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a, 7 GewStG erfüllt sind, sodass diese vorrangig zu prüfen sind.66 Die Kobayashi K.K. hat ihre Geschäftsleitung und ihren Sitz im Aus65 Siehe auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.46. 66 Siehe hierzu Bergmann in Wendt/Suchanek/Möllmann/Heinemann, § 8 Nr. 5 GewStG Rz. 24. Siehe auch noch die Erläuterungen im Hinweiskasten Rz. 96.

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land, somit kommt hier § 9 Nr. 7 GewStG als anwendbare Norm in Betracht. Danach ist Voraussetzung, dass die Beteiligung an der ausländischen Kapitalgesellschaft zu Beginn des Erhebungszeitraums mindestens 15 % betragen hat. Vorliegend hält die BA-GmbH in sämtlichen Jahren nur eine Beteiligung von 13 % an der Kobayashi K. K. Somit ist die 15 %-Grenze nicht erreicht und § 8 Nr. 5 GewStG ist anwendbar. Das bedeutet, dass das gewerbesteuerliche Schachtelprivileg nicht greift und die Gewinne aus der Beteiligung an der Kobayashi K.K. für die Gewerbesteuer zu berücksichtigen sind. Dabei ist gem. § 8 Nr. 5 Satz 1 GewStG der Gewinn um die Beträge, die gem. § 8b Abs. 1 KStG steuerfrei sind, jedoch gekürzt um die Hinzurechnung nach § 8b Abs. 5 KStG, für gewerbesteuerliche Zwecke zu erhöhen. Für den hiesigen Fall erfolgt somit eine gewerbesteuerliche Hinzurechnung um (400.000 Euro abzgl. 20.000 Euro =) 380.000 Euro. Hinweis: Die Formulierung von § 8 Nr. 5 GewStG und von § 9 Nr. 2a, 7 GewStG ist indes missverständlich und könnte zu dem Ergebnis führen, dass das gewerbesteuerliche Schachtelprivileg des § 9 Nr. 2a, 7 GewStG nie greift. Denn ist für § 9 Nr. 2a, 7 GewStG erforderlich, dass die „Gewinnanteile bei der Ermittlung des Gewinns (§ 7) angesetzt worden sind“, ist diese Voraussetzung bei der Anwendung von § 8b Abs. 1 KStG, der zutreffend als Gewinnermittlungsnorm verstanden wird, nie erfüllt. Insoweit findet nämlich auf Ebene der Körperschaftsteuer eine (außerbilanzielle) Gewinnkorrektur statt. Dies gilt vor allem, da die Hinzurechnung nach § 8b Abs. 5 KStG gem. § 9 Nr. 2a Satz 4, Nr. 7 Satz 2 GewStG nicht als Gewinn gilt.67 Der Verweis in § 8 Nr. 5 GewStG auf § 9 Nr. 2a GewStG ist daher so zu verstehen, dass § 8 Nr. 5 GewStG als Sonderregelung aufzufassen ist, die abstrakt auf die Voraussetzungen des § 9 Nr. 2a GewStG – im Ergebnis also die Beteiligungshöhe – abstellt.68

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung Grundlagenwissen:

97

– Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 10 (siehe Einzelnachweise im Dokument) – Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 12 – Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel/Schustek/Szczesny, Die sonengesellschaft im Steuerrecht, 12. Auflage 2017, S. 334 ff., 845 ff., 857 ff.

Per-

Vertiefung: – Neufang/Otto, Übertragung von Wirtschaftsgütern – Buchwert oder Entstrickung der stillen Reserven?, StB 2011, 308 – Geist, Verdeckte Gewinnausschüttungen an mittelbar Beteiligte, BB 2012, 2339 – Oppel, Steuerliches Einlagenkonto nach § 27 KStG, SteuerStud 2020, 457 67 Siehe hierzu insgesamt instruktiv Prinz/Simon, DStR 2002, 149 (151). 68 BFH v. 16.4.2014 – I R 44/13, BStBl. II 2015, 303, juris Rz. 7 f.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt Schwerpunkte: – Besteuerung von Personengesellschaften und ihren Gesellschaftern – Sonderbetriebseinkünfte der Gesellschafter einer Personengesellschaft – Betriebsaufspaltung – Konkurrenz von Sonderbetriebsvermögen und mitunternehmerischer Betriebsaufspaltung Bearbeitungszeit: 4 Stunden Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Seit A und C während ihres Studiums an der Ruhr-Universität Bochum im RhetorikClub ihre gemeinsame Liebe für Cord-Stoff entdeckt hatten, war es ihr Plan, damit einmal „viel Asche zu verdienen“. Nach ihrem Abschluss an der Universität gründen sie daher gemeinsam in ihrer Heimatstadt Bochum die ACCORD-GmbH & Co. KG. Komplementärin ist die nicht am Gewinn beteiligte ACCORD-Verwaltungs-GmbH (ACCORD-GmbH), Kommanditisten sind A zu 60% und C zu 40%. Zur Geschäftsführung der KG ist allein die keinen eigenen Geschäftsbetrieb unterhaltende ACCORD-Verwaltungs-GmbH befugt, an der A und C ebenfalls zu 60% bzw. 40% beteiligt sind und deren Geschäftsführer der A ist. Die ACCORD-Verwaltungs-GmbH erhält für die Übernahme der Geschäftsführertätigkeit eine monatliche Zahlung von der ACCORD-GmbH & Co. KG. Ihre Beteiligungen an der KG und der GmbH haben A und C mithilfe von (positiv) verzinsten Bankdarlehen finanziert. A und C hatten bereits ein Jahr zuvor gemeinsam je hälftig günstig ein Grundstück mit einer leerstehenden Produktionshalle in der Nähe des Bochumer Westparks erworben, das sie nun mit Blick auf ihre Geschäftsidee zunächst modernisieren – es werden die Sanitäranlagen auf den neuesten Stand gebracht und einige zu Bruch gegangene Fenster ausgetauscht – und danach an die ACCORD-GmbH & Co. KG zu einer angemessenen monatlichen Miete vermieten. Auf diesem Grundstück soll durch die ACCORD-GmbH & Co. KG die Produktion der Cord-Waren stattfinden. Die Designfindung für die zu produzierenden Waren wird hingegen von der AC-Design-Company-GmbH (ACDC-GmbH) übernommen, an der A und C zu je 40% und die ACCORD-GmbH & Co. KG zu 20% beteiligt sind. Geschäftsführer ist wiederum der A. Die AC-Design-Company-GmbH mietet für ihre Tätigkeit ein allein dem A gehörendes Grundstück mit einem aufstehenden Gebäude zu einer angemessenen Miete an und kann bereits nach kurzer Zeit der Entwicklung auf eine Produktinnovation blicken: Ein mit Cord-Stoff ummanteltes vielseitig einsetzbares USB-C-Kabel, 201

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Rz. 1 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

das auf den Namen „Wirecord“ getauft wird. Zur Finanzierung der mit der Entwicklung im Zusammenhang stehenden Kosten nahm die AC-Design-Company-GmbH von A und C jeweils ein angemessen (positiv) verzinstes Darlehen auf. Das Kabel erweist sich in Praxistests als haltbarer sowie modischer Alltagsgegenstand und entwickelt sich daher schnell zum Verkaufsschlager. Aufgabe: Wie ist der vorstehende Sachverhalt ertragsteuerlich für alle Beteiligten zu beurteilen? Soweit Wahlmöglichkeiten bei der steuerrechtlichen Behandlung bestehen, stellen Sie diese kurz unter Angabe der einschlägigen Normen und ihre steuerlichen Konsequenzen dar. Eine Berechnung der Steuer ist nicht erforderlich. Ausführungen zur steuerlichen Bemessungsgrundlage sind entbehrlich, sofern es im Sachverhalt an entsprechenden Angaben mangelt. Auf die Kapitalertragsteuer ist nicht einzugehen. Bearbeitungshinweis: Die Gewinnermittlung erfolgt stets durch Betriebsvermögensvergleich. Gehen Sie davon aus, dass die Gesellschaften jeweils planmäßig Gewinne erwirtschaftet haben und diese von den Kapitalgesellschaften an ihre Gesellschafter ausgeschüttet worden sind. Nehmen Sie ferner an, dass für alle Darlehen Zinszahlungen geleistet worden sind. Die für die Geschäftsführung gezahlten Beträge sind angemessen. Es ist nur die deutsche Rechtslage zu prüfen. Auf das Umwandlungsteuerrecht, die Gewerbesteuer und lohnsteuerrechtliche Problemstellungen ist nicht einzugehen. § 34a EStG ist nicht zu prüfen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 1. Betriebsaufspaltung 2

Die Betriebsaufspaltung ist sowohl in der Theorie ein beliebtes Klausurthema als auch in der Praxis1 von großer Bedeutung und muss daher von den Bearb. sicher beherrscht werden. Eine gesetzliche Regelung für die Betriebsaufspaltung besteht nicht ausdrücklich, obwohl § 50i Abs. 1 Satz 4 EStG mittlerweile auf ihre Voraussetzungen Bezug nimmt; in ihrer heutigen Form wurde die Betriebsaufspaltung durch die Rechtsprechung entwickelt2 und ist damit sog. Richterrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Betriebsaufspaltung als verfassungsgemäß anerkannt.3 Es sind 1 Risiken ergeben sich in der Praxis insbesondere dann, wenn eine Betriebsaufspaltung (unerkannt oder unbeabsichtigt) beendet wird und es in der Folge zur Aufdeckung der bisher im (Besitz-)Betriebsvermögen gebildeten stillen Reserven – insbesondere aus Grundstücken und im (Sonder-)Betriebsvermögen liegenden Beteiligungen – kommt. 2 Siehe etwa BFH v. 25.7.1963 – IV 417/60 S, BStBl. III 1963, 505, juris Rz. 7 f.; v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63, juris Rz. 17 ff. 3 BVerfG v. 14.1.1969 – 1 BvR 136/62, BVerfGE 25, 28, juris Rz. 26, 31; BVerfG v. 12.3.1985 – 1 BvR 571/81 u.a., BVerfGE 69, 188, juris Rz. 50 ff.

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innerhalb der Betriebsaufspaltung verschiedene Konstellationen anerkannt, die als „echte“, „unechte“, „umgekehrte“ oder „mitunternehmerische“ Betriebsaufspaltung bezeichnet werden.4 Gemeinsam ist allen Konstellationen, dass eine Person oder eine Personengruppe (Besitzunternehmen) funktional wesentliche Betriebsgrundlagen an eine gewerblich tätige und mit ihr personell verflochtene Personen- oder Kapitalgesellschaft (Betriebsunternehmen) verpachtet oder auf andere Weise zur Nutzung überlässt.5 Rechtfolge ist, dass das Besitzunternehmen – obwohl es grundsätzlich nur Einkünfte aus § 21 EStG bezieht – gewerbliche Einkünfte i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erwirtschaftet, die der Gewerbesteuer unterliegen. Es müssen für eine Betriebsaufspaltung somit die Voraussetzungen einer persönlichen und einer sachlichen Verflechtung vorliegen.

3

Voraussetzungen für die sachliche Verflechtung sind:

4

– Das Besitzunternehmen überlasst an das Betriebsunternehmen eine wesentliche Betriebsgrundlage; – eine wesentliche Betriebsgrundlage ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zur Erreichung des Betriebszwecks der Betriebsgesellschaft erforderlich und besitzt für ihre Betriebsführung ein besonderes Gewicht;6 maßgebend ist eine funktionale Betrachtungsweise, die bei Gebäuden regelmäßig angenommen wird.7 Außerdem muss eine personelle Verflechtung gegeben sein:

5

– Eine oder mehrere Personen beherrschen sowohl das Besitz- als auch das Betriebsunternehmen dergestalt, dass sie ihren Willen in beiden Unternehmen durchsetzen können;8 – bei geschlossenen Personengruppen, die zwar nicht einzeln, aber gemeinsam Besitz- und Betriebsunternehmen beherrschen, ist erforderlich, dass die Personen gleichgerichtete Interessen verfolgen, was nicht ohne Weiteres bei persönlichen Beziehungen (Ehegatten, Eltern und Kinder etc.) angenommen werden kann. Liegen diese Voraussetzungen vor, erzielt das Besitzunternehmen originär Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Handelt es sich bei dem Betriebsunternehmen um eine Kapitalgesellschaft, werden die Anteile, die die am Besitzunternehmen beteiligten Personen an ihr halten, (Sonder-)Betriebsvermögen im Besitzunternehmen. Daher stellen ab dem Zeitpunkt der Betriebsaufspaltung nicht nur die laufenden Einnahmen aus der Beteiligung am Betriebsunternehmen mit allen Konsequenzen – etwa § 3 Nr. 40 Buchst. d, Satz 2 EStG – Betriebseinnahmen dar, 4 Ein guter Überblick über die verschiedenen Formen der Betriebsaufspaltung und ihre steuerliche Behandlung findet sich bei Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.80 f. 5 Zur Definition siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.80. 6 BFH v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63, juris Rz 17; v. 24.8.1989 – IV R 135/86, BStBl. II 1989, 1014, juris Rz 15 ff. 7 Siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.83. 8 BFH v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63, juris Rz. 18 f.; v. 8.9.2011 – IV R 44/07, BStBl. II 2012, 136 Rz. 22 ff.

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Rz. 6 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

sondern die Beteiligung ist dann auch steuerlich verstrickt, sodass bis dahin entstandene stille Reserven auch im Falle der Betriebsaufgabe durch Beendigung der Betriebsaufspaltung (durch Wegfall der personellen und/oder sachlichen Verflechtung) zu versteuern sind. 7

Handelt es sich bei Besitz- und Betriebsunternehmen um Personengesellschaften, liegt eine sog. mitunternehmerische Betriebsaufspaltung vor und es stellt sich die Frage, ob die Regelungen zum Sonderbetriebsvermögen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG) Anwendung finden oder ob die mitunternehmerische Betriebsaufspaltung Vorrang hat. 2. Bilanzierungskonkurrenz

8

Besteht die Möglichkeit (z.B. im Fall der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung9), dass ein Wirtschaftsgut zwei Betriebsvermögen zugeordnet werden kann, spricht man von einer Bilanzierungskonkurrenz, die es aufzulösen gilt. Hierbei ist gedanklich in drei Schritten zu prüfen:10 Zuerst ist anhand des § 39 AO eine persönliche Zurechnung des Wirtschaftsgutes zu einem Unternehmer bzw. Mitunternehmer oder einer Mitunternehmerschaft vorzunehmen.11 An zweiter Stelle ist eine sachliche Zuordnungsentscheidung zu einer Vermögenssphäre (Unternehmer, Mitunternehmer oder Mitunternehmerschaft) zu treffen, die sich an der betrieblichen Veranlassungsprüfung des § 4 Abs. 1, 4 EStG orientiert.12 Kommt es hierbei zu einer Veranlassung durch mehr als eine Vermögenssphäre, liegt eine Bilanzierungskonkurrenz vor, die auf dritter Stufe im Sinne einer finalen Zuordnung aufzulösen ist.13 Für die Klausur im Unternehmensteuerrecht sollte bekannt sein, dass der Bundesfinanzhof dem Sonderbetriebsvermögen grundsätzlich Vorrang gewährt14 und im Bereich der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung hiervon Ausnahmen vorsieht, wenn die Besitzgesellschaft nicht selbst an der Betriebsgesellschaft beteiligt ist und mit Gewinnerzielungsabsicht handelt.15 Dennoch sind hier auch andere Meinungen, die mit dem Sinn und Zweck des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG argumentieren, gut vertretbar.16

Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.135. Siehe hierzu auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.131 ff. Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2274). Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2274). Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2274). BFH v. 18.5.1983 – I R 5/82, BStBl. II 1983, 771, juris Rz. 12; v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830, juris Rz. 33; siehe auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.133; Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 534. 15 BFH v. 6.10.1987 – VIII R 137/84, BStBl. II 1988, 679, juris Rz. 14 f.; v. 10.5.2012 – IV R 34/09, BStBl. II 2013, 471, juris Rz. 30 ff.; siehe auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.135; Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 858. 16 Siehe z.B. Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.133, sowie unten im Lösungsvorschlag Rz. 38. 9 10 11 12 13 14

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 11

II. Anforderungsprofil Es ist bei dieser Klausur wegen der Mehrzahl an Gesellschaften sinnvoll, sich zunächst einen Überblick über die Beteiligungsverhältnisse und den wirtschaftlichen Sachverhalt insgesamt anhand einer Übersichtsskizze zu verschaffen, die etwa wie folgt aussehen könnte:

9

Deutlich werden anhand der Sachverhaltsskizze bereits die beiden möglichen Sachverhaltskonstellationen, die zu einer (mitunternehmerischen) Betriebsaufspaltung führen können: Einmal im Zusammenhang mit einer Personengesellschaft und einmal im Zusammenhang mit einer Kapitalgesellschaft. Hier sollte in der Bearbeitung jeweils sorgfältig geprüft werden, ob die Voraussetzung einer Betriebsaufspaltung erfüllt sind. Im Fall der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung zwischen der ACCORD-GmbH & Co. KG und der Grundstücksvermietung durch A und C schließt sich daran noch die Frage an, in welchem Verhältnis Sonderbetriebsvermögen und mitunternehmerische Betriebsaufspaltung zueinanderstehen. Hier sind letztlich alle Ergebnisse vertretbar; wichtig ist nur, dass eine Auseinandersetzung mit der Fragestellung anhand geeigneter Argumente erfolgt.

10

Ein weiterer Fallschwerpunkt liegt darin, zu erkennen, in welchem Betriebsvermögen Wirtschaftsgüter zu aktivieren sind. Dies ist nicht nur im Fall der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung von Relevanz, sondern stellt sich konkret auch für die Beteiligung an der ACDC-GmbH, die der A hält. Möglich ist sowohl eine Zuordnung zum Einzelunternehmen, das durch die Betriebsaufspaltung entstanden ist, als auch zum Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG. Die Zuordnung hat weitere Konsequenzen für die Zuordnung des Darlehens, das der ACDC-GmbH gewährt worden ist, sowie für die aus dem Darlehen resultierenden Zinszahlungen.

11

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Rz. 12 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

12

Die Klausur umfasst im Übrigen grundlegende Probleme im Bereich der Besteuerung von Personengesellschaften, ihren Gesellschaftern und Kapitalgesellschaften, die in der Bearbeitung keine größeren Schwierigkeiten bereiten sollten.

13

U.E. eignet sich für diese Klausur kein Prüfungsaufbau, der strikt zwischen den einzelnen Beteiligten differenziert und diese nacheinander behandelt. Stattdessen ist es strukturiert und der Übersichtlichkeit zuträglich, die Lösung in zwei Sachverhaltselemente einzuteilen, die bereits durch das Layout des Sachverhaltes angedeutet sind: zunächst der Sachverhalt um die ACCORD-GmbH & Co. KG und im Anschluss der Sachverhalt um die ACDC-GmbH. Dass es bei der Beurteilung des Sachverhaltes für die ACDC-GmbH zu einem aufbautechnischen „Rückgriff“ in das Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG kommt,17 ist u.E. unschädlich.

C. Gliederung 14

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Sachverhalt um die ACCORD-GmbH & Co. KG 1. Subjektive Steuerpflicht 16 2. Einkünftequalifikation a) Beteiligung von A, C und der ACCORD-GmbH an der ACCORD-GmbH & Co. KG 19 b) Vermietung des Grundstücks durch A und C an die ACCORDGmbH & Co. KG aa) Qualifizierung auf Gesellschaftsebene 23 bb) Umqualifizierung auf Ebene der Gesellschafter: Sonderbereich 32 cc) Konkurrenz von mitunternehmerischer Betriebsaufspaltung und Sonderbereich 33 c) Geschäftsführung der ACCORD-GmbH durch A 39 d) Dividende aus der ACCORD-GmbH für A und C 42 3. Einkünftequantifikation a) Beteiligung von A, C und der ACCORD-GmbH an der ACCORD-GmbH & Co. KG aa) Einkunfts- und Gewinnermittlungsart 45 bb) Gewinnermittlung für die ACCORD-GmbH 47 cc) Gewinnermittlung für A 49 dd) Gewinnermittlung für C 51 17 Siehe im Lösungsvorschlag Rz. 72 ff.

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b) Vermietung des Grundstücks durch A und C an die ACCORDGmbH & Co. KG aa) Einkunfts- und Gewinnermittlungsart 53 bb) Betriebseinnahmen 55 cc) Betriebsausgaben 56 dd) Gewinnverteilung auf A und C 61 II. Sachverhalt um die ACDC-GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht 62 2. Einkünftequalifikation a) Einkünfte der ACDC-GmbH 64 b) Vermietung des Grundstücks durch A an die ACDC-GmbH 65 c) Ausschüttungen der ACDC-GmbH an A und C 71 aa) Beurteilung für C 72 bb) Beurteilung für A 75 d) Geschäftsführergehalt des A bei der ACDC-GmbH 77 e) Zinsen aus Darlehen an die ACDC-GmbH bei A und C 79 3. Einkünftequantifikation a) ACDC-GmbH 82 b) Besitzunternehmen des A (Grundstücksvermietung an die ACDC-GmbH) 83 c) Beurteilung der Ausschüttung und der Zinsen bei C 87 d) Geschäftsführergehalt des A bei der ACDC-GmbH 90

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, wie der Sachverhalt aus ertragsteuerlicher Sicht für A, C, die ACCORD-Verwaltungs-GmbH (ACCORD-GmbH) und die AC-Design-CompanyGmbH (ACDC-GmbH) zu beurteilen ist. Dazu kann zwischen dem Sachverhalt um die ACCORD-GmbH & Co. KG und dem Sachverhalt um die ACDC-GmbH unterschieden werden.

15

I. Sachverhalt um die ACCORD-GmbH & Co. KG 1. Subjektive Steuerpflicht Bei Beteiligungsgewinnen an Personengesellschaften sind aufgrund des Transparenzprinzips nicht die Gesellschaften einkommensteuerpflichtig, sondern die Gesellschaf-

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ter.18 Die Personengesellschaft ist aber Subjekt der Einkünfteermittlung und der Einkünfteerzielung.19 Der von ihr erwirtschaftete Gewinn wird für einkommensteuerliche Zwecke auf die Mitunternehmer verteilt. 17

Als natürliche Person mit Wohnsitz (§ 8 AO) in Bochum, also im Inland, sind A und C gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt in Deutschland mit ihrem Welteinkommen einkommensteuerpflichtig.

18

Die ACCORD-GmbH ist eine Kapitalgesellschaft mit Geschäftsleitung (§ 10 AO) und Sitz (§ 11 AO) im Inland und damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig. 2. Einkünftequalifikation a) Beteiligung von A, C und der ACCORD-GmbH an der ACCORD-GmbH & Co. KG

19

A, C und die ACCORD-GmbH könnten aus der Beteiligung an der ACCORDGmbH & Co. KG Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG erzielen. Dazu müsste eine Gesellschaft i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG vorliegen und A, C und die ACCORD-GmbH müssten als Gesellschafter Mitunternehmer sein.20

20

Mit der ACCORD-GmbH & Co. KG liegt eine Kommanditgesellschaft i.S.d. §§ 161 ff. HGB vor, die in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG explizit als Gesellschaftsform aufgeführt ist. Mit der Produktion von Cord-Waren ist die KG zudem gewerblich tätig und erzielt folglich Einkünfte i.S.v. § 15 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.

21

Die ACCORD-GmbH ist als Komplementärin mit Mitunternehmerrisiko und Mitunternehmerinitiative ausgestattet und damit Mitunternehmerin. Gleiches gilt für A und C, die als Kommanditisten nach dem Vorbild des HGB ebenfalls die Anforderungen an die Mitunternehmerinitiative und das Mitunternehmerrisiko erfüllen und darüber hinaus sogar durch die Beteiligung an der Komplementär-GmbH ihre Einwirkungsmöglichkeit auf die Geschäfte der ACCORD-GmbH & Co. KG verstärkt haben.

22

Damit erzielen A, C und die ACCORD-GmbH aus ihrer Beteiligung an der ACCORD-GmbH & Co. KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG.

18 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.10 ff. 19 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.14. 20 Zur grammatikalischen Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG in Bezug auf die Mitunternehmerschaft als Erfordernis für die Einkünftequalifikation siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.35.

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b) Vermietung des Grundstücks durch A und C an die ACCORDGmbH & Co. KG aa) Qualifizierung auf Gesellschaftsebene Mit der nicht über die bloße Vermögensverwaltung i.S.d. § 14 Satz 3 AO hinausgehenden Vermietung des Grundstücks an die ACCORD-GmbH & Co. KG erzielen A und C als GbR i.S.d. §§ 705 ff. BGB Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.

23

Es könnte aber eine Umqualifizierung zu gewerblichen Einkünften auf Gesellschaftsebene durch eine sog. unechte Betriebsaufspaltung21 in Form einer mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung22 in Betracht kommen, die dort zu Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG führt. In dieser Betriebsaufspaltung wäre die KG als Personengesellschaft Betriebsunternehmen und die GbR Besitzunternehmen.23

24

Voraussetzung für eine Betriebsaufspaltung ist zunächst, dass die KG als Betriebsunternehmen gewerbliche Einkünfte erzielt, was – wie oben dargelegt – der Fall ist. Daneben müssten eine sachliche und eine personelle Verflechtung zwischen Besitzunternehmen und Betriebsunternehmen bestehen.

25

Eine sachliche Verflechtung setzt voraus, dass das von A und C an die KG überlassene Gebäude samt Grundstück eine wesentliche Betriebsgrundlage für die KG darstellt, was funktional-qualitativ zu bestimmen ist. Dafür muss nach dem Gesamtbild der Verhältnisse das bebaute Grundstück zur Erreichung des Betriebszweckes der Betriebsgesellschaft erforderlich sein und besonderes Gewicht für deren Betriebsführung besitzen.24 Hier mietet die ACCORD-GmbH & Co. KG von der GbR ein Grundstück mit aufstehender Produktionshalle, um darauf die Cord-Waren herstellen zu können. Das Grundstück mit Produktionshalle stellt damit die Grundlage für die betriebliche Produktion und damit für das Kerngeschäft der KG dar und ist somit als wesentliche Betriebsgrundlage zu qualifizieren.

26

Eine personelle Verflechtung setzt voraus, dass an dem Besitz- und an dem Betriebsunternehmen eine oder mehrere Personen beteiligt sind, die einen einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen haben, also sowohl im Besitzunternehmen als auch im Betriebsunternehmen ihren Willen durchsetzen können.25 A beherrscht durch seine Mehrheitsbeteiligung an der ACCORD-GmbH & Co. KG sowie durch seine Mehrheitsbeteiligung an der Komplementär GmbH die KG, kann sich aber in der Grundstücks-GbR von A und C mit seiner „lediglich“ hälftigen Beteiligung mit Blick auf die gemeinschaftliche Geschäftsführungsbefugnis nach § 709 Abs. 1 BGB nicht

27

21 Zum Begriff siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.81. 22 Zum Begriff Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.68. 23 Zur Zulässigkeit der Betriebsgesellschaft als GmbH & Co. KG siehe nur BFH v. 10.11.1982 – I R 178/77, BStBl. II 1983, 136, juris Leitsatz. 24 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.83. 25 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.84.

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Rz. 27 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

mit seinem Willen durchsetzen, sondern ist auf die Zustimmung von C angewiesen.26 28

Allerdings beherrschen A und C als Personengruppe sowohl die KG als auch die GbR. Fraglich ist aber, ob eine Zusammenfassung beider Personen für die Beurteilung der Betriebsaufspaltung erfolgen darf. Dies ist nach der Personengruppentheorie dann möglich, wenn Personengruppen an beiden Unternehmen mit einer Mehrheit beteiligt sowie durch gleichgerichtete Interessen verbunden sind und dadurch ein einheitlicher Betätigungswille sichergestellt ist.27 Dabei ist stets der Einzelfall wertend zu betrachten.28 A und C möchten hier gemeinsam durch die ACCORD-GmbH & Co. KG CordWaren produzieren und verfolgen damit ein gemeinsames wirtschaftliches Ziel. Sie beherrschen durch ihre Beteiligungen auch die ACCORD-GmbH & Co. KG und die GbR, sodass eine personelle Verflechtung nach der Personengruppentheorie besteht.

29

Gegen eine personelle Verflechtung könnte hier allerdings sprechen, dass A allein zur Geschäftsführung bei der ACCORD-GmbH befugt ist, die ihrerseits die Geschäfte der KG führt. Damit beherrscht A faktisch, auch durch die höheren Beteiligungen, die KG allein und benötigt insoweit die Stimme des C dort nicht mehr. Dem kann entgegengehalten werden, dass derartig divergierende Beteiligungsverhältnisse einer Betriebsaufspaltung jedenfalls nicht im Weg stehen,29 wenn im Übrigen von den Beteiligten ein gemeinsamer geschäftlicher Zweck verfolgt wird. Im vorliegenden Fall sind keinerlei Interessengegensätze zwischen A und C erkennbar, sodass davon auszugehen ist, dass sie miteinander, nicht gegeneinander agieren. Somit ist, auch da A in der GbR auf die Mitwirkung des C angewiesen ist, anzunehmen, dass im hiesigen Fall stets die beiden Gesellschaften betreffenden Entscheidungen im Einvernehmen zwischen A und C getroffen werden. Es liegt damit eine Beherrschungsidentität nach der Personengruppentheorie vor, die eine personelle Verflechtung begründet.

30

Die Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung sind mithin zwischen der Grundstücks-GbR als Besitzunternehmen und der ACCORD-GmbH & Co. KG als Betriebsunternehmen erfüllt.

31

Hinweis: Eine andere Auffassung, die das Vorliegen einer personellen Verflechtung und damit eine Betriebsaufspaltung ablehnt, ist an dieser Stelle mit entsprechender Argumentation vertretbar, muss aber argumentativ den (offenkundig vorliegenden) zweckgerichteten Zusammenschluss von A und C widerlegen können. Dadurch schneidet man sich allerdings die Möglichkeit ab, etwas zur Auflösung der Konkurrenz von Sonderbereich und mitunternehmerischer Betriebsaufspaltung zu sagen, was in einer Klausur wie dieser regelmäßig ebenfalls bepunktet wird. 26 Eine „Patt-Situation“ reicht für eine Betriebsaufspaltung nicht aus, siehe Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 91. 27 BFH v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63, juris Rz. 19; Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 91. 28 BFH v. 8.11.1971 – GrS 2/71, BStBl. II 1972, 63, juris Rz. 19. 29 Siehe zu einem Fall mit Beteiligungsverhältnissen im Besitzunternehmen von 50:50 und im Betriebsunternehmen von 88:12, in dem eine Betriebsaufspaltung bejaht worden ist BFH v. 11.12.1974 – I R 260/72, BStBl. II 1975, 266, juris Rz. 13.

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bb) Umqualifizierung auf Ebene der Gesellschafter: Sonderbereich Auf Ebene der Gesellschafter kommt außerdem – d.h. alternativ – eine Umqualifizierung zu Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG in Betracht. A und C überlassen hier der ACCORD-GmbH & Co. KG das bebaute Grundstück entgeltlich und erzielen hieraus Sonderbetriebseinnahmen i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG. Zu diesem Zweck werden ihnen das Grundstück und das Gebäude gem. § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO anteilig zugerechnet.30 Das Grundstück und das Gebäude stellen bei A und C ebenfalls jeweils anteilig Sonderbetriebsvermögen31 dar, sodass A und C aus der Vermietung des Grundstücks an die ACCORD-GmbH & Co. KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG erzielen.

32

cc) Konkurrenz von mitunternehmerischer Betriebsaufspaltung und Sonderbereich Fraglich ist, wie das Aufeinandertreffen von (unechter) Betriebsaufspaltung und die Zuordnung des bebauten Grundstücks zum Sonderbetriebsvermögen mit der Folge von Sonderbetriebseinkünften aufzulösen ist. Das bebaute Grundstück kann im Ergebnis nur in einem Unternehmen als Betriebsvermögen aktiviert werden: im Besitzunternehmen der Betriebsaufspaltung oder im Sonderbetriebsvermögen der ACCORD-GmbH & Co. KG.32

33

Diese Bilanzierungsalternativität, die mittelbar auch über die Stufe, auf der die Umqualifizierung der Einkünfte stattfindet, entscheidet, kann entweder zugunsten der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung oder zugunsten des Sonderbetriebsvermögens aufgelöst werden.

34

Gegen den Vorrang der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung sprach lange Zeit, dass es sich bei dem Konstrukt der Betriebsaufspaltung um eine – umstrittene33 – richterliche Rechtsfortbildung handelte, die keinen Anknüpfungspunkt im Gesetzestext fand. Mittlerweile hat die Definition der Betriebsaufspaltung aber in § 50i Abs. 1 Satz 4 EStG Einzug gehalten und kann damit als vom Gesetzgeber anerkannt bezeichnet werden, sodass dieses Argument nicht mehr als gewichtig zu beurteilen ist.

35

Nähert man sich der Frage über die Grundsätze zur Bilanzierungskonkurrenz, ist zunächst festzustellen, dass Wirtschaftsgüter gem. § 39 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AO demjenigen, der die tatsächliche Herrschaft über sie ausübt, hier also der Besitzgesellschaft,

36

30 Zur Zurechnung bei vermögensverwaltenden Personengesellschaften Drüen in Tipke/Kruse, § 39 AO Rz. 83 ff., insb. Rz. 92. 31 Siehe dazu Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.131 ff. 32 Siehe zur Behandlung dieser Fälle Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.135; gegen eine Bilanzierungskonkurrenz Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2276 f.), und auch Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 858. 33 Siehe die Nachweise bei Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.80 und dort Fn. 107.

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Rz. 36 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

zuzuordnen sind.34 Dies sind hier A und C in der Form der GbR. Weiterhin dient das Grundstück der Besitzgesellschaft auch sachlich durch den einheitlichen geschäftlichen Betätigungswillen dem durch die Betriebsaufspaltung fingierten Betrieb der Gesellschaft.35 Insoweit wird § 39 Abs. 2 Nr. 2 AO und mit dieser Norm die Zuordnung zum Sonderbetriebsvermögen durch die mitunternehmerische Betriebsaufspaltung verdrängt, kann also nicht mehr einschlägig sein.36 Dies gilt vor allem auch deswegen, weil nicht die GbR als solche an der KG beteiligt ist, sondern nur ihre Gesellschafter, sodass von einem eigenen Gewerbebetrieb der GbR – der hier auch nach dem Bearbeitungsvermerk mit der erforderlichen Gewinnerzielungsabsicht37 ausgeübt wird – auszugehen ist.38 37

Somit ist im hiesigen Fall die mitunternehmerische Betriebsaufspaltung als vorrangig vor der Einordnung des bebauten Grundstücks als Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG einzuordnen. Damit erzielen A und C als Mitunternehmer der gewerblich tätigen GbR Einkünfte aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG. Eine Umqualifizierung auf Ebene der Gesellschafter kommt nicht mehr in Betracht.

38

Hinweis: Eine andere Auffassung, die sich zugunsten des Sonderbetriebsvermögens entscheidet, ist an dieser Stelle mit entsprechender Begründung gut vertretbar. Es ergeben sich dann in der Folge die unten jeweils dargestellten alternativen Lösungsansätze.

c) Geschäftsführung der ACCORD-GmbH durch A 39

Infolge der zwischen Kapitalgesellschaft und Gesellschafter bestehenden steuerlichen Trennung39 erzielt A als Geschäftsführer der ACCORD-GmbH grundsätzlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.40

40

Fraglich ist allerdings, ob dieses Ergebnis in der hiesigen Fallkonstellationen bestehen bleiben kann oder der Sachverhalt aufgrund der gesellschaftlichen Beziehungen nicht eher so zu beurteilen ist, dass A aus der Geschäftsführertätigkeit für die Komplementär-GmbH der ACCORD-GmbH & Co. KG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15

34 Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2277); BFH v. 22.9.2011 – IV R 33/08, BStBl. II 2012, 10, juris Rz. 20 f. 35 Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2274, 2277). 36 Förster/Benke, DStR 2020, 2273 (2276 f.), und auch Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 858. 37 Zu diesem Merkmal BFH v. 12.4.2018 – IV R 5/15, BStBl. II 2020, 118, juris Rz. 24 f. 38 Vgl. Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 81; Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 858, jeweils m.w.N. 39 Trennungstheorie im Gegensatz zum Transparenzprinzip, das bei Personengesellschaften Anwendung findet. 40 Kritisch zu dieser überwiegend in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansicht Seer, GmbHR 2011, 225.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 43

Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG erzielt. A führt als Geschäftsführer der ACCORD-GmbH, die ihrerseits Geschäftsführerin der ACCORD-GmbH & Co. KG ist, mittelbar auch die Geschäfte der KG. Bei wirtschaftlicher Betrachtung handelt es sich bei der Geschäftsführung also um eine Tätigkeit, die A für die KG ausübt. Mittelbar wird A auch durch die KG für seine Geschäftsführertätigkeit bezahlt, denn die ACCORD-GmbH erhält für ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin der KG eine Vergütung von dieser, aus der auch der A bei der ACCORD-GmbH, die darüber hinaus keinen eigenen Geschäftsbetrieb unterhält, vergütet wird. Bei wirtschaftlicher Betrachtung kann die Geschäftsführertätigkeit für die ACCORD-GmbH nicht von seiner Gesellschaftereigenschaft und damit auch nicht von seiner Eigenschaft als Mitunternehmer der KG losgelöst werden.41 A erzielt daher aus der Geschäftsführertätigkeit für die ACCORD-GmbH Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG. Hinweis: Ein häufiger Fehler in Klausurlösungen zu diesem Fall liegt darin, dass an dieser Stelle geprüft wird, ob der Anteil an der Komplementär-GmbH, den der Gesellschafter und Geschäftsführer hält, zu dessen Sonderbetriebsvermögen bei der KG zählt. Dieser Prüfungsschritt ist hier aber nicht erforderlich. Denn die Einkünfte werden nicht deswegen umqualifiziert, weil sie als Einkünfte im Zusammenhang mit der Beteiligung stehen und aus diesem Grund als Sonderbetriebseinnahmen im Sonderbereich zu berücksichtigen sind. Die Qualifikation der Einkünfte erfolgt über § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG, da die Tätigkeit der Geschäftsführung der Komplementär-GmbH bei wirtschaftlicher Betrachtung eine „Tätigkeit im Dienste der (Personen-)Gesellschaft“ darstellt.42

41

d) Dividende aus der ACCORD-GmbH für A und C Soweit A und C von der ACCORD-GmbH eine Gewinnausschüttung nach dem Bearbeitungsvermerk erhalten, handelt es sich dabei grundsätzlich um eine Dividende, die zu Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG führt.

42

Es könnte hier jedoch eine Umqualifizierung der Einkünfte gem. § 20 Abs. 8 EStG zu solchen aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG in Betracht kommen. Dies wäre dann der Fall, wenn sich die GmbH-Beteiligung bei A und C jeweils im Sonderbetriebsvermögen bei der KG befindet. Zum Sonderbetriebsvermögen43 gehören diejenigen Wirtschaftsgüter, die sich in der Vermögenssphäre des Gesellschafters befinden, aber an die Personengesellschaft überlassen werden oder der

43

41 Vgl. BFH v. 2.8.1960 – I 221/59 S, BStBl. III 1960, 408, juris Rz. 12; v. 21.3.1968 – IV R 166/67, BStBl. II 1968, 579, juris Leitsatz; v. 25.2.1991 – GrS 7/89, BStBl. II 1991, 691, juris Rz. 112. 42 Zur Einordnung von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG als Qualifikationsnorm siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.103. 43 Ausführlich Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.131 ff.

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Rz. 43 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

Beteiligung an der Personengesellschaft dienen oder förderlich sind.44 Durch die Anteile des Kommanditisten an der geschäftsführenden Komplementär-GmbH erweitert dieser seine Einwirkungsmöglichkeiten auf die geschäftlichen und unternehmerischen Entscheidungen der KG, was seiner Beteiligung als Kommanditist dienlich ist.45 Somit gehören auch die Anteile des Kommanditisten an der geschäftsführenden Komplementär-GmbH zu seinem Sonderbetriebsvermögen. Dass die ACCORD-GmbH vorliegend keinen eigenen Geschäftsbetrieb verfolgt, verdeutlich zudem, dass hier die Stärkung der eigenen Beteiligung durch das Halten der GmbH-Anteile im Vordergrund steht. 44

Somit erzielen A und C aus der Beteiligung an der ACCORD-GmbH, die sich in ihrem Sonderbetriebsvermögen befindet, gem. § 20 Abs. 8 EStG Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG. 3. Einkünftequantifikation a) Beteiligung von A, C und der ACCORD-GmbH an der ACCORD-GmbH & Co. KG aa) Einkunfts- und Gewinnermittlungsart

45

Die Einkünfte auf Gesellschaftsebene sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn. Bei der KG handelt es sich um eine Handelsgesellschaft und damit einen Formkaufmann i.S.v. § 6 HGB i.V.m. § 161 HGB, sodass der Gewinn gem. §§ 238 ff. HGB i.V.m. § 140 AO gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln ist.

46

Die Einkunftsart und Gewinnermittlung im Sonderbereich entspricht derjenigen auf Gesellschaftsebene;46 also erwirtschaften A, C und die ACCORD-GmbH im Sonderbereich Gewinne, die gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt werden. bb) Gewinnermittlung für die ACCORD-GmbH

47

Die ACCORD-GmbH ist zu 0 % an dem Gewinn aus dem Gesamthandsbereich der KG beteiligt. Im Sonderbereich erwirtschaftet sie gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG Sonderbetriebseinnahmen aus der Vergütung für die Geschäftsführung, denen Sonderbetriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG für den Arbeitslohn an den Geschäftsführer A gegenüberstehen.

48

Die Ausschüttung an A und B mindern gem. § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG ihr Einkommen nicht. 44 Die Unterscheidung zwischen Sonderbetriebsvermögen I (Wirtschaftsgüter, die der Gesellschaft entgeltlich oder unentgeltlich überlassen werden) und Sonderbetriebsvermögen II (Wirtschaftsgüter, die nicht Sonderbetriebsvermögen I sind, aber dem Gesellschafter der Erzielung seines Gewinnanteils dienen oder sonst dafür förderlich sind), die regelmäßig vorgenommen wird, folgen keine rechtlich unterschiedlichen Beurteilungen und können daher u.E. unterbleiben, zutreffend Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 327. 45 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.137. 46 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.108.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 56

cc) Gewinnermittlung für A A werden im Gesamthandsbereich gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG 60 % von dem von der KG erwirtschafteten Gewinn zugeteilt. Darüber hinaus erzielt er im Sonderbereich gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG Sonderbetriebseinnahmen aus der Vergütung als Geschäftsführer und Ausschüttungen aus seiner Beteiligung an der ACCORD-GmbH. Die Ausschüttungen sind dabei gem. § 3 Nr. 40 Buchst. d, Satz 2 EStG zu 40 % steuerfrei.

49

Sonderbetriebsausgaben sind die Zinsaufwendungen, die A sowohl für die Finanzierung der Beteiligung an der KG als auch für die Beteiligung an der GmbH entstanden sind. Die Zinsaufwendungen, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Beteiligung an der GmbH stehen, unterfallen gem. § 3c Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG einem 40 %igen Abzugsverbot und können – korrespondierend zu den Ausschüttungen aus der GmbH – nur i.H.v. 60 % als Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG berücksichtigt werden.

50

dd) Gewinnermittlung für C B werden im Gesamthandsbereich gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 1 EStG 40 % von dem von der KG erwirtschafteten Gewinn zugeteilt.

51

Im Sonderbereich i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG erzielt B als Sonderbetriebseinnahmen lediglich die Ausschüttungen aus der Beteiligung an der ACCORD-GmbH. Als Sonderbetriebsausgaben sind wiederum die Zinsen für die Finanzierung seiner Beteiligungen an KG und GmbH zu berücksichtigen. Die steuerrechtliche Beurteilung erfolgt dabei analog zu derjenigen bei A.

52

b) Vermietung des Grundstücks durch A und C an die ACCORDGmbH & Co. KG aa) Einkunfts- und Gewinnermittlungsart Die durch die gewerbliche Vermietung des Grundstücks erwirtschafteten Einkünfte auf Gesellschaftsebene der GbR sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt wird.

53

Einkünfte, die von A und C im Sonderbereich i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG erwirtschaftet werden, sind nicht ersichtlich.

54

bb) Betriebseinnahmen Als Betriebseinnahmen sind gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 EStG analog die Mietzahlungen der ACCORD-GmbH & Co. KG zu berücksichtigen.

55

cc) Betriebsausgaben Als Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG sind insbesondere die laufenden Aufwendungen für das Grundstück und die AfA für das Gebäude gem. § 7 Abs. 4 EStG zu berücksichtigen. 215

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Rz. 57 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

57

Zudem könnten die Modernisierungskosten steuerlich zu berücksichtigen sein. Die Vermietung des Grundstücks und damit die Begründung der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung erfolgte erst, nachdem die dem Grundstück aufstehende Produktionshalle von A und C modernisiert worden ist, sodass sich die Frage stellt, ob die Kosten überhaupt im Rahmen der Betriebsaufspaltung Berücksichtigung finden können. Grundsätzlich können vorweggenommene Erwerbsaufwendungen dann als Betriebsausgaben berücksichtigt werden, wenn sie in einem hinreichend konkreten, objektiv feststellbaren Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit stehen.47 A und C modernisieren das Gebäude, um eine Vermietung an die ACCORD-GmbH & Co. KG später zu ermöglichen, damit diese dort darauf, wie von beiden geplant, die CordWaren produzieren kann. Dementsprechend besteht ein klarer Zusammenhang zwischen den Modernisierungskosten und der späteren Vermietung. Dass hiervon aufgrund der Betriebsaufspaltung eine Ausnahme zu machen ist, lässt sich, da es sich bei der Betriebsaufspaltung nicht um Sonderrecht handelt, nicht schlüssig begründen.48 Somit sind die Modernisierungskosten als Betriebsausgaben grundsätzlich abziehbar.

58

In welchem Umfang bzw. wie die Ausgaben für die Modernisierung zu berücksichtigen sind, ist darüber hinaus fraglich. Die Modernisierungskosten könnten als – ggf. nachträgliche – Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten des Gebäudes einzuordnen und über die AfA gem. § 7 Abs. 4 EStG zu berücksichtigen oder als laufende Erhaltungsaufwendungen und damit als sofort abzugsfähige Betriebsausgaben einzuordnen sein.

59

Anschaffungskosten i.S.d. § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB sind Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand zu erwerben und ihn in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen. Diese handelsrechtliche Definition ist auch einkommensteuerlich anzuwenden.49 Maßgeblich für die Beurteilung ist die bestimmte Nutzung des Vermögensgegenstandes durch den Erwerber,50 hier also die Vermietung an die ACCORD-GmbH & Co. KG zu Produktionszwecken. Es ließe sich argumentieren, dass der Ersatz der Fenster und die Modernisierung der Sanitäranlagen notwendige Maßnahmen waren, um das Gebäude in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen, sodass es an die ACCORD-GmbH & Co. KG vermietet werden und von dieser zur Produktion von Cord-Waren genutzt werden kann. Jedoch ist insoweit zu differenzieren: Zerstörte Fenster an einem vermieteten Produktionsgebäude bieten vor Witterung und Eindringlingen keinen Schutz, sodass eine gefahrlose und geschützte Produktion von Waren wohl kaum möglich wäre. Insoweit wird man die Reparaturmaßnahmen für erforderlich halten müssen, um das Gebäudes in einen betriebsbereiten Zustand zu versetzen. Daher sind die Fensterreparaturen als nicht sofort ab-

47 Zu vorweggenommen Erwerbsaufwendungen allgemein Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.233. 48 Im Ergebnis wohl ebenso, lediglich bezogen auf nachträgliche Betriebsausgaben, FG München v. 13.12.2004 – 1 K 4526/03, juris Rz. 37 ff. 49 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BStBl. II 2019, 208, juris Rz. 35 f. 50 Krumm in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 255 HGB Rz. 34.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 61

zugsfähige Anschaffungskosten i.S.d. § 255 Abs. 1 Satz 1 EStG zu qualifizieren,51 die die AfA-Bemessungsgrundlage erhöhen und somit (nur) zu höheren Abschreibungen gem. § 7 Abs. 4 EStG führen. In Bezug auf die Renovierung der Sanitäranlagen wird im Sachverhalt deutlich, dass solche bereits zuvor vorhanden und auch nutzbar waren. Dass ein besonderer Standard bei den Sanitäranlagen für die beabsichtigte Vermietung zu Produktionszwecken erforderlich ist, gibt der Sachverhalt nicht her, sodass die Aufwendungen für die Modernisierung insoweit grundsätzlich als sofortabzugsfähige Erhaltungsaufwendungen einzuordnen sind.52 Hierbei ist jedoch die besondere Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 1a Satz 1 EStG zu anschaffungsnahen Herstellungskosten zu beachten: Danach gehören zu den Herstellungskosten eines Gebäudes auch Aufwendungen für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen, die innerhalb von drei Jahren nach der Anschaffung des Gebäudes durchgeführt werden, wenn die Aufwendungen ohne die Umsatzsteuer 15% der Anschaffungskosten des Gebäudes übersteigen.53 A und C hatten das Grundstück erst ein Jahr zuvor gekauft, sodass der Dreijahreszeitraum vorliegend noch nicht abgelaufen ist. Quantitative Aussagen zur Höhe der Modernisierungskosten für die Sanitäranlagen im Verhältnis zu den Anschaffungskosten des Hauses sind im Sachverhalt jedoch nicht enthalten, sodass keine finale Aussage über die Anwendung der Norm getroffen werden kann. Alternative Lösung: Wer sich oben gegen den Vorrang der mitunternehmerischen Betriebsaufspaltung entschieden hat, kommt in Bezug auf die Vermietung des Grundstücks zu Sonderbetriebseinkünften von A und C bei der ACCORD-GmbH & Co. KG. Die hier auf Ebene der GbR angesprochenen Probleme bei den Aufwendungen treten analog bei den Sonderbetriebsausgaben auf. Freilich müsste man sich dann noch mit der Frage auseinandersetzen, ob das Grundstück bereits zum Zeitpunkt der Renovierung – also vor der Vermietung an die KG – in das Sonderbetriebsvermögen eingelegt worden ist.

60

dd) Gewinnverteilung auf A und C Der im Gesamthandsbereich der GbR erwirtschaftete Gewinn ist jeweils hälftig auf A und C zu verteilen.

51 Schwieriger wäre es hier, nachträgliche Herstellungskosten anzunehmen. Diese grenzen sich von den Anschaffungskosten dadurch ab, dass sie anfallen, nachdem der Vermögensgegenstand betriebsbereit ist. § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB erkennt als nachträgliche Herstellungskosten zudem nur solche Aufwendungen an, die zu einer über den ursprünglichen Zustand hinausgehenden wesentlichen Verbesserung des Wirtschaftsguts führen oder ihn erweitern. Für Einzelheiten siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.250 ff. 52 Eine wesentliche Verbesserung, die zu nachträglichen Herstellungskosten i.S.d. § 255 Abs. 2 Satz 1 HGB führt, ist nicht gegeben, wenn durch Modernisierungsarbeiten lediglich ein zeitgemäßer Zustand hergestellt wird, siehe BFH v. 17.6.1997 – IX R 30/95, BStBl. II 1997, 802, juris Rz. 54; v. 6.4.2016 – X R 29/14, juris Rz. 20. Für eine wesentliche Verbesserung durch die Sanierung der sanitären Anlagen sind im Sachverhalt keine Anhaltspunkte gegeben. 53 Siehe weiterführend Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.256.

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Rz. 62 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

II. Sachverhalt um die ACDC-GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht 62

A und C sind – wie oben erläutert – in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG.

63

Die ACDC-GmbH ist Kapitalgesellschaft mit Geschäftsleitung (§ 10 AO) und Sitz (§ 11 AO) im Inland und damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig. 2. Einkünftequalifikation a) Einkünfte der ACDC-GmbH

64

Die ACDC-GmbH ist unbeschränkt steuerpflichtig i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG und alle Einkünfte sind gem. § 8 Abs. 2 KStG solche aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. b) Vermietung des Grundstücks durch A an die ACDC-GmbH

65

A vermietet an die ACDC-GmbH ein mit einem Gebäude bebautes Grundstück, also unbewegliches Vermögen, und erzielt damit grundsätzlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG.

66

Es kommt allerdings wiederum eine Umqualifizierung der Vermietungseinkünfte zu gewerblichen Einkünften i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG infolge einer Betriebsaufspaltung in Betracht. Dazu müssten wie oben eine sachliche Verflechtung sowie eine personelle Verflechtung – diesmal im Verhältnis zwischen der ACDCGmbH und A – bestehen. Betriebsgesellschaft wäre in diesem Zusammenhang die ACDC-GmbH und das Besitzunternehmen ein Einzelunternehmen des A.

67

Eine sachliche Verflechtung zwischen Besitz- und Betriebsunternehmen ist hier darin zu sehen, dass die ACDC-GmbH das von A angemietete Gebäude als Betriebstätte für ihre Entwicklungstätigkeit nutzt und dieses damit für die Erreichung des Betriebszweckes der Betriebsgesellschaft erforderlich ist und auch besonderes Gewicht für die Betriebsführung der ACDC-GmbH besitzt.

68

Die personelle Verflechtung setzt wiederum voraus, dass A beide Unternehmen beherrscht, dort also jeweils seinen geschäftlichen Betätigungswillen umsetzen kann. A ist alleiniger Eigentümer des vermieteten Grundstücks, kann also in Bezug auf dieses alleine entscheiden, sodass eine beherrschende Stellung bzgl. des Besitzunternehmens gegeben ist. An der ACDC-GmbH ist A unmittelbar nur zu 40% beteiligt und kann mit dieser Beteiligung seinen geschäftlichen Betätigungswillen dort folglich nicht allein umsetzen. Aufgrund des Transparenzprinzips mittelt ihm die ACCORD-GmbH & Co. KG durch die Beteiligung des A an ihr i.H.v. 60 % jedoch über ihre 20 %ige Beteiligung an der ACDC-GmbH eine (0,6 x 0,2 =) 12 %ige Beteiligung an derselben.54 A ist somit 54 Zur mittelbaren Beteiligung Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 96.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 73

mittelbar und unmittelbar zu (40 % + 12 % =) 52 % an der ACDC-GmbH beteiligt und hat folglich die Möglichkeit, auch dort seinen geschäftlichen Betätigungswillen umzusetzen. Damit ist eine personelle Verflechtung zwischen ACDC-GmbH und dem Besitzunternehmen gegeben, sodass eine Betriebsaufspaltung vorliegt. Die Einkünfte des A aus § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aus der Vermietung des Grundstücks werden gem. § 21 Abs. 3 EStG folglich zu solchen aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG umqualifiziert.

69

Hinweis: Die Streitfrage, die es bezüglich der mittelbaren Beteiligung über Kapitalgesellschaften bei der Begründung der personellen Verflechtung bei der Betriebsaufspaltung gibt,55 stellt sich wegen des Transparenzprinzips bei Personengesellschaften – hier die KG – nicht.

70

c) Ausschüttungen der ACDC-GmbH an A und C Grundsätzlich stellen die Ausschüttungen durch die ACDC-GmbH an A und C Dividenden und damit Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG dar. Fraglich ist insoweit wiederum, ob eine Umqualifizierung der Einkünfte gem. § 20 Abs. 8 EStG in Betracht kommt. Hierbei ist zwischen A und C zu unterscheiden.

71

aa) Beurteilung für C In Bezug auf C kommt eine Umqualifizierung zu Einkünften aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG in Betracht, wenn seine Beteiligung an der ACDC-GmbH notwendiges Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG darstellt. Das setzt voraus, dass die Beteiligung an der ACDC-GmbH für die ACCORDGmbH & Co. KG wirtschaftlich vorteilhaft ist.56 Dazu muss erstens zwischen der ACDC-GmbH und der ACCORD-GmbH & Co. KG eine enge wirtschaftliche Verflechtung bestehen,57 wozu über normale Geschäftsbeziehungen hinausgehende wirtschaftliche Verbindungen58 erforderlich sind. Zweitens ist eine finanzielle und organisatorische Beherrschung der Kapitalgesellschaft durch den Mitunternehmer bzw. die Mitunternehmer nötig.59

72

Hier liegt eine einheitliche wirtschaftliche Gesamtkonzeption zwischen der ACDCGmbH und der ACCORD-GmbH & Co. KG darin begründet, dass erstere das Design

73

55 Siehe nur die Darstellung und Auseinandersetzung bei Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 835, und bei Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 96. 56 BFH v. 23.2.2012 – IV R 13/08, juris Rz. 54. 57 BFH v. 23.2.2012 – IV R 13/08, juris Rz. 55 ff., m.w.N.; Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 518. 58 BFH v. 23.2.2012 – IV R 13/08, juris Rz. 58 m.w.N.; Wacker in Schmidt40, § 15 EStG Rz. 518. 59 BFH v. 23.2.2012 – IV R 13/08, juris Rz. 57; v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. II 1993, 328, juris Rz. 30 f.

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Rz. 73 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

für das Kabel entwickelt, welches letztlich durch die KG hergestellt werden soll, sodass jedenfalls eine enge wirtschaftliche Beziehung im vorgenannten Sinne anzunehmen ist.60 Weiterhin beherrscht zwar C mit seiner Beteiligung die ACDC-GmbH nicht allein, jedoch gemeinsam mit A. Beide Gesellschafter wirken dabei zusammen, um einen gemeinschaftlich gefassten Gesamtplan zu verwirklichen. Bei wertender Betrachtungsweise ist folglich eine Beherrschung der ACDC-GmbH durch die Mitunternehmer anzunehmen. Somit ist die Beteiligung des C an der ACDC-GmbH als notwendiges Sonderbetriebsvermögen des C bei der ACCORD-GmbH & Co. KG einzuordnen. Die Einkünfte aus den Ausschüttungen von der ACDC-GmbH sind damit gem. § 20 Abs. 8 EStG zu Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG umzuqualifizieren. 74

Alternative Lösung: Wer die Beteiligung des C an der ACDC-GmbH nicht als Sonderbetriebsvermögen bei der KG qualifiziert, gelangt für C in Bezug auf die Ausschüttungen zu Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

bb) Beurteilung für A 75

Für A gilt das gerade für C Festgestellte entsprechend. Allerdings kommt bei A auch eine Qualifizierung des Anteils an der ACDC-GmbH aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung von Besitz- und Betriebsunternehmen als notwendiges Betriebsvermögen in seinem Einzelunternehmen in Form der Besitzgesellschaft in Betracht.61 Die Rechtsprechung räumt dem Sonderbetriebsvermögen hierbei Vorrang vor dem Eigenbetriebsvermögen ein.62 Dies überzeugt aus teleologischer Sicht nicht. Sinn und Zweck von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG ist die Verhinderung von missbräuchlich den gewerblichen Einkünften entzogenen Leistungen.63 Diese Gefahr besteht aber für A – im Gegensatz zu C, bei dem die Beteiligung ansonsten im Privatvermögen verbleiben würde – nicht, denn die Beteiligung an der ACDC-GmbH befindet sich ja bereits im Betriebsvermögen des Einzelunternehmens. Daher ist die Bilanzierungskonkurrenz hier zugunsten des Einzelunternehmens des A aufzulösen, sodass A insoweit Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erzielt.

76

Alternative Lösung: Eine andere Auffassung, die hier auch für den A Sonderbetriebsvermögen annimmt, ist mit entsprechender Argumentation gut vertretbar. In der Folgebeurteilung ergeben sich inhaltlich kaum Abweichungen.

60 Siehe zu dieser Fallkonstellation m.w.N. BFH v. 23.2.2012 – IV R 13/08, juris Rz. 56; v. 7.7.1992 – VIII R 2/87, BStBl. II 1993, 328, juris Rz. 29 f. 61 Siehe zur Qualifizierung der Beteiligung an dem Betriebsunternehmen als (Sonder-)Betriebsvermögen bei dem Besitzunternehmen Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 13.86. 62 BFH v. 18.5.1983 – I R 5/82, BStBl. II 1983, 771, juris Orientierungssatz 1; v. 18.8.2005 – IV R 59/04, BStBl. II 2005, 830, juris Leitsatz 1. 63 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 10.133.

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 80

d) Geschäftsführergehalt des A bei der ACDC-GmbH Infolge des Trennungsprinzips ist das Gehalt, das A von der ACDC-GmbH für die Tätigkeit als deren Gesellschafter erhält, den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gem. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zuzuordnen. Die Tätigkeit wird auch nicht im Zusammenhang mit dem Einzelunternehmen ausgeführt. Eine Umqualifizierung zu Einkünften aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG kommt damit vorliegend nicht in Betracht.

77

Alternative Lösung: Identisches gilt für den Fall, dass die Beteiligung des A an der ACDC-GmbH als notwendiges Sonderbetriebsvermögen des A bei der ACCORD-GmbH & Co. KG qualifiziert worden ist.

78

Weiterhin könnte man einer wirtschaftlichen Betrachtung folgend die Tätigkeit als Geschäftsführer für die ACDC-GmbH den Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zuordnen. Wenn man bei Anwendung des Rechtsinstituts der Betriebsaufspaltung von einer personellen und sachlichen Verflechtung eines Betriebes des A (selbständige wirtschaftliche Tätigkeit des A mit beherrschendem Einfluss auf die GmbH) ausgeht, dann ist es wertungswidersprüchlich, den A als abhängig Beschäftigten der GmbH zu behandeln. Vielmehr dient seine Geschäftsführertätigkeit gerade dazu, die personelle Verflechtung mit beherrschendem Einfluss umzusetzen und gehört damit zu seiner betrieblichen, selbständigen Aktivität. Aufgrund der Tatsache, dass der A mittelbar und unmittelbar mehr als 50 % der Anteile an der GmbH hält, besteht das für eine nichtselbständige Tätigkeit notwendige Abhängigkeitsverhältnis nur auf dem Papier. Normativer Anknüpfungspunkt für diese Wertung ist der Begriff der „Selbständigkeit“ i.S.d. § 15 Abs. 2 EStG, der von der „Nichtselbständigkeit“ i.S.d. § 19 Abs. 1 EStG mithilfe des Arbeitnehmertypusbegriffs abgegrenzt wird. Dieser offene Typusbegriff erlaubt es, die Tätigkeit nach dem Gesamtbild der Verhältnisse anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale zu beurteilen.64

e) Zinsen aus Darlehen an die ACDC-GmbH bei A und C Aus der Überlassung des Darlehens an die ACDC-GmbH erzielen A und C grundsätzlich Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG.

79

Das Darlehen steht allerdings im wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Beteiligung an der ACDC-GmbH, sodass die Darlehensforderung gegenüber der ACDCGmbH ebenfalls dem Betriebsvermögen des Einzelunternehmens bei A bzw. dem Sonderbetriebsvermögen von C bei der ACCORD-GmbH & Co. KG zuzuordnen ist. Die entstandenen Zinsen gehören dann gem. § 20 Abs. 8 EStG bei A zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und bei C zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbs. 2 EStG.

80

64 Siehe insgesamt zu dieser Thematik Seer, GmbHR 2011, 225 (228 ff.), und Seer, GmbHR 2011, 316 (Anmerkung zu BFH v. 20.10.2010 – VIII R 34/08).

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Rz. 81 | Kapitel 3: Unternehmensteuerrecht

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Alternative Lösung: Wurde die Beteiligung an der ACDC-GmbH nicht in das Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG eingelegt, bezieht C Einkünfte (im Privatvermögen) aus Kapitalvermögen i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5; 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG.

3. Einkünftequantifikation a) ACDC-GmbH 82

Die Einkünfte der ACDC-GmbH sind gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der gem. § 13 Abs. 3 GmbHG, §§ 6 Abs. 1; 238 ff. HGB, § 140 AO, §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt wird. Mangels näherer Angaben kann zur konkreten Höhe des Gewinns keine Aussage getroffen werden. Die Gewinnausschüttungen an A und C mindern gem. § 8 Abs. 3 Satz 1 KStG das Einkommen der ACDC-GmbH jedoch nicht. b) Besitzunternehmen des A (Grundstücksvermietung an die ACDC-GmbH)

83

Die Einkünfte aus dem Besitzunternehmen des A, das auf der Grundstücksvermietung an die ACDC-GmbH gegründet ist, sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG der Gewinn, der sich gem. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt.

84

Als Betriebseinnahmen sind die Mietzahlungen durch die ACDC-GmbH für das überlassene Grundstück anzusetzen. Die laufenden Grundstücksaufwendungen sowie die AfA für das Gebäude i.S.d. § 7 Abs. 4 EStG stellen Betriebsausgaben i.S.d. § 4 Abs. 4 EStG dar.

85

Als Betriebseinnahmen sind außerdem die ausgeschütteten Dividenden der ACDCGmbH zu erfassen, die gem. § 3 Nr. 40 Buchst. d, Satz 2 EStG im Teileinkünfteverfahren zu 40 % steuerfrei sind. Die Zinsen, die von der ACDC-GmbH für die Gewährung des Darlehens an A gezahlt worden sind, stellen ebenfalls Betriebseinnahmen im Besitzunternehmen dar; mangels Steuerbefreiung sind die Zinsen aber bei A voll steuerpflichtig.

86

Alternative Lösung: Für den Fall, dass die Beteiligung des A an der ACDC-GmbH als Sonderbetriebsvermögen bei der KG qualifiziert worden ist, erzielt A die Zinseinnahmen und Dividenden mit identischen Rechtsfolgen im Sonderbereich bei der ACCORD-GmbH & Co. KG.

c) Beurteilung der Ausschüttung und der Zinsen bei C 87

Für die Einkünfteermittlung gilt im Sonderbetriebsvermögen des C bei der ACCORD-GmbH & Co. KG, wie bereits oben erläutert, die Gewinnermittlung nach dem Betriebsvermögensvergleich i.S.d. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG. 222

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Fall 13: Wirecord – Ein Kabel geht um die Welt | Rz. 92

Die Dividenden der ACDC-GmbH stellen bei C Sonderbetriebseinnahmen dar, die gem. § 3 Nr. 40 Buchst. d, Satz 2 EStG im Teileinkünfteverfahren zu 40 % steuerfrei sind. Die von der ACDC-GmbH gezahlten Zinsen für das gewährte Darlehen sind ebenfalls Sonderbetriebseinnahmen und analog zu der Beurteilung bei A auch im Sonderbetriebsvermögen des C mangels Steuerbefreiung zu 100 % steuerpflichtig.

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Alternative Lösung: Wurde die Beteiligung an der ACDC-GmbH nicht in das Sonderbetriebsvermögen bei der ACCORD-GmbH & Co. KG eingelegt, sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Wegen der Anwendbarkeit des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b, Satz 2 EStG finden § 20 Abs. 6 und 9 EStG keine Anwendung, d.h. es sind die tatsächlichen Werbungskosten abzuziehen. Ferner unterfallen die Einkünfte nicht dem Steuersatz i.S.d. § 32d Abs. 1 EStG, sondern der tariflichen Steuer i.S.d. § 32a Abs. 1 EStG bei C. Das Teileinkünfteverfahren findet, da die Voraussetzungen des § 3 Nr. 40 Satz 2 EStG nicht vorliegen, keine Anwendung.

89

d) Geschäftsführergehalt des A bei der ACDC-GmbH Die Einkünfte aus der Tätigkeit als Geschäftsführer sind gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Als Einnahmen i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG kommt hier zuvorderst der Arbeitslohn, den der A für seine Geschäftsführertätigkeit erhält, in Betracht. Mangels im Sachverhalt erkennbarer Werbungskosten sind von den Einnahmen als Werbungskosten gem. § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG der Werbungskostenpauschbetrag i.H.v. 1.000 Euro abzuziehen.

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Alternative Lösung: Wer die Geschäftsführertätigkeit oben den Einkünften aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zugeordnet hat, gelangt zur Gewinnermittlung gem. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich i.S.d. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG (siehe Bearbeitungsvermerk). In dieser sind als Betriebseinnahmen die vertraglich vereinbarten Zahlungen für die Geschäftsführung zu berücksichtigen. § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG findet keine Anwendung, stattdessen sind (nur) die tatsächlichen Aufwendungen als Betriebsausgaben zu berücksichtigen.

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 10

92

– Zimmermann/Hottmann/Kiebele/Schaeberle/Scheel/Schustek/Szczesny, Die Personengesellschaft im Steuerrecht, 12. Auflage 2017, B. 1.1.-1.4 (S. 67-170), H (S. 757-818) – Förster/Benke, Keine Bilanzierungskonkurrenz bei Schwesterpersonengesellschaften, DStR 2020, 2273

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Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? Schwerpunkte: – Handelsrechtlicher Begriff des Kaufmanns bzw. der Kauffrau/Kaufleute – Gewerbebetrieb i.S.d. Handelsrechts – Buchführungspflicht nach Handels- und Steuerrecht Bearbeitungszeit: 1,5 Stunden Schwierigkeitsgrad: einfach

A. Sachverhalt Nach Abschluss seines ersten juristischen Staatsexamens entdeckt A sein Talent für die Wissensweitergabe an junge Studierende und beschließt, Repetitor zu werden. Er entwirft zunächst eigene Schulungsunterlagen für den juristischen Grundlagenstoff sowie eine Internetseite, auf der er sein Repetitorium beschreibt und Anmeldungen zu seinen Kursen ermöglicht. Zur Durchführung der Kurse mietet A Räumlichkeiten in der Bochumer Innenstadt an, die er mit Stühlen, Tischen und einem Whiteboard einrichtet und in denen er ab dem 1.1.01 an vier Tagen in der Woche ein juristisches Repetitorium nach einem von ihm erstellten Zeitplan betreibt. Die Umsätze i.H.v. 150.000 Euro und den Gewinn von 50.000 Euro für das Jahr 01 – A macht hohe Repräsentationsaufwendungen u.a. für Club-Touren an den Wochenenden mit „seinen“ Studierenden geltend – erklärt A dem Finanzamt in einer Einnahmen-ÜberschussRechnung am 1.5.02. Am 20.5.02 erhält A Post vom Finanzamt. Dieses fordert ihn mit Hinweis auf § 140 Abs. 1 AO auf, eine Bilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung einzureichen und auch in Zukunft Bücher zu führen; immerhin unterrichte er eine Vielzahl von Studierenden und müsse daher bereits der betriebswirtschaftlichen Übersichtlichkeit halber Bücher führen. Die Schwester des A (B) verfolgt hingegen völlig andere Wege, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, sieht sich aber letztlich mit vergleichbaren (rechtlichen) Problemen konfrontiert: Gemeinsam mit ihrer Freundin C aus Studienzeiten hat B zum 1.1.02 eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet. Sie möchten hauptsächlich Kugellager als Zwischenhändler veräußern. Dazu beschäftigt die GbR zwei Arbeitnehmer, eine Lageristin und einen Sekretär, und hat eine Lagerhalle nebst angrenzendem Bürocontainer erworben. Das Kapital für ihre Unternehmung und den Grundstückskauf hat die GbR durch Bankdarlehen von zwei deutschen Großbanken finan225

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Rz. 1 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

ziert. Die Kugellager bezieht die GbR in monatlichen Lieferungen von der K-GmbH, die diese in großen Massen herstellt, aber „aus Haftungsgründen“ nicht direkt an verarbeitende Unternehmen ausliefern möchte. Daher kommt das Zwischenschalten der GbR allen Beteiligten entgegen. Als Kundin konnte die GbR trotz weiterer Bemühungen lediglich die in Deutschland ansässige Y-AG gewinnen, an die sie in jedem Monat Kugellager im Wert von 2.000.000 Euro veräußert und entsprechend abrechnet. Der Einkaufspreis für eine monatliche Charge bei der K-GmbH beträgt 1.800.000 Euro. B und C haben für die GbR bisher weder eine Bilanz aufgestellt, noch die Gesellschaft in das Handelsregister eingetragen. Für 02 hat die GbR einen Gewinn i.H.v. 1.800.000 Euro erwirtschaftet.

Das für die Veranlagung der Gesellschaft zuständige Finanzamt hatte die GbR mit Hinweis auf § 140 Abs. 1 AO im Jahr 03 aufgefordert, für das Wirtschaftsjahr vom 1.1.02 bis zum 31.12.02 eine Bilanz inkl. Gewinn- und Verlustrechnung einzureichen. In jedem Fall sei aber eine entsprechende Verpflichtung für 02 gem. § 141 Abs. 1 AO zu erfüllen. Aufgabe: Wie ist die Rechtslage in Bezug auf die Buchführungspflicht für A für das Jahr 01 sowie die GbR von B und C für das Jahr 02? §§ 241a, 242 Abs. 4 HGB sind nicht zu prüfen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Fall-Lösung 2

Das Handelsrecht als Sonderprivatrecht knüpft für seine Anwendbarkeit – jedenfalls im Bereich des Handelsstandes, der Handelsgesellschaften bzw. der stillen Gesellschaft und der Handelsbücher1 – nicht an die Art des Geschäfts, sondern an die Eigenschaft der beteiligten Rechtssubjekte an. Dies umfasst auch die Verpflichtung zur Buchführung i.S.d. § 238 ff. HGB, die im vorliegenden Fall zu beurteilen ist. Gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB ist daher zur Führung von Büchern verpflichtet, wer Kaufmann ist.

3

Wer Kaufmann in diesem Sinne ist (oder sich als solcher behandeln lassen muss2), ist in §§ 1–7 HGB geregelt. Das Handelsrecht unterscheidet dabei zwischen dem Kaufmann kraft Handelsgewerbe (Istkaufmann, § 1 HGB), dem Kaufmann kraft Eintragung (Kannkaufmann, § 2 HGB) und dem Kaufmann kraft Rechtsform (Formkaufmann, § 6 HGB). Im vorliegenden Fall haben sich weder A noch die GbR in das Handelsregister eintragen lassen. Für A kommt daher nur eine Kaufmannseigenschaft kraft Handelsgewerbe gem. § 1 HGB in Betracht. Dies gilt ebenso für die GbR, die dann gleichwohl als OHG i.S.d. § 105 Abs. 1 HGB Formkaufmann i.S.d. § 6 HGB ist.3 1 Zu den Ausnahmen Röhricht/Graf von Westphalen/Haas in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, Einl. HGB Rz. 7 f. 2 Siehe § 5 HGB. 3 Zur insoweit bestehenden Klarstellungsfunktion des § 6 HGB, siehe Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 6 HGB Rz. 1 f.; Haas in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 105 HGB Rz. 8, 34.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 5

Im Mittelpunkt der Klausur steht damit die Frage, ob A und die GbR jeweils ein Handelsgewerbe betreiben. Der Begriff des Handelsgewerbes ist in § 1 Abs. 2 HGB definiert und setzt einen Gewerbebetrieb voraus, es sei denn, das Unternehmen erfordert nach Art oder Umfang keinen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb. Obwohl der Begriff des Gewerbebetriebs z.B. aus dem Einkommensteuerrecht bekannt ist, ist seine Bedeutung im Handelsgesetzbuch nicht deckungsgleich zum Ertragsteuerrecht.4 Dies hängt mit den verschiedenen Zwecken zusammen, die im und durch das Handelsrecht auf der einen Seite und das Steuerrecht auf der anderen Seite verfolgt werden.5 Das Handelsrecht ist auf die Einfachheit und Schnelligkeit des Handelsverkehrs ausgelegt, berücksichtigt die Grundsätze der Publizität und des Vertrauensschutzes und soll Praxisnähe sowie Internationalität gewährleisten.6 Der handelsrechtliche Gewerbebetrieb ist also unter Beachtung dieser Aspekte zu konkretisieren. Das Steuerrecht nennt in §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 EStG die Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Die steuerliche Legaldefinition des Gewerbebetriebes in § 15 Abs. 2 EStG geht nicht umsonst auf § 1 Abs. 1 Satz 1 GewStDV 19837 zurück, denn die Einkunftsart besteht steuerrechtlich aus dem Grund, um bestimmte Einkünfte zusätzlich zur Einkommensteuer auch der kommunalen Gewerbesteuer zu unterwerfen.8 Steuerlicher und handelsrechtlicher Begriff des Gewerbebetriebes differieren wegen ihrer unterschiedlichen Zwecke daher auch bei den Tatbestandsmerkmalen. So ist etwa die Gewinnerzielungsabsicht bzw. Einkunftserzielungsabsicht steuerrechtlich unabdingbare Voraussetzung für die Steuerbarkeit der Einkünfte und grenzt die Einkunftserzielungssphäre von der ertragsteuerlich unbeachtlichen Einkommensverwendungssphäre ab.9 Inwieweit eine Gewinnerzielungsabsicht für den Gewerbebetrieb im Handelsrecht erforderlich ist, ist indes umstritten.10 Insbesondere die Differenzierung des Gewinnbegriffs in der modernen Betriebswirtschaftslehre, die strategische Verlagerung des Gewinnanfalls zwischen konzernangehörigen Unternehmen sowie die Vermehrung und Differenzierung der öffentlich-rechtlichen Unternehmen sprechen gegen das Tatbestandsmerkmal der Gewinnerzielungsabsicht im Handelsrecht.11

4

Das Steuerrecht knüpft über § 140 AO an außersteuerliche Buchführungspflichten an und schreibt vor, dass diese auch für steuerliche Zwecke zu erfüllen sind. Wer nach Handelsrecht buchführungspflichtig ist, ist somit auch für steuerliche Zwecke

5

4 5 6 7

8 9 10 11

Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 20. Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 19. Merkt in Baumbach/Hopt40, Vor § 1 HGB Rz. 4–7. Zur Entwicklung des gewerbesteuerlichen Begriffs des Gewerbebetriebs siehe PrOVG v. 1.4.1880, Rep. II C. 45/80, PrOVGE 6, 385; v. 13.6.1883, Rep. I. A. 32/82, PrOVGE 10, 382 ff.; RFH v. 14.5.1924, VI v A 5/24, RFHE 14, 19; v. 4.2.1931, VI A 176/30, RFHE 28, 21, 26; siehe auch Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 8.413 m.w.N. Siehe dazu im Einzelnen Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 12.1 ff. Allgemein Seer in Kirchhof/Seer20, § 2 EStG Rz. 58 ff.; für die Einkünfte aus Gewerbebetrieb Krumm in Kirchhof/Seer20, § 15 EStG Rz. 35 ff. Siehe nur Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 48 m.w.N. Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 48 ff.; Merkt in Baumbach/ Hopt40, § 1 HGB Rz. 16.

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Rz. 5 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

buchführungspflichtig. Man spricht insoweit von einer abgeleiteten – derivativen – steuerlichen Buchführungspflicht. Unter den Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 AO ist zudem eine originäre steuerrechtliche Buchführungspflicht möglich, die allerdings nicht kraft Gesetzes gilt, sondern gem. § 141 Abs. 2 Satz 1 AO eines rechtsgestaltenden Verwaltungsakts in Form einer Mitteilung durch die Finanzbehörde bedarf mit dem Inhalt, dass und warum die Pflicht zur Buchführung besteht.12 II. Anforderungsprofil 6

Der Fall lässt sich in zwei Aufgabenteile gliedern (die Beurteilung von A sowie die Beurteilung der GbR), die in der Lösung etwa gleich zu gewichten sind und unterschiedliche Probleme des Handelsgewerbes innerhalb des Kaufmannbegriffs zum Gegenstand haben.

7

Im ersten Aufgabenteil rund um die Repetitorentätigkeit des A liegt der Schwerpunkt in der Prüfung des handelsrechtlichen Gewerbebetriebes. Hierbei ist der Begriff des Gewerbebetriebs zunächst anhand einer selbständigen handelsrechtlichen Definition in seine einzelnen Merkmale aufzugliedern. Ausführlicher sollte eine Auseinandersetzung mit der Frage erfolgen, ob A mit seiner Tätigkeit als Repetitor freiberuflich tätig ist und daher aus dem handelsrechtlichen Begriff des Gewerbebetriebes ausscheidet. Dass A als Repetitor steuerrechtlich eine unterrichtende Tätigkeit ausübt und damit Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG erzielt, darf hierbei wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen von Handels- und Steuerrecht nicht ohne Weiteres auf das Handelsrecht übertragen werden. Gute Bearb. können sich hier durch eine gelungene Schwerpunktsetzung und Argumentation hervorheben.

8

Im zweiten Aufgabenteil ist weniger das Vorliegen eines Gewerbebetriebes problematisch, sondern der Fokus ist eher darauf zu richten, ob ein nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteter Geschäftsbetrieb erforderlich ist, um das Unternehmen zu betreiben. Hier sollte insbesondere erkannt werden, dass die Umsatzund Gewinnhöhe allein nicht entscheidend für diese Frage sein kann und es daher auf die übrigen Umstände in dem Unternehmen ankommt.

9

Wichtig ist in beiden Aufgabenteilen, die Hinweise auf die konkrete Ausgestaltung der Tätigkeiten von A sowie B und C im Sachverhalt zu erkennen und die sich daraus ergebenden Argumentations- und Beurteilungsspielräume zu nutzen. Zu welchem Ergebnis die Bearbeitung in den jeweiligen Aufgabenteilen kommt, ist dabei zweitrangig. Gelungene Bearbeitungen runden beide Prüfungen durch eine kurze Stellungnahme zur derivativen bzw. originären steuerlichen Buchführungspflicht ab, die im Sachverhalt jeweils durch die Aufforderungen der Finanzbehörde zur Buchführung angelegt ist.

12 Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 141 AO Rz. 23.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 12

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Beurteilung der Buchführungspflicht für A 12 1. Gewerbebetrieb 14 a) Selbständigkeit 15 b) Planmäßige, auf Dauer angelegte und nach außen erkennbare Geschäftstätigkeit 16 c) Anbieten von Dienstleistungen am Markt 17 d) Einnahmeerzielungsabsicht 18 e) Keine freiberufliche, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit 19 f) Ergebnis Gewerbebetrieb 23 2. Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs 25 3. Ergebnis 29 II. Beurteilung der Buchführungspflicht für die GbR 30 1. Buchführungspflicht nach Handelsrecht 31 a) Gewerbebetrieb 32 b) Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs 36 c) Ergebnis 39 2. Originäre steuerrechtliche Buchführungspflicht 41 3. Ergebnis 42

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, wie die Rechtslage in Bezug auf die Buchführungspflicht für A für 01 sowie die GbR von B und C für 02 zu beurteilen ist.

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I. Beurteilung der Buchführungspflicht für A Eine Buchführungspflicht für das Jahr 01 könnte sich für A aus § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB ergeben. Dies setzt voraus, dass er Kaufmann i.S.d. Handelsrechts ist. Aufgrund der Tatsache, dass A nicht in das Handelsregister eingetragen ist, kommt lediglich eine Kaufmannseigenschaft als Istkaufmann gem. § 1 HGB in Betracht.

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Rz. 13 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

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Dafür müsste A ein Handelsgewerbe betreiben, was gem. § 1 Abs. 2 HGB jeder Gewerbebetrieb ist, es sei denn, das Unternehmen erfordert nach Art und Umfang keinen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb. 1. Gewerbebetrieb

14

A müsste daher zunächst einen Gewerbebetrieb i.S.d. § 1 Abs. 2 HGB betreiben. Ein solcher Gewerbebetrieb liegt vor, wenn eine Tätigkeit selbständig, planmäßig, auf eine gewisse Dauer angelegt, erkennbar nach außen in Form des Angebots von Waren oder Dienstleistungen am Markt und in der Absicht, jedenfalls laufende Einnahmen zu erwirtschaften, betrieben wird, ohne eine freiberufliche, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit zu sein.13 a) Selbständigkeit

15

Selbständigkeit meint im Handelsrecht die rechtliche Selbständigkeit, die nicht notwendigerweise mit einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit Hand in Hand gehen muss.14 Als Definition lässt sich an § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB anknüpfen, wonach selbständig ist, wer seine Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. A hat hier eigene Schulungsunterlagen entwickelt und nach eigenen Vorstellungen Räumlichkeiten angemietet, in denen er an vier Tagen in der Woche nach seinen Zeitvorgaben juristische Kenntnisse vermittelt. A ist folglich frei in der Gestaltung des „Ob“ und „Wie“ seiner Tätigkeit und damit selbständig tätig. b) Planmäßige, auf Dauer angelegte und nach außen erkennbare Geschäftstätigkeit

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Eine planmäßige, auf Dauer angelegte und nach außen erkennbare Geschäftstätigkeit ist dann gegeben, wenn während einer gewissen Zeitdauer eine unbestimmte Vielzahl oder ein Kreis entgeltlicher Geschäfte abgeschlossen werden soll. A hat hier beschlossen, Repetitor zu werden, für diese Tätigkeit Schulungsunterlagen entworfen und Räumlichkeiten angemietet sowie ausgestattet und dadurch nach außen erkennbar gezeigt, dass er beabsichtigt, nicht nur einmalig unterrichtend tätig zu werden. Seine Planung, die Tätigkeit an vier Tagen in der Woche und folglich auch mit einer gewissen Regelmäßigkeit auszuüben, ist weiterhin Ausdruck von Planmäßigkeit und einer gewissen Dauer. c) Anbieten von Dienstleistungen am Markt

17

Erforderlich ist zudem für einen Gewerbebetrieb, dass das Unternehmen als Anbieter von Leistungen in Erscheinung treten soll.15 Dies ist hier dadurch gegeben, dass der 13 Zur Abgrenzung des handelsrechtlichen Gewerbebetriebes vom steuerrechtlichen Gewerbebetrieb siehe oben unter Rz. 4 und Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 20, 24; umstritten ist, ob die Tätigkeit erlaubt sein muss. Da es hierauf im Fall allerdings nicht ankommt, wird dieser Streitstand nicht problematisiert. 14 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 25. 15 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 33.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 21

A über die von ihm gestaltete Internetseite das Repetitorium anbietet und dort auch die Anmeldungen und somit den Zugang zu seiner Leistung eröffnet, sodass er als Anbieter von entgeltlichen Unterrichtsleistungen am Markt in Erscheinung tritt. d) Einnahmeerzielungsabsicht A erzielt mit dem Repetitorium bereits Einnahmen und sogar einen Gewinn, sodass eine Einnahmeerzielungsabsicht unterstellt werden kann.

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e) Keine freiberufliche, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit Fraglich ist, ob A nicht eine freiberufliche, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit ausübt, die gegen das Vorliegen eines Gewerbebetriebs und somit auch gegen die Kaufmannseigenschaft des A sprechen würde.

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Als Repetitor, also Dozent, für den juristischen Grundlagenstoff ist A nicht als Künstler anzusehen, der eine eigenschöpferische Leistung vollbringt, in der seine individuelle Anschauungsweise und Gestaltungskraft zum Ausdruck kommt und die über eine hinreichende Beherrschung der Technik hinaus eine gewisse Gestaltungshöhe erreicht.16 Ebenso ist eine wissenschaftliche Tätigkeit des A, die voraussetzt, dass Fragen oder konkrete Vorgänge methodisch nach streng objektiven und sachlichen Gesichtspunkten in ihren Ursachen erforscht, begründet und in einen Verständniszusammenhang gebracht werden,17 im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. A gibt lediglich erworbenes Wissen weiter.

20

Eine freiberufliche Tätigkeit könnte hier in der Repetitor- bzw. Dozententätigkeit des A zu sehen sein, die als Vermittlung von Fähigkeiten und Wissen gegenüber Menschen im Wege einer persönlichen und eigenverantwortlichen Lehrtätigkeit als unterrichtende Tätigkeit einzustufen ist.18 § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG sieht eine unterrichtende Tätigkeit als zu den freiberuflichen Tätigkeiten gehörend an. Allerdings darf diese ertragsteuerliche Wertung nicht auf das Handelsrecht übertragen werden, das keine Besteuerungszwecke verfolgt, sondern teleologisch und historisch anderen Grundsätzen folgt.19 Das Handelsrecht ist auf die Einfachheit und Schnelligkeit des Handelsverkehrs ausgelegt, berücksichtigt die Grundsätze der Publizität und des Vertrauensschutzes und soll Praxisnähe sowie Internationalität gewährleisten.20 Es verfolgt damit Zwecke, die sowohl für gewerbliche als auch freiberufliche Unternehmen von Interesse sind, sodass aus dieser Zwecksetzung heraus unklar ist, warum oder in welchem Umfang die freiberufliche Tätigkeit aus der Anwendung des Handelsrechts

21

16 Zur Definition der künstlerischen Tätigkeit Pfirrmann in Kirchhof/Seer20, § 18 EStG Rz. 44. 17 Zur Definition der wissenschaftlichen Tätigkeit Pfirrmann in Kirchhof/Seer20, § 18 EStG Rz. 41. 18 Zur Definition der unterrichtenden Tätigkeit Pfirrmann in Kirchhof/Seer20, § 18 EStG Rz. 49. 19 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 67. 20 Merkt in Baumbach/Hopt40, Vor § 1 HGB Rz. 4–7.

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Rz. 21 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

ausgeklammert werden soll.21 Die Verengung auf den Begriff des Gewerbes, der die freien Berufe ausklammert, ist letztlich historisch bedingt und gründet auf der überholten Auffassung, dass die freien Berufe jedenfalls nicht überwiegend um des Erwerbsstrebens willen betrieben wurden, sodass die Freiberuflichkeit als Minusmerkmal heute daher eher eng verstanden und ausgelegt wird.22 Unter diesen Vorzeichen sind unter Beachtung der Verkehrsauffassung nur solche Berufe handelsrechtlich den freien Berufen zuzuordnen, die als solche durch besondere Berufsordnungen geregelt sind oder zu diesen in unmittelbarer Nähe stehen, wobei die Freiberuflichkeit nur für den Kernbereich des freien Berufes gilt, Annextätigkeiten davon also nicht umfasst sind.23 Als ein freier Beruf, der die Freiberuflichkeit der Tätigkeit des A begründen könnte, kommt aufgrund seiner juristischen Ausbildung nur derjenige des Rechtsanwaltes in Betracht. A ist aber weder Rechtsanwalt noch erfüllt er mit seinem lediglich abgeschlossenen ersten Examen die Voraussetzungen, um als Rechtsanwalt tätig werden zu können. Aber selbst wenn man den A insoweit als mit einem Rechtsanwalt vergleichbar ansehen würde, geht die unterrichtende Tätigkeit über den Kernbereich der anwaltlichen Tätigkeit, die rechtliche Beratung und Vertretung von Mandanten, hinaus. Auch eine Argumentation, die für die Abgrenzung eher die geistige Tätigkeit in den Vordergrund stellt und damit eine Freiberuflichkeit bejahen möchte, überzeugt im Ergebnis nicht: A wird im Kern bei der Ausübung seiner Tätigkeit als Repetitor nicht mehr primär geistig im engeren Sinne tätig, denn es steht die Wissensweitergabe, also eine eher reproduktive Tätigkeit, im Vordergrund, bei der nicht die Entwicklung von neuen Gedankenmodellen oder Ähnlichem charakteristisch ist, wie man es – verglichen mit einer wissenschaftlichen Tätigkeit – erwarten würde. 22

Nach alledem ist die Tätigkeit eines juristischen Repetitors somit nicht als freiberufliche Tätigkeit i.S.d. Handelsrechts einzuordnen.24 f) Ergebnis Gewerbebetrieb

23 24

Die Tätigkeit des A als Repetitor ist ein Gewerbebetrieb i.S.d. § 1 Abs. 2 HGB. Hinweis: Eine andere Auffassung, die sich zugunsten einer freiberuflichen Tätigkeit des A entscheidet, ist an dieser Stelle mit entsprechender Begründung gut vertretbar. Wichtig ist, dass eine trennscharfe Abgrenzung des Freiberuflers im Handelsrecht von dem einkommensteuerrechtlichen Freiberufler i.S.d. § 18 EStG erfolgt und der Sinn und Zweck des Handelsrechts bei der Auslegung dargelegt und beachtet wird.

21 Merkt in Baumbach/Hopt40, § 1 HGB Rz. 19; K. Schmidt in Münchener Kommentar5, Vor § 1 HGB Rz. 8. 22 Im Einzelnen Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 60; Merkt in Baumbach/Hopt40, § 1 HGB Rz. 19; K. Schmidt in Münchener Kommentar5, Vor § 1 HGB Rz. 8, § 1 Rz. 34. 23 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 60; Merkt in Baumbach/Hopt40, § 1 HGB Rz. 19. 24 Ebenso Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 62; Merkt in Baumbach/Hopt40, § 1 HGB Rz. 20; K. Schmidt in Münchener Kommentar5, § 1 HGB Rz. 33.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 27

2. Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs Fraglich ist sodann, ob der Gewerbebetrieb des A nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb i.S.d. § 1 Abs. 2 a.E. HGB erfordert. Beide Voraussetzungen – Art und Umfang – müssen dabei kumulativ vorliegen und hängen im Regelfall jedenfalls partiell zusammen, sodass eine genaue Differenzierung häufig nicht möglich ist.25 Das Merkmal der Art des Unternehmens stellt auf die qualitative Seite des Geschäftsbetriebs ab. Zu bewerten ist die Notwendigkeit, für eine übersichtliche und geordnete Geschäftsführung kaufmännische Betriebseinrichtungen vorhalten zu müssen, wobei die spezifischen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu betrachten sind.26 Das Merkmal des Umfangs des Unternehmens umfasst demgegenüber quantitative Aspekte, insbesondere den Unternehmensumsatz, aber auch die Anzahl der Mitarbeiter, die Anzahl der Außenstellen, die Kapitalstruktur sowie die Wirtschaftsgüter des Unternehmens.27

25

A ist hier als „Einzelkämpfer“ tätig, unterrichtet „seine“ Studierenden also allein, ohne dass er weitere Dozenten oder anderes Personal beschäftigt. Der gesamte Umfang seiner Tätigkeit, von den Werbemaßnahmen auf der eigenen Homepage über die Anmeldung der Studierenden bis hin zur Wissensvermittlung, werden von A selbst erbracht. Die Einnahmen, die A erwirtschaftet, beschränken sich zudem auf solche, die er von seinen Studierenden für seine Unterrichtsleistungen erhält, entspringen also alle derselben Dienstleistungsart. Ausgaben im Zusammenhang mit dem Unternehmen sind ebenfalls nicht komplex und umfassen bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts Mietaufwendungen, Aufwendungen für die Ausstattung der Räumlichkeiten, Materialien und die privaten Repräsentationsaufwendungen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind daher qualitativ überschaubar und von keiner besonderen Variabilität geprägt, die eine kaufmännische Betriebseinrichtung notwendig machen könnte.

26

Unabhängig von der fehlenden qualitativen Ausprägung des Geschäftsbetriebs könnte der Umfang der Betätigung für einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Gewerbebetrieb sprechen. Zwar erwirtschaftet A mit seiner Tätigkeit Umsätze von 150.000 Euro und einen Gewinn von 50.000 Euro. Dennoch kann bei der quantitativen Betrachtung nicht allein der Umsatz maßgeblich sein. Das Unternehmen ist hier ohne erkennbare Anlagen – mit Ausnahme der Tische, Stühle und des Whiteboards – und mit lediglich gemieteten Räumlichkeiten sowie eigener Finanzierung und ohne weitere Beschäftigte erkennbar „schmal“ aufgestellt. Somit ist auch aus quantitativer Sicht die Notwendigkeit eines in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs zu verneinen.

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25 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 101. 26 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 103. 27 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 102.

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Rz. 28 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

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Die Tätigkeit des A hat folglich noch nicht den „überindividuellen Charakter eines Massengeschäftes“28 erreicht und erfordert damit keinen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb i.S.d. § 1 Abs. 2 HGB a.E. 3. Ergebnis

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A ist kein Kaufmann i.S.d. § 1 Abs. 1 HGB und damit gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB nicht zur Führung von Büchern für das Jahr 01 verpflichtet. Eine derivative steuerliche Buchführungspflicht gem. § 140 AO scheidet damit aus und eine originäre steuerliche Buchführungspflicht i.S.d. § 141 Abs. 1 HGB ist, da A mit seiner unterrichtenden Tätigkeit steuerrechtlich freiberuflich i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG und nicht gewerblich tätig ist, nicht einschlägig. Die Mitteilung der Finanzbehörde ist daher ein rechtswidriger Verwaltungsakt und kann von A mit dem Einspruch angefochten werden. II. Beurteilung der Buchführungspflicht für die GbR

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Eine Buchführungspflicht der GbR für das Jahr 02 könnte sich aus dem Handelsoder Steuerrecht ergeben. 1. Buchführungspflicht nach Handelsrecht

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Handelsrechtlich wäre eine Buchführungspflicht für die GbR wiederum unter den Voraussetzungen des § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB gegeben. Dies setzt voraus, dass die GbR Kaufmann i.S.d. Handelsrechts ist. Die GbR ist nicht in das Handelsregister eingetragen, sodass lediglich eine Kaufmannseigenschaft als Istkaufmann gem. § 1 HGB oder – wenn die GbR gem. § 105 Abs. 1 HGB offene Handelsgesellschaft ist – als Formkaufmann gem. § 6 Abs. 1 HGB in Betracht kommt. Sowohl für die Eigenschaft als Istkaufmann als auch für die Eigenschaft als OHG und damit Formkaufmann müsste die GbR ein Handelsgewerbe betreiben, was gem. § 1 Abs. 2 HGB jeder Gewerbebetrieb ist, es sei denn das Unternehmen erfordert nach Art und Umfang einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb nicht. a) Gewerbebetrieb

32

Ein solcher Gewerbebetrieb setzt voraus – siehe im Einzelnen oben Rz. 4, 14 ff., dass eine Tätigkeit selbständig, planmäßig, auf eine gewisse Dauer angelegt, erkennbar nach außen in Form des Angebots von Waren oder Dienstleistungen am Markt und in der Absicht, jedenfalls laufende Einnahmen zu erwirtschaften, betrieben wird, ohne eine freiberufliche, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeit zu sein.29

28 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 62. 29 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § HGB 1 Rz. 24; umstr. ist, ob die Tätigkeit erlaubt sein muss. Da es hierauf im Fall allerdings nicht ankommt, wird dieser Streitstand nicht problematisiert.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 38

Die GbR hängt zwar wirtschaftlich von der Zusammenarbeit mit der K-GmbH und der Y-AG ab, ist rechtlich aber selbständig und gestaltet Art und Umfang ihrer Tätigkeit unabhängig von anderen Wirtschaftssubjekten aus, was sich auch in den Bestrebungen zeigt, neue Abnehmer für die Kugellager zu finden. Die GbR ist somit selbständig tätig.

33

Weiterhin wirbt die GbR um (weitere) Kunden für die Kugellager, bietet also am Markt erkennbar Waren an. Die Tätigkeit erfolgt auch nicht nur einmalig, sondern ist für eine längere Dauer geplant und soll letztlich den Einzelunterhalt der Gesellschafterinnen finanzieren, ist somit auf Einnahmeerzielung – sogar Gewinnerzielung – ausgelegt.

34

Es handelt sich bei dem Verkauf von Kugellagern auch offenkundig nicht um eine wissenschaftliche, künstlerische oder freiberufliche Tätigkeit, sodass ein Gewerbebetrieb i.S.d. § 1 Abs. 2 HGB zu bejahen ist.

35

b) Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs Fraglich ist wiederum, ob die Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs besteht, was nach den oben genannten Kriterien zu werten ist. Dabei müssen die Voraussetzungen der Notwendigkeit nach Art und Umfang des Unternehmens kumulativ gegeben sein.

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Die GbR wird in ihrer Funktion als zwischen Hersteller und Abnehmer geschaltete Gesellschaft zum Verkauf der Kugellager lediglich in einem begrenzten Aufgabengebiet und mit gleichbleibenden Warenverkäufen einmal im Monat an einen gleichbleibenden Abnehmer, die Y-AG, tätig. Gleichzeitig bezieht sie ihre Waren auch von nur einem Zulieferer. Das Verkaufsvolumen bleibt monatlich zudem identisch. Weiterhin dient die Lageristin erkennbar lediglich der Abwicklung der Warenlieferungen von der K-GmbH und der Weiterlieferung an die Y-AG. Ihre Einstellung ist nicht einer besonderen Komplexität der Geschäftsbeziehungen oder der Geschäftsführung geschuldet. Die Abrechnung gegenüber der Y-AG, die ihren Sitz zudem im Inland hat, sodass keine grenzüberschreitenden Lieferungen vorliegen, ist außerdem monatlich wiederkehrend, und es sind keine Besonderheiten bei der Rechnungsstellung aus dem Sachverhalt erkennbar. Dies spricht insgesamt dafür, dass die Tätigkeit qualitativ nicht als umfangreich einzuordnen ist. Hiergegen spricht auch nicht, dass die GbR einen Sekretär eingestellt hat.30 Dieser mag letztlich Indiz für das Bedürfnis eines kaufmännisch eingerichteten Geschäftsbetriebs sein, kann aber auch lediglich der persönlichen Entlastung der Gesellschafterinnen dienen, sodass es weiterer Anhaltspunkte bedarf, um das Bedürfnis nach einem der Art nach in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb annehmen zu können, die hier nicht ersichtlich sind.

37

Fraglich ist, ob hieran der hohe Umsatz von 24.000.000 Euro etwas ändert. Zwar wird angenommen, dass ein Umsatz von mehr als 500.000 Euro unwiderlegbar für

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30 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 104.

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Rz. 38 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

die Notwendigkeit eines in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs spricht.31 Jedoch ist dabei zu beachten, dass dies nur das Merkmal des „Umfangs“ betrifft und grundsätzlich nicht auf das Merkmal der „Art“ durchschlägt.32 Da – wie gerade festgestellt – die Tätigkeit der GbR qualitativ gering ausgeprägt und übersichtlich ist, ist für das Jahr 02 mangels kumulativer Erfüllung des qualitativen und quantitativen Merkmals die Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs für die GbR zu verneinen. c) Ergebnis 39

Nach alledem unterhält die GbR kein Handelsgewerbe i.S.d. § 1 Abs. 2 HGB und ist mangels Kaufmannseigenschaft i.S.d. § 1 Abs. 1 HGB nicht zur Führung von Büchern gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB verpflichtet. Aus gleichem Grund liegt auch in der GbR keine OHG i.S.d. § 105 Abs. 1 HGB vor, an die eine Kaufmannseigenschaft kraft Rechtsform i.S.d. § 6 Abs. 1 HGB anknüpfen könnte.

40

Hinweis: Eine andere Auffassung, die die Notwendigkeit eines nach Art und Umfang in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetriebs bejaht, ist hier mit entsprechender Abwägung in der Argumentation ebenfalls gut vertretbar. Dann besteht auch eine derivative steuerliche Buchführungspflicht gem. § 140 AO.

2. Originäre steuerrechtliche Buchführungspflicht 41

Mangels bestehender Buchführungspflicht aus anderen Gesetzen, die über § 140 AO auch für das Steuerrecht gilt, kommt eine originäre steuerrechtliche Buchführungspflicht nur gem. § 141 Abs. 1 AO in Betracht. Die GbR ist hier gewerblich gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 EStG tätig und überschreitet sowohl die Umsatzgrenze des § 141 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO als auch die Gewinngrenze des § 141 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AO, sodass die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 AO grundsätzlich erfüllt sind. Eine Buchführungspflicht nach § 141 Abs. 1 AO setzt aber zusätzlich voraus, dass die Finanzbehörde eine besondere Mitteilung über die Buchführungspflicht gem. § 141 Abs. 2 Satz 1 AO erlässt; ohne eine entsprechende Mitteilung durch die Finanzbehörde entsteht die steuerrechtliche Buchführungspflicht noch nicht. Die Buchführungspflicht gilt sodann gem. § 141 Abs. 2 Satz 1 AO erst für das Wirtschaftsjahr, das auf diese Mitteilung folgt. Hier ist die Aufforderung zur Buchführung durch die Finanzbehörde – wenn man in ihr denn inhaltlich die Mitteilung i.S.d. § 141 Abs. 2 Satz 1 AO erblicken möchte – erst im Jahr 03 an die GbR ergangen, sodass eine originäre steuerrechtliche Buchführungspflicht erst ab dem nachfolgenden Wirtschaftsjahr vom 1.1.04 bis 31.12.04 begründet wird. Für das Jahr 02 hingegen bleibt es dabei, dass die GbR auch steuerrechtlich nicht zur Buchführung verpflichtet ist.

31 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 112; K. Schmidt in Münchener Kommentar5, § 1 HGB Rz. 74. 32 Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas5, § 1 HGB Rz. 104.

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Fall 14: Kaufleute... oder doch nicht? | Rz. 43

3. Ergebnis Die GbR ist mangels Kaufmannseigenschaft nicht gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB zur Buchführung verpflichtet. Eine derivative steuerliche Verpflichtung gem. § 140 AO Bücher zu führen, scheidet damit ebenfalls aus. Eine originäre steuerliche Buchführungspflicht i.S.d. § 141 AO besteht für die GbR für das Jahr 02 ebenfalls nicht.

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung Grundlagenwissen:

43

– Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 21.177 ff. – Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 9.7 – K. Schmidt, Handelsrecht, 6. Auflage 2014, §§ 3 I; 9 I, II Vertiefung: – Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 9.21 ff. – Fink/Woring, Buchführung für Juristen, JuS 2001, 1067

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! Schwerpunkte: – Ansatz von Wirtschaftsgütern in der handels- und steuerrechtlichen Bilanz – Bewertung von Wirtschaftsgütern in der handels- und steuerrechtlichen Bilanz – Bildung von Buchungssätzen zu Geschäftsvorfällen Bearbeitungszeit: 2 Stunden Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Die H-GmbH mit Sitz in Dortmund handelt mit Hubschraubern und ist Brancheninsidern nicht nur durch ihren Werbeslogan „Mit uns heben Sie ab – die Preise bleiben am Boden“ wohlbekannt. Ihr Wirtschaftsjahr entspricht dem Kalenderjahr. Zum 1.1.02 verfügte sie u.a. über einen Bestand von zehn Hubschraubern des Herstellers Eurocopter aus einer bestimmten Baureihe (ursprüngliche Anschaffungskosten pro Stück 800.000 Euro). Zur Finanzierung dieser Fluggeräte hatte die H-GmbH am 1.7.01 ein Darlehen bei ihrer Hausbank B über 8.000.000 Euro aufgenommen und die Hubschrauber an B sicherungsübereignet. Das Darlehen ist am 30.6.06 in einer Summe zurückzuzahlen und wird mit 2 % pro Jahr verzinst. Die Zinsen sind jeweils halbjährlich nachschüssig in Teilbeträgen zum 1.1. und 1.7. zu zahlen. Außerdem hat B bei der Auszahlung des Darlehens ein sog. Damnum (Abgeld) in Höhe von 80.000 Euro (1 % der Darlehenssumme) einbehalten. Ihren Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag ist die H-GmbH bisher fristgemäß durch Banküberweisung vom gleichen Tag nachgekommen. Im Laufe des Jahres 02 gelang es der H-GmbH, fünf der genannten Helikopter zum Preis von jeweils 1.500.000 Euro an unterschiedliche Abnehmer im In- und Ausland zu verkaufen. Drei Helikopter sind in 02 an die Abnehmer überführt und von diesen per Banküberweisung bezahlt worden. Bei einem weiteren an einen anderen Abnehmer ausgelieferten Helikopter steht die Zahlung zum 31.12.02 noch komplett aus. Der fünfte verkaufte Helikopter befindet sich noch in einer Halle auf dem Betriebsgelände der H-GmbH in Dortmund. Für ihn hat der Käufer in 02 eine Anzahlung in Höhe von 100.000 Euro auf ein Bankkonto der H-GmbH geleistet. Aus einer älteren Baureihe hat die H-GmbH seit mehreren Jahren noch zwei Helikopter (Anschaffungskosten je 600.000 Euro) im Bestand. Die H-GmbH bemüht sich seit geraumer Zeit, die Fluggeräte zu verkaufen und ist vom ursprünglichen Verkaufspreis von 1.000.000 Euro je Stück in ihren Angeboten bereits deutlich nach unten abgewichen. Die Veräußerungsfähigkeit der Fluggeräte ist dadurch eingeschränkt, dass die Helikopter nur über eine mittlerweile technisch veraltete Blindflugeinrich239

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Rz. 1 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

tung verfügen. Ein potenzieller Käufer aus dem Nahen Osten hat der H-GmbH in 01 angeboten, beide Helikopter zum Preis von insgesamt 1.000.000 Euro (500.000 Euro je Stück) zu übernehmen. Zu dem Geschäft kam es aber letztlich wegen fehlender Ausfuhrgenehmigungen nicht. Weitere Angebote liegen der H-GmbH nicht vor. Sämtliche – auch die neu angeschafften – Helikopter müssen in jährlichen Intervallen vom TÜV auf ihre Flugsicherheit und Einsatzfähigkeit hin überprüft werden. Der Inspektions- und Wartungsaufwand macht dabei ca. 10.000 Euro je Stück aus. Die Wartungskosten sind bisher jeweils im Jahr der Wartung als Aufwand gebucht worden. Nach den betrieblichen Erfahrungen gelingt es der H-GmbH, die angeschafften Helikopter regelmäßig innerhalb von drei Jahren zu verkaufen. Die Lagerzeit beträgt nach der Kostenrechnung der H-GmbH zum 31.12.02 durchschnittliche 1,5 Jahre. Zum 31.12.02 hat die H-GmbH insgesamt 40 Helikopter im Bestand. Zwei weitere, separat im Januar 00 erworbene Helikopter unterschiedlicher Baureihen hält die H-GmbH als „Vorführ-Helikopter“ im Bestand (Anschaffungskosten 600.000 Euro bzw. 800.000 Euro). Die Maschinen sollen erst im Jahre 04 nach einer vom Hersteller angekündigten Modellpflege veräußert werden. Die Gesellschafterin und Geschäftsführerin G nutzt die Helikopter auch für Flüge zu Verhandlungen mit Geschäftspartnern. An insgesamt zehn Wochenenden hat G in 02 darüber hinaus den größeren Helikopter auch für Kurzzeittrips zu ihrer Lieblingsinsel Sylt mit Familienangehörigen und Freunden genutzt. Die gesamten Kosten für den Betrieb und Unterhalt der Helikopter sind als betrieblicher Aufwand gebucht worden. Die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer der Helikopter wird auf 20 Jahre geschätzt. Die Flugreisen nach Sylt machen 10 % aller mit dem größeren Helikopter unternommenen Flüge aus. Aufgabe: Wie sind die vorgenannten Geschäftsvorfälle handels- und steuerbilanzrechtlich bei der H-GmbH in den Jahren 01 und 02 zu behandeln? Gehen Sie auch auf ggf. vorzunehmende außerbilanzielle Korrekturen ein. Bilden Sie bitte zu den jeweiligen Geschäftsvorfällen Buchungssätze und äußern Sie sich auch zu den jeweiligen Gewinnauswirkungen. Auf die Umsatzsteuer ist nicht einzugehen. §§ 241a, 242 Abs. 4 HGB sind nicht zu prüfen. § 7 Abs. 2 EStG ist nicht anzuwenden. Bearbeitungshinweis: Die Bildung von T-Konten oder Bilanzen ist nicht erforderlich. Soweit Abzinsungen in Betracht kommen, ist lediglich auf diese Rechtsfolge hinzuweisen. Soweit Wahlrechte bestehen, sind diese so auszuüben, dass die H-GmbH einen möglichst niedrigen steuerlichen Gewinn erzielt. Die H-GmbH strebt im Übrigen eine möglichst einheitliche Handels- und Steuerbilanz an.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 3

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung Gem. § 242 Abs. 1 Satz 1 HGB hat jeder Kaufmann zu Beginn seines Handelsgewerbes und für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres einen das Verhältnis seines Vermögens und seiner Schulden darstellenden Abschluss aufzustellen. Hierbei handelt sich um die (Eröffnungs-)Bilanz. Zusätzlich hat er gem. § 242 Abs. 2 HGB für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres eine Gegenüberstellung der Aufwendungen und Erträge des Geschäftsjahres zu erstellen. Dies ist die Gewinn- und Verlustrechnung. Wie die Bilanz zu gliedern ist, schreibt § 266 HGB vor. Die Gliederung der Gewinnund Verlustrechnung ist in § 275 HGB aufgeführt.

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Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung sind zunächst statisch zum Abschluss jedes Geschäftsjahres zu bilden und geben ein zeitpunktbezogenes Bild des Unternehmens wieder, wobei die Abschlussbilanz eines Geschäftsjahres mit der Eröffnungsbilanz des darauffolgenden Geschäftsjahres übereinstimmt (§ 252 Abs. 1 Nr. 1 HGB). Im laufenden Geschäftsjahr werden die einzelnen Bilanzposten durch die im Unternehmen stattfindenden Geschäftsvorfälle verändert, was im Rahmen der laufenden Buchführung berücksichtigt wird. Sowohl in der laufenden Buchführung als auch bei der Aufstellung der Bilanz sind die „Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung“ zu beachten. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff beinhaltet die – wesentlich – in den §§ 238 ff. HGB niedergeschriebenen Grundsätze der Buchführung und Bilanzierung, erweitert diese aber um ungeschriebene Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung.1 Wichtige Bestandteile2 der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung sind das Vorsichtsprinzip, das Realisationsprinzip und das Imparitätsprinzip. Normativ verortet sind diese Prinzipien in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB. Das Vorsichtsprinzip beinhaltet die Verpflichtung, möglichst vorsichtig zu bewerten und alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekannt geworden sind. Ausprägung der vorsichtigen Bewertung sind die Rückstellungen für drohende Verluste (§ 249 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 HGB)3 oder die Abschreibung unter die fortgeführten historischen Anschaffungskosten (§ 253 Abs. 3 Satz 5 HGB)4.5 Das Realisationsprinzip hingegen besagt, dass Gewinne nur zu berücksichtigen sind, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Dies setzt grds. eine Markttransaktion voraus, nach der der Leistungsverpflichtete die von ihm geschuldete Erfüllungshandlung in einer solchen Weise erbracht hat, dass ihm die Forderung auf die Gegenleistung so gut wie sicher ist.6 Das Imparitätsprinzip

3

1 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.50. 2 Siehe insgesamt zu den materiellen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.75 ff. 3 Steuerrechtlich besteht insoweit gem. § 5 Abs. 4a EStG ein Passivierungsverbot. 4 Siehe insoweit für das Steuerrecht die Teilwertabschreibung (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2, 3 EStG). 5 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.80. 6 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.79.

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Rz. 3 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

beschreibt letztlich diese unterschiedlichen – nicht paritätischen7 – Grundsätze, die der Berücksichtigung von Gewinnen einerseits und Verlusten andererseits zugrunde liegen.8 4

Wesentlicher Bestandteil einer Bilanz sind die verschiedenen Vermögensgegenstände, die sich im Eigentum des Kaufmanns befinden und bzw. oder ihm wirtschaftlich zugerechnet werden (§ 246 Abs. 1 Satz 2 HGB). Ferner sind sämtliche Schulden in der Bilanz aufzuführen (§ 246 Abs. 1 Satz 1 HGB). Doch nicht nur der Ansatz dem Grunde nach, sondern vor allem auch der Ansatz der Höhe nach ist dabei von Bedeutung. Die Frage, die sich stellt, ist damit: Wie sind die verschiedenen Vermögensgegenstände und Schulden zu bewerten? Hierauf gibt für das Handelsrecht § 253 HGB Antwort: Vermögensgegenstände sind höchstens mit den Anschaffungs- oder Herstellungskosten, vermindert um Abschreibungen anzusetzen. Was Anschaffungsund Herstellungskosten sind, ist in § 255 HGB, dort insbesondere in den Absätzen 1 und 2 näher definiert. Abschreibungen werden in planmäßige und außerplanmäßige unterteilt. Ob ein Vermögensgegenstand planmäßig abgeschrieben wird, richtet sich danach, ob er zum Anlagevermögen gehört und nur über einen begrenzten Zeitraum genutzt werden kann (§ 253 Abs. 3 Satz 1 HGB). In diesem Fall sind die Anschaffungs- oder Herstellungskosten über die Zeit der Nutzung zu verteilen und pro rata temporis erfolgswirksam in Abzug zu bringen. Handelt es sich um nicht abnutzbare Vermögensgegenstände (z.B. Grund und Boden) oder Umlaufvermögen (z.B. Waren), findet eine planmäßige Abschreibung nicht statt. Außerplanmäßige Abschreibungen kommen aber für nicht abnutzbare – und zusätzlich auch für abnutzbare – Vermögensgegenstände des Anlagevermögens gem. § 253 Abs. 3 Satz 5 HGB in Betracht, wenn eine dauernde Wertminderung unter die Anschaffungskosten bzw. Herstellungskosten, die gem. § 253 Abs. 1 Satz 1 HGB immer die Obergrenze bei der Bewertung darstellen, vorliegt (gemildertes Niederstwertprinzip).9 Für Vermögensgegenstände des Umlaufvermögens gilt das strenge Niederstwertprinzip gem. § 253 Abs. 4 HGB, d.h. ein niedrigerer Börsen- oder Marktpreis ist auch dann für die Bewertung maßgeblich, wenn der geringere Preis voraussichtlich nicht von Dauer ist. Verbindlichkeiten sind gem. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB mit ihrem Erfüllungsbetrag zu bewerten, Rückstellungen mit dem nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrag ggf. unter Berücksichtigung der Abzinsung nach § 253 Abs. 2 HGB.

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Steuerrechtlich gelten die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung bei der Ermittlung des Betriebsvermögens, das nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG für die Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich herangezogen wird, gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG entsprechend. Einige Ausnahmen dieses Grundsatzes sind zu beachten. Erstens ist gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EStG steuerrechtlich ein anderer Ansatz eines Bilanzpostens möglich, wenn und soweit dieser im Rah7 Merkt in Baumbach/Hopt40, § 252 HGB Rz. 11. 8 Siehe auch Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.80 i.V.m. Rz. 9.79. 9 Ausnahmen gelten für Finanzanlagen (§ 253 Abs. 3 Satz 6 HGB); diese können (Wahlrecht!) auch außerplanmäßig abgeschrieben werden, wenn die Wertminderung voraussichtlich nicht von Dauer ist.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 7

men der Ausübung eines steuerlichen Wahlrechts gewählt wird oder wurde. Zweitens gibt § 5 Abs. 6 EStG vor, dass die Vorschriften über die Entnahmen und Einlagen, über die Zulässigkeit der Bilanzänderung, über die Betriebsausgaben, über die Bewertung und über die Absetzung für Abnutzung oder Substanzverringerung zu befolgen sind. Darüber hinaus beinhalten § 5 Abs. 1a bis 5, Abs. 7 EStG u.a. Passivierungsverbote für bestimmte Rückstellungen. Es ist daher bei der Beurteilung nach Handelsund Steuerrecht stets „parallel“ in beiden Rechtsgebieten zu denken. Für die Bewertung ist im Steuerrecht auf § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG für abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens zurückzugreifen. Unter Berücksichtigung der Abschreibung nach § 7 EStG sind die Wirtschaftsgüter mit den fortgeführten Anschaffungskosten ggf. noch vermindert um eine voraussichtlich dauernde Wertminderung (Teilwertabschreibung, § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2, 3 EStG), vergleichbar zum Handelsrecht, anzusetzen. § 6 Abs. 1 Nr. 2 EStG ist für Wirtschaftsgüter des Umlaufvermögens und nicht abnutzbare Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens einschlägig und sieht eine Teilwertabschreibung – abweichend vom Handelsrecht: dort gilt das strenge Niederstwertprinzip – nur unter der Voraussetzung vor, dass es sich um eine voraussichtlich dauernde Wertminderung handelt. Verbindlichkeiten sind mit den „Anschaffungskosten“10 gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Nr. 2 EStG zu bewerten und bei Unverzinslichkeit abzuzinsen, während für Rückstellungen die Fallgruppen in § 6 Abs. 1 Nr. 3a EStG einschlägig sind. II. Anforderungsprofil Die Klausur führt querbeet durch die Ansatz- und Bewertungsvorschriften des Handels- und Steuerbilanzrechts, bleibt dabei aber auf einem moderaten Schwierigkeitslevel und fordert lediglich einen sicheren Umgang mit den Grundsätzen des (Steuer-) Bilanzrechts. Einen „eindeutigen“ Klausurschwerpunkt besitzt der Fall nicht. Es ist von Vorteil, sich vor der Lösung der Klausur mit den Grundsätzen und der Technik der Bilanzierung und der doppelten Buchführung auseinanderzusetzen.11 Dies ist nicht nur notwendig, um die geforderten Buchungssätze zu den einzelnen Geschäftsvorfällen bilden zu können, sondern hilft auch im Übrigen beim Verständnis, welche Auswirkungen bestimmte Geschäftsvorfälle auf die Bilanz und ggf. den Gewinn bzw. Verlust eines Unternehmens haben.

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Im Übrigen sollte die Bilanzierung von Wirtschaftsgütern dem Grunde und der Höhe nach sicher beherrscht werden. Hervorheben können sich überdurchschnittliche Bearbeitungen zum einen zu Beginn, indem die Anschaffung der Helikopter, die Bewertung zu den einzelnen Abschlussstichtagen sowie das Damnum zutreffend erkannt und behandelt werden. Zum anderen bieten die im Sachverhalt angesprochenen TÜV-Untersuchungen besseren Bearbeitungen die Möglichkeit, sich durch die verschiedenen, nicht unbedingt aus dem Studium bekannten Varianten des § 249 HGB „durchzuprüfen“. Hier sollte insbesondere der Hinweis im Sachverhalt, dass die

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10 Siehe dazu auch unten Rz. 23, 36 und die dortigen Nachweise. 11 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.21 ff.

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Rz. 7 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

Helikopter bei der H-GmbH durchschnittlich 1,5 Jahre „auf Lager“ stehen, auf die Diskussionswürdigkeit einer Rückstellung hindeuten. 8

Ein Hinweis auf die Ausübung von eventuell bestehenden Ansatz- und Bewertungswahlrechten findet sich im Bearbeitungsvermerk: „Soweit Wahlrechte bestehen, sind diese so auszuüben, dass die H-GmbH einen möglichst niedrigen steuerlichen Gewinn erzielt. Die H-GmbH strebt im Übrigen eine möglichst einheitliche Handelsund Steuerbilanz an.“ Dies bedeutet, dass insbesondere bei der Bewertung von Wirtschaftsgütern zu prüfen ist, ob steuerrechtlich eine Sondervorschrift einschlägig ist, die zu einer höheren Abschreibung und damit einem geringeren steuerlichen Gewinn der H-GmbH führt; dieses Bewertungswahlrecht ist dann steuerrechtlich und, soweit möglich, auch handelsrechtlich zu berücksichtigen. Letzteres geht auf den zweiten Satz im Bearbeitungsvermerk zurück, der anordnet, dass ggf. bestehende handelsrechtliche Wahlrechte möglichst in Übereinstimmung mit steuerrechtlich obligatorischen oder fakultativen Regelungen ausgeübt werden sollen.

C. Gliederung 9

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Buchführungs- und Steuerpflicht der H-GmbH 11 II. Beurteilung der einzelnen Geschäftsvorfälle 1. Anschaffung der Helikopter/Darlehen/Damnum/Zinsen 13 a) Helikopter (Warenbestand) aa) Ansatz dem Grund nach 14 bb) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.01 17 cc) Ansatz dem Grunde und der Höhe nach zum 31.12.02 19 b) Darlehen aa) Ansatz dem Grunde nach 21 bb) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.01 22 cc) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.02 24 c) Zinsen aa) Zinsen zum 31.12.01 25 bb) Zinsen zum 31.12.02 27 d) Damnum aa) Beurteilung dem Grunde nach 28 bb) Rechnungsabgrenzungsposten zum 31.12.01 31 cc) Rechnungsabgrenzungsposten zum 31.12.02 32 244

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 11

2. Helikopter-Verkäufe im Jahr 02 a) Beachtung des Realisationsprinzips 33 b) Die drei im Jahr 02 ausgelieferten Helikopter 34 c) Noch nicht bezahlter, aber ausgelieferter Helikopter 35 d) Angezahlter, aber noch nicht ausgelieferter Helikopter aa) Ansatz der erhaltenen Anzahlung dem Grunde und der Höhe nach 37 bb) Gewinnauswirkung 39 3. Ältere Helikopter a) Bewertung zum 31.12.01 40 b) Bewertung zum 31.12.02 43 4. Vorführ-Helikopter a) Ansatz dem Grunde nach 44 b) Ansatz der Höhe nach 45 c) Behandlung der privaten Flüge 46 5. Jährliche TÜV-Untersuchungen 50

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, wie die Geschäftsvorfälle handels- und steuerbilanzrechtlich bei der HGmbH zu behandeln sind.

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I. Buchführungs- und Steuerpflicht der H-GmbH Die GmbH ist gem. § 13 Abs. 3 GmbHG Handelsgesellschaft i.S.d. Handelsgesetzbuchs und als solche gem. § 6 Abs. 1 HGB Formkaufmann. Sie ist damit gem. § 238 Abs. 1 Satz 1 HGB zur Buchführung nach Maßgabe der §§ 238 ff. HGB verpflichtet. Die Verpflichtung zur Buchführung umfasst gem. § 242 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 HGB die Aufstellung einer Bilanz sowie einer Gewinn- und Verlustrechnung für den Schluss eines jeden Geschäftsjahres. Die handelsrechtlichen Verpflichtungen gelten gem. § 140 AO auch für das Steuerrecht. Über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG gelten die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung auch für das Ertragsteuerrecht, es sei denn, dass aufgrund einer steuerlichen Wahlvorschrift ein anderer Ansatz gewählt worden ist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 EStG).12

12 Zum Maßgeblichkeitsgrundsatz ausführlich Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.40 ff.

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Rz. 12 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

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Die H-GmbH, die als gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG unbeschränkt steuerpflichtiges Körperschaftsteuersubjekt gem. § 8 Abs. 2 KStG ausschließlich Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt, ermittelt ihren Gewinn i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich i.S.v. §§ 4 Abs. 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG. II. Beurteilung der einzelnen Geschäftsvorfälle 1. Anschaffung der Helikopter/Darlehen/Damnum/Zinsen

13

Buchungssatz:13 Buchungssatz bei Anschaffung am 1.7.2001: Wareneinkauf Zinsaufwand (Damnum) Gewinnauswirkung:

8.000.000 an 80.000 an

Darlehensverbindlichkeit 8.000.000 Bank/Verbindlichkeit 80.000

./. 8.080.000 Euro

a) Helikopter (Warenbestand) aa) Ansatz dem Grund nach 14

Fraglich ist zunächst, ob die zehn Helikopter, die unzweifelhaft Vermögensgegenstände darstellen, gem. § 246 Abs. 1 Satz 1 HGB in die Bilanz der H-GmbH aufzunehmen sind. Dem könnte entgegenstehen, dass die H-GmbH die Helikopter an ihre Hausbank B sicherungsübereignet hat, diese also Eigentümerin geworden ist. Maßgebend für die persönliche Zurechnung der Wirtschaftsgüter ist gem. § 246 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 HGB aber das wirtschaftliche Eigentum. Wirtschaftlicher Eigentümer ist, wer nach dem Gesamtbild der Verhältnisse die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in der Weise ausübt, dass er den evtl. abweichenden zivilrechtlichen Eigentümer bzw. Inhaber im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwir13 Es ist auch möglich, das Damnum an dieser Stelle direkt in einem aktiven Rechnungsabgrenzungsposten zu verbuchen. Der Rechnungsabgrenzungsposten verkörpert allerdings einen Storno- bzw. Verrechnungsposten, der (lediglich) der periodengerechten Gewinnabgrenzung dient, Richter in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 250 HGB Rz. 6. In dieser Funktion ist eine Buchung zum Jahresabschluss – auch wenn dies in der Praxis durchaus anders gemacht wird – sinnvoller, da zu diesem Zeitpunkt die periodengerechte Gewinnabgrenzung erfolgt und sämtliche Aspekte des abgelaufenen Wirtschaftsjahres verwertet werden können. Wer den Sachverhalt so interpretiert, dass das Darlehen zunächst an die H-GmbH ausgezahlt bzw. überwiesen wird und erst sodann der Darlehensbetrag von der H-GmbH an Eurocopter im Rahmen der Begleichung des Kaufpreises gezahlt wird, führt entsprechend zwei Buchungen durch: Zunächst ist bei Darlehensauszahlung wie folgt zu buchen: Bank 7.920.000 und Zinsaufwand (Damnum) 80.000 an Darlehensverbindlichkeit 8.000.000. In einem zweiten Schritt wird der Einkaufsvorgang wie folgt verbucht: Wareneinkauf 8.000.000 an Bank 7.920.000 und Bank/Verbindlichkeit 80.000.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 17

kung auf das Wirtschaftsgut wirtschaftlich ausschließen kann.14 Dies ist bei einer Sicherungsübereignung durch den zugrundeliegenden Sicherungsvertrag dadurch geben, dass eine Verwertung der Sicherungsgüter durch den Sicherungsnehmer erst dann möglich ist, wenn der Sicherungsgeber seinen (Zahlungs-)Verpflichtungen nicht nachkommt. Zudem ist der Sicherungsnehmer im Innenverhältnis einem Pfandnehmer ähnlich, da im Verwertungsfall die Verwertung für Rechnung des Sicherungsgebers erfolgt.15 Somit ist als wirtschaftlicher Eigentümer der Sicherungsgeber, hier also die H-GmbH anzusehen, sodass die Helikopter gem. § 246 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 HGB in ihrer Bilanz zu erfassen sind.16 Steuerrechtlich gelangt man über § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG ebenfalls zur Anwendung des § 246 Abs. 1 HGB.17 Da der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Handelsrecht letztlich aus dem Steuerrecht und § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO stammt, ergibt sich denklogisch keine abweichende Beurteilung im Steuerrecht. § 39 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 AO regelt zudem beispielhaft18 den hiesigen Fall, dass ein Wirtschaftsgut im Falle der Sicherungsübereignung dem Sicherungsgeber zuzurechnen ist.

15

Die Helikopter sind bei der H-GmbH hinzuerworbene, bewegliche Gegenstände, die ohne nennenswerte Be- oder Verarbeitung im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsablaufs veräußert werden sollen,19 und damit Umlaufvermögen in Form von Waren i.S.d. § 266 Abs. 2 B. I. 3. HGB. Diese Abgrenzung von Anlage- und Umlaufvermögen ist auch für das Steuerrecht maßgeblich.20

16

bb) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.01 Das Umlaufvermögen ist grundsätzlich gem. § 253 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG mit den Anschaffungskosten i.S.d. § 255 Abs. 1 HGB zu bilanzieren. Eine Abschreibung auf einen niedrigeren Teilwert oder einen niedrigeren Marktpreis i.S.d. § 253 Abs. 4 Satz 1 HGB, § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG ist vorliegend mangels entsprechender Wertminderungen nicht möglich.

14 Diese Definition entstammt dem Steuerrecht und findet sich in § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 AO; das Handelsrecht hat diese steuerrechtliche Definition übernommen (siehe zur historischen Entwicklung Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 39 AO Rz. 75 ff.). Siehe auch BFH v. 18.11.1970 – I 133/64, BStBl. II 1971, 133, juris Rz. 20; v. 14.2.2007 – XI R 18/06, BStBl. II 2009, 957, juris Rz. 25; v. 22.4.2015 – X R 8/13, juris Rz. 19. 15 Kahle/Baltromejus/Kopp in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 246 HGB Rz. 79. 16 Vgl. Kahle/Baltromejus/Kopp in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 246 HGB Rz. 79; Merkt in Baumbach/Hopt40, § 246 HGB Rz. 15. 17 Das ist freilich umstritten, ändert aber nichts am Ergebnis, siehe nur Hennrichs in Tipke/ Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.145; Kahle/Baltromejus/Kopp in Hachmeister/Kahle/Mock/ Schüppen, Bilanzrecht2, § 246 HGB Rz. 33. 18 Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 39 AO Rz. 30. 19 Drüen in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 266 HGB Rz. 32. 20 BFH v. 2.2.1990 – III R 165/85, BStBl. II 1990, 706, juris Rz. 12 m.w.N.

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17

Rz. 18 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

18

Die Differenz von Anfangs- und Endbestand im Warenkonto wird beim Jahresabschluss im Ergebnis über die Gewinn- und Verlustrechnung abgeschlossen, d.h. der Warenbestand zu Beginn des Jahres wird mit dem Warenbestand am Ende des Jahres verglichen und der Unterschiedsbetrag erfolgswirksam erfasst (Warenbestandsveränderung).21 Buchungssatz zum Jahresabschluss: Waren 8.000.000 an Warenbestandsveränderung 8.000.000 an GuV 8.000.000 Warenbestandsveränderung 8.000.000 Gewinnauswirkung: + 8.000.000 Euro

cc) Ansatz dem Grunde und der Höhe nach zum 31.12.02 19

Von den zehn in 01 erworbenen Helikoptern hat die H-GmbH fünf Helikopter verkauft, wobei ein Helikopter an den Käufer noch nicht übergeben und damit auch noch nicht übereignet worden ist. Insoweit ist neben dem zivilrechtlichen Eigentum auch noch kein wirtschaftliches Eigentum bei dem Käufer begründet, sodass sechs Helikoptern weiterhin bei der H-GmbH als Eigentümer gem. § 246 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 HGB, § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG, § 39 Abs. 1 AO zu bilanzieren sind. Die Bewertung erfolgt zum 31.12.02 analog zum 31.12.01 mit den Anschaffungskosten. Es ergibt sich damit ein Warenbestand von sechs Helikoptern á 800.000 Euro, also 4.800.000 Euro.

20

Die Warenbestandsveränderung i.H.v. (8.000.000 Euro abzgl. 4.800.000 Euro =) 3.200.000 Euro – und damit der Warenaufwand im Jahr 02 – ist wiederum erfolgswirksam zu erfassen. Buchungssatz zum Jahresabschluss: Warenbestandsveränderung 3.200.000 an Waren 3.200.000 GuV 3.200.000 an Warenbestandsveränderung 3.200.000 Gewinnauswirkung: ./. 3.200.000 Euro

b) Darlehen aa) Ansatz dem Grunde nach 21

Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten sind als Schulden gem. §§ 246 Abs. 1 Satz 3; 266 Abs. 3 C. 2. HGB in die Bilanz des Schuldners, hier also der H-GmbH 21 Zur Erfassung über gemischte Konten siehe Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.27; für alternative Möglichkeiten der Buchführung bei Warenkonten siehe Bilke/Heining/Mann, Lehrbuch Buchführung und Bilanzsteuerrecht13, Teil A Kapitel 9.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 26

aufzunehmen. Steuerrechtlich gilt dies entsprechend über § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG. bb) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.01 Handelsrechtlich erfolgt die Bewertung von Verbindlichkeiten gem. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB mit ihrem Erfüllungsbetrag, folglich mit dem Nennwert. Da es sich um ein Fälligkeitsdarlehen handelt, ist die Verbindlichkeit am 31.12.01 mit 8.000.000 Euro zu bewerten.

22

Steuerrechtlich schreibt § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 EStG eine sinngemäße Anwendung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG zur Bewertung der Verbindlichkeiten vor. Die „Anschaffungskosten“ der Verbindlichkeit sind identisch mit dem Erfüllungsbetrag i.S.d. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB,22 sodass das Darlehen mit 8.000.000 Euro anzusetzen ist. Eine Abzinsung der Verbindlichkeit gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 EStG unterbleibt vorliegend wegen der Verzinsung der Verbindlichkeit gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 EStG.

23

cc) Ansatz der Höhe nach zum 31.12.02 Zum 31.12.02 erfolgt die Bewertung wie oben handels- und steuerrechtlich mit dem Nennwert, also 8.000.000 Euro.

24

c) Zinsen aa) Zinsen zum 31.12.01 Die Berücksichtigung von Aufwendungen richtet sich gem. § 252 Abs. 1 Nr. 4, 5 HGB unabhängig vom Zeitpunkt der Zahlung nach dem Imparitäts- und dem Periodizitätssprinzip.23 Dies setzt den Grundsatz der periodengerechten Gewinnabgrenzung um. Zum 31.12.01 sind daher die Zinsen als Aufwand zu berücksichtigen, die bis zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich entstanden sind, auch wenn noch keine Zahlung auf die Zinsen geleistet worden ist.

25

Das Darlehen wurde zum 1.7.01 ausgezahlt. Bis zum 31.12.01, also für sechs Monate, sind bei einem Zinssatz von 2 % 80.000 Euro Schuldzinsen angefallen, die bereits gewinnmindernd zu berücksichtigen sind. Die Zinszahlung erfolgt erst zum 1.1.02, sodass zum 31.12.01 eine Verbindlichkeit i.H.v. 80.000 Euro in die Bilanz einzubuchen ist.

26

22 Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 146. 23 Einzelheiten bei Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.80, Rz. 9.82 und Rz. 9.91; Kahle/Braun/Eichholz in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 252 HGB Rz. 180 ff.

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Rz. 26 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht Buchungssatz zum Jahresabschluss: Zinsaufwand 80.000 an Gewinnauswirkung: ./. 80.000 Euro

Zinsverbindlichkeit

80.000

Buchungssatz bei Zahlung der Zinsen im Jahr 02: Zinsverbindlichkeit 80.000 Gewinnauswirkung: keine

an

Bank

80.000

bb) Zinsen zum 31.12.02 27

Im Jahr 02 sind nach dem Sachverhalt 160.000 Euro Zinsen für das Darlehen angefallen. Diese wurden zur Hälfte, also i.H.v. 80.000 Euro am 1.7.02 beglichen und sind mit Zahlung als Aufwand zu verbuchen. Die zweite Hälfte wird erst am 1.1.03 fällig und ist am 31.12.02 noch nicht bezahlt. Wie auch im Jahr 01 sind die Zinsen zum 31.12.02 unabhängig von der Zahlung als Aufwand zu berücksichtigen sind. Ein Betrag i.H.v. 80.000 Euro ist daher am 31.12.02 gewinnmindernd als Verbindlichkeit zu berücksichtigen. Buchungssatz bei Zahlung zum 1.7.02: Zinsaufwand 80.000 an Gewinnauswirkung: ./. 80.000 Euro

Bank

80.000

Zinsverbindlichkeit

80.000

Buchungssatz zum Jahresabschluss: Zinsaufwand 80.000 an Gewinnauswirkung: ./. 80.000 Euro

d) Damnum aa) Beurteilung dem Grunde nach 28

Das Damnum (Abgeld) führt dazu, dass dem Darlehensnehmer das Darlehen nicht zum Nennwert bzw. zum Rückzahlungsbetrag ausgezahlt wird, sondern – im Regelfall, um einen günstigeren laufenden Zinssatz zu erhalten – der Darlehensgeber einen Teil des Darlehens einbehält. Wirtschaftlich betrachtet ist der Einbehalt daher mit

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 31

einer Zinsvorauszahlung für die vereinbarte Gesamtlaufzeit des Darlehens vergleichbar.24 Es handelt sich damit um Ausgaben bei Auszahlung des Darlehens, die Aufwendungen für einen bilanzierungsstichtagübergreifenden Zeitraum darstellen. Vorliegend hatte die B ein Damnum i.H.v. 80.000 Euro einbehalten. § 250 Abs. 3 Satz 1 HGB gibt dem Kaufmann handelsrechtlich das Wahlrecht,25 in einem Fall, in dem das der Rückzahlungsbetrag einer Verbindlichkeit höher ist als der Auszahlungsbetrag, einen Rechnungsabgrenzungsposten (§ 266 Abs. 2 C. HGB) zu aktivieren. Die planmäßige Auflösung bzw. Abschreibung des Unterschiedsbetrages gem. § 250 Abs. 3 Satz 2 HGB über die Laufzeit der Verbindlichkeit bewirkt eine periodengerechte Gewinnabgrenzung durch Nutzung des Rechnungsabgrenzungspostens.26

29

Steuerrechtlich ist ein Rechnungsabgrenzungsposten auf der Aktivseite27 gem. § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG für Ausgaben vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen, anzusetzen. Somit ist steuerrechtlich zwingend ein Rechnungsabgrenzungsposten in Bezug auf das Damnum i.H.v. 80.000 Euro zu bilden und periodengerecht aufzulösen. Das handelsrechtliche Wahlrecht ist wegen des Wunsches der H-GmbH, eine möglichst identische Handelsund Steuerbilanz erstellen zu wollen, ebenso zugunsten der Aktivierung des Rechnungsabgrenzungspostens auszuüben.

30

bb) Rechnungsabgrenzungsposten zum 31.12.01 Der Rechnungsabgrenzungsposten ist zum 31.12.01 erfolgswirksam in der Höhe zu aktivieren, in der das Damnum nach den Grundsätzen periodengerechter Gewinnabgrenzung auf die Folgejahre entfällt. Das Darlehen ist bei einer fünfjährigen Laufzeit zum 30.6.06 zurückzuzahlen, sodass von den 80.000 Euro zum 31.12.01 9/10 auf die Zeit vom 1.1.02 bis zum 30.6.06 entfällt. Es erfolgt damit eine erfolgswirksame Aktivierung mit einem Wert von 72.000 Euro. Buchungssatz bei Anschaffung: ARAP (Damnum)

72.000

an

Zinsaufwand (Damnum)

72.000

Gewinnauswirkung: + 72.000 Euro

24 Richter in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 250 HGB Rz. 22 zum synonymen Begriff Disagio. 25 Dies ist nicht unumstritten, siehe nur Hennrichs in BeckOK33, § 250 HGB Rz. 41 ff., der entgegen der h.M. für eine differenzierte Betrachtung plädiert. Aufgrund des Wunsches der H-GmbH, dass Steuerbilanz und Handelsbilanz möglichst identisch sind, ist der Streit hier ohne Bedeutung. 26 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.200. 27 Aktiver Rechnungsabgrenzungsposten = ARAP.

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31

Rz. 31 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht Hinweis: In der Summe ist nun der Teil des Damnums, der auf den Zeitraum vom 1.7.01 bis zum 31.12.01 (= 1/10 von 80.000 Euro = 8.000 Euro) entfällt, zutreffend berücksichtigt. Bei Anschaffung der Helikopter wurde das Damnum insgesamt erfolgswirksam erfasst und hat der Gewinn um 80.000 Euro gemindert (siehe oben Rz. 13). Jetzt erfolgt eine „Gegenkorrektur“ durch gewinnerhöhende Aktivierung des aktiven Rechnungsabgrenzungspostens i.H.v. 72.000 Euro. In der Summe (./. 80.000 Euro + 72.000 Euro) verbleiben als Aufwand die zum Jahr 01 gehörenden 8.000 Euro.

cc) Rechnungsabgrenzungsposten zum 31.12.02 32

Zum 31.12.02 hat das Darlehen noch eine Restlaufzeit von dreieinhalb Jahren, sodass 7/10 des einbehaltenen Damnums weiterhin als aktiver Rechnungsabgrenzungsposten zu aktivieren sind. Dies ist bei 80.000 Euro ein Betrag von 56.000 Euro. Die Differenz zum Bestand zum 1.1.02 i.H.v. 16.000 Euro ist erfolgswirksam zu buchen und stellt den Teil des Damnums dar, der auf das Jahr 02 entfällt. Buchungssatz bei Anschaffung: Zinsaufwand 16.000 an (Damnum) Gewinnauswirkung: ./. 16.000 Euro

ARAP (Damnum)

16.000

2. Helikopter-Verkäufe im Jahr 02 a) Beachtung des Realisationsprinzips 33

Gem. § 252 Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. HGB gilt das Realisationsprinzip, d.h. Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Dies ist dann der Fall, wenn der Gewinn durch Umsatz verwirklicht ist.28 Gewinnrealisierung i.S.d. § 252 Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. HGB tritt somit erst dann ein, wenn der Leistungsverpflichtete die von ihm geschuldete Erfüllungshandlung in der Weise erbracht hat, dass ihm die Forderung auf die Gegenleistung abgesehen von allgemeinen Forderungsrisiken – wie z.B. dem Insolvenzrisiko – sicher ist.29 Bei einem Kaufvertrag über einen Helikopter tritt Gewinnrealisierung folglich mit Übergabe und Übereignung des Helikopters i.S.d. § 929 Satz 1 BGB als Ausprägung der Pflicht i.S.d. § 433 Abs. 1 Satz 1 BGB ein.

28 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.79. Näheres zum Umsatzakt bei Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.410 ff. 29 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.79.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 36

b) Die drei im Jahr 02 ausgelieferten Helikopter Drei Helikopter hat die H-GmbH bereits überführt, also an die Käufer übergeben, sodass insoweit der Gewinn realisiert ist. Der Gewinn beträgt bei einem Verkaufspreis von 1.500.000 Euro je Stück abzgl. der Anschaffungskosten von 800.000 Euro je Stück 700.000 Euro. In der Summe ist also ein Gewinn i.H.v. 2.100.000 Euro im Jahr 02 zu berücksichtigen.

34

Buchungssatz bei Übergabe und Zahlung (zusammengefasst): Bank 4.500.000 an Gewinnauswirkung: + 4.500.000 Euro

Warenverkauf

4.500.000

Hinweis: Die Gewinnauswirkung aus dem Verkauf ergibt sich bei der Bilanzierung mit Warenbestandsveränderungskonten nur aus der Zusammenschau mit der Feststellung des Wareneinsatzes durch Vergleich des Warenbestandskontos zum 1.1.02 mit dem Warenbestandskonto zum 31.12.02. Oben wurde für vier „fehlende“ Helikopter – es handelt sich dabei um die vier in 02 bereits an die Käufer übergebenen Helikopter – eine gewinnwirksame Korrektur von 4 x 800.000 Euro = 3.200.000 Euro durchgeführt. Dies war der Wareneinsatz für das Jahr 02. Davon entfallen auf die drei Helikopter 2.400.000 Euro Wareneinsatz. In der Gesamtschau ergibt sich dann aus der Differenz von 4.500.000 Euro zu 2.400.000 Euro der realisierte Gewinn i.H.v. 2.100.000 Euro.

c) Noch nicht bezahlter, aber ausgelieferter Helikopter Unabhängig davon, ob der ausgelieferte Helikopter bereits bezahlt worden ist, ist der Gewinn auch hier mit Erfüllung des Kaufvertrages durch Übergabe und Übereignung des Helikopters realisiert. Es ergibt sich ein Gewinn bei einem Verkaufspreis von 1.500.000 Euro und Anschaffungskosten von 800.000 Euro im Jahr 02 i.H.v. 700.000 Euro.

35

Weiterhin ist gem. §§ 246 Abs. 1 Satz 1; 266 Abs. 2 B. II. 1. HGB, § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG eine Forderung aus Lieferungen und Leistungen zu bilanzieren, deren Bewertung gem. § 253 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG mit den Anschaffungskosten30, also dem Nennwert von 1.500.000 Euro erfolgt.

36

30 Forderungen aus Leistungen werden zwar nicht „angeschafft“, sondern entstehen schlicht aus der Leistungserbringung und sind mit ihrem Nennwert zu bewerten. Allerdings sprechen sowohl § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG als auch § 253 Abs. 1 Satz 1 HGB lediglich von „Anschaffungskosten“, sodass dieser Begriff hier als tatbestandliche Anknüpfung verwendet wird (siehe auch Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 136 „Nennwert als Anschaffungskosten“).

253

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Rz. 36 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht Buchungssatz bei Übergabe: Forderung 1.500.000 an Gewinnauswirkung: + 1.500.000 Euro

Warenverkauf

1.500.000

Hinweis: Die Gewinnauswirkung aus dem Verkauf ergibt sich bei der Bilanzierung mit Warenbestandsveränderungskonten wie zuvor nur aus der Zusammenschau mit der Feststellung des Wareneinsatzes. Insoweit ist die noch verbleibende Gewinnminderung von 800.000 Euro aus der Warenbestandsveränderung (siehe oben Rz. 20 sowie Rz. 34 und den Hinweiskasten; dort wurden von den 3.200.000 Euro bereits 2.400.000 Euro „berücksichtigt“) den 1.500.000 Euro gegenüberzustellen, um rechnerisch zu dem realisierten Gewinn i.H.v. 700.000 Euro zu gelangen.

d) Angezahlter, aber noch nicht ausgelieferter Helikopter aa) Ansatz der erhaltenen Anzahlung dem Grunde und der Höhe nach 37

Erhaltene Anzahlungen für noch nicht geleistete Lieferungen sind als Verbindlichkeiten in der Bilanz gem. §§ 246 Abs. 1 Satz 1; 266 Abs. 3 C. 3. HGB, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auszuweisen.

38

Die Bewertung erfolgt gem. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB mit dem Erfüllungsbetrag, also dem Nennwert i.H.v. 100.000 Euro. Steuerrechtlich gilt dies im Ergebnis identisch wegen § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1, Nr. 2 Satz 1 EStG. Es handelt sich um eine Anzahlung, sodass keine Abzinsung der Verbindlichkeit gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 a.E. EStG vorzunehmen ist. bb) Gewinnauswirkung

39

Trotz erhaltener Anzahlung wurde noch kein Gewinn gem. dem Realisationsprinzip i.S.d. § 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 HGB realisiert. Dies würde voraussetzen, dass der Helikopter schon übergeben und übereignet worden ist, was lt. Sachverhalt aber nicht geschehen ist. Buchungssatz bei Erhalt der Anzahlung: Bank 100.000 Gewinnauswirkung: keine

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an

Erhaltene Anzahlung

100.000

Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 43

3. Ältere Helikopter a) Bewertung zum 31.12.01 Die Helikopter stellen Umlaufvermögen dar (siehe oben Rz. 16), und ihre Bewertung richtet sich handelsrechtlich nach § 253 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 HGB. Die ursprünglichen Anschaffungskosten i.H.v. 600.000 Euro je Helikopter sind nur anzusetzen, wenn nicht ein niedrigerer Marktpreis existiert. Hier ist die Marktsituation angespannt, und die H-GmbH hat Schwierigkeiten, Käufer für die älteren Modelle zu finden, die technisch bereits überholt sind. Das Angebot der Firma aus dem Nahen Osten spiegelt daher einen angemessenen Marktpreis wider. Handelsrechtlich ist dem strengen Niederstwertprinzip folgend zwingend auf den niedrigeren Marktpreis als beizulegenden Zeitwert von 500.000 Euro je Stück abzuschreiben.31

40

Steuerrechtlich kann gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2, Nr. 1 Satz 3 EStG eine Teilwertabschreibung vorgenommen werden.32 Der Teilwert ist gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG der Betrag, den ein Erwerber des ganzen Betriebs im Rahmen des Gesamtkaufpreises für das einzelne Wirtschaftsgut ansetzen würde; dabei ist davon auszugehen, dass der Erwerber den Betrieb fortführt. Ein Erwerber des Betriebs würde im Rahmen des Gesamtkaufpreises nicht mehr Geld für die Helikopter, die zur Veräußerung bestimmt sind, zahlen, als diese bei einem Verkauf einbringen, sodass der Teilwert mit 500.000 Euro anzusetzen ist. Die Wertminderung ist durch die veraltete Technik der Helikopter im Bereich des Blindflugs voraussichtlich auch von Dauer.

41

Das steuerrechtliche Wahlrecht zur Abschreibung ist nach dem Wunsch der HGmbH, den steuerlichen Gewinn möglichst gering zu halten und, soweit möglich, eine einheitliche Handels- und Steuerbilanz zu erstellen, zugunsten der Teilwertabschreibung auszuüben. Es ergibt sich je Helikopter bei Anschaffungskosten von 600.000 Euro eine Abschreibung i.H.v. 100.000 Euro, insgesamt also eine Gewinnminderung i.H.v. 200.000 Euro.

42

Buchungssatz zum Jahresabschluss Teilwertabschreibung 200.000 an Gewinnauswirkung: ./. 200.000 Euro

Waren

200.000

b) Bewertung zum 31.12.02 Zum 31.12.02 ergeben sich keine neuen Erkenntnisse bzgl. des Marktpreises, sodass handelsrechtlich und steuerrechtlich der Wert zum 31.12.01 beibehalten werden kann. Eine Auswirkung auf den Gewinn ergibt sich nicht.

31 Schindler in Kirchhof/Seer20, § 6 EStG Rz. 21. 32 Siehe im Einzelnen Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.320 ff.

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Rz. 44 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

4. Vorführ-Helikopter a) Ansatz dem Grunde nach 44

Die Vorführ-Helikopter dienen bis zum Jahr 04 dem dauerhaften Verbleib im Unternehmen und sollen bis dahin nicht im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsablaufs veräußert werden, sondern den Veräußerungsprozess erhalten und fördern. Es handelt sich somit in den Jahren 01 und 02 nicht um Umlaufvermögen, sondern um Anlagevermögen i.S.d. § 247 Abs. 2 HGB, das gem. §§ 246 Abs. 1 Satz 1; 266 Abs. 2 A. II. 3. HGB, § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG handels- und steuerrechtlich zu bilanzieren ist.33 b) Ansatz der Höhe nach

45

Die Bewertung erfolgt gem. § 253 Abs. 3 Satz 1, 2 HGB mit den Anschaffungskosten, die um planmäßige Abschreibungen über die voraussichtliche Nutzungsdauer zu vermindern sind. Steuerrechtlich entspricht dies dem § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG, wonach ebenfalls die Anschaffungskosten, vermindert um die gleichmäßigen Absetzungen für Abnutzungen nach § 7 Abs. 1 EStG, anzusetzen sind. Vorliegend kann eine Nutzungsdauer von 20 Jahren zugrunde gelegt werden, sodass sich ein Abschreibungssatz von (100 % : 20 Jahre =) 5 %/Jahr ergibt. In Bezug auf die Anschaffungskosten i.H.v. 600.000 Euro bzw. 800.000 Euro ergibt sich damit eine Abschreibung von 30.000 Euro bzw. 40.000 Euro. Die Helikopter sind zum 31.12.01 unter Berücksichtigung der auch im Jahr 00 vorgenommenen Abschreibung mit 540.000 Euro bzw. 720.000 Euro zu bilanzieren und zum 31.12.02 mit 510.000 Euro bzw. 680.000 Euro. Buchungssatz zum Jahresabschluss 01 (zusammengefasst): Abschreibung 70.000 Gewinnauswirkung: ./. 70.000 Euro

an

Vorführ-Helikopter

70.000

Buchungssatz zum Jahresabschluss 02 (zusammengefasst): Abschreibung 70.000 an Gewinnauswirkung: ./. 70.000 Euro

Vorführ-Helikopter

70.000

33 Vgl. die ähnliche Problematik zu Vorführwagen bei Kraftfahrzeughändlern in BFH v. 17.11.1981 – VIII R 86/78, BStBl. II 1982, 344, juris Leitsatz. Das Merkmal „dauernd“ ist nicht im Sinne von „für immer“ zu verstehen, sondern es kommt im Ergebnis auf die Zweckbestimmung an (hier Nutzung zur Erhaltung der Veräußerungsprozesse = Anlagevermögen), siehe Einzelheiten bei Faaß/Kursatz in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 247 HGB Rz. 56 ff.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 51

c) Behandlung der privaten Flüge Für die privaten Flüge werden die anteiligen Aufwendungen, die auf diese Flüge entfallen, grundsätzlich als Betriebsausgaben verbucht.

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Steuerrechtlich könnte insoweit eine verdeckte Gewinnausschüttung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG vorliegen, die zwar nicht innerbilanziell, aber außerbilanziell zu einer Korrektur führt. Eine verdeckte Gewinnausschüttung setzt eine Vermögensminderung voraus, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auswirkt, nicht im Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung steht und bei der Gesellschafterin zu einem Vorteil führen kann.34 Hier wird das Vermögen der H-GmbH durch die anteilige private Nutzung der Helikopter durch die G vermindert, was sich auch auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG auswirkt und nicht im Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung steht. Die kostenlose Nutzung der Helikopter führt auch zu einem Nutzungsvorteil bei der G, der augenscheinlich fremden Dritten, die – im Gegensatz zur G – nicht Gesellschafter sind, nicht gewährt wird, sodass eine Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis anzunehmen ist.

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Steuerrechtlich ist daher auf Ebene der H-GmbH eine außerbilanzielle Korrektur gem. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG in Höhe des Betrages vorzunehmen, der im Fremdvergleich für die Nutzung des Helikopters am Markt als Miete hätte erzielt werden können.35

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Innerbilanzielle Korrekturbuchungen ergeben sich insoweit nicht.

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5. Jährliche TÜV-Untersuchungen Fraglich ist, ob in Bezug auf die TÜV-Untersuchung die Bildung einer Rückstellung gem. § 249 Abs. 1 HGB in Betracht kommt. Dazu müsste einer der dort genannten Fälle einschlägig sein. Die Voraussetzungen des § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HGB liegen im vorliegenden Fall offenkundig nicht vor, und es handelt sich bei den Aufwendungen für die TÜV-Untersuchungen auch nicht um drohende Verluste aus schwebenden Geschäften i.S.d. § 249 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 HGB, sodass eine Rückstellung insoweit ausscheidet.

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Unterlassene Aufwendungen für die Instandhaltung der Helikopter i.S.d. § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HGB setzen voraus, dass bereits eine Maßnahme im abgelaufenen Geschäftsjahr erforderlich gewesen wäre, jedoch nicht durchgeführt worden ist.36 TÜVUntersuchungen sind jeweils erst im folgenden Jahr fällig, und es wurde keine TÜVUntersuchungen durch die H-GmbH „aufgeschoben“. Somit sind die Voraussetzungen des § 249 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 HGB im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

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34 Zu den Voraussetzungen der verdeckten Gewinnausschüttung siehe Fall 12 Rz. 2 ff. m.w.N. 35 Siehe zu dieser Problematik Fall 12 Rz. 72. 36 Meyering/Gröne in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 249 HGB Rz. 200.

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Rz. 52 | Kapitel 4: Bilanzsteuerrecht

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Es verbleibt somit nur noch die Möglichkeit einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gem. § 249 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 HGB. Die dafür von Teilen der Literatur als notwendig angesehene Außenverpflichtung kann in der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung gesehen werden, die Helikopter jährlich vom TÜV untersuchen lassen zu müssen.37 Gleichwohl muss die ungewisse Verbindlichkeit am Bilanzstichtag wirtschaftlich bestehen oder ihre Ursache jedenfalls begründet sein.38 Daran lässt sich bei TÜV-Untersuchungen durchaus zweifeln. Denn diese sollen den Gebrauch des Luftfahrzeugs in der Zukunft sicherstellen. Wird die TÜV-Untersuchung nicht durchgeführt, ergeben sich folglich nur für die Zukunft Konsequenzen in der Art, dass eine weitere Nutzung nicht möglich ist. Die Aufwendungen für die TÜV-Untersuchung wirken also der Natur nach bereits prospektiv, sodass eine wirtschaftliche Veranlassung in der Vergangenheit nicht vorliegt.39 Damit käme eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten nicht in Betracht.

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Man könnte allerdings die Auffassung vertreten, dass hier deswegen Besonderheiten zu berücksichtigen sind, weil sich die Helikopter im Umlaufvermögen befinden und in dieser Funktion an die Kunden veräußert, überführt und durch sie jederzeit in Betrieb genommen werden sollen. Anders als bei der Nutzung von eigenen Helikoptern im Anlagevermögen steht es nämlich faktisch nicht zur Disposition der H-GmbH, eine Nutzung der Helikopter für die Zukunft durch Auslassen der TÜV-Untersuchungen auszuschließen. Denn dadurch wäre die Veräußerung und Überführung der Helikopter nicht möglich und die geschäftliche Tätigkeit der H-GmbH eingeschränkt. Argumentierte man so, setzt die Anschaffung der Helikopter als Umlaufvermögen in der Vergangenheit die faktische Verpflichtung in Gang, diese bis zur Veräußerung in betriebsbereitem Zustand zu halten. Steuerrechtlich würde man über § 5 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 EStG zu einem identischen Ergebnis gelangen. Ein Fall des § 5 Abs. 3 bis 4a EStG ist nicht gegeben.

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Die Rückstellung ist gem. § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB mit dem „nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendigen Erfüllungsbetrag“ zu bewerten und abzuzinsen. Steuerrechtlich erfolgt die Bewertung gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. a EStG „auf der Grundlage der Erfahrungen in der Vergangenheit“. Eine Abzinsung ist mit 5,5 % gem. § 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e Satz 1 EStG vorzunehmen. Als nicht abgezinster Ausgangsbetrag kommt für die Rückstellung aufgrund der Lagerzeit zum 31.12.02 von 1,5 Jahren ein Betrag von (38 Helikopter x 10.000 Euro/Helikopter x 1,5 =) 570.000 Euro in Betracht. Nach der vorangegangenen Argumentation scheidet eine 37 Siehe dazu speziell für Flugzeuge Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.172 f.; siehe zum Meinungsstand bzgl. der Voraussetzungen für die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten Meyering/Gröne in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 249 HGB Rz. 31. 38 Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 9.176; dies ist unstreitig Voraussetzung nach der im Übrigen bei den Voraussetzungen der ungewissen Verbindlichkeit durchaus uneinigen Literatur, siehe die Zusammenfassung bei Meyering/Gröne in Hachmeister/Kahle/ Mock/Schüppen, Bilanzrecht2, § 249 HGB Rz. 31. 39 BFH v. 19.5.1987 – VIII R 327/83, BStBl. II 1987, 848, juris Leitsatz; bestätigt durch BFH v. 9.11.2016 – I R 43/15, BStBl. II 2017, 379, juris Leitsatz 1.

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Fall 15: Wir verkaufen Flügel! | Rz. 56

Rückstellung für die beiden Vorführ-Helikopter, die sich im Anlagevermögen befinden, aus. Alternative Lösung: Wer sich an dieser Stelle mit entsprechender Argumentation gegen eine ungewisse Verbindlichkeit entscheidet, gelangt zu folgendem Ergebnis:

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Die Zahlungsverpflichtungen, die im Zusammenhang mit den TÜV-Untersuchungen entstanden sind, stellen folglich im Jahr der wirtschaftlichen Verursachung Aufwand dar, der gewinnmindernd zu berücksichtigen ist. Bei einer jährlich wiederkehrenden Untersuchung, die, wie die TÜV-Untersuchung, eine Nutzungsmöglichkeit des Wirtschaftsguts über das Wirtschaftsjahr hinaus ermöglicht, erfolgt eine jährliche Berücksichtigung und eine periodengerechte Gewinnabgrenzung. Die Bildung von Rechnungsabgrenzungsposten ist wegen der gleichbleibenden Höhe der Wartungskosten grundsätzlich nicht erforderlich.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Hennrichs in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 9 (siehe Einzelnachweise im Dokument) – Fink/Woring, Buchführung für Juristen, JuS 2001, 1067 – Horschitz, Bilanzsteuerrecht und Buchführung, 16. Auflage 2021, Teil G bis M – Bilke/Heining/Mann, Lehrbuch Buchführung und Bilanzsteuerrecht, 13. Auflage 2021, Teil B, Teil D

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Kapitel 5: Internationales Steuerrecht Fall 16: Coffee makes the world go round Schwerpunkte: – Unbeschränkte und beschränkte Einkommensteuerpflicht – Wegzugsbesteuerung – Verdeckte Gewinnausschüttung – Vermeidung von Doppelbesteuerung Bearbeitungszeit: 3 Stunden Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Die in Düsseldorf ansässige Kaffeeliebe GmbH (K-GmbH) betreibt in mehreren deutschen Großstädten Cafés mit eigener Kaffeerösterei. Sie ist 100%ige Tochter der irischen Coffeelove Ltd. (C-Ltd.) mit Sitz in Dublin. Die irische Ltd. entspricht ihrer Rechtsform nach einer deutschen GmbH. Die K-GmbH nutzt in ihren Geschäften das Designkonzept der C-Ltd. und zahlte im Jahr 10 hierfür Lizenzgebühren in Höhe von insgesamt 1 Mio. Euro an diese. Die Zahlung an die C-Ltd. hat die K-GmbH in ihrer Bilanz gewinnmindernd berücksichtigt. Die irische Muttergesellschaft vergibt die Lizenzen weltweit an Tochtergesellschaften sowie von ihr unabhängige Gesellschaften, u.a. auch an eine in Irland ansässige Gesellschaft, an der weder sie noch ihre Gesellschafter beteiligt sind. Diese irische Gesellschaft zahlt für dieselbe Anzahl betriebener Cafés in Irland lediglich jährliche Lizenzgebühren von 500.000 €. Die CLtd. unterliegt in Irland einem Körperschaftsteuersatz von 12,5 %, eine zusätzliche Gewerbesteuer wird nicht erhoben. Der österreichische Schauspieler S hat im Jahr 01 5 % der Anteile an der C-Ltd. zu einem Preis von 20.000 Euro erworben, die inzwischen einen gemeinen Wert von 1 Mio. Euro haben. Er lebt seit fast 20 Jahren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (sog. wilde Ehe) mit der Deutschen D in Köln. Die D wurde als Diplomatin im Dezember 09 für die nächsten acht Jahre nach Brasilien versetzt und vertritt seitdem dort die deutschen diplomatischen Interessen. Neben ihren Einnahmen aus ihrer Tätigkeit als Diplomatin in Höhe von 70.000 Euro im Jahr 10 vermietete sie zudem noch eine Eigentumswohnung in Düsseldorf sowie zwei weitere in ihrem Eigentum stehende Wohnungen in Monaco. Dies brachte ihr Mieteinnahmen von insgesamt 15.000 Euro für die Düsseldorfer Wohnung und 250.000 Euro für die Wohnungen in Monaco ein. In Monaco wird auf die Mieteinnahmen aus den dortigen 261

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Rz. 1 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

Wohnungen eine der deutschen Einkommensteuer entsprechende Steuer mit einem Steuersatz von 5 % erhoben. Um bei seiner Freundin bleiben zu können, zog S im Dezember 09 mit ihr nach Brasilien. Seinen bisherigen Wohnsitz in Deutschland gab er hierfür auf, allerdings reiste er im Laufe des Jahres 10 mehrmals nach Deutschland: Von Anfang Februar bis Ende März drehte er in den Filmstudios Babelsberg und übernachtete währenddessen in einem örtlichen Hotel, im Sommer hielt er sich für drei Monate wegen eines Theaterengagements in München auf und wohnte auch dort in einem Hotel. Für die Dreharbeiten und das Theaterengagement erhielt er eine Gage von insgesamt 30.000 Euro. Wegen einer plötzlichen Erkrankung seiner Mutter reiste er zudem für weitere zwei Monate am Ende des Jahres 10 nach Deutschland und kam währenddessen bei Freunden in Köln unter. Neben seinen Gagen aus Deutschland erhielt er zudem noch Gagen in Höhe von 20.000 Euro aus einer Serienproduktion in Österreich. Aufgabe: Wie ist der Sachverhalt für die K-GmbH und die D im Jahr 10 sowie für S in den Jahren 09 und 10 ertragsteuerlich zu würdigen? Bearbeitungshinweis: – Deutschland hat mit Monaco und Brasilien kein DBA über die Steuern von Einkommen und Vermögen geschlossen. – § 4j EStG ist bei der Prüfung außer Acht zu lassen. – Gewerbesteuerrechtliche Prüfungen sind nicht vorzunehmen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Erster Dreh- und Angelpunkt von ertragsteuerlichen Fällen, die grenzüberschreitende Elemente aufweisen, ist immer die Bestimmung der subjektiven Steuerpflicht in Deutschland. Das Ergebnis dieser Prüfung stellt die Weichen für alle weiteren Prüfungspunkte, weil sich danach die Reichweite des deutschen Besteuerungsrechtes bestimmt. Nur bei einer unbeschränkten Steuerpflicht im Inland kann das Welteinkommen des Steuerpflichtigen der deutschen Besteuerung zugrunde gelegt und die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen einbezogen werden. Bei beschränkter Steuerpflicht dürfen in Deutschland nur inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG besteuert werden.

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Für die Einkommensteuer bestimmt sich die subjektive Steuerpflicht nach den Vorgaben des § 1 EStG, der unterschiedliche Möglichkeiten zur Begründung einer unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland vorsieht. Neben dem Grundfall der unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 S. 1 EStG, die einen Wohnsitz (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) in Deutschland voraussetzt, kennt das Einkommensteuerrecht noch die erweitert unbeschränkte Steuerpflicht nach Abs. 2 sowie die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht auf Antrag gem. Abs. 3. 262

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 6

In einer Falllösung sollten diese drei Formen immer nacheinander (gedanklich) geprüft werden. Nur wenn keine der drei Varianten eingreift, liegt eine beschränkte Steuerpflicht vor. Dabei sollte mit dem Regelfall des § 1 Abs. 1 EStG begonnen werden. Zwar ist eine Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG qualitativ gleichrangig. Dessen Tatbestand setzt aber voraus, dass weder ein Wohnsitz noch ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland besteht. Prüft man Abs. 1 vorweg, erübrigt sich eine unschöne und ggf. komplizierte Inzidentprüfung dieser Merkmale. Im Rahmen von § 1 Abs. 1 EStG sollten – jedenfalls bei grenzüberschreitenden Fällen – immer beide Alternativen (Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt) geprüft werden. Für das innerstaatliche Recht genügt zwar das Vorliegen einer der beiden gleichwertigen Alternativen. Findet ein DBA Anwendung, kann es aber einen Unterschied machen, ob „nur“ eines von beidem oder beides in Deutschland liegt: Ist ein Steuerpflichtiger abkommensrechtlich in beiden Staaten ansässig (Art. 4 Abs. 1 OECD-MA), so bestimmt die sog. TieBreaker-Regelung (Art. 4 Abs. 2 OECD-MA), welcher Staat abkommensrechtlich als Ansässigkeitsstaat gilt. Maßgeblich ist dabei i.d.R. vorrangig der Wohnsitz; gibt es mehrere Wohnsitze, wird der Mittelpunkt der Lebensinteressen, der sich meist mit dem gewöhnlichen Aufenthalt deckt, ausschlaggebend.

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Die erweitert unbeschränkte Steuerpflicht des § 1 Abs. 2 EStG greift ein bei deutschen Staatsangehörigen, die nicht nach Abs. 1 unbeschränkt steuerpflichtig sind, aber für eine inländische juristische Person des öffentliches Rechts tätig sind und hierfür aus inländischen öffentlichen Kassen entlohnt werden. § 1 Abs. 2 Satz 2 EStG fordert darüber hinaus, dass der Steuerpflichtige in seinem Wohnsitzstaat nicht einer der deutschen unbeschränkten Steuerpflicht entsprechenden Besteuerung unterliegen darf. Damit wird verhindert, dass ein Steuerpflichtiger in zwei Staaten von der Berücksichtigung seiner persönlichen Verhältnisse profitiert. Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch, dass die Einschränkung nicht so verstanden werden darf, dass es im anderen Staat tatsächlich zu einer Besteuerung kommen muss.1 Die einer beschränkten Steuerpflicht entsprechende Besteuerung im Ausland ist als Obergrenze der ausländischen Besteuerung zu verstehen. Das wird auch an der Verwendung des Begriffs „lediglich“ deutlich. Typischer Anwendungsfall sind deutsche Diplomaten oder Konsularbeamte, für die sich die Befreiung von der unbeschränkten Steuerpflicht im Ausland bei den meisten Staaten aus Art. 34 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD) ergibt.

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Es darf nicht übersehen werden, dass sich diese erweitert unbeschränkte Steuerpflicht auch auf Angehörige des Steuerpflichtigen, der die maßgebliche Tätigkeit für die inländische Person des öffentlichen Rechts ausübt, erstrecken kann. Das gilt aber nur für Angehörige i.S.d. § 15 AO, die zum selben Haushalt gehören und entweder deutsche Staatsangehörige sind oder ausschließlich in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte beziehen. Dass auch zum Haushalt des Auslandbediensteten gehörende Angehörige unter die erweitert unbeschränkte Steuerpflicht des § 1 Abs. 2 EStG fallen, erklärt sich, wenn man den Grundgedanken der Regelung betrachtet. Sie soll ausgleichen, dass für den deutschen Staat im Ausland tätige Personen mangels Wohnsitzes

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1 Tiede in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 1 EStG Rz. 174.

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Rz. 6 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

und gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland sonst die Vorteile der unbeschränkten Steuerpflicht nicht in Anspruch nehmen können. Der fehlende Wohnsitz/gewöhnliche Aufenthalt im Inland ist bei diesen Personen nicht auf eine persönliche, freie Entscheidung zurückzuführen, sondern auf staatliche Interessen, die zu einer Entsendung des Steuerpflichtigen ins Ausland führen. Der Steuerpflichtige soll dadurch keine Nachteile erleiden. Dieser Gedanke gilt in gleicher Wiese für Angehörige, die im selben Haushalt leben. Zwar ist es bei diesen gewissermaßen eine persönliche Entscheidung, dem Angehörigen zu folgen. Bei engen familiären Beziehungen, die bei Angehörigen i.S.d. § 15 AO bestehen, muss aber angenommen werden, dass diese Entscheidung tatsächlich nicht völlig frei ist, sondern ebenfalls gewissermaßen aufoktroyiert. Insofern ist es – auch vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 1 GG – folgerichtig, die erweitert unbeschränkte Steuerpflicht auch auf diese Personengruppe zu erstrecken.2 7

Ergibt sich hiernach keine unbeschränkte Steuerpflicht, so ist noch die fiktive unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG zu erwägen. Dabei ist aber zu beachten, dass sie nur auf Antrag gewährt wird. Fehlt es am Antrag, bleibt es bei der beschränkten Steuerpflicht. Einem gestellten Antrag ist stattzugeben, wenn die Einkünfte des Steuerpflichtigen zu mindestens 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen, also unter einen der Tatbestände des § 49 EStG fallen. Erfasst werden sollen damit vor allem die sog. Grenzpendler, die im Ausland leben, aber im Inland arbeiten. Bei diesen kommt es sonst ggf. dazu, dass ihre persönlichen Verhältnisse in keinem Staat steuerlich berücksichtigt werden: In Deutschland würde es mangels Wohnsitzes/gewöhnlichen Aufenthalts an der unbeschränkten Steuerpflicht fehlen; im Wohnsitzstaat wäre diese zwar gegeben, aber bei Anwendung eines DBA wären kaum Einkünfte zu versteuern,3 sodass sich die persönlichen Verhältnisse effektiv nicht auswirken. Für die Bestimmung des Anteils der der deutschen Besteuerung unterliegenden Einkünfte stellt § 1 Abs. 3 Satz 3, 4 EStG Vorgaben auf. Die unbeschränkte Steuerpflicht bezieht sich bei Vorliegen der Voraussetzungen aber nur auf die inländischen Einkünfte, d.h. das Welteinkommensprinzip findet keine Anwendung. Für EU/EWR-Staatsangehörige erweitert § 1a EStG die Wirkung, indem die Zusammenveranlagung und der Abzug der Sonderausgaben des § 10 Abs. 1a EStG ermöglicht wird.4 II. Anforderungsprofil

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Es handelt sich um einen ertragsteuerlichen Fall mit verschiedenen gängigen Fragestellungen des internationalen Steuerrechts.

2 Siehe dazu insgesamt Lehner/Waldhoff in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Stand: Juni 2021), § 1 EStG Rz. C5. 3 DBA, die dem OECD-MA entsprechen, weisen das Besteuerungsrecht für Einkünfte aus unselbständiger Arbeit grundsätzlich ausschließlich dem Tätigkeitsstaat zu (Art. 15 Abs. 1 OECD-MA). 4 Ausführlicher zur fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht z.B. Schaumburg, Internationales Steuerrecht4, Rz. 6.40 ff.

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 14

Die Aufgabenstellung fordert eine Würdigung der ertragsteuerlichen Behandlung des Sachverhalts für die K-GmbH, D und S in den jeweils konkret benannten Zeiträumen. Es ist dementsprechend keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens für alle angesprochenen Veranlagungszeiträume gefordert, sondern lediglich eine Begutachtung der geschilderten Vorkommnisse. Mithin sind nur die Prüfungspunkte anzusprechen, auf die die Angaben im Sachverhalt Auswirkungen haben.

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Wegen der bei allen zu prüfenden Personen gegebenen Auslandsbezüge ist in jeweils die subjektive Steuerpflicht anzusprechen. Soweit diese letztlich unproblematisch ist – wie bei der K-GmbH –, kann und sollten Ausführungen hierzu kurzgehalten werden, damit ausreichend Bearbeitungszeit für die problematischeren Aspekte verbleibt. Der Wegzug von D und S aus Deutschland gibt einen klaren Hinweis darauf, dass es bei diesen einer ausführlicheren Prüfung der subjektiven Steuerpflicht bedarf. Bearb. dürfen hier nicht vorschnell von einer beschränkten Steuerpflicht ausgehen, sondern müssen beweisen, dass sie die verschiedenen Spielarten der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht kennen und diese sauber prüfen können.

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Bei der K-GmbH sollten allen Bearb. die überhöhten Lizenzgebühren auffallen. Der Sachverhalt weist auf diese Situation eindeutig hin. Von allen Bearb. kann eine problemorientierte Thematisierung der Situation erwartet werden, bei der entweder auf § 1 Abs. 1 AStG oder auf § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG abgestellt wird. Die Fragstellungen rund um das Verhältnis dieser beiden Regelungen zueinander kann hingegen nur von überdurchschnittlichen Bearbeitungen erwartet werden. Ein Problembewusstsein hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses wäre hier bereits positiv zu bewerten.

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Bei der D stellen sich bzgl. der Einkünfteermittlung selbst keine Probleme, sodass diese insgesamt kurzgehalten werden sollte. Bearb. müssen aber erkennen, dass es bzgl. der monegassischen Vermietungseinkünfte zu einer doppelten Besteuerung kommt. Aufgrund des ausdrücklichen Hinweises im Sachverhalt auf die Besteuerung durch Monaco kann eine Thematisierung von jedem Bearb. erwartet werden. § 34c EStG ist die zentrale Norm zur Verhinderung von Doppelbesteuerungen im deutschen Steuerrecht, sodass auch dessen Prüfung für eine ausreichende Bearbeitung vorauszusetzen ist. Auch die Prüfung selbst sollte in diesem Fall keine größeren Probleme bereiten.

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Für S muss der Sachverhalt für zwei Veranlagungszeiträume ausgewertet werden. Hinsichtlich der objektiven Steuerpflicht im Jahr 09 ist eine aufmerksame Sachverhaltslektüre gefragt. Die Kombination eines Wegzugs aus Deutschland und des Haltens von Unternehmensanteilen sollte aufhorchen lassen. Die zusätzliche Angabe der Anschaffungskosten und des derzeitigen gemeinen Wertes der Anteile sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine Steuerpflicht bzgl. der stillen Reserven ausgelöst worden sein könnte. Bearb. müssen hier zeigen, dass sie das Zusammenspiel des § 6 AStG und des § 17 EStG verstanden haben. Die Prüfung selbst sollte angesichts der eindeutig vorliegenden Tatbestandsvoraussetzungen keine Schwierigkeiten machen.

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Die objektive Steuerpflicht im Jahr 10 unterscheidet sich von den anderen Prüfungen dadurch, dass hier nur eine beschränkte Steuerpflicht des S vorliegt. Bearb. müssen

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Rz. 14 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

also die §§ 49 f. EStG kennen und anwenden. In diesem Zusammenhang bedarf es einer genauen Prüfung der Einkünftequalifikation. 15

Die Herausforderungen des Falls liegen vor allem darin, dass gleich mehrere Sonderregelungen des AStG erkannt und geprüft werden müssen. Hat man die relevanten Aspekte – durch aufmerksame Sachverhaltslektüre – einmal erkannt, dürften die Prüfungen im Einzelnen jedoch nicht mehr schwerfallen, da keine größeren Fallstricke vorhanden sind.

C. Gliederung 16

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Kaffeeliebe GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht 18 2. Objektive Steuerpflicht a) Einkünftequalifikation 19 b) Einkünftequantifikation 20 II. Diplomatin D 1. Subjektive Steuerpflicht der D 27 2. Einkünfte der D a) Einkünftequalifikation 28 b) Einkünftequantifikation 29 3. Steuerermäßigungen 33 III. Schauspieler S 1. Subjektive Steuerpflicht 34 a) Jahr 09 35 b) Jahr 10 37 2. Objektive Steuerpflicht a) Jahr 09 45 b) Jahr 10 48 aa) Einkünftequalifikation 49 bb) Einkünftequantifikation 53 cc) Weitere Aufwendungen 57

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 22

D. Ausformulierte Lösung Zu ermitteln sind die subjektive Steuerpflicht sowie die ertragsteuerpflichtigen Einkünfte der K-GmbH und der D im Jahr 10 sowie des S in den Jahren 09 und 10.

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I. Kaffeeliebe GmbH 1. Subjektive Steuerpflicht

Als in Deutschland ansässige Gesellschaft in der Rechtsform der GmbH ist die K-GmbH gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig.

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2. Objektive Steuerpflicht a) Einkünftequalifikation Alle von der K-GmbH erwirtschafteten Einkünfte sind gem. § 8 Abs. 2 KStG solche aus Gewerbebetrieb i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2; 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

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b) Einkünftequantifikation Die Einkünfte sind gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz Nr. 1 EStG der Gewinn, der gem. § 13 Abs. 3 GmbHG, §§ 6 Abs. 1; 238 ff. HGB, § 140 AO, §§ 4 Abs. 1 Satz 1; 5 Abs. 1 Satz 1 EStG durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt wird.

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Davon ausgehend ist zu bestimmen, wie sich die Lizenzzahlungen an die C-Ltd. auf die Höhe des Gewinns der K-GmbH auswirken. Bisher wurden diese gewinnmindernd berücksichtigt. Dies wäre nur zutreffend, wenn die Ausgaben tatsächlich berücksichtigungsfähige Betriebsausgaben darstellen. Betriebsausgaben sind gem. § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 4 Abs. 4 EStG Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind. Grundsätzlich werden die Lizenzgebühren gezahlt, um das Designkonzept der C-Ltd. in den Cafés der K-GmbH nutzen zu können, sodass der nötige Veranlassungszusammenhang bestehen würde. Allerdings könnte hier in Zweifel gezogen werden, ob tatsächlich die vollen 1 Mio. Euro als Lizenzgebühren qualifiziert werden können, wenn fremde Dritte für die gleiche Leistung im selben Zeitraum nur 500.000 Euro zahlen. Es könnte sich aus den Vorgaben des § 1 Abs. 1 AStG oder den Regelungen zu verdeckten Gewinnausschüttungen nach § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG ergeben, dass der Betrag nicht in voller Höhe als Betriebsausgabe zu berücksichtigen ist.

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§ 1 Abs. 1 AStG ordnet eine Einkünfteberichtigung bei grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen zwischen nahestehenden Personen an, wenn die Einkünfte dadurch gemindert wurden, dass zwischen ihnen vertragliche Bedingungen zugrunde gelegt wurden, die voneinander unabhängige Dritte unter gleichen oder ähnlichen Verhältnissen so nicht vereinbart hätten. In diesem Fall sind die Einkünfte so anzusetzen, wie sie unter den zwischen unabhängigen Dritten vereinbarten Bedingungen angefallen wären. Diese Voraussetzungen könnten hier vorliegen. Allerdings ist fraglich, ob § 1 AStG überhaupt Anwendung finden kann oder ob die Regelung des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG zu den verdeckten Gewinnausschüttungen vorrangig zu prüfen

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Rz. 22 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

ist. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AStG ist die AStG-Regelung zu Verrechnungspreisen „unbeschadet anderer Vorschriften“ anzuwenden. Damit wird gesetzgeberisch festgestellt, dass andere Normen, die sich im Anwendungsbereich mit diesem überschneiden, vorrangig anzuwenden sind. Soweit sich die Änderung der Einkünfte also schon aus § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG ergibt, ist dieser vorrangig.5 23

Hinweis: Das Verhältnis von § 1 Abs. 1 AStG zu anderen Vorschriften ist durchaus komplex. Bzgl. verdeckter Gewinnausschüttung herrscht aber inzwischen ganz mehrheitlich das Verständnis, dass schon aufgrund des Wortlauts des § 1 Abs. 1 AStG die Regelung des § 8 Abs. 3 KStG vorgeht. Dasselbe Ergebnis lässt sich auch über eine dogmatische Betrachtung erreichen: § 1 Abs. 1 AStG soll die ermittelten Einkünfte korrigieren. § 8 Abs. 3 KStG greift hingegen noch auf Ebene der Einkünfteermittlung selbst, also einen Schritt früher ein.6 Das schließt eine ergänzende (nachrangige) Anwendung des § 1 Abs. 1 AStG jedoch nicht aus. Wenn dessen Rechtsfolge weiterreicht als die des § 8 Abs. 3 KStG, ist er insoweit zusätzlich anwendbar. Das wurde gesetzgeberisch durch § 1 Abs. 1 Satz 4 AStG klargestellt.

24

Es könnte also § 8 Abs. 3 KStG eingreifen und dazu führen, dass der Betrag von 1 Mio. Euro nicht vollständig als Betriebsausgabe anzuerkennen und eine entsprechende außerbilanzielle Korrektur vorzunehmen ist.

25

Eine verdeckte Gewinnausschüttung setzt bei der Gesellschaft eine Vermögensminderung oder verhinderte Vermögensmehrung voraus, die durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst ist, sich auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG bei der Gesellschaft auswirkt, in keinem Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung steht und objektiv geeignet ist, beim Gesellschafter einen steuerpflichtigen Bezug auszulösen.7

26

Durch die Lizenzzahlungen in Höhe von 1 Mio. Euro jährlich an die C-Ltd. wird das Vermögen der K-GmbH gemindert. Soweit die Lizenzzahlungen unangemessen sind, müsste auch eine Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis vorliegen. Hier kann indiziell der Fremdvergleich herangezogen werden, was jedoch eine Gesamtwürdigung nicht ausschließt. Unabhängige Dritte Lizenznehmer zahlen der C-Ltd. für die gleiche Leistung nur einen Betrag von 500.000 Euro, also 50 % der Summe, die die K-GmbH gezahlt hat. Daraus lässt sich schließen, dass ein gewissenhafter und ordentlicher Geschäftsleiter einem fremden Dritten lediglich die um 50 % reduzierte Summe gezahlt hätte. Es sind auch keine besonderen Umstände erkennbar, die hier für eine Fremdüblichkeit der höheren Lizenzzahlungen sprechen und darauf hindeuten, dass diese nicht durch das Gesellschaftsverhältnis beeinflusst sind,8 sodass 5 Kraft in Kraft2, § 1 AStG Rz. 25. 6 Siehe Kraft in Kraft2, § 1 AStG Rz. 25 f.; Wassermeyer in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/ Schönfeld (Stand: Juli 2021), § 1 AStG Rz. 65. 7 Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.71 f. 8 Vgl. zur Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis als Voraussetzung für die verdeckte Gewinnausschüttung Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 11.73 f.; siehe zu den Fremdvergleichskriterien ausführlich auch Wilk in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 8 KStG Rz. 132 ff.

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die Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis zu bejahen ist. Durch die jährliche Zahlung wird auch das Konto „Bank“ vermindert und ein „Aufwand für zeitlich befristete Überlassung von Rechten (Lizenzen, Konzessionen)“ gebucht, sodass eine Auswirkung auf den Unterschiedsbetrag i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG vorliegt. Ein Zusammenhang mit einer offenen Gewinnausschüttung ist hier nicht erkennbar, und die Vorteilsgeneigtheit der Zahlung ergibt sich aus dem Geldzufluss bei der C-Ltd. Es liegt somit – soweit die Lizenzzahlungen unangemessen sind – eine verdeckte Gewinnausschüttung an die C-Ltd. durch die K-GmbH vor. Die Höhe der verdeckten Gewinnausschüttung ergibt sich aus der Differenz des vereinbarten Preises zum Fremdvergleichspreis. Letzterer kann mittels verschiedener Methoden ermittelt werden. Auf der Grundlage der vorliegenden Daten bietet sich vor allem die Preisvergleichsmethode an, bei dem der konzernintern vereinbarte Preis mit dem Preis verglichen wird, den unabhängige Unternehmen unter gleichen Bedingungen vereinbart hätten. Die C-Ltd. hat die gleichen Leistungen, die die K-GmbH in Anspruch genommen hat, im selben Zeitraum zu einem Preis von 500.000 Euro an unverbundene Unternehmen angeboten. Dementsprechend kann der Preis von 500.000 Euro als angemessenes Entgelt angesetzt werden, sodass die Lizenzgebühren nur zur Hälfte als Betriebsausgaben berücksichtigt werden können und eine entsprechende außerbilanzielle Korrektur vorzunehmen ist, sodass sich die Einkünfte der K-GmbH im Jahr 10 um 500.000 Euro erhöhen. II. Diplomatin D 1. Subjektive Steuerpflicht der D Die D könnte im Jahr 10 in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sein. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt das voraus, dass eine natürliche Person ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Infolge ihres Umzugs nach Brasilien im Dezember 09 hatte die D im Jahr 10 in Deutschland keine Wohnung inne und damit keinen Wohnsitz i.S.d. § 8 AO mehr. Sie hat sich im Jahr 10 auch insgesamt nicht in Deutschland aufgehalten, sodass es auch an einem gewöhnlichen Aufenthalt gem. § 9 AO fehlt. Die unbeschränkte Steuerpflicht der D könnte sich aber aus § 1 Abs. 2 EStG ergeben (sog. erweitert unbeschränkte Steuerpflicht). Hiernach sind deutsche Staatsangehörige, die weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, aber in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person stehen und dafür Arbeitslohn aus einer inländischen öffentlichen Kasse beziehen, ebenfalls unbeschränkt steuerpflichtig. Die D ist Diplomatin mit deutscher Staatsangehörigkeit und als solche in Brasilien tätig. Deutsche Diplomaten stehen in einem Dienstverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland, also einer inländischen juristischen Person, und werden aus den Kassen des Bundes besoldet. § 1 Abs. 2 Satz 2 EStG setzt ergänzend voraus, dass die betroffenen Personen in ihrem Wohnsitzstaat nur einer Steuer unterliegen dürfen, die der deutschen beschränkten Steuerpflicht entspricht. Gem. Art. 34 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD), das auch Brasilien ratifiziert hat, werden Diplomaten in ihrem Wohnsitzstaat grundsätzlich von der Einkommensteuer befreit, sodass diese Voraussetzung ebenfalls gegeben ist. D ist somit gem. § 1 Abs. 2 EStG im Jahr 10 in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. 269

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Rz. 28 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

2. Einkünfte der D a) Einkünftequalifikation 28

Durch ihre Diplomatentätigkeit bezieht die D Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit gem. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und durch die Vermietung der Wohnungen in Düsseldorf und Monaco Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gem. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6; 21 Abs. 1 Nr. 1 EStG. b) Einkünftequantifikation

29

Die Einkünfte sind sowohl bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit als auch aus Vermietung und Verpachtung der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG.

30

Der D fließen aus ihrer nichtselbständigen Tätigkeit als Diplomatin Einnahmen i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG in Höhe von 70.000 Euro in Form der Besoldung zu. Als Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sind die 15.0000 Euro für die Wohnung in Düsseldorf sowie – infolge der unbeschränkten Steuerpflicht der D – die 250.000 Euro für die beiden Wohnungen in Monaco einzubeziehen.

31

Konkrete Erwerbsaufwendungen sind nicht bekannt, sodass lediglich der Arbeitnehmer-Pauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in Höhe von 1.000 Euro zu berücksichtigen ist.

32

Die Summe der Einkünfte der D betrug im Jahr 10 dementsprechend 334.000 Euro. 3. Steuerermäßigungen

33

Für die D könnte bei der Berechnung der Einkommensteuerschuld eine Steuerermäßigung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung für ihre in Monaco besteuerten Mieteinkünfte eingreifen. Deutschland und Monaco haben kein DBA geschlossen, sodass sich eine solche Ermäßigung in Deutschland nach § 34c EStG richtet. § 34c Abs. 1 Satz 1 EStG sieht eine Anrechnung der im Ausland gezahlten Steuer auf die auf diese Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer vor, wenn es sich um ausländische Einkünfte i.S.d. § 34d EStG eines in Deutschland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen handelt, die im Ausland eine der deutschen Einkommensteuer entsprechenden Steuer unterliegen. Die D ist – wie gezeigt – gem. § 1 Abs.2 EStG in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig. Gemäß § 34d Nr. 7 EStG sind ausländische Einkünfte unter anderem Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, soweit das unbewegliche Vermögen in einem ausländischen Staat belegen ist. Die D hat zwei Wohnungen in Monaco, aus denen sie im Jahr 10 Mieteinkünfte in Höhe von 250.000 Euro bezieht. Die D wurde bzgl. dieser Einkünfte in Monaco zu einer der deutschen Einkommensteuer entsprechenden Steuer i.H.v. 12.500 Euro (5 % von 250.000 Euro) herangezogen. Die Voraussetzungen einer Anrechnung liegen somit vor. § 34c Abs. 1 Satz 1 EStG begrenzt die Anrechnung jedoch auf den Betrag der deutschen Einkommensteuer, der auf die konkreten Einkünfte entfällt. Dieser Betrag ermittelt sich gem. § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG durch Anwendung des Durchschnittssteuersatzes auf den Betrag der ausländischen Einkünfte. Eine vollständige Anrech270

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 37

nung erfolgt demnach nur, wenn der ausländische Steuersatz unter dem deutschen Durchschnittssteuersatz liegt. Monaco hat die Einkünfte mit einem Steuersatz von 5 % belegt. Angesichts der hohen Einkünfte der D und des progressiven deutschen Einkommensteuertarifs, der bei 14 % beginnt, ist davon auszugehen, dass die ausländische Steuer deutlich unter der anteiligen deutschen Steuer liegt und somit eine vollständige Anrechnung erfolgen kann. III. Schauspieler S 1. Subjektive Steuerpflicht Fraglich ist, ob der S in den Jahren 09 und 10 in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist.

34

a) Jahr 09 Der S könnte im Jahr 09 in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sein. Bis zu seinem Umzug nach Brasilien im Dezember 09 hatte A einen Wohnsitz in Deutschland und war somit bis dahin unbeschränkt steuerpflichtig gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG, § 8 AO. Nach seinem Umzug hat er keinen Wohnsitz mehr in Deutschland und auch für einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 9 AO bestehen keine Anhaltspunkte. Mithin entfällt die unbeschränkte Steuerpflicht gem. § 1 Abs. 1 EStG im Dezember 09.

35

Ab dem Umzug könnte sich eine unbeschränkte Steuerpflicht gem. § 1 Abs. 2 EStG infolge der unbeschränkten Steuerpflicht seiner Lebensgefährtin D ergeben. Allerdings müsste S dafür unter anderem ein zum Haushalt gehörender Angehöriger der D i.S.d. § 15 AO sein. A und D leben in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und sind somit weder Verlobte gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 AO, was den formalen Akt der Verlobung erfordern würde, noch Lebenspartner i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 AO, wofür eine eingetragene Lebenspartnerschaft i.S.d. LPartG erforderlich wäre. Es fehlt dem S also bereits an dieser Voraussetzung. Ab dem Umzug ist er somit für den Rest des Jahres 09 (allenfalls) beschränkt steuerpflichtig. Etwaige währenddessen erwirtschafteten beschränkt steuerpflichtigen inländischen Einkünfte – über die der Sachverhalt keine nähere Auskunft gibt – sind gem. § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG in die Veranlagung zur unbeschränkten Steuerpflicht einzubeziehen, sodass es zu einer einheitlichen Veranlagung nach den Regeln der unbeschränkten Steuerpflicht kommt.9

36

b) Jahr 10 Im Jahr 10 könnte S jedoch wieder in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gem. § 1 Abs. 1 EStG sein. Dazu müsste er einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt haben.

9 Siehe dazu näher Seer in Kirchhof/Seer20, § 2 EStG Rz. 126.

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Rz. 38 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

38

Einen Wohnsitz hat jemand gem. § 8 AO dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Wohnungen sind alle Räumlichkeiten, die objektiv zum Wohnen geeignet sind.10 Seine Wohnung in Köln hat S im Dezember 09 vollständig aufgegeben, sodass sich ein Wohnsitz nur durch die von ihm genutzten Hotelzimmer ergeben könnte. Ein Wohnsitz setzt allerdings voraus, dass die Person die betreffende Wohnung „innehat“, sie ihr also in objektiver Hinsicht jederzeit als Bleibe zur Verfügung steht und zudem in subjektiver Hinsicht zu einer entsprechenden Nutzung bestimmt ist,11 also tatsächlich dauerhaft Verfügungsmacht über die Räumlichkeit hat. Der S hat allerdings keines der Hotelzimmer dauerhaft gemietet, sodass es an einer dauerhaften Verfügungsmacht und damit einem Wohnsitz in Deutschland fehlt.

39

Er könnte aber seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt haben. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand nach § 9 AO dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt ist ausweislich § 9 Satz 2 AO stets ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten anzusehen. Insgesamt befand sich A im Jahr 10 mehr als sechs Monate im Inland. Allerdings war er nicht zeitlich ununterbrochen in Deutschland, sondern zwischendurch immer wieder in Brasilien und zu Dreharbeiten in Österreich. Kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts sind gem. § 9 Satz 2 Halbs. 2 AO jedoch unschädlich. Ob für S mehrere unabhängige Aufenthalte oder lediglich kurze Unterbrechungen eines einheitlichen Aufenthaltes anzunehmen sind, ist nach den gesamten objektiven Umständen des Einzelfalles zu entscheiden. Zur Abgrenzung kann dabei z.B. dienen, ob der Anlass des Aufenthalts über die Unterbrechungen hinweg fortdauert.12 Den Aufenthalten des A in Deutschland lagen jeweils unterschiedliche Veranlassungen zugrunde. Auch lagen zwischen Ihnen Unterbrechungen von mehreren Monaten. Insbesondere der Aufenthalt im Winter war spontan und während der anderen Aufenthalte noch nicht geplant und absehbar. Es liegt dementsprechend bereits kein zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten vor, sodass es auf die private Veranlassung des letzten Aufenthalts und die Ausnahme des § 9 Satz 3 AO diesbezüglich nicht mehr ankommt.

40

Es könnte dennoch ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. § 9 Satz 1 AO vorliegen, wenn an anderen Umständen erkennbar wäre, dass S nicht nur vorübergehend im Inland verweilt hat. Das kann auch bei einem die Sechs-Monats-Frist des Satz 2 unterschreitenden Zeitraum erfüllt sein, allerdings ist dann erforderlich, dass andere Merkmale – wie z.B. enge familiäre Bindungen – auf einen Lebensmittelpunkt im Inland hindeuten.13 Die Mutter des S sowie einige seiner Freunde leben in Deutschland, sodass eine gewisse persönliche Verbindung zum Inland auch nach dem Umzug besteht. Allerdings hält er sich im Jahr 10 nur zwei Monate aus entsprechenden privaten Grün-

10 11 12 13

Drüen in Tipke/Kruse (Stand: August 2021), § 8 AO Rz. 5. BFH v. 24.7.2018 – I R 58/16, juris Rz. 18 m.w.N. BFH v. 22.6.2011 – I R 26/10, juris Rz. 13 f. Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler (Stand: August 2021), § 9 AO Rz. 22.

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 45

den in Deutschland auf. Alle anderen Aufenthalte sind rein beruflich bedingt und auch der private Aufenthalt erfolgte nur aufgrund der außergewöhnlichen Umstände entsprechend lange. S beschränkt seine berufliche Tätigkeit zudem nicht auf Engagements in Deutschland, sondern war auch in Österreich tätig. Es ist insofern keine so enge Verbindung zum Inland zu erkennen, die einen Lebensmittelpunkt in Deutschland annehmen ließe. Vielmehr verdeutlicht die immer wieder erfolgende Rückkehr zur D nach Brasilien, dass der S dort seinen Lebensmittelpunkt unterhält. S hatte im Jahr 10 demnach keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.

41

Wie bereits Ende des Jahre 09 sind für S mangels deutscher Staatsangehörigkeit und Angehörigeneigenschaft auch die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 AO nicht gegeben.

42

S ist somit im Jahr 10 in Deutschland gem. § 1 Abs. 4 EStG beschränkt mit seinen inländischen Einkünften i.S.d. § 49 EStG steuerpflichtig.

43

Alternativer Aufbau: Es bietet sich hier an, erst die subjektive Steuerpflicht für beide Veranlagungszeiträume und dann die objektive Steuerpflicht (unterteilt nach den Veranlagungszeiträumen zu prüfen). Würde man erst den kompletten Veranlagungszeitraum 09 – also subjektive und objektive Steuerpflicht – prüfen, ergäbe sich im Rahmen der Wegzugsbesteuerung in 09 eine recht umfangreiche und unschöne Inzidentprüfung der unbeschränkten Steuerpflicht des S im Jahr 10. Durch den hier gewählten Aufbau wird das vermieden.

44

2. Objektive Steuerpflicht a) Jahr 09 S könnten im VZ steuerpflichtige Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.S.d. § 17 EStG durch seine Anteile an der C-Ltd. entstanden sein. Zwar veräußert er seine Anteile an der C-Ltd. im Jahr 09 nicht, sodass ihm kein tatsächlicher Veräußerungsgewinn entsteht, es könnte aber infolge seines Umzuges nach Brasilien ein fiktiver Veräußerungsgewinn zu berücksichtigen sein. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AStG bestimmt, dass die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht infolge der Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes der Anteilsveräußerung gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gleichsteht. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 AStG gilt als zuvor unbeschränkt steuerpflichtig für diesen Tatbestand nur eine Person, die innerhalb der letzten zwölf Jahre mindestens sieben Jahre unbeschränkt steuerpflichtig in Deutschland gem. § 1 Abs. 1 EStG war. S hat mit seinem Umzug nach Brasilien seinen Wohnsitz in Köln vollständig aufgegeben und war infolgedessen nicht mehr unbeschränkt steuerpflichtig. Den Wohnsitz in Köln hatte er zuvor für 20 Jahre ununterbrochen, sodass eine hinreichend lange vorherige unbeschränkte Steuerpflicht gegeben ist. S ist wegen der beruflichen Umstände der D gemeinsam mit ihr nach Brasilien gezogen. Die D ist für einen Zeitraum von acht Jahren dorthin versetzt. In Anbetracht dieser Umstände und der bereits getroffenen Feststellungen zur subjektiven Steuerpflicht im Jahr 10 ist nicht davon auszugehen, dass er in den folgenden sieben Jahren wieder unbeschränkt steuerpflichtig wird. Insofern liegt – unabhängig davon, ob es auf die Rückkehr-

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Rz. 45 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

absicht beim Wegzug oder die tatsächliche spätere Rückkehr ankommt14 – keine nur vorübergehende Abwesenheit i.S.d. § 6 Abs. 3 AStG vor, die die Wegzugsbesteuerung entfallen ließe. Die Voraussetzungen des § 6 AStG liegen somit vor. 46

§ 6 AStG fingiert jedoch nur den Veräußerungsakt, sodass für steuerpflichtige Einkünfte zudem die weiteren Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 EStG gegeben sein müssten. S hielt über die letzten acht Jahre durchgängig 5 % der Anteile der C-Ltd., sodass er zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb der letzten fünf Jahre zu mehr als 1 % an der C-Ltd. beteiligt war und somit auch die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 EStG erfüllt sind.

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Zur Ermittlung der Höhe des (fingierten) Veräußerungsgewinns ist gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG als Veräußerungspreis der gemeine Wert der Anteile im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht zugrunde zu legen. Der gemeine Wert der Anteile des S lag im Dezember 09 bei 1 Mio. Euro. Die Anschaffungskosten des S betrugen im Jahr 01 20.000 Euro, sodass ein Veräußerungsgewinn von 980.000 Euro entstanden ist. Für die Besteuerung dessen greift jedoch gem. § 3 Nr. 40 Buchst. c EStG das Teileinkünfteverfahren ein, sodass 40 % des Veräußerungspreises steuerfrei gestellt sind und entsprechend gem. § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG 40 % der Anschaffungskosten nicht abgezogen werden dürfen.15 Der einzubeziehende Veräußerungserlös beträgt somit 600.000 Euro (60 % von 1. Mio. Euro), die zu berücksichtigenden Anschaffungskosten 12.000 Euro (60 % von 20.000 Euro), sodass insgesamt ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn von 588.000 Euro als Einkünfte aus Gewerbebetrieb nach § 17 Abs. 1 EStG, § 6 Abs. 1 AStG zu berücksichtigen ist. Der Freibetrag des § 17 Abs. 3 Satz 1 EStG ist infolge des hohen Veräußerungsgewinns nach der Regelung des § 17 Abs. 3 Satz 2 EStG vollständig abgeschmolzen und wirkt sich folglich nicht aus. b) Jahr 10

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S könnte im Jahr 10 durch seine Engagements als Schauspieler in Deutschland inländische Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt haben. S nahm als Schauspieler im Jahr 10 an einer Filmproduktion teil und stand für drei Monate für eine Theaterproduktion in München auf der Bühne. aa) Einkünftequalifikation

49

Für die Einordnung in § 49 EStG ist maßgeblich, welcher Einkunftsart diese Tätigkeiten zuzuordnen sind. In Betracht kommt eine Qualifikation als nichtselbständige, selbständige oder gewerbliche Tätigkeit. Wesentliches Abgrenzungskriterium zwischen der nichtselbständigen Tätigkeit einerseits und selbständiger/gewerblicher Tätigkeit andererseits ist das Merkmal der Selbständigkeit. Charakteristisch für ein 14 Siehe zu diesem Streitstand (zur a.F. des § 6 AStG) z.B. Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld (Stand: Juli 2021), § 6 AStG Rz. 442. 15 Zur Anwendung des Teileinkünfteverfahrens bei der Wegzugsbesteuerung z.B. Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld (Stand: Juli 2021), § 6 AStG Rz. 388.

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Fall 16: Coffee makes the world go round | Rz. 53

nichtselbständiges Dienstverhältnis ist – im Unterschied zur Selbständigkeit –, dass jemand einem anderen seine Arbeitskraft schuldet. Das ist der Fall, wenn der Beschäftigte in der Betätigung seines geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist. Entscheidend ist das Gesamtbild der vertraglichen Vereinbarung und deren Durchführung. Sowohl bei einer Filmproduktion als auch bei einem Theaterengagement sind die Schauspieler im Zusammenspiel mit anderen Schauspielern und Berufsgruppen (Regisseure, Maskenbildner etc.) in den Gesamtorganismus der Produktion eingegliedert. Der Ort und die Zeit der schauspielerischen Tätigkeit werden in beiden Fällen von der Produktion vorgegeben.16 S ist dahingehend also nicht frei gewesen. Zwar bezogen sich diese Vorgaben immer nur auf die einzelne Produktion, und S hatte im Verlaufe des Jahres mehr als eine Produktion, was eher typisch für eine Selbständigkeit ist. Betrachtet man das Gesamtbild, überwiegen aber die weisungsgebundenen Aspekte die sich immer über einen Zeitraum von mehreren Wochen bzw. Monaten erstreckten, sodass bzgl. beider Engagements in Deutschland von einer nichtselbständigen Tätigkeit auszugehen ist. Alternative Lösung: Mit entsprechender Argumentation könnte hier – insbesondere aufgrund der wenigen konkreten Informationen im Sachverhalt zur Ausgestaltung der Tätigkeit – auch von einem selbständigen Charakter der Tätigkeit ausgegangen werden. Dann müsste in einem zweiten Schritt zwischen selbständiger und gewerblicher Tätigkeit abgegrenzt werden. Die Schauspielerei dürfte dabei als künstlerische und damit freiberufliche Tätigkeit i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu qualifizieren sein.

50

Diese nichtselbständige Tätigkeit wurde sowohl bei der Filmproduktion, die in Potsdam stattgefunden hat, als auch beim Theaterengagement in München im Inland ausgeübt, sodass die dadurch erzielten Einkünfte inländische i.S.d. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG sind. Die Serienproduktion wurde hingegen in Österreich ausgeübt und auch nicht im Inland verwertet, sodass hieraus keine inländischen Einkünfte resultieren.

51

Alternative Lösung: Ginge man von einer selbständigen Tätigkeit des S aus, so wäre für die Einordnung als inländischen Einkünfte § 49 Abs. 1 Nr. 3 EStG maßgeblich.

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bb) Einkünftequantifikation Bei nichtselbständiger Arbeit sind die Einkünfte der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 EStG. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 EStG sind als Werbungskosten bei beschränkter Steuerplicht nur die Aufwendungen abzuziehen, die mit den inländischen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen.

16 Siehe dazu auch BFH v. 6.10.1971 – I R 207/66, BStBl. II 1972, 88.

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Rz. 54 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

54

Dem S fließen aus der nichtselbständigen Tätigkeit im Rahmen der Filmproduktion und dem Theaterengagement in Deutschland Einnahmen i.S.d. § 8 Abs. 1 EStG in Höhe von 30.000 Euro zu.

55

Konkrete Erwerbsaufwendungen sind nicht bekannt, sodass lediglich der Arbeitnehmer-Pauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG berücksichtigt werden könnte. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 6 EStG ist dieser bei beschränkter Steuerpflicht jedoch nur anteilig abzuziehen, wenn die Einkünfte nicht während eines vollen Kalenderjahres zugeflossen sind. Die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit sind dem S über den Zeitraum der beiden Engagements in Deutschland, der insgesamt fünf Monate betrug, zugeflossen. Mithin sind lediglich 5/12 des Pauschbetrages anzusetzen, also rund 417 Euro.

56

S hatte dementsprechend im Jahr 10 in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte i.H.v. 29.583 Euro. cc) Weitere Aufwendungen

57

Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 4 EStG finden Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen bei beschränkt Steuerpflichtigen grundsätzlich keine Berücksichtigung. S hat im Jahr 10 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU- oder EWR-Mitgliedstaat, sodass auch die Ausnahmeregelung des § 50 Abs. 1a EStG keine Anwendung findet.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 58

– Hey in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 8.20 ff. – Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 4. Auflage 2017, Rz. 6.9 ff.; 6.406 ff.; 18.49 ff.; 21.138 ff.

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA Schwerpunkte: – Anwendung und Auswirkungen eines DBA – Vereinbarkeit mit Grundfreiheiten – Anwendungsvorrang des Europarechts Bearbeitungszeit: 2 Stunden Schwierigkeitsgrad: durchschnittlich

A. Sachverhalt Der in Essen wohnhafte ledige B ist als Bauleiter bei der in Essen ansässigen KGmbH beschäftigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit betreut er seit Jahren diverse Bauprojekte der K-GmbH im Inland. Im Jahr 05 wurde er erstmals auch für die niederländische Tochter der K-GmbH, die L-BV mit Sitz und Geschäftsleitung in Maastricht, tätig und betreute einige Bauprojekte der L-BV in den Niederlanden. Für seine Tätigkeit im Jahr 05 erhielt er insgesamt einen Arbeitslohn i.H.v. 100.000 Euro, wobei – den arbeitsvertraglich festgehaltenen Vereinbarungen entsprechend – 75.000 Euro direkt von der L-BV für seine Arbeitsleistung in den Niederlanden und 25.000 Euro von der K-GmbH gezahlt wurden. Für den gesamten Arbeitslohn wurden als Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung 5.000 Euro abgeführt (Arbeitnehmeranteil). Von diesen Beiträgen entfielen 1.5000 Euro auf die Tätigkeit im Inland und 3.500 Euro auf die Tätigkeit des B in den Niederlanden. B ist der Ansicht, dass er den gesamten Betrag von 5.000 Euro als Vorsorgeaufwendungen steuerlich geltend machen könne. Sein Steuerberater S ist da allerdings anderer Auffassung und weist den B auf die Vorgaben des für den zu beurteilenden Veranlagungszeitraum geltenden § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG hin, der (annahmegemäß) folgendermaßen lautet:1 „Voraussetzung für den Abzug der in Absatz 1 Nummer 2, 3 und 3a bezeichneten Beträge (Vorsorgeaufwendungen) ist, dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen.“

B kann nicht nachvollziehen, dass sich daraus für ihn die Konsequenz ergeben soll, dass er nicht die gesamten Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung steuerlich

1 Mit dem JStG 2018 v. 11.12.2018, BGBl. I 2018, 2338 (2340), ist diese Regelung angepasst worden.

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Rz. 1 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

in Abzug bringen kann. Er versteht bereits nicht, inwiefern er steuerfreie Einnahmen erzielen sollte, er zahle doch auf sein gesamtes Einkommen Steuern. Unabhängig davon könne es in einer Zeit der offenen Grenzen innerhalb der EU doch wohl nicht angehen, dass eine Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat dazu führt, dass er auf seinen Vorsorgeaufwendungen steuerlich sitzenbleibt. Die Niederlande bezögen diese – was zutrifft – nämlich ebenfalls nicht in die Besteuerung seines von der L-BV gezahlten Arbeitslohns ein. Aufgabe: Wie ist der Sachverhalt für B im Jahr 05 einkommensteuerlich in Deutschland zu würdigen? Bearbeitungshinweis:

Für die Bearbeitung ist der § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG in der im Sachverhalt zitierten Fassung zugrunde zu legen (hiesige Fassung = h.F.). Es ist zudem davon auszugehen, dass zwischen Deutschland und den Niederlanden ein dem OECD-MA (2017) entsprechendes Doppelbesteuerungsabkommen besteht und als Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Freistellungsmethode gem. Art. 23A OECD-MA (2017) vereinbart ist. Außerhalb dieser Vorgaben ist das geltende Recht anzuwenden.

B. Einführung in die Fallproblematik: I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 2

Neben der Anwendung der DBA-Vorschriften stellt insbesondere die inzident erforderliche Prüfung der europäischen Grundfreiheiten eine besondere Herausforderung dieses Falls dar.

3

Die Prüfung von Grundfreiheiten – und damit eine „klassische“ europarechtliche Fragestellung – gehört zu den Themen, die die meisten Studierenden nicht in einer Steuerrechtsklausur erwarten. Tatsächlich hat das Europarecht aber mittlerweile sowohl über Sekundärrechtsakte als auch über das Primärrecht starken Einfluss auf das deutsche Steuerrecht. Das beweisen nicht zuletzt die zahlreichen Entscheidungen des EuGH zu steuerrechtlichen Themen. Schon wegen dieser hohen praktischen Relevanz sollten sich Studierende mit dem Einfluss des Europarechts auf das Steuerrecht befassen und die Verletzung von Unionsrecht prüfen sowie deren Folgen einordnen können.

4

Unabhängig davon, ob die Prüfung eines Verstoßes gegen Grundfreiheiten für sich steht oder inzident zu erfolgen hat, können sich Bearb. an einem Prüfungsaufbau orientieren, der der Grundrechtsprüfung ähnelt. Zuerst muss aber geklärt werden, ob die Grundfreiheiten überhaupt richtiger Prüfungsmaßstab sind. Das ist nicht der Fall, wenn es für den fraglichen Themenbereich spezielle sekundärrechtliche Regelungen gibt. Die Prüfung sollte dann in die Punkte „Schutzbereich“, „Diskriminierung/Beschränkung“ und „Rechtfertigung“ gegliedert werden. Beim Schutzbereich sind neben den aus der Grundrechtsprüfung bekannten Aspekten des persönlichen und sachlichen Schutzbereichs überdies der räumliche Bezug (nur innereuropäisch 278

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA | Rz. 5

oder auch Drittstaaten?) und der grenzüberschreitende Bezug des konkreten Falls festzustellen. Im nächsten Schritt muss erst geprüft werden, ob eine offene oder versteckte Diskriminierung gegeben ist. Nur, wenn beides verneint werden kann, ist auf die vom EuGH in seiner Dassonville-Rechtsprechung2 entwickelte und durch die Keck-Rechtsprechung3 konkretisierte Maßnahme gleicher Wirkung zurückzugreifen. Eine solche ist schon anzunehmen, wenn die Maßnahme geeignet ist, die grenzüberschreitende Tätigkeit unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, solange es sich nicht um bloße Ausübungsmodalitäten handelt.4 Eine festgestellte Beschränkung kann aber nicht als Verstoß gewertet werden, wenn grenzüberschreitende und innerstaatliche Sachverhalte objektiv nicht vergleichbar, also nicht hinreichend ähnlich sind. Dieser Aspekt ist noch vor den Rechtfertigungsgründen zu thematisieren. Es ist dabei danach zu fragen, ob die Zielsetzung der innerstaatlichen Regelung für innerstaatliche und grenzüberschreitende Fälle nicht in gleicher Weise passt. Werden mit einer Norm z.B. Situationen geregelt, die nur im grenzüberschreitenden Fall auftreten können, dann dürfte es regelmäßig an der Vergleichbarkeit scheitern. Besteht hingegen eine hinreichende Vergleichbarkeit, müssen die Rechtfertigungsgründe betrachtet werden. Die einzelnen Grundfreiheiten kennen jeweils einzelne explizit im AEUV genannte Rechtfertigungsgründe. Neben diesen ist aber seit der Cassis-de-Dijon-Entscheidung5 des EuGH anerkannt, dass zumindest für Beschränkungen in Form der Maßnahmen gleicher Wirkung auch andere zwingende Gründe des Allgemeininteresses als Rechtsfertigungsgründe herangezogen werden können. In den meisten Fällen wird es auf die Prüfung dieser ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe ankommen. In der steuerrechtlichen Judikatur des EuGH haben sich über die vergangenen Jahrzehnte dabei einige spezielle Rechtfertigungsgründe etabliert, die Bearb. steuerrechtlicher Fälle kennen und (jedenfalls gedanklich) prüfen sollten. Besonders relevant sind dabei folgende Gründe: Missbrauchsbekämpfung,6 angemessene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse7 und Kohärenz des innerstaatlichen Besteuerungssystems8. Die ausformulierte Falllösung kann sich dann auf die ernsthaft in Betracht kommenden Gründe beschränken. Greift einer der Gründe im Einzelfall durch, darf damit aber nicht vorschnell die Rechtfertigung der Beschränkung angenommen werden, sondern es bedarf einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Rechtfertigung ist demnach erst anzunehmen, wenn nicht nur ein tauglicher Rechtfertigungsgrund vorliegt, sondern die fragliche Regelung auch geeignet, erforderlich und angemessen zur Verwirklichung dessen ist.9 2 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8-74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82. 3 EuGH v. 24.11.1993 – C-267/91 und C-268/91, Keck, ECLI:EU:C:1993:905. 4 Ausführlich zu Diskriminierungen und Beschränkungen im steuerrechtlichen Zusammenhang Reimer in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 7.125 ff. 5 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78, Rewe-Zentral AG, ECLI:EU:C:1979:42. 6 Z.B. EuGH v. 22.12.2010 – C-287/10, Tankreederei I, ECLI:EU:C:2010:827, juris Rz. 28 m.w.N. 7 Z.B. EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03, Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, juris Rz. 45. 8 Z.B. EuGH v. 7.9.2004 – C-319/02, Manninen, ECLI:EU:C:2004:484, juris Rz. 42 ff. m.w.N.; siehe dazu auch ausführlich Kokott/Ost, EuZW 2011, 496. 9 Zur Rechtfertigung ausführlicher Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 7.199 ff.

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Rz. 6 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

6

Bekommt man es in einer Fallbearbeitung mit einer unilateralen Regelung zu tun, die sich im konkreten Fall nicht mit den Grundfreiheiten vereinbaren lässt, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das nun für den konkreten Fall hat. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zu verfassungswidrigen Normen zu beachten. Für verfassungswidrige Gesetze statuiert Art. 100 Abs. 1 GG ein Verwerfungsmonopol des BVerfG, d.h. die (verfassungswidrigen) Regelungen sind von Verwaltung und Gerichten solange anzuwenden, bis das BVerfG sie für nichtig erklärt (oder der Gesetzgeber von sich aus reagiert). Bei einem Verstoß gegen Grundfreiheiten ist das anders: Das Unionsrecht beansprucht Anwendungsvorrang, aber keinen Geltungsvorrang. Daraus bedeutet, dass die Geltung der nationalen Normen grundsätzlich unberührt bleibt, sie aber im einzelnen Fall, in dem es durch sie zu einem unionsrechtlichen Verstoß käme, von Verwaltung und Gerichten nicht angewendet werden dürfen.10 Kommt man also im Rahmen einer Fallbearbeitung zu dem Ergebnis, dass die Anwendung einer einzelnen Norm zu einem Europarechtsverstoß führt, so ist diese Norm – nach einer entsprechenden Prüfung – in diesem Fall nicht anzuwenden und der Fall unter dieser Prämisse zu lösen. II. Anforderungsprofil

7

Es handelt sich um einen im Ausgangspunkt einkommensteuerlichen Fall, dessen Bearbeitungsschwerpunkte allerdings im internationalen bzw. europäischen Steuerrecht liegen.

8

Die Aufgabenstellung fordert eine Würdigung der einkommensteuerlichen Behandlung des Sachverhalts für den B im Jahr 05. Es ist dementsprechend keine umfassende Prüfung des zu versteuernden Einkommens gefordert, sondern lediglich eine Begutachtung der geschilderten Vorkommnisse. Mithin sind nur die Prüfungspunkte anzusprechen, auf die die Angaben im Sachverhalt Auswirkungen haben.

9

Wegen des Auslandsbezugs durch die Tätigkeit des B in den Niederlanden ist die subjektive Steuerpflicht anzusprechen. Da diese aber letztlich unproblematisch ist, sollten Ausführungen hierzu kurzgehalten werden, damit ausreichend Bearbeitungszeit für die problematischeren Aspekte verbleibt.

10

Ausführlich zu prüfen sind einerseits die Anwendung und die Auswirkungen des DBA und andererseits die Vereinbarkeit des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h.F. mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV). Dass es sich hierbei um die Kernfragen des Falles handelt, wird bereits anhand des klar darauf abzielenden Vorbringens des B deutlich. Bringt ein Akteur in einem Fall rechtliche Aspekte vor und meldet Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Regelungen an, ist dies immer ein klarer Hinweis darauf, dass Bearb. diese Punkte prüfen sollen. Bei beiden Aspekten ist es aber wichtig, diese Prüfungen nicht zusammenhangslos vorzunehmen, sondern sie systematisch zutreffend in die Prüfung der einkommensteuerlichen Beurteilung einzubetten.

10 Siehe dazu Reimer in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 7.15 ff.

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA | Rz. 13

Für die Anwendung des DBA bedeutet das, dass zuerst ermittelt werden muss, ob und inwiefern grundsätzlich überhaupt unilateral ein deutsches Besteuerungsrecht an den Einkünften besteht. Würde Deutschland unilateral bereits keinen Besteuerungsanspruch erheben, so käme es auf das DBA und die darin geregelte Zuteilung der Besteuerungsrechte gar nicht an. Bei der inzidenten Prüfung des Abkommens im Rahmen der Einkünftequantifikation ist dann wiederum eine systematisch folgerichtige Prüfung erforderlich. Bearb. sollten nicht direkt auf die Verteilungsartikel springen, sondern müssen zumindest knapp die Abkommensberechtigung des B feststellen. Hierbei darf nicht der Fehler gemacht werden, diese rein unter Verweis auf die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland zu bejahen. Zwar sind die Merkmale in diesem Fall tatsächlich gleichlaufend. Prinzipiell stellt das Abkommen aber eigenständige Anforderungen an Personeneigenschaft und Ansässigkeit, die geprüft werden müssen. Danach gilt es, nach dem zutreffenden Verteilungsartikel zu suchen, die Zuteilung des Besteuerungsrechts an die Niederlande und die Folgen für Deutschland als Ansässigkeitsstaat zu erkennen.

11

Die Frage nach der Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist danach im Zuge der Prüfung der Sonderausgaben des B zu behandeln. Auch hier muss zuerst hergeleitet werden, dass es sich grundsätzlich um Sonderausgaben handelt, aber das vom Sachverhalt vorgegebene Abzugsverbot hier nach der anzunehmenden Gesetzeslage eingreifen würde. Bearb. müssen erkennen, dass man über eine Anwendung dieser unilateralen Regelung hinwegkäme, wenn diese gegen Europarecht verstoßen würde. Von diesem Gedanken ausgehend muss dann inzident die Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit geprüft werden. Hierbei werden grundlegende Kenntnisse zur europarechtlichen Beurteilung steuerrechtlicher Normen vorausgesetzt. Das Ergebnis der Prüfung ist – wie nahezu immer – zweitrangig. Die aktuelle Fassung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG gibt aber einen klaren Hinweis auf das Ergebnis, das BFH und EuGH gefunden haben.

12

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

13

I. Subjektive Steuerpflicht 15 II. Objektive Steuerpflicht 16 1. Einkünftequalifikation 17 2. Einkünftequantifikation 18 3. Weitere Aufwendungen und Abzüge 24 a) Tatbestandliche Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG (h.F.) 25 b) Vereinbarkeit mit EU-Grundfreiheiten 26 aa) Schutzbereich 27 bb) Diskriminierung oder Beschränkung 28 281

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Rz. 13 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

cc) Rechtfertigung 29 (1) Objektiv nicht vergleichbare Situation 30 (2) Zwingende Gründe des Allgemeininteresses 31 c) Ergebnis zu weiteren Aufwendungen und Abzügen 36 III. Tarif 37

D. Ausformulierte Lösung 14

Zu prüfen ist die einkommensteuerliche Behandlung der Vorkommnisse für B im Jahr 05. I. Subjektive Steuerpflicht

15

Maßgeblich für die einkommensteuerliche Würdigung des Sachverhaltes der P ist, ob und inwieweit sie im Jahr 06 subjektiv steuerpflichtig in Deutschland war. Abzugrenzen ist dabei zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht. B war während des gesamten Jahres in Essen wohnhaft, sodass von einem Wohnsitz im Inland i.S.d. § 8 AO auszugehen und B somit gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG im Jahr 05 unbeschränkt, d.h. mit seinem Welteinkommen, in Deutschland steuerpflichtig ist. II. Objektive Steuerpflicht

16

Hiervon ausgehend ist die objektive Steuerpflicht des B zu bestimmten. 1. Einkünftequalifikation

17

B ist als Bauleiter aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung für die K-GmbH und deren Tochtergesellschaft, die niederländische L-BV, tätig. Für diese Arbeit bezieht er einen vertraglich festgelegten Arbeitslohn, von dem durch den Arbeitgeber auch Sozialversicherungsbeiträge einbehalten und abgeführt werden. Seine Tätigkeit entspricht insofern insgesamt dem typischen Bild eines Arbeitnehmers, sodass die daraus erwirtschafteten Einkünfte als solche aus nichtselbständiger Arbeit gem. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4; 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu qualifizieren sind. 2. Einkünftequantifikation

18

Bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die B erzielt, sind die Einkünfte gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, der im Wege der Geldverkehrsrechnung nach den Vorgaben des § 11 EStG zu ermitteln ist.

19

Der Arbeitslohn i.H.v. 100.000 Euro ist grundsätzlich steuerpflichtige Einnahme i.S.d. §§ 8 Abs. 1 Satz 1; § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG. Allerdings könnte der Arbeitslohn i.H.v. 75.000 Euro, der von der L-BV gezahlt wurde, aufgrund des zwischen Deutschland und den Niederlanden bestehenden DBA ausnahmsweise in Deutschland steuerbefreit sein. 282

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA | Rz. 24

Als natürliche Person mit Wohnsitz in Deutschland ist B gem. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a OECD-MA eine Person i.S.d. Abkommens und gem. Art. 4 Abs. 1 OECD-MA in einem der Vertragsstaaten abkommensrechtlich ansässig, sodass an der Abkommensberechtigung des B keine Zweifel bestehen. Infolge der Zahlung dieses Arbeitslohns durch die L-BV, also aus einer niederländischen Quelle, an eine in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Person liegt auch sachlich ein Abkommensfall vor. Die Verteilungsartikel des Abkommens finden mithin Anwendung.

20

Für Einkünfte aus unselbständiger Arbeit bestimmt Art. 15 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA, dass grundsätzlich einzig der Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen zur Ausübung des Besteuerungsrecht berechtigt ist. Wenn die Arbeit, für die der Lohn gezahlt wird, allerdings im Quellenstaat ausgeübt wurde, darf der Quellenstaat besteuern (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 OECD-MA). Mangels abkommenseigener Definition des Terminus „unselbständige Arbeit“ ist dieser gem. Art. 3 Abs. 2 OECD unter Rückgriff auf das innerstaatliche Recht der Vertragsstaaten und damit hier nach dem deutschen Arbeitnehmerbegriff zu bestimmen.11 Der Arbeitslohn des B i.H.v. 75.000 Euro unterfällt somit der Regelung des Art. 15 Abs. 1 OECD-MA, der vorliegend auch nicht durch einer der vorrangigen Spezialregelungen der Art. 16 bis 19 OECD-MA verdrängt wird. Die Zahlung der L-BV erfolgte für die Betreuung von Bauprojekten der L-BV in den Niederlanden. B hat die für den Arbeitslohn kausale Tätigkeit somit im Quellenstaat ausgeübt, sodass die Niederlande als Quellenstaat abkommensrechtlich zur Besteuerung berechtigt sind. Das Besteuerungsrecht wird dabei dem Quellenstaat aber nicht exklusiv zugewiesen. Der Verteilungsartikel selbst schließt damit das deutsche Besteuerungsrecht nicht direkt aus. Die weitere Folge für Deutschland als Ansässigkeitsstaat richtet sich nach den Vorgaben des Methodenartikels. Art. 23A Abs. 1 OECD-MA verpflichtet den Ansässigkeitsstaat, die dem Quellenstaat zur Besteuerung zugewiesenen Einkünfte von der Besteuerung auszunehmen. Ein Fall des Art. 23A Abs. 4 OECD-MA, der den Rückfall des Besteuerungsrechts an den Ansässigkeitsstaat anordnet, ist vorliegend nicht gegeben. Deutschland ist dementsprechend zur Freistellung des von der L-BV gezahlten Arbeitslohns i.H.v. 75.000 verpflichtet.

21

Infolge der abkommensrechtlich bedingte Freistellung verbleiben somit in Deutschland steuerpflichtige Einnahmen i.H.v. 25.000 Euro.

22

Konkrete Erwerbsaufwendungen des B sind nicht bekannt, sodass lediglich der Arbeitnehmer-Pauschbetrag des § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in Höhe von 1.000 Euro zu berücksichtigen ist.

23

3. Weitere Aufwendungen und Abzüge Die Beiträge des B zur gesetzlichen Krankenversicherung i.H.v. insgesamt 5.000 Euro könnten als Sonderausgaben abzugsfähig sein. § 10 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 Buchst. a EStG nennt die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung dabei explizit als zu berücksichtigende Sonderausgaben. 11 BFH v. 24.9.2013 – VI R 48/12, juris Rz. 13; Bourseaux/Sendler/Rauert in Schönfeld/Ditz2, Art. 15 DBA Rz. 90.

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Rz. 25 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

a) Tatbestandliche Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG (h.F.) 25

Der Sonderausgabenabzug wird allerdings durch den im Sachverhalt angeführten § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h. F. dahingehend eingeschränkt, dass er nicht für Vorsorgeaufwendungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen stehen, gilt. Ein solcher Zusammenhang ist immer dann anzunehmen, wenn die Einnahmen und die Aufwendungen durch dasselbe Ereignis veranlasst sind.12 Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V löst die abhängige Beschäftigung gegen ein Arbeitsentgelt die Krankenversicherungspflicht aus. Die Höhe der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung richtet sich gem. §§ 226, 241 SGB V nach dem Arbeitsentgelt. Insofern sind der Arbeitslohn als steuerfreie Einnahme und die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung beide gleichermaßen durch die Zahlung durch die L-BV veranlasst, sodass der unmittelbare Zusammenhang zu bejahen ist. Der Tatbestand der Abzugsbeschränkung ist mithin grundsätzlich erfüllt. b) Vereinbarkeit mit EU-Grundfreiheiten

26

Die Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h.F. könnte jedoch im Fall des B gegen die unionsrechtlich verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit gem. Art. 45 AEUV verstoßen und deshalb, infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, vorliegend unanwendbar sein.13 aa) Schutzbereich

27

Für den vorliegenden Fall greift kein spezielles unionsrechtliches Sekundärrecht, sodass die Prüfung von Grundfreiheiten grundsätzlich eröffnet ist. Aufgrund des Wohnsitzes des B in Deutschland und seiner Tätigkeit in den Niederlanden ist der zur Anwendung erforderliche grenzüberschreitende Bezug gegeben. Als natürliche Person, die in einem abhängigen Arbeitsverhältnis beschäftigt ist, das nicht zum öffentlichen Dienst gehört, und deren aus dieser Beschäftigung resultierende Vergütung die in Rede stehenden Besteuerungsfolgen nach sich zieht, unterfällt B persönlich wie sachlich dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV. bb) Diskriminierung oder Beschränkung

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Die Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h.F. müsste eine Diskriminierung oder sonstige Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellen. Das dort normierte Abzugsverbot findet nicht nur auf grenzüberschreitende, sondern auch auf rein inländische Fälle Anwendung, z.B. bei auf gem. § 3b EStG steuerfreie Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge entfallende Beiträge. Eine Diskriminierung ist wegen dieser unterschiedslosen Anwendbarkeit der Regelung also nicht anzunehmen. Es könnte aber eine sonstige Beschränkung in Form einer unterschiedslos anwendbaren Maßnahme gegeben sein, die geeignet ist, Arbeitnehmer davon abzuhalten, eine Be12 BFH v. 5.11.2019 – X R 23/17, BStBl. II 2020, 763, juris Rz. 15. 13 Zu den Folgen einer Kollision näher Schaumburg in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 4.18 ff.

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA | Rz. 31

schäftigung in einem anderen Mitgliedstaat zu suchen. Die auf die aus den Niederlanden stammenden Einnahmen entfallenden Beiträge werden infolge der Abzugsbeschränkung für B weder in Deutschland noch in den Niederlanden berücksichtigt. Hätte B seinen gesamten Arbeitslohn in Deutschland bezogen, wären sie hingegen vollständig abzugsfähig. Zwar sind die Einnahmen in Deutschland steuerbefreit, sie unterliegen aber der Besteuerung in den Niederlanden und wirken zudem über den Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auch in Deutschland noch steuererhöhend. Für Arbeitnehmer wie B ist es somit weniger attraktiv, einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nachzugehen. Die Regelung wirkt sich mithin stärker auf Arbeitnehmer aus, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten und ist somit als Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit einzuordnen.14 cc) Rechtfertigung

Diese Beschränkung könnte aber zulässig sein, wenn sie Situationen betrifft, die objektiv nicht vergleichbar sind oder auf einem zwingenden Grund des Allgemeinwohls beruht.

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(1) Objektiv nicht vergleichbare Situation

Die grenzüberschreitende Situation könnte objektiv nicht mit der Situation eines Steuerpflichtigen mit nur inländischen Einnahmen vergleichbar sein. Die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt ist unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen.15 Der Sonderausgabenabzug für Vorsorgeaufwendungen dient der Garantie der sich aus dem subjektiven Nettoprinzip ergebenden Steuerfreiheit existenzsichernder Aufwendungen unbeschränkt in Deutschland Steuerpflichtiger.16 Dieses Bedürfnis besteht für alle unbeschränkten Steuerpflichtigen gleichermaßen. Die grenzüberschreitende Tätigkeit würde an der Vergleichbarkeit nur dann etwas ändern, wenn der Steuerpflichtige in Deutschland keine nennenswerten steuerpflichtigen Einkünfte hätte und die Vergünstigungen damit faktisch nicht gewährt werden könnten.17 Das ist bei B aufgrund des von der K-GmbH gezahlten Arbeitslohns erkennbar nicht der Fall, sodass kein relevanter Unterschied zu anderen unbeschränkt Steuerpflichtigen und mithin eine objektiv vergleichbare Situation gegeben ist.

30

(2) Zwingende Gründe des Allgemeininteresses Die Beschränkung könnte aber durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. In Betracht kommen dabei insbesondere die anerkannten Gründe der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der Kohärenz des deutschen Besteuerungssystems. 14 Vgl. dazu insgesamt EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, Bechtel, ECLI:EU:C:2017:488, juris Rz. 37 ff. 15 EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, Bechtel, ECLI:EU:C:2017:488, juris Rz. 53 m.w.N. 16 Vgl. BVerfG v. 13.2.2008 – 2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125. 17 EuGH v. 14.2.1995 – C-279/93, Schumacker, ECLI:EU:C:1995:31, juris Rz. 36.

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Rz. 32 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

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Deutschland und die Niederlande haben sich in einem DBA über die Aufteilung der Steuerhoheit für Einkommen geeinigt. Diese Aufteilungsentscheidungen sind zu beachten und ihre Umsetzung kann eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertigen. Hinsichtlich des im Beschäftigungsstaats gezahlten Arbeitslohns wurde ein Besteuerungsrecht des Quellenstaates über diese Einkünfte vereinbart. Dem Quellenstaat wird damit das Besteuerungsrecht zugesprochen, nicht aber gleichzeitig die Pflicht zu Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation des Steuerpflichtigen. Mangels entsprechender Regelung obliegt diese Verantwortung weiterhin dem Wohnsitzstaat, also Deutschland. Die bilaterale Entscheidung zur Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse wird somit auch bei der Gewährung des Sonderausgabenabzugs voll umgesetzt. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es des Abzugsverbots mithin nicht.18

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Eine Rechtfertigung könnte sich somit nur aus Gründen der Kohärenz des deutschen Besteuerungssystems ergeben. Dieser Grund ist vom EuGH für solche Situationen anerkannt, in denen zwischen der betreffenden steuerlichen Vergünstigung und deren Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, wobei die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs anhand des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels beurteilt werden muss.19 Mit dem an die Steuerfreiheit der Einkünfte anknüpfenden Abzugsverbot soll verhindert werden, dass die mit der Verausgabung der Pflichtbeiträge verbundene Minderung der Leistungsfähigkeit doppelt (durch die Steuerfreiheit der Einnahmen und einen Sonderausgabenabzug) berücksichtigt wird.20 Es soll damit das Leistungsfähigkeitsprinzip, das das deutsche Einkommensteuerrecht prägt, umgesetzt werden. Im Fall der Freistellung von Einkünften infolge einer abkommensrechtlichen Vereinbarung muss aber beachtet werden, dass mit der (freiwilligen) Überlassung des Besteuerungsrechts gerade anerkannt wird, dass die Belastungsentscheidung über diese Einkünfte ultimativ vom anderen Staat getroffen wird. Das ändert aber nichts an der Reduzierung der Leistungsfähigkeit durch die Aufwendungen, deren Berücksichtigung nicht dem anderen Staat übertragen wurde. Zudem erkennt Deutschland schon durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts die durch die Einnahmen erhöhte Leistungsfähigkeit auch weiterhin an“. Das Abzugsverbot ist insofern auch nicht für die Kohärenz des deutschen Besteuerungssystems erforderlich.

34

Alternative Lösung: Nähme man hier an, einer der Rechtfertigungsgründe würde grundsätzlich passen, wäre die Prüfung damit noch nicht beendet. Es müsste dann weiter geprüft werden, ob die Regelung auch verhältnismäßig ist. Sie müsste also gemessen an ihrem Ziel (dem Rechtfertigungsgrund) geeignet, erforderlich und angemessen sein.

35

Eine Rechtfertigung der Beschränkung gelingt somit nicht. Es besteht insoweit eine Kollision zwischen europäischem Primärrecht und der deutschen Gesetzeslage. Der

18 Siehe auch EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, Bechtel, ECLI:EU:C:2017:488, juris Rz. 64 ff. 19 EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, Bechtel, ECLI:EU:C:2017:488, juris Rz. 75 m.w.N. 20 BFH v. 5.11.2019 – X R 23/17, BStBl. II 2020, 763, juris Rz. 15.

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Fall 17: BRD, L-BV und DBA | Rz. 39

aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleitete Anwendungsvorrang des Unionsrechts gebietet es insofern, § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h.F. im vorliegenden Fall nicht anzuwenden. c) Ergebnis zu weiteren Aufwendungen und Abzügen Das Abzugsverbot des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG h.F. kann wegen der Unionsrechtswidrigkeit somit hier keine Anwendung finden, sodass für B die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 10 Abs. 4 Satz 4 EStG in voller Höhe als Sonderausgaben anzuerkennen sind.

36

III. Tarif Im Rahmen des Tarifs könnte sich die abkommensrechtliche Freistellung über die Anwendung des Progressionsvorbehalts nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auswirken. Dieser ordnet die Anwendung des Progressionsvorbehalts für die Einkünfte eines in Deutschland unbeschränkt Steuerpflichtigen an, die nach einem Einkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfrei sind. Diese Voraussetzungen sind für die Einkünfte des B aus der Tätigkeit für die L-BV erfüllt, sodass diese zwar nicht in die Bemessungsgrundlage einfließen, aber bei der Ermittlung des auf das zu versteuernde Einkommen anzuwendenden Steuersatzes berücksichtigt werden.

37

Ausscheiden könnte die Anwendung des Progressionsvorbehalts lediglich, wenn auch hierin ein Verstoß gegen europarechtliche Grundfreiheiten liegen würde. Der Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist hier – wie bereits zuvor – eröffnet. Die Anwendung des Progressionsvorbehaltes führt allerdings zur Anwendung desselben Steuersatzes, der sich auch ergeben würde, wenn nur inländische Einkünfte erzielt würden. Insofern wird der grenzüberschreitende Sachverhalt hier nicht schlechter behandelt als der rein inländische, sodass es bereits an einer Beschränkung der Grundfreiheit durch die deutsche Regelung fehlt.21 Es bleibt somit bei der Anwendung des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG.

38

Hinweis: Dass die Steuerbelastung grenzüberschreitender Fälle in der Summe ggf. höher ist als die rein inländischer Fälle, ändert an der Beurteilung nichts. Die Grundfreiheiten gebieten keine Deckelung der Gesamtsteuerbelastung. Maßgeblich ist einzig, ob die einzelne unilaterale Regelung zu einer Benachteiligung des grenzüberschreitenden Falls gegenüber dem rein inländischen Fall führt. Das ist hier nicht der Fall.

39

Es ist vielmehr so, dass die Anwendung des Progressionsvorbehalts die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sichert, indem er verhindert, dass die Verteilung der Einkünfte auf mehrere Staaten zu einem steuerlichen Vorteil führt. Diese Erwägung ist allerdings eine verfassungsrechtliche und keine europarechtliche. Eine ohne den Progressionsvorbehalt ggf. entstehende sog. Inländerdiskriminierung ist europarechtlich unbedenklich.

21 Kuhn/Hagena in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 32b EStG Rz. 11; BFH v. 15.5.2002 – I R 40/01, BStBl. II 2002, 660, juris Rz. 11 ff.

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Rz. 39 | Kapitel 5: Internationales Steuerrecht

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 40

– Schaumburg in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Auflage 2020, Rz. 4.18 ff. – Reimer in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Auflage 2020, Rz. 7.26 ff.; 7.62 ff. – Englisch in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Auflage 2020, Rz. 7.199 ff. – BFH v. 5.11.2019 – X R 23/17, BStBl II 2020, 763 – EuGH v. 22.6.2017 – C-20/16, Bechtel, ECLI:EU:C:2017:488 – Kokott/Ost, EuZW 2011, 496

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Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht Fall 18: Wortklauberei Schwerpunkte: – Prüfung eines Ausgangsumsatzes auf Steuerbarkeit und Steuerfreiheit – Auslegung von Steuerbefreiungsnormen – Maßgeblichkeit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie für das nationale Recht – Grundzüge des Vorsteuerabzugs Bearbeitungszeit: 2 Stunden Schwierigkeitsgrad: einfach

A. Sachverhalt A ist selbständiger Rechtsanwalt in Essen. Im Jahr 02 ist er vom Amtsgericht Bochum zum Betreuer für die in Bochum wohnhafte geschäftsunfähige B bestellt worden. Hierfür erhält er aus dem Vermögen der B eine jährlich vom Gericht festzusetzende Vergütung; die zum Jahresende in 02 abgerechneten Betreuervergütungen beliefen sich auf 1.320 €. Als Betreuer unterliegt A der Aufsicht durch das Amtsgericht und muss dem Amtsgericht gegenüber regelmäßige Vermögensübersichten, Berichte und jährliche Ein- und Ausgabenrechnungen in Bezug auf das Vermögen der B einreichen. Für die Bearbeitung ist anzunehmen, dass in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie folgende fiktive1, bis zum 31.12.01 in das nationale Recht umzusetzende Vorschrift enthalten ist: „Umsatzsteuerfrei sind die staatlichen fürsorgenden und betreuenden Leistungen für hilfsbedürftige Menschen.“

Weiterhin ist davon auszugehen, dass das deutsche Umsatzsteuergesetz in § 4 Nr. 16 UStG eine fiktive2 Regelung enthält, wonach (nur) die fürsorgenden und betreuenden Leistungen der öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und der als gemeinnützig anerkannten privaten Vereine und Gesellschaften umsatzsteuerfrei sind. A ist der Meinung, dass die nationale Regelung im UStG zur Steuerfreiheit von Fürsorge- und Betreuungsleistungen die Richtlinienvorgabe nur ungenügend umsetzt. 1 Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL hat tatsächlich einen anderen Wortlaut. 2 § 4 Nr. 16 UStG hat tatsächlich ebenfalls einen anderen Inhalt.

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Rz. 1 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

Die Einschränkung auf öffentlich-rechtliche Einrichtungen und gemeinnützige private Vereine und Gesellschaften könne der Richtlinie nicht entnommen werden.3 Aufgabe: 1. Wie ist der Sachverhalt in Bezug auf den A umsatzsteuerrechtlich zu behandeln? Gehen Sie davon aus, dass in Bezug auf die Steuerfreiheit der Leistung des A keine weiteren und anderen Aussagen im Umsatzsteuergesetz und der Mehrwertsteuersystemrichtlinie enthalten sind, als die im Sachverhalt genannten. 2. Gehen Sie – unabhängig vom Ergebnis zu 1. – davon aus, dass die Leistung des A umsatzsteuerfrei ist und sich die Steuerfreiheit aus § 4 Nr. 16 UStG ergibt. Hat A aus Leistungen anderer Unternehmer, die im Zusammenhang mit der Betreuungsleistung stehen, einen Vorsteuerabzug? Bearbeitungshinweis: A versteuert seine Umsätze nach vereinbarten Entgelten. Auf andere als die im Sachverhalt genannten Steuerbefreiungsvorschriften ist nicht einzugehen.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundlagenwissen zur Falllösung 1. Prüfungsaufbau für Ausgangsumsätze in der Umsatzsteuerbearbeitung 2

Die Umsatzsteuerklausur ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist die Bearbeitung umsatzsteuerlicher Sachverhalte bereits deswegen für die geprüfte Person gut zu bewältigen, weil im Grundsatz feste Prüfungsschemata vorliegen, an denen man sich „entlanghangeln“ kann. Arbeitet man die im Prüfungsschema enthaltenen Prüfungsschritte konsequent durch, stößt man in großen Teilen der Fallkonstellationen automatisch auf die Probleme, die angesprochen werden sollen. Andererseits sind umsatzsteuerliche Klausuren zeitlich anspruchsvoll, weil häufig eine Vielzahl von Ausgangs- und Eingangsumsätzen zu prüfen sind. Wer hier falsche Prüfungsschwerpunkte setzt, wird Zeitprobleme bekommen. Es ist daher essentiell, dass die Prüfungsschemata für Ausgangsumsätze und Eingangsumsätze nebst den immer wiederkehrenden wenigen Streitständen sicher beherrscht werden und die einschlägigen Normen – insbesondere diejenigen für die Ortsbestimmung – bekannt sind.

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Vorliegend handelt es sich um eine Einstiegsklausur, die lediglich die Prüfung eines Ausgangsumsatzes zum Gegenstand hat und in die umsatzsteuerliche Fallbearbeitung einführen soll. Die Prüfung eines wirtschaftlichen Vorgangs auf seine umsatzsteuerrechtliche Bedeutung lässt sich grundsätzlich in fünf Abschnitte gliedern: Die Steuerbarkeit, die Steuerpflicht, die Höhe der Steuer, den Steuerschuldner und die Steuerentstehung. Hierbei kommt der Prüfung der Steuerbarkeit i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in Klausuren regelmäßig die größte Bedeutung zu. Denn es geht neben 3 Der Fall basiert lose auf der Entscheidung des BFH v. 25.4.2013 – V R 7/11, BStBl. II 2013, 976.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 6

der Unternehmereigenschaft im Schwerpunkt darum, Anzahl, Art und Ort der Leistungen zu bestimmen (siehe die Fälle 19 und 20).4 In dieser Klausur ist im Rahmen der Steuerbarkeit lediglich die Unternehmereigenschaft des A i.S.d. § 2 UStG diskussionsbedürftig.5 Die Prüfung der Steuerpflicht bzw. die Prüfung der Steuerfreiheit erschöpft sich regelmäßig in der Nennung der einschlägigen Steuerbefreiungsnorm i.S.d. §§ 4, 4b UStG oder im Fall der Steuerpflicht in der Nennung des Steuersatzes nebst Norm (7 % oder 19 %, § 12 UStG).6 Dieser Prüfungspunkt bildet in der hiesigen Aufgabe allerdings den Schwerpunkt des Falles, schließlich ist zu beurteilen, inwieweit die Regelungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zur Steuerfreiheit auf die deutschen Regelungen einwirken. Ist die Leistung steuerpflichtig, ist im Anschluss die Bemessungsgrundlage gem. § 10 UStG zu bestimmen und die Höhe der Umsatzsteuer durch Multiplikation der Bemessungsgrundlage mit dem Steuersatz zu ermitteln.7 Hinweis: Wir empfehlen, den Steuersatz vor der Bemessungsgrundlage im Gutachten zu prüfen. Denn § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG ermittelt die Bemessungsgrundlage nach dem Entgelt, welches wiederum alles ist, was den Wert der Gegenleistung bildet, jedoch abzüglich der gesetzlich geschuldeten Umsatzsteuer. Ohne Steuersatz kann an dieser Stelle folglich die Bemessungsgrundlage nicht ermittelt werden. Die Berechnung der Bemessungsgrundlage erfolgt bei einem Steuersatz von 7% durch Division des Entgeltbetrages durch 1,07, im Fall eines Steuersatzes von 19% durch Division des Entgeltbetrages durch 1,19.

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Steuerschuldnerschaft (§ 13a UStG) und Steuerentstehung (§ 13 UStG) bereiten in der Fallbearbeitung grundsätzlich wenige Probleme.8 Lediglich dann, wenn Fälle vorliegen, in denen der Leistungsempfänger Steuerschuldner ist (§ 13b UStG, sog. reverse charge-Verfahren, siehe Fall 19), ist eine fundierte Arbeit mit dem Katalog des § 13b Abs. 2 UStG und dem korrespondierenden § 13b Abs. 5 UStG erforderlich.9

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Hinweis: Kommt die Bearbeitung – wie im vorliegenden Fall – zu dem Ergebnis, dass die Leistung steuerfrei ist, ist eine weitere Prüfung grundsätzlich entbehrlich. Manche Klausurtypen (etwa in der Ausbildung der Finanzbeamten des gehobenen Dienstes in der Finanzverwaltung oder bei der Steuerberaterprüfung) verlangen hingegen zusätzlich noch die Angabe, für welchen Veranlagungszeitraum die steuerfreie Leistung gem. § 13 UStG analog i.V.m. § 18 Abs. 1 UStG und mit welchem Wert (§ 10 UStG) sie anzumelden ist.

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4 Ausführlich Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.84 ff. 5 Siehe zu den Einzelheiten des Unternehmerbegriffs Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.33 ff. 6 Zu den Steuerbefreiungen ausführlich Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.195 ff.; zu den Steuersätzen Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.272 ff. 7 Siehe zur Bemessungsgrundlage Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.243 ff. 8 Siehe wiederum im Einzelnen Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.282 ff., 17.31 f. 9 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.72 ff.

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Rz. 7 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

2. Ausstrahlung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie auf das nationale Recht 7

Rechtsgrundlage für das deutsche Umsatzsteuerrecht sind zwar die Regelungen im Umsatzsteuergesetz und in der Umsatzsteuerdurchführungsverordnung, die nationalen Regelungen sind aber durch das Unionsrecht besonders geprägt.10 Art. 113 AEUV fordert eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer innerhalb der Europäischen Union, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts sowie die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Diese Harmonisierung ist auf Ebene der Europäischen Union durch die Mehrwertsteuersystemrichtlinie umgesetzt worden.11 Anders als eine Verordnung, die gem. Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat Wirkung entfaltet, gilt die Richtlinie nicht direkt für den einzelnen Bürger in der Europäischen Union, sondern gibt den Mitgliedstaaten gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV die zu erreichenden Ziele verbindlich vor, überlässt ihnen jedoch – soweit überhaupt ein Spielraum besteht12 – die Wahl hinsichtlich Form und Mittel der Umsetzung. Die nationalen Umsatzsteuergesetze sind gem. Art. 291 Abs. 1 AEUV richtlinienkonform auszugestalten, wobei eine Umsetzungsfrist einzuhalten ist. Doch nicht nur der Gesetzgeber ist gehalten, die Gesetze richtlinienkonform zu gestalten. Aus der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 288 Abs. 3 AEUV resultiert, dass auch die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte das deutsche Umsatzsteuerrecht möglichst richtlinienkonform auslegen und anwenden müssen.13 Soweit die Umsetzung einer Richtlinienvorgabe wie im vorliegenden Fall in Zweifel steht, ist in der Klausur daher zunächst stets an die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu denken. Methodisch, aber auch zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Souveränität, genießt die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts Vorrang vor einer möglichen – siehe dazu noch sogleich – unmittelbaren Anwendung der Richtlinie.14 Denn wenn das deutsche Recht bereits richtlinienkonform ausgelegt werden kann, ist die Richtlinie hinreichend in nationales Recht umgesetzt, sodass es einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie nicht mehr bedarf.

8

Hinweis: Es handelt sich bei der richtlinienkonformen Auslegung, ähnlich wie bei der grundrechtskonformen Auslegung, um keine eigenständige Auslegungsmethode. Sie fordert lediglich, dass bei divergierenden Auslegungsergebnissen nach den klassischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Historie, Sinn und Zweck) derjenigen Auslegungsmethode der Vorzug gewährt wird, nach der die Norm nicht als unionsrechtswidrig einzustufen ist.15

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Obwohl dies in Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht explizit vorgesehen ist, kann eine Richtlinie aber unter Umständen nämlich direkt und unmittelbar für und auf den einzel10 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.4 ff. 11 Zur Entwicklung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.6 f. 12 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 4.30. 13 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 4.31. 14 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 4.33 m.w.N.; Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 13.14 ff. 15 BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, BStBl. II 2013, 712 juris Rz. 17 f.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 11

nen Bürger Anwendung finden.16 Voraussetzung ist allerdings, dass die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, ohne dass eine hinreichende Umsetzung der Richtlinie erfolgt ist. Die Richtlinie muss ferner hinreichend klar formuliert sowie unbedingt sein, sodass dem nationalen Gesetzgeber kein Ermessensspielraum dahingehend zusteht, wie die Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen ist.17 Grundsätzlich ist eine unmittelbare Anwendung nur zugunsten des Steuerpflichtigen und im Verhältnis zum jeweiligen Mitgliedstaat möglich.18 Diese Prüfungsschritte und ihre Reihenfolge sind im hiesigen Fall unter Arbeit mit den fiktiven Steuerbefreiungsnormen umzusetzen und stellen die Grundlage für die Fallbearbeitung im Mehrebenensystem der Umsatzsteuer dar. 3. Grundzüge der Prüfung des Vorsteuerabzugs Der Unternehmer kann unter bestimmten Voraussetzungen, die in § 15 Abs. 1 UStG abschließend aufgezählt sind, einen Vorsteuerabzug geltend machen.19 Hiervon gibt es allerdings Ausnahmen und Rückausnahmen, die in § 15 Abs. 1a bis 3 UStG geregelt sind. In der vorliegenden Fallbearbeitung sind die Ausnahmen des Vorsteuerabzugs für Eingangsleistungen, die für steuerfreie Ausgangsumsätze i.S.d. § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG verwendet werden, anzusprechen. Zu prüfen ist insbesondere, ob die Rückausnahme i.S.d. § 15 Abs. 3 Nr. 1 UStG einschlägig ist.

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II. Anforderungsprofil Aufgabe 1 sollte eine deutlich höhere Gewichtung in der Falllösung zukommen, da hier die wesentlichen Probleme des Falles liegen. Bereits die Tatsache, dass der (fiktive) Inhalt der Mehrwertsteuersystemrichtlinie und des Umsatzsteuergesetzes im Sachverhalt wiedergegeben ist, macht deutlich, dass der Auseinandersetzung mit diesen Normen in der Bearbeitung eine große Bedeutung beizumessen ist. Gute Bearb. heben sich insbesondere dadurch ab, dass sie die nationale Regelung und die europarechtlichen Vorgaben in der Fallprüfung voneinander trennen und die abgedruckten Regelungen bei der Steuerbefreiung nach dem nationalen Recht bzw. bei der unmittelbaren Anwendung der MwStSystRL methodisch strukturiert auslegen. Hilfreich für die Argumentation, ob der A „staatliche Leistungen“ im Sinne der Richtlinie erbringt, sind die Angaben im Sachverhalt zur nachgelagerten Kontrolle des Betreuers 16 Grundlegend EuGH v. 4.12.1974 – 41/74, juris Rz. 9 ff.; EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 u.a. juris Rz. 47 ff.; siehe auch Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 13.12 f. 17 Einzelheiten m.w.N. auf die einschlägige EuGH-Rechtsprechung bei Englisch in Tipke/ Lang, Steuerrecht24, Rz. 4.33; Kofler in Schaumburg/Englisch2, Europäisches Steuerrecht Rz. 13.13. 18 Es sind jedoch Wechselwirkungen zu beachten, wenn etwa die Behandlung einer Leistung als steuerbar und steuerpflichtig grundsätzlich für den Steuerpflichtigen nachteilig ist, aber auf der anderen Seite die Möglichkeit eröffnet, Vorsteuerabzug geltend machen zu können. Zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinie lediglich auf das Verhältnis von Mitgliedstaat und Bürger siehe EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01, juris Rz. 103; v. 14.7.1994 – C-91/92, juris Rz. 24. 19 Siehe insgesamt zum Vorsteuerabzug Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.307 ff.

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Rz. 11 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

durch das Gericht. Wer an dieser Stelle zusätzlich noch die relevanten Vorschriften aus dem Zivilrecht (§§ 1896 ff. BGB) zur Bestellung und Abberufung von Betreuern kennt und verwertet, hat nicht nur deutlich wertigeres Argumentationspotential, sondern hebt sich bei der Bewertung nochmals positiv ab. 12

In Aufgabe 2 erschöpft sich die Bearbeitung aufgrund der abstrakt gehaltenen Aufgabenstellung in einer allgemeinen Darstellung der einschlägigen Regelungen zum Vorsteuerabzug unter der Prämisse einer nach § 4 Nr. 16 UStG steuerfreien Ausgangsleistung. Die Aufgabe hat damit lediglich die didaktische Funktion, dass sich die Bearb. die Grundlagen des Vorsteuerabzugssystems und seine ausformulierte Prüfung in der Klausur verdeutlichen.

C. Gliederung 13

Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden: I. Aufgabe 1 1. Steuerbarkeit der Leistung 15 a) Unternehmereigenschaft 16 aa) Nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen 20 bb) Selbständigkeit 22 cc) Ergebnis 25 b) Lieferung oder sonstige Leistung 27 c) Im Inland 28 d) Gegen Entgelt 29 e) Im Rahmen des Unternehmens 34 f) Ergebnis Steuerbarkeit 36 2. Steuerfreiheit und Steuerpflicht 37 a) Steuerfreiheit nach nationalem Recht 38 aa) Wortlaut und Sinn und Zweck 39 bb) Richtlinienkonforme Auslegung 40 cc) Rechtsfortbildung 41 b) Unmittelbare Wirkung der Richtlinie 42 aa) Aussage der Mehrwertsteuersystemrichtlinie 43 bb) Abgelaufene Umsetzungsfrist 44 cc) Unbedingte Wirkung 45

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 18

dd) Hinreichend konkret und klar formuliert 46 ff)Ergebnis 47 3. Ergebnis 48 II. Aufgabe 2 51

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, wie der Sachverhalt für den A umsatzsteuerrechtlich zu beurteilen ist. Fraglich ist dabei insbesondere, ob A für die Betreuungsleistungen Umsatzsteuer schuldet. Dazu müsste eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung vorliegen. Zudem müsste A Schuldner der Umsatzsteuer sein.

14

I. Aufgabe 1 1. Steuerbarkeit der Leistung Die Betreuung der B durch A ist dann gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar, wenn sie eine Leistung darstellt, die A als Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens gegen Entgelt im Inland ausgeführt hat.

15

a) Unternehmereigenschaft A müsste also Unternehmer i.S.d. Umsatzsteuergesetzes sein. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1, 3 UStG ist Unternehmer, wer eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen selbständig ausübt.

16

Hinweis: Eine Prüfung der abstrakten Unternehmerfähigkeit20 kann u.E. in der Fallbearbeitung im Regelfall unterbleiben, wenn der Sachverhalt insoweit nicht explizit Probleme aufwirft.

17

Eine natürliche oder juristische Person kann jeweils nur ein umsatzsteuerliches Unternehmen haben und ist auch nur einmal umsatzsteuerlicher Unternehmer bzw. umsatzsteuerliche Unternehmerin. Das bedeutet, dass mehrere Tätigkeiten einer Person, die für sich betrachtet die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1, 3 UStG erfüllen, in einem umsatzsteuerlichen Unternehmen vereinigt werden. Erfüllt A hier neben der Tätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt auch für die Tätigkeit als Betreuer die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 1, 3 UStG, hat der A ein umsatzsteuerliches Unternehmen, das sich aus beiden Tätigkeiten zusammensetzt.

Der Unternehmerbegriff des UStG ist ein Typusbegriff.21 Das bedeutet, dass nicht sämtliche Merkmale des § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG in gleicher Ausprägung vorhanden bzw. erfüllt sein müssen. Voraussetzung ist lediglich, dass das Gesamtbild dem eines „typischen Unternehmers“ entspricht. Einzelne Merkmale können daher schwächer 20 Siehe im Einzelnen Englisch, in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.35 f. 21 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.33.

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Rz. 18 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

oder stärker ausgeprägt sein. Der Merkmalkatalog des § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG hat auch keinen abschließenden Charakter, kann also im Einzelfall um besondere Ausprägungen des Lebenssachverhaltes ergänzt werden. 19

Hinweis: Typusbegriffe sind – trotz aller Kritik22 – in verschiedenen Steuerarten verankert. „Populär“ und auch in diesem Buch behandelt sind die Typusbegriffe des „Unternehmers“ i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 1 EStG (der strikt vom Unternehmer i.S.d. UStG getrennt werden muss), des „Mitunternehmers“ i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG (siehe dazu Fall 11) und des Arbeitnehmers i.S.d. § 19 Abs. 1 EStG (siehe dazu Fall 9). Steht ein Typusbegriff infrage, sind in der Fallbearbeitung zunächst die verschiedenen Merkmale sorgfältig zu definieren. Es schließt sich dann – analog zu Tatbestandsmerkmalen – die Subsumtion des Sachverhaltes unter die Merkmale an. Schwerpunkt der Arbeit mit einem Typusbegriff ist in einem letzten Schritt stets die Abwägung der verschiedenen Merkmale unter Beachtung des Gesamtbildes.

aa) Nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen 20

A ist im vorliegenden Fall als Rechtsanwalt und Betreuer tätig. Er erhält als Rechtsanwalt Honorare von seinen Mandanten und als Betreuer eine Vergütung aus dem Vermögen des Betreuten, sodass Einnahmen vorliegen und eine Einnahmeerzielungsabsicht unterstellt werden kann. A übt die Tätigkeit als Rechtsanwalt und Betreuer auch planmäßig, dauerhaft und gegenüber verschiedenen Leistungsempfängern aus, sodass er insoweit auch nachhaltig tätig wird.23

21

Hinweis: Dass A Gewinne erwirtschaftet, ist zwar bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes wahrscheinlich, ist aber im Gegensatz zur Einkunftserzielungsabsicht im Einkommensteuerrecht gem. § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG a.E. keine Voraussetzung für die Unternehmereigenschaft i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG und wird in Klausuren oft falsch gemacht. Es zeugt von mangelndem Systemverständnis, den einkommensteuerrechtlichen Unternehmer i.S.d. § 15 EStG und den umsatzsteuerlichen Unternehmer i.S.d. § 2 UStG miteinander zu vermengen.

bb) Selbständigkeit 22

A müsste auch selbständig tätig sein, was im Rückkehrschluss zu § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG dann der Fall ist, wenn A in der Organisation seiner Tätigkeit frei und nicht durch Eingliederung in ein Unternehmen derart abhängig ist, dass er den Weisungen des Unternehmers zu folgen verpflichtet ist.

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In der Organisation seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ist A frei darin zu entscheiden, welche Mandanten er berät und wie er diese Beratungsverhältnisse ausgestaltet. Er ist dabei nicht erkennbar weisungsabhängig oder sonstig in Arbeitsabläufe eingegliedert und damit selbständig i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG. 22 Siehe etwa Florstedt, StuW 2007, 314. 23 Siehe zu den Merkmalen der Nachhaltigkeit Heber in Wäger, § 2 UStG Rz. 51 ff.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 28

Fraglich ist, ob A auch als Betreuer selbständig ist. Dagegen spricht zunächst, dass A der Aufsicht des Amtsgerichts unterliegt und regelmäßig Übersichten, Berichte und jährliche Ein- und Ausgabenrechnungen in Bezug auf das Vermögen der B einreichen muss. A obliegt mithin eine Rechenschaftspflicht. Allerdings trifft A eigene Entscheidungen darüber, wie er die Betreuungsleistung erfüllt, insbesondere wo und zu welchen Zeiten er arbeitet. Es ist ihm zudem selbst überlassen, welche Betreuungshandlungen und -maßnahmen er im Einzelnen in die Wege leitet. Das Aufsichtsrecht des Amtsgerichts ist dazu nur nachgelagert; d.h. A hat nur repressive Maßnahmen zu fürchten und ist somit in seiner Arbeit weisungsfrei. Auch ist er organisatorisch nicht in das Amtsgericht integriert, sodass die Tätigkeit als Betreuer als selbständig anzusehen ist.

24

cc) Ergebnis A ist folglich Unternehmer i.S.v. § 2 Abs. 1 UStG. Das Unternehmen umfasst gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 UStG seine gesamte Tätigkeit als Rechtsanwalt und Betreuer.

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Hinweis: In der Bearbeitung ist es selten, dass die Unternehmereigenschaft des zu prüfenden Subjekts problematisch und ernsthaft zu verneinen ist. Die Folge wäre nämlich, dass die Hauptbearbeitung bereits an dieser Stelle enden würde und im Rahmen eines Hilfsgutachtens weiter zu prüfen wäre. Dennoch raten wir dazu, in umsatzsteuerlichen Sachverhalten die Augen nach Hinweisen offen zu halten, die im konkreten Fall gegen eine Unternehmereigenschaft sprechen könnten.

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In Mehrpersonenkonstellationen kann es aber durchaus vorkommen, dass einzelne Subjekte kein Unternehmer oder Kleinunternehmer i.S.d. § 19 UStG sind.

b) Lieferung oder sonstige Leistung A könnte durch die Betreuung des B eine sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG erbracht haben. Eine sonstige Leistung ist danach jede Leistung, die keine Lieferung ist. Eine Leistung ist jede Verschaffung eines Vorteils an einen individualisierbaren Leistungsempfänger.24 A betreut hier die B und ihr Vermögen und wendet ihr so einen wirtschaftlichen Vorteil zu, der es ihr u.a. ermöglicht, am rechtsgeschäftlichen Verkehr teilzunehmen. Eine Leistung liegt somit vor. Eine Lieferung verlangt gem. § 3 Abs. 1 UStG stets die Verschaffung der Verfügungsmacht an einem Gegenstand. Hier verschafft A durch die Betreuung des B und seines Vermögens keine Verfügungsmacht an einem Gegenstand, sondern er erbringt an die B eine Dienstleistung. Damit stellt die von A an B mit der Betreuung erbrachte Leistung eine sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG dar.

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c) Im Inland A müsste die Betreuungsleistung auch im Inland erbringen. Dazu ist der Ort der Leistung zu bestimmen. Gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG sind für die Ortsbestim24 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.88.

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Rz. 28 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

mung vorrangig die §§ 3b, 3e, 3a Abs. 2 bis 8 UStG anzuwenden, von denen allerdings keine Norm ernsthaft in Betracht kommt. Damit verbleibt nur noch die allgemeine Ortsbestimmung gem. § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG, nach der der Ort der sonstigen Leistung dort liegt, von wo aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Dies ist hier der Ort der Rechtsanwaltskanzlei des A in Essen. Damit liegt der Ort der Leistung im Inland. d) Gegen Entgelt 29

Die Betreuungsleistung müsste auch im Leistungsaustausch gegen Entgelt erfolgen. Entgelt ist jede Gegenleistung des Leistungsempfängers oder eines Dritten, die kausal durch die Leistung veranlasst ist und in einem unmittelbaren Zusammenhang i.S.e. inneren Verknüpfung mit der Leistung steht.25

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A erhält aus dem Vermögen der B einen jährlichen Betrag von 1.320 Euro, der dazu dient, seine gegenüber der B erbrachte Betreuungsleistung zu vergüten. Die Zahlung stellt somit eine Gegenleistung für die Betreuung der B durch den A dar und steht mit ihr somit in einem unmittelbaren Zusammenhang.

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Allerdings könnte eine fehlende Freiwilligkeit der Zahlung von Seiten der B einem Leistungsaustausch im Weg stehen. Denn B wird hier nicht auf ihre eigene Entscheidung hin, sondern aufgrund einer Anordnung des Amtsgerichts durch A betreut. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG spricht allerdings dafür, dass auch in solchen Fällen trotz fehlender initialer Freiwilligkeit ein Leistungsaustausch vorliegen kann. Ebenso enthalten Art. 25 Buchst. b und c MwStSystRL verschiedene Konstellationen, in denen eine Freiwilligkeit der Leistungserbringung gerade nicht vorliegt, die aber dennoch steuerbare Dienstleistungen darstellen. Entsprechendes wird man konsequenterweise für die Gegenleistung annehmen müssen,26 sodass eine ggf. fehlende Freiwilligkeit für die Steuerbarkeit unbeachtlich ist.

32

Damit liegt eine Leistung gegen Entgelt und damit ein Leistungsaustausch vor.

33

Hinweis: Das „Entgelt“ in § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG hat den Zweck, die Verknüpfung zwischen Leistung und Gegenleistung derart herzustellen, dass zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Verhältnis besteht, in dem eine Leistung kausal für eine Gegenleistung hingegeben wird.27 Es ist folglich Merkmal zur Prüfung eines Leistungsaustausches. Dieses Verständnis des „Entgeltes“ hat nichts mit dem „Entgelt“ i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG zu tun, das lediglich als Rechengröße für die Bemessung der Umsatzsteuer dient und abweichend vom Sprachgebrauch lediglich einen Nettowert meint.28 Es ist daher u.E. zu vermeiden, in der Steuerbarkeit mit § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG zu argumentieren.

25 26 27 28

Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.121 f. Ebenso Stadie3, § 1 UStG Rz. 47. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.121. Zutreffend Stadie3, § 1 UStG Rz. 74.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 39

e) Im Rahmen des Unternehmens A müsste die Betreuung im Rahmen seines Unternehmens erbringen. Dieses setzt sich zusammen aus Haupt-, Neben- und Hilfsgeschäften. Hauptgeschäfte sind die Tätigkeiten, die die Unternehmereigenschaft i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG begründen. Die Betreuung geschäftsunfähiger Personen hat hier gemeinsam mit der Tätigkeit als Rechtsanwalt die Unternehmereigenschaft des A begründet (siehe die Prüfung oben Rz. 16 ff.), sodass diese als Hauptgeschäft erbracht werden. Folglich handelt A bei der Betreuung des B im Rahmen seines Unternehmens.

34

Alternative Lösung: Es wäre auch vertretbar, die Unternehmertätigkeit des A i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG oben lediglich auf seine Tätigkeit als Rechtsanwalt zu beschränken und die Betreuung sodann als Nebengeschäft einzuordnen. Ein solches wird typischerweise nicht im Rahmen des eigentlichen Geschäftsbetriebs ausgeübt, hängt aber mit der Haupttätigkeit dadurch zusammen, dass der Steuerpflichtige für die Erbringung des Nebengeschäftes auf die Kenntnisse und Erfahrungen aus seiner Haupttätigkeit zurückgreift.29

35

f) Ergebnis Steuerbarkeit Damit ist die Betreuung der B durch A gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar.

36

2. Steuerfreiheit und Steuerpflicht Der steuerbare Umsatz des A ist steuerpflichtig, wenn der Umsatz nicht von der Steuer gem. § 4 UStG befreit ist.

37

a) Steuerfreiheit nach nationalem Recht Eine Steuerfreiheit der Betreuungsleistung des A könnte sich hier aus § 4 Nr. 16 UStG ergeben.

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aa) Wortlaut und Sinn und Zweck Nach der hier zugrunde zu legenden Fassung des § 4 Nr. 16 UStG sind nur die fürsorgenden und betreuenden Leistungen der öffentlichen Einrichtungen und der als gemeinnützig anerkannten privaten Vereine und Gesellschaften steuerfrei. A erbringt mit seiner Betreuungsleistung zwar eine betreuende Leistung i.S.d. Vorschrift, allerdings ist er weder eine öffentlich-rechtliche Einrichtung noch ein privater Verein. Nach dem Wortlaut käme eine Steuerfreiheit für A also nicht in Betracht. Selbst wenn man das Telos hinzuzieht, dass die Betreuung von geeigneten Personen nicht mit Umsatzsteuer belastet sein soll, ist eine andere Auslegung bei einem derartigen aufzählungsmäßig abgeschlossenen Gesetzestext aufgrund der Wortlautgrenze nicht möglich.

29 Siehe dazu Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.148.

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Rz. 40 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

bb) Richtlinienkonforme Auslegung 40

Die Souveränität der Mitgliedstaaten macht es erforderlich, zunächst danach zu fragen, ob § 4 Nr. 16 UStG richtlinienkonform ausgelegt werden kann. Dabei entsteht durch die richtlinienkonforme Auslegung kein neues Auslegungsergebnis. Die Richtlinie gibt bei verschiedenen Auslegungsergebnissen dasjenige als maßgebend vor, welches der Richtlinie zur wirksamsten Umsetzung verhilft, findet seine Grenze aber in den Ergebnissen der klassischen Auslegungsmethoden. Wie festgestellt, lässt hier der Wortlaut des § 4 Nr. 16 UStG eine Auslegung, die zu einer Steuerbefreiung für A führt, nicht zu. Folglich ist auch unter diesem Gesichtspunkt die Betreuungsleistung des A nach nationalem Recht nicht von der Umsatzsteuer befreit. cc) Rechtsfortbildung

41

Es könnte aber eine analoge Anwendung des § 4 Nr. 16 UStG für A im hiesigen Fall in Betracht kommen. Für eine Analogie zugunsten des A müsste eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage vorliegen. Der Gesetzgeber hat durch die Aufzählung der für die Steuerbefreiung in Betracht kommenden Leistenden in § 4 Nr. 16 UStG einen abschließenden Willen gebildet. Die offenkundige Möglichkeit, dass Einzelpersonen derartige Betreuungsleistungen erbringen, hat er dabei bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes erkannt, wollte diese aber von der Steuerbefreiung ausschließen. Zwar ist dem Gesetzgeber grundsätzlich der widerlegbare Wille zu unterstellen, europäische Richtlinien entsprechend Art. 288 Abs. 3; 291 Abs. 1 AEUV vollständig und richtig umzusetzen. Allerdings kann bei einer ausdrücklichen Formulierung – wie sie hier mit § 4 Nr. 16 UStG vorliegt – davon ausgegangen werden, dass dieser Wille beim Gesetzgeber nicht bestand und damit ebenfalls eine planwidrige Regelungslücke nicht gegeben ist.30 b) Unmittelbare Wirkung der Richtlinie

42

Fraglich ist, ob sich A für die Steuerfreiheit auf die für ihn günstigere Richtlinie berufen kann. Dies kommt nur dann in Betracht, wenn die Richtlinie, deren Ziel gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Staat verbindlich ist, nicht in das nationale Recht umgesetzt worden ist. Außerdem müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss die Richtlinie vom Mitgliedstaat nicht innerhalb der vorgegebenen Frist umgesetzt sein. Zweitens muss die Richtlinie für den A unbedingte Wirkung entfalten und drittens hinreichend konkret und klar formuliert sein. aa) Aussage der Mehrwertsteuersystemrichtlinie

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Nach der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, die hinsichtlich des zu erreichenden Ziels gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV innerhalb einer Umsetzungsfrist verbindlich innerstaatlich umzusetzen ist, sind alle Umsätze steuerfrei, die staatliche fürsorgende und be30 Str., insb. in Bezug auf eine Rechtsfortbildung aufgrund dem nationalen Recht widersprechenden Unionsrechts – vgl. dazu Roth/Jopen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre4, § 13 insb. Rz. 39 ff. und 49 ff.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 45

treuende Leistungen für hilfsbedürftige Menschen zum Gegenstand haben. B ist als geschäftsunfähige Person hilfsbedürftig i.S.d. Richtlinie. A erbringt eine Betreuungsleistung. Fraglich ist, ob es sich um eine staatliche fürsorgende und betreuende Leistung handelt. Dies ist nicht erst dann gegeben, wenn der Staat durch eigene Institutionen entsprechende Leistungen erbringt. Ausreichend ist, dass die Leistungserbringung auf einen staatlichen Akt zurückgeht und in gewissem Umfang von staatlicher Seite aus kontrolliert wird. Es ist nicht überzeugend, danach zu differenzieren, ob der Staat etwa Betreuungsaufgaben durch eigene Rechtspfleger wahrnimmt oder hierfür selbständige Wirtschaftsteilnehmer beauftragt, denn wirtschaftlich sind die so erbrachten Leistungen identisch. Gem. § 1897 Abs. 1 BGB bestellt das Betreuungsgericht eine natürliche Person, die geeignet ist, in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen und ihn in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen, zum Betreuer. Das Gericht entlässt den Betreuer gem. § 1908b Abs. 1 BGB, wenn seine Eignung, die Angelegenheiten des Betreuten zu besorgen, nicht mehr gewährleistet ist oder ein anderer wichtiger Grund für die Entlassung vorliegt. Hier hat das Amtsgericht den A gerichtlich qua Hoheitsakt gem. §§ 1896 Abs. 1 Satz 1; 1897 Abs. 1 BGB bestellt, die Betreuung der B zu übernehmen. Das Gericht kontrolliert den A zudem retrospektiv und stellt ihn in der Weise unter Aufsicht, dass er regelmäßig Vermögensübersichten, Berichte und dergleichen einreichen muss. Stellt es Mängel fest, kann es den A als Betreuer gem. § 1908b Abs. 1 BGB entlassen. Damit ist die Leistung des A als staatlich kontrolliert anzusehen – ohne dem A seine Selbständigkeit i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG zu nehmen –, sodass es sich bei der Betreuungsleistung des A um eine „staatliche“ betreuende Leistung i.S.d. Richtlinie handelt. Nach der Mehrwertsteuersystemrichtlinie ist die Leistung des A also von der Umsatzsteuer befreit. bb) Abgelaufene Umsetzungsfrist Die Umsetzungsfrist ist am 31.12.01 abgelaufen, sodass – wie bereits festgestellt – im Jahr 02 die Richtlinie nicht hinreichend umgesetzt ist.

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cc) Unbedingte Wirkung Eine Unionsvorschrift ist unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Union oder der Mitgliedstaaten bedarf.31 Hier bestimmt die Richtlinie ohne weitere Voraussetzungen die Steuerbefreiung von staatlichen Betreuungsleistungen auch von Privatpersonen. Einer weiteren mitgliedstaatlichen oder unionalen Maßnahme bedarf sie zu ihrer Wirksamkeit nicht und es sind auch keine Wahlmöglichkeiten bei der Umsetzung eingeräumt, sodass die Regelung unbedingte Wirkung für A entfaltet.

31 Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 13.13.

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Rz. 46 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

dd) Hinreichend konkret und klar formuliert 46

Eine Richtlinie ist dann hinreichend konkret und klar formuliert, wenn sie in eindeutigen Worten eine Verpflichtung festlegt und so von einem Einzelnen in Anspruch genommen und von einem Gericht angewendet werden kann.32 Die Norm muss mithin self-executing sein. Aus dem Wortlaut der Richtlinie geht lt. dem Sachverhalt eindeutig hervor, dass Betreuungsleistungen, deren staatlicher Ursprung erkennbar ist, steuerbefreit sein sollen. Eine Beschränkung auf bestimmte Personengruppen besteht nicht. Tatbestand und Rechtsfolge der Norm sind so bestimmt, dass ein Gericht die Tätigkeit des A ohne Weiteres unter den Tatbestand der Norm (staatliche Betreuungsleistung) subsumieren und die Rechtsfolge (Steuerfreiheit) bestimmen kann. Damit ist die streitgegenständliche Vorschrift der Richtlinie hinreichend konkret und klar formuliert. ff) Ergebnis

47

Folglich kann sich A auf die für ihn günstigere Regelung in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie berufen. Die Betreuungsleistung des A ist mithin steuerfrei. 3. Ergebnis

48

Die von A erbrachte Betreuungsleistung ist in 02 zwar umsatzsteuerbar, aber umsatzsteuerfrei.

49

Alternative Lösung: Soweit hier das Ergebnis vertreten wird, dass die von A erbrachte Betreuungsleistung steuerpflichtig ist, ist eine Auseinandersetzung mit dem Steuersatz, der Bemessungsgrundlage, der Steuerschuldnerschaft und der Steuerentstehung wie folgt notwendig: Mangels Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes i.S.d. § 12 Abs. 2 UStG ist die Leistung des A gem § 12 Abs. 1 UStG zu 19% steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage beträgt gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG 1.109,24 Euro (1.320 Euro geteilt durch 1,19). Die Umsatzsteuer i.H.v. 210,76 Euro entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungsausübung beendet ist. Steuerschuldner ist gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG der A.

50

Hinweis: In der Praxis sind auch steuerfreie Leistungen anzumelden. Gerade, wenn es um einen solchen Fall wie hier geht, müsste man auch darüber nachdenken, ob der A nicht sogar verpflichtet ist, der Finanzbehörde mitzuteilen, dass er hier vom nationalen Gesetz abweicht und sich für die Steuerfreiheit auf die MwStSysRL beruft.

32 Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht2, Rz. 13.13.

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Fall 18: Wortklauberei | Rz. 55

II. Aufgabe 2 Ein Vorsteuerabzug für Leistungen anderer Unternehmer ist unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG möglich. Dies erfordert, dass für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für das Unternehmen des A ausgeführt worden sind, eine gesetzlich geschuldete (Umsatz-) Steuer entstanden ist. Nach der Aufgabenstellung stehen die bezogenen Leistungen im Zusammenhang mit den Ausgangsumsätzen, sodass ein Bezug der Leistungen für das Unternehmen anzunehmen ist. Mangels weiterer Angaben zu den Eingangsumsätzen ist davon auszugehen, dass es sich um steuerbare und steuerpflichtige Leistungen handelt, eine deutsche Umsatzsteuer gesetzlich entstanden ist und eine Rechnung i.S.d. §§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2; 14, 14a UStG vorliegt.

51

Hinweis: Das in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG enthaltene Rechnungserfordernis als Voraussetzung für einen Vorsteuerabzug ist nach jüngerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs richtlinienwidrig.33

52

Ein Vorsteuerabzug kommt gleichwohl gem. § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG nicht in Betracht, wenn die Eingangsumsätze für steuerfreie Ausgangsumsätze verwendet werden. Hier stehen die Eingangsleistungen im Zusammenhang mit Ausgangsleistungen, die gem. § 4 Nr. 16 UStG steuerfrei sind. Ein Vorsteuerabzug scheidet folglich aus, wenn nicht eine Rückausnahme i.S.d. § 15 Abs. 3 Nr. 1 UStG einschlägig ist. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG kann ein Vorsteuerabzug trotz damit im Zusammenhang stehender steuerfreier Ausgangsleistungen dennoch geltend gemacht werden, wenn die Ausgangsleistungen gem. §§ 4 Nr. 1 bis 7; 25b Abs. 2 UStG oder nach den in § 26 Abs. 5 UStG bezeichneten Vorschriften steuerfrei sind. Eine solche Steuerbefreiung liegt hier mit § 4 Nr. 16 UStG gerade nicht vor, sodass diese Rückausnahme nicht einschlägig ist. Gleiches gilt für die Rückausnahme nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b UStG, die steuerfreie Ausgangsumsätze i.S.d. § 4 Nr. 8, 10 oder 11 UStG fordert, die hier mit § 4 Nr. 16 UStG nicht vorliegen.

53

Ein Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen, die im Zusammenhang mit der Betreuungsleistung des A stehen, ist somit ausgeschlossen.

54

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung Grundlagenwissen:

55

– Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Rz. 4.30 ff., 17.33 ff. – Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Auflage 2020 Rz. 13.1 ff., Rz. 19.250 ff. – Koemm, Grundzüge des Umsatzsteuerrechts, JuS 2013, 690 33 Eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung findet sich bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.342.

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Rz. 55 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

Vertiefung: – Kühling, Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Öffentlichen Recht, JuS 2014, 481 – Heidner, Richtlinienkonforme Auslegung von Befreiungsvorschriften im Umsatzsteuerrecht, UR 2006, 74

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt Schwerpunkte: – Prüfung einer Mehrzahl von Eingangs- und Ausgangsumsätzen – Ortsbestimmung im innergemeinschaftlichen Warenverkehr – Steuerfreiheit bei innergemeinschaftlichen Lieferungen und Ausfuhrlieferungen – Ortsbestimmung bei Transportleistungen – Reihengeschäfte Bearbeitungszeit: 4 Stunden Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Die in Düsseldorf ansässige A-GmbH produziert elektronische Türschlosssysteme als Zulieferer für folgende unterschiedliche Automobilproduzenten: a) B-AG mit Sitz in München b) F-S.p.A. mit Sitz in Turin/Italien c) G-Corp. mit Sitz in Detroit/USA. Die Türschlösser bestehen sowohl aus mechanischen als auch aus elektronischen Bauteilen, die durch die Abnehmer mit der jeweils in den PKW installierten Software durch die Abnehmer abgestimmt werden. Für die Softwareabstimmung stellt die AGmbH stets an die technische Entwicklung angepasste Bedienungsanleitungen in einem Kundenportal auf ihrer Homepage zur Verfügung, auf das nur die von der AGmbH belieferten Unternehmen Zugriff haben. Im Auftrag der A-GmbH transportiert der Spediteur M mit Unternehmenssitz in Bochum die Bauteile von Düsseldorf nach München und Turin bzw. nach Detroit, im letztgenannten Fall über den Rotterdamer Hafen/Niederlande. Der Weitertransport in die USA geschieht über einen Seefrachtunternehmer im Auftrag des M, der die Ware in Containern nach New York/ USA verschifft. Von dort wird die Ware dann durch einen amerikanischen Spediteur zum Detroiter Werk verbracht. Die A-GmbH verfügt über alle notwendigen Papiere einschließlich der italienischen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer der F-S.p.A. Die für die Türschlosssysteme benötigten mechanischen Bauteile lässt die A-GmbH von der C-Ltd., Shengzun/China produzieren. Die mechanischen Bauteile gelangen in Containern auf dem Seeweg von Shanghai/China nach Rotterdam/Niederlande, wo der Spediteur M im Auftrag der A-GmbH die Ware zur Produktionsstätte in Düsseldorf verbringt. Die Abfertigung zum zollfreien Verkehr inkl. der Entrichtung des

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Rz. 1 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

Zolls und der niederländischen Einfuhrumsatzsteuer nahm M im Auftrag und Namen der A-GmbH vor. Die elektronischen Bauteile – im Einzelnen handelt es sich um verschiedene sog. Computerchips mit integrierten Schaltkreisen – für die Türschlösser bezieht die AGmbH von der S-AG mit Produktionsstätte und Sitz in Zürich/Schweiz. Die S-AG beliefert die A-GmbH zum Teil direkt aus ihrer eigenen Produktionsstätte. Die Vertragsmodalitäten sehen vor, dass die zollrechtliche Abfertigung durch die S-AG erfolgt, die auch die Einfuhrumsatzsteuer zu zahlen hat. Für bestimmte Elektrokomponenten sind die Produktionsstraßen der S-AG nicht ausgelegt, sodass sie diese ihrerseits bei der K-OHG in Kiel bestellt. Um die Aufträge dennoch zügig ausführen zu können, holt die S-AG die Komponenten in Kiel ab und transportiert sie von dort aus selbst auf direktem Weg nach Düsseldorf. Aufgabe: Wie sind die vorstehend geschilderten Sachverhalte aus Sicht der A-GmbH umsatzsteuerrechtlich zu beurteilen? Bearbeitungshinweis: Es ist nur die deutsche Rechtslage zu prüfen. Liefer- und Umsatzschwellen sind stets überschritten, soweit sich aus dem Sachverhalt nichts Gegenteiliges ergibt. § 19 UStG ist nicht zu prüfen. Alle Nachweise sind erbracht. Notwendige Rechnungen liegen vor. Auf die Anmeldepflichten nach § 18 UStG ist nicht einzugehen. Alle Unternehmer versteuern ihre Umsätze nach vereinbarten Entgelten.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 1. Ortsbestimmung im Umsatzsteuerrecht a) Zweck und Grobstrukturierung der Vorschriften zur Ortsbestimmung 2

Die Ortsvorschriften im Umsatzsteuerrecht dienen – auch wenn sie bisweilen einen anderen Eindruck erwecken – keinem Selbstzweck. Durch die Bestimmung des Ortes des Umsatzes wird innerhalb des harmonisierten Umsatzsteuersystems dem einzelnen Staat ein Besteuerungsrecht zugewiesen. Sie sind daher Zentralnormen des internationalen Umsatzsteuerrechts.1 Die Ortsvorschriften sind damit nicht bloß ein akademisches Glasperlenspiel, sondern auch in der umsatzsteuerlichen Praxis von großer Bedeutung. Im Verhältnis zu Drittstaaten dienen Ortsvorschriften der Vermeidung von Doppelbesteuerungen, Nichtbesteuerung und Wettbewerbsverzerrungen (vgl. Erwägungsgrund 62 zur MwStSystRL).

3

In der Mehrwertsteuersystemrichtlinie setzen sich die Art. 31 bis Art. 61 mit der Bestimmung des Ortes einer Leistung auseinander. Im deutschen Umsatzsteuergesetz

1 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.151.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 5

sind die Ortsvorschriften in §§ 3 Abs. 5a bis 8; 3a bis 3g UStG geregelt. Mit Ausnahme des § 3e UStG differenzieren die Ortsvorschriften danach, ob eine Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG oder eine sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 UStG vorliegt. Die „Kompassnorm“, die den Prüfungsrahmen und Ablauf für den Ort der Leistung vorgibt, findet sich für die Lieferungen in § 3 Abs. 5a UStG. Nach dieser Vorschrift sind für die Bestimmung des Ortes der Lieferung die §§ 3c, 3e und 3g UStG vorrangig, nachgelagert § 3 Abs. 6 bis 8 UStG anzuwenden. Gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 UStG, der „Kompassnorm“ für den Ort der sonstigen Leistung, wird die sonstige Leistung von dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt, soweit nicht §§ 3a Abs. 2 bis 8; 3b, 3e UStG einschlägig sind. Bevor der Ort einer Leistung bestimmt werden kann, ist eine Leistung somit als Lieferung oder sonstige Leistung zu qualifizieren, was insbesondere in den Fällen einer einheitlichen Leistung in Form einer gemischten oder komplexen Leistung Probleme bereiten kann (siehe dazu Fall 20). b) Grundsatz: Besteuerung dort, wo der Umsatz verbraucht wird Die Leistung soll umsatzsteuerlich grundsätzlich dort versteuert werden, wo sie verbraucht wird (Bestimmungsland- bzw. Verbrauchsortprinzip).2 Dies entspricht auch dem Leitgedanken einer als Verbrauchsteuer konzipierten Umsatzsteuer und trägt der Wettbewerbsneutralität Rechnung, indem die Endverbraucher am Ort des Verbrauches mit einem identischen Steuersatz belastet werden.3 Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Praktikabilität – z.B. wäre es sowohl für die Unternehmer, aber auch für die Finanzverwaltung kaum möglich, in der Mehrzahl der Fälle festzustellen, wo der tatsächliche Verbrauch der veräußerten Ware oder Dienstleistung stattfindet – knüpft das Umsatzsteuerrecht nicht unmittelbar an den Endverbrauch der Leistung an, sondern bestimmt diesen näherungsweise.4 Dass diese Vorgehensweise im Regelfall zur zutreffenden Steuerbelastung i.S.d. Verbrauchsortprinzips führt, verdeutlicht der Beispielsfall einer Lieferung im Inland: Angenommen, die Kundin K aus Bochum erwirbt bei der Baustoffhändlerin B aus Düsseldorf Wandfarbe, dann bestimmt sich der Ort dieser Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG und die Lieferung liegt umsatzsteuerlich in Düsseldorf, selbst wenn K die Farbe und damit den besteuerten wirtschaftlichen Vorteil in Bochum durch Anstreichen ihrer Wohnung „verbraucht“. Da aber sowohl in Bochum als auch in Düsseldorf die Regelungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes, mithin identische Steuersätze gelten, wird die K zutreffend umsatzsteuerlich belastet.

4

Hinweis: Dies hat auch dann, wenn Liefer- und Verbrauchsort in verschiedenen Bundesländern liegen, keine Auswirkung auf die Steuerzuteilung der Länder untereinander. Der Länderanteil an der Umsatzsteuer bemisst sich nämlich grundsätzlich nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundeslandes und nicht nach dem Umsatzsteueraufkommen, Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG.

5

2 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.393. 3 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.395. 4 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.396.

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Rz. 6 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

6

Soweit sich Lieferer und Abnehmer einer Leistung im Inland aufhalten und auch kein sonstiger Bezug zum Ausland besteht, sind Unschärfen in der Ortsbestimmung für das Steueraufkommen und die gleichmäßige Belastung der Endverbraucher unerheblich. In der Umsatzsteuerklausur ist der Ort der jeweiligen Leistung unter Angaben der einschlägigen Ortsbestimmung aber dennoch stets genau zu bestimmen.

7

Die gerade geäußerten Gedanken geltend dann nicht, wenn Waren grenzübergreifend veräußert werden, beim Transport also eine oder mehrere Landesgrenzen überschreiten, oder Dienstleistungen von Unternehmern an Abnehmer oder an Orten erbracht werden, die sich außerhalb ihres Sitzstaates befinden. c) Warenverkehr im Gemeinschaftsgebiet und mit Drittstaaten zwischen Unternehmern aa) Warenverkehr im Gemeinschaftsgebiet

8

Im innergemeinschaftlichen Warenverkehr zwischen Unternehmern wird das Bestimmungslandprinzip dadurch umgesetzt, dass die Lieferung, die gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG in Deutschland beginnt, aus der Sicht von Deutschland zwar steuerbar, aber gem. §§ 4 Nr. 1 Buchst. b; 6a UStG als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei ist, und der Erwerber im übrigen Gemeinschaftsgebiet einen innergemeinschaftlichen Erwerb gem. §§ 1 Abs. 1 Nr. 5; 1a UStG zu versteuern hat.5 Im umgekehrten Fall, in dem die Waren aus dem übrigen Gemeinschaftsgebiet nach Deutschland gelangen, gilt dies entsprechend spiegelbildlich. Die Regelungen zur Steuerbefreiung und zum innergemeinschaftlichen Erwerb sind somit faktisch Regelungen zur Ortsverlagerung des Steuersubstrates.6 Sinn und Zweck dieser „doppelten umsatzsteuerlichen Erfassung“ eines wirtschaftlichen Vorgangs auf Lieferer- und Erwerberseite sind die damit zusammenhängenden Kontrollmöglichkeiten der Finanzbehörden. Diese haben durch die Vergabe von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern i.S.d. § 27a UStG und die Pflicht der Unternehmer, innergemeinschaftliche Lieferungen in der Zusammenfassenden Meldung i.S.d. § 18a UStG unter Angabe der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Leistungsempfängers zu melden, die Möglichkeit, die korrespondierenden Vorgänge abzugleichen.7 bb) Warenverkehr mit Drittstaaten

9

Im Warenverkehr mit Drittstaaten findet für ausgehende Lieferungen (Ausfuhrlieferungen) zwischen Unternehmern eine Steuerbefreiung gem. §§ 4 Nr. 1 Buchst. a; 6 UStG Anwendung. Korrespondierend dazu ist im Empfängerstaat regelmäßig die Einfuhr zu versteuern.

5 Siehe im Einzelnen Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.412, 17.416. 6 Vgl. auch Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 1a UStG Rz. 1; Möller, Umsatzsteuerrecht, Rz. 59. 7 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.446 ff.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 13

In Deutschland ist die Steuerbarkeit der Einfuhr in § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG geregelt. Die dabei entstehende Umsatzsteuer wird als Einfuhrumsatzsteuer bezeichnet und kann unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG als Vorsteuer von dem Unternehmer, für dessen Unternehmen die Einfuhr erfolgt ist, geltend gemacht werden. Für wessen Unternehmen die Leistung bezogen wird, ergibt sich daraus, wer die Transportgefahr trägt und dementsprechend auch die Einfuhrumsatzsteuer nach den vertraglichen Vereinbarungen zu tragen hat.8 In diesem Zusammenhang ist die Vorschrift des § 3 Abs. 8 UStG zu beachten: Danach gilt die Leistung, die aus dem Drittlandsgebiet in das Inland gelangt, – abweichend von § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG – im Inland erbracht, wenn der leistende Unternehmer die Einfuhrumsatzsteuer schuldet. Der leistende Unternehmer kann insoweit den Vorsteuerabzug bzgl. der Einfuhrumsatzsteuer gem. § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG geltend machen, da er die Ware einführt, um sie im Inland – gem. § 3 Abs. 8 UStG – zu veräußern.9 Die Lieferung an den Leistungsempfänger ist folglich nicht mit der Einfuhrumsatzsteuer belastet, sondern nur mit der „normalen“ Umsatzsteuer aus einem steuerbaren Umsatz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG, sodass ihm ein Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG verbleibt.

10

d) Grenzüberschreitende sonstige Leistungen zwischen Unternehmern Sonstige Leistungen, die an einen Unternehmer ausgeführt werden, liegen grundsätzlich dort, wo der Leistungsempfänger seinen Sitz hat (§ 3a Abs. 2 UStG). § 3a Abs. 3 bis 8 UStG sehen von diesem Grundsatz aber Ausnahmen vor. In dieser Klausur sind Transportleistungen als sonstige Leistungen zu prüfen, für die – neben § 3b UStG – die Vorschrift des § 3a Abs. 8 UStG einschlägig sein könnte. Dabei ist insbesondere zu erörtern, wo eine Beförderungsleistung genutzt oder ausgewertet wird.

11

2. Besonderheiten bei Reihengeschäften Reihengeschäfte10 machen den Studierenden in der steuerjuristischen Ausbildung häufig große Probleme, dürfen aber wegen ihrer enormen praktischen Relevanz, nicht auch zuletzt wegen der zum 1.7.2021 in Kraft getretenen § 3 Abs. 3a, 6b UStG, auch in der Klausurbearbeitung nicht ausgeklammert bleiben.

12

Voraussetzung für ein Reihengeschäft ist gem. § 3 Abs. 6a Satz 1 UStG, dass mehrere Unternehmer über denselben Gegenstand Liefergeschäfte abschließen und der Gegenstand dieser Lieferungen bei der Beförderung oder Versendung unmittelbar vom ersten zum letzten Abnehmer gelangt. Es sind also mindestens zwei Unternehmer und ein Abnehmer beteiligt, der Unternehmer sein kann, aber nicht muss. Es ist aber auch denkbar, dass vier oder mehr Unternehmer in der Kette zwischengeschaltet

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8 Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 15 UStG Rz. 1112 ff. 9 Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 15 UStG Rz. 1119; siehe auch Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 3647. 10 Siehe dazu insgesamt die ausführliche Darstellung bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.425 ff.

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Rz. 13 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

sind. Grafisch lassen sich Reihengeschäfte mit drei oder vier Teilnehmern wie folgt darstellen: 14

Schaubild: „Klassisches“ Reihengeschäft mit drei Teilnehmern.

15

Schaubild: Reihengeschäft mit vier Teilnehmern.

16

Schwerpunkt der Bearbeitung eines Reihengeschäftes ist die Ermittlung der „bewegten“ Lieferung. Davon kann es im Reihengeschäft gem. § 3 Abs. 6a Satz 1 Halbs. 2 UStG nur eine geben. Nur diese „bewegte“ Lieferung kann als innergemeinschaftliche Lieferung i.S.d. §§ 4 Nr. 1 Buchst. b; 6a UStG oder Ausfuhrlieferung i.S.d. §§ 4 Nr. 1 Buchst. a; 6 UStG umsatzsteuerbefreit sein.11 Das heißt, dass auch nur in dem bewegten Leistungsverhältnis ein innergemeinschaftlicher Erwerb stattfinden kann. Ebenso kommt nur für die bewegte Lieferung eine Ortsverlagerung nach § 3 Abs. 8 UStG in Betracht.12 Die übrigen Lieferungen im Reihengeschäft sind unbewegte Lieferungen, deren Ort sich gem. § 3 Abs. 7 Satz 2 UStG bestimmt. Welche Lieferung die bewegte ist, ermittelt sich danach wer im Reihengeschäft die Ware „bewegt“, also in wessen Auftrag sie befördert oder versendet wird. Unproblematisch ist dies in den Fällen, in denen der erste Lieferer oder der letzte Abnehmer die Ware „bewegen“. Dann liegt die bewegte Lieferung in der Lieferung, die von dem ersten Lieferer ausgeht, bzw. die an den letzten Abnehmer erfolgt (§ 3 Abs. 6a Satz 2, 3 UStG).

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Schaubild: Transport durch ersten Unternehmer A. Die bewegte Lieferung befindet sich zwischen A und B.

11 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.426. 12 Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 2638.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 21

Schaubild: Transport durch den letzten Abnehmer D. Die bewegte Lieferung befindet sich zwischen C und D.

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Erfolgt der Transport der Ware durch einen der mittleren Unternehmer (im Schaubild Rz. 20 B oder C) hängt die Zuordnung der bewegten Lieferung davon ab, ob der Unternehmer den Nachweis gem. § 3 Abs. 6a Satz 4 ff. UStG erbringt, dass er die Ware als Lieferer versendet. Erbringt er diesen Nachweis, liegt die bewegte Lieferung zwischen ihm und dem nächsten Teilnehmer des Reihengeschäfts. Ansonsten ist die bewegte Lieferung die Lieferung an ihn.

19

Schaubild: Transport durch B. Die bewegte Lieferung befindet sich zwischen A und B. Ausnahme nur, wenn B nachweist, dass er als Lieferer befördert. Dann liegt die bewegte Lieferung zwischen B und C.

20

Diese letzte Fallkonstellation ist auch in der vorliegenden Klausur – im Reihengeschäft mit drei Teilnehmern – zu bewältigen.

21

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Rz. 22 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

II. Anforderungsprofil 22

Eine Sachverhalts- und Lösungsskizze für diese Klausur könnte wie folgt aussehen:

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Im Sachverhalt geht es in fast sämtlichen Umsätzen um grenzüberschreitende Leistungen, sodass die Ortsbestimmung sorgfältig durchzuführen ist. Die A-GmbH ist dabei sowohl grenzüberschreitend leistende Unternehmerin als auch Empfängerin von grenzüberschreitenden Lieferungen, sodass stets Überlegungen zu steuerfreien Leistungen bzw. innergemeinschaftlichen Erwerben, Einfuhren und Ortsverlagerungen ins Inland anzustellen sind.

24

Gute Bearb. zeigen bereits im Prüfungsaufbau, dass sie unnötige Dopplungen zu vermeiden wissen und sich den Sachverhalt wirtschaftlich erschlossen haben: Die Leistungen der A-GmbH an B, F und G unterscheiden sich auf Ebene der Steuerbarkeit nicht, sodass hier eine gemeinsame Prüfung erfolgen kann. Somit sind keine wiederholenden Ausführungen zur Art der Leistungen, zu Nebenleistungen oder dem Ort der Leistungen nötig. Erst bei der Frage der Steuerfreiheit bzw. Steuerpflicht erlangen die unterschiedlichen Zielorte der Türschlösser Bedeutung.

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Häufig übersehen wird in dieser Klausur, dass die A-GmbH diverse Leistungen von dem Spediteur M bezieht. Dies betrifft nicht nur die Ausgangsleistungen der AGmbH, sondern etwa auch den Transport von Rotterdam nach Düsseldorf. Auch hier sind in Bezug auf die Art der Leistung und den Leistungsumfang keine Wiederholungen notwendig, sondern es kann stets nach oben verwiesen werden.

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Dass mit der S-AG und der C-Ltd. mehrere Unternehmerinnen aus Drittstaaten liefern, spricht bereits aus didaktischen Gründen dafür, dass hier verschiedene umsatzsteuerliche „Spielarten“ abgefragt werden sollen. Identisches gilt für die verschiedenen Lieferwege, die die Waren der S-AG zur A-GmbH gehen. In diesem Zusammenhang ist auch die Formulierung im Sachverhalt von Bedeutung: Sobald besondere Beschreibungen von Liefergegenständen und ihrer technischen Beschaffenheit im Sach312

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 28

verhalt angelegt sind, werden diese im Regelfall für eine bestimmte Regelung von Bedeutung sein. Im hiesigen Fall war die Rede von „Computerchips mit integrierten Schaltkreisen“, eine Formulierung die sich im Umsatzsteuergesetz so nur in § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG wiederfindet und damit den entscheidenden Hinweis auf die Besonderheit bei der Prüfung dieses Umsatzes lenkt. Einen wirklichen „Schwerpunkt-Umsatz“ bietet die Klausur nicht, sodass die Bearbeitung der verschiedenen Umsätze relativ gleichwertig nebeneinander steht.

27

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

28

I. Unternehmereigenschaft 30 II. Lieferungen von Türschlössern nach Deutschland, Italien und in die USA 1. Steuerbarkeit 32 2. Steuerfreiheit schuldner 34

und

-pflicht/Bemessungsgrundlage/Steuerentstehung/Steuer-

a) Türschlösser nach München 35 b) Türschlösser nach Turin aa) Steuerbefreiung 36 bb) Bemessungsgrundlage 42 cc) Zusammenfassende Meldung und sonstige Erklärungspflichten 43 c) Türschlösser nach Detroit 44 III. Bezug der mechanischen Bauteile von der C-Ltd. aus China 1. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG 47 2. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG 49 3. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG 50 IV. Bezug der elektronischen Bauteile von der S-AG 1. Herstellung und Beförderung aus eigener Produktionsstätte 57 2. Erwerb bei K-OHG 62 V. Transportleistung durch M 1. Transport nach München 67 2. Transport nach Turin 69 3. Transport nach Detroit 72 4. Transport von Shengzun nach Düsseldorf 77 313

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Rz. 29 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

D. Ausformulierte Lösung 29

Fraglich ist, wie der Sachverhalt für die A-GmbH umsatzsteuerrechtlich zu beurteilen ist, also inwieweit die A-GmbH für die dargestellten Vorgänge Umsatzsteuer schuldet und Vorsteuer geltend machen kann. I. Unternehmereigenschaft

30

Die A-GmbH ist als Kapitalgesellschaft im produzierenden Gewerbe mit Einnahmeerzielungsabsicht über eine gewisse Dauer beruflich tätig. Eine Eingliederung in ein anderes Unternehmen im Rahmen einer Organschaft i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ist nicht ersichtlich.13 Die A-GmbH ist damit Unternehmerin i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG.

31

Hinweis: Die Unternehmereigenschaft der A-GmbH ist hier nicht zweifelhaft, sodass die Lösung an dieser Stelle auch kurz und prägnant ausfallen muss. Eine tiefere Auseinandersetzung wäre an dieser Stelle im Sinne der Schwerpunktsetzung verfehlt.

II. Lieferungen von Türschlössern nach Deutschland, Italien und in die USA 1. Steuerbarkeit 32

Fraglich ist zunächst, ob die Veräußerung der Türschlösser an B, F und G steuerbar i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG sind.

33

Mit Veräußerung der Türschlösser an B, F und G erbringt A eine unbestimmte Anzahl an Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG. Der Transport zu den Fertigungsstätten der Abnehmer sowie das Zurverfügungstellen der Anleitungen im Kundenportal der A-GmbH stellen für sich betrachtet mangels Verschaffung der Verfügungsmacht sonstige Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG dar. Diese sonstigen Leistungen dienen lediglich der initialen bzw. optimalen Nutzung der Türschlösser und stellen damit Nebenleistungen zu den Lieferungen der Türschlösser dar. Als Nebenleistung teilen sie umsatzsteuerrechtlich das Schicksal der Hauptleistung.14 Die Herstellung und Veräußerung der Türschlösser begründet auch die Unternehmertätigkeit der AGmbH, sodass es sich bei der Veräußerung um Grundgeschäfte im Rahmen des Unternehmens handelt.15 Da die A-GmbH mit B, F und G bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes Kaufpreise für die Türschlösser vereinbart hat, erfolgen die Leistungen auch im Leistungsaustausch. Die Türschlösser werden im Auftrag der AGmbH durch den Spediteur zu den jeweiligen Unternehmen nach München, Turin und Detroit versendet, sodass der Ort der Lieferungen gem. § 3 Abs. 5a; 6 Satz 1, 3, 4 UStG in Düsseldorf liegt. Die Lieferungen der Türschlösser sind somit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar. 13 Näheres zur Organschaft bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.61 ff. 14 Zur Problematik von Hauptleistung und Nebenleistung in komplexeren Fallgestaltungen siehe Fall 20. 15 Vgl. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.148.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 37

2. Steuerfreiheit und -pflicht/Bemessungsgrundlage/Steuerentstehung/ Steuerschuldner Ab der Steuerfreiheit ist zwischen den verschiedenen Leistungsempfängern und den Destinationen der Türschlösser zu differenzieren.

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a) Türschlösser nach München Mangels einschlägiger Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG sind die Lieferungen der Türschlösser nach München gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage ist gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG die Gegenleistung der B abzüglich der Umsatzsteuer. Hier könnte einer Steuerschuldnerschaft der B gem. § 13b Abs. 2 Nr. 10, Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 UStG in Betracht kommen. Dazu müsste es sich bei den Türschlössern um integrierte Schaltkreise i.S.d. § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG handeln. Ein integrierter Schaltkreis i.S.d. § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG liegt nach dem Telos der Norm nur dann vor, wenn er noch nicht in ein handelbares Produkt eingebaut worden ist. Ansonsten würde beinahe jedes technische Gerät unter die Norm fallen und die separate Aufzählung von Mobilfunkgeräten, Tablet-Computern und Spielekonsolen in § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG wäre, da diese ebenfalls integrierte Schaltkreise enthalten, überflüssig. Hier wurden die technischen Bauteile, die Computerchips mit integrierten Schaltkreisen darstellen, bereits in die Türschlosser und damit in ein handelbares Produkt eingebaut. Die A-GmbH liefert mithin keine integrierten Schaltkreise i.S.d. § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG, sodass die Steuerschuldnerschaft nicht gem. § 13b Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 UStG auf B übergeht. Steuerschuldner ist damit gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG die A-GmbH. Die Steuer entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der jeweiligen Lieferungen.

35

b) Türschlösser nach Turin aa) Steuerbefreiung Für die Lieferungen der Türschlösser nach Turin kommt die Steuerbefreiung der §§ 4 Nr. 1 Buchst. b; 6a UStG in Betracht. Die Türschlösser gelangen aus dem Inland i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 UStG nach Turin/Italien und somit in das übrige Gemeinschaftsgebiet i.S.d. § 1 Abs. 2a Satz 1 UStG, sodass die Voraussetzung des § 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG erfüllt ist. Die F ist unzweifelhaft umsatzsteuerliche Unternehmerin und hat von dem italienischen Staat eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (vgl. § 27a UStG) erhalten, sodass sie in einem anderen Mitgliedstaat für Zwecke der Umsatzsteuer erfasste Unternehmerin ist und somit die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a UStG ebenfalls erfüllt sind. Die Voraussetzung des § 6a Abs. 1 Nr. 4 UStG, die Verwendung der gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer der F gegenüber der A-GmbH ist ebenfalls erfüllt.

36

Der Erwerb der Türschlösser müsste in Italien bei der F auch der Umsatzbesteuerung, also der Erwerbsbesteuerung unterliegen (§ 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG).

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Rz. 38 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

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Hinweis: Nach dem Bearbeitungsvermerk soll nur die deutsche Rechtslage geprüft werden. Dies macht es hier im Rahmen des § 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG aber erforderlich, sich kurz mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Erwerb bei der Abnehmerin in Italien der Umsatzbesteuerung unterliegt. Naturgemäß steht bei der Klausurbearbeitung in Deutschland nicht das italienische Umsatzsteuergesetz zur Verfügung. Da das Mehrwertsteuerrecht europäisch harmonisiert ist, muss auch Italien die Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 Buchst. b; 20 Abs. 1 MwStSystRL umsetzen, sodass hilfsweise eine Prüfung der deutschen Umsetzung dieser Erwerbsbesteuerung, § 1a Abs. 1 UStG, sinnvoll ist.

39

Hierzu kann auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i; 20 MwStSystRL zurückgegriffen werden, der von Italien in innerstaatliches Recht umzusetzen ist. Die Türschlösser gelangen aus Deutschland nach Italien, somit von einem Mitgliedstaat in einen anderen (Art. 20 Abs. 1 MwStSystRL i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL), die F ist als Erwerberin Unternehmerin und erwirbt die Türschlösser auch zur Weiterverarbeitung in der Automobilproduktion, somit handelt sie als Unternehmerin (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL). Überdies erfolgt die Lieferung an die F – wie oben in der Steuerbarkeit dargelegt – durch die A-GmbH als Unternehmerin im Rahmen ihres Unternehmens gegen Entgelt (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL). Die A-GmbH fällt laut Bearbeitungsvermerk auch nicht unter die Kleinunternehmerregelung i.S.d. Art. 282 bis 292 MwStSystRL bzw. § 19 UStG (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i MwStSystRL), sodass die Voraussetzungen für die Erwerbsbesteuerung in Italien für die F für die Lieferungen der Türschlösser erfüllt sind.16

40

Die Nachweispflichten i.S.d. § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG i.V.m. §§ 17a f.; 17d UStDV sind nach dem Bearbeitungsvermerk von der A-GmbH erbracht worden.17

41

Die Lieferungen der Türschlösser sind folglich gem. §§ 4 Nr. 1b; 6a UStG steuerfrei. bb) Bemessungsgrundlage

42

Die Bemessungsgrundlage bildet sich gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG aus dem jeweiligen Kaufpreis der F. Eine Umsatzsteuer ist nicht herauszurechnen, da die Leistungen steuerfrei sind. cc) Zusammenfassende Meldung und sonstige Erklärungspflichten

43

Die innergemeinschaftliche Lieferung ist in der Zusammenfassenden Meldung gem. § 18a Abs. 1, 6 Nr. 1 UStG zu erklären. Daneben bestehen die besonderen Anmeldepflichten gem. den amtlichen Vordrucken (§ 18b Satz 1 Nr. 1 UStG). 16 Alternativ kann an dieser Stelle die Prüfung des innergemeinschaftlichen Erwerbes auch unter Heranziehung des § 1a UStG geprüft werden, wenn den Bearb. die MwStSystRL nicht zur Verfügung steht, da davon auszugehen ist, dass ihre Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten umgesetzt worden sind. 17 Siehe zur Verhältnismäßigkeit entsprechender Nachweisforderungen auch Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.405.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 50

c) Türschlösser nach Detroit Für die Lieferungen der Türschlösser nach Detroit könnte die Steuerbefreiung der §§ 4 Nr. 1 Buchst. a; 6 Abs. 1 Nr. 1 UStG einschlägig sein. Dazu müssten die Schlösser von dem liefernden Unternehmer in das Drittlandsgebiet befördert oder versendet worden sein. Drittlandsgebiet ist gem. § 1 Abs. 2a Satz 3 UStG alles, was nicht Gemeinschaftsgebiet ist, und somit auch die USA. Die A-GmbH hatte als leistende Unternehmerin hier den M beauftragt, die Türschlösser in die USA nach Detroit zu transportieren, sodass eine Versendung durch die leistende Unternehmerin in das Drittlandsgebiet vorliegt. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 UStG sind somit erfüllt.

44

Die Nachweise i.S.d. § 6 Abs. 4 UStG i.V.m. §§ 8, 10 UStDV dürfen mit dem Bearbeitungsvermerk als erbracht angesehen werden.

45

Die Lieferungen der Türschlösser nach Detroit sind somit steuerbar, aber steuerfrei.

46

III. Bezug der mechanischen Bauteile von der C-Ltd. aus China 1. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG Fraglich ist, ob die A-GmbH einen Vorsteuerabzug aus dem Erwerb der mechanischen Bauteile von der C aus China gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG geltend machen kann. Dazu müsste eine gesetzlich geschuldete deutsche Umsatzsteuer für eine Lieferung oder sonstige Leistung entstanden sein, was deren Steuerbarkeit i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG voraussetzt. Hier erbringt die C mit der Veräußerung der mechanischen Bauteile Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG. Der Ort der Lieferung liegt gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 3, 4 UStG in Shengzun/China. Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer ist nach den Angaben im Sachverhalt nicht die C als Lieferer, sondern die A-GmbH. Eine Ortsverlagerung in das Inland gem. § 3 Abs. 8 UStG liegt somit nicht vor. Der Umsatz ist damit im Inland nicht steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG.

47

Mangels gesetzlich geschuldeter deutscher Umsatzsteuer scheidet ein Vorsteuerabzug der A-GmbH gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG an dieser Stelle aus.

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2. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG Es könnte allerdings ein Vorsteuerabzug aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG für entstandene deutsche Einfuhrumsatzsteuer in Betracht kommen. Hier entsteht aber nach dem Sachverhalt nur niederländische Einfuhrumsatzsteuer, die nach deutschem Recht nicht als Vorsteuer geltend gemacht werden kann, sodass ein Vorsteuerabzug der A-GmbH nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG ausscheidet.

49

3. Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG Denkbar ist, dass die A-GmbH einen Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG geltend machen kann. Dazu müsste Steuer für einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, die die A-GmbH für ihr Unternehmen bezogen hat, ent317

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Rz. 50 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

standen und der innergemeinschaftliche Erwerb müsste gem. § 3d Satz 1 UStG im Inland bewirkt worden sein. 51

§§ 1 Abs. 1 Nr. 5; 1a Abs. 2 UStG fingiert auch das Verbringen eines Gegenstandes des Unternehmens aus dem übrigen Gemeinschaftsgebiet in das Inland als innergemeinschaftlichen „Erwerb gegen Entgelt“. Hier werden die mechanischen Bauteile von Rotterdam (Niederlande) nach Düsseldorf (Deutschland) und somit von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedsstaat gem. §§ 1 Abs. 1 Nr. 5; 1a Abs. 2 UStG verbracht. Dabei ist es gem. § 1a Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. UStG unschädlich, dass der Unternehmer – wie hier die A-GmbH, die bei diesem Vorgang durch den M vertreten worden ist – den Gegenstand zuvor in das Gemeinschaftsgebiet, hier die Niederlande, eingeführt hat.18 Die A-GmbH hat am Ende des Verbringens noch die Verfügungsmacht an den mechanischen Bauteilen, sodass das Verbringen der Bauteile gem. § 1a Abs. 2 Satz 1 UStG auch zu ihrer Verfügung erfolgt. Eine lediglich vorübergehende Verwendung, die das innergemeinschaftliche Verbringen gem. § 1a Abs. 2 Satz 1 UStG ausschließen würde, ist hier nicht gegeben, denn die mechanischen Bauteile werden dauerhaft in den Türschlosssystemen verbaut.19 Somit liegt ein innergemeinschaftliches Verbringen i.S.d. § 1a Abs. 2 UStG vor.

52

Der Ort des innergemeinschaftlichen Verbringens liegt gem. § 3d Satz 1 UStG in dem Gebiet des Mitgliedstaates, in dem sich der Gegenstand am Ende der Beförderung befindet, mithin hier in Deutschland, sodass der Umsatz steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG ist. Das innergemeinschaftliche Verbringen ist gem. § 4b Nr. 4 UStG steuerfrei, soweit die Gegenstände zur Ausführung von Umsätzen verwendet werden, für die der Ausschluss vom Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 3 UStG nicht eintritt.20

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Dies ist bzgl. der Lieferungen der Türschlosssysteme nach Turin und Detroit der Fall, die gem. § 4 Nr. 1 Buchst. a und b UStG steuerfrei sind (siehe oben) und daher unter § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG fallen. Insoweit entsteht folglich keine Umsatzsteuer für das innergemeinschaftliche Verbringen. Anders sieht es bzgl. der Bauteile aus, die auf die Türschlosssysteme entfallen, die nach München geliefert werden. Insoweit ist kein Tatbestand des § 15 Abs. 3 UStG einschlägig, sodass die Steuerbefreiung nach § 4b Nr. 4 UStG nicht greift. Der Steuersatz beträgt insoweit gem. § 12 Abs. 1 UStG 19 %. Die Bemessungsgrundlage ist gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG der Einkaufspreis der Bauteile zzgl. der entstandenen Nebenkosten i.S.d. Art. 78 MwStSystRL, hier also die Zollgebühren. Steuerschuldner ist gem. § 13a Abs. 1 Nr. 2 UStG die Er18 Siehe zur Abgrenzung zur Durchfuhr Stadie3, § 1a UStG Rz. 18, 37. 19 Vgl. auch Stadie3, § 1a UStG Rz. 43. 20 § 4b Nr. 4 UStG bewirkt, dass statt eines innergemeinschaftlichen Erwerbes und des damit korrespondierenden Vorsteuerabzugs lediglich ein steuerfreier innergemeinschaftlicher Erwerb zu erklären ist und führt insoweit zu einer Erleichterung. § 4b Nr. 4 UStG ist dennoch eigentlich systematisch überflüssig, da in den Fällen des § 15 Abs. 3 UStG ohnehin ein Vorsteuerabzug möglich wäre und damit keine finale Belastung bei dem Unternehmer eintreten würde (siehe dazu Stadie3, § 4b UStG Rz. 6). Einzelne Autoren sehen allerdings potentielle Nachteile im Fall einer Vorsteuerkorrektur nach § 15a UStG, wenn § 4b Nr. 4 UStG nicht existieren würde (siehe Robisch in Bunjes20, § 4b UStG Rz. 9).

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 58

werberin, also die A-GmbH, und die Steuer entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 6 UStG mit Ausstellung der Rechnung, spätestens jedoch mit Ablauf des dem Erwerb folgenden Kalendermonats. Ein Vorsteuerausschluss i.S.d. § 15 Abs. 2 UStG ist nicht ersichtlich. Für den Voranmeldungszeitraum der Entstehung steht der A-GmbH ein Vorsteuerabzug in Höhe der Einfuhrumsatzsteuer gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG zu.

54

Hinweis: Wir empfehlen bei der Prüfung des Vorsteuerabzugs außer in den Fällen des § 13b UStG (mindestens) gedanklich immer die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG anzuprüfen, selbst, wenn augenscheinlich ein Vorsteuerabzug nur aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3. UStG einschlägig ist. Denn in manchen Fällen kommt es durch eine Ortsverlagerung (z.B. nach § 3 Abs. 8 UStG) dennoch zu einer inländischen Steuer und somit einem Vorsteuerabzug.

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Alternativer Aufbau: Der innergemeinschaftliche Erwerb in der Form des innergemeinschaftlichen Verbringens stellt grundsätzlich einen Eingangsumsatz bei der A-GmbH dar, für den diese Steuerschuldnerin ist und für den sie die Vorsteuer im gleichen Schritt geltend machen kann, soweit Umsatzsteuer entstanden ist und die übrigen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug vorliegen.

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Es ist an dieser Stelle möglich, die Prüfung des innergemeinschaftlichen Erwerbs der Prüfung des Vorsteuerabzugs aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb vorweg zu stellen. Die Prüfung des Vorsteuerabzugs ist dann deutlich kürzer, da die hier erfolgte inzidente Prüfung des innergemeinschaftlichen Erwerbs entfällt.

IV. Bezug der elektronischen Bauteile von der S-AG 1. Herstellung und Beförderung aus eigener Produktionsstätte Der A-GmbH könnte ein Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG aus dem Erwerb der elektronischen Bauteile von der S aus Zürich geltend machen, soweit die Teile aus der eigenen Produktionsstätte der S zur A-GmbH befördert werden. Dazu müsste Umsatzsteuer gem. § 13b Abs. 1, 2 UStG entstanden sein.

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Dafür ist zunächst erforderlich, dass überhaupt ein steuerbarer Umsatz vorliegt, der in den Anwendungsbereich von § 13b Abs. 1, 2 UStG fällt. Hier kommt ein steuerbarer Umsatz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in Betracht. Die S, die als Herstellerin von technischen Bauteilen Unternehmerin i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG ist, erbringt mit den Veräußerungen der elektronischen Bauteile an die A-GmbH eine Vielzahl von Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG im Rahmen ihres Unternehmens. Der Transport nach Düsseldorf ist unselbständige Nebenleistung zur Hauptleistung und teilt deren umsatzsteuerliches Schicksal. Da bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes ein Kaufpreis vereinbart worden war, liegt auch ein Entgelt und damit ein Leistungsaustausch vor. Die elektronischen Bauteile gelangen bei der Beförderung von Zürich/ Schweiz, also dem Drittland i.S.d. § 1 Abs. 2a Satz 3 UStG, nach Düsseldorf, also in

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Rz. 58 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

das Inland i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 UStG, und die S ist als Lieferer nach den vertraglichen Konditionen Schuldnerin der Einfuhrumsatzsteuer, sodass der Ort der Leistung gem. § 3 Abs. 5a, 8 UStG im Inland liegt. Der Umsatz ist damit steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG und mangels Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage ist das Entgelt in Form des von der A-GmbH an die S gezahlten Gesamtkaufpreises gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG. 59

Die Steuerschuldnerschaft könnte gem. § 13b Abs. 2 Nr. 10, Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 UStG auf die A-GmbH übergegangen sein. Bei den von der S durch die A-GmbH bezogenen elektronischen Bauteilen handelt es sich um Computerchips mit integrierten Schaltkreisen, die noch mit den mechanischen Bauteilen zu Türschlössern verarbeitet werden müssen und sich somit in dem Status vor Einbau in einen zur Lieferung auf der Einzelhandelsstufe geeigneten Gegenstand befinden. Laut Bearbeitungsvermerk sind auch Lieferschwellen stets überschritten, sodass davon auszugehen ist, dass im Rahmen eines wirtschaftlichen Vorgangs die Entgelte für die Computerchips mindestens 5.000 Euro betragen. Die Voraussetzungen des § 13b Abs. 2 Nr. 10 UStG sind mithin erfüllt. Die A-GmbH ist als Leistungsempfängerin auch Unternehmerin, sodass die Steuerschuldnerschaft gem. § 13b Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 UStG auf sie übergeht. Die Steuer entsteht gem. § 13b Abs. 2 Halbs. 1 UStG mit Ausstellung der Rechnung, spätestens jedoch mit Ablauf des der Ausführung der Leistung folgenden Kalendermonats.

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§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG fordert ferner, dass die Leistungen für das Unternehmen ausgeführt worden sind; ebenso darf der Vorsteuerabzug nicht ausgeschlossen sein. Die A-GmbH bezieht die Bauteile, um die Türschlosssysteme herstellen zu können, sodass die Lieferungen für ihr Unternehmen ausgeführt worden sind. Ein Vorsteuerausschluss nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG in Bezug auf die steuerfreien Ausfuhrlieferungen nach Detroit gem. § 4 Nr. 1 Buchst. a UStG und die steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen nach Turin gem. § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG (siehe die Beurteilung oben Rz. 36 ff., 44 ff.) tritt gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG nicht ein. Im Übrigen ist ein Vorsteuerausschluss nicht ersichtlich.

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Die A-GmbH kann folglich Vorsteuer aus dem Erwerb der elektronischen Bauteile gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG geltend machen. 2. Erwerb bei K-OHG

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Ein Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG kommt außerdem für den Erwerb der elektronischen Bauteile in Betracht, die die S von der K ordern muss. Für die Steuerbarkeit kann grundsätzlich auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden. Fraglich ist lediglich, wo der Ort der Leistung liegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zwischen der K, S und A-GmbH Liefergeschäfte über die Computerchips und folglich über dieselben Gegenstände geschlossen worden sind und die Computerchips im Rahmen der Beförderung durch die S von der K direkt zu der AGmbH gelangen, sodass ein Reihengeschäft i.S.d. § 3 Abs. 6a Satz 1 UStG vorliegt.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 68

Bei einem Reihengeschäft wird die bewegte Lieferung gem. § 3 Abs. 6a Satz 1 UStG nur einer der Lieferungen zugeordnet. Nur für diese eine bewegte Lieferung richtet sich die Ortsbestimmung nach § 3 Abs. 6 UStG; die Orte der anderen Lieferungen im Reihengeschäft sind nach § 3 Abs. 7 Satz 2 UStG zu beurteilen. Hier befördert die S als „mittlere“ Unternehmerin im Reihengeschäft die Computerchips, sodass es für die Zuordnung der bewegten Lieferung gem. § 3 Abs. 6a Satz 4 UStG darauf ankommt, ob sie nachweist, dass sie die Computerchips als Lieferer befördert. Nach dem Bearbeitungsvermerk sind alle Nachweise erbracht, sodass davon auszugehen ist, dass S die Computerchips hier nachweislich als Lieferer befördert. Gem. § 3 Abs. 6a Satz 4 Halbs. 2 UStG ist zwischen S und der A-GmbH die bewegte Lieferung, deren Ort sich gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG bestimmt und in Kiel liegt. Damit ist der Umsatz steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG und mangels Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage bestimmt sich nach dem Entgelt gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG.

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Steuerschuldnerin ist gem. § 13b Abs. 2 Nr. 10, Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 UStG wie zuvor die A-GmbH und die Steuer entsteht gem. § 13b Abs. 2 Halbs. 1 UStG mit Ausstellung der Rechnung, spätestens jedoch mit Ablauf des der Ausführung der Leistung folgenden Kalendermonats.

64

Zum Vorsteuerausschluss gilt das zuvor Gesagte, sodass die A-GmbH auch hier die Vorsteuer aus dem Erwerb der elektronischen Bauteile gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 1 UStG geltend machen kann.

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Alternativer Aufbau: Die Umsätze, für die die A-GmbH Steuerschuldnerin nach § 13b Abs. 2, 5 UStG ist, können auch separat außerhalb des Vorsteuerabzugs geprüft werden. In der Prüfung des Vorsteuerabzugs kann dann für die „Steuer für Leistungen im Sinne des § 13b Abs. 1, 2 UStG“ nach oben verwiesen werden und es ist lediglich noch zu prüfen, ob die Leistungen für das Unternehmen ausgeführt worden sind und ob ein Vorsteuerausschlussgrund einschlägig ist.

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V. Transportleistung durch M 1. Transport nach München Der A-GmbH könnte ein Vorsteuerabzug aus dem Transport der Türschlosssysteme von Düsseldorf nach München durch den M gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG zustehen. Dies setzt voraus, dass M als Unternehmer eine Leistung für die AGmbH erbracht hat, welche eine gesetzlich geschuldete Steuer auslöst.

67

Der M ist als Spediteur Unternehmer i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG und erbringt mangels Verschaffung der Verfügungsmacht durch den Transport der Schlüsselsysteme sonstige Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG im Rahmen seines (Speditions-)Unternehmens. Diese Leistungen erbringt M gegenüber der ebenfalls als Unternehmerin tätigen A-GmbH, weswegen der Ort der Leistung gem. § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG in Düsseldorf und damit im Inland liegt. Die Leistung erfolgt bei lebensnaher Auslegung des Sachverhaltes außerdem gegen eine Vergütung und damit im Leistungs-

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Rz. 68 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

austausch. Die gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbare Transportleistung ist mangels Steuerbefreiung gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage bestimmt sich gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG nach der Gegenleistung, der Transportvergütung, abzüglich der Umsatzsteuer. Die Steuer, deren Steuerschuldner der M gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG ist, entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der Leistungserbringung. Eine gesetzlich geschuldete Steuer für eine Leistung von einem anderen Unternehmer liegt damit vor. Die A-GmbH bezieht die Leistung auch für ihr Unternehmen. Von dem Vorliegen einer Rechnung i.S.d. §§ 14, 14a UStG gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG kann nach dem Bearbeitungsvermerk ausgegangen werden. Ein Vorsteuerausschluss nach § 15 Abs. 2 UStG ist nicht ersichtlich, sodass die AGmbH die Vorsteuer aus den Transportdienstleistungen des M im Voranmeldungszeitraum der Leistungserbringung und Rechnungsübermittlung geltend machen kann. 2. Transport nach Turin 69

Der A-GmbH steht ebenso ein Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1, 2 UStG aus der Transportdienstleistung des M von Düsseldorf nach Turin zu. Hierbei gelten die soeben getätigten Ausführungen entsprechend; § 3b Abs. 3 UStG ist für die Ortsbestimmung wegen der Unternehmereigenschaft der F nicht einschlägig und § 4 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa UStG ist mangels Ausfuhr als Überführung in das Drittland ebenfalls nicht erfüllt.21

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Allerdings wird die Transportleistung von der A-GmbH zur Verwirklichung von steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen (siehe Beurteilung oben Rz. 36 ff.) bezogen, sodass der Vorsteuerausschluss des § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG greift. Jedoch handelt es sich bei den innergemeinschaftlichen Lieferungen um steuerfreie Umsätze gem. § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG, sodass die Rückausnahme des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG einschlägig ist.

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Der A-GmbH steht folglich ein Vorsteuerabzug aus dem Transport der Türschlosssysteme von Düsseldorf nach Turin zu. 3. Transport nach Detroit

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Analog zur vorangegangenen Prüfung kommt auch für die Inanspruchnahme der Transportleistung des M von Düsseldorf nach Detroit durch die A-GmbH nur ein Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in Betracht.

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Anders als zuvor könnte hier bei der Bestimmung des Ortes der Leistung allerdings § 3a Abs. 8 UStG einschlägig sein. Nach dieser Norm wird eine Güterbeförderungsleistung inkl. Be- und Entladen – und darunter wird man den Transport der Türschlosssysteme hier verstehen müssen – als im Drittland ausgeführt behandelt, wenn die Leistung dort genutzt bzw. ausgewertet wird. Wegen der in § 3b Abs. 1 UStG ge21 Siehe zum Letzteren Stadie3, § 4 UStG Nr. 3 Rz. 7.

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Fall 19: Das Schloss in der Tür zur Welt | Rz. 77

troffenen Grundsatzentscheidung, dass Beförderungsleistungen dort ausgeführt werden, wo sie tatsächlich erbracht werden, kann nur der Teil der Beförderung gem. § 3a Abs. 8 Satz 1 UStG im Drittland liegen, der dort tatsächlich erbracht wird.22 Diese Auffassung stützen auch der Wortlaut des § 3a Abs. 8 Satz 2 UStG sowie des Art. 59a MwStSystRL, die auf die tatsächliche Nutzung abstellen. Voraussetzung für die Rechtsfolge des § 3a Abs. 8 Satz 1 UStG ist daher, dass die Leistung im Drittland ausgewertet bzw. genutzt wird. Insoweit könnte man die Auffassung vertreten, dass die Beförderungsleistung von der A-GmbH an ihrem Sitz in Düsseldorf genutzt wird, um die produzierten Güter nach Detroit zu verschaffen. Dann wäre die Nutzung der Leistung allerdings nicht im Drittland und die Norm würde leer laufen.23 Eine Beförderungsleistung soll – vor dem Hintergrund des Normtelos der Verhinderung einer Doppelbesteuerung – dort genutzt oder ausgewertet, also verbraucht sein, wo sie tatsächlich, d.h. real und physisch erbracht wird, also stattfindet.24 Nicht maßgeblich ist dabei, dass die transportierten Gegenstände im Inland oder im Ausland verbraucht werden;25 Betrachtungspunkt bleibt die Transportleistung. Soweit die Beförderung auf das Drittlandsgebiet entfällt, gilt sie somit gem. § 3a Abs. 8 Satz 1 UStG dort als erbracht und als im Inland nicht steuerbar. Im Übrigen – also für den Teil der Beförderung, der nicht im Drittland, sondern in Deutschland und den Niederlanden stattfindet – greift mangels Sonderbestimmung § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG, sodass der Ort der Leistung in Düsseldorf liegt und die Transportleistung des M insoweit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar ist. Die Aufteilung nach den verschiedenen Leistungsorten kann hier in analoger Anwendung von § 15 Abs. 4 UStG nach der jeweiligen Beförderungsstrecke erfolgen.

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Soweit die sonstige Leistung des M steuerbar ist, bezieht sie sich aber unmittelbar auf die nach Detroit ausgeführten Schlösser (siehe die Beurteilung oben Rz. 44 ff.), sodass die Steuerbefreiung i.S.d. § 4 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa UStG einschlägig ist.

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Im Ergebnis ist die Transportleistung nach Detroit damit – partiell wegen Nichtsteuerbarkeit und partiell wegen Steuerfreiheit der Leistung – nicht mit Umsatzsteuer belastet, sodass auch ein Vorsteuerabzug der A-GmbH gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG ausscheidet.

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4. Transport von Shengzun nach Düsseldorf Für den Transport der mechanischen Bauteile von Shengzun nach Düsseldorf kommt ebenfalls ein Vorsteuerabzug der A-GmbH gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1, 2 UStG in Betracht. Im Grundsatz kann für die Beurteilung der Steuerbarkeit der 22 Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3a UStG Rz. 690; ebenfalls für eine Aufteilung Grambeck, UStB 2012, 133 (139); eine a.A. ist an dieser Stelle gut vertretbar, siehe Wäger in Sölch/Ringleb (Stand: Juni 2021), § 3a UStG Rz. 374; Korn in Bunjes20, § 3a UStG Rz. 148: § 3a Abs. 8 UStG nur, soweit die Leistung insgesamt im Drittlandsgebiet erfolgt. 23 Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3a UStG Rz. 687. 24 Stadie in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3a UStG Rz. 688. 25 Stadie3, § 3a UStG Rz. 143 ff., insb. Rz. 145.

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Rz. 77 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

Transportleistung auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen werden. Fraglich ist allein der Ort der Leistung. Unter Verweis auf die Beurteilung der Transportleistung nach Detroit ist gem. § 3a Abs. 8 Satz 1 UStG der Ort der Transportleistung von Shengzun nach Düsseldorf insoweit im Drittland belegen und die Leistung damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG insoweit nicht steuerbar, wie der Transport tatsächlich „streckenmäßig“ auf das Drittlandsgebiet entfällt. Soweit die Beförderungsleistung auf die Strecke von Rotterdam bis Düsseldorf entfällt, liegt der Ort der Transportleistung gem. § 3a Abs. 2 UStG in Düsseldorf. Insoweit ist die Leistung gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar. Die Transportleistung ist nicht gem. § 4 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb UStG steuerfrei. Die dafür erforderliche Einfuhr lag nur im Verhältnis zum Transport von Shengzun bis Rotterdam vor; insoweit war die Leistung jedoch bereits nicht steuerbar. Von Rotterdam bis Düsseldorf handelt es sich dagegen um keine Einfuhr mehr, sondern lediglich um eine innergemeinschaftliche Beförderung (vgl. § 3b Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 UStG), sodass insoweit gem. den oben zum Transport nach München gemachten Ausführungen zu Steuersatz, Bemessungsgrundlage, Steuerentstehung und Steuerschuldnerschaft die Umsatzsteuer gesetzlich von M geschuldet wird. 78

Ein Vorsteuerausschluss nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG in Bezug auf die steuerfreien Ausfuhrlieferungen nach Detroit gem. § 4 Nr. 1 Buchst. a UStG und die steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen nach Turin gem. § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG (siehe die Beurteilung oben) tritt gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG nicht ein. Im Übrigen ist ein Vorsteuerausschluss nicht ersichtlich.

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Die A-GmbH kann somit Vorsteuer für den Transport der mechanischen Bauteile von Shengzun nach Düsseldorf gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1, 2 UStG im Voranmeldungszeitraum der Leistungsausführung und der Rechnungsüberlassung geltend machen.

E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung 80

Grundlagenwissen: – Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 17 (siehe die Einzelnachweise im Dokument) – Möller, Umsatzsteuerrecht, 2017, Rz. 234 ff., 425 ff., 469 ff. Vertiefung: – Ortwald, Der Fotograf im Leistungsdschungel, JURA 2020, 253 – Meyering/Hintzen/Meißner, Innergemeinschaftliche Reihen- und Dreiecksgeschäfte – Beispielhafte Darstellung unter Berücksichtigung jüngster legislativer Änderungen, DStR 2021, 257 – Kußmaul/Naumann/Granat, Innergemeinschaftliche Reihengeschäfte, UStB 2021, 51–63 324

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Fall 20: U, der Baumeister Schwerpunkte: – Prüfung einer Mehrzahl von Eingangs- und Ausgangsumsätzen – Umsatzsteuerliche Behandlung eines Kommissionsgeschäfts – Einheitlichkeit der Leistung – Leistungen an Arbeitnehmer – Option nach § 9 UStG Bearbeitungszeit: 2,5 Stunden Schwierigkeitsgrad: gehoben

A. Sachverhalt Seit frühester Kindheit begeistert sich der in Essen ansässige U für LEGO-Bausteine und LEGO-Sets. Nachdem U von seinem Arbeitgeber „beurlaubt“ worden ist, widmet er sich auf seinem YouTube-Kanal „Krieg der Steine“ seiner Freude an den kleinen bunten Plastikbausteinen. Dazu stellt er in seinem Kanal in kurzen Videos käuflich zu erwerbende LEGO-Sets, aber auch LEGO-Eigenkreationen vor, testet diese „auf Herz und Nieren“ und gibt Kaufempfehlungen. Werbeeinnahmen von YouTube erhält U nicht. Allerdings verlinkt er unter jedem seiner Videos sein „GoFundMe“Konto verbunden mit der Bitte um Spenden, um seinen kostenlosen Service zu finanzieren. Im Jahr 01 erhält U über dieses „GoFundMe“-Konto mehrere tausend Euro von verschiedenen Personen im In- und Ausland, die seine Videos schauen. Zusätzlich postet U unter den Videos jeweils Hyperlinks großer Internet-Einkaufsportale aus dem Inland, dem übrigen Gemeinschaftsgebiet und dem Drittland, bei denen man die vorgestellten Sets erwerben kann. Bei diesen Hyperlinks – sog. Reflinks – wird der URL im Browser eine Information hinzugefügt, die es der Empfängerwebsite ermöglicht, zu ermitteln, wer die Weiterleitung des Kunden auf die Empfängerseite ermöglicht, wer also den Link „unter die Leute gebracht“ hat. Für jedes auf diesem Weg verkaufte Set erhält U aufgrund einer Vereinbarung mit den Verkaufsportalen daher 10 % des Verkaufspreises von dem jeweiligen Verkaufsportal überwiesen. Motiviert durch die Erfolge mit seinen digitalen Auftritten entschließt U sich, einen kleinen Eckladen in Bochum zu eröffnen, in dem er vor allem größere LEGO-Sets verkauft. Den Eckladen mietet U von der gewerblichen Vermieterin P für eine monatliche Miete an. Die Ausstellungsstücke und Regale zur Warenpräsentation bringt U aus seinem Privatbestand ein; die zum Verkauf stehenden Sets bezieht U von der Großhändlerin G aus Göttingen. U veräußert die Sets im eigenen Namen, aber für Rechnung der G.

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Rz. 1 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

A findet das Angebot des U bei Besuch in dessen Filiale großartig und entscheidet sich trotz notorischer Geldknappheit nach umfassender Beratung durch U für ein großes LEGO-Modell der Freiheitsstatue zum Preis von 2.380 Euro. Als Gratisbeigabe erhält A einen weiteren, kleinen Bausatz. A und U vereinbaren eine Zahlungspause von drei Monaten und eine daran anschließende Tilgung des Kaufpreises in zehn Monatsraten ohne Sicherheitsleistung seitens des A. U zahlt der Großhändlerin G im Anschluss an den Verkauf – wie vereinbart – 1.190 Euro und erstellt ihr eine Gutschrift. Die Geschäfte laufen gut und U hat seine Verkaufsfläche und Umsatzzahlen deutlich vergrößert. Die Größe seines Unternehmens stellt ihn vor neue Herausforderungen, doch U ist kreativ: Damit seine Arbeitnehmer Beruf und Familie miteinander vereinbaren können, stellt er eine Erzieherin ein, die in den Betrieb eingegliedert ist und die Kinder der Arbeitnehmer während der Öffnungszeiten in einem speziell eingerichteten Zimmer betreut. Die entstandenen Lohnkosten für die Erzieherin betragen 3.000 Euro monatlich. Das Angebot steht allen Arbeitnehmern des U mit Kindern im Grundschulalter zur Verfügung. In Dänemark hat U aufgrund seines YouTube-Kanals so viele Fans, dass er dort in Billund eine zweite Filiale seines Geschäftes eröffnet. Um nach der Eröffnung in gewohntem Umfeld Geschäfte tätigen zu können, transportiert er einige seiner Ausstellungsstücke aus seiner Filiale in Bochum nach Billund. Aufgabe: Wie sind die vorstehend geschilderten Sachverhalte aus Sicht des U umsatzsteuerrechtlich zu beurteilen? Bearbeitungshinweis: Es ist nur die deutsche Rechtslage zu prüfen. Liefer- und Umsatzschwellen sind stets überschritten. Von möglichen Optionsrechten ist Gebrauch gemacht worden. § 19 UStG ist nicht zu prüfen. Auf die Anmeldepflichten nach § 18 UStG ist nicht einzugehen. Alle Unternehmer versteuern ihre Umsätze nach vereinbarten Entgelten. Soweit das Gesetz Nachweise verlangt, sind diese erbracht.

B. Einführung in die Fallproblematik I. Inhaltliches Grundwissen zur Falllösung 1. Vermittlungsleistungen durch Hyperlinks 2

Das Vermitteln von Kaufumsätzen erfolgt im Internet regelmäßig über sog. Reflinks, auch Referral- oder Affiliate-Links genannt, und ist mittlerweile fester Finanzierungsbestandteil von Websites mit kostenfreien Serviceangeboten, YouTubern und Influencern. Durch die im Sachverhalt angesprochene Rückverfolgbarkeit des Vermittelnden, können getätigte Umsätze einer vermittelnden Person zugeordnet und nach vorher vereinbarten Vergütungsregelungen abgerechnet werden. Als Beispiel können die mittlerweile weit verbreiteten Schnäppchenportale im Internet genannt 326

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 4

werden, die auf günstige Angebote von Online-Händlern verweisen. Zwischen den Schnäppchenportalen und den Online-Händlern besteht jeweils eine Abrede, dass für Umsätze, die aufgrund einer Weiterleitung von dem Schnäppchenportal bewirkt werden, Vergütungen an die Schnäppchenportale bezahlt werden. Durch die Informationen im Reflink erfolgt die entsprechende Zuordnung eines Verkaufs zu dem Schnäppchenportal. Dieser wirtschaftliche Vorgang ist auch im Sachverhalt zwischen U und den verschiedenen Verkaufsportalen beschrieben und stellt eine Vermittlungsleistung an die Unternehmen durch denjenigen, der auf die Portale hinweist – hier also U –, dar. Gleichzeitig könnte man auch eine Leistung an die Käufer annehmen, etwa wenn diese auf günstige Angebote hingewiesen werden. Im Verhältnis zwischen Vermittler und Käufer fließt allerdings kein Entgelt, sodass mangels Leistungsaustausches eine steuerbare Leistung i.S.d. UStG von vornherein ausscheidet. Die Prüfung dieser sonstigen Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG durch den U an die verschiedenen Verkaufsportale unterlagen neben der unterschiedlichen Ortsbestimmung nach § 3a UStG in Abhängigkeit vom Sitz der Leistungsempfänger keinen Besonderheiten. 2. Kommissionsgeschäfte im Umsatzsteuerrecht Ein Schwerpunkt in diesem Sachverhalt liegt darin, das Kommissionsgeschäft zwischen G und U zu erkennen, das gem. § 3 Abs. 3 UStG umsatzsteuerlich besonders geregelt wird. Kommissionär ist gem. § 383 Abs. 1 HGB, wer es gewerbsmäßig übernimmt, Waren oder Wertpapiere in eigenem Namen für Rechnung eines anderen – des Kommittenten – zu kaufen oder zu verkaufen. In der umsatzsteuerlichen Klausur ist ein Kommissionsgeschäft regelmäßig dadurch aus dem Sachverhalt erkennbar, dass explizit aufgeführt wird, dass ein Geschäft im eigenen Namen und auf fremde Rechnung getätigt wird.1 Ferner ist Indiz für ein Kommissionsgeschäft der Hinweis auf die Abrechnung durch den Kommissionär gegenüber dem Kommittenten durch Gutschrift i.S.d. § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG. Bei der Gutschrift handelt es sich entgegen der landläufigen Bedeutung im Umsatzsteuerrecht – einfach gesprochen – um ein Rechnungsdokument, welches nach dem übereinstimmenden Parteiwillen von dem Leistungsempfänger ausgestellt wird, etwa, weil nur er über die Informationen über die erbrachte Leistung verfügt.2

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Im vorliegenden Fall ist U der Kommissionär und die G Kommittentin und es handelt sich um eine sog. Verkaufskommission, d.h. der Kommissionär verkauft Ware der Kommittentin. Rechtlich betrachtet erbringt U für die G eine Geschäftsbesorgungsleistung, die umsatzsteuerlich nach den allgemeinen Grundsätzen als sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG zu qualifizieren wäre.3 Demnach läge grundsätzlich eine sonstige Leistung im Verhältnis zwischen U und G (Geschäftsbesorgung: Abschluss des Veräußerungsgeschäftes) und eine Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG im Verhältnis zwischen G und A (Übereignung der Statue) vor.

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1 Siehe zur Abgrenzung zum Stellvertreter Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.321. 2 Näheres zur Gutschrift bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.296, und Neeser in Wäger, § 14 UStG Rz. 52 ff. 3 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.102.

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Rz. 5 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

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§ 3 Abs. 3 Satz 1 UStG greift auf die gesetzliche Definition des Kommissiongeschäfts in § 383 HGB zurück und führt das Kommissionsgeschäft einer von den gerade geäußerten Grundsätzen abweichenden umsatzsteuerlichen Regelung zu: Umsatzsteuerrechtlich fingiert § 3 Abs. 3 Satz 1 UStG, dass zwischen dem Kommittenten und dem Kommissionär eine Lieferung vorliegt. Gem. § 3 Abs. 3 Satz 2 UStG gilt dabei der Kommissionär bei der hiesigen Verkaufskommission als Abnehmer. Demnach sind im vorliegenden Fall zwei Leistungen zu beurteilen, die durch Fiktion zwei gleichartige aufeinander folgende Lieferungen darstellen:4 Eine Lieferung im Verhältnis zwischen U und A (Ausgangsleistung) und – eine juristische Sekunde – vorgeschaltet eine Lieferung im Verhältnis zwischen G und U (Eingangsleistung).

6

Wichtig: 1. Die Übergabe der Ware von G an U, damit U diese in seinen Geschäftsräumlichkeiten ausstellen kann, ist als rechtsgeschäftsloses Verbringen nicht umsatzsteuerbar; eine Ausnahme besteht nur in den Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1a UStG erfüllt sind.5 2. Zwar liegen beide Lieferungen hintereinander und die Ware gelangt auch unmittelbar von U an A, die Voraussetzungen eines Reihengeschäftes i.S.d. § 3 Abs. 6a Satz 1 UStG liegt in den Fällen des Kommissionsgeschäfts dennoch nicht vor. Denn die Lego-Statue gelangt nicht vom ersten Unternehmer (hier die G) zum letzten Abnehmer (A), sondern von U zu A.

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Beide Leistungsbeziehungen werden also wie normale Lieferungen geprüft, wobei die Lieferung im Verhältnis zwischen G und U unbewegt i.S.d. § 3 Abs. 7 Satz 1 UStG ist6 und die Lieferung im Verhältnis zwischen U und A bewegt i.S.d. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG ist.

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Zum Verständnis: Die umsatzsteuerliche Behandlung ändert an der wirtschaftlichen Bedeutung der Vereinbarung zwischen U und G nichts, d.h. das wirtschaftliche Ergebnis des Sachverhaltes wird durch die Fiktion in § 3 Abs. 3 Satz 1 UStG nicht verändert (Stundung und Gratisbeigabe werden zur Vereinfachung ausgeklammert): Statt eines Geschäftsbesorgungsentgeltes i.H.v. 1.190 Euro, von dem U 190 Euro Umsatzsteuer an das Finanzamt hätte abführen müssen, erhält U nunmehr – die Stundung sowie die vereinbarte Ratenzahlung außer Acht gelassen – 2.380 Euro von A, von denen 380 Euro an das Finanzamt abfließen. Davon leitet U 1.190 Euro an die G für den fingierten „Erwerb“ der Statue weiter, aus dem er als Eingangsleistung einen Vorsteuerabzug i.H.v. 190 Euro gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG hat. In beiden Fällen verbleibt bei U ein Betrag von 1.000 Euro.

4 Siehe dazu auch EuGH v. 4.5.2017 – C-274/15, ECLI:EU:C:2017:333, juris Rz. 88. 5 Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 2460 „Kommissionsgeschäft“. 6 Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 2460 „Kommissionsgeschäft“; Martin in Sölch/Ringleb (Stand: Juni 2021), § 3 UStG Rz. 412; das ist nicht unumstritten, siehe nur Stadie3, § 3 UStG Rz. 54.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 10

3. Einheitlichkeit der Leistung a) Klausuraufhänger Eine weitere, gerne abgefragte Thematik in umsatzsteuerrechtlichen Klausuren ist die des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Leistung. Derartige Fragestellungen sind im Sachverhalt dadurch erkennbar, dass in einem wirtschaftlichen Vorgang nicht eine, sondern mehrere Leistungen gemeinsam angeboten werden. In diesem Klausurfall erhält der A nicht nur die Freiheitsstatue aus LEGO-Steinen, sondern ebenfalls ein weiteres Bauset „gratis“, sodass isoliert betrachtet grundsätzlich zwei Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG vorliegen. Außerdem wurde der A durch U beraten, was ebenfalls einen wirtschaftlichen konsumierbaren Vorteil i.S.e. sonstigen Leistung gem. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG darstellt. Zusätzlich vereinbaren U und A noch eine Zahlungspause sowie eine Ratenzahlung, was wirtschaftlich einer Kreditgewährung gleichkommt und letztlich ebenfalls ein konsumierbarer Vorteil in Form einer sonstigen Leistung ist. In der Bearbeitung ist herauszustellen, ob diese vier verschiedenen Leistungen einzeln zu beurteilen sind oder nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung nur einen einheitlich zu beurteilenden steuerbaren Umsatz darstellen.

9

b) Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung Obwohl jede Leistung umsatzsteuerlich grundsätzlich separat zu würdigen ist, gebietet es der Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung, wirtschaftlich als einheitliche Leistung anzusehende Leistungsbündel, die von einem Unternehmer an einen Leistungsempfänger erbracht werden, für Zwecke der Umsatzsteuer nicht künstlich aufzuspalten.7 Eine solche einheitliche Leistung ist daher in Bezug auf die Steuerbarkeit, die Steuerfreiheit, die Bemessungsgrundlage, den Steuersatz, die Steuerentstehung und den Steuerschuldner grundsätzlich einheitlich zu beurteilen, wenn nicht das Gesetz eine getrennte Beurteilung vorschreibt – man spricht dann vom Aufteilungsgebot.8 In der Klausurbearbeitung ist immer in zwei Schritten zu prüfen:9 An erster Stelle ist zu prüfen, ob eine einheitliche Leistung vorliegt. Wird dies bejaht, ist an zweiter Stelle zu prüfen, welches Leistungselement nun für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung maßgebend ist. Ganz plastisch zeigen sich die Folgen dieser Prüfung, wenn etwa ein Leistungselement eine Lieferung und ein anderes Leistungselement eine sonstige Leistung ist. Für die Ortsbestimmung muss dann entschieden werden, ob die Ortsvorschriften für die Lieferung oder die Ortsvorschriften für die sonstige Leistung Anwendung finden sollen.10

7 EuGH v. 25.2.1999 – C-349/96, ECLI:EU:C:1999:93, juris Rz. 28 f. 8 Oelmeier in Sölch/Ringleb (Stand: Juni 2021), § 1 UStG Rz. 15, 21; siehe zum Aufteilungsgebot auch Nieskens, UR 2018, 181. 9 Zum Prüfungsaufbau auch Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.110. 10 Eine Ausnahme gilt für die Ortsbestimmung nach § 3e Abs. 1 UStG, die sowohl für bestimmte Lieferungen als auch für bestimmte sonstige Leistungen gilt.

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Rz. 11 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

c) Kriterien einer einheitlichen Leistung 11

Maßgeblich für die erste Frage, ob eine einheitliche Leistung vorliegt oder mehrere (Einzel-)Leistungen vorliegen, ist eine Gesamtbetrachtung. Diese ist nach der Verkehrsauffassung unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles und des Interesses eines durchschnittlichen Leistungsempfängers im konkreten Fall vorzunehmen.11 Vereinbarten Gesamtpreisen oder Einzelpreisen kommt dabei nur eine Indizwirkung zu.12 Ebenso sind formale Aspekte, wie die Aufteilung auf zwei Vertragsurkunden oder die Bezeichnung durch die Parteien von untergeordneter Bedeutung.13 Ein gewichtiges Indiz gegen eine Einheitlichkeit der Leistung liegt dann vor, wenn die verschiedenen Leistungen unabhängig voneinander bezogen werden können und dem Leistungsempfänger damit eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird, eine der Leistungen nicht zu beziehen.14

12

Hinweis: Die Beurteilung der „Verkehrsauffassung unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles und des Interesses des Leistungsempfängers“ lädt in der Klausur dazu ein, sich umfassend mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen und die einzelnen Aspekte und Hinweise im Sachverhalt lebensnah auszulegen und zu bewerten. Hier lassen sich in einer Klausur also regelmäßig Punkte sammeln.

d) Arten einheitlicher Leistungen 13

Ist die Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass eine einheitliche Leistung vorliegt, ist in einem zweiten Schritt herauszuarbeiten, welche Art der einheitlichen Leistung vorliegt, also in welchem Verhältnis die einzelnen Leistungselemente des einheitlichen Leistungsbündels zueinander stehen.15 Hier ist wiederum zu differenzieren:

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Möglich ist zum einen, dass sich das Leistungsbündel aus einer Hauptleistung und einer oder mehrerer Nebenleistungen zusammensetzt. Eine Nebenleistung grenzt sich von der Hauptleistung dadurch ab, dass sie lediglich der optimalen Nutzung der Hauptleistung dient, also keinen eigenen Zweck verfolgt.16 Klassische Beispiele sind die Brötchentüte beim Kauf von Backwaren beim Bäcker oder die Beratung in einem Fachgeschäft vor dem Kauf der Ware. In der Klausur sind dann die Hauptleistung und die Nebenleistung herauszuarbeiten und darzustellen.

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Denkbar ist aber zum anderen, dass mindestens zwei Hauptleistungen vorliegen, die ggf. durch Nebenleistungen ergänzt werden. Dann spricht man von einer „komplexen Leistung“.17 11 EuGH v. 19.11.2009 – C-461/08, ECLI:EU:C:2009:722, juris Rz. 36 ff.; v. 8.12.2016 – C-208/ 15, ECLI:EU:C:2016:936, juris Rz. 28 f.; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.111. 12 EuGH v. 25.2.1999 – C-349/96, ECLI:EU:C:1999:93, juris Rz. 31; v. 17.1.2013 – C-224/11, ECLI:EU:2013:15, juris Rz. 44. 13 EuGH v. 19.11.2009 – C-461/08, ECLI:EU:C:2009:722, juris Rz. 36 ff. 14 Oelmeier in Sölch/Ringleb (Stand: Juni 2021), § 1 UStG Rz. 19. 15 Siehe dazu ausführlich Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.112. 16 EuGH v. 29.3.2007 – C-111/05, ECLI:EU:C:2007/195, juris Rz. 28 m.w.N. 17 EuGH v. 21.2.2013 – C-18/12, ECLI:EU:C:2013:95, juris Rz. 28 f.; Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.112.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 21

e) Behandlung von einheitlichen Leistungen Wurde die einheitliche Leistung ihrer Art nach eingeordnet, gilt je nach Art des Leistungsbündels Folgendes:

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Für das Verhältnis von Neben- und Hauptleistung ist das Primat der Hauptleistung maßgebend: Die Nebenleistung ordnet sich der Hauptleistung steuerlich unter und teilt ihr umsatzsteuerrechtliches Schicksal.18

17

Liegt eine „komplexe Leistung“ mit mehreren Hauptleistungen vor, ist der wirtschaftliche Gehalt der einheitlichen Leistung maßgebend.19 Zu prüfen ist also, welche der gegebenen Hauptleistungen bei wirtschaftlicher Betrachtung überwiegt, dem Leistungsbündel also das Gepräge gibt. Hierbei spielen die Kosten der einzelnen Leistung im Verhältnis zu den Gesamtkosten eine Rolle, aber auch, welche Leistung für den Kunden nach der Verkehrsauffassung von Bedeutung sind.20 Daher ist auch an dieser Stelle eine umfangreiche Arbeit mit dem Sachverhalt verlangt. Liegt eine „komplexe Leistung“ vor, die auch eine oder mehrere Nebenleistungen beinhaltet, ordnen sich diese der die komplexe Leistung prägenden Hauptleistung unter.21

18

4. Option zur Steuerpflicht nach § 9 UStG Die Möglichkeit der Option zur Steuerpflicht bei einem originär steuerfreien Umsatz sollte bei der Bearbeitung von umsatzsteuerrechtlichen Sachverhalten stets im Auge behalten werden.22

19

Im Regelfall erfolgt der Hinweis auf eine entsprechende Fallkonstellation durch den Bearbeitungshinweis, dass mögliche Optionsrechte ausgeübt worden sind oder dass von Wahlrechten stets Gebrauch gemacht worden ist. Wirtschaftliche Motivation für die Ausübung des Optionsrechts zur Steuerpflicht kann sein, dass dadurch der Vorsteuerabzug ermöglicht wird, der ansonsten ggf. wegen § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG ausgeschlossen sein kann.

20

Voraussetzung für die Option zur Steuerpflicht ist zunächst, dass der Umsatz an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird und eine der in § 9 Abs. 1 UStG genannten Steuerbefreiungen einschlägig ist. § 9 Abs. 2 und 3 UStG sehen sodann für bestimmte Steuerbefreiungen weitere Voraussetzungen für eine Option von der Steuerfreiheit zur Steuerpflicht vor. Im hiesigen Fall liegt eine Vermietungsleistung von der P an U vor, die gem. § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG steuerfrei ist, sodass neben den Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 UStG auch die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 UStG im Fall zu prüfen sind.

21

Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.112; Stadie3, § 3 UStG Rz. 202. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.112. EuGH v. 29.3.2007 – C-111/05, ECLI:EU:C:2007/195, juris Rz. 30 ff. Zu Besonderheiten im Zusammenhang mit sonstigen „komplexen“ Leistungen, bei denen die Leistungsbestandteile gleichrangig nebeneinanderstehen, siehe Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.112. 22 Ausführlich Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.230 ff.

18 19 20 21

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Rz. 22 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

II. Anforderungsprofil 22

Die vorliegende Klausuraufgabe schließt den Umsatzsteuerblock in diesem Fallbuch ab und erfordert nicht nur umfassende Kenntnisse im Umsatzsteuerrecht. Für eine ausführliche Lösungsskizze ist – wie häufig in umsatzsteuerrechtlichen Klausuren – nicht viel Zeit vorgesehen. Es reicht u.E. wiederum aus, eine Lösungsübersicht zu erstellen, anhand derer die zu prüfenden Umsätze grafisch herausgearbeitet und während der Klausurbearbeitung „abgearbeitet“ werden können. Soweit in den einzelnen Leistungsbeziehungen Problemfelder liegen, sollte mit einem Stichwort auf die Problematik hingewiesen werden, damit diese bei der Ausarbeitung nicht vergessen wird. Die Grafik dient zudem als Kurzübersicht über den Sachverhalt.

23

Eine Sachverhalts- und Lösungsskizze, die durch das rechtliche Gutachten leitet, könnte etwa wie folgt aussehen:

24

Die zur Verfügung stehende Zeit von zweieinhalb Stunden macht es notwendig, das Geschriebene auf das Notwendige zu beschränken und unproblematische Punkte knapp abzuhandeln. Dies setzt voraus, dass der Prüfungsaufbau von Eingangs- und Ausgangsumsätzen sicher beherrscht wird.

25

Im Bearbeitungsvermerk sollte der Hinweis, dass mögliche Optionsrechte ausgeübt worden sind, im Falle einer Steuerfreiheit den Blick darauf lenken, ob die Option zur Steuerpflicht nach § 9 UStG in Betracht kommt.

26

Die Erläuterungen zur Funktionsweise von sog. Reflinks im Sachverhalt sollte außerdem hellhörig machen, denn an dieser Stelle wird der wirtschaftliche Vorgang beschrieben, der umsatzsteuerlich zu würdigen ist. Weiterhin taucht das Schlagwort der „Gutschrift“ im Aufgabentext auf, das als besondere Ausstellungsform der Rechnung in der Prüfung des Vorsteuerabzugs nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG zu verorten ist. Es ist sinnvoll, dieses nicht unkommentiert in der Klausur „stehen“ zu lassen, sondern kurz normativ zu verorten.

27

Wie auch in der Klausur zuvor, ist kein echter „Schwerpunkt-Umsatz“ in der Klausur enthalten, sondern die einzelnen Umsätze stehen wiederum relativ gleichmäßig zueinander. 332

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 32

C. Gliederung Die Lösung des Falls kann wie folgt gegliedert werden:

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I. Unternehmereigenschaft 30 II. Vermittlung von Umsätzen über Hyperlinks 32 III. YouTube-Videos für Kunden im In- und Ausland 33 IV. Eröffnung des Eckladens 36 V. Verkauf der LEGO-Statue an A 40 VI. Kinderbetreuung in den Räumlichkeiten des U 46 VII.Transport von Bochum nach Billund 51 VIII. Vorsteuerabzug LEGO-Statue 52 IX. Vorsteuerabzug Miete 54

D. Ausformulierte Lösung Zu prüfen ist, inwieweit U für die dargestellten Vorgänge Umsatzsteuer schuldet und Vorsteuer geltend machen kann. Für die von U erbrachten Leistungen kommt jeweils eine Steuerbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG in Betracht.

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I. Unternehmereigenschaft U ist mangels Eingliederung in einen Personenzusammenschluss selbständig mit Einnahmeerzielungsabsicht – zunächst aus den Provisionen und Spenden, später aus dem Verkauf im Laden – über eine gewisse Dauer beruflich tätig und damit Unternehmer i.S.d. § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 UStG.

30

Hinweis: Die Unternehmereigenschaft des U ist hier nicht zweifelhaft, sodass die Lösung an dieser Stelle auch kurz und prägnant ausfallen muss. Wer hier in der Klausurbearbeitung ausführlich die Unternehmereigenschaft des U thematisiert, der hat für die übrige Fallbearbeitung wertvolle Zeit vergeben.

31

Es ist zudem sinnvoll, die Prüfung der Unternehmereigenschaft „vor die Klammer zu ziehen“, wenn mehrere Umsätze eines Unternehmers geprüft werden. Entsprechendes gilt für Prüfungsabschnitte, die sich ansonsten wiederholen würden (siehe dazu auch Fall 19, dort: gleich gelagerte Leistungen ins Inland/Ausland).

II. Vermittlung von Umsätzen über Hyperlinks Die Vermittlung von Internetkäufern an Kaufplattformen über die Hyperlinks bzw. Reflinks unter seinen YouTube-Videos stellt mangels Verschaffung der Verfügungsmacht eine Vielzahl von sonstigen Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG an die 333

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Rz. 32 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

Inhaber der Kaufplattformen dar. Leistungsort ist gem. § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG am Sitz der Händler, sodass nur solche Vermittlungen steuerbar sind, die an Händler mit Sitz in Deutschland erfolgen. Es wurde auch eine Vermittlungsprovision i.H.v. 10 % des Kaufpreises vereinbart, sodass ein Entgelt und damit ein Leistungsaustausch vorliegt. Die Leistungen erfolgen im Rahmen des Unternehmens des U als Hauptgeschäft und sind damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar. Mangels Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG sind die Umsätze gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage ist gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG die Vermittlungsprovision abzüglich der Umsatzsteuer von 19 %. Steuerschuldner ist A gem. § 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG und die Steuer entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der jeweiligen erfolgreichen Vermittlung. III. YouTube-Videos für Kunden im In- und Ausland 33

Mangels Verschaffung der Verfügungsmacht stellen die Vorstellungen der LEGO-Sets auf YouTube sonstige Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG in Form von Kaufberatungen an die Zuschauer dar. Schwerpunkt und Inhalt der Videos ist die Vorstellung und die Bewertung der LEGO-Sets. Der Hinweis auf die Einkaufsmöglichkeit in Internetshoppingportalen über die Hyperlinks erfolgt nur in der Kommentarspalte und bezieht sich unmittelbar auf die im Video gezeigten LEGO-Sets. Der Einkaufshinweis steht daher nicht gleichrangig neben der Kaufberatung im einzelnen Video, sondern dient einer möglichst schnellen Umsetzung der ggf. aufgrund der Beratung im Video getroffenen Kaufentscheidung. Als Nebenleistungen treten die Hinweise auf die Einkaufsmöglichkeit damit hinter die Hauptleistung der Kaufberatung zurück und teilen ihr umsatzsteuerliches Schicksal.

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Fraglich ist, ob ein Entgelt und damit ein Leistungsaustausch vorliegt. Ein Leistungsaustausch setzt einen unmittelbaren Zusammenhang i.S. einer inneren Verknüpfung zwischen Leistung und Gegenleistung voraus.23 Man könnte zwar argumentieren, dass bereits jeder kausale Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung aus verbrauchsteuerrechtlicher Sicht für eine Steuerbarkeit ausreicht.24 Dieser Einwand verkennt aber, dass die Umsatzsteuer technisch als Verkehrsteuer ausgestaltet ist, deren Grundgedanke es ist, dass die Steuerschuld auf den Leistungsempfänger abgewälzt wird und bei diesem den Verbrauch besteuert.25 Eine bloße Kausalität zwischen Leistung und Gegenleistung bildet dagegen lediglich eine Einkommensverwendung, nicht aber auch zwingend den Verbrauch ab und kann damit für einen Leistungsaustausch nicht genügen.26 Hier können die Kunden freiwillig auf ein GoFundMe-Konto des U Zahlungen leisten, um ihn zu unterstützen, sodass zwar ein irgendwie gearteter

23 EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93, juris Rz. 14; v. 21.3.2002 – C-174/00, juris Rz. 39; Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 1 UStG Rz. 822. 24 Stadie3, § 1 UStG Rz. 75. 25 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.123. 26 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.123; Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 1 UStG Rz. 821.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 37

kausaler Zusammenhang besteht. Eine Verpflichtung zur Zahlung besteht aber nicht und ein Zusammenhang zwischen Zahlung und Videobetrachtung im Sinne eines do ut des ist nicht gegeben. Dies zeigt sich auch daran, dass U durch erhaltene Zahlungen nicht verpflichtet ist, weiter auf YouTube tätig zu werden. Die innere Verknüpfung zwischen Leistung und Gegenleistung, die ein Leistungsaustausch fordert, ist also nicht gegeben, sodass mangels Leistungsaustauschs keine steuerbare Leistung i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG vorliegt.27 Alternative Lösung: Eine andere Lösung, also das Bejahen des Leistungsaustausches, ist hier mit entsprechender Argumentation ebenfalls vertretbar.28 Dann müsste bei der Ortsbestimmung die Regelung des § 3a Abs. 5 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 UStG gesehen werden, sodass die Umsätze nur insoweit steuerbar sind, wie Privatpersonen im Inland Leistungsempfänger sind. Bzgl. der Umsätze, die in den übrigen Mitgliedstaaten ausgeführt werden, kann auf das Mini-OneStop-Shop-Verfahren des § 18h UStG hingewiesen werden. Dass die Leistungen im Rahmen des Unternehmens des U erbracht werden, ist unproblematisch. Die steuerbaren Leistungen sind mangels Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG auch zu 19 % gem. § 12 Abs. 1 UStG steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage richtet sich nach § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG und ist der den steuerbaren Umsätzen zugeordnete Betrag auf dem GoFundMe-Konto abzüglich der Umsatzsteuer von 19 %. Steuerschuldner ist A gem. § 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG und die Steuer entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums der jeweiligen Vermittlung.

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IV. Eröffnung des Eckladens Das Verbringen der Ausstellungsstücke und Regale aus seinem Privatbestand in die Räumlichkeiten des Eckladens innerhalb Deutschlands stellt mangels konsumierbaren Vorteils für einen Dritten keine Leistung dar und erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1a UStG, sodass eine Steuerbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG ausscheidet.

36

Fraglich ist, ob insoweit eine Korrektur der Vorsteuer nach § 15a UStG für die Gegenstände vorzunehmen ist, die U als Privatperson erworben hat, nunmehr aber in seinem Unternehmen als Ausstellungsstücke verwendet. Dagegen wird vorgebracht, dass das Tatbestandsmerkmal der „für den ursprünglichen Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse“ i.S.d. § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG nicht solche Umstände i.S.d. § 15 Abs. 1 UStG umfasse.29 U müsste nach dieser Auffassung die Ausstellungsstücke

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27 Siehe dazu die Entscheidung des EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93, juris Rz. 20, im Fall eines Straßenmusikers, für dessen Tätigkeit „keine Vergütung vereinbart wird, selbst wenn der Betreffende um die Zahlung von Geld bittet und gewisse Beträge als Vergütung erhält, deren Höhe jedoch weder bestimmt noch bestimmbar ist“. 28 Siehe z.B. die alte Auffassung des Bundesfinanzhofs in seinem Urteil v. 7.5.1981 – V R 47/ 76, BStBl. II 1981, 495, oder Stadie3, § 1 UStG Rz. 75. 29 Grundlegend EuGH v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:1991:315, juris Rz. 11 f.; v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C2009:254, juris Rz. 44; BFH v. 11.4.2008 – V R 10/07, BStBl. II 2009, 741, juris Rz. 51.

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Rz. 37 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

bereits als Unternehmer für sein Unternehmen i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG bezogen haben. Hier erfolgte der Bezug durch U aber ursprünglich für seine private Sammlung. Eine Vorsteuerkorrektur wegen der „Einlage“ käme danach nicht in Betracht. 38

Allerdings widerspricht es dem Zweck der Umsatzbesteuerung und des Vorsteuerabzugs, die Neutralität der Mehrwertsteuer und die Gleichbehandlung der Unternehmer sicherzustellen, wenn in den Fällen der „Einlage“ keine Vorsteuerkorrektur durchgeführt wird.30 Denn der Unternehmer nutzt diese Gegenstände ab der „Einlage“ nunmehr unternehmerisch, sodass es nur konsequent ist, auch den anteiligen Vorsteuerabzug zuzubilligen. Berücksichtigt man dazu, dass Sinn und Zweck des § 15a UStG ist, den Vorsteuerberechtigten nicht mit unberechtigten Vorteilen oder Nachteilen zu konfrontieren,31 müsste § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG so ausgelegt werden, dass die „ursprünglich für den Vorsteuerabzug maßgebenden Verhältnisse“ auch solche i.S.d. § 15 Abs. 1 UStG umfassen. Durch diese Auslegung wird der Wortlaut des § 15a Abs. 1 Satz 1 UStG jedenfalls nicht überschritten.32 Somit käme unter den weiteren Voraussetzungen des § 15a UStG eine Korrektur der Vorsteuer aufgrund der „Einlage“ in Betracht.

39

Hinweis: Die Prüfung von § 15a UStG in diesem Umfang ist u.E. an dieser Stelle nur von besonders guten Kandidatinnen und Kandidaten zu erwarten, da sich die Norm an dieser Stelle nicht zwingend aus dem Sachverhalt heraus aufdrängt und zudem umfassende systematische Kenntnisse im Umsatzsteuerrecht verlangt, die es zudem erfordern, sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesfinanzhofs entgegenzustellen. Inwieweit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mittlerweile Änderungen erkennen lässt, ist bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht Rz. 17.331, nachzulesen.

V. Verkauf der LEGO-Statue an A 40

Mit dem Verkauf der LEGO-Statue im eigenen Namen, aber für Rechnung der G und der Übergabe an A wird U in einem Kommissionsgeschäft (§§ 383 ff. HGB) als Kommissionär tätig und erbringt – wie anhand von § 3 Abs. 3 UStG deutlich wird, abweichend von der zivilrechtlichen Beurteilung – selbst eine Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG an A.

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Die Kaufberatung durch U im Ladenlokal ist unselbständige Nebenleistung zur Hauptleistung – der Lieferung der Statue – und teilt ihr Schicksal. Die Beigabe des Gratisartikels stellt ebenfalls eine Lieferung dar. Mit der Stundung und anschließenden Ratenzahlung gibt U dem A einen Kredit, was eine sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1, 2 UStG darstellt. 30 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.331; ausführlich Frye in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 15a UStG Rz. 162 ff. 31 Stadie3, § 15a UStG Rz. 127. 32 Dies gilt gleichermaßen für den Wortlaut des Art. 187 Abs. 2 UAbs. 2 MwStSystRL, siehe dazu auch Stadie3, § 15a UStG Rz. 128.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 45

Fraglich ist, ob hier eine oder mehrere – ggf. „komplexe“ – Leistungen vorliegen. Nach dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung dürfen einheitliche wirtschaftliche Vorgänge für umsatzsteuerliche Zwecke nicht künstlich aufgespalten werden. Maßgeblich ist dabei die Sicht eines Durchschnittsverbrauchers im konkreten Fall. Ein gemeinsamer Vertrag und eine einheitliche Bezahlung haben indizielle Bedeutung. Für getrennte Leistungen spricht, wenn die verschiedenen Leistungen auch unabhängig voneinander bezogen werden können. Zunächst ist festzustellen, dass der Gratisartikel zwar gemeinsam mit der Statue abgegeben wird, aber grundsätzlich einen eigenen Verkaufspreis hat und auch separat erworben werden kann, sodass die beiden Lieferungen Statue und Gratisset nicht zusammenzufassen sind, sondern eigenständige Leistungen darstellen.

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Alternative Lösung: Mit entsprechender Argumentation ist es ebenfalls vertretbar, die Gratiszugabe als unselbständige Nebenleistung einzuordnen.

43

Die Finanzierung hingegen dient aus der Sicht des A nur dem Erwerb der Statue und ist wirtschaftlich eng mit deren Kauf verbunden und auch kalkulatorisch dort berücksichtigt. Unabhängig von einem Kauf hätte der U dem A wohl keinen Kredit gewährt, was insgesamt für eine Unselbständigkeit der Kreditgewährung spricht.33 Somit liegen zwei Lieferungen vor, die die Kaufberatung und Kreditgewährung als unselbständige und damit umsatzsteuerlich subsidiäre Nebenleistungen beinhalten.

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Der Ort der Lieferungen liegt gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG in Bochum. Durch den vereinbarten Kaufpreis liegt auch ein Leistungsaustausch vor, wobei der Kaufpreis auf die Statue und den Gratisartikel nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verteilen ist. Dass dieser Kaufpreis hier in ein Darlehen umgewandelt worden ist, ist unschädlich.34 Die Umsätze erfolgen als Hauptgeschäfte im Rahmen des Unternehmens und sind steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG. Eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 8 Buchst. a UStG scheidet aufgrund dessen, dass die Kreditgewährung nur Nebenleistung ist und kein Aufteilungsgebot besteht, aus. Die Umsätze sind somit gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage beträgt gem. § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG insgesamt für beide Leistungsbündel 2.000 Euro. Die Umsatzsteuer i.H.v. 380 Euro entsteht gem. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums des Verkaufs und Steuerschuldner ist U gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG.35

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33 Siehe insoweit auch die Wertung in Art. 14 Abs. 2 Buchst. b MwSystRL für den Fall des Eigentumsvorbehaltes, der hier gerade nicht vereinbart ist. 34 Wirtschaftlich hat der U als Darlehensgeber das Geld von A vereinnahmt und sodann wieder ausgekehrt. Man spricht insoweit von einer Novation (Einzelheiten dazu bei Kister in Herrmann/Heuer/Raupach (Stand: September 2021), § 11 EStG Rz. 56). 35 Siehe zur Abgrenzung den wirtschaftlich anders gelagerten Fall in EuGH v. 29.11.2018 – C-548/17, juris Rz. 23 ff. und die dortigen Aussagen zur Steuerentstehung bei Ratenzahlung.

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Rz. 46 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

VI. Kinderbetreuung in den Räumlichkeiten des U 46

Mit der Betreuung der Kinder in seinen speziell eingerichteten Räumen durch fachkundiges Personal erbringt U sonstige Leistungen i.S.d. § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG an seine Arbeitnehmer.

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Fraglich ist, ob die Leistung entgeltlich erfolgt. Eine Geldzahlung leisten die Arbeitnehmer für die Betreuung ihrer Kinder nicht, sodass ein Entgelt insoweit ausscheidet. Jedoch könnte die anteilige Arbeitsleistung eine Gegenleistung für die Betreuung darstellen, sodass ein tauschähnlicher Umsatz i.S.d. § 3 Abs. 12 Satz 2 UStG gegeben sein könnte. Dazu müsste aber bei der Würdigung der Umstände ein entsprechender Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung bestehen und die Gegenleistung der Arbeitnehmer für die Leistung des Arbeitgebers müsste quantifizierbar oder zumindest abgrenzbar sein; nicht ausreichend ist es, dass die Zuwendungen lediglich auf dem Dienstverhältnis beruhen, da ansonsten der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1b Nr. 2, Abs. 9a UStG ausgehöhlt würde.36 Zwar bietet U die Betreuungsleistung nur seinen Arbeitnehmern an, sodass sie auf dem jeweiligen Arbeitsverhältnis beruht. Allerdings stellt U die Betreuungsleistung nur Arbeitnehmern mit Kindern im Grundschulalter zur Verfügung, verlangt hierfür aber keine Mehrarbeit in diesem Zeitraum durch die betroffenen Arbeitnehmer. Vielmehr erbringen die Arbeitnehmer, die das Betreuungsangebot in Anspruch nehmen, genau die gleiche Leistung, die auch die übrigen Arbeitnehmer ohne Kinder im Grundschulalter erbringen. In der Gesamtwürdigung fehlt es damit an einer abgrenzbaren Leistung der Arbeitnehmer für die Betreuungsleistung.37 Ein Entgelt und somit auch ein Leistungsaustausch liegt damit nicht vor, sodass eine Steuerbarkeit nur unter Zuhilfenahme von § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG angenommen werden kann.

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§ 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG setzt voraus, dass eine Leistung des Unternehmers für den privaten Bedarf des Personals oder aus außerunternehmerischen Zwecken erfolgt. Hier könnte eine Leistung für den privaten Bedarf des Personals vorliegen. Die Betreuung und Erziehung der eigenen Kinder ist eine der Uraufgaben der Eltern, die üblicherweise im familiären Bereich stattfindet. Wird die Kinderbetreuung den Arbeitnehmern des U hier zeitweise abgenommen, werden die Arbeitnehmer im privaten Bereich zeitlich und finanziell entlastet. Denn ansonsten müssten sie ggf. beruflich zurücktreten, um ihre Kinder betreuen zu können oder diese während der Arbeitszeiten anderweitig betreuen lassen. Die Betreuung der Kinder durch U sorgt somit für eine Entlastung der Eltern von ihren eigenen höchstpersönlichen Aufgaben, sodass es sich bei der Übernahme der Kinderbetreuung um eine Leistung von U für den privaten Bedarf des Personals handelt. Dass U auch unternehmerische Zwecke verfolgt, indem seine Arbeitnehmer Beruf und Familie durch sein Betreuungsangebot besser vereinbaren können und daher die Attraktivität des von ihm angebotenen Ar-

36 BFH v. 31.7.2008 – V R 74/05, juris Rz. 34 f.; grundlegend BFH v. 7.5.1981 – V R 47/76, BStBl. II 1981, 495, juris Rz. 23 ff. 37 Bei einer entsprechenden Begründung eines Leistungsaustausches ist die Annahme eines tauschähnlichen Umsatzes bei der Korrektur aber als noch vertretbar angesehen worden.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 50

beitsplatzes und unter Umständen auch die Produktivität der einzelnen Arbeitnehmer steigt, könnte jedoch zu einer anderen Bewertung führen. Der unternehmerische Zweck müsste dafür aber derart im Vordergrund stehen, dass die private Bedürfnisbefriedigung des Personals demgegenüber nur nebensächlich und von untergeordneter Bedeutung ist.38 Dies ist hier mit Blick auf die private Entlastung der Arbeitnehmer im höchstpersönlichen Lebensbereich nur schwerlich begründbar.39 Jedenfalls wird die elterliche Sorge nach der Verkehrsanschauung schwerer zu gewichten sein, als ein unternehmerisches Interesse an stets anwesenden Arbeitnehmern. Somit ist der unternehmerische Zweck nicht im Vordergrund. Dass lediglich eine Aufmerksamkeit von U an seine Arbeitnehmer vorliegt, die einen Wert von 60 Euro nicht übersteigt, ist bei kostenintensiven Betreuungsleistungen nicht ersichtlich.40 49

Alternative Lösung: Eine andere Auffassung ist mit entsprechender Begründung vertretbar.41

Ort der Leistung ist gem. § 3a Abs. 1 Satz 2 UStG Bochum. Die gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbaren Leistungen sind nicht gem. § 4 Nr. 23 Buchst. a UStG steuerbefreit. Insoweit dürfte eine systematische Gewinnerzielung des U in seinem Gesamtunternehmen der Steuerbefreiung entgegenstehen. Mangels Steuerbefreiung sind die Leistungen gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage bestimmt sich gem. § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Satz 1, 2; Nr. 2 Satz 2, 3; Satz 2 UStG nach den bei der Ausführung der Umsätze entstandenen Ausgaben – hier also Personal-, Raum- und Spielzeugkosten. Dass die Personalkosten nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen und dennoch Teil der Bemessungsgrundlage sind, mag zwar mit Blick auf einen Vorsteuerkorrekturzweck der unentgeltlichen Wertabgabe verwundern, deckt sich aber mit dem klaren Gesetzeswortlaut.42 Letztlich ist zu bedenken, dass die Entnahmetatbestände nicht dazu dienen, die Vorsteuer zu korrigieren, sondern den Unternehmer insoweit mit einem Endverbraucher gleichstellen sollen.43 Steuerschuldner ist U (§ 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG). Die Steuer entsteht mit Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums einer Leistung (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 UStG).

38 Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 1341. 39 Ebenso Heuermann in Sölch/Ringleb (Stand: Juni 2021), § 3 UStG Rz. 674 „Betriebskindergärten“; grundsätzlich BFH v. 9.7.1998 – V R 105/92, BStBl. II 1998, 635, juris Rz. 23. 40 Siehe zur Aufmerksamkeit i.S.d. unentgeltlichen Wertabgabe ausführlich Nieskens in Rau/ Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 1345 f. 41 So etwa Nieskens in Rau/Dürrwächter (Stand: August 2021), § 3 UStG Rz. 4310 „Betriebskindergärten“. 42 Im Ergebnis ebenso Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.155; eine a.A. vertritt Stadie3, § 10 UStG Rz. 118, § 3 UStG Rz. 181 ff., die aber mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Satz 1, 2; Nr. 2 Satz 2, 3 UStG und Art. 26 MwSystRL abzulehnen ist. 43 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht24, Rz. 17.153, 17.155.

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Rz. 51 | Kapitel 6: Umsatzsteuerrecht

VII. Transport von Bochum nach Billund 51

Der Transport von Bochum nach Billund stellt in Ermangelung eines Leistungsempfängers grundsätzlich keinen steuerbaren Umsatz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG dar. Jedoch bestimmt § 3 Abs. 1a Satz 1, 2 UStG, dass das nicht nur vorübergehende Verbringen eines Gegenstandes aus dem Inland i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 UStG in das übrige Gemeinschaftsgebiet i.S.d. § 1 Abs. 2a Satz 1 UStG – hier: Dänemark – zur Verfügung des Unternehmers einer Lieferung gegen Entgelt gleichgestellt ist und der Unternehmer als Lieferer gilt. Der Ort der Leistung liegt gem. § 3 Abs. 6 Satz 1, 2 UStG in Bochum. Dabei kommt es, dem Verbrauchsteuergedanken folgend, nur darauf an, dass die Gegenstände zum Unternehmensvermögen gehören, was mit Blick auf § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG hier zu bejahen ist; dass ursprünglich ein Vorsteuerabzug in Anspruch genommen worden ist, ist für die Steuerbarkeit eines innergemeinschaftlichen Verbringens nicht notwendig.44 Die Ausstellungsstücke gelangen von Deutschland nach Dänemark und bleiben in der Verfügungsmacht des U, der diese Gegenstände dort dauerhaft – also nicht nur vorübergehend – nutzt. Der gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbare Umsatz ist jedoch gem. §§ 4 Nr. 1b; 6a Abs. 2 UStG steuerfrei; der Nachweis gem. § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG ist nach dem Bearbeitungsvermerk durch U erbracht. VIII. Vorsteuerabzug LEGO-Statue

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Fraglich ist, ob U aus dem Kommissionsgeschäft mit der G einen Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG geltend machen kann. Die gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG vorausgesetzte gesetzlich geschuldete Steuer ergibt sich aus der fingierten Lieferung der LEGO-Statue von der Kommittentin G, die als Großhändlerin Unternehmerin i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG ist, an U im Rahmen des Kommissionsgeschäftes i.S.d. §§ 383 ff. HGB, § 3 Abs. 1, 3 UStG (siehe oben). Bei der fingierten Lieferung von G an U handelt es sich um eine unbewegte Lieferung, deren Ort gem. § 3 Abs. 7 Satz 1 UStG in Bochum liegt und die als Hauptgeschäft im Rahmen des Unternehmens der G erfolgt. Durch Vereinbarung eines Anteils des von U erzielten Kaufpreises als Gegenleistung liegt auch ein Entgelt und damit ein Leistungsaustausch vor. Die gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbare Leistung ist mangels Steuerbefreiung i.S.d. § 4 UStG gem. § 12 Abs. 1 UStG zu 19 % steuerpflichtig. Die Bemessungsgrundlage bestimmt sich nach § 10 Abs. 1 Satz 1, 2 UStG und beträgt 1.000 Euro; die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer beträgt folglich 190 Euro und wird von G gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG geschuldet. U bezieht die Leistung als Händler, der die Statue weiterverkauft, für sein Unternehmen. Die von U an G erstellte Gutschrift stellt gem. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2; Abs. 2 Satz 2 UStG eine Rechnung dar, der G nicht widersprochen hat (§ 14 Abs. 2 Satz 3 UStG), sodass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG erfüllt ist. Ein Vorsteuerausschluss i.S.d. § 15 Abs. 2 UStG ist nicht ersichtlich, womit U ein Vorsteuerabzug i.H.v. 190 Euro im Voranmeldungszeitraum des Verkaufs und der Gutschrift zusteht.

44 Wenn die Korrektur des Vorsteuerabzugs gem. § 15a UStG oben bejaht worden ist, ändert sich an dieser Stelle also nichts.

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Fall 20: U, der Baumeister | Rz. 55 Hinweis: Das in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG enthaltene Rechnungserfordernis als Voraussetzung für einen Vorsteuerabzug ist nach jüngerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs richtlinienwidrig. Eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung findet sich bei Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht Rz. 17.342. Hier sollten dennoch die Besonderheiten der Gutschrift als besondere Form der Rechnung kurz dargestellt werden, da dies vom gutachterlichen Aufgabenvermerk umfasst ist.

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IX. Vorsteuerabzug Miete U könnte ein Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1, 2 UStG aus der Anmietung des Ladenlokals von der P zustehen, wenn daraus eine gesetzlich geschuldete Steuer entsteht. P als Unternehmerin i.S.d. § 2 Abs. 1 UStG erbringt mit der Vermietung des Ladenlokals sonstige Leistungen i.S.d § 3 Abs. 9 Satz 1, 2 UStG in Form von monatlichen Teilleistungen i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 2, 3 UStG an U. Aufgrund der vereinbarten monatlichen Mietzahlungen erfolgen die Leistung auch im Leistungsaustausch und die P erbringt die Vermietung im Rahmen ihres Vermietungsunternehmens an den U. Der Ort der Vermietungsleistungen liegt gem. § 3a Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG in Bochum und diese sind somit steuerbar gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG. Trotz grundsätzlicher Steuerbefreiung gem. § 4 Nr. 12a UStG kann P gem. § 9 Abs. 1 UStG zur Umsatzsteuer optieren, da U den angemieteten Eckladen auch für sein Unternehmen angemietet hat und als Leistungsempfänger gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 UStG das Ladenlokal – soweit aus dem Sachverhalt ersichtlich – für Umsätze nutzt, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließen. Dies ist hier gegeben und die Option nach dem Bearbeitungsvermerk auch ausgeübt. Steuerschuldnerin ist die P gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG. Eine Rechnung i.S.d. §§ 14, 14a UStG kann in dem Mietvertrag und den monatlichen Überweisungsbelegen gesehen werden.45 Ein Vorsteuerausschluss i.S.d. § 15 Abs. 2 UStG ist nicht ersichtlich, sodass U für die monatlichen Teilleistungen Vorsteuer im jeweiligen Voranmeldungszeitraum geltend machen kann.

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E. Weiterführende Literatur zur Wiederholung und Vertiefung – Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Auflage 2021, Kapitel 17

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– Ortwald, Der Fotograf im Leistungsdschungel, JURA 2020, 253 – Nieskens, Die Nebenleistung teilt das Schicksal der Hauptleistung – Immer?, UR 2018, 181

45 BFH v. 28.5.2009 – V R 11/08, juris Rz. 22 ff.

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